Gary Jennings
Der Prinzipal
scanned by: CasimYr corrected by: Yfffi
Von den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürger...
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Gary Jennings
Der Prinzipal
scanned by: CasimYr corrected by: Yfffi
Von den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs bis in die Metropolen und Residenzen Europas – von Baltimore in das neue Königreich Italien, von München bis Schönbrunn, von Peterhof bis in das von den Preußen belagerte Paris des Jahres 1871. Eine wirbelnde und glitzernde Galavorstellung mit Logenplatz für den Leser, ein rauschendes Fest der Sinne und Leidenschaften. ISBN 3-471-77879-9 Originalausgabe »Spangle« Aus dem Amerikanischen von Werner Peterich ©1989 Paul List Verlag Schutzumschlag: Bernd und Christel Kaselow, München, unter Verwendung einer Illustration von Mathias Dietze
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext & Autor Bestseller-Autor Gary Jennings führt in seinem neuesten Roman DER PRINZIPAL den Leser von den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs bis in die Metropolen und Residenzen Europas – in das neue Königreich Italien und nach Peterhof, nach München und Schönbrunn, nach Budapest und in das von den Preußen belagerte Paris des Jahres 1871. »Florians florierendes Florilegium« steht auf den Wagen der amerikanischen Circus-Karawane, die durch Europa zieht – und dem Leser werden der Wunder viele geboten. Jennings erklärt uns nicht nur die Tricks der fliegenden Menschen am Trapez, die Sprache der Tierbändiger und die Geheimnisse der Kraftartisten, er läßt uns auch der zauberhaften Seiltänzerin Autumn Auburn begegnen, dem knurrigen Südstaatenoberst Zachary Edge, dem Krüppel Kostja oder der Zigeunerin Maggie Magpie Hag. Aber auch die Bürger und Herrscher treten auf: Pariser Salonlöwen und Kommunarden, russische Nihilisten, Wiener Bettler, die skandalumwitterte Kaiserin Elisabeth von Österreich, die russische Zarenfamilie und Napoleon III. Und diese verrückte und liebenswerte, großartige, schäbige und schamlose Gesellschaft wird von einem zusammengehalten, von Florian, dem gebürtigen Elsässer und Grenzgänger, Polyglott und Freimaurer, Antreiber und Tröster, eben vom PRINZIPAL Gary Jennings, Autor des Bestsellers »Der Azteke« und des Marco Polo-Romans »Der Besessene«, hat für diesen Roman mehr als ein Jahr bei neun Circus-Unternehmen zwischen Nashville und Leningrad in der Manege und »hinter der Gardine« recherchiert. Er ist mit dem kleinen Wandercircus unterwegs gewesen wie auch mit den großen Unternehmen wie Krone, Knie, dem Österreichischen National-Circus oder dem Leningrader Staats-Circus.
INHALT AMERICA AUF SEE ITALIA ÖSTERREICH BAYERN WIEN MAGYARORSZÄG POCCH.H LA FRANCE DANKSAGUNGEN
Für Jesse und Penny
AMERICA
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1 »Na, den Elefanten seh’n wir wohl nie wieder, was Johnny?« sagte einer der Soldaten in Blau. »Wird wohl so sein, Billy«, sagte einer der Soldaten in Grau, um gleich darauf ein leicht erstauntes Gesicht aufzusetzen. »Is’ das wahr? Ihr Yankees sagt das auch? Das mit dem Elefanten?« »Ha’m wir immer gesagt – zumindest früher«, erklärte der Nordstaatensoldat. »Wenn jemand sagt, er geht jetzt, den Elefanten anseh’n, heißt das, seine Einheit zieht los, um sich mit euch Rebell’n zu prügeln.« »So hat’s bei uns Südstaatlern auch geheißen. Tut mir ja leid, daß wir den Krieg verloren haben, aber daß ich von diesem bestimmten Elefanten nichts mehr zu seh’n krieg, darüber bin ich heilfroh.« »Geht mir genauso. Wie wär’s mit’m Pfeifchen, Johnny?« »Ich denk’, ich werd’ nich’ mehr, Yankee-Billy! Soll das heißen, du hast Tabak?« »’n bißchen. Und du – hast du ’ne Pfeife?« »Die ist ziemlich das letzte, was mir geblieben ist.« Der Südstaatensoldat nahm die diversen Zügel, die er hielt, in eine Hand, so daß er die andere frei hatte, um in der Tasche nach der Pfeife zu kramen. »Wir haben Himbeerblätter geraucht un’ auch gekaut. Wenn wir sie nicht grade anstelle von Tee aufbrühten. Kannst du dir das vorstell’n? Dabei ist dieser Teil von Virginia früher erstklassiges Tabakland gewesen.« »Da, nimm! Im Halbschatten wachsender breitblättriger Tabak aus Connecticut. Stopf sie dir voll!« Unteroffiziere und Mannschaften gaben die korrekte steife Exerzierplatzhaltung, die sie bisher eingenommen hatten, auf. Blauröcke und Grauröcke vermischten sich miteinander und reichten die Zügel, die sie hielten, an andere weiter, um sich die Pfeife zu stopfen oder einen Priem abzuschneiden. Sie standen -6-
auf einer grasbewachsenen Hügelkuppe neben einem dreieckigen flachen Areal eben unterhalb der Straße, die von Appomattox Court House herkam, und paßten auf die Reitpferde der vielen Nord- und Südstaatenoffiziere auf, welche die Übergabe der Waffen überwachten. Die diensthabenden Generals und Colonels am Rand des abgesteckten Platzes konnten noch nicht entspannen, sondern standen so kerzengerade und trübsinnig ernst da wie bei einem Soldatenbegräbnis. Was das ganze in gewisser Weise ja auch war, die traurigen Weisen, die von der Unions-Kapelle gespielt wurden, inbegriffen – insbesondere die schwermütigen Lagerfeuerlieder, wie die eine oder andere Seite sie bevorzugte, und das war bei den Konföderierten ›Lorena‹ und bei den Yankees ›Tenting Tonight on the Old Camp Ground‹. Draußen auf dem Feld, hinter der Zeltstadt der Yankees, die sich neben dem Dorf ausdehnte, standen die Überreste der Konföderierten Armee von North Virginia in Formation angetreten. Jetzt marschierten diese Männer kompanieweise an den Rand des flachen dreieckigen Areals und betraten dieses dann, wiederum auf Befehl, korporalschaftsweise. Wenn auch mit einer gewissen Feierlichkeit, taten sie dies doch höchst widerwillig und deshalb auch undiszipliniert, weder im Gleichschritt, noch in Reih und Glied. Auf dem Dreiecksareal stellten sie ihre Waffen auch nicht in der vorschriftsmäßigen Pyramidenform zusammen, sondern warfen den wartenden Nordstaatenwaffenmeistern Büchsen, Musketen und Karabiner die Kavalleristen Pistolen und Säbel – zum Abzählen und Bündeln auf einen Haufen vor die Füße. Nachdem alle Korporalschaften entwaffnet waren, ließen sie auch noch den letzten Anschein von Disziplin fahren; ohne ein »Wegtreten!« abzuwarten, trottete jeder für sich, wohin er wollte. Einige blieben noch eine Zeitlang, andere griffen sich, was ihnen noch an Habseligkeiten geblieben war und verdrückten sich dann. Manche zogen mit einem breiten Grinsen -7-
von dannen, anderen standen die Tränen in den Augen. Weiter weg – auf dem anderen Ufer des Appomattox River – wurden die schwereren Waffen der Konföderierten Artillerie von Pferdegespannen auf einem gesonderten Sammelplatz zusammengestellt. Es waren jedoch nicht nur Soldaten zur Stelle, sondern auch Zivilisten, die meisten von ihnen Reporter von Zeitungen aus dem Norden. Eine alte Frau, die wohl schon immer hier gelebt hatte, stand, die kalte Maiskolbenpfeife im Mund, den ganzen Vormittag an die klapprige Gartenpforte ihrer Holzhütte neben dem Dreiecksareal gelehnt. Eine kleine weiße Katze, die offenbar ihr gehörte, schlich hierhin und dorthin, rieb sich manchmal schnurrend an den bloßen Beinen der alten Frau, manchmal an den rissigen Lederstiefeln der Generals und Colonels und manchmal an den Fesseln der wartenden Offizierspferde. Die Burschen und Ordonnanzen dieser Offiziere hatten sich inzwischen die Pfeife angesteckt und schmauchten dankbar, oder sie kauten und spuckten den Priem aus und fingen nun endlich an, sich über die Pferde zu unterhalten, die sie hielten. »Dieser große Rappe«, sagte ein Unionssergeant, »ist General Sheridans Reitpferd. Und der Wallach da, Johnny, das ist General Lees berühmter Grauschimmel, oder? Traveller heißt er, wenn ich mich nicht irre?« »Richtig. Trägt den Namen Traveller, seit er Onkel Bobby gehört. Vorher hieß er Jeff Davis. Un’ ich heiß’ auch nicht Johnny Reb – jedenfalls nicht mehr ab heute. Ich heiß’ Obie Yount.« »Und ich will auch nicht mehr Billy Yank sein, Sergeant Yount. Ich heiß’ Raymond Matchett.« »Freut mich, dich kenn’zulern’, Sergeant Matchett. Und vielen Dank für den Tabak! Schmeckt übrigens ausgezeichnet!« Um sie herum entwickelten sich ähnlich harmlose Gespräche, -8-
von denen man ab und zu etwas mitbekam. »Yessir, bin selbst in der Army der Vereinigten Staaten gewesen. Und als ich mich dann dieser Sezessions-Army anschloß, was meinst du wohl, was da passierte? Ich ging ein paar alte Freunde aus der U.S.-Army besuchen, die die Unverfrorenheit besaßen, mir einfach den Rücken zuzukehren. Bei First Manassas war das. Diese Freunde rannten ganz bis nach Washington, D.C.!« »Glaub’ ich, Johnny, glaub’ ich gern. Die ganze Zeit über, wo ich an diesem Krieg teilgenomm’ hab, haben unsere Offiziere uns weisgemacht: ›Männer, die Rebellen sind aufm Rückzug! Dabei hat sich dann jedesmal rausgestellt, daß diese Rebs sich auf uns zurückzog’n.« »... tja, Johnny. Und genauso wie du, sehn’ ich mich nach Haus zu mei’m Mädchen und danach, sie zu ... naja, das mit ihr zu tun. Aber das hab’ ich mein Leben lang nicht gehört, daß man das eine Frau dudeln nennt.« »Wundert mich nicht, Billy. Ist auch eher so’n Familienausdruck. Meine Frau ist Klavierlehrerin, verstehst du, und unter uns haben wir das immer ›Musik machen‹ genannt. Doch als der Krieg ausbrach, hab’m wir uns’n neuen Namen dafür ausgedacht. Jetzt nennen wir das ›ohne Yankee dudeln‹.« »... nichts für ungut, Sergeant Yount. Eig’lich würd’ ich meinen, du bist viel zu groß und häßlich und siehst auch viel zu anständig aus, um als Offiziersbursche den letzten Dreck wegzumachen.« »Da hast du recht, Sergeant Matchett. Ich bin auch bloß hier, weil mein Colonel hier ist, und der ist auch kein simpler Reserveoffizier. Colonel Zack und ich gehören zur Kavallerie. Es ist nur so, daß General Lee wollte, daß wir hier bei der Kapitulation vorzeigbar sein sollten, weil von den Offizieren, die er mitgebracht hat, nur wenige ’ne Uniform haben, die nicht nur aus Fetzen besteht. Dieser Falbe hier ist Colonel Zacks -9-
Dienstgaul, Thunder. Und dieser hier, das ist meiner, den hab’ ich Lightning genannt, damit sie gut zusammenpassen. Thunder und Lightning, Donner und Blitz.« »Lightning?« sagte ein Nordstaaten-Corporal, der in der Nähe stand. »Das ist ein Bierbrauer-Percheron!« Er lachte. »Bitte, nicht übelnehmen, Sergeant, aber solltest du ihm nicht einen Namen geben, der ein bißchen besser zu ihm paßt, sagen wir Leviathan?« »Mach dich bloß nicht über ihn lustig, Kleiner!« sagte Yount gutmütig. »Ich hab’ den Gaul übrigens von eurer Seite. Von irgendeinem Yankee-Farmer in der Nähe von Gettysburg, nachdem mir mein eigener unterm Hintern weggeschossen worden ist.« »Naja, wo ich ihn mir genauer anseh’«, sagte der Corporal, »is’ der Gaul auch nich wesentlich schwerer als du es bist. Stattliches Pferd für ein stattliches Mannsbild. Thunder und Lightning, eh? Gefällt mir irgendwie.« »Dieses Pferd hier, Sheridans, mein’ ich, hat früher auch anders geheißen. Rienzi«, sagte der Sergeant von der Union. »Little Phil hat ihn in Winchester umbenannt, weil er den letzten Feldzug im Shenandoah Valley von Winchester aus gestartet – und gewonnen hat.« Knurrend ließ Yount sich vernehmen: »Feldzug nennt Little Phil Sheridan das? Im ganzen Shenandoah Valley hat kein Mensch das jemals anders als Brandschatzen genannt.« »Du bist dabei gewesen?« »Mein Colonel und ich, wir beide. Er war damals allerdings erst Captain, Captain Edge, und das war erst ... Himmel, vorigen Herbst erst war das. Wir dienten beim Fünfunddreißigsten Kavallerie-Bataillon. Und damals, da ha’m wir den Elefanten an einem Ort namens Tom’s Brook geseh’n.« »Ich selbst bin nie im Valley gewesen«, erklärte Sergeant Matchett. »Aber ich erinner’ mich, irgendwas vom -10-
Fünfunddreißigsten Virginia gehört zu haben.« Nachdenklich kratzte er sich am Bart. »War das nicht das Bataillon, das den Spitznam’ Komantschen hatte? Und ist das nicht ...« »Jawohl, gleich nach der Schlacht aufgelöst worden«, fiel Yount ihm ins Wort. Als gälte es, sein rüdes Benehmen wiedergutzumachen, grinste er und erklärte im breitesten Südstaatenenglisch: »Un’ ich hab’ mich mein Lebtag gefragt, warum wir das eig’lich so nenn’.« »Was? Komantschen?« »Nein. Den Elefanten seh’n.« Der Yankee-Corporal sagte: »Genaugenommen, weiß ich’s auch nicht. War irgendso eine Redensart aus der Stadt: ›Ich hab’ den Elefanten geseh’n‹, was soviel bedeutete wie: Mir kannst du nichts vormachen; ich kenn’ mich aus. Und heutzutage bedeutet es: Man ist gewesen, wo es heiß herging; ich bin kein ahnungsloser Neuling. Aber wie’s zu diesem Bedeutungswandel gekommen ist, weiß ich nicht.« »Ich hab’ das weder in Mexiko noch in den Territories einen Soldaten jemals in den Mund nehmen hören«, sagte Yount. »Hab’s vor Kriegsausbruch nie in der Bedeutung gehört.« Sergeant Matchett rief plötzlich: »In Mexiko bist du gewesen?« »Beide sind wir da gewesen, Colonel Zack und ich. Damals war’n wir beide bloß einfache Schützen ohne jeden Rang. Als wir noch ...« Yount hüstelte und sah an seinem buschigen schwarzen Bart vorüber nach unten auf seine abgerissene graue Uniform. »Damals hatten wir beide noch den blauen Rock an. Aber was soll’s – das war bei Jeff Davis und Robert E. Lee auch nicht anders.« »Ja, aber ich auch! In Mexiko, meine ich. Bin mit General Scott in Veracruz eingerückt.« »Wir früher, weiter oben im Norden, bei Port Isabel.« -11-
Der Corporal, der nur diesen einen Krieg mitgemacht hatte, blickte voller Respekt und wortlos von einem Sergeant zum anderen. »Wenn du am Nordfeldzug teilgenommen hast, bist du bei den Kämpfen um Cerro Gordo oder Chapultepec wohl nicht dabeigewesen, oder?« »Nein. Wir haben am Resaca gekämpft. Monterrey, Buena Vista ...« Die beiden einst verbündeten Veteranen, die sich gerade eben kennengelernt hatten, tauschten immer noch Namen von Schlachtfeldern aus, die weit von Appomattox Court House entfernt waren – weit weg von Virginia, und die mit diesem Krieg überhaupt nichts zu tun hatten. Jemand schnarrte: »Achtung!« und alle einfachen Soldaten – Blauröcke ebenso wie Grauröcke – nahmen Haltung an. Alle Waffen der Konföderierten waren abgeliefert und lagen auf einem Haufen, die Konföderierte Armee hatte kapituliert, und jetzt kamen die Generals und Colonels in Blau und Grau, ihre Pferde zu holen. Colonel Edge, nicht mehr der jüngste der Offiziere, dafür aber der einzige, der weder Bart noch Schnauzer trug, kam und nahm Sergeant Yount die Zügel von Thunder ab. Die Offiziere saßen auf; Leder knarrte, Geschirr klirrte, Pferde stampften auf der Stelle. Yount lehnte sich über seinen mächtigen Percheron hinüber und fragte vertraulich: »Sin’ Sie auch ganz sicher, Colonel Zack, daß Sie nich’ mehr kämpfen wollen? Ich wär’ wieder dabei, wenn Sie’s auch wär’n. Im Süden und Westen gibt’s noch andere Konföderierte Armeen, die noch nich’ aufgegeben haben.« Edge sagte ruhig: »Ich hab’ mein Ehrenwort gegeben, nicht mehr zu kämpfen.« »Naja, ich aber noch nicht. Vielen von den Männern macht das nichts aus, und den Yanks ist das sowieso egal. Die wissen genausogut wie wir, daß diese Beteuerungen nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen.« -12-
Edge holte den Zettel, den er im Austausch für sein Ehrenwort erhalten hatte, noch einmal hervor und las. In halb verwischter Druckschrift und krakeligen handschriftlichen Eintragungen stand dort für jeden, den es betraf, geschrieben: »Der Inhaber dieses Ausweises, Lt. Col. Zachary Edge, CSA, auf Ehrenwort entlassener Kriegsgefangener« dürfe jetzt »mit Erlaubnis der United States Army heimreisen und sich zu Hause ungestört aufhalten«. Yount sagte: »Da Sie Offizier sind, haben Sie immer noch einen Karabiner, einen Revolver und einen Säbel. Die sind doch bei weitem mehr wert als dies Stück Scheißhauspapier. Außerdem sind wir beritten wie Devil Grant sagte, Pferde für die Frühjahrsbestellung. Aber ’n Haufen von den Leuten, die Sie jetzt abziehen seh’n, geh’n ja nicht nach Haus, um zu farmen. Die reiten nach Süden und wollen seh’n, ob sie nicht irgendwo in North Carolina auf General Johnston stoßen und sich ihm anschließen, um kämpfen zu können.« »Werden sie aber nicht tun«, erklärte Edge deprimiert. »Die Nachricht, daß Lee sich ergeben hat, ist schneller dort unten als sie. Und dann wird Old Joe auch aufgeben. Und Taylor und Smith und die anderen auch. Bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, wo Lee nicht mehr mitmacht. Obie, es ist alles aus und vorbei.« Yount straffte die massigen Schultern, dann ließ er sie sacken. »Ja, und wohin wollen Sie dann? Sie ha’m doch wohl nicht vor, Thunder vor’n Pflug zu spannen und hier im Appomattox County mit der Frühjahrsbestellung zu beginnen?« »Nein. Ich werd’ wohl genau das tun, was hier steht: nach Hause gehen und mich dort ruhig verhalten, um nicht gestört zu werden.« Edge stopfte den Zettel in die Tasche seines Waffenrocks, drehte sich auf dem Sattel um und überprüfte den sicheren Sitz von Schlaf- und Mantelsack hinter der Sattelpausche. -13-
»Nun mal ehrlich, Colonel Zack«, sagte Yount in quengeligem Ton. »Sie wissen verdammt gut, daß Sie außerhalb von Kasernen, Winterquartier oder Biwak kein Zuhause mehr haben – ebensowenig wie ich. Solange wir zusammen sind, haben wir beide nichts anderes gekannt als Soldatsein. Und das fast zwanzig Jahre lang.« »Niemand wird an unseren Diensten als Soldaten interessiert sein, Obie, jedenfalls bis auf weiteres nicht. Wir sollten uns nach was Neuem umsehen.« »Nach was denn? Und wo?« »Kann ich dir auch nicht sagen. Ich bin ja nicht mehr dein Vorgesetzter. Was mich betrifft, denke ich, ich sollte vielleicht dorthin zurückkehren, wo ich herkomme, ob das nun mein Zuhause ist oder nicht.« »Etwa zurück in die Blue Ridge Mountains?« »Ja.« »Sie wollen zurück und wieder Hillbilly spiel’n? Und ich soll zurück in die Sägemühlenstadt in Tennessee? Trenn’n sollen wir uns, nach all den Jahren?« »Das muß ja nicht sofort sein. Beide Orte liegen westlich von hier.« Edge ließ Thunder die Schenkel spüren, so daß er sich in Bewegung setzte, und wendete ihn in Richtung auf das Dorf, über dem jetzt die Flagge der Vereinigten Staaten wehte. Hastig überprüfte Yount seine Sachen und brachte Lightning dann mittels Sporendruck dazu, widerstrebend in einen gemächlichen Trab zu verfallen. Das Pferd mußte sich den Weg durch die anderen Pferde, Soldaten und Gefährte aller Art suchen, so daß Yount Edge erst einholte, als sie den Ort bereits hinter sich gelassen hatten und auf dem festgetretenen Lynchburg Pike dahintrotteten. Als sie nebeneinander an wackligen Viehzäunen und verfallenden Tabakdarren vorüberkamen, blieb das Rauschen und Plätschern des Appomattox ebenso hinter ihnen zurück wie die Klänge der -14-
Yankee-Kapelle, die jetzt eine Beerdigungsversion von ›The Bonnie Blue Flag‹ zum besten gab. Erst da machte Yount den Mund wieder auf und sagte mißmutig: »Wissen Sie, was wir jetzt sind, Colonel Zack?« »Ich weiß, was ich nicht mehr bin, nämlich Colonel der Leichten Kavallerie der Konföderierten Staaten von Amerika. Und du bist auch nicht mehr mein Sergeant. Hören wir also auf mit dem Quatsch, uns mit unserem Rang anzureden und seien wir wieder das, was wir waren, als wir uns kennenlernten. Zack und Obie.« »Meinetwegen. Weißt du, was wir jetzt sind, Zack? Was wir in diesem Augenblick sind – Geschichte!« »Mag sein. Wahrscheinlicher aber ist, daß wir unsere Geschichte hinter uns zurückgelassen haben. Recht besehen, sollten wir wohl dankbar sein, daß wir sie heil und ganz überstanden haben.« »Das Schlimme ist, daß wir weiterleben müssen. Und wie willst du dir in den Blue Ridge Mountains deinen Lebensunterhalt verdienen?« »Nun, es ist jetzt fast ein Jahr her, daß Hunter und seine Vandalen das Virginia Military Institute niedergebrannt haben. Vielleicht hat jemand angefangen, es wieder aufzubauen, und es ist nur recht und billig, daß ich beim Wiederaufbau meiner alten Schule mit Hand anlege. Sie werden jeden brauchen, den sie kriegen können. Dich auch, wenn dir das lieber ist, als nach Tennessee zu reiten. Und sobald es wieder steht, brauchen sie Ausbilder und Professoren. Vielleicht nehmen sie mich. Und wenn ja, kann ich vielleicht dafür sorgen, daß sie dich als Ausbildungs-Sergeanten nehmen.« »Mich? Und ich soll am Virginia Military Institute Kadetten ausbilden?« Sein Trübsinn wandelte sich in Fröhlichkeit. »Na, das war’ vielleicht ’n Ding!« »Reiten wir hin und sehen wir es uns an.« -15-
Nachdem sie den Mahlstrom der ehemals verfeindeten Armeen hinter sich hatten, ritten sie durch eine beklemmende Stille und Leere dahin. Westlich von Appomattox stießen sie auf keine nennenswerten Siedlungen mehr, und die wenigen Farmhäuser, an denen sie vorüberkamen, waren zerstört, und kein Rauch kam aus den Schornsteinen. Auch sonst war niemand unterwegs, außer ab und zu ein anderer Graurock, der zu Pferd oder zu Fuß nach Hause strebte. Vor kaum einer Woche – als Lees Army sich in Petersburg aus der langen Belagerung befreite und einen verzweifelten Ausfall in Richtung Danville oder Lynchburg plante – hatte sich die Nachricht verbreitet, daß seine Verbände hier vorüberkommen müßten und Grants Armee sie mit Sicherheit verfolgen würde. Aus diesem Grund hatte jeder, der hier in der Gegend wohnte, alles, was er tragen konnte, zusammengerafft und gemacht, daß er fortkam aus einem Gebiet, das bald zum Schlachtfeld werden mußte. Wie es sich dann ergab, hatten die Kämpfe kurz vorher aufgehört; nur war keiner mehr da, den das hätte interessieren können. Edge und Yount waren erst ein gutes Stück nach Mittag losgeritten, so daß die frühe Aprildämmerung sie bald einholte. In einem verlassenen Weiler suchten sie Unterschlupf für die Nacht – in einem zerstörten und leeren, aber jedenfalls noch teilweise überdachten Fachwerkhaus; nach dem schwer zu entziffernden Schild über der türlosen Tür ehemals die Städtische Schule von Concord. Als sie am nächsten Morgen erwachten, war es ein grauer, frostiger und nieseliger Tag; allerdings war der Regen nicht stark genug, sie zu veranlassen hierzubleiben, reichte aber immerhin, daß aus dem Feldweg mit der roten Erde bald eine rutschige Lehmpiste wurde. Das verlangsamte die Gangart der Pferde, so daß sie an diesem ganzen Tag nicht mehr vorankamen als gestern den Nachmittag über. Ein gutes Stück vor der Abenddämmerung stießen sie abermals auf ein verlassenes Haus -16-
am Straßenrand, auch dieses wieder mit einem Schild über der Tür: Giles’s Warenhaus. Von irgendwelchen Giles’ aber war, wie Yount bald feststellte, ebensowenig zu sehen wie von irgendwelchen Waren. Diese Enttäuschung reichte, ihnen jede Neigung zum Verweilen auszutreiben, und so ritten sie weiter. Das erwies sich als Fehler, denn bald verstärkte sich der Regen und Lightning fing auch noch an zu lahmen. »Verfluchter Gaul!« knurrte Yount. »Mußt du dir in diesem Matsch auch noch den einzigen Stein aussuchen, den es gibt, um hineinzutreten!« Ein kurzes Stück vor ihnen machten sie im Regen eine Holzbrücke aus. Sie ritten weiter, bis sie die Bohlen unter den Hufen hatten und aus dem roten Schlamm heraus waren. Yount saß ab, kniete nieder, nahm den Huf samt behaartem Kötengelenk seines Pferdes auf den Schenkel, kratzte mit seinem Messer darin herum und brummelte immer weiter: »Die Leute hier in der Gegend sind groß im Anbringen von irgendwelchen Schildern.« Auch am Brückengeländer hing eines, demzufolge das Flüßchen, das darunter hinwegfloß, Beaver Creek hieß. »Haben’s wohl nötig gehabt, sich dran zu erinnern, wo und was sie waren.« »Wir hätten beim letzten Schild halt machen sollen«, sagte Edge. »Dieser Regen läßt vorläufig nicht nach. Ich bin dafür, wir suchen unter der Brücke Schutz und lagern dort. Vielleicht findet sich sogar noch trockenes Holz zum Feuermachen.« Genau dies taten sie, es fand sich auch Holz, und bald flackerte ein kleines Feuer. Edge erhitzte über den Flammen ein Eßgeschirr mit Maisbrei – die aus Maismehl und braunem Zucker bestehende eiserne Ration der Kavalleristen. »Ich muß an noch einen Beaver Creek auf der Landkarte denken«, sagte Yount »Den haben wir von Petersburg aus kommend überquert. Nein, jetzt fällt es mir wieder ein, das war der Beaver Pond Creek.« -17-
»Ach, verdammt, in Virginia muß es mehr Beaver Creeks geben als Baptisten«, sagte Egde müßig. »Dabei hab’ ich noch nie einen Biber in freier Wildbahn gesehen.« Leise lachte er in sich hinein. »Dafür aber viele wildgewordene Baptisten.« Als Yount dazu nichts sagte, hob Edge den Blick und sah ihn an. Yount hatte Augen und Mund weit aufgerissen; letzterer bildete ein rotes Loch in seinem schwarzen Bart. Edge sagte: »Wieso überrascht es dich dermaßen, mich sowas sagen zu hören?« »Biber und Baptisten können mich mal«, sagte Yount mit ehrfürchtig gedämpfter Stimme. Er starrte immer noch angestrengt, jedoch war sein Blick nicht auf Edge gerichtet, sondern über dessen Schultern zum Flußufer hinunter. »Grad’ gestern ... hab’ ich mit’n paar Kumpels darüber geredet, was es bedeutet, einen Elefanten zu seh’n. Und jetzt, ganz plötzlich – Himmelherrgott, Zack! –, da drüben steht einer!«
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2 »Massa Florian!« rief es von fern, aber in deutlich erkennbar klagendem Ton von irgendwo hinter dem Vorhang aus Regen. Dann trat derjenige, der den Klageruf ausgestoßen hatte, aus dem nassen Dämmer heraus, ein gedrungener und ausgemergelter Mann mit dunkelbrauner Haut. Den großen Turban schief auf dem Kopf und mit flatternden grellfarbenen Gewändern kam er barfuß auf die Wagenkolonne zugelaufen. »Oh, mein Gott, Mas’ Florian!« »Zum Teufel, Abdullah!« fuhr ihn der einfacher gekleidete Fahrer auf dem Gefährt an der Spitze der Kolonne, einer Kutsche mit Klappverdeck, an. »Jedesmal, wenn du dich aufregst, vergißt du, mich mit Sahib anzureden.« Ganz außer Atem kam der braunhäutige Mann an die Kutsche heran. »Ich bin nich’ aufgeregt, Master Sahib, ich hab’n Heid’nschiß.« »Verdammt, nicht Master Sahib, sondern einfach ...« Florian unterbrach sich, stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Dann zog er am Zügel und brachte den Kutschgaul zum Stehen. Die vier Wagen hinter ihm hielten gleichfalls an, woraufhin alle lautlos, aber sichtbarlich im roten Schlamm der Straße tiefer sanken. »Jetzt erzähl mal ganz ruhig, Abdullah! Was hat dich erschreckt? Und wo ist Brutus?« »Da drüben is’ sie.« Mit schwankendem Finger zeigte er die Straße hinauf zur Holzbrücke mit dem Schild Beaver Creek darauf. »Hannibal Tyree, du hasenherziger schwarzer Tunichtgut!« ließ sich eine hübsche Blondine vernehmen, die plötzlich aus der Seitenöffnung der Kutsche herauslehnte. »Du bist weggelaufen und hast die arme Peggy einfach im Stich gelassen?« »Ich wünschte«, stieß Florian leidenschaftlich zwischen -19-
zusammengebissenen Zähnen hervor, »ich wünschte, jetzt, wo wir wieder unterwegs sind, Madame Solitaire, ich wünschte wahrhaftig, wir würden alle unsere Rolle wiederfinden und nicht dauernd vergessen, welche Rolle wir spielen.« »Ach, scheiß doch der Hund drauf«, sagte die hübsche Frau. »Wenn Hannibal diesen Bullen verloren hat, können wir genausogut umdrehen und zurückkehren ins Vergessen.« »Peggy is’ nix passiert, Miß Sarah«, versicherte der Neger ihr. »Sie steht mit allen vier Bein’ in dem Bach da drüben. Un’ spritzt beseligt mit’m Rüssel Wasser um sich rum.« »Wenn das so ist – was hast du denn, Abdullah?« fragte Florian. »Ich hab zwei Männer geseh’n, die sich unter der Brücke versteckt ha’m, Mas’ Florian. Solda’n! Hab’ nur zufällig hingeseh’n, un’ da seh’ ich, wie sie sich duck’n un’ auf uns wart’n. Rebell’nsoldat’n. Jetzt, wo der Krieg aus is’, sin’ sie wahrscheinlich unter die Räuber gegang’n. Du fahren über die Brücke, sie spring’n auf un’ whooey!« Dann wandte er sich um und sagte vorwurfsvoll zu Madame Solitaire: »Ich bin kein feiger Nigger, Miß Sarah. Ich bin gelauf’n gekomm’, um euch alle zu warn’n.« Zweieinhalb andere Männer aus den anderen Wagen waren inzwischen herangekommen und hatten die Warnung mitbekommen. Die halbe Portion – sie maß nur wenig über einen Meter zwanzig – meinte säuerlich: »Vielleicht hat unser Glatzkopf doch mal was Vernünftiges gesagt. Schließlich hatte nur irgend so ein Bauerntölpel unterwegs behauptet, der Krieg ist vorbei. Vielleicht stimmt das gar nicht. Ich hab’ immer wieder gewarnt, Florian, daß es verdammt riskant ist, so früh weiterzuziehen.« Einer der beiden größeren Männer – den man nicht eigentlich groß nennen konnte, der dafür aber gertenschlank und geschmeidig war und trotz seiner Kutscherkleidung irgendwie -20-
elegant wirkte – sagte gemäßigter: »Ach, wissen tu’ ich’s nicht. Aber vielleicht ist es in dieser Trostlosigkeit besser une fois pour toutes erschossen zu werden, als langsam Hungers zu sterben.« Der andere, ein massiger Typ, dessen Schädel kein einziges Haar aufwies, der dafür aber einen Schnauzer trug wie ein Walroß, wandte sich fragend an Florian: »Un’ was tun wir jetzt, Baas? Mach’n wir sie zuerst alle? Un’ werfen sie der Katz’ zum Fraß vor?« Florian überlegte, stieg dann aus und sagte: »Naja, möglich ist es schon, daß sie uns auflauern und es auf Beute abgesehen haben. Aber im Moment wert’ ich, daß ihnen beim unerwarteten Anblick des Elefanten die Augen aus dem Kopf fallen, sie dem lieben Gott und sich selbst schwören, nie wieder böse Buben und fürderhin brav sein zu wollen. Trotzdem wollen wir nichts riskieren. Abdullah, du sagst, Brutus ist im Bach. Wo, von der Brücke aus gesehen, steht er?« »Auf der link’n Seite, Sahib Florian«, sagte der Neger, inzwischen wieder ganz gefaßt. »Bachaufwärts von den beiden Galgenvögeln.« »Schön.« Zu der Frau in der Kutsche gewandt sagte Florian: »Meine Teure, würden Sie mir bitte Ihr Gewehr geben?« Mutig reichte sie ihm eine altmodische Steinschloßflinte hinaus. »Ich geh’ als erster, Männer, und zwar links am Ufer runter bis zu Brutus. Inzwischen könnt ihr, Captain Hotspur und Monsieur Roulette, euch rechts von der Brücke runterschleichen. Sollten die beiden auf mich losgehen, schießt ihr unter der Brücke hervor und überrumpelt sie.« Der Glatzkopf ließ die Fingergelenke krachen und sagte: »Ja, Baas.« Der Hyperschlanke zuckte nur träge die Achseln. Doch der, der fast ein Gnom war, begehrte auf und sagte: »Hey, Florian! Ich zähl’ wohl überhaupt nichts, was?« »Tim, Tim!« sagte Florian begütigend. »Du bist der -21-
allerwichtigste von uns allen. Du kannst leichtfüßig dahinhuschen, kannst also die Brücke selbst betreten, ohne daß sie dich hören. Deshalb nimm du das Gewehr. Wenn du siehst, daß wir drauf und dran sind, handgemein mit ihnen zu werden, feuere den einen Schuß ab, der drin ist. Aber sorg dafür, daß du auch triffst.« Die halbe Portion nahm die Flinte, die fast so groß war wie sie selbst, und bleckte bösartig die Zähne. »Aber greift sie nicht als erste an«, sagte Florian, für alle bestimmt. »Gebt mir die Chance, mich erst vorzustellen. Vielleicht sind es ganz harmlose Landstreicher und – wer weiß? – vielleicht haben sie sogar was zu essen bei sich, von dem sie uns abgeben.« Als er sich jedoch durch das Gesträuch hindurchwand und ihm der nach Karamel duftende Rauch des Lagerfeuers in die Nase stieg, brummelte er unglücklich: »Nein, das werden sie nicht – wenn sie schon gezwungen sind, auf Maispampe zurückzugreifen.« Er verharrte hinter dem letzten triefenden Wandschirm aus Röhricht und Weidengebüsch und spähte, inzwischen selbst reichlich triefend, die paar Schritt zu den beiden grauuniformierten Männern hinüber. Sie standen im seichten Bachwasser direkt neben dem Elefanten; das Wasser reichte ihnen fast bis zum Rand der Stiefelschäfte hinauf. Sie sahen sich den Dickhäuter an, und einer von ihnen streckte die Hand aus, um ihm den Rüssel zu streicheln, woraufhin Brutus diesen ungewöhnlichen Körperteil sichtlich mit Genuß reckte, durchbog und ringelte. Florian warf einen Blick bachabwärts, sah das kleine Lagerfeuer unter der Brücke glimmen und dahinter zwei angehalfterte Pferde an den Büschen nagen. Florians Augen blitzten auf, und leise sagte er, diesmal freilich alles andere als unglücklich: »Na, na, na ...« Dann trat er beherzt auf die Männer und den Elefanten zu und -22-
grüßte betont jovial: »Guten Abend, die Herren!« Sie schraken weder schuldbewußt noch erschrocken zusammen, sondern drehten sich um, wobei einer wie beiläufig die Hand an das große schwarze Pistolenhalfter an seinem Koppel legte. Mit weltmännischer Geste sagte Florian: »Gestatten Sie, daß ich Ihnen vorstelle, Sirs: Braver Brutus, prächtigstes Brummtier, das Gottes Odem braucht.« Die Männer neigten einigermaßen höflich den Kopf, erst vor ihm, dann vor Brutus. Florian wandte sich an den mit der Pistole im Halfter und den beiden Sternen am Kragenspiegel des Waffenrocks: »Wissen Sie, was das bedeutet, wenn Sie ihm den Rüssel streicheln, wie Sie es eben getan haben, Colonel, und der Elefant ringelt ihn und hebt ihn respektvoll grüßend, wie Brutus das eben getan hat?« Nüchtern sagte Edge: »Nein, Sir, das weiß ich nicht.« »Das bedeutet nach altehrwürdiger Circusüberlieferung, daß es Ihnen eines Tages gelingen wird, selbst Circusbesitzer zu werden.« Darüber mußte Edge lächeln. Was wiederum bewirkte, daß Florian ihn verwundert fragend ansah. Das Gesicht des Colonels war – sofern in Ruhestellung – auf zerknitterte Weise liebenswert, ähnlich einer aus Felsen gehauenen, verwitterten Skulptur. Das Lächeln in diesem Gesicht jedoch war unsäglich traurig und machte sein Gesicht geradezu häßlich. Das Wasser schwappte, als die beiden Soldaten ans Ufer traten und sich neben den Mann am Ufer stellten. Yount sagte: »Circus, was? Das erklärt alles. Mister, ich dachte, jetzt werd’ ich verrückt. Vielleicht werd’ ich’s ja immer noch. Von allem, was ich mir im Gefolge des Krieges hätte vorstellen können, steht ein Circus bestimmt nicht an erster Stelle.« »FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM DER WUNDER. Ich habe die Ehre, besagter Florian zu sein, Eigentümer und Direktor des Unternehmens.« Er streckte die -23-
Hand aus. Edge ergriff sie und bemerkte, daß der Zirkusbesitzer einen ganz besonderen Händedruck hatte, zu dem eine Art von Extradruck von Zeigefinger und Daumen gegen Knöchel und Handfläche dessen gehörte, dem die Hand gereicht wurde. Vielleicht, so überlegte Edge, hatte das unter Circusleuten oder in dem Land, aus dem dieser Mann stammte, eine ganz bestimmte Bedeutung; sein Englisch kam mit einer allzu reizvollen Präzision, als daß es seine Muttersprache hätte sein können. »Ist mir ein Vergnügen, Mr. Florian.« Das häßlichmachende Lächeln war von Edges Gesicht verschwunden, das wieder einen angenehmen Eindruck machte – aber was er tat, strafte diesen Eindruck Lügen. Während er die rechte Hand des Circusbesitzers umklammert hielt, schnallte er mit der freien Linken die Patte des Pistolenhalfters auf, zog die langläufige Waffe und legte mit dem unheilverkündenden dreifachen Klicken von Stahl gegen Stahl den Hahn zurück. »Sir, tun Sie mir den Gefallen und rühren Sie sich nicht vom Fleck!« »Ach, du Elend!« seufzte Florian, als Edge seine Hand losließ und einen Schritt zurücktrat, wobei er die Pistole weiterhin auf die Knöpfe seiner Joppe gerichtet hielt. »Bei einem Yankee, Sir, würde ein solches Benehmen mich nicht verwundern. Ich hatte jedoch keine Ahnung, daß bei Offizieren aus dem Süden die Höflichkeit so schnell in Schurkerei umschlagen könnte. Ich hatte gehofft, Sie würden sich als freundlich erweisen.« »Ich werde auch freundlich bleiben, Sir, solange Sie weder nach links noch nach rechts rücken. Denn dort, wo Sie stehen, bilden Sie einen Schild zwischen mir und irgendwelchen Freunden von Ihnen. Einer steht oben auf der Brücke, und zwei dahinter. Bei dieser schlechten Beleuchtung kann ich nicht die Hand dafür ins Feuer legen, daß ich sie alle treffe, Sir, aber Sie werde ich bestimmt nicht verfehlen, Sir, das kann ich Ihnen versprechen. Obie, hol deinen Karabiner!« -24-
»Warten Sie«, sagte Florian. »Das ganze ist meine Schuld, Sir. Wir hatten gehofft, daß Sie anständige Leute sind, aber wir konnten ja nicht sicher sein, daß Sie keine Räuber wären, die uns auflauerten. Wenn Sie gestatten, daß ich laut rufe, hole ich diese Männer friedlich herbei, damit Sie sie kennenlernen.« »Sie dürfen rufen, Sir. Doch passen Sie auf, daß der Ruf überzeugend klingt.« Florian wandte den Kopf nur ein winziges Stück und rief: »Es sind Freunde, Männer! Tim, komm mit der umgedrehten Büchse herunter. Best, kapitein, komt u en ons ontmoeten. Soyez tranquille, Roulette, et venez ici.« Gleich darauf konnte man die Geräusche von anderen hören, die sich durch das Gebüsch hindurch näherten. Edge nickte zustimmend. »Jamais beau parier n’ecorche la langue«, ließ aber die Pistole nicht sinken. »Und was war das für eine andere Sprache?« »Holländisch«, sagte Florian. Aus einem abgewetzten Rockärmel zupfte er energisch ein Batisttaschentuch hervor, um sich die Stirn abzutupfen. »De facto spricht der Captain ein höchst ungeschliffenes Kap-Holländisch, aber er versteht, was ich sage. Besser als englisch.« Yount sagte mißtrauisch: »Dann sind Sie und Ihre Freunde weder Yankees noch Sezessionisten?« »Mein lieber Sergeant, jeder Circus stellt die reinste Nationalitätenmenagerie dar. Ich selbst zum Beispiel bin Elsässer.« »Ich habe von Ihren politischen Sympathien gesprochen, Mister.« »Und wir bemühen uns, nie nach der politischen Überzeugung eines Mannes zu fragen – ebensowenig wie nach seiner Religionszugehörigkeit oder irgendwelchem Aberglauben. Aber da kommen meine Kollegen. Wenn ich Sie miteinander bekanntmachen dürfte, Sirs?« Er wartete, bis Edge die Pistole -25-
wieder im Halfter verstaut hatte. »In der Reihenfolge ihres Erscheinens, nicht ihrer Bedeutung nach, ist dies Tiny Tim Trimm, unser weltbekannter Gnom und Spaßmacher und Clown, und bei den Blechbläsern gleichzeitig der Hornist.« Der kleine Mann kam, die Steinschloßflinte hinter sich herschleifend, näher und nickte verdrossen, als bedauerte er, keinen Vorwand mehr zu haben, die Waffe zu benutzen. Yount meinte: »Ich habe schon kleinere Gnomen gesehen.« Tim Trimm funkelte ihn wie aus Fischaugen an – farblos, und mit fischschuppiger Oberflächenhärte. »Sie können mich mal an mein’ rosigen Gnomenarsch ...!« Florian verhaspelte sich fast, als er überstürzt sagte: »Und das hier ist Monsieur Roulette, Meisterakrobat, Springer und Bauchredner.« »Enchanté«, sagte der Gertenschlanke, alles andere als entzückt. »Und das hier ist Captain Hotspur, unser unvergleichlicher Kunstreiter, furchtloser Löwenbändiger, Hufschmied und Roßarzt, Stellmacher und Wagenmeister des gesamten Trosses.« »Goeie nag«, sagte der Glatzkopf und dann, in der Übersetzung: »Guten Abend, Meneers.« »Sie werden bemerkt haben, Sirs«, sagte Florian, »daß bei unserem Circus jeder zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Rollen spielt ... wie ein anderer großer Showman einmal gesagt hat.« »Jedenfalls kann man behaupten, daß ihr alle höchst phantasievolle Namen habt«, sagte Yount voller Bewunderung. »Les noms de theâtre«, erklärte Florian und tat das mit einer Handbewegung ab. »Die meisten von uns finden, daß unsere noms de bapteme absolut nicht mehr passend sind für das, was im Lauf des Lebens aus uns geworden ist. So ist zum Beispiel Jacob Brady Russums Taufname länger als er selbst, weshalb -26-
wir ihn zutreffender Tim Trimm genannt haben.« »En nee gut mein Name für Reiter Hotspur«, sagte der Captain und ließ gutmütig den Walroßbart wackeln. »Ignatz Roozeboom.« »Helas«, ließ Monsieur Roulette sich vernehmen. »Mein Name ist bedauerlicherweise nur eine etwas phantasievoll abgewandelte Form meines richtigen Namens.« Mit diesen Worten reichte er Edge aus verschmutztem Ärmel heraus eine manikürte Hand. »Jules Fontaine Rouleau, ehemals New Orleans und malheureusement von dorther gesehen ein ziemlich runtergekommenes Subjekt. Meine Familie daheim hofft zweifellos inbrünstig, ich möchte für immer einen anderen Bühnennamen annehmen. Und sei es einer wie etwa Ignatz Roozeboom.« An die Gesellschaft ganz allgemein gewandt, sagte Edge: »Es ist uns ein Vergnügen, Sie alle kennenzulernen. Ich bin Zachary Edge, und das hier ist Obie Yount.« »Nun«, sagte Florian, »wir Reisenden sind uns zunächst mit Mißtrauen begegnet, doch das ist jetzt gottlob vorbei. Sogar der Regen läßt nach. Allerdings sind wir alle bis auf die Haut naß, und es wird dunkel. Brutus scheint sich hier wohlzufühlen, doch schlage ich vor, daß wir anderen in den Wohnwagen Unterschlupf suchen. Und Sie – Colonel Edge und Sergeant Yount –, Sie würden gewiß gern etwas Besseres zu Abend essen als ausgerechnet Maispampe.« Die beiden sahen ihn an, als wäre er ein Gespenst. Auch die Circusleute sahen ihn an, und das womöglich noch ungläubiger. »Vielen Dank, aber um die Wahrheit zu gestehen«, sagte Edge, der auf keinen Fall für einen Schnorrer gehalten werden wollte, »so haben wir uns vorgestern noch ziemlich gut sattessen können. Ein paar Yankees haben ihre Rationen mit uns geteilt.« Um den Eindruck von Selbstversorgern zu erwecken, setzte Yount noch hinzu: »Und wir hatten eine Zeitlang eine Zwiebel.« -27-
Dann jedoch wurde er schwach. »Allerdings war damit eine verdammt lange Zeit Schmalhans bei uns Küchenmeister.« »Ja!« bestätigte Roozeboom gefühlvoll und starrte Florian weiterhin an. »Ja, ja«, sagte Florian. »Und bei uns ist es einen Tag Hühnchen, und den nächsten Tag Federn. Aber ihr würdet ja wohl zu einem Schweinekotelett heute abend nicht nein sagen?« »Himmel, nein, das würden wir bestimmt nicht!« entfuhr es Yount in dem Bemühen, einer höflichen Ablehnung von Edge zuvorzukommen. Als die beiden Grauröcke ihre Pferde und ihre anderen Habseligkeiten holen gingen, sagte Rouleau: »Schweinekoteletts?« und sagte das mit soviel Gusto, als habe er bereits ein saftiges Stück Fleisch im Mund; Roozeboom hingegen funkelte Florian weiterhin an; der Raum oberhalb seiner Augen, wo die Brauen hätten sein sollen, war gerunzelt und in Falten gelegt. Florian ließ sich nicht von ihnen beeindrucken und sagte mit drängendem Unterton zu der halben Portion: »Lauf voraus, Tim. Und sag Madame Solitaire, sie soll sich im Wohnwagen auf Gesellschaft gefaßt und schon mal Feuer für die Koteletts machen. Sie weiß bestimmt, was du meinst.« Erbost verwahrte Trimm sich: »Das letztemal, daß wir Schweinekoteletts hatten, war an dem Tag, da wir Wilmington verlassen haben. Seither haben wir anderen von Maisgrütze und Ahornsirup gelebt. Und du, Florian, du und dieses flachsblonde Weibsstück, ihr habt die ganze Zeit über Koteletts gehabt?« »Halt den Mund und nimm die Beine in die Hand. Als ihr euch das letztemal den Wanst vollgeschlagen habt, haben Madame Solitaire und ich unsere beiden Koteletts beiseitegelegt – und zwar in der Hoffnung auf genau so eine Gelegenheit wie heute. Kapierst du denn nicht, was diese beiden Soldaten haben? Zwei prachtvolle Pferde! Mach schon, daß du hinkommst, du -28-
garstiger Wichtel, du, und tu, was ich dir gesagt hab’!« Immer noch aufmüpfig fauchend, setzte Trimm sich in Trab. Die anderen warteten, um Edge und Yount vom Wasserlauf auf die Straße hinaufzubegleiten. Roozeboom, der neben Edge und seinem Thunder einherstapfte, meinte: »Goeie pards, Ihre zwei Pferde, Meneer. Have dei nee Angst vor olifant?« »Die Frage hat sich noch nie gestellt«, sagte Edge gutmütig. »Aber ich nehme an, ein kriegserfahrenes Streitroß ist Überraschungen gewohnt.« Florian hielt es offenbar für das beste, kein allzu großes Interesse für die Pferde zu zeigen und wechselte das Thema. »Sind Sie nicht noch ein bißchen jung, Zachary, bereits Lieutenant Colonel zu sein?« »Nein, Sir. Die Beförderungen haben zuletzt mit den Niederlagen Schritt gehalten. Johnny Pegram ist mit dreiundzwanzig Brigadiergeneral geworden, und vor acht Wochen ist er gefallen. Ich bin sechsunddreißig.« »Und am Leben. Nun, ich hatte den Eindruck, als wüßten Sie mit Ihren Waffen umzugehen.« Achselzuckend sagte Edge: »Ich lebe.« »Hat mich nicht wenig verwundert zu sehen, daß Sie mit der Linken schießen.« »Ich schieß mit beiden Händen gleich gut, bin allerdings von Natur aus Rechtshänder.« »Die Pistole haben Sie aber mit der Linken gezogen.« »Weil das Kavalleriehalfter so gemacht ist. Sehen Sie? Man trägt es an der rechten Hüfte, so daß der Kolben nach vorn rausguckt. Und das ist so, weil man bei einem Kavalleristen davon ausgeht, daß er zuerst mit dem Säbel kämpft. Den aber zieht man mit der rechten Hand aus der linksgetragenen Scheide.« »Ah: Dann gilt eine Pistole nur als letzter Ausweg?« -29-
»So soll es sein. Und deshalb lernt man in der Ausbildung, mit links zu ziehen und notfalls auch zu schießen. Oder, wenn Zeit genug vorhanden ist, die Waffe an die Rechte zu übergeben.« »Und Sie, Sie schießen links wie rechts gleich gut?« Trocken wiederholte Edge: »Ich lebe.« »Gestatten Sie, daß ich Sie mit einem weiteren geschätzten Mitglied unserer Truppe bekanntmache«, sagte Florian. »Das hier ist Abdullah, unser unersätzlicher Jongleur, Trommler und Bullenkutscher.« »Bullenkutscher?« wiederholte Yount echogleich. »Abdullah ist für Brutus verantwortlich, den Sie ja als ersten von uns kennengelernt haben.« »Der Elefant? Ein Bulle?« sagte Yount. »Ich bin zwar kein Fachmann auf diesem Gebiet, Mr. Florian, aber ich wette, selbst Ihr Gnom hat mehr von einem Bengelschwengel als Ihr Brutus. Sollten Sie sich irren, und tatsächlich einen Bullen in der Elefantenkuh sehen?« Florian lachte. »Selbstverständlich ist Brutus eine Elefantenkuh. Und der Name, auf den sie bei uns hört, lautet Peggy. Praktisch alle Circuselefanten sind Kühe, und doch nennen wir Circusleute unsere Elefanten Bullen. Auch das wieder eine altehrwürdige Tradition, genauso wie die ausgefallenen Namen.« »Yessuh«, sagte der Neger zu den Neuangekommenen. »Eig’lich heiß’ ich Hannibal Tyree.« Sie begrüßten einander, und Edge meinte, der richtige Name des jungen Mannes passe doch eigentlich genau richtig für einen Elefantenwärter. »Und wieder haben Sie recht«, sagte Florian. »Sie müssen Geschichte studiert haben. Aber leider hat der Junge kaum die richtige Hautfarbe für einen Hannibal. Noch schwerwiegender -30-
fällt ins Gewicht, daß wir keinerlei Rüstung haben, ihn als Karthager auszustaffieren. Aber in der Hautfarbe kann er als Hindu durchgehen, und ein Abdullah braucht für sein Kostüm nur ein paar farbenfrohe Fetzen. Sie werden sehen, mein Freund, daß ein Circus wie eine Frau von Kunstgriffen und Listen lebt. Solche Sachen ergeben sich unterwegs ganz von selbst.« Sie waren inzwischen bei der Wagenkolonne angelangt, die immer noch wie trostlos in der zunehmenden Dämmerung stand und stetig tiefer im Schlamm versank. Der Rest der Circustruppe hatte tatsächlich Holz für ein Feuer finden können. In Shawls und Wolldecken gehüllt, standen sie darum herum, die Augen sehnsüchtig auf die Bratpfanne gerichtet, welche die hübsche Frau über die Flammen hielt. Die Koteletts, die gerade anfingen, in der Pfanne zu brutzeln, waren auch das erste, worauf Edge und Yount den Blick richteten. »Welch ein Glück, meine Liebe!« sagte Florian überströmend herzlich. »Ein Bissen für unsere Gäste.« Die Frau bedachte ihn mit einem gutmütigen Blick, was die anderen Circusmitglieder jedoch mitnichten taten. Nicht sonderlich verständlich, da er mit dem Wasser zu kämpfen hatte, das ihm im Mund zusammenlief, sagte Yount: »Eßt ihr denn nicht alle mit?« »Wir anderen«, erklärte Florian mit Nachdruck, »haben bereits zu Abend gegessen.« Ein unterdrücktes Knurren antwortete ihm; ob es aus dem Magen oder dem Mund von jemand kam, war nicht auszumachen. Ohne darauf zu achten, fuhr Florian fort: »Lassen Sie mich Ihnen auch den Rest von uns vorstellen. Die reizende Dame, die gerade die Pfanne für Sie hält, ist Madame Solitaire, equestrienne extraordinaire.« Sie schenkte ihnen ein Lächeln, das freilich leicht unschlüssig wurde, als Edge es erwiderte. Die Frau hatte dunkelblaue Augen und kurzgelocktes Haar von altgoldener Farbe. Von nahem besehen, hätte man ihr Gesicht für leicht verwittert halten -31-
können, doch Edge nahm an, daß sie etwa gleichaltrig mit ihm sein müsse. Sie griff den Stiel der Bratpfanne mit ihrer Linken, um den Fremden mit der Rechten die Hand zu schütteln; sie war nicht minder schwielig als dessen Hände. »Dieser hübsche Backfisch hier ist Madame Solitaires Tochter, Mademoiselle Clover Lee, die als Kunstreiterin bei ihrer Mutter in die Lehre geht.« Das Mädchen war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, besaß die kobaltblauen Augen ihrer Mutter, schimmernde junge Haut, und die Fülle ihres langen gewellten Haars war eine Flut von womöglich noch leuchtenderem Gold, von der Farbe und dem seidigen Glanz einer Kavallerieschärpe. »Und unsere Doyenne«, sagte Florian, »ist unsere weit in die Zukunft blickende Wahrsagerin und Zauberin. Nicht, daß Sie denken, ich wollte Sie foppen, meine Herren. Vielleicht verziehen Sie hochmütig den Mund über Handleserinnen und Frauen, die in anderen Circussen anderen Humbug treiben. Ich garantiere, daß Sie hier ein echtes Phänomen vor sich haben. Einige ihrer Vorhersagen haben sogar mich in den Grundfesten erschüttert, als sie sich prompt bewahrheiteten, und ich bin ein in der Wolle gefärbter Zyniker. Auch dürfte ich vielleicht daraufhinweisen, daß ihr Name kein circusgemachter ist; sie nennt sich selbst so. Gentlemen, ich habe die Ehre, Ihnen Magpie Maggie Hag vorzustellen.« »Guten Abend – hm – Madame«, sagte Edge. Das dunkle Gesicht der alten Frau war ein einziger fester Knoten: nichts als Krähenfüße, Falten und Runzeln. Edge erwartete, daß ihre Stimme – so sie eine hatte – krächzend und schwach aus ihrem Inneren kommen würde und war daher höchst erstaunt, als diese tief und dröhnend kam wie die eines großen Mannes, als sie sagte: »Mucho gusto en conocerles.« Yount, den das nicht aus der Fassung brachte, erwiderte höflich: »Igualmente, senora.« -32-
»Aber Mag«, sagte Florian. »Es ist lange her, daß ich dich das letztemal in einer deiner alten Sprachen habe reden hören. Warum jetzt?« »Weil sie sie sprechen«, brummelte sie. »Ha! Sehen Sie?« sagte Florian. »Weiß alles, sagt alles. Je nun, jetzt kennen Sie aber die gesamte Truppe. Nein, doch nicht ganz: den Wilden Mann noch nicht, der dort hinten im Schatten steht.« Sie beugten sich vor und spähten ins Dunkel. Der sich dort herumdrückte, schien nichts anderes als ein ungewöhnlich wenig ansprechender linkischer Jüngling. Er trug zerzauste lange, gleichwohl ziemlich schüttere Haare von undefinierbarer Farbe, hatte Schlitzaugen, kaum als solche erkennbare winzige Ohren und eine abstoßende Zunge, die viel zu groß war für seinen Mund. »Sie brauchen sich nicht erst die Mühe zu machen, ihn zu begrüßen«, sagte Florian nachlässig. »Er wird es doch nicht wahrnehmen, und antworten kann er sowieso nicht. Wir ziehen ihm ein Kostüm an und stellen ihn als Wilden Waldmenschen zu Schau; dabei ist er nichts weiter als ein armer echter Schwachsinniger.« An die Frauen gewandt, sagte Edge: »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, meine Damen, daß wir bewaffnet hierher gekommen sind.« Er zeigte auf die Pistole an seiner Seite, den im Futteral steckenden Karabiner und den Säbel an seinem Sattel. »Ich weiß, solche Manieren sind unentschuldbar. Nur stellen diese Waffen den einzigen Besitz von Wert dar, der uns noch geblieben ist.« Die dröhnende Stimme ließ sich wieder vernehmen: »Sie wird Ihnen bald besser dienen, gazho, als je zuvor ...« »Wie beliebt? Hm, vielen Dank, Ma’am.« »Ich heiß’ Magpie Maggie Hag, und so sollten Sie mich auch anreden.« -33-
Edge brachte es einfach nicht fertig, eine erwachsene Frau mit ihrem Spitznamen anzureden, schon gar nicht eine Frau, die offenbar zwei- oder dreimal so alt war wie er selbst. Infolgedessen verneigte er sich und wandte sich ab und sah sich suchend nach dem um, was Florian ›den Wagentroß‹ genannt hatte. Die Kolonne bestand aus fünf Wagen. Das bißchen Helligkeit, das von der Kochstelle ausging, reichte, um ihm zu zeigen, daß sie durch die Bank bessere Tage gesehen hatten – und eine Vielzahl schlechter Tage seither. Der ursprünglich blaue Anstrich und die vielfarbige Beschriftung waren verblaßt und blätterten ab; darunter wurden Fugen und Risse sichtbar, die mit Lumpen verstopft waren. Keine zwei Räder der Wagen liefen wirklich parallel; manche standen sogar nach verschiedenen Richtungen auseinander; etliche Speichen waren mit Ersatzstücken verstärkt worden; beides hatte man mit Lederriemen von frisch geschlachteten Tieren umwickelt. An der Spitze der Kolonne stand eine ziemlich heruntergekommene Kutsche. Die nächsten drei waren hohe, schwere, mit heruntergeklappten Holzwänden versehene Kastenwagen. Der letzte, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, schien vergitterte Seiten zu haben wie eine Gefängniszelle. Vor die Kutsche war ein durchaus anständiger Schimmel gespannt; ein heller Apfelschimmel zog den ersten Wagen. Das nächste Gefährt wurde von einem schweren Kaltblut gezogen, das früher ebenso mächtig gewesen sein mußte wie Younts Lightning, jetzt jedoch ein riesiges Knochengestell mit dicken Gelenken darstellte. Der nächste Wagen wies keine Deichsel auf, sondern ein verzwicktes Geschirr aus Lederriemen, Seilen und hintereinander angebrachten Schwengeln, so daß der Wagen von zwei sehr kleinen, zottigen, trübsinnig dreinblickenden Tieren gezogen werden konnte. »Esel?« fragte Edge. »Man sollte sie nie geringschätzen«, sagte Florian -34-
hochtrabend und kein bißchen verlegen. »Die Tierchen haben uns getreu gedient, den Museumswagen zu ziehen.« »FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM ...« murmelte Yount, der versuchte, die schwungvolle und einst glänzende Inschrift an der Seite des ihm zunächst stehenden Wagens zu entziffern. »Südstaaten-Männer, Südstaaten-Pferde, Südstaaten-Unternehmen ... Eine Südstaaten-Show für Leute aus dem Süden.« »Ehrlich gesagt«, erklärte Florian, »habe ich diesen Slogan nicht selbst erfunden. Aber in North Carolina, von wo wir gerade kommen, sind wir gut damit gefahren. Doch im erzbigotten Bibelland schreiben wir: ›Eine saubere Show für moralische Leute.‹ Im allgemeinen ist es ja erforderlich, erst einmal die für die Provinz typische Engstirnigkeit und Intoleranz allem Neuen und Fremden gegenüber zu überwinden. Aber kommt, Freunde! Solange das Essen noch nicht fertig ist, laßt uns hineingehen in diesen Wagen und ...« – er knuffte Edge vertraulich in die Rippen – »und etwas Holz und Wasser zu uns nehmen, eh?« Sie kletterten hinein, indem sie einen kleinen Tritt hinaufstiegen, der am absackenden Hinterende des Wagens heruntergeklappt war, und traten dann durch die schmale Tür in der Rückwand in das Wageninnere, das nur in der Mitte einen engen Durchgang freiließ, denn zu beiden Seiten gab es Borde und Regale, Gestelle und Ständer, die vom Boden bis zur Decke reichten und an denen wiederum eine Fülle von Scharnieren, Karabinerhaken, Haken und Riegeln angebracht war – alles aus Eisen, das meiste ziemlich verrostet –, so daß die verschiedenen Fächer aufgezogen oder aufgeklappt, zugeschoben oder zusammengeklappt werden konnten. Jedes Bord und jedes Fach in diesem Gestell quoll über von Leinwandrollen, bemalten Stangen, aufgeschossenen dicken Seilen und anderem, nicht auf Anhieb zu identifizierenden Gerät. Eine Petroleumfunzel hing von einem Haken an der Decke herunter. Die Atmosphäre im -35-
Wageninneren hatte nichts Abstoßendes, sondern war eher prickelnd, wobei die Gerüche von kaltem Rauch, warmem Heu, Puder und Parfüm sowie Tierausdünstungen eine Reihe von weniger bedeutenden wie Ölfarbe, Meltau und getrocknetem Schweiß überlagerten. Florian bückte sich und sagte: »Zieh’ mal dies Fach da runter, Obie. Das ist eine Koje, auf der Sie sitzen können. Normalerweise ist dies unser Zeltwagen und dient auch den Frauen als Nachtquartier, doch habe ich Madame Solitaire gebeten, es für Gäste herzurichten – ah ja, da hätten wir’s!« Er richtete sich auf und hielt eine halbvolle Flasche sowie drei Blechbecher in der Hand. Edge schnallte seinen Leibriemen ab und legte ihn samt Pistolenhalfter und Pistole neben sich. Yount nestelte an Riemenverschlüssen herum und ließ dann eine mit Wolldecken ausgestattete Liegestatt für sich selbst und Edge herunter, während Florian auf der andern Seite des Ganges flott eine andere für sich selbst herunterließ, flott die Flasche entkorkte und flott einschenkte. Die Gäste nahmen die ihnen angebotenen Becher, während Florian ihnen mit dem seinen zuprostete: »Gut gemacht, Gentlemen – auf Ihr Wohl!« Die beiden Männer gingen murmelnd darauf ein, tranken und hätten sich fast verschluckt; jedenfalls schüttelten sie sich und überlegten. Nach einer Weile erkundigte Edge sich: »Sollte es vielleicht so sein, daß wir Ihren Franzbranntwein zum Einreihen für die Pferde trinken?« »Ich gebe zu, es ist nicht gerade Overholtz-Whiskey«, sagte Florian mit leicht gekränkter Miene. »Wilmington bot zwar alle Luxusgüter dieser Erde, doch bis zu uns sind nicht viele durchgesickert. Immerhin, dies ist eine Art Whiskey, und nicht alle in Dixieland trinken heute nacht Whiskey – welcher Marke auch immer.« »Amen!« sagte Yount und hielt seinen Becher zum -36-
Nachfüllen hin. Edge fragte: »Dann haben Sie also in Wilmington das letztemal Station gemacht?« Wiewohl sie sich mit keinem Wort darüber verständigt hatten, schwante Edge und Yount inzwischen, warum sie hier so herzlich willkommen geheißen wurden; vermutlich wollte man versuchen, ihnen ihre Pferde abzuschmeicheln. Infolgedessen lehnten sie sich zurück und sahen Florian an, der jetzt am Reden war. Was sie vor sich sahen, war ein kleiner, nicht eben dünner, eher etwas fülliger Mann in braunem Gehrock und grauen Beinkleidern zum Reiten, die früher einmal ungewöhnlich schmuck gewesen sein mußten, jetzt jedoch fleckig, geflickt und fadenscheinig aussahen. Revers und Manschetten seines Gehrocks trugen noch die letzten Spuren einer ehemals üppigen Goldfadenstickerei. Florians braune Augen leuchteten und waren voll Leben; er schien knapp über die sechzig zu sein, doch sein Haupthaar sowie der sehr gut geschnittene Knebelbart waren silberweiß, und in seinem tiefgeröteten Gesicht hatten die Jahre tiefe Spuren hinterlassen. »Wilmington!« sagte er, und das klang alles andere als liebevoll. »Es sah so aus, als sollte Wilmington unsere letzte Station sein und wir für immer dort bleiben.« Gluckernd schenkte er Whiskey nach. »Vor fünf Jahren, als klar war, daß täglich der Krieg ausbrechen konnte, beeilte sich praktisch jeder Circus in Nordamerika, seine letzte Tournee anzutreten, ehe die Straßen gesperrt wurden. Wir Besitzer und Direktoren trafen uns im Atlantic House in Philadelphia; dort wollten wir uns einigen, wer nach Norden zöge, wer nach Westen oder wohin auch immer. Aus einem ganz bestimmten Grund entschied ich mich für den Süden, und dort bin ich bis jetzt die Jahre über gewesen. Selbst die Unternehmen, die heil und gesund nach Norden zurückgekehrt sind, sollen in den letzten Jahren keine besonders gute Zeit gehabt haben. Dan Rice hat seinen Circus auf ein Schiff verladen und nicht gerade mit rauschendem Erfolg den Ohio River von oben bis unten abgeklappert. SPALDING AND -37-
ROGERS sind per Schiff nach Südamerika, um den Krieg dort abzuwarten. HOWES AND CUSHING sind nach England. Mag sein, daß noch ein paar andere hinter den Linien festsaßen, so wie wir. Ich weiß es nicht.« Er machte eine Pause, um an seinem Whiskey zu nippen. Yount fragte: »Dürfen wir hier rauchen?« Florian nickte, so daß Yount den letzten Tabak hervorholte, den er von jenem Yankee aus Connecticut hatte. Er und Edge stopften sich die Pfeife und setzten sie in Brand. Dann fragten sie nach dem besonderen Grund, der Florian veranlaßt hatte, sich nach Süden zu wenden. »Ich hatte vor, ein paar gute Mißgeburten zu erwerben. In Amerika bekommt man die besten Exemplare in North Carolina.« »Was Sie nicht sagen!« erklärte Edge. »Wieso das?« »Naja, Mann, diese Tarheels oben in den Great Smoky Mountains von North Carolina treiben seit Jahrhunderten Inzucht. Warum sonst, meinen Sie, werden die Bewohner von North Carolina Tarheels genannt – Teerhacken? Weil sie kleben bleiben, wo sie sind. Diese Hillbillies kommen in ihrem ganzen Leben nicht aus ihren heimatlichen Bergen heraus; da bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als untereinander zu heiraten. Und wenn Schwester und Brüder und Vettern und Basen seit Generationen Inzucht getrieben haben, dann kommen dabei eben Kretins, Schwachköpfe und dreibeinige Monster heraus, bärtige Frauen – was immer Sie wollen. Und die geben sie mit Freuden gratis weg.« »Haste Töne!« sagte Yount. »Aus diesem Grunde bin ich in den Süden gezogen. Im Handumdrehen hat mich zunächst die Hälfte meiner Truppe im Stich gelassen. Zehn oder zwölf Artisten und die vielen Tiere, die ihnen gehörten. Diese Leute wollten sich unter den herrschenden Umständen einfach nicht noch weiter in den Süden vorwagen. Groß überrascht hat mich das nicht. Im -38-
Gegenteil, ich war ebenso überrascht wie erfreut, als Abdullah mitkommen wollte, obwohl er erst ein paar Jahre zuvor auf einer Plantage in Delaware freigelassen worden war. Und daß die anderen mich haben sitzen lassen, hat mich auch nicht sonderlich gekratzt. Ein kleinerer Circus kommt leichter durch; außerdem war er immer noch gut genug, diese Hinterwäldler anzulocken.« »Sie sind mit nicht mehr herumgezogen als dem, was Sie jetzt haben?« fragte Edge. »Jawohl. Nur daß wir bessere Zugtiere hatten als jetzt die Esel, und daß Wagen und Geschirr und Kostüme alle fabelhaft in Schuß waren. Jedenfalls machten wir einen ausreichend guten Eindruck auf die Tarheels. Jedenfalls einen besseren als sie auf uns, will sagen, sie waren schrecklich knapp an Kretins. Der einzige, den wir auftreiben konnten, war dieser mittelmäßige Schwachkopf. Da arbeiteten wir uns durch die Smokies und waren von der Zivilisation so weit entfernt wie die Hillbillies selbst. Selbst daß der Krieg tatsächlich ausgebrochen war, erfuhren wir erst, als er schon tüchtig im Gange war. Als wir es dann endlich erfuhren, kamen wir Hals über Kopf aus den Bergen raus und versuchten, in der Hoffnung auf ein Schiff im Eilmarsch die Küste zu erreichen. Bis nach Wilmington schafften wir es auch, doch dann verließ uns das Glück.« »Sie sollten dankbar sein, immerhin dies Glück gehabt zu haben«, knurrte Yount. »Wo so viele andere Dinge rein- und rauskonnten, warum Sie nicht?« fragte Edge. »Zunächst einmal benutzen Blockadebrecher keine Schiffe, die groß genug wären, einen Elefanten an Bord zu nehmen. Außerdem mußten sie Ladungen übernehmen, mit denen weitaus mehr Geld zu verdienen war als mit uns. Wenn die Schiffe aus Wilmington ausliefen, konnten sie Baumwolle, Tabak, gehamstertes Gold und Schmuck mitnehmen und -39-
Passagiere, die mit Freuden jeden Preis bezahlten – Ausländer, die hier vom Krieg überrascht worden waren, wohlhabende Plantagenbesitzer und ihre Familien, die ins Ausland flohen, junge Südstaaten-Gentlemen, die keine Lust hatten, den grauen Rock anzuziehen ...« Yount schnob verächtlich durch die Nase und sagte dann: »Aber es kann doch nicht der schlimmste Platz auf der Welt sein, in dem sie festsaßen.« »Nein, nein, durchaus nicht. Viel von den schönen Dingen, die rein- und rauskamen, blieben an Wilmingtons Fingern kleben. Die Stadt lebte königlich, verglichen mit dem Rest des Südens. Nicht, daß wir uns viele von den guten Dingen leisten konnten. Aber irgendwo mußten die Gauner mit ihrem Verdienst bleiben, und so gaben sie ihn für Vergnügungen aus. Sie gaben Galabälle und Galadiners, besuchten das Theater, die Rennbahn – und den Circus, und das waren wir.« Schweigend saßen die Männer eine Weile da und lauschten auf die Geräusche, die verrieten, daß der Circus sich auf die Nacht vorbereitete. Gedämpftes Wiehern verriet, daß Pferde und Esel ausgespannt und zum Grasen freigelassen wurden. Man hörte etwas lauteres Gemuhe, das auf Kühe hätte schließen lassen, doch offensichtlich aus der Kehle des Wilden Mannes kam. Es klapperte und zischte, die Stimme der Zigeunerin hörte sich an, als stoße sie Beschwörungen in einer unbekannten Sprache aus. Und das unbeschwerte junge Lachen eines Mädchens. Florian fuhr fort: »Solange wir in Wilmington festsaßen, konnten wir keine neuen Artisten anwerben, ja, nicht einmal unsere ganze Ausrüstung konnten wir behalten. Die Blockadebrecher brachten weder Gerät noch Artisten mit. Stoffe waren so teuer, daß wir uns keine neuen Kostüme leisten konnten. Aber den Eintrittspreis hielten wir möglichst gering, damit die Leute immer wieder kamen. Und durch Veränderungen unserer Tricks und unseres Programms gelang -40-
es uns, den Zuschauern etwas Abwechslung zu bieten. Jeder von uns nahm viele Male einen neuen Namen an – deshalb bestehe ich heute so darauf, daß sie sich auf ihre ursprünglichen Rollen und Namen besinnen. Nun ja, das war’s. Wir haben uns keine goldene Nase verdient, weiß Gott nicht, aber wir haben überlebt.« »Und jetzt?« erkundigte sich Edge. »Jetzt sind wir entschlossen, uns besagte goldene Nase zu verdienen. Die Armut steht uns bis hier; wir haben keine Lust mehr, uns nur so durchzuschlagen. Wir wollen nicht mehr, daß die Pferde und der arme Brutus praktisch von Maisabfällen leben. Maximus sollen nicht mehr Fleischreste und Gekröse vorgeworfen werden, das wir auftreiben können, die Füße von Hühnern, die wir für uns selbst gestohlen hatten, und jeden streunenden Schoßhund und jede Hauskatze, die wir in den Gassen erwischen.« Yount fragte: »Wer ist Maximus?« »Unsere Circuskatze.« »Sie verfüttern Katzen an eine Katze?« »Katze – das ist Circusjargon für alle Raubtiere: Löwen, Tiger, Leoparden und so weiter. Maximus ist ein Löwe. Wobei mir einfällt ... bitte, entschuldigen Sie mich einen Moment. Zachary und Obie?« Er machte die Tür auf, steckte den Kopf hinaus und rief laut: »Captain Hotspur!« Als Roozeboom unten am kleinen Tritt auftauchte, redete Florian ziemlich lange auf holländisch auf ihn ein; der Name Maximus allerdings fiel dabei mehrere Male. Roozeboom antwortete mit: »Ja, Baas«, und ging wieder weg. Florian schloß die Tür und fuhr fort: »Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel für das geben, was uns alles widerfahren ist. Seit Wilmington haben wir unterwegs an jedem einigermaßen nennenswerten Ort eine Vorstellung gegeben. Etwa Backwater Junction, North Carolina: warum nicht aufbauen und auftreten? -41-
Und da sind Leute aus Backwater, die zusehen, und vielleicht haben sie auch einen Kupferling oder irgendwelche Naturalien übrig, uns damit zu bezahlen.« Er machte eine Pause und lachte volltönend. »Nein, ich will ehrlich sein. Circusleute treten überall auf, wo Leute sind, die zusehen wollen. Wir sonnen uns in der Bewunderung. Wir sind wie die Vögel – wir würden singen und uns putzen und in jedem Fall herumstolzieren – und wer bezahlt, verleiht unserem Sonnenschein zusätzlich Wärme.« Wieder lachte er glucksend, doch dann wurde er wieder nüchtern. »Nun, in North Carolina wimmelt es von obdachlosen Schwarzen – entweder freigelassenen oder entlaufenen –, und da haben wir ihnen was zu essen oder was wir sonst hatten, dafür gegeben, daß sie in der Nacht in die nächste Ortschaft vorausliefen und dort unsere Plakate klebten.« Edge und Yount schienen nicht zu begreifen. »Unsere Circusplakate an Mauern und Bäumen anbrachten – sie mit einem dünnen Mehlkleister ankleben. Davon bekommen sie neben den Plakaten selbst einen kleinen Eimer voll mit. Nun, wir kamen immer wieder in neue kleine Städte, ohne von unseren Plakaten das geringste zu sehen, und die Leute hatten natürlich keine Ahnung, daß wir kamen. Was war geschehen? Die Schwarzen warfen die Plakate weg und aßen den Kleister auf. Da können Sie mal sehen, was uns alles widerfahren ist.« »Glauben Sie etwa, hier wäre es besser?« ließ Yount sich vernehmen und lachte verbittert auf. »Mr. Florian, die letzten hundert Kilometer sind Sie durch Virginia gekommen. Sie reden von Menschen und Kupferlingen und Naturalienzahlungen – verdammt! –, wir haben die letzten beiden Tage nicht mal einen rumziehenden Schwarzen gesehen.« Florians Stirn umwölkte sich. »Uns blieb keine andere Wahl; wir mußten einfach aus Wilmington raus. Zum Schluß sind die Blauen eingerückt und haben die Stadt übernommen. Das war -42-
vor fünf, sechs Wochen, und mit dem sogenannten guten Leben war es aus. Wir wollten nicht Gefahr laufen, endlos in Dixieland festzusitzen. Wer weiß, wie lange die Union die Südstaaten unter Kuratel stellen will. Im Moment wollen wir nach Lynchburg.« »Das ist ein knapper Tagesritt von hier«, sagte Yount. »Und ein ganz ansehnlicher Ort«, sagte Florian. »Jedenfalls groß genug, daß wir Aussicht haben, dort für eine Zeitlang unseren bitter nötigen Lebensunterhalt zu verdienen. Danach wollen wir weiter nach Norden. Unterwegs vielleicht neue Nummern anheuern und möglicherweise Geräte finden, die nicht so abgenutzt und verbraucht sind wie unsere alten. Wenn wir nur über die Mason-Dixie-Linie rüberkommen ...« »Als Sie von Wilmington kommend hierherfuhren«, sagte Edge und faßte Florian dabei neugierig ins Auge, »haben Sie sozusagen im rechten Winkel die Route gekreuzt, die General Lee marschieren wollte. Genausogut könnten Sie jetzt mitten in einer wilden Schießerei sitzen. Wie konnten Sie nur so töricht sein, so etwas zu tun?« »Gewiß, wir hatten alles auf eine Karte gesetzt, aber wir sind sehr klug vorgegangen, jedenfalls bilde ich mir das ein. Die Wirklichkeit hat mir recht gegeben. Sehen Sie, als Ihre Truppen aus Petersburg ausrückten, haben wir in Wilmington sofort davon erfahren; weiterhin hieß es, die Soldaten desertierten zu Tausenden. Folglich mußte das Ende kurz bevorstehen. Jedenfalls ging ich davon aus, daß Lees Vorrücken stotternd zum Stillstand kommen würde, und das längst, bevor unsere Wege einander kreuzten.« »Ich verstehe«, sagte Edge bedrückt. »Nun, wir unsererseits erkannten, daß das Ende unmittelbar bevorstand, als General Lee keine Befehle gegen Nachzügler und Versprengte mehr ausgab. Es war das erstemal, daß er das versäumte, und uns war klar, daß das mit Absicht geschah; jeder wußte, was Lee damit -43-
ausdrücken wollte. Wir rückten mit rund siebenundzwanzigtausend Mann aus Petersburg aus, und diese Zahl schmolz immer mehr zusammen. Ich habe versucht zu zählen, und meine, in Appomattox waren es nur noch rund achttausend Mann, die sich ergeben konnten. Jawohl, Sie haben alles richtig eingeschätzt, Mr. Florian. Hoffentlich behalten Sie weiterhin recht.« »Wenn meine Familie die Ehre hätte, einen lateinischen Wahlspruch zu haben, dann wäre das ... mal sehen, ja ...: ›in mala cruce, dissimula‹. Kein besonders elegantes Latein, zugegeben, aber es bedeutet sinngemäß: ›Wenn du bös in der Klemme sitzst, bluffe!‹« Es wurde an die Wagentür gepocht, und eine Stimme verkündete munter: »Auf los geht’s los!« Florian lehnte sich vor, um die Tür aufzumachen. Zwei dampfende Blechteller in der Hand, stand lächelnd Madame Solitaire auf der kleinen Treppe. Auf jedem Teller lag ein einzelnes, sehr kleines Kotelett, ein Batzen Maisbrei und etwas undefinierbares Gemüse. Edge und Yount dankten ihr überströmend, als sie ihnen das rührende Essen samt Zinngabel reichte. Da saßen sie vor ihrem Teller, zögerten höflich und schluckten vernehmlich. »Nun machen Sie schon, essen Sie!« sagte das hübsche Frauenzimmer. »Warten Sie nicht auf mich. Ich habe bereits gegessen. Das haben wir alle. Das hat Florian Ihnen doch schon gesagt, oder?« Sie sah ihn spöttisch an. So zogen die beiden Männer ihr Klappmesser, machten sich über das Essen her und bemühten sich, den Eindruck zu vermeiden, als hätten sie einen allzu großen Hunger. Edge schnitt sich ein winziges Stück vom Schweinefleisch ab, spießte es auf, beförderte es in den Mund und kaute genüßlich und ausgiebig darauf herum, schluckte, hielt anerkennend inne und sagte: »Vorzüglich, Madame Solitaire, und ich kann gar nicht -44-
sagen, wie willkommen. Muß schon sagen, ihr seid unglaublich gastfreundlich.« »Wenn Sie vorhaben, mir beim Essen eine Rede zu halten, dann nennen Sie mich Sarah – das ist kürzer, und Sie können schneller essen. Mein richtiger Name ist Sarah Coverley.« »Bitte, Madame Solitaire«, erhob Florian milde Einspruch. »Ich bin gerade dabei, ihnen zu erklären, wie es beim Circus so zugeht.« »Ach, Scheiße«, sagte sie, woraufhin die Augenbrauen der beiden Männer in die Höhe gingen. »Ich bin nun wirklich vom Circus, aber ich kann mich nicht an all die Namen erinnern, die ich als Artistin geführt habe. Prinzessin Shalimar in durchsichtigen Haremsschleiern, Pierrette im Clownsgewand, Jeanne d’Arc in der Papprüstung. Lady Godiva splitterfasernackt ...« Die Brauen der Herren verschmolzen praktisch mit ihrem Haaransatz. »Würdet ihr beiden jetzt aufhören zu essen aufzuhören? Nur zu, eßt, solange es heiß ist.« Florian bemerkte: »Vielleicht zögern sie wegen des Geschmacks. Tut mir leid, Leute, aber so schmeckt Schweinefleisch aus Nassau nun mal. Wenn es aus Übersee kommt, bekommt es leicht einen grünlichen Schimmer.« »Nein, nein, es ist tadellos«, beteuerte Edge und schnitt sich noch ein winziges Stück ab. Dann kaute er es gründlich durch, als wäre es ein ganzer Schinken, schluckte und sprach endlich weiter. »Wenn Sie Sarah heißen, Madame, darf ich wohl davon ausgehen, daß Ihre kleine Tochter nicht Mademoiselle Wiehieß-sie-doch-noch ist?« »Nein, sie heißt Edith Coverley, doch ihr Bühnenname hat sich ganz natürlich eingestellt. Sehen Sie, als sie noch ganz winzig war und gerade anfing zu sprechen, konnte sie den Namen Coverley nicht aussprechen was dabei rauskam, war bestenfalls Clover Lee. Und bei diesem Namen ist sie geblieben, auch als sie größer wurde.« -45-
»Ist aber auch ein schöner Name«, sagte Yount. »Und, Mr. Coverley wie heißt der?« »Der ›verstorbene‹ Mr. Coverley, falls er in der Hölle schmort, wo er hingehört. Ich habe von diesem Schuft nichts mehr gesehen, seit ich ihn davon in Kenntnis setzte, daß Clover Lee unterwegs sei.« Younts Brauen zuckten wieder, doch Edge beeilte sich zu sagen: »Ihrem Namen entnehme ich, daß Sie keine Ausländerin sind.« »Für Sie Südstaatler bin ich wahrscheinlich eine Rebellin«, erklärte sie boshaft. »Ich stamme nämlich aus New Jersey. Und jetzt halten Sie den Mund und essen Sie lieber. Ich hole die Teller, sobald Sie fertig sind. Florian, schenk ihnen noch etwas von der Schlangenpisse ein, damit der Geschmack von diesem Kotelett übertüncht wird.« Sie verschwand, und Florian tat, wie ihm geheißen. Edge trank von dem ihm Dargebotenen und sagte: »Ich war gerade dabei, mir über die Menagerie der Nationalitäten klarzuwerden, von der Sie gesprochen haben. Die meisten sind für meine Begriffe Amerikaner. Die Dame und ihre Tochter, der Herr aus Louisiana, der Tarheel-Kretin. Wenn man will, könnte man den Elefantenneger einen Afrikaner nennen. Sie selbst stammen aus dem Elsaß und der Löwenbändiger ist Kap-Holländer. Aber der Zwerg – seiner Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit nach zu urteilen, würde ich sagen: tiefer Süden, armer Weißer.« »Jawohl, Tim ist bloß ein Mississippi-mudcat oder Katzenwels. Doch die meisten Circusleute nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie haben ja Madame Solitaire gehört. Und wenn Timm sich unflätiger ausdrückt und noch lauter ist, dann tut er das, weil er sich einbildet, damit könne er größer wirken. Und das ist natürlich ebenso hoffnungslos wie der Versuch eines Schielenden, würdevoll auszusehen.« -46-
»Die Doyenne ist aber keine Amerikanerin, Zack«, wies Yount ihn zurecht. Mit Stolz in der Stimme sagte er zu Florian: »Wir haben unten in Mexiko eine ganze Menge Spanisch mitbekommen.« »Aber die alte Dame ist keine Mexikanerin«, sagte Edge. »Sie lispelt bei ihren es, und das ist europäisches Spanisch.« »Stimmt«, sagte Florian. »Maggie ist Zigeunerin und stammt aus Spanien.« Lange und eingehend sah er Edge an. »Dann können Sie also genug spanisch, um das echte kastilische Spanisch herauszuhören. Und unten am Bach haben Sie französisch mit mir gesprochen.« Abwehrend sagte Edge: »Eine Redewendung aus dem Schulbuch. Mein Französisch ist eingerostet. Zwar habe ich versucht, es lebendig zu halten habe zum Beispiel manchmal mit General Beauregard französisch gesprochen. Er stammt aus einer alten Kreolenfamilie aus New Orleans, so wie Ihr Mr. Rouleau.« »Und Sie?« »Nein, ich bin nicht von vornehmer Abkunft. Keine alte Familie, kein exotischer Geburtsort. Ich bin auch nie im Ausland gewesen, außer in Mexiko und in Gegenden, die noch nicht zu den Staaten gehören. Ich bin einfach ein Hillbilly aus Virginia.« »Wo Sie Ihr Französisch gelernt haben, meine ich.« »Am I – als ich dort Ratte war.« Florian blinzelte ihn an. »Wie bitte?« »Nun, Sie haben uns den ganzen Abend mit Circusjargon überschüttet, und da dachte ich, ich zahl’s Ihnen mal heim.« Er lächelte, und Florian blinzelte abermals – über die Veränderung, die dieses Lächeln in Edges Gesicht hervorrief. »Ratten nennt man die neuen Kadetten am Virginia Military Institute, besagtem I. Dort habe ich mein Französisch gelernt. Eines der ersten Bücher, mit denen wir uns dort herumschlagen mußten, -47-
war die Vie de Washington.« Florian sah ihn auch weiterhin begierig an. »Dann haben Sie also einige Französisch- und Spanischkenntnisse. Noch irgendwelche anderen Sprachen, Zachary?« »Naja, natürlich lese ich Latein.« »Natürlich. So was erwartet man schließlich bei einem Hillbilly aus Virginia.« »Ach, verstehen Sie doch, was ich meine. Am VMI mußten wir Latein lernen. Unser Lateinlehrer, das war Major Preston – ein vorzüglicher Lehrer. Allerdings muß man dazu sagen, daß alle unsere Lehrer einsame Spitze waren. Von einem haben Sie vermutlich schon gehört – Stonewall Jackson. Nicht, daß er damals Stonewall geheißen hätte. Wir nannten ihn Professor und bemühten uns, ihm mit größter Hochachtung zu begegnen. Er war von untadeliger Frömmigkeit und von strengen Grundsätzen erfüllt. Doch wie dem auch sei, ich habe guten Unterricht genossen und versucht, das, was ich dort gelernt habe, nicht wieder zu vergessen. Womit ich nicht sagen will, daß ich mich jetzt und auf der Stelle hinsetzen und eine Passage aus dem Tacitus übersetzen könnte, aber ...« »Immerhin können Sie ein bißchen Latein, etwas Französisch und ein wenig Spanisch. Ein gebildeter Mann, muß ich schon sagen. Sie könnten überall in Europa zurechtkommen. Haben Sie beide eigentlich jemals daran gedacht, nach drüben zu gehen?« Edge starrte ihn an, setzte dann sein abstoßendes Lächeln auf und schüttelte seufzend den Kopf. »Europa, Mr. Florian? Es besteht genausoviel Möglichkeit für uns, Europa zu besuchen, wie die Wahrscheinlichkeit, daß Europa hierher zu uns kommt.« Florian lachte, fuhr dann jedoch ernsthaft fort: »Ich muß nochmals sagen, meine Freunde, daß ich Sie nicht auf den Arm nehme. Es ist mir todernst. Ich selbst komme aus Europa; dort habe ich meine frühesten Erfahrungen mit dem Circus gemacht. -48-
Und dorthin will ich auch wieder zurück, und zwar so schnell wie möglich – mit meinem eigenen Circus. Der amerikanische Süden, aber auch der Norden werden noch auf unabsehbare Zeit ein heilloses Durcheinander sein, in dem es an vielem mangelt. Ich hoffe, das Glück wird mir wieder hold sein und daß ich wieder zu Geld komme – und mit mir alle anderen, die diesen Circus mit mir machen. Und wenn das gelingen soll, dann in Europa. Wir werden uns durch diesen verarmten Süden hindurchmühen, bis wir eine der Städte im Norden erreichen, wo man etwas besser verdienen kann – dort wollen wir genug Geld machen, uns ein Schiff nach England oder Frankreich leisten zu können. Was würden Sie beide davon halten, sich uns anzuschließen und mitzukommen?« Lächelnd sagte Edge: »Und ich habe die ganze Zeit über darauf gewartet, daß Sie uns ein Angebot auf unsere Pferde machen.« »Naja, die hätte ich natürlich gern, wirklich. Und als wir uns vorhin begegneten, hatte ich zunächst nur für sie Augen. Aber jetzt hätte ich außer den Pferden auch Sie beide gern.« Yount wollte es nicht glauben: »Haben Sie denn nicht schon genug arme Weiße am Hals – und nicht nur arme Weiße –, die sich darauf verlassen, von Ihnen unterhalten zu werden? Wozu um alles in der Welt sollten Sie sich mit noch zwei Männern belasten, die sich ihren Lebensunterhalt nicht verdienen können?« »Weil Sie das meiner Meinung nach durchaus könnten. Sich Ihren Lebensunterhalt verdienen, und nicht nur das. Ich hatte Ihnen doch gesagt, daß wir unterwegs neue Artisten mit neuen Nummern verpflichten wollten.« »Artisten? Verflucht und zugenäht, ich bin aber kein Artist! Das einzige, wovon ich was verstehe, das ist Soldat sein. Nein, so was muß ich mir aus dem Kopf schlagen. Ich, und in meinem Alter Ausreißer spielen und mich einem Circus anschließen?« -49-
»Kein Artist ist jemals Artist gewesen, ehe er anfing, etwas zu tun. Und kein Mensch weiß, zu welch außergewöhnlichen Dingen er fähig ist, bis er einmal etwas außerhalb des Üblichen ausprobiert. Genau das ist es, was so ein Circus ist, Obie – etwas, wo man die Grenzen des Möglichen ausdehnt, wo man den Einengungen durch die banale Wirklichkeit trotzt, wo man erkennt, daß das Unmögliche manchmal doch möglich ist.« »Naja, mag sein«, murmelte Edge überwältigt von dieser Rhetorik. »Aber das ist nicht für jedermann.« »Als ich Hannibal Tyree das erste Mal begegnete, arbeitete er an einer Straßenecke in Pittsburg als Schuhputzer und konnte sich auch nichts anderes vorstellen, als bis an sein Lebensende ein Shoeshine-Nigger zu sein. Da kam ich, erkannte, wie geschickt er seine Bürsten handhabte und im CakewalkRhythmus den Putzlappen auf die Schuhe klatschte. Resultat? Heute ist er ein Artist, ein begnadeter Jongleur und auch noch Elefantenkutscher. Solange es einen Circus auf Erden gibt, wird Abdullah nie um einen einträglichen Job verlegen sein, der ihm überdies auch noch Spaß macht. Außerdem sonnt er sich in der Bewunderung des Publikums ... und genießt sogar eine gewisse Berühmtheit. Er wird vielleicht nie ein Stern am Himmel der Artisten sein wie Leotard oder Blondin aber er wird auch nie wieder ein armseliger, niedriger Nigger sein. Sergeant, was ist die schwerste Last, die Sie jemals aufgehoben haben?« »Uh, was?« Yount konzentrierte sich auf die unerwartete Frage und stammelte: »Nun ja ... die schwerste Last? Mein Gott, ich weiß nicht. Einen Munitionswagen der Artillerie aus einem Schlammloch heraus, nehm’ ich an«. »Und das ganz allein?« »Ja, schon. Sehen Sie, das war nämlich so ...« »Lassen Sie das! Ich wollte nur, daß Sie sich mal über etwas klarwerden. Schließlich kann das nicht jedermann. Nun gehe ich nicht unbedingt davon aus, daß Sie etwa Brutus in die Höhe -50-
heben könnten; aber bei dem Percheron, den Sie haben, da wäre ich mir nicht mehr so ganz sicher. Jedenfalls würde ich darauf nicht wetten. Aussehen tun Sie jedenfalls wie ein Kraftjongleur, und als solchen werde ich Sie herausstellen. Was sagen Sie zu einem Namen wie Quakemaker – Bebenmacher, der stärkste Mann der Welt?« Yount sah ihn offenen Mundes an und konnte es immer noch nicht fassen. »Und was Sie betrifft, Zachary, so hab’ ich mir folgendes überlegt: Sie müssen was Würdevolles darstellen, so was wie Colonel Deadeye oder Colonel ...« »Nichts da«, erklärte Edge rundheraus. »Verschwenden Sie Ihre Überredungskünste nicht an mich, Mr. Florian. Auf jeden Fall bin ich jetzt kein Colonel mehr. Sobald ich mich zum Schlafen lege, irgendwo, wo’s warm genug ist, diesen Rock auszuziehen, werde ich mir das verdammte Lametta vom Kragenspiegel abtrennen, damit kein Mensch mich jemals wieder für etwas hält, was ich gar nicht bin.« »Seien Sie doch kein Narr«, sagte Florian. »Jedenfalls sind Sie ehrlich zu diesen beiden Sternen gekommen. Himmel, nach diesem Krieg wird jeder mickrige Bürgerwehrangehörige, der seine ganze Soldatenzeit über in der Etappe gedient hat – falls er überhaupt irgendeinen Rang bekleidet hat –, bis an sein Lebensende darauf bestehen, als Major oder Colonel angeredet zu werden.« »Soll er, soll er – mir ist das egal. Damit steht er noch lange nicht über mir. Im Zivilleben gibt es keine Dienstgrade.« »Ich habe doch nur von einem Bühnennamen gesprochen, Zachary. Im täglichen Leben, außerhalb der Manege, können Sie sich nennen, wie Sie wollen.« »Der Alltag, das ist genau das, wohin ich zurückkehre, vielen Dank. Und nicht zu einem Circusleben, bei dem ich irgendwelche Nummern vorführe für jeden, der das Eintrittsgeld bezahlen kann – und mir auch noch vormache, ich wäre eine Berühmtheit.« -51-
Wieder wurde an die Tür gepocht, und diesmal trat Sarah Coverley ohne besondere Aufforderung ein. Fröhlich sagte sie: »Die Soldaten alle abgefüttert? Und was ist das – noch keiner betrunken? Was für eine Art Südstaaten-Gentlemen ...« Sie hielt inne und blickte einen nach dem anderen an; Edge sah unzugänglich aus, Yount so, als wäre ihm nicht wohl in seiner Haut, und Florian offensichtlich tief in Gedanken verloren. »Habe ich bei der Andacht gestört oder so?« Florian schüttelte den Kopf und sagte zu niemand im besonderen: »Ich habe mir den Kopf über einen Zivilberuf zerbrochen, der nicht daraus besteht, irgendwelche Kunststücke für jeden aufzuführen, der dafür bezahlt. Und ein Zivilberuf, in dem es keine Hierarchie gibt.« »Ah, die Herren spielen Rätselraten«, sagte Sarah. »Kann ich mitspielen?« »Sei still«, sagte Florian. »Sagen Sie, Zachary, was ist das denn für ein Beruf, zu dem Sie zurückkehren?« »Das weiß ich nicht. Vielleicht bin ich gezwungen, Bandido oder Filibustero zu werden, wie so viele, die der Krieg irgendwo hat stranden lassen. Hoffen tue ich allerdings, daß ich wieder in den Lehrkörper des VMI zurückkann. Und Kavallerietaktik unterrichten oder etwas ähnliches. Himmel, nachdem ich neunzehn Jahre hindurch Uniform getragen habe, werde ich den Ratten wohl etwas zu sagen haben.« Florian sprang auf und rief laut und ungläubig: »Ein Mann in der Blüte der Jahre, ein Mann, der neunzehn Jahre mannhaften Zupackens in der freien Natur erlebt hat – Sie wollen Pauker werden? Ein verstaubter, sich an sein Pult klammernder, auf die Uhr schauender Aufseher von verpickelten Rekruten, die noch nicht ganz trocken hinter den Ohren sind, und ihnen die Nase abwischen? Und dafür schlagen Sie eine Gelegenheit aus, wie ich sie Ihnen biete? Weiterhin im Sattel zu sitzen, weiterhin Ihr Können und Ihre Waffen und Ihre Erfahrung einzusetzen und zu -52-
nutzen? Um alle möglichen aufregenden und abenteuerlichen Dinge zu erleben, ein Mann unter Männern zu sein – und unter hinreißenden Frauen wie Madame Solitaire – und obendrein auch noch die ganze Welt zu sehen zu bekommen? Solitaire, sag Zachary, was für ein Narr er ist!« »Welch ein Narr Sie sind, Zachary!« sagte Sarah und mußte gegen ihr Grinsen ankämpfen. Florian sagte: »Meine Herren, ich biete jedem von Ihnen dreißig Dollar pro Monat. Und freie Verpflegung dazu, versteht sich.« Er zeigte auf die Teller, welche die beiden soeben verputzt hatten. »Obie, Sie werden Kraftjongleur des Circus. Und Sie, Zachary, unser Kunstschütze. Sie haben ja gehört, was Magpie Maggie Hag gesagt hat – daß Ihre Waffen Ihnen jetzt besser dienen werden als je zuvor. Für jeden von Ihnen dreißig Dollar bei Kost und Logis. Und Aussichten, Gentlemen, Aussichten! Die Aussicht auf Aufstieg in verantwortliche Positionen und zu einer geachteten Stellung, die Ihnen niemand streitig machen kann. Aussichten auf...« »Darauf, vor den Gekrönten Häuptern aller Herren Länder aufzutreten!« Sarah nahm ihm das Wort aus dem Mund, so als sage sie eine Rede auf, die sie schon oft gehört hatte; und diesmal versteckte sie ihr Grinsen nicht. »Aussichten darauf, die glänzendsten und reichsten und stattlichsten jungen Grafen und Herzöge und sogar Fürsten kennenzulernen. Überlegen Sie doch, Sie können irgendeinen europäischen Adligen heiraten, der so hoch über Ihnen steht, daß er alle ihre Träume in New Jersey übersteigt ...« Sie sprach nicht weiter, denn alle lachten. Florian nutzte die Gunst des Augenblicks, seine Flasche wieder hervorzuholen. »Kommen Sie, meine Herren; noch einen Schluck von diesem Mittel gegen die Verdauungsstörung.« »Vielen Dank«, sagte Edge. »Ich muß Ihr Angebot trotzdem ablehnen, Sir. Denn für mich würde es immerhin einen -53-
beträchtlichen Abstieg bedeuten. Im Moment beträgt mein Sold alles in allem neunzig Dollar pro Monat.« »Und wann ist Ihnen Ihr Sold das letztemal ausbezahlt worden?« »Naja!« »Wenn Sie tausend von diesen Südstaaten-Dollars hätten, mit denen man sich den Hintern abwischen kann, könnten Sie sich glücklich schätzen, sie gegen ein einziges Zehn-DollarGoldstück der Vereinigten Staaten einzutauschen.« Yount rief: »Sie bieten mir dreißig pro Monat in Gold an?« »Und ob ich das tue! Gold, Sterling – in welchem Währungsbereich wir uns auch immer befinden werden. Selbstverständlich müssen Sie Verständnis dafür haben, daß das im Moment nur ein Versprechen ist. Ich denke, ich habe Ihnen unsere augenblickliche Lage hinreichend deutlich gemacht. Wir alle spekulieren gewissermaßen auf die Zukunft. Gleichwohl – es wird genau Buch geführt werden und alle Verpflichtungen bis auf den letzten Cent werden erfüllt.« Während er weiter mit Yount redete, warf Florian Sarah einen Blick zu, den sie kaum merklich nickend erwiderte. »So, mein lieber Obie, lassen Sie uns beide einmal hinausgehen und noch mal alles durchsprechen; außerdem müssen wir entscheiden, wo Sie beide heute nacht Ihren Schlafsack ausrollen möchten. Würden Sie, Zachary, Madame Solitaire inzwischen zur Hand gehen und helfen, das Geschirr fortzuräumen?« Yount im Schlepptau verschwand er, und die Tür schloß sich hinter ihnen, ehe Edge fragen konnte, wieso eine Frau Hilfe brauchte, wenn es darum ging, zwei kleine Teller, zwei Gabeln und drei Becher fortzutragen. Sie nahm sie nicht einmal zur Hand, sondern packte statt dessen die Flasche, hielt diese in das Licht der Petroleumfunzel, verteilte dann den restlichen Fingerbreit auf zwei der Becher und reichte einen davon Edge. »Trinken wir!« sagte sie. »Sie darauf, ein solcher Narr zu -54-
sein, daß Sie sich die Gelegenheit aus der Nase gehen lassen wollen, einem Herzog den Kopf zu verdrehen.« »Ist es das, was Ihnen vorschwebt?« fragte er, als sie anstießen und tranken. »Klar, warum nicht? Ich habe schon weniger bedeutenden Adligen den Kopf verdreht, und nicht nur in der Circusarena. Hab’ ich Ihnen denn kein bißchen den Kopf verdreht, Zachary?« »Möchten Sie das?« »Ja«, sagte sie und schien zu warten. Dann setzte sie noch hinzu: »Ich bin unheimlich empfänglich für Komplimente.« Und als Edge nur damit reagierte, daß er errötete wie ein Knabe, fuhr sie fort: »Ich bin Witwe wenn Sie so wollen –, und ich leide öfter unter der Witwenkrankheit.« Soviel Freimut ausgeliefert, wie er ihn bei Frauen bisher noch nicht erlebt hatte, konnte Edge nur sagen: »Was ist das für eine Krankheit, Madame?« »Unterdrückte Lust zu flirten. Würde sich das darin äußern, daß mir Furunkeln aufbrächen, könnte ich auf keinem Pferd mehr sitzen. Ich muß schließlich an meine Kunst und meinen Lebensunterhalt denken.« Ungestüm sagte Edge da: »Dann sollte man sie besser nicht unterdrücken.« »Das versuche ich ja. Und im Moment tun die anderen Damen ihr bestes, mir zu helfen, das nicht zu tun. Old Maggie und meine Clover Lee schlafen heute nacht im Requisitenwagen – der Unterkunft der Weißen und haben die Männer ausgebootet; sie müssen draußen im Freien bei Hannibal und dem Wilden Mann und Ihrem Sergeant schlafen. Folglich könnten wir beide diesen Wagen hier ganz für uns allein haben. Die Liegen sind zwar nicht besonders bequem, aber wir können das Bettzeug ja auf dem Boden stapeln.« Edge räusperte sich. »Ich habe keineswegs etwas dagegen, -55-
Madame Solit...« »Das finde ich großartig von Ihnen. Schließlich sollte ich Ihnen mindestens so sehr wie einem Herzog den Kopf verdreht haben. Und nennen Sie mich Sarah, sonst kommen wir nie über diese Backfischpräliminarien hinaus.« Geduldig sagte Edge: »Sarah, ich wollte ja nur entschuldigend bemerken, daß ich nicht weiß, wie lange ich nicht aus dieser Uniform herausgekommen bin.« Achselzuckend sagte sie: »Dann laß sie doch an. Funktionierst du nur nach Dienstvorschrift oder Handbuch für die Ausbildung?« »Ich meine, verdammt noch mal, Weib, ich brauche ein Bad! Kannst du mir ein Stück Seife leihen? Dann lauf ich runter zum Bach.« »Ach, wenn wir in dieser Beziehung etepetete sein wollen wie Herzog und Herzogin, könnte ich auch eines gebrauchen. Ich werde dich begleiten.« »Das Wasser wird kalt sein. Möglich, daß du eine Reiterin bist, aber ich bezweifle, daß du eine Schwarte hast wie ein Kavallerist.« »Du kannst mir ja mal auf die Pelle rücken und dich überzeugen.« Den Becher Whiskey immer noch in der Hand, griff sie nach der Türklinke. »Komm schon! Du darfst sogar deine Kavalleristenneugierde befriedigen und feststellen, ob der Schweif des Füllens zur Mähne paßt.« »Moment, ich muß dich noch was fragen – bist du Florians Frau?« Sie kippte die Neige ihres Bechers. »Wenn er eine braucht.« »Und wenn er jemand braucht, einen anderen von was zu überzeugen, dann benutzt er dich auch dafür?« »Das ist nicht sonderlich schmeichelhaft, Zachary. Weder für dich noch für mich.« -56-
»Ich möchte nicht, daß du etwas unter Zwang tust – und hinterher feststellst, daß es nichts gebracht hat.« »Ach, Unsinn. Jetzt spielst du den Südstaatenkavalier. Früher hat es vielleicht eine Zeit gegeben, in der ich es begehrenswert fand, begehrt zu werden. Jetzt bin ich es schon zufrieden, wenn man mich braucht.« »Verdammt will ich sein, wenn ich den Kavalier spiele. Wenn ich rundheraus sage, daß ich dich nicht brauche, meine ich, so dringend, daß ich mich morgen aus Dankbarkeit oder aus schlechtem Gewissen diesem Circus anschließe, brauche ich eine Frau nicht.« »Warum halten wir beide nicht einfach den Mund und lassen die Natur ihren Lauf nehmen? Man kann ja nie wissen, vielleicht bist du hinterher so verknallt, daß du dich uns anschließt, bloß in der Hoffnung, du könntest mich noch mal haben.« »Du rechnest wirklich damit, daß du mir den Kopf verdrehst, stimmt’s, Sarah? Du bist überzeugt, daß deine Schönheit unwiderstehlich ist? Oder du in der Beziehung ganz besonders talentiert bist?« Wieder zuckte sie mit den Achseln. »Das mit der Schönheit ist vielleicht nicht mehr so weit her wie früher; aber das Talent könnte ja noch größer geworden sein, oder? ... Laß das!« »Was soll ich lassen?« »Dies Lachen. Laß es! Du bist viel hübscher, wenn du nicht lachst.« »Nun, ich tu’s ja nicht oft. Ich finde, es gibt heutzutage nicht viel zu lachen. – Aber wenn du meinst, will ich mich bemühen, es nicht zu tun.« »Gut«, sagte sie leicht seufzend. »Dann will ich es auch tun.« Doch später, im Dunkeln, lächelte sie trotzdem. Und er auch.
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3 Als ganz in der Nähe ein Schuß losging, war Edge sofort wach und warf die Wolldecke beiseite. Leider war er noch nicht wach genug, um sagen zu können, von woher der Schuß gekommen war; nur eines wußte er: Daß es sich nicht um einen Schuß gehandelt hatte, der in freundlicher Absicht abgefeuert worden war. Es war ein Büchsenschuß, stammte jedoch von einer leichtkalibrigeren Waffe als dem Karabiner, den er gewohnt war. Edge suchte im Dunkeln nach seiner Pistole, die er stets griffbereit liegen hatte, wo immer er sich zum Schlafen niederließ. Instinktiv lief er auf das nächstgelegene Licht im Dunkeln zu, einen rechteckigen Lichtstreifen, der auf eine geschlossene Tür hindeutete. Die Pistole schußbereit in der Hand, stürmte er hinein – und stand im vollen Sonnenlicht eines milden Aprilmorgens. Rufe und Gelächter begrüßten ihn, darunter mindestens ein durchdringendes empörtes weibliches Aufkreischen. Edge erkannte, daß er auf der obersten Stufe eines Tritts stand, der von dem Circuswagen hinunterführte, in dem er geschlafen hatte, und daß er bis auf die Pistole in der Hand splitterfasernackt war. »Colonel Zack!« rief Obie entsetzt. »Du hast keine Uniform an!« »Fabelhafter Auftritt, Zachary!« rief Sarah Coverley begeistert, die bereits voll angekleidet draußen stand. Jules Rouleau begann schmalzig den Refrain von ›Oh, Wake and Call Me Early, Call Me Early, Mother Dear‹ zu singen. »Hey, Colonel!« feixte Tim Trimm, »Sie sollten wenigstens Ihre Sterne und das Lametta anlegen!« Selbst der Elefant stieß spöttisch einen Trompetenruf aus. Dann hörte man wieder das empörte Gekreisch, das von einer in mittleren Jahren stehenden Frau auf einem Tabakleiterwagen stammte, der gestern abend nicht hier gewesen war. Sie brauchte -58-
nur den Kopf zu drehen, und ihr riesiger Schutenhut hätte jeden unliebsamen Anblick versperrt. Statt dessen warf sie sich mit dramatischer Geste die Schürze über den Kopf. Da er nunmehr sicher war, keinem feindlichen Angriff ausgesetzt zu sein, trat Edge – puterrot im Gesicht – durch die Tür zurück und warf sie mit einem Knall zu. »Nein, sowas aber auch!« rief die Frau quengelig unter ihrer Schürze hervor. »Un’ das vor ’ner anständigen christlichen Frau un’ ihr’ unschuldige Kinder! Ach, gehört hab’ ich schon von solche Unschicklichkeiten unterm fahrenden Volk, doch wer hätt’ gedacht, daß ich es noch mal erleben sollt’ ...« »Tun Sie einfach so, als hätten Sie nichts gesehen, Mrs. Grover!« sagte Florian. »Er ist weg, Ma«, sagte der gleichfalls in mittleren Jahren stehende Mann neben ihr auf dem Kutschbock und spuckte in hohem Bogen Tabaksaft übers Rad »Du kannst die Schürze wieder runternehmen.« Mit todernster Miene erklärte Florian: »Ein Beispiel für das, was Stabschirurgen ›Soldatenherz‹ nennen – eine Störung der Nerven nach langem aktiven Dienst und vielen Feuergefechten.« »Darunter leid’n viele von Ihr’ Soldat’n, wie ich höre«, sagte Mr. Grover verständnisvoll. »Sie hätten diesen Schuß nicht abfeuern sollen, ohne den armen Kerl zu warnen.« »Wie recht Sie haben, Sir. Aber was ich noch sagen wollte. Ihr werdet also heute nachmittag in Lynchburg eintreffen. Da würden wir Sie mit Freuden für einen Gefallen belohnen, den Sie uns tun könnten.« Der Tabakwagen war von Osten über die Straße gekommen und wartete darauf, daß der Circus den Weg frei machte. Florian hatte bereits herausgefunden, daß Mr. und Mrs. Grover nebst Kinderschar Flüchtlinge waren, die angesichts der Aussicht auf eine Belagerung von Lynchburg zeitig das Weite gesucht hatten. Wo der Krieg aber jetzt vorbei war, kehrten sie nach Hause -59-
zurück. Diesmal hatte der Wagen keinen Tabak geladen, war jedoch randvoll, aufgehäuft und behangen mit allem, was zum Haushalt gehört, Kinderschar eingeschlossen. Während die Aufmerksamkeit sämtlicher Grovers vornehmlich dem Elefanten und anderen Exoten – und flüchtig Zachary Edges Beitrag zum allgemeinen Spektakel – galt, klauten Tiny Tim Trimm und Magpie Maggie Hag alles in Reichweite, was so klein war, daß es sich in den vielen Falten des wallenden Rocks der Zigeunerin verstecken ließ. »Nehmt nur diese Plakate und diesen Kleister mit«, sagte Florian und reichte beides der Frau hinauf, »und klebt sie an, wo immer ihr könnt – an Hauswänden, Bäumen, Schaufenstern.« »Das ist doch wohl nix Unanständiges?« fragte Mrs. Grover und sah die auf ihrem Schoß liegenden Rollen mißtrauisch an. »Wie der Ständer von dem Soldat’n, den wir eben zu sehn’n gekriegt ha’m?« Florian wandte sich hüstelnd ab und sagte dann: »Madame, lesen Sie doch selbst, was auf den Plakaten steht.« Affektiert sagte sie: »Ich les’ nie was anderes als die Heilige Schrift. Ehrwürden Jonas rät uns, alles Überflüssige und Unzuträgliche zu meiden.« »Dann würden Sie auch Lachen und Lustiges meiden?« »Ehrwürden Jonas sagt, Lachen is’ meist überflüssig und Lustiges selten zuträglich. Deshalb les’ ich nie was anderes als ...« »Es handelt sich aber um eine in jeder Hinsicht anständige Reklame für unser Unternehmen. Vielleicht darf ich Ihnen vorlesen ...« Eines der Plakate entrollend las Florian mit einer Modulation, die von piano bis forte reichte und unter Einlegung spannungsfördernder Pausen und deutlicher Betonung von besonders Wichtigem vonstatten ging: ›FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM!‹ Circus, Tierschau, Horizont erweiternde Ausstellung und Vorführung -60-
von gezähmten Tieren! ... vor kurzem noch ausgiebig beklatscht in ›Niblos Garden‹ in New York ... Gekrönt mit ›Neuen Lorbeeren des Erfolgs‹ in den Hauptstädten Europas und Südamerikas ... Vorgestellt im großen Zelt ... MORGEN.« »Hurra!« krähten die kleinen Grovers. »Unter der Schirmherrschaft eines aufgeklärten Managements, dessen einziges Ziel es ist, die männliche wie weibliche Elite des ›Eques curriculum‹ sowie die ›Creme de la creme‹ akrobatischer wie gymnastischer Artisten, Koryphäen und Sprungkünstler zusammenzubringen, welche in ihren staunenswerten Darbietungen der Schwerkraft die Stirn bieten ...« »Was Sie nicht sagen!« kam es mit ehrfürchtig gesenkter Stimme von Mrs. Grover. »... Hinzu kommt eine MAMMUTSCHAU ausgesuchtester Exemplare der Tierwelt, wie sie einem verständigen Publikum noch nie geboten wurde, darunter ein menschenfressender afrikanischer Löwe, MAXIMUS, König der Tiere, abgerichtet und vorgeführt von dem unerschrockenen Captain Hotspur ... und DER ELEFANT BRUTUS, der veritable Behemoth der Heiligen Schrift, eingefangen im indischen Dschungel von seinem augenblicklichen Wärter, dem Hindujäger Abdullah ...« »Ist das die Möglichkeit?« sagte Mr. Grover und starrte den Elefanten womöglich noch bewundernder an als zuvor. »... nebst all den anderen einzigartigen Attraktionen dieser BERÜHMTEN VERSAMMLUNG VON WUNDERN DER TIERWELT:« Florian hob die Augen und erblickte den nunmehr vollständig angekleideten Edge, wie dieser mit skeptisch hochgezogenen Brauen die Szene betrachtete. »Nun ja, es wird noch vieles mehr in schlichten Worten beschrieben, doch will ich es mir ersparen, alles vorzulesen. Dies jedoch sollten Sie noch hören: Es ist nur allzu wahr, daß -61-
reisende Unternehmen wie das unsere nur selten auch Damen und Kindern offenstehen. Darin bildet Florians GROSSE UND UNTADELIGE AUSSTELLUNG eine rühmliche Ausnahme, denn hier gibt es nichts Unziemliches zu sehen, sie ist frei von Anzüglichkeiten jeder Art und ganz der Aufgabe gewidmet, das BANNER DER TUGEND hochzuhalten.« »Es hört sich in der Tat alles höchst anständig an«, sagte Mrs. Grover. »Was ich nicht begreif«, sagte Mr. Grover und spie wieder einen saftigen Priem aus, »wieso weltberühmte Leute wie ihr den Wunsch haben können, sich ausgerechnet in dem langweiligen Lynchburg zu zeigen. Was soll es denn kosten?« Wieder las Florian vom Plakat ab: »Ungeachtet der gewaltigen Unkosten, die mit einer solchen Prachtschau verbunden sind, haben wir den Eintrittspreis auf lächerliche fünfundzwanzig Cents festgesetzt; Kinder unter zwölf Jahren und Dienstboten zahlen nur zehn Cent ...« »Vergessen Sie’s, Mister«, sagte Mr. Grover. Hastig griff Florian nach einem dicken Zimmermannsbleistift, kritzelte etwas aufs Plakat und las die Hinzufügung vor: »Oder fünfundzwanzig bzw. zehn Südstaatendollar. Oder Waren in entsprechendem Wert.« »Heißt das Lebensmittel?« »Jedes hiesige Erzeugnis.« »Davon gibt’s in Lynchburg nur wenig – höchstens ’n bißchen Tabak.« »Hm ... ob Sie’s glauben oder nicht, unser Behemoth da drüben kaut ab und zu gern einen Priem.« »Was? Der Dickhäuter aus der Bibel? Der kaut?« »Das hat er von einem Propheten des Alten Testaments gelernt. Aber euch Grovers soll es nichts kosten, unsere Wunderschau anzusehen. Ihr braucht bloß diese Plakate heute -62-
noch anzukleistern, und wenn ihr euch dann morgen bei uns auf dem Festplatz meldet, werde ich Ihnen persönlich für Sie, Ihre Gattin und jedes Ihrer lieben Kleinen eine Freikarte überreichen. Für die besten Plätze des Hauses.« »Hurra!« riefen die kleinen Grovers wieder. »Ich weiß nich’, ob Ehrwürden Jonas einverstanden war’, wenn wir uns mit Fahrendem Volk einlassen«, murmelte Mrs. Grover. »Aber die Kinder könn’ wir wohl nich’ enttäuschen. Wir werden’s also machen, Mister.« Roozeboom und Yount hatten inzwischen die Circuswagen beiseitegeschoben, Mr. Grover trieb schnalzend sein Pferd an, und der Tabakwagen rollte ratternd über die Brücke des Beaver Brook. Edge sagte zu Florian: »Ich hab’ mein Lebtag noch nicht gesehen, daß jemand Hinterwäldlern so einen Bären aufgebunden hat!« »Bären? Wohin denken Sie? Ich habe nichts weiter getan, als die Wahrheit hier und da ein bißchen zu verbrämen.« »Nach Ihnen und Ihren Plakaten zu urteilen, müßte der Zirkus etwa dem gleichkommen, was Caesar sich zusammengesponnen hat, um Rom zu verschönern.« Edge ließ den Blick gespielt verächtlich über die ziemlich heruntergekommene Wagenkolonne samt abgerissenen Circusleuten schweifen. »Meinen Sie nicht, Sie spannen die Erwartungen dieser Leute ein bißchen allzu hoch? Wenn sie sehen, wie wenig Sie in Wirklichkeit zu bieten haben, könnten Sie sie steinigen oder zur Stadt hinausjagen.« »Durchaus nicht, mein Lieber«, sagte Florian leutselig. »Sie werden schon noch lernen, daß die meisten Menschen genau das sehen, was sie sehen wollen. Wenn das Täuschung ist, ist das nicht meine Schuld. Schieben Sie das getrost auf die Tatsache, daß die meisten Menschen sich gern etwas vormachen lassen.« »Frühstück, Mr. Florian, Mr. Zachary?« Die flachsblonde -63-
Clover Lee kam mit einem Blechteller in jeder Hand auf die beiden Männer zu; auf jedem Teller lag ein sehr schmaler Keil von irgend etwas Braunem. »Ja, gern, Clover Lee«, sagte Florian. »Wie schön – zur Abwechslung mal ein Frühstück! Was ist es denn, wenn ich fragen darf?« Kichernd sagte sie: »Für meine Begriffe sieht es aus wie ein Stück Kuhpladder, ist aber in Wirklichkeit ein Süßkartoffelauflauf. Tiny Tim hat’s vom Wagen dieser Leute mitgehen lassen. Viel ist es nicht, aber es war das einzig Eßbare, an das er rankommen konnte. Eigentlich ging es Tim ja nur um die Auflaufform, und darauf lag es. Für seine Nummer.« »Meine Hochachtung dem Chef de filouterie.« Florian wandte sich Edge zu, der mit umwölkter Stirn auf den Teller starrte, den er in der Hand hielt. »Bedanken Sie sich, Zachary. Doch wenn Sie das Gewissen kratzt, den Auflauf von jemand anders zu essen, geben wir ihn jemand anderen.« »Nein, nein«, murmelte Edge. »Vielen Dank, Clover Lee.« Mit zwei Fingern steckte er sich das winzige feuchtbraune Häppchen in den Mund. »Genießen Sie’s, Mr. Zachary«, sagte das Mädchen munter, um dann nicht weniger flott – noch hinzuzufügen: »Haben Sie meine Mutter genossen?« Fast hätte Edge sich an seinem Auflauf verschluckt. »Selbstverständlich hat er das getan, meine Liebe«, sagte Florian. »Das hätte doch jeder, keine Bange! Du solltest dich nie mit deinem kindlichen Geplapper einmischen, wenn Erwachsene miteinander reden.« Müßig ging sie davon, und Edge sagte: »’s wär’ mir entsetzlich, das Kind womöglich noch erwachsener reden zu hören!« »Stimmt schon, aber Kinder, die im Circus aufwachsen, sind -64-
nun mal etwas frühreif. Monsieur Roulette, der sie unterrichtet, tut sein möglichstes, ihr gleichzeitig gute Manieren beizubringen. Aber ich denke, die beste Erziehung bringt ein junges Mädchen nicht von seiner natürlichen Neugier in Richtung Sex und so ab ...« Um das Gespräch von eben diesem Thema auf Unverfänglicheres umzuleiten, fiel Edge ihm ins Wort und sagte: »Ich nehme an, von Diebereien wird man auch nicht abgebracht. Dieser Auflauf sollte vermutlich das Festmahl zur Heimkehr dieser Lynchburger Familie sein.« Florian machte: »Tst, tst, Zachary. Manchmal bleibt uns gar nichts anderes übrig, als Mundraub zu begehen. Darin sind wir nicht anders als die Kavallerie. Oder wollen Sie mir etwa weismachen, Ihre Leute hätten von Zivilisten nie etwas requiriert?« »Ich kann mich nicht erinnern, jemals jemand was weggenommen zu haben, der uns auf unsere Aufforderung hin bereits einen Gefallen tat.« »Sie haben gehört, was Clover Lee sagte. Tim hat ja nicht den Auflauf gestohlen; der Auflauf befand sich nur zufällig in der Form, die er unbedingt für seine Nummer brauchte.« »Eine Auflaufform?« »Ja, um seine Nummer noch interessanter zu gestalten.« »Wieso aber ausgerechnet mit einer Auflaufform aus Blech?« »Das weiß ich nicht, und ich werde ihn auch nicht danach fragen. Es gilt als unhöflich, in solchen Fällen allzu neugierig zu sein. Mir bleibt nichts anderes übrig als abzuwarten und zu sehen, was Tim in der Show mit der Auflaufform macht. Das können Sie auch, wenn Sie wollen, denn offensichtlich wollen Sie und Obie sich uns ja anschließen. Tatsächlich war er so freundlich, uns seinen Percheron als Zugpferd anzubieten, zumindest bis nach Lynchburg. Vielleicht haben Sie gleichfalls die Freundlichkeit, uns Ihr Pferd anzubieten und mit uns zu -65-
fahren? Und bleiben, um sich unsere Vorstellung anzusehen? Als unsere Gäste, versteht sich. Geht Ihr Reitpferd denn in Zuggeschirr?« »Gern zwar nicht, aber es wird sich dreinfügen. Früher hat Thunder Munitions- und Krankenwagen gezogen – einmal sogar einen Kühlwagen für Fleisch. Na schön, Sie können ihn vorspannen; soviel bin ich Ihnen ja wohl schuldig.« »Mir oder Madame Solitaire?« Edge bedachte ihn mit einem frostigen Blick und sagte: »Ihnen, Mr. Florian – für Getränke, Essen und allgemeine Gastfreundschaft. Sie müssen Sarah selbst fragen, ob sie das Gefühl hat, ich wäre ihr etwas schuldig. Oder lassen Sie ihre Tochter sie fragen, da die Göre offensichtlich in bezug auf derlei Dinge eine genauso kindliche Neugier an den Tag legt wie Sie.« Florian trat einen Schritt zurück und hob die Hände. »Diesen Rüffel habe ich verdient. Aber jetzt kommen Sie, Sie werden sehen wollen, wie Captain Hotspur Ihr Pferd vor den Wagen spannt.« Doch Roozeboom war noch mit anderem beschäftigt: dem Abhäuten und Zerlegen eines toten Tiers. Magpie Maggie Hag hielt einen Eimer unter das zerlegte Tier, um das herabrinnende Blut aufzufangen. Yount und Rouleau standen gleichfalls daneben, wobei Yount den Wilden Mann festhielt, der sich blökend, sabbernd und lachend mühte, beim Ausweiden zu helfen. Egde sah den alten Schießprügel in der Nähe liegen und sagte: »Das also hat mich geweckt. Sie haben einen Ihrer Esel erschossen.« »Wir brauchen sie nicht mehr, jetzt, wo wir Obies Pferd haben, den Zeltwagen zu ziehen. Den anderen Esel führen wir am Halfter mit. Und wenn Ihr Thunder den Käfigwagen zieht, braucht Brutus das für eine Weile nicht zu tun. Der Elefant hat beim Aufbau des Chapiteau Schwerstarbeit zu verrichten. -66-
Deshalb versuchen wir, ihn unterwegs so viel wie möglich zu schonen. Er ist das wertvollste Tier von allen.« »Das Eselchen mag keinen Wert dargestellt haben, aber es war gesund«, sagte Edge. »Erst gestern abend haben Sie uns erzählt, wie treu diese Burros für Sie gearbeitet hätten. Und heute morgen erschießen Sie zum Dank einen davon, bloß, weil Sie keine Arbeit mehr für ihn haben!« Florian machte ein schuldbewußtes Gesicht; diesmal schien es nicht gespielt. Tatsächlich wand er sich unter Edges wütendem Blick, senkte die Augen auf die eigenen abgetretenen Schuhe und schwieg. Deshalb sah Jules Rouleau sich genötigt, das Wort zu ergreifen. »Zachary, ami, Sie mögen mir das heute nicht ansehen, aber glauben Sie mir, einst bin ich sehr für Ritterlichkeit eingetreten, für das noblesse oblige, die beau geste und so weiter. Seit ich mich diesem Circus angeschlossen habe, mußte ich lernen, dem Nützlichen den Vorrang zu geben und den Kompromiß anzustreben, besonders in den letzten Jahren. Kommen Sie mal mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Er führte Edge an den wie eine Gefängniszelle vergitterten Wagen. Es handelte sich um nichts weiter als um einen Käfig auf Rädern, etwa ein Meter zwanzig mal drei Meter, der an den Seiten sowie hinten aus parallelen Stangen bestand; hinten befand sich außerdem eine gleichfalls vergitterte Zugangstür. Die Vorderseite bestand aus dicken Bohlen, so daß der Sitz des Kutschers vom Käfig aus unzugänglich war; das Dach bestand gleichfalls aus Holz und wies zum Schutz gegen das Unwetter einen reichverzierten Überstand auf. Edge spähte hinein und erblickte etwas, das ein großer, falbfarbener, zerknautschter und ziemlich mottenzerfressener Bettvorleger hätte sein können. »Das ist Maximus«, sagte Rouleau. »Der König der Großkatzen, seine Majestät Maximus.« »Ist er krank?« -67-
»Nein, alt ist er. Und halb verhungert. Sagen Sie mir, Zachary: Das Stück Auflauf vorhin, hat Ihnen das den Magen gefüllt? Oder sind Sie immer noch hungrig.« »Verdammt, ja, ich bin hungrig, nicht weniger hungrig, als ich es die letzten vier Jahre eigentlich immer gewesen bin.« »Aussi moimeme. Dabei sind wir beide noch jung; folglich befinden wir uns in einer mißlichen Lage, aber unerträglich ist sie nicht. Wir wissen: Verhungern werden wir schon nicht. Kommt es zum schlimmsten, schnorren und nassauern wir eben oder stehlen sogar. Aber mal angenommen, Sie wären außerordentlich alt, schwach und hilflos eingesperrt und sind völlig darauf angewiesen, daß andere Sie füttern.« Edge sagte nichts. »Maximus ist von uns abhängig. Und wir wiederum von ihm, denn als Kassenmagnet für die Leute ist er leicht soviel wert wie drei oder vier von uns. Kein Hinz oder Kunz, der eine Eintrittskarte erworben hat, wird jemals irgend etwas anerkennen oder gar bewundern, was ein anderer Mensch in der Manege leistet, und mag es noch so aufsehenerregend sein. Aber er wird Augen und Mund aufsperren und gierig diesen armen, traurigen betagten afrikanischen Löwen anglotzen. Deshalb sind wir auf Maximus angewiesen, und das Raubtier erwartet von uns nichts weiter, als daß wir es füttern, wann immer uns das möglich ist.« »Und was hätten Sie ihm vorgeworfen, wenn der Esel nicht entbehrlich gewesen wäre?« »Je ne sais quoi. Eines jedoch kann ich Ihnen versichern. Wenn wir anderen alle reich und wohlgenährt wären und es nur das Eselchen wäre, das hungern müßte, würde Florian sich Haupt- und Barthaar abscheren lassen, es ihm als Heu vorzuwerfen. Wie die Dinge stehen, muß das weniger Wichtige dem Besseren geopfert werden; und Maximus braucht nun mal unbedingt Fleisch. Daß Sie Florian Vorhaltungen gemacht -68-
haben, war völlig überflüssig. Ihm ist ohnehin schon zum Heulen zumute. Er ist ein guter Circusmann, und jeder gute Circusmann ist vor allem gut zu seinen Tieren. Genauso, wie ein guter Zimmermann auf sein Werkzeug achtgibt und es pflegt. In diesem Falle war Florian auf die einzig mögliche Weise freundlich.« »Ich wollte kein Besserwisser sein und mich auch nicht einmischen«, sagte Edge. »Kavalleristen sind in bezug auf Tiere bestimmt nicht sentimental, zumal das Pferd wohl das dümmste Tier ist, das auf Gottes Erdboden herumläuft. Was ein Kavallerist allerdings lernt, das ist Hochachtung vor gesundem Pferdefleisch; folglich wird er sein Reittier niemals mißhandeln. Das aber hat mit Gefühlsduseligkeit nichts zu tun, und ich bin wegen nichts auf Erden sentimental.« Rouleau sah ihn lange von der Seite an. »Aha, ein Kavallerist hat sich natürlich männlich und rauhbeinig zu geben. Aber Sie können Jules Rouleau nicht erzählen, daß Zachary Edge nicht doch für manches ein weiches Herz hat.« »Für was, zum Beispiel?« »Dafür, wenn für nichts anderes.« Er streckte die Hand aus und berührte Edges Ärmel. »Für den Grauen Rock, für die verlorene Sache.« »Ach, zum Teufel!« brummte Edge. »Es hat Zeiten gegeben, da glaubte ich an den Klapperstorch. Wollen Sie mir das etwa vorwerfen?« »Florian sagt, Sie trügen seit nahezu zwanzig Jahren Uniform. Den grauen Rock gibt es erst seit etwa vier Jahren.« »Virginia aber hat es schon hundertundfünfzig Jahre vor den Vereinigten Staaten gegeben. Also zugegeben, ich bin Virginier – und jawohl, ich habe meinen Rock gewendet.« »Und das nennen Sie, nicht sentimental sein?« »Nennen Sie’s, wie Sie wollen. Es erfüllt mich nicht mehr. -69-
Die Sache ist verloren. Genauso tot wie Sam Sweeneys Banjo. Ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens Tränen darüber zu vergießen.« »Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen. Ich werfe Ihnen keine unmännlichen Schwächen vor. Wie ich schon sagte, war auch ich einmal ein Mann, der sehr empfindsam war und viel Sentiment besaß. So ein Circus ist kein Ort der Grausamkeit, aber er fordert einem manches ab. Uns allen. Ich würde mir gern einbilden, immer noch ein empfindsamer Mann zu sein. Nur habe ich zum Wohle der Truppe gelernt, Sentiments zu unterdrücken. Und zwar jede Art von Sentiment.« Er wandte den Blick ab. »Wunderbare Vorstellungen! Verlorene Sachen!« »Maximus!« brüllte Roozeboom und kam mit einem streng riechenden, bluttriefenden blauroten Batzen Fleisch herbei. Der zerknautschte Bettvorleger reagierte auf seinen Namen – oder auf den Geruch des rohen Fleisches –, indem er ein Ende von sich in die Höhe hob und auf diese Weise seinen gewaltigen, mit zotteliger Mähne bewehrten Kopf mit feuchten Augen darin erkennen ließ. Aufreizend sagte Roozeboom: »Was gibt es heute zum Frühstück? Ha ha! Esel gibt es zum Frühstück!« Sagte es und stopfte die Eselslende zwischen die Käfigstäbe. »Ist Ihnen aufgefallen, daß Captain Hotspur deutsch mit dem Löwen gesprochen hat und nicht holländisch?« fragte Florian. »Ich könnte Ihnen den Unterschied nicht sagen«, sagte Edge. »Das entspricht einer alten europäischen Circustradition. Raubtierdompteure reden ihre Tiere stets auf deutsch an, egal, welcher Nationalität sie sind. Auch ihre Befehle geben sie auf deutsch. Hauptsächlich wohl deshalb, weil die deutsche Sprache zum Befehlen wie geschaffen scheint. Ein russischer Dompteur hat mir einmal auseinandergesetzt, daß es im Russischen mindestens zweier Wörter bedürfte, seinen Tigern einen Befehl zu erteilen, für den man im Deutschen mit einem auskommt dabei kommt es manchmal darauf an, einen solchen Befehl -70-
blitzschnell zu geben. Der Bruchteil einer Silbe kann bei der Arbeit mit Löwen oder Tigern Tod oder Leben bedeuten.« Maximus sprang auf das Fleisch nicht zu, ja, er richtete sich nicht einmal auf. Gleichsam, als könne er weder seinem Dompteur noch der eigenen Nase trauen, hob er nur langsam das Vorderteil seines Körpers und schleppte sich müde dorthin, wo er allerdings flinkzüngig sein Fleisch ablecken konnte, um es dann – offenbar fassungslos – mit den Lippen zu benagen. Der erste richtige Bissen jedoch schien ihn mit neuem Leben zu erfüllen und ihn beträchtlich aufzumuntern. Er bleckte die Zähne und zeigte einen Kiefer voll gelb gewordener, stumpfer Beißwerkzeuge, davon jedoch immer noch eine furchterregende Anzahl. Mit dumpfem Grollen fiel er schließlich über seine Mahlzeit her. Edge fragte: »Warum hat die alte Zigeunerin denn das Blut aufgefangen? Braucht sie das für ihre Hexenkünste?« »Nein«, erklärte Florian. »Das hat sie für Captain Hotspur getan. Er braucht das Blut für seine Nummer.« »Und ich hatte vergessen – ich sollte nicht so neugierig sein wie Hinz und Kunz«, sagte Edge. »Dafür möchte ich mich entschuldigen. Außerdem tut es mir leid, daß es sich vorhin so angehört hat, als wollte ich Sie kritisieren, Mr. Florian. Außenstehende sollten sich nicht in Dinge einmischen, von denen sie nichts verstehen können.« »Ich hatte ja nur Angst, Sie könnten wegen Ihres Pferdes einen Rückzieher machen. Jedenfalls verspreche ich Ihnen, daß ich den Gaul nicht an irgendwelche Raubtiere verfüttern werde.« »Dann lassen Sie uns ihn vor den Zeltwagen spannen und nach Lynchburg fahren. Ich bin gespannt auf Ihre Vorstellung.« Obwohl Florian die Wagenkolonne in gemächlichem Tempo anführte, und sie bereits vor Einbruch der Dunkelheit die Außenbezirke von Lynchburg erreichten, beschloß er, nicht sehr weit in die Stadt hineinzufahren. Die Plantagenbesitzer, die vom -71-
Anbau des dunkelreifenden Virginischen Tabaks lebten und denen die Stadt als Versteigerungszentrum diente, hatten Lynchburg reizvoll auf einer Ansammlung kleiner, dafür aber ziemlich steiler Hügel gebaut. Aus diesem Grund waren die mit Kopfsteinpflaster befestigten Straßen für die Fuhrleute und die Gespanne vor den Tabakwagen, die sie hinauf- und hinuntermußten, nicht so angenehm zu befahren. Auf die Circusleute hingegen, welche die Campbell Court House Road entlangrollten, machte die Stadt einen sehr angenehmen Eindruck, denn die Familie Grover, die ihnen vorausgefahren war, hatte ihr Versprechen gehalten: Die FLORILEGIUMPlakate aus dem dicken braunen Papier mit der fetten schwarzen Schrift darauf prangten überall an Bäumen und Hauswänden. Edge fragte: »Haben Sie all diese Plakate unten in Wilmington drucken lassen?« »Nein«, sagte Florian. »Wir hatten noch einen ganzen Stoß übrig, als wir in den Süden zogen. Deshalb wird eine Reihe von Nummern und Attraktionen aufgezählt, die wir gar nicht mehr bieten können. Gleichzeitig werden sie aber so herrlich schwülstig angepriesen, daß ich es nicht übers Herz bringe, sie zu streichen.« Die Wagenkolonne fuhr um den Diamond Hill herum und hielt sich an die Außenbezirke, bis sie unten am Fluß in das Viertel der Lagerhäuser und der Gleisanschlüsse gelangte. Als Florian ein erfreulich unbebautes und hinreichend großes, an der Straße gelegenes Terrain erblickte, lenkte er seine Droschke dort hinein. Die anderen Wagen folgten ihm vom Kopfsteinpflaster der Straße herunter ins Grün. Zwischen dem hinteren Teil des Geländes und dem Flußufer standen ein paar ziemlich zerfallene Eisenbahnschuppen, zwischen denen sich rostige Geleise hindurchwanden; auf einem Nebengleis waren geschlossene und offene Güterwagen abgestellt. Seit einem Jahr oder noch länger, je nach Kriegsglück und sich verändernden Fronten, hatte die South Side Rail Road entweder keine Fracht mehr bekommen, -72-
oder es hatte keine Hoffnung bestanden, die Güter durch die Blockaden dorthin zu bringen, wo die Waren benötigt wurden und wo man einen guten Profit hätte herausschlagen können. Gleichwohl roch es in der Gegend immer noch schwach, aber unmißverständlich nach altem Lokomotivenrauch und Dampfkesseln. Als Florian die Kutsche anhielt und das Pferd sofort anfing zu grasen, sagte Edge: »Sie fragen nicht mal jemand, ob Sie hier überhaupt Ihr Zelt aufbauen dürfen?« »Wenn dieses heruntergekommene Gelände einen Besitzer hat, wird der sich umgehend melden. Kann aber auch sein, daß die Stadtverwaltung einen Polizisten vorbeischickt und eine Platzgebühr verlangt. Doch im allgemeinen genügen heutzutage schon ein paar Freikarten.« Er reichte Edge die Zügel zum Halten und sagte: »Passen Sie auf, daß die Kutsche den anderen nicht im Wege ist.« Behende sprang er zu Boden, verstaute Zylinderhut und Gehrock unterm Kutschbock und begann, Länge und Breite des Geländes abzuschreiten, wobei er gelegentlich den Kopf senkte und nach Unregelmäßigkeiten im Boden Ausschau hielt. Dann riß er ein paar Grassoden aus, so daß ein leerer Fleck entstand, und rief laut: »Sattelgang!« Dann begab er sich wieder auf die zur Straße hin gelegene Seite, rief: »Vordereingang!«, machte noch ein paar Schritte weiter und rief: »Roter Wagen!« Alle anderen Circusangehörigen waren gleichzeitig mit Florian und nicht minder zielstrebig in Aktion getreten. Zu Anfang sah alles nach einer riesigen, gleichwohl organisierten Konfusion aus. Sarah und Clover Lee sprangen aus der Kutsche und trugen Töpfe und Pfannen an eine bestimmte Stelle. Roozeboom hatte die Zügel seines Käfigwagens dem Wilden Mann anvertraut und war mit etwas Sperrigem unterm Arm hinuntergesprungen. Deshalb war er sofort zur Stelle, als Florian »Schuh hierher!« rief, und ließ an eben dieser Stelle das, was er unterm Arm trug, zu Boden fallen. Soweit Edge sehen konnte, -73-
handelte es sich um eine große, aus dicken Balken bestehende Halterung mit einem kniehohen kräftigen Dorn in der Mitte. Roozeboom ging noch einmal zum Käfigwagen und lenkte diesen dorthin, wo Florian »Vordereingang!« gerufen hatte. Jules Rouleau fuhr inzwischen den Requisitenwagen an dem Schuh vorüber und ließ ihn ein gutes Stück dahinter halten, wo Florian »Sattelgang« gerufen hatte. Hannibal hatte Peggy die große rote Schutzdecke abgenommen und legte sie zum Verstauen sorgfältig zusammen. Als Florian »Roter Wagen!« gerufen hatte, war Tim Trimm bereits mit dem Museumswagen zur Stelle und ließ ihn dort stehen. Jetzt krabbelte der Wilde Mann vom Sitz des Käfigwagens hinunter, kroch unter diesen und ließ einige Zeltbahnen herunter, so daß diese vom Käfigboden bis zur Erde hinunterreichten. Hannibal hatte von irgendwoher ein kräftiges Zuggeschirr aus Leder herbeigeholt, das er Peggy jetzt wie ein Halsband umlegte. Magpie Maggie Hag kletterte vom Museumswagen herunter, der mit der Rückwand zur Straße zeigte, von woher die Zuschauer sich vermutlich nähern würden. Dort machte sie zwei Türen auf, wodurch sie die gesamte Rückwand öffnete und eine Art engen Kabäuschens erkennen ließ, in dem hinter einer hohen Theke eine Kartenverkäuferin sitzen konnte. Hannibal, Trimm, Rouleau und Roozeboom liefen auf den Zeltwagen zu, den Yount ein gutes Stück von der Straße entfernt zum Stehen gebracht hatte. Sie entriegelten die Tür und zerrten das höchst raumsparend dort verstaute Gerät heraus – aufgerollte Zeltbahnen, unterschiedliche Metallgegenstände, einen Haufen Tauwerk und zahlreiche Flaschenzüge und Rollen sowie drei lange, dicke und glatt gehobelte Masten. Alle drei waren sie rot angestrichen bis auf ein schmales blaues Band etwa in der Mitte, das den Gleichgewichtspunkt markierte, so daß man den schweren Mast dort packen und bequem tragen konnte. -74-
Edge war drauf und dran, sich den Arbeitern anzuschließen und ihnen zu helfen. Aber er war ein alter Kämpe, der sich auf so manchem Zeltplatz und bei Befestigungsarbeiten ausgekannt und häufig genug erlebt hatte, daß schwere Arbeit nur noch schwerer gemacht worden war durch die ungeschickten Bemühungen von Rekruten, die die erfahrenen Praktiker nur störten. Er ließ sich daher dort, wo er stand, auf dem Boden nieder und beobachtete weiter. Hannibal schleppte einen schweren, wagenradgroßen Eisenreifen herbei und legte ihn um das Ding herum, das sie ›Schuh‹ nannten. Trimm, Rouleau und Roozeboom trugen je einen der drei rotangestrichenen Pfosten herbei und legten sie Ende an Ende in einer Reihe nebeneinander, während Hannibal wieder zum Zeltwagen lief und zwei offene Metallzylinder holte, die die Männer wie Manschetten über die drei Pfosten schoben, so daß ein langer, von hüftdick bis zu schenkeldick sich verjüngender Mast von etwa zwölf Meter Länge entstand. Am dickeren Ende war in die Stammitte ein Loch hineingebohrt worden. Jetzt holte Hannibal den Elefanten herbei, während die anderen an den beiden Mastenden Rollen befestigten und etliche Seile mehrere Male von oben nach unten hindurchzogen. Dann wickelten sie noch ein aufgeschossenes Seil ab, das in einem kräftigen Eisenhaken endete, den Hannibal dem Elefanten über das halsbandartige Zuggeschirr legte. Laut sagte er: »Peggy, aufrichten!« woraufhin der Elefant sich sehr langsam von der Gruppe der Männer entfernte, die das dicke Ende des Mastes abbremsten. Als das dünnere Ende sich durch Peggys Ziehen aufrichtete, hoben die Männer das dickere Ende soweit hoch, daß das Loch darin sich in einer Höhe mit dem Sporn auf dem Schuh befand. Der Elefant zog weiterhin an dem Seil, und der Mast richtete sich unter dem Rattern von Blöcken und dem Klatschen von Seilen auf, bis er senkrecht stand und das untere Ende fest über die ganze Länge des Sporns herabrutschte. Hannibal rief: »Pfui, Peggy!«, woraufhin der -75-
Elefant stehenblieb, sich jedoch weiterhin so ins Geschirr legte, daß das Seil gespannt und der Mast senkrecht stehenblieben. Jetzt begriff Edge, wozu der Schuh diente. Der hohe Mast hätte zwar einfach auf dem Boden aufgerichtet werden können, doch wenn der Boden weich wäre – und bei plötzlichem Regen konnte er sehr rasch aufweichen –, würde der Mast ohne Schuh, der eine breitere Basis lieferte, einfach einsinken. Während die anderen mit dem Mast beschäftigt gewesen waren, hatte Florian die in der Nähe bereitgelegten Zeltbahnrollen mittels Fußtritten entrollt, so daß riesige Dreiecke daraus wurden. Noch woanders half Yount Sarah, mit Hilfe einiger trockener Schilfstengel ein Lagerfeuer zu entfachen, und Clover Lee und Magpie Maggie Hag streiften in gebückter Haltung über das Gelände und suchten offenbar nach Brennholz, das länger brannte und vorhielt. Der Wilde Mann war von der gesamten Truppe der einzige, den man nicht sah. Der Elefant blieb unbeirrbar auf ein und derselben Stelle stehen, und selbst Maximus in seinem Käfigwagen schien ein wenig aus seinem Dämmerzustand aufgewacht zu sein. Edge vernahm ein dumpfes Knurren und tiefes Grollen, das von Geklirr und Gerassel begleitet wurde, als ob der Löwe mit den Gitterstäben kämpfte. Nachdem die Arbeiter sich vergewissert hatten, daß der hohe Mast fest stand und sich Rollen und Seile nicht verheddert hatten, machten sie sich an die nächste Aufgabe. Trimm und Hannibal gingen zu Florian, und gemeinsam legten die drei die gewaltigen, tortenstückähnlichen Dreiecke aus Zeltleinwand nebeneinander auf dem gras- und unkrautbewachsenen Boden aus, so daß der Schuh bald gänzlich von ihnen umringt war. Dann holten die Männer dünnere Schnüre und verlaschten ein Dreieck mit dem anderen, als gälte es, eine Abdeckung über der Grünzeugtorte darunter entstehen zu lassen. Rouleau und Roozeboom gingen inzwischen immer wieder zwischen Zeltwagen und Tortenabdeckung hin und her und trugen -76-
kleinere Stangen herbei – sie waren blau angestrichen, nur armdick, etwa dreieinhalb Meter lang und an einem Ende mit einem kurzen Sporn bewehrt – und legten diese wie Speichen rund um die auf dem Boden liegende Zeltbahn aus. Nachdem die Leinwanddreiecke alle miteinander verlascht waren, so daß ein großes Leinwandrund entstanden war, wies die Tortenabdeckung in der Mitte ein Loch auf, das genauso groß war wie der eiserne Reifen, der immer noch um den Schuh des aufgerichteten Mastes auf dem Boden lag. Die Zeltleinwand wies rund um diese Öffnung weitere Metallösen auf, die die Männer benutzten, um das Zeltdach fest mit dem Eisenreifen zu verschnüren; dann erst wurde der Reifen an die Zugseile des Mastes gehängt. Die Männer verließen die Zeltbahn, wobei sie sich vorsichtig bewegten und den Fuß nur auf die Verschnürungssäume der Tortenstücke setzten. Hannibal trug das Ende von noch einem Seil in der Hand, welches von den Rollen am Fuß des Mastes kommend unter der Zeltbahn entlanglief; auch dieses Seil befestigte er an Peggys ledernem Zuggeschirr. Florian und Roozeboom hoben den äußeren Rand der Tortendecke Stück für Stück hoch, damit Rouleau und Trimm die blauen Rondellstangen nehmen und die Dornenden in die dafür vorgesehenen Metallösen stecken und die Stangen aufrecht zwischen Leinwand und Boden einklemmen konnten. Nachdem die Männer einmal die Runde um die Leinwand gemacht hatten, sah diese nicht mehr wie eine Tortenabdeckung aus, sondern wie eine riesige, schlaffe und faltige Untertasse, in deren Mitte der hohe Mast aufragte, während der Rand dreieinhalb Meter überm Boden von einem Rund von Rondellstangen hochgehalten wurde. Während Florian das Ergebnis ihrer Mühen kritisch begutachtete, holten die anderen noch mehrere Male aus dem Zeltwagen naturbelassene, nicht gestrichene, etwa einen Meter zwanzig lange, am einen Ende zugespitzte, am anderen stumpfe -77-
und eingekerbte Pflöcke. Nach dem letzten Gang kamen sie mit drei schweren Vorschlaghämmern zurück und boten dann eine Vorstellung, die genauso virtuos ablief wie jede, die Edge im Inneren des Chapiteaus zu sehen erwartet hätte. Trimm hielt einen der Pflöcke rund zweieinhalb Meter von der nächsten blauen Stange hoch, und Roozeboom klopfte leicht mit dem Vorschlaghammer darauf, um sie ein kleines Stück in den Boden zu treiben. Dann ließen er, Rouleau und Hannibal die Hämmer nacheinander und im Takt mit einer solchen Schnelligkeit herniedersausen, daß sie nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren, alle in wunderbar aufeinander abgestimmter Zeitabfolge auf ein und demselben Ankerpflock landeten, daß die Schläge wie das Stakkato einer Revolverkanone klangen und der Anker im Boden versank wie in Butter, bis nur noch ein etwa dreißig Zentimeter langes Ende aus dem Boden herausschaute. Dergestalt einen Anker nach dem anderen in den Boden treibend, machten die drei Männer die Runde um die Zeltbahn, ließen keinen Moment in ihrem rhythmischen Hämmern nach, schlugen kein einziges Mal daneben und kollidierten auch nicht miteinander. Hinterher kam Florian mit weiteren Seilenden, die am Ende jeweils zu einer Schlaufe gespleißt waren. Die Schlaufe warf er über den Dorn der Rondellstangen, die über die Zeltleinwand hinausragten, und verband das Seil oder die Absegelung mit dem Bodenanker, belegte ihn dort nach einem einfachen Rundtörn und zwei halben Schlägen und wandte sich dem nächsten Anker zu. Nachdem auch diese Phase des Aufbaus vorbei war, sah das ganze weniger wie eine Untertasse aus als vielmehr wie eine Spinne; der Leinwandkörper dehnte sich zwischen aufgerichteten, spinnenbeinähnlichen Rondellstangen, von denen jeweils ein Spinnwebfaden schräg zu Boden lief. Wieder sah Florian sich das ganze noch einmal fachmännisch prüfend an; dann gesellte er sich zu den anderen beim Elefanten. Hannibal löste das Seil, mit dessen Hilfe Peggy den Mast -78-
aufgerichtet hatte, vom ledernen Zuggeschirr; jetzt hielten die Männer es gepackt, um den Mast festzuhalten. Wieder rief Hannibal: »Aufrichten!« und wieder setzte sich der Bulle langsam in Bewegung, wobei er diesmal nur das Seil hinter sich herzog, das unter der Zeltleinwand hervorkam. Die verschiedenen Rollen des Mastes knirschten, die Seile knarrten und sangen, und der Eisenreif ging samt dem daran vertäuten Zeltdach in die Höhe. Als der Reif bei der obersten Rolle des Mastes anlangte, rief Roozeboom: »Ja, klonkie!«, woraufhin Hannibal auf der Stelle befahl: »Pfui, Peggy!« und der Elefant sich nicht mehr rührte. Inzwischen sah die Leinwand nicht mehr wie eine Spinne oder wie eine Tortendecke aus, sondern bildete eine runde, rehfarbene Zirkuskuppel von rund zwanzig Metern Durchmesser, die Spitze etwa zehn Meter überm Boden, während die sanft abschüssigen Bahnen sich leise in der Abendbrise blähten und zitterten. »C’est bon«, sagte Rouleau. »Alles in Ordnung. Jetzt den Haltering festmachen.« Tim Trim war es, der dieser Aufforderung nachkam, zweifellos deshalb, weil er am wenigsten von allen wog. Er kletterte eine der Rondellstangen hinauf, schwang sich aufs Leinwanddach hinauf und krabbelte sodann an einer der Laschnähte die Neigung hinauf. Ganz oben zurrte er unter großem Kraftaufwand Seilenden um den Eisenreifen, die Mastspitze und die Rollen, damit alles festhielt und sich nicht lockern konnte. Dann ließ er einfach los, schlidderte jubelnd die Leinwandböschung hinunter und landete sicher in Roozebooms kräftigen Armen. Daß die Leinwand zu einem erkennbaren Zelt aufblühte, wurde von lauten Rufen und Beifallsgeklatsche begleitet. Edge drehte sich um und erkannte, daß sich auf der Straßenseite des Zeltplatzes ein gutes Dutzend Lynchburger versammelt hatten, die meisten davon Kinder und davon wiederum die meisten Negerkinder. Doch befanden sich auch einige erwachsene -79-
Männer darunter, alle bereits älter. Florian nutzte die Gunst der Stunde, ein Publikum zu haben und rief ihnen zu: »Willkommen beim Circus! Und vielen Dank für die freundliche Begrüßung!« Leiser, und nur für Rouleau bestimmt, sagte er dann: »Und jetzt weiter! Die Rundleinwand! Allerdings wird es bald dunkel sein; deshalb warten wir mit Piste und Gradin bis morgen.« Dann lauter, wandte er sich wieder an die Zuschauer: »Die erste Vorstellung findet morgen statt, liebe Leute!« Noch während er sprach, strebte er seiner Kutsche zu. Dort legte er Gehrock und Zylinder an und ergriff eines der aufgerollten Circusplakate. »Yessirree! Kommt einer, kommen alle.« Nunmehr korrekt wie ein Circusdirektor gekleidet, begab er sich hinüber zu der kleinen Zuschauerschar und sprach immer noch laut, jetzt jedoch mit einem gewissen vertraulichen Unterton auf sie ein: »Die erste Vorstellung beginnt morgen um zwei Uhr nachmittags! Da ihr lieben Leute jedoch offensichtlich die größten und dankbarsten Circusliebhaber dieser schönen Stadt seid, möchten wir euch euren guten Willen gern vergelten.« Die Kinder bekamen große Augen; die Männer sahen interessiert aus, schienen jedoch auf der Hut. »Morgen zur ersten Vorstellung werden sich die Menschen um die besten Plätze prügeln. Da ihr jedoch die ersten wart, die uns begrüßt haben, werden wir euch nicht nur gestatten, eure Platzreservierung bereits jetzt vorzunehmen – wir bieten sie euch sogar zum halben Preis an!« Die Männer und Kinder setzten finstere bis betretene Mienen auf und schoben ein Stück weiter. Florian entrollte geräuschvoll sein Plakat, holte seinen Zimmermannsbleistift hervor und schrieb schwungvoll etwas unten auf das braune Papier. »Sehen Sie sich das an, mein Freund!« sagte er dann und hielt das Plakat dem nächststehenden weißen Erwachsenen unter die Nase. »Sehen Sie den regulären Preis? Und sehen Sie auch, daß ich ihn genau halbiert habe?« -80-
Der Mann murmelte: »Ich kann nicht lesen, Mister.« »Richtig! Und wie Sie sagen, Sir, das ist ein unglaubliches Angebot. Statt des üblichen Preises von fünfundzwanzig Cent für Sie, meine Herren, und nur einen Zehner für euch, Jungs – hab’ ich den Eintritt auf zwölfeinhalb beziehungsweise fünf Cent radikal zusammengestrichen. Sie brauchen bloß zum Kassenwagen dort hinüberzugehen« – er zeigte auf den Museumswagen, in dem wie von Zauberhand jetzt Magpie Maggie Hag hinter der Theke saß – »und unsere Oberkassiererin ist bestimmt bereit, die Karten für diese geringe Summe an Sie zu verkaufen – und wie gesagt: Kinder und Farbige nur fünf Cent.«. Die Gesichter der Leute hellten sich nicht auf; die Versammelten traten vielmehr von einem Fuß auf den anderen. »Oder dem Gegenwert in Südstaatengeld.« Weitere Betretenheit. »Oder Tauschwaren in entsprechendem Wert.« Bekümmert sahen Männer wie Kinder sich an. Edge konnte sich nicht enthalten, selber mitleidig den Kopf zu schütteln; dann wandte er sich wieder dem Zeltaufbau zu. Hannibal stand jetzt unter der Kuppel beim Mittelmast und belegte an den Klampen das Tauwerk, mit dem der Mast aufgerichtet und das Zeltdach in die Höhe gezogen worden waren. Roozeboom machte dieweil draußen die Runde, prüfte jede einzelne Absegelung, die von den Rondellstangen zu den Ankern führten und spannte hier eine nach, und lockerte dort eine andere, damit überall die gleiche Spannung herrschte; sodann belegte er das Seilende jeweils zusätzlich mit einem halben Schlag und steckte das Ende dergestalt fest, daß man nicht darüber fallen konnte. Trimm und Rouleau entrollten weitere Leinwand – Längen von dreieinhalb Metern, die sie unter dem Dachüberstand einhängten und im Boden feststeckten. Peggy, der Elefant, der jetzt nichts mehr zu tun hatte, rupfte mit dem Rüssel Kraut und Gras ab, steckte es in den Mund, spuckte das meiste jedoch wieder aus und kaute nicht sonderlich begeistert auf dem Rest herum. -81-
»Habt ihr gesehen, wie dieser mächtige Dickhäuter das Großzelt aufgezogen hat!« wandte Florian sich nunmehr in ziemlich drängendem Tonfall erneut an die Zuschauer. »Kommt morgen wieder und seht ihn euch bei der Vorführung an – Brutus, das größte Tier auf Gottes Erdboden! Er kann Kunststücke und bietet auf Befehl seines echten Hindumeisters Kraftakte, wie man sie noch nie gesehen hat!« Nachdem die Rundleinwand eingehängt war, gab es nur zwei Öffnungen im Zelt. An der Hinterseite war ein Eingang für die Artisten und Tiere freigelassen worden – und dahinter, ein Stück von diesem Zugang entfernt, stand der Gepäckwagen. Genau gegenüber, auf der Straßenseite, befand sich der Publikumseingang für diejenigen, die vorher an der Kasse eine Eintrittskarte erworben hatten. Zwischen dem Museumswagen mit der Kasse und dem Chapiteau-Eingang war der Käfigwagen aufgestellt worden, damit die Zuschauer den Löwen betrachten konnten. »Der König der Raubtiere, seine Majestät Maximus!« rief Florian. »Sie können bis hierher hören, wie er nach rohem Menschenfleisch brüllt, denn das ist das einzige Fleisch, das Maximus anrührt! Kommt morgen und werdet Zeuge, wie der draufgängerische Captain Hotspur in den Käfig hineinkriecht, um das blutrünstige Tier zu bändigen!« Edge sah, daß Yount seinen Lightning sowie das Eselchen ausspannte; unter der Kuppel des Chapiteaus war Hannibal dabei, auch dem anderen Kaltblüter das Geschirr abzunehmen. Deshalb sprang Edge von der Kutsche herunter, um Thunder auszuspannen, der den Käfigwagen gezogen hatte. Als er Florian wieder aufmunternd rufen hörte, blieb er stehen und sah sich noch einmal um. »Recht getan, Sir! Treten Sie nur an die Kasse heran. Und du auch, Junge!« Dann hob er die Stimme und rief lauthals: »Madame Buchhalterin, haben Sie doch die Güte und geben Sie Karten an unsere ersten beiden Zuschauer aus! Und bitte nicht -82-
vergessen: die besten Plätze im Haus!« Nicht wenig verwundert, grinste Edge. Denn in der Tat: ein grauhaariger alter Mann und ein blonder Struwwelkopf, die beide ausgebleichte Overalls trugen und ein wenig schafsköpfig strahlten, überquerten den Platz und gingen zum Museumswagen hinüber. Mit sehnsüchtigen Augen folgten ihnen die anderen; einige kramten auch noch tief in ihren Taschen. Edge ging zum Käfigwagen, um sich um Thunder zu kümmern, und dort erwartete ihn wieder eine Überraschung. Seine Majestät Maximus bekundete nicht mehr Lebhaftigkeit, als Edge auch bisher bei diesem Tier erlebt hatte. Mit geschlossenen Augen lag der Löwe auf der Seite; nur sein Brustkasten mit den herausstehenden Rippen bewegte sich, während er sanft schnarchte. Das Geratter der Eisenstangen und das blutrünstige Gebrüll kamen unter dem Käfig hervor. Edge bückte sich und lüpfte die Segeltuchschürze, die unterm Käfigboden heruntergelassen worden war. Zwischen den Wagenrädern kauerte der Wilde Mann, rasselte fleißig mit der rostigen Kette und stieß mehr oder weniger die für ihn normalen Laute aus, nur, daß er sich jetzt einen Zinkeimer über den Kopf gestülpt hatte, der diese Laute verstärkte und ihnen etwas hinreichend überzeugend Löwenhaftes und Wildes verlieh. »Das ist das einzige, was er von sich aus kann«, sagte Florian, der gerade in diesem Augenblick näherkam. Dabei betupfte er sich die schweißnasse Stirn mit dem Taschentuch, als wäre die beschwörende Ansprache an die Zuschauer das härteste Stück Arbeit, das er heute nachmittag geleistet hatte. »Außerdem tut der arme Schwachkopf nichts lieber als das. Machen Sie also nicht so ein abweisendes Gesicht.« »Ich schwöre ...«, sagte Edge leise und schüttelte den Kopf. Dann ließ er die Leinwandschürze fallen und richtete sich wieder auf. »Immerhin haben Sie ein paar Karten verkauft.« »Bis jetzt leider nur zwei. Die anderen Gaffer, das war bloß -83-
das Übliche.« »Und womit haben diese beiden bezahlt?« Edge schickte sich an, Thunders Geschirr loszumachen. »Der alte Herr trug einen ganzen Stapel Rebellendollars mit sich herum und hat dreizehn davon rausgerückt. Wie er sagte, hatte er sie für seine Beerdigung aufgespart, nur würde er sich lieber einen Circus ansehen als zu seiner eigenen Beerdigung zu gehen. Und der Junge war gerade vom Fluß gekommen. Er wollte dies nach Hause bringen, beschloß dann jedoch, sich davon zu trennen.« Florian hielt eine Schnur in die Höhe, an der ein mittelgroßer Wels hing. »Jetzt ist der Junge wieder runter zum Fluß und hofft, vorm Abendessen noch was für seine Familie zu fangen.« »Ein Fisch? Was wollen Sie denn mit einem Fisch?« »Ihn essen, selbstverständlich, Mann. Oder haben Sie gedacht, ich wollte ihm Kunststücke beibringen?« Florian lachte. »Allerdings, eines können Sie mir glauben – ich hab’s bei Naturalienzahlungen schon mal gemacht, mit tanzenden Putern.« »Mit tanzenden Putern«, wiederholte Edge. »Naja, wir hatten eine kleine Herde in Zahlung genommen, sie gleichsam als lebende Notverpflegung betrachtet. Und deshalb haben wir sie, solange wir sie noch nicht verspeist hatten, als tanzende Puter gezeigt.« »Als tanzende Puter?« »Stellen Sie Puter mal auf heißes Eisenblech und warten Sie ab, was passiert.« Abermals schüttelte Edge den Kopf und fuhr mit dem Ausspannen fort. Dann sagte er: »Und heute haben Sie für wertloses Südstaatenpapiergeld und einen Wels die besten Plätze des Hauses weggegeben?« »Na, hören Sie! Zwei Plätze, was ist das schon! Immerhin ist -84-
ein Anfang gemacht. Jetzt brauchen wir nur noch die Fahne aufzuziehen – und das würden wir auch tun, wenn wir nur ein Kochzelt mit Mast hätten, sie daran hochgehen zu lassen. Aber jetzt werfen wir erst mal den Wels in die Brennesselsuppe; das müßte eigentlich eine ganz köstliche ...« »Brennesselsuppe?« »Öle Mag versteht sich darauf, von den Erzeugnissen des Bodens zu leben. Sie hat die Zutaten gesammelt, während wir das Chapiteau hochzogen. Brennesseln und wilde Zwiebeln. Ich hab’ schon wesentlich Schlechteres gegessen, Sie werden sehen. Aber mit etwas Fisch darin schmeckt sie natürlich noch besser.« Edge starrte ihn an. »Ihre Leute haben seit dem Süßkartoffelauflauf heute morgen keinen Bissen gegessen. Und das war doch schon nicht der Rede wert. Sie sind den lieben langen Tag unterwegs gewesen und jetzt haben sie geschuftet wie die Nigger. Und da wollen Sie ihnen Brennesselsuppe und Welssud vorsetzen?« »Wir essen, was wir haben«, sagte Florian. »Das Eselsfleisch muß für den Löwen bleiben.« »Ich schwöre«, sagte Edge noch mal, »in meinem ganzen Leben bin ich keinem so genügsamen Unternehmen begegnet. Ich habe die mexikanische Bürgerwehr und die Busch-Texaner erlebt und kenne sämtliche Witze über die jämmerliche OneidaKavallerie der Yankees. Aber was gottserbärmliches Elend betrifft, ich will’n Besen fressen, wenn ihr da nicht alle übertrefft, und das tagaus, tagein, Sonntag eingeschlossen.« »Sie sind erschöpft«, sagte Florian gütig. »Vor Hunger, zweifellos. Schäkeln Sie Ihr Pferd dort drüben zusammen mit Snowball und Bubbles an und lassen Sie uns essen.« Nachdem sie sich den anderen ums Feuer herum angeschlossen hatten, ging Florian auf die andere Seite und überreichte Magpie Maggie Hag den Fisch. Yount begrüßte Edge begeistert. »Hast du gesehen, wie die das Riesenzelt -85-
aufgebaut haben, Zack? Wie sie Hand in Hand gearbeitet haben?« Edge schnaubte. »Mein lieber Obie, du hast ungezählte Male gesehen, wie die Reserve in Friedenszeiten Manöver abgehalten hat, und das lief genauso hübsch und reibungslos ab wie dies hier und war wichtig. Und was hat das ganze Getue jemals genützt?« »Zachary, das hört sich an, als ob du nicht viel von uns hieltest«, sagte Sarah Coverley und sah ihn durchtrieben an. »Dabei habe ich mir soviel Mühe gegeben, einen guten Eindruck auf dich zu machen.« »Aber Mutter!« rief Clover Lee, als wäre sie entsetzt, doch dann kicherte sie. Edge sagte, er wolle sich nur einen Rest von gesundem Menschenverstand bewahren, der hier offenbar nicht sonderlich hoch im Kurs stehe. »Gestern hat euer Mr. Florian sich als in der Wolle gefärbten Zyniker hingestellt. Noch nie habe ich erlebt, daß jemand sich so gründlich selbst verkennt. Inzwischen überlege ich, ob er nun der hoffnungsvollste Optimist auf Erden ist oder der größte Einfaltspinsel.« Mit beträchtlicher Schärfe erklärte Sarah: »Viele Neunmalkluge haben schon behauptet, daß Florian niemals schafft, was er sich vorgenommen hat, doch hat er sie immer und immer wieder eines Besseren belehrt. Wer wollte bestreiten, daß wir uns heute abend praktisch von Wassersuppe ernähren müssen.« Erbost verteilte sie Blechnäpfe ringsumher. »Aber wenn Florian sagt, eines Tages werden wir uns an Kaviar und Champagner delektieren, lacht und feixt keiner von uns, sondern tut so, als gäb’ es heute schon Kaviar und Champagner.« Blechnäpfe in ausreichender Zahl gab es nur für die regulären Circusangehörigen. Yount reichte Sarah eine billige Porzellanschale, woraufhin Tim Trimm ein finsteres Gesicht machte und trotzig sagte: »Ihr Pferdenarren tätet gut daran, -86-
vorsichtig mit dem guten Geschirr umzugehen. Das sind Requisiten, die ich für meine Nummer brauche. Laßt bloß keinen fallen, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun.« »Ja. Bringt nur Tim in Brass, dann sticht er!« erklärte Roozeboom mit einem grollenden Lachen. »Kleiner Mann«, sagte Yount, »du bist nicht nur frech, sondern auch noch gemein.« Tim warf ihm einen häßlichen Blick zu, drehte sich um und entfernte sich vom Feuer – vielleicht war er am Überkochen. Rouleau sagte zu Yount: »Lassen Sie sich nicht davon täuschen, daß er von der Natur vernachlässigt worden ist. In der Manege, vor Publikum, ist Tim ein durchaus anständiger Klon.« »Was soll er sein? Ein Klon?« »Das ist Circusjargon für Clown.« Magpie Maggie Hag tat den geschuppten und zerteilten Wels erst jetzt in den Eisenkessel hinein; das Gericht war also noch nicht ganz fertig, und da dies für Edge das erste Mal war, daß er ausschließlich mit Circusleuten beisammen saß, wurde ihm plötzlich bewußt, wie ungewaschen und dreckig sie rochen – wie eine Horde Soldaten. Er selbst war gestern abend zumindest kurz im Fluß untergetaucht und hatte sich rasiert, doch seine Uniform und seine Unterwäsche trugen zweifellos zum allgemeinen Gestank bei. Jedenfalls setzte er seine Schale vorsichtig ab und machte ein paar Schritte, um reinere Luft zu schnappen. Er verließ den Zeltplatz, überquerte die gepflasterte Straße und warf einen genaueren Blick auf eines der Plakate, das an einem der Telegraphenmasten angeklebt war. Das Papier sah aus wie braunes Packpapier, war mit einem Durcheinander von Schriftgraden bedruckt, vom protzigaufdringlichen Schwarz bis zu höchst elegantem Augenpulver. Unter dem allgemeinen Wortgeklingel fanden sich ab und zu Holzschnitte, einige mit ungelenk gezeichneten Affen und Elefanten, dann aber auch mit Märchenfiguren wie Einhorn -87-
und Seejungfrauen darauf. Auf noch anderen waren unwahrscheinliche Ereignisse abgebildet: ein Gentleman in gestreiften Hosen, der sich mit bloßen Händen eines wimmelnden Haufens von Löwen und Tigern erwehrte, eine zierliche Dame, die auf Zehenspitzen auf der Kruppe eines Pferdes tanzte, das sich – die Beine nach vorn wie nach hinten ausgestreckt – in eleganter Levade vollständig vom Boden gelöst hatte. Der Text war nicht minder unwahrscheinlich und beschrieb Artisten und Kunststücke, wie Florian sie früher vielleicht einmal in seinem Circus gehabt hatte – von denen er möglicherweise aber auch nur gehofft hatte, sie ins FLORILEGIUM zu bekommen. »Mlles Pfeffer und Paprika, bezaubernde Akrobatinnen, die an schwankender Perchestange ihre schwerelosen Kunststücke vorführen und selbst starken Männern den Atem rauben ... ZIP COON UND JIM CROW, die beiden komischen Maultiere, die mit ihrem umwerfenden Humor niemals versäumen, das Publikum zum Lachen zu bringen ... ALLEGORISCHE DARSTELLUNGEN in lebenden Bildern – gestellt von hinreißend schönen JUNGEN FRAUEN – Thema: DIE FREIHEIT TRIUMPHIERT ÜBER DIE TYRANNEI UND DIE KÖNIGIN VON SABA AM HOF KÖNIG SALOMONS.« »... oder in Naturalien«, sagte eine Stimme neben Edge, so daß er sich umdrehte. Ein weiterer Lynchburger in Overall versuchte, in der zunehmenden Dämmerung, das Plakat zu lesen. »Steht jedenfalls da. Ganz unten. Was mein’ Sie, Colonel, ob die für ’n paar Sack Rauchtabak wohl ’n paar Eintrittskarten rausrücken?« »Ich werde persönlich dafür sorgen, daß sie das tun«, sagte Edge und steuerte ihn quer über den Festplatz zum Lagerfeuer, wo Florian hocherfreut sein Suppeschlürfen unterbrach, um dem Mann die Karten auszuhändigen. Edge ließ sich von Magpie Maggie Hag mit der Schöpfkelle Brennesselsuppe in die Schale füllen – nicht viel, und das nicht, -88-
weil es schrecklich geschmeckt hätte, was es tat –, sondern weil er das Gefühl hatte, sie den Männern, die so schwer gearbeitet hatten, nicht wegessen zu dürfen. Nachdem er die Suppe runtergewürgt hatte, zog Edge seinen Waffenrock aus und machte sich mit Hilfe seines Messers daran, die Silbertressen und Sterne von Kragenspiegel und Manschetten abzutrennen. Der Kessel der Zigeunerin war bald leer, doch niemand von denen, die gegessen hatten, konnte einen vollen Magen haben. Deshalb holte Florian als nächstes eine Tüte hervor und ließ sie herumgehen. »Dörräpfel als Nachtisch«, sagte er. »Eßt ein paar davon, dann quellen sie mit der Suppe im Magen auf; hinterher habt ihr das Gefühl, eine Mahlzeit mit neun Gängen zu euch genommen zu haben.« Dann ließ er auch den soeben erworbenen Tabak herumgehen, und die meisten – Magpie Maggie Hag inbegriffen – stopften sich die Pfeife. Nachdem sie träge geraucht hatten, gingen alle schlafen. Der Neger Hannibal, der genauso wie der Wilde Mann normalerweise unter einem der Wohnwagen schlief, führte den Schwachsinnigen diesmal in das Chapiteau, und holte dann Decken und Strohsäcke für sie beide. Da die Nacht mild zu werden versprach, beschlossen auch die Weißen, dort zu schlafen statt in ihren Maringotte-Wohnwagen. Folglich holten auch Yount und Edge ihre Schlafsäcke hervor und breiteten sie auf dem weichen Gras aus. Bald waren alle eingeschlafen.
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4 Da Edge der letzte war, der sich schlafen gelegt hatte, war die Arbeit, als er aufwachte, bereits voll im Gange. Roozeboom und Rouleau trugen Planken und merkwürdig geformte Bretter ins Zelt und stapelten sie rings um die Rundleinwand. Obie und der Wilde Mann waren auf Händen und Knien dabei, unter übertrieben eifrigen Anweisungen von Tim Trimm, Unkraut und Grassoden aus dem Boden zu reißen, um in der Mitte des Chapiteaus eine ebene Fläche entstehen zu lassen. »Morgenstund hat Gold im Mund!« rief Florian, als er Edge aufstehen sah. »Die Jungs sind schon in aller Herrgottsfrühe zum Fluß runter und haben ein paar schöne Fische fürs Frühstück gefangen. Maggie hält einen für Sie warm.« Edge fuhr eilends in die Kleider, rollte sein Bettzeug zusammen und trug es hinaus, um nicht im Wege zu sein. Am Käfigwagen fuhrwerkte Hannibal mit einem Haken an einem langen Stiel herum, den er für gewöhnlich zum Lenken des Elefanten benutzte, und stocherte und schabte munter damit auf dem Käfigboden herum, um den Kot herauszuholen, den der Löwe in der Nacht fabriziert hatte. Maximus selbst war zur Abwechslung einmal wach, tigerte im Käfig auf und ab und stelzte dabei zierlich über Hannibals Kratzhaken hinweg. In der Tat hatte Magpie Maggie Hag einen Fisch gebraten, der auf einem Blechteller auf Edge wartete; sie scheuerte dieweil mit einer Handvoll Sand die anderen sauber. Edge dankte ihr aufrichtig und frühstückte, denn er war hungrig wie ein Wolf. Allerdings handelte es sich nur um einen kleinen Karpfen, der ziemlich fade schmeckte und zu weiches Fleisch hatte wie alle Flußkarpfen. Nach den säuberlich abgenagten, gleichwohl als solche erkennbaren Gräten auf den anderen Tellern zu urteilen, sah er, daß diejenigen, die vor ihm gefrühstückt hatten, sich an wesentlich wohlschmeckenderen Fischen wie Welsen und Aalen gütlich getan hatten, doch konnte er sich kaum darüber -90-
beschweren, denn schließlich war er als letzter wach geworden. »So, gadjo«, sagte Magpie Maggie Hag mit ihrer tiefen Stimme, »jetzt hilf du mal im Tabernakel.« Edge sah sie fragend an: »Himmelherrgott, Florian sagt Chapiteau und Pavillon dazu, du nennst es jetzt Tabernakel; dabei ist es doch nichts weiter als ein Zelt.« »Tatcho, gadjo. Hört man heutzutage das Wort ›Heiliger Tabernakel‹, denkt man gleich an eine große Kirche, no? Oder an das Grab eines Heiligen, no? Dabei bedeutet ›Tabernakel‹ in der Bibel nichts weiter als Hütte oder Zelt, mit dem man leicht umherziehen konnte. Ich weiß das genau. Mein Volk, die Romani Kalderash, haben immer in Tabernakeln gelebt.« »Wenn Sie das sagen, Madame.« Folgsam betrat Edge das Tabernakel. Dort wies Florian Rouleau, Trimm und einen Freiwilligen – Obie Yount – an, die Zuschauersitze oder das Gradin aufzubauen. Dabei handelte es sich um nichts weiter als um lange, über Stufen von Treppenwangen gelegte lange Bretter, die von der Oberkante der Rundleinwand schräg bis zum Boden hinuntergingen. Jede einzelne Treppenwange wurde am Zeltrand von einer Gabelstütze gehalten, die auf einem dünnen Rundholz steckte; dort, wo die Wange den Boden erreichte, wurde sie von einem kleinen, in die Erde getriebenen Holzpflock am Wegrutschen gehindert. Wurden die Bankbretter darüber gelegt, bildeten sie ein fünfstöckiges Halbrund, das vom oberen Rand der Rundleinwand bis zum Boden und vom Publikumseingang bis zur Hintertür reichte. Edge überschlug, daß – wenn die Zuschauer dicht gedrängt dasaßen und die Füße einfach baumeln ließen – das Chapiteau rund fünfhundert Zuschauern Platz bieten müsse. Trotzdem, meinte er zu Florian gewandt, das ganze mache einen ziemlich wackligen Eindruck. »Aber wir verlassen uns auf die Grundgesetze der Physik«, sagte Florian unbeeindruckt. »Jetzt halten doch die Gesetze von -91-
Druck und Schwerkraft alles zusammen. Wenn die Gaffer kommen und sich auf die Bretter setzen, hält die Schwerkraft alles nur noch sicherer zusammen. Aber natürlich, sollte das Publikum sich wirklich aufregen und anfangen, herumzuhüpfen, kann das ganze zusammenkrachen.« »Das muß Ihnen doch Anlaß zu ständiger Sorge sein«, sagte Edge. »Sorge?« wiederholte Florian, als ob ihm dieser Gedanke nie gekommen wäre. »Aber mein lieber Zachary, das würde bedeuten, daß wir eine tolle, spannungsgeladene Vorstellung hingelegt hätten!« Etwa in der kahlen Mitte des Chapiteaus arbeitete Ignatz Roozeboom an etwas anderem; der Wilde Mann ging ihm dabei zur Hand. Roozeboom hatte am Mast eine lange Schnur mit einem eisenspitzenbewehrten Stock am Ende befestigt; auf den Knien kroch er am Ende dieser Schnur um den Mast herum, kratzte die Erde mit der Eisenspitze auf und zeichnete einen Kreis mit einem Radius von etwas über sechs Metern in den Boden, dessen Mitte der Mast bildete. Mit einem Spaten hob er an eben dieser Markierung einen schmalen Graben aus – dann drückte er den Spaten dem Schwachsinnigen in die Hand, der den kreisrunden Graben weiter aushob. Jetzt klopfte Roozeboom die lockere Erde fest und baute daraus einen kleinen Wall, der den Kreis umschloß; das ganze war etwa dreißig Zentimeter hoch und dreißig Zentimeter breit. »Eine amerikanische Piste«, sagte Florian und stieß verächtlich schnaubend Luft durch die Nase. »In Europa führt jeder Circus, der etwas auf sich hält, eine in tragbare Segmente zerteilbare, hübsch gestrichene hölzerne Piste mit sich. Sobald wir es uns leisten können, werden wir uns auch so eine anschaffen.« Edge sagte: »Mr. Roozeboom – ich meine, Captain Hotspur – scheint es mit den Maßen sehr genau zu nehmen.« -92-
Verwundert sah Florian Edge an. »Himmel, ich dachte, das wäre etwas, was selbst ein Laie wüßte. Jede Circusmanege überall auf der Welt ist gleich groß, Zachary: genau dreizehn Meter im Durchmesser – und das, seit der Engländer Astley den ersten modernen Circus gegründet hat und sich auf diesen Durchmesser festlegte. Das muß überall so sein; wie sollte man sonst Pferde oder andere Tiere dressieren? Die dann hin und her verkauft werden, um in diesem oder jenem Circus aufzutreten? Wenn die Manegen nicht überall gleich groß wären, gäbe es ein fürchterliches Durcheinander.« »Soso«, sagte Edge. »Und zwar nicht nur für die Tiere, sondern auch für die Artisten. Bei der Dressur und der Voltigereiterei braucht das Pferd genau zweiundzwanzig Schritte, um die Piste einmal zu umrunden. Das weiß das Pferd genauso wie der Artist – und die Kapelle weiß das auch, sofern es eine gibt. Deshalb sind Pferd wie Artist sich genau darüber im klaren, wo beide bei jedem Trick stehen – sie kennen jeden Schritt des Pferdes und jede Bewegung des Reiters –, und die Kapelle kann sich diesem Tempo genau anpassen.« »Ich muß wohl wirklich ein ahnungsloser Laie sein«, sagte Edge. »Dabei hätte ich mir das selbst denken können. In Friedenszeiten haben wir bei der Kavallerie ja auch Dressuren und alle möglichen anderen Formen des Reitens geübt, bei denen man die Schritte genau zählen muß und so. Manchmal übrigens zu den Klängen einer Blaskapelle.« »Irgendwann werde auch ich eine Kapelle haben«, sagte Florian mehr zu sich als zu Edge. »Irgendwann wird alles genau so sein, wie es sich gehört: anständiges Gradin mit richtigen Böcken statt einfachen Rundhölzern als Stützen, um die Wangen alle genau in der Waage aufstellen zu können.« Er ließ den Blick durchs Zelt schweifen und richtete ihn dann in die Höhe: »Und auch einen anständigen Pavillon, ein richtig großes Chapiteau, das diesen Namen verdient. Für die Tierschau -93-
brauchen wir dann noch ein zweites Zelt, und noch ein anderes für die Sideshow. Außerdem werden wir farblich wie in der Gangart zueinander passende Pferde haben, die jeden Tag Hafer kriegen. Und zwar nicht nur die Dressurpferde, sondern die Zugpferde auch. Außerdem werden die Artisten die phantastischsten und mit schönem Flitter besetzten Kostüme tragen, das Pferdegeschirr soll vernickelte Beschläge aufweisen und in der Pause vielerlei Pfeifen und Tand verkauft werden ...« Edge merkte, daß er gleichsam wie im Selbstgespräch zunächst von ›sich‹, dann jedoch rasch von ›uns‹ gesprochen hatte. »... Natürlich werden wir dann den Circus nicht in jedem Kaff wie hier aufbauen, sondern eine kleine Vorausabteilung ausschicken. Die soll die reicheren und lohnenderen Städte auskundschaften, dort für den Festplatz und Futter sorgen und die Klebekolonne ausschicken, die Stadt mit erstklassigen Plakaten zu pflastern. Und wenn der eigentliche Circus in der Stadt eintrifft, machen wir zuerst eine Parade die Hauptstraße hinunter. Wobei nicht nur die Kapelle spielt, sondern außerdem noch eine Dampf-Kalliop!« »Eine Kalliop?« wiederholte Edge echogleich. »Ach, ich vergesse immer wieder, daß Sie in der Schule alte Sprachen mitbekommen haben. Jawohl, die Dampforgel ist nach der wichtigsten der neun Musen benannt, der Kalliope. Nur, daß jeder amerikanische Circusmann sie Kalliop ausspricht. Erfunden wurde sie übrigens von einem Amerikaner; wie käme ich also dazu, jetzt an der Aussprache herumzumäkeln. Im übrigen bin ich auf ein solches Ding sehr scharf, und wenn wir erst eine Dampforgel haben, wird wirklich tüchtig Dampf gemacht.« Wie um dieser Aussage zu spotten, begann draußen eine einzelne, verlorene Trommel bumbum zu machen. Florian verließ das Zelt, und Edge folgte ihm. Draußen saß Hannibal, -94-
angetan mit seinem Hinduturban und dem dazu passenden Gewand, auf Peggys Nacken, schlug auf eine große Messingtrommel ein, die er zwischen den Schenkeln stehen hatte und die mit einer Schnur um den Hals gesichert war. Peggy trug wieder die scharlachrote Decke, die früher einmal Samt gewesen war, die Hannibal jetzt jedoch umgedreht hatte. In verblaßten Lettern, die einst aus Goldgarn bestanden hatten, war BESUCHT DEN CIRCUS daraufgestickt. Der Schwarze hielt im Getrommel ein und rief fröhlich: »Wir sin’ soweit und könn’ loszieh’n, sobald Sie’s sagen, Mas’ Florian.« »Sahib Florian, verdammt noch mal, Abdullah.« Florian zog eine ziemlich zerdellte Taschenuhr aus der Westentasche und warf einen Blick darauf. »Nun, es ist gleich Mittag, und da wir so gut wie fertig sind, kannst du losziehen. Ziehe durch so viele Straßen, wie du kannst, nur merk dir den Weg, damit du auch wieder hierher zurückfindest.« Hannibal nickte, rief: »Shy, Peggy!«, woraufhin der Elefant sich nach rechts wandte und munter zur Straße hin trabte. Dort befahl Hannibal: »Come in, Peggy!«, der Dickhäuter wandte sich nach links und strebte der Stadtmitte zu. Hannibal fing wieder an zu trommeln, um die Worte zu unterstreichen, die er ausrief: »Folgt mir zum Circus! Unten beim Güterbahnhof! Folgt mir zum Circuszelt.« »Das macht er jetzt straßauf, straßab«, sagte Florian. »Aber walzt er dann nicht jedes Pferd in der Stadt nieder?« »Sobald sie ihn entdeckt haben, werden die Kinder ihn umringen. Und die stürmen dann glücklich voraus und rufen: ›Pferde anhalten‹. Und wenn Abdullah zurückkehrt, wird es aussehen, als wäre er der Rattenfänger von Hameln. Alle Kinder der Stadt werden ihm folgen. Und ich bin ziemlich sicher, daß denen wiederum viele Erwachsene folgen werden.« »Vielleicht aber auch nicht«, sagte Edge. »Könnte ja sein, daß -95-
sie denken, er will Rekruten für die Nordstaaten-Army anwerben.« Denn die Trommel trug auf beiden Trommelfellen eine mit Schablone gemalte Beschriftung: U.S.A. 3rd Div. HQ. BAND. »Man könnte eine Ironie des Schicksals darin sehen, wenn Ihr Neger ausgerechnet in Lynchburg gelyncht werden würde.« »Tja«, meinte Florian. »Diese Trommel samt Schlegeln haben die Yankees aus – ähem – Versehen irgendwo in Carolina liegen lassen. Sollten wir jemals zu einem Topf Farbe kommen, werde ich unseren Namen draufpinseln.« Edge wurde von Schuldgefühlen geplagt, nichts getan zu haben, um sich sein Frühstück zu verdienen, und betrat daher das Chapiteau, um Roozeboom beim Aufstellen des Gradins zu helfen. Yount, der meinte, sich seinen Fisch verdient zu haben, weil er beim Heraustragen der Bankbretter geholfen hatte, war inzwischen wieder hungrig geworden und vermutete insgeheim, daß es allen anderen auch so ging. Deshalb sagte er zu Sarah Coverley: »Wenn Sie mir die Schnur und den Haken leihen, geh’ ich runter an den Fluß und versuche mein Glück noch mal. Vielleicht fange ich vor Beginn der Vorstellung noch etwas.« »Bemühen Sie sich nicht, Sergeant«, sagte sie freundlich. »Wenn Sie es fertigbringen, Ihr Magenknurren nicht zur Kenntnis zu nehmen, können wir das auch. Florian hat prophezeit, wir werden ein volles Haus haben und die Leute werden tausend gute Sachen bringen, die wir essen können.« »Ein volles Haus?« »Mehr Zuschauer, als wir einlassen können. Weil wir so viele Sitze gar nicht haben; kann also sein, daß einige stehen müssen. Oder auf dem Boden hocken. Aber egal wie, Obie, wahrscheinlich haben wir ohnehin jeden Fisch im Fluß vertrieben. Wir sind nämlich allein oder zu zweit alle nacheinander runtergegangen, um uns vorm Umziehen zu -96-
waschen. Jetzt bin ich an der Reihe, wenn Sie mich entschuldigen würden.« Yount ließ sich auf einem umgedrehten Zuber nieder – dem Waschzuber der weiblichen Circusangehörigen, die Hälfte von dem, was einst ein Mehl- oder Whiskeyfaß gewesen war – und sah jenen zu, die nicht gerade unten am Fluß waren, um sich zu waschen. Einer von denen, die für jeden erkennbar nur selten badeten, war der Tarheel-Schwachkopf, den Hannibal, ehe er mit dem Elefanten losgezogen war, in sein Kostüm als Wilder Mann gesteckt hatte. Dieses Kostüm bestand aus ein paar dürftigen Fellen, die ihn nur soweit bedeckten, daß er kein öffentliches Ärgernis erregte, außerdem aus ein paar dicken Ketten, die ihm an Hand- und Fußgelenken angeschäkelt waren, und etlichen Holzkohleflecken, mit denen er zusätzlich zu seinem normalen Schmutz noch an ein paar Stellen geschwärzt worden war, als wäre es eine Kriegsbemalung. Der Wilde Mann verbrachte einige Zeit damit, hin und herzuspringen, mit den Ketten zu rasseln und Grimassen zu schneiden, was alles offenbar dazu diente, sich warm zu machen oder in die Rolle hineinzusteigern; danach krabbelte er wieder hinter die Leinwandschürze des Käfigwagens und knurrte und brüllte, den Eimer über den Kopf gestülpt, und lieferte die blutrünstigen Laute für den Löwen, der gemessen im Käfig auf- und abschritt. Auch Florian war beim Ankleiden, was jedoch im Grunde nichts weiter bedeutete, als daß er seinen Zylinder und den braunen Gehrock glänzend bürstete und die Spuren von Tierkot von Stiefeln und Hosen entfernte. Auch Magpie Maggie Hag brauchte sich für ihre Rolle nicht besonders herzurichten, trug sie doch stets viele Röcke übereinander und darüber noch ihr Kapuzencape. Deshalb sagte Florian zu ihr: »Mag, oben an der Straße stehen viele Gaffer und renken sich den Hals nach uns aus. Wer weiß, vielleicht sind es nicht alles nur Habenichtse, warum nimmst du nicht einfach deinen Platz im Roten Wagen ein?« -97-
Sie ging, eben dieses zu tun, und Yount erhob sich von seinem Zuber, um Florian zu fragen, warum er eigentlich von dem ›Roten Wagen‹ spreche, wo dieser doch nicht roter war als alle anderen auch. »Auch das ist ein Stück Circustradition, Obie. Wahrscheinlich hat irgendein Circus einmal seinen Kassenwagen rot angestrichen, damit er weithin sichtbar ist. Seither heißt der Circuswagen, der die Kasse sowie das Kontor birgt, ›Roter Wagen‹, egal, ob er wirklich rot gestrichen ist oder nicht.« »Soso. Nun, dann noch eines. Könnte man diesen Roten Wagen nicht etwas bequemer einrichten? Sehen Sie doch mal hin. Die alte Zigeunerin ist ja kaum zu sehen hinter der hohen Theke. Wer eine Eintrittskarte kaufen will, muß sich ja in die Höhe recken. Schreckt das nicht eher ab?« »Auch das gehört zur Tradition. So gehen die Leute weg, ohne alles Wechselgeld einzustreichen, das sie eigentlich bekommen sollen. Um die Kasse herum gibt es immer Gedränge, und alle haben’s eilig, um einen möglichst guten Platz zu bekommen. Da kommt es schon häufig vor, daß sie einfach einen Schein hinwerfen und, statt auch noch auf das Wechselgeld zu warten, nur nach der Karte grabschen. Sie würden sich wundern, wenn Sie wüßten, wieviele Menschen bei der hohen Theke ein paar Münzen liegenlassen.« »Ich freß’n Besen«, sagte Yount und nahm wieder auf dem Zuber Platz. Florian schlenderte hinüber zu dem Roten Wagen, hakte die Seitenverkleidung auf und ließ sie hinunter. Dabei stellte sich heraus, daß auch dieser Wagen eine Art rollenden Käfigs darstellte, nur, daß er statt durch Käfigstangen durch Maschendraht gesichert war. Yount fiel ein, daß der Rote Wagen manchmal als ›Museumswagen‹ bezeichnet wurde; folglich erhob er sich wieder, um nachzusehen, was es damit auf sich habe. Viel war nicht zu sehen. -98-
Der Käfig wies einen mit Sand bestreuten Boden auf; ein paar verzweigte Äste erweckten den Eindruck, als wüchsen sie vom Boden bis an die Decke. Eine Schlange kroch darüber hin, und auf den Ästen saßen etliche Vögel; diese jedoch waren so unsachgemäß ausgestopft worden, daß Motten und Räude sie befallen hatten. Das größte dieser Tiere war immerhin etwas Besonderes: ein Kalb mit zwei Mäulern, die ihm aus dem Kopf wuchsen; dieses Kalb hatte also zwei Mäuler, vier Nüstern und drei Glasaugen. Die anderen Tiere waren, als sie noch gelebt hatten, durchaus normale Tiere gewesen, die sich hierzulande durch nichts Besonderes auszeichneten: ein Waldmurmeltier, ein Opossum, ein paar Backenhörnchen, ein Skunk oder Stinktier, eine Spottdrossel sowie mehrere Kardinalsvögel und Kolibris. Selbst bei der Schlange handelte es sich um eine ganz gewöhnliche, graubraun gezeichnete, fast einen Meter lange Nordamerikanische Milchschlange. Yount sagte: »Verzeihen Sie, Mr. Florian, aber Sie haben hier ja nicht viel drin, was nicht jeder Mensch in Virginia schon lebend hat herumlaufen sehen – und vermutlich als lästig bezeichnet hat. Nicht mal das Kalb ist etwas wirklich Ungewöhnliches, jeder Milchfarmer kennt so etwas. Und so eine Milchschlange zu sehen, erfreut einen Milchfarmer auch nicht gerade – und, übrigens, Milchschlangen klettern nicht auf Bäume.« »Vielen Dank, Obie«, sagte Florian, den diese Belehrung offenbar nicht im geringsten bedrückte. »Stimmt schon, diese Tiere haben nichts Besonderes – nur, daß jedes einzelne hier ausgestellte Tier mit einer bestimmten Geschichte zu tun hat. Und wenn ich diese erbaulichen Geschichten erzähle, sehen diese Bauern die Tiere mit ganz anderen, mit neuen Augen an. Außerdem darf ich Ihnen vielleicht verraten, daß ich diese Exponate nicht so sehr gesammelt habe, um ein amerikanisches Publikum damit zu erfreuen, als vielmehr die Leute in Europa, wenn wir erst mal dort sind. Die Kolibris, zum Beispiel.« -99-
»Mr. Florian, Kolibris machen nicht mal auf Ausländer Eindruck. In Mexiko habe ich womöglich noch mehr davon gesehen als hier.« »Aber in Europa bekommen Sie keinen einzigen Kolibri zu sehen, höchstens im Museum. Es gibt sie dort drüben einfach nicht. Kein Europäer vor Kolumbus hat jemals einen Kolibri erblickt; erst danach haben Naturgelehrte den einen oder anderen hinübergebracht. Dasselbe gilt für das Opossum und etliche andere Tiere, die Sie hier sehen. Deshalb werden die Europäer drüben große Augen machen, wenn sie mein kleines Museum sehen. Darauf können Sie sich verlassen.« Wieder sagte Yount: »Ich freß’ einen Besen«, und kehrte zu seinem Zuber zurück, um darüber nachzusinnen, welch gewaltige Erweiterung seine Bildung hier erfuhr. Im Tabernakel waren Edge und Roozeboom dabei, den aus bloßer Erde bestehenden Manegenring festzustampfen; dann entfernte Roozeboom sich durch den Hinterausgang, um seinerseits unten am Fluß ein Bad zu nehmen und sich hinterher im Requisitenwagen umzuziehen. Auch Edge ging, sich zu waschen und zu rasieren; er kam gerade rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie Tim Trimm, für die Vorstellung hergerichtet, aus dem Requisitenwagen herauskam. Für jeden gewöhnlichen Sterblichen wäre es eine ganz normale Kleidung gewesen; er trug nämlich nichts weiter als einen ausgefransten Strohhut, wie ihn jeder Farmer trägt, ein kariertes Flanellhemd, einen abgetragenen Overall und alte Gummistiefel – alles jedoch von einer Größe, die einem Mann wie Obie Yount vielleicht gepaßt hätte. Für Trimm jedoch waren die Sachen viel zu groß, und so sah er darin noch wesentlich kleiner aus, als er in Wirklichkeit war. Er hätte ohne weiteres mit beiden Beinen in einen Stiefel hineingepaßt, und der Strohhut saß ihm praktisch auf der Nase. Das Bißchen von ihm, das zwischen Hutkrempe und Stiefelschäften zu sehen war, wurde von unzähligen Falten von Hemdenstoff und Baumwollstoff des Overalls eingehüllt, und -100-
die Manschetten hingen ihm fast bis zum Boden. Es war ein Kostüm, das Trimm bestimmt billig erstanden hatte möglicherweise hatte er es, ohne überhaupt etwas zu bezahlen, einer Vogelscheuche abgenommen, aber es war sehr wirkungsvoll. Obwohl Edge den Wurzelzwerg verabscheute, konnte er sich bei seinem Anblick eines glucksenden Lachens nicht erwehren. »Sie sollten nicht lachen, Colonel Zachary«, sagte Clover Lee, die bereits fertig für die Manege angekleidet dastand. »Warum nicht, Mam’selle? Er ist schließlich ein Clown. Soll man da nicht über ihn lachen?« »Ich meine, Sie sollten nicht über ihn lachen. Sie sehen nämlich netter aus, wenn Sie’s nicht tun.« Edge seufzte auf. »Das hat mir deine Mutter auch schon gesagt. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.« »Durchaus nicht. Was immer meine Mutter zu einem Mann sagt – sie flirtet nur. Wenn ich jedoch was sage, meine ich das ernst.« Gleichwohl war Clover Lee nach Edges Ansicht zumindest insofern die Tochter ihrer Mutter, als sie blendend aussah und sogar versprach, sie in dieser Beziehung eines Tages auszustechen. Gewiß, im Moment sah Clover Lee in ihrem fleischfarbenen Trikot und einem verblaßten ärmellosen Mieder sowie einem durchsichtigen Volant aus Baumwollmusselin, der ihr wie ein Brett von den Hüften abstand, ein bißchen so aus wie eine Trittleiter: nur Beine und Ecken. Doch bekam sie erst einmal genug zu essen, würde ihr Körper aufblühen. Mit ihrem hübschen Gesicht, den leuchtenden blauen Augen und dem hüftlangen, seidiggoldenen Haar versprach sie, dermaleinst eine überwältigende Schönheit zu werden. Ein Jammer jedoch, daß man sie nicht besser anziehen konnte, dachte Edge. Das fleischfarbene Trikot wies ausgebeulte Knie und Ellbogen auf; außerdem war es an diesen Stellen oft -101-
gestopft worden. An anderen Stellen wies ihr Kostüm Flicken auf, die man so fein und genau angebracht hatte, daß man sie nur ganz von nahem sah, gleichwohl blieben es Flicken. An anderen Stellen zeigte das Kostüm Laufmaschen, lose Fäden und kleine Risse, die noch nicht ausgebessert worden waren. Im Augenblick tupfte Clover Lee sich aus einem unerfindlichen Grunde überall mit einem nassen Schwamm ab. Edge fragte sie, warum sie das tue. »Ach, das ist das erste, was eine Artistin lernt«, sagte sie. »Das Trikot anziehen« – sie fuhr sich mit dem Schwamm über die Oberschenkel -»und das ärmellose Mieder« – sie tupfte mit dem Schwamm auf die winzigen Erhebungen für die Brüste, die in das Kleidungsstück eingearbeitet waren – »und es dann überall anfeuchten. Trocknet das, sitzt es wie angegossen.« »Und das soll deiner Gelenkigkeit bei den Tricks auf die Beine helfen?« Einen Moment starrte sie ihn an, ehe ihr Gesicht sich zu einem Lächeln verzog – dem Lächeln einer Frau von Welt. »Meine Herrn, sind Sie naiv – und das bei einem Colonel? Wenn man es anfeuchtet, sieht das Trikot mehr wie richtige Haut aus, nackte Haut. Glauben Sie denn, diese Bauerntölpel kommen wirklich, um zu sehen, welche Kunststücke eine Frau kann? Die kommen doch nur, um zu sehen, wie weit wir schamlos skandalösen Circusweiber uns entblößen. Die Männer wollen nur sehen, wo sie einen Blick auf unbekleidetes Fleisch werfen können. Und die Frauen wollen sehen, wieviel wir zu zeigen wagen, damit sie sich dann darüber entrüsten können. Himmel, wäre ich eine ebenso gute Reiterin wie meine Mutter – oder gar wie die Große Zoyara –, die Gaffer würden das doch niemals merken. Aber wenn sie sich einbilden, ein Stück von meinem Bein erhascht zu haben, möglichst hier oben im Schritt, dann gehen diese Klötze nach Hause und bilden sich ein, die Show war das Eintrittsgeld wert. Dabei habe ich noch nicht mal schön geschwungene Frauenbeine – ganz zu schweigen von -102-
irgendwas Reizvollem oben, wo sie ... ich habe Ihnen doch schon gesagt, Colonel Zachary, Sie sehen viel netter aus, wenn Sie nicht grinsen.« »Tut mir leid. Ich mußte nur wieder denken, daß der Apfel eben doch nicht weit vom Stamm fällt. Daran gibt es für mich nichts zu rütteln.« Ihre Unterhaltung wurde von jäh aufschmetternder, nicht sonderlich gut geblasener Hornmusik unterbrochen; immerhin konnte man die ersten Takte von ›Dixie Land‹ erkennen. Edge suchte die Quelle des lauten Geplärrs und fand sie im Zeltinneren. Tim Trimm spielte ein Kornett und hielt die Stürze zur Vordertür des Pavillons hinaus, verbarg aber sein Kostüm hinter der Rundleinwand und blieb für Vorübergehende unsichtbar. Am Trageriemen des Instruments war erkennbar, daß das Horn einst zu einer Armeekapelle gehört hatte. Edge stand da und lauschte, bis das Kornett jammernd das letzte »look awaaay« verklingen ließ. Dann zuckte er zusammen, als es mit einem Ohrenschmerzen verursachenden falschen Ton anfing, ›Listen to the Mockingbird‹ zu spielen – so falsch, daß keine Spottdrossel ihn jemals hervorgebracht hätte, nicht einmal im Hohn, woraufhin er das Chapiteau durch den Sattelgang verließ. Roozeboom, Rouleau und Sarah Coverley waren inzwischen umgekleidet und hatten sich in Captain Hotspur, Monsieur Roulette und Madame Solitaire verwandelt. Der Captain hatte einen Hut mit seitlich hochgeklappter Krempe aufgesetzt und trug einen Waffenrock mit gewaltigen Epauletten sowie eine weite, biesenbesetzte Hose. Außer, daß er weiche Schuhe trug statt der hohen Schaftstiefel, gemahnte sein ganzer Aufzug an eine Uniform, die offensichtlich aus allem möglichen Yankeeblau und Rebellengrau zusammengestückelt und in ein einheitliches Violett eingefärbt worden war, wie es von keiner Armee der Welt getragen wurde. Der Monsieur und die Madame trugen eng anliegende Trikots, Rouleau über dem seinen Unterzeug – eine ganz gewöhnliche Kombination aus -103-
kurzärmeligem Unterhemd und knielangen Unterhosen und das beides gelb und grün gestreift. Solitaire trug über ihrem Trikot ein mit fischschuppenähnlichen silbrigen Pailletten besticktes Mieder und um die Hüfte ein durchsichtiges Röckchen aus steifem silbrigem Tüll, das ihr bis zu den Knien reichte. Edge fand, das glitzernde Mieder bringe ihren hübschen Busen gerade richtig zur Geltung, doch werde der Tüllrock die Bauerntrampel wohl um alle Spannerfreuden bringen. Er trat nicht näher an sie heran, weil sie und die beiden Männer damit beschäftigt waren, Sachen aus dem Requisitenwagen herauszuholen. Monsieur Roulette schleifte eine kurze Leiter ins Chapiteau und dazu etwas, das so aussah wie eine Wippe für kleine Kinder. Captain Hotspur und Madame Solitaire trugen ein paar Längen dicken, rosa gefärbten Seils sowie ein paar andere Dinge herbei, die aussahen wie Trudelreifen, nur, daß sie rings um mit Bändern aus rosa Kreppapier umwickelt waren. Edge ging aus dem Weg, umrundete das Chapiteau von außen und ging zum Vordereingang. Dabei kam er an zwei angehalfterten Manegenpferden vorbei, einem Schimmel und einem Apfelschimmel – beide ohne Sattel, dafür mit einem einzelnen Rumpfgurt, dem sogenannten Gürtel mit zwei Handgriffen daran zwischen Widerrist und Schulterblatt und sah, daß jemand ihnen farbige Bänder in Mähne und Schweif geflochten, ihnen den Rücken mit Kolophonium bestäubt und das Zaumzeug mit extralangem Zügel und feststehendem Martingal versehen hatte, das vom Kinn bis zum Gürtel führte, und ihnen außerdem Puschel oder Federbüsche aufgesteckt hatte, die den Pferden zwischen den Ohren wippten. Die Zuschauer trafen ein, in der Regel paarweise oder als Familie mit Kindern. Sie gingen zum Roten Wagen, wo einige mit Bargeld zu bezahlen schienen. Der größere Teil jedoch mußte auf dem Weg stehenbleiben, um die mitgebrachten Tauschwaren von Florian begutachten und auf ihren Wert hin -104-
schätzen zu lassen. Soweit Edge und Yount sehen konnten, wies er nichts von dem, was ihm angeboten wurde, zurück, und es mußte auch niemand umkehren; er winkte vielmehr allen, weiterzugehen zur Kasse. Nur eine Schar abgerissener Kinder, die überhaupt nichts anzubieten hatten, drückten sich etwas weiter entfernt herum. Maximus und der Wilde Mann wußten offensichtlich genau, was an einem Tag mit Vorstellung von ihnen erwartet wurde. Als die ersten Zuschauer ihre Karten erhielten und stehenblieben, um einen Blick in den Museumswagen zu werfen, krabbelte der Schwachsinnige unterm Käfigwagen hervor, verschwand im Hintergrund und überließ es dem Löwen, ein ziemlich lahmes Brüllen von sich zu geben. Abgesehen davon, daß er weiter auf- und abtigerte, bleckte Maximus jetzt bisweilen auch die Zähne und stieß ein heiseres, keuchendes Knurren aus. Das jedoch schien genügend Eindruck auf die Besucher zu machen. Als sie an seinen Käfig herankamen, blieben sie in respektvoller Entfernung davor stehen und betrachteten ihn voller Furcht, zeigten mit ausgestrecktem Finger auf ihn und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme über seine diversen Löwencharakteristika. Als sich eine ziemliche Traube von Menschen um die Kasse drängte und Florian Atem schöpfen konnte, trabte er über den Festplatz und sagte leicht keuchend zu Edge: »Würden Sie mir einen Gefallen tun, Zachary? Ihre Uniform sieht genauso aus wie die von einem Türsteher ...« »Verbindlichsten Dank! Aber auch wie die der Army der Konföderierten Staaten von Amerika.« »Ja. Ich wollte fragen, ob Sie so nett wären, die Eintrittskarten am Eingang einzusammeln. Nicht abreißen, sondern einfach einsammeln, dann können wir sie nämlich ein zweites mal benutzen. Schwarze schicken Sie nur auf die oberen Ränge. Weiße können Platz nehmen, wo sie wollen.« Ohne Edges Zustimmung abzuwarten, setzte er noch hinzu: »Ah, wie ich -105-
sehe, tragen Sie Ihr Pistolenhalfter.« »Tut mir leid, aber ich weiß keinen sicheren Ort, wo ich es deponieren könnte, und da ...« Doch Florian hob nur die Stimme, um die Gaffer vorm Käfigwagen zu erreichen: »Nur keine Angst, meine Damen und Herren. Für den Fall, daß der tückische Löwe tatsächlich einmal aus dem Käfig ausbrechen sollte« die Zuschauer traten unwillkürlich einen Schritt zurück –, »haben wir stets jemand Bewaffneten hier, den berühmten englischen Afrikaforscher und Großwildjäger, Colonel Zachary Plantagenet-Tudor ...« »Himmel!« »... beim ersten Anzeichen von Gefahr – darauf können Sie sich verlassen – befördert der Colonel das Raubtier mit seiner zuverlässigen sechsschüssigen Pistole ins Jenseits, ehe das Ungeheuer dazu kommt, eine nennenswerte Anzahl von Zuschauern anzufallen und zu verstümmeln. Doch jetzt genießen Sie, was Sie ausgestellt sehen. Die Vorstellung beginnt in wenigen Augenblicken.« Damit kehrte er zurück auf seinen Posten an der Straße, während die Leute mit größter Hochachtung den alten Maximus – und nicht weniger respektvoll Edge – betrachteten. »Ich krieg’ die Tür nicht zu!« erklärte Yount immer noch fassungslos. »Dieser Mann schlägt aber auch aus allem einen Vorteil heraus, auf das sein Auge fällt.« Edge sah ihn von der Seite an, ließ ihn vorm Zelteingang stehen und zuckte zusammen, als er Tim Trimm ›Get Along Home, Cindy‹ plärren hörte. Yount ging in die entgegengesetzte Richtung, um Florian zu helfen, mit weiteren mit Tauschwaren bewaffneten Zuschauern fertigzuwerden. Die Menge wuchs beträchtlich an, als kurz darauf Peggy mit Mahout Hannibal auf dem Rücken zurückkehrte – wie prophezeit mit einer ganzen Kinderschar im Schlepptau, die jubelnd versuchte, den gemessenen Gang des Dickhäuters nachzuahmen. Nicht weit -106-
hinter ihnen folgte die erste Kolonne von Karren, Kutschen und leichten zwei- und vierrädrigen Wagen, die ältere Leute und Familien mit Kindern herbeibrachten. Und diesen wiederum folgten andere, die zu Fuß gingen. »Bei Gott, es wird tatsächlich ein ausverkauftes Haus!« jubelte Florian. »Wissen Sie was, Obie? Außer den Lebensmitteln und brauchbaren Dingen sowie den wertlosen Fetzen Rebellengeld habe ich sogar fünfundsiebzig Cent in guter, harter und kaufkräftiger Silber-U.S.-Währung eingenommen!« Als Hannibal sich von Peggys Rücken auf den gebogenen Vorderfuß und von dort auf die Erde heruntergleiten ließ, rief er dem Neger zu: »Abdullah, du kannst von Glück sagen! Eine Dame hat mit sechs porzellanenen Suppentellern bezahlt. Tim und du, ihr könnt es euch also leisten, bei eurer Jongliernummer einen oder zwei zu zerbrechen.« Hannibal strahlte und rief, ganz seiner Rolle entsprechend, zurück: »Allah sei gelobt, Sahib Florian!« Das Feilschen, Tauschen und Verteilen der Eintrittskarten ging weiter. Yount trug die Waren zum Zeltwagen, um sie dort zu verstauen, während Hannibal sich mit seiner Trommel Trimm und seinem Kornett anschloß, um eingängige Stücke wie ›Nobody Knows What Trouble I Seen‹ zu spielen, während Edge die speckigen Pappkarten einsammelte. Als eine Dame im Vorübergehen meinte: »Heute sin’ Sie ja richtig bekleidet, wie ich seh’«, setzte Edge ein schafsköpfiges Lächeln auf, denn er hatte Mrs. Grover erkannt. Schließlich und tatsächlich wie versprochen Punkt zwei Uhr war draußen niemand mehr zu sehen, außer den vielen Fahrzeugen, die neben den Eisenbahnschuppen abgestellt worden waren – und zwar ein gutes Stück von der Circusstadt entfernt, damit Pferde und Maultiere nicht vom Geruch von Elefant und Löwe beunruhigt würden. Sämtliche Bankbretter des Gradins bogen sich unter dem Gewicht der gespannt wartenden Zuschauer. Da das Chapiteau jetzt gesteckt voll war, -107-
wurde die Luft feuchtwarm. Die hochstehende Sonne schickte helle Strahlen durch das dämmerige Zwielicht des Zeltinneren, wobei ein dicker Lichtschaft wie ein Scheinwerfer durch den offenen Ring an der Mastspitze fiel – und ein Dutzend dünnere Strahlen durch die nicht vorgesehenen kleineren Löcher in der Zeltleinwand. Unten neben dem Roten Wagen entließ Florian gnädig Yount, damit er hineingehe und noch einen Platz finden konnte, um sich die Vorstellung anzusehen – »Damit Sie’s gleich von der Parade an mitbekommen« – und blickte sich dann hochzufrieden um. Nach allem zu urteilen, was er an Lynchburgern vor sich sah, stand kein weiterer Zuschauer zu erwarten bis auf die zerlumpten Kinder, die immer noch mit leeren Händen und sehnsüchtigen Augen auf dem Straßenpflaster standen. Er winkte sie heran. Mißtrauisch näherten sie sich, gleichsam als erwarteten sie, ausgescholten zu werden – was sie auch wurden. »Habt ihr Dreikäsehochs eigentlich überhaupt keinen Mumm?« knurrte Florian sie an. »Als ich so alt und so klein war wie ihr, wäre ich längst unterm Zelt reingekrochen. Was ist eigentlich los mit euch?« Ein kleines Mädchen mit schmutzigem Gesicht murmelte: »Das wär’ aber nicht recht, Suh.« »Quatsch! Glaubt ihr etwa, ihr müßt eurem Sonntagsschullehrer um den Bart gehen? Komm nur, Kleine. Was möchtest du lieber sein rechtschaffen und ein Trauerkloß, oder sündig und ein Spaßvogel?« »Hm, tja ...« »Du brauchst es mir nicht zu sagen. Jetzt geh und freu dich deines Lebens. Und wenn du größer bist, sei lieber ein bißchen sündig.« Als er sich anschickte, ums Chapiteau herum nach hinten zu gehen, rief er im Vorübergehen Edge noch zu: »Keine Eintrittskarten, Colonel – die Kleinen sind Gäste der Direktion. Lassen Sie sie rein.« -108-
Als ging’s zu einer Beerdigung, schlurften die Kinder durch den Vordereingang. Sie waren immer noch mißtrauisch und sahen mit großen Augen zur Pistolentasche des Türstehers hinauf und den großen, bärtigen Yount neben ihm. Doch als sie den Eingang erst einmal hinter sich hatten, kam Leben in sie, sie kicherten entzückt und drängelten sich durch die Reihen der Zuschauer, um irgendwo doch noch einen Platz zu finden – und die Vorstellung begann.
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5 Die prächtige Parade bestand darin, daß die meisten Artisten durch den Hintereingang hereinkamen und drei- oder viermal zwischen dem zur Piste aufgeschichteten Erdwall und den Zuschauern die Manege umrundeten. An der Spitze schritt Florian und schwenkte großspurig den Zylinder. Ihm folgten die Schimmel Snowball und Bubbles, auf deren ungesattelten Rücken die glitzernde Madame Solitaire und Clover Lee saßen. Beide Zelter tänzelten graziös und nickten mit dem Kopf, so daß ihre Puschel tanzten. Hinter ihnen marschierte der violett uniformierte Captain Hotspur, dessen fransenbesetzte Epauletten bei jedem Schritt wippten. Ihm wiederum folgte Monsieur Roulette, der manchmal leichtfüßig zu hüpfen schien, manchmal Überschläge machte oder radschlagend voranwirbelte. Brutus – Tim Trimm und Abdullah auf dem Rücken – bildete den Abschluß der Prozession und zog in verzögertem Schaukelgang dahin, um die vor ihm Marschierenden nicht über den Haufen zu rennen. Tim spielte auf seinem Kornett, und Abdullah schlug die Trommel dazu; es handelte sich um eine flotte Weise, die entfernt an ›God Rest You Merry, Gentlemen‹ erinnerte. Als die Zuschauer noch in Hochstimmung waren und fast das Gefühl hatten, zu den Darstellern zu gehören, führte Florian die Parade wieder zum Hintereingang hinaus, bis niemand mehr zu sehen war. Doch im Handumdrehen kam auch schon Florian wieder ins Chapiteau hereingeschossen und rief: »Willkommen, meine Damen und Herren, Jungen und Mädchen – willkommen in FLORIANS FLORIERENDEM FLORILEGIUM! Zum Beginn unserer heutigen Vorstellung gestatten Sie mir, Ihnen die erste unserer erbaulichen Erstaunlichkeiten vorzustellen einen ganz großen kleinen Künstler, eine alles überragende Winzigkeit!« Florian hielt Daumen und Zeigefinger dicht vor die Augen. Hier und da wurde höflich gelacht, was Florian etwas verdutzt -110-
hinzunehmen schien. »Bitte, ihr lieben Leute. Was winzig ist, ist nicht immer unbedeutend. Denkt zum Beispiel an Diamanten. Der Edelstein, den ich Ihnen jetzt vorstellen möchte, ist unser weltberühmter Wichtelmann, Tiny Tim Trimm!« Jetzt wurde schon etwas mehr geklatscht, doch erstarb dies, als Florian laut fragend »Eh?« sagte und horchend die Hand hinters Ohr legte. »Höre ich da einen ungläubigen Thomas fragen: ›Wie klein ist denn dieser Wichtelmann, den ihr da habt?‹« Alle lehnten sich vor und sahen sich nach dem ungläubigen Thomas um. »Ich will euch sagen, wie winzig dieser Wichtelmann ist: Dieser nicht mehr zu verkleinernde Bruchteil eines Mannes, dieser kleinste aller Gemeinsamen Nenner, dieses Wichtelmännchen ist so klein, daß – selbst wenn es sich zu voller Größe aufreckt – seine Füße kaum den Boden berühren!« Einige unter den Zuschauern stöhnten gequält auf, doch die Mehrheit brach in kurzes Lachen aus, während Florian mit weitausholender, fließender Geste verkündete: »Wir sind stolz darauf, Ihnen ... Tiny ... Tim ... TRIMM vorzustellen!« Hinter dem Vorhang ertönte ein Tusch, und das Publikum erstarrte in erwartungsvoller Stille. Nichts geschah. Nach einem Augenblick machte Florian übertrieben viel Gewese mit Kopfverdrehen und Halsausrenken und sagte: »Hab’ ich’s euch nicht gesagt, Leute? Winzige Beinchen, die kaum bis zum Boden reichen. Er braucht eben seine Zeit, bis er hier ist.« Von den Zuschauern kam weiteres Lachen, das sich verstärkte, als Tim nach und nach zwischen zwei Sitzbänken zum Vorschein kam. Er marschierte mit hektischer Geschwindigkeit, doch tat er das im Inneren seiner großen Stiefel und Kleiderwülste, kam dabei so gut wie überhaupt nicht voran und blies neuerlich einen Tusch auf seinem Kornett, und das unter Gegurgel und Speichelgesprühe. Tiny Tim Trimm schien aus nichts weiter zu bestehen als einem großen Strohhut oben und einem wallenden Stoffhaufen unten, während die -111-
Kornettstürze dazwischen herausstand. Auf dem Elefantenrücken während der Parade war er nicht aufgefallen, und auf der Straße hätten die Leute ihn nur für einen kleinwüchsigen Menschen gehalten jedenfalls nicht für einen Gnom oder Wichtelmann oder Zwerg. Jetzt jedoch sah er aus wie ein Käfer, der versuchte, über eine Schale mit Sirup hinwegzulaufen. Als er es endlich armeschwenkend und über die eigenen Füßchen stolpernd geschafft hatte, die geringe Entfernung zwischen Gradin und Manegenring zurückzulegen, wollte das Publikum sich ausschütten vor Lachen, so daß selbst der blecherne Tusch darin unterging. »Da bist du ja, Tiny Tim!« blaffte Florian ihn an, als das Gelächter sich endlich legte. »Du kommst zu spät, Bürschlein! Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen? Für schlaffe Laffen haben wir hier nichts übrig, verstehst du?« »Möglich, daß du nichts für schlaffe Affen übrig hast«, quäkte Tim piepsend, was als typische Wichtelmannstimme gelten sollte. »Aber die Dame dort drüben, die hat mich partout nicht weglassen wollen!« Besagte Dame, auf die er zeigte, errötete, und alle auf den Bänken starrten sie mit großen Augen an. »Was soll das heißen, Tim?« »Sie hat auf meiner Bügelfalte gestanden!« giekste Tim und hielt eine Elle oder noch mehr Stoff seines Overalls von sich. »Deshalb habe ich mich verspätet.« Doch seine letzten Worte gingen in einem Sturm der Heiterkeit unter, und selbst die arglose Dame bog sich vor Lachen und hämmerte mit den Fäusten in ihren Schoß. »So habe ich das doch nicht gemeint, Tim«, verwahrte Florian sich. »Du verstehst mich nicht.« Immer wieder gab es Lacher zu diesen Sprechreprisen, dem komischen Spiel mit Worten und Begriffen wie BlumentopfErde oder Blumento-Pferde, Verwechslungen und Verballhornungen wie im Englischen etwa: »Wieso kennst du -112-
kein Misunderstanding? – Miss Understanding, das ist doch meine herzallerliebste Verlobte«, wobei Tim in den Antworten immer blasierter und dreister wurde und es Florian immer mehr erboste, zunehmend zur Zielscheibe seiner anzüglichen und witzigen Bemerkungen zu werden. Als das Publikum des Lachens überdrüssig zu werden schien, gab Florian dem kleinen Mann jedesmal eine Maulschelle, wenn er wieder mit einem seiner pfiffigen Sprüche kam: »Ich soll mich nicht erfrechen? – Du wirst dich gleich erbrechen!«, woraufhin das Lachen wieder anschwoll. Die Maulschellen sahen aus, als säße nicht viel Wumm dahinter, doch hallten sie weithin und kippten Tim fast aus den Stiefeln, so daß er wankte, hinfiel und seinen Hut verlor. Darüber pflegten die Zuschauer zu heulen vor Lachen und wollten gar nicht wieder aufhören, weil Tim zwar auf seinen Hut zustürzen wollte, dabei aber von den dicken Kleiderwülsten behindert wurde, in denen er steckte, und den Hut jedesmal weiter fortstieß, wenn er an ihn herankam. Nachdem er ihn endlich wieder in seinen Besitz gebracht hatte und zu Florian zurückgekehrt war, kam er neuerlich mit einem witzigen Einfall, für den er wieder eine Maulschelle einfing, abermals hinschlug und nochmals Jagd auf seinen Hut machen mußte. Sogar Edge, der ja nur Zuschauer war, mußte grinsen, allerdings nicht, weil er die Nummer so umwerfend komisch gefunden hätte. Er grinste, weil er Zeuge von etwas wurde, was er bei ähnlich tolldreisten Auftritten nie zuvor erlebt hatte. Florian berührte den kleinen Mann bei seinen Maulschellen überhaupt nicht – seine Hand streifte kein einziges Mal Tims Gesicht. Das laute Platsch! stammte von Tim selbst, der es genau im richtigen Augenblick durch Zusammenklatschen der Hände hervorbrachte – und diese kleine Mogelei wurde nicht einmal von denjenigen bemerkt, die sahen, wie er heftig vor dem gespielten Schlag zurückzuckte. Florian schien eine Art Wecker im Kopf zu haben, der immer genau dann aufschrillte, wenn selbst der komischste Trick keine -113-
Wirkung mehr zu zeigen schien. Als Tim ihm das nächstemal mit einer Geistreichelei eines auswischte und ihn demütigte, – »Du kannst mir nicht wehtun! Ich fall’ ja nicht tief!« – kam von Florian keine Ohrfeige. Er fuchtelte vielmehr verzweifelt mit den Armen in der Luft herum und rief: »Genug jetzt! Soll doch mal jemand mit mehr Hirn und Verstand in die Manege kommen!« »Richtig!« quäkte Tim. »Goldrichtig finde ich das. Hau du ab, du Strohkopf, und schick mal ein Tier rein!« »Genau das habe ich vor. Sollen die Kinder mal sagen, welches Tier es sein soll. Laßt hören, Kinder! Welches Tier wollt ihr sehen?« Im allgemeinen Gerufe, das dem folgte, unterschied man: »Löwe! Elefant! Pferde!«, doch Florian tat so, als höre er nur eines heraus. »Der Elefant also. Einen Tusch, bitte, Tiny Tim!« Und über das blecherne Arpeggio des Kornetts hinweg fuhr Florian fort: »Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie auffordern, sich jetzt mucksmäuschenstill zu verhalten. Bitte, bewegen Sie sich nicht. Die Bank unter Ihnen wird wanken – ja, die Erde selbst werden Sie beben fühlen –, zittern zum donnernden Tritt des mächtigen Dickhäuters, den anzusagen ich jetzt die Ehre habe ... Mächtiger Brutus, größtes Tier auf Gottes Erdboden!« »Mile up, Peggy!« ließ es sich hinter der Gardine vernehmen. Dann hörte man eine Baßtrommel – ein lautes Bumbum! und sodann unheilverkündende Trommelwirbel – und das im Einklang mit den gewichtigen Schritten des Elefanten, als dieser ins Zelt hereinkam. Der Übergang von einer Nummer zur nächsten war meisterlich. Neben dem riesigen Elefanten nahm Tim Trimm sich womöglich noch winziger aus, als er ohnehin schon gewirkt hatte – und neben Tim Trimm sah der Elefant noch größer aus, als er in Wirklichkeit war. Der beturbante Trommler, der hinter seinen Ohren saß, befahl »Peggy, tut!« -114-
woraufhin sie am Manegenrand stehenblieb. Würdevoll und geduldig stand das Tier da, und Florian erging sich noch in einigen Übertreibungen: »Sie haben es mit eigenen Ohren gehört, meine Damen und Herren peggitut, wieder eines jener mystischen Hinduworte, die nur der Gebieter dieses mächtigen Dickhäuters kennt; einzig Mahout Abdullah aus Bengalen kann die unvorstellbare Körperkraft und die gigantische Größe dieses Elefantenbullen bändigen. Um sich eine Vorstellung von Brutus’ gewaltiger Größe zu machen, meine Damen und Herren, möchte ich Sie bitten, sich folgendes vorzustellen: Sie alle zusammen wiegen nicht soviel wie dieser titanische Dickhäuter! Einen Behemoth dieser Größe und von dieser Muskelkraft kirre zu machen, ist eine Kunst, die einzig die Eingeborenen des fernen Bengalen beherrschen. Weder ich noch irgendein anderer weißer Mann vermag ein Ungeheuer von der Größe Brutus’ zu zähmen, geschweige denn, ihm jene Kunststücke beizubringen, deren Zeuge Sie sogleich sein werden. Nur ein echter Hindu wie Brutus’ Mahout Abdullah hat als Eingeweihter Kenntnis von diesen geheimen Befehlen ...« In dieser Tonart ging es noch eine Weile weiter, bis Florian schließlich die Manege für die Artisten freigab und sich zusammen mit Edge und Yount in der Nähe des Haupteingangs aufstellte. Behutsam stieg Brutus über den Erdwall der Piste hinein in die Manege, reckte den Rüssel und hob ein Bein, woraufhin Abdullah unter Mitnahme der Trommel behende zur Erde hinunterglitt – erst vom Hals auf den Rüssel, dann vom Rüssel zum Bein und von dort auf den Boden. Von diesem Augenblick an schien Abdullah auf keine mystischen Hindukommandos mehr angewiesen zu sein, sondern klopfte nur ab und zu sacht auf seine Trommel, um dem Bullen gleichsam das Stichwort zu geben, von einer Pose in die andere überzugehen. Edge wußte, daß selbst dieses leise Trommeln überflüssig war, hatte er doch mit eigenen Augen gesehen, wie -115-
Brutus seine Nummer auch völlig ohne Befehle abwickelte. Eben dieses tat der Elefant jetzt. Abdullah lief, um unterm Gradin ein Requisit hervorzuziehen, in dem Yount die Waschbalge des Circus erkannte, und stellte sie umgekehrt in die Manege. Auf ein leises Bumm der Trommel hin hob Brutus langsam einen Fuß und stellte ihn darauf. Bumm, und er versammelte sich, strengte sich offenbar gewaltig an und setzte auch den zweiten Fuß auf die Balge, so daß der massige Elefantenkörper steil aufgerichtet wurde; außerdem streckte Brutus steif den Rüssel aus und stieß einen triumphierenden Trompetenton aus. Der Neger fuhr herum und schenkte dem gesamten Publikum gleichsam als Zeichen dafür, daß jetzt Beifall angezeigt sei, sein strahlendes Lächeln und reckte gleichzeitig V-förmig zwei Finger in die Höhe, woraufhin alle entzückt klatschten. Von nun an gab Abdullah jedesmal, wenn Brutus irgend etwas Besonderes gelang, mit hocherhobener Hand dieses Zeichen – etwa, als er sich wie ein Hund auf dem Hinterteil niederließ und mit den Vorderbeinen in der Luft paddelnd um etwas bettelte – und jedesmal reagierten die Zuschauer mit lebhaftem Applaus. Zögerte der Elefant – und das tat er in Abständen, sich wohl bewußt, daß jede neue Pose danach schwieriger aussah als die vorhergehende –, sprang Florian in die Manege und hielt einen kurzen, unterhaltsamen Vortrag: »Es gibt so manches Erstaunliche an so einem Elefanten, meine Damen und Herren, von dem Abdullah meint, Sie sollten davon wissen, doch leider spricht der Mahout nur die Sprache der Hindu. Gestatten Sie daher, daß ich Sie aufkläre, während Brutus über die Schwierigkeit seines nächsten Kunststücks nachsinnt. Was die Besonderheiten des Elefanten betrifft, so gehört vor allem dies dazu: daß er das einzige Geschöpf auf Erden ist, das in allen vier Extremitäten ein Knie hat. Sehen Sie hin und zählen Sie, meine Damen und Herren, vier Knie.« Als es zur krönenden Schlußnummer von Brutus kam, stand -116-
dieser eine Minute oder auch zwei da und sah stirnrunzelnd die Waschbalge an – in der Art von Ignatz Roozeboom: stirnrunzelnd ohne Augenbrauen –, während der Neger behutsam wieder auf seine Trommel schlug und immer wieder auffordernde, ermutigende Gesten machte. Wieder stellte der Elefant beide Vorderfüße auf die Balge, wölbte dann zögerlich und vorsichtig den massigen Körper, um auch noch einen der Hinterfüße auf die Balge zu setzen. Das Publikum rutschte unruhig hin und her, flüsterte und wartete. Florian sprang nach vorn. »Während Brutus jeden Muskel für diese verwegene Glanzleistung konzentriert, in der Gleichgewichtssinn und Präzision gefordert sind, gestatten Sie mir, daß ich Sie auf eine weitere einzigartige Eigenheit des Elefanten hinweise. Sie alle haben gewiß schon einmal erlebt, daß Ihre Pferde im Schlamm steckengeblieben sind. Das kann einem Elefanten nie passieren, obwohl er zwanzig- bis dreißigmal soviel wiegt wie ein Pferd. Seine gewaltigen Füße weisen schwammige Sohlen auf; verlagert der Behemoth sein Gewicht auf einen einzigen Fuß, dehnt sich dieser aus wie eine Stützmatte. Nimmt er es davon fort, zieht sie sich zusammen. Und so – doch aufgepaßt!« Abdullah schlug einen Trommelwirbel. »Ich möchte Sie nicht ablenken, meine Damen und Herren. Sie stehen im Begriff, mit eigenen Augen Zeuge einer Leistung zu werden, wie nur wenige Menschen sie jemals zu sehen bekommen.« Brutus wartete, bis Florian den Mund hielt, dann hob er den vierten Fuß hoch; damit war der Dickhäuter wie eine Katze auf einem Zaunpfosten auf der Waschbalge versammelt. Freudig trompetete er, und Abdullah umtanzte ihn, wobei er abwechselnd auf seine Trommel schlug und triumphierend die Arme mit dem V-förmig gespreizten Fingern in die Höhe riß, so als habe er das Ziel seines Lebens erreicht. Das Publikum geizte nicht mit langandauerndem Applaus und bewundernden Rufen. »Soeben«, tönte Florian, als der Elefant zierlich, einen Fuß -117-
vor dem anderen, von der Balge herunterstieg, »haben Sie die unglaubliche Wendigkeit und Anmut dieses Mammutgeschöpfes mit eigenen Augen miterlebt. Ich rufe hiermit die zehn stärksten und größten Männer unter Ihnen auf, vorzutreten und ihre vereinte Muskelkraft im Tauziehen mit diesem einzigartigen Vertreter der größten Säugetierart auf Erden zu messen.« In ganz Lynchburg konnte es keine wirklich kerngesunden Männer geben, es sei denn, es handelte sich um Deserteure oder vorzeitig aus dem Armeedienst Entlassene. Immerhin gab es ein paar sehr dicke Männer und einige Farmer, die noch ganz gut bei Kräften waren. Nachdem sie den Kopf eingezogen hatten und Ausflüchte machten, dann aber von ihren Nachbarn geknufft und in die Manege gestoßen wurden, versammelten sich dort zehn Männer. Abdullah legte inzwischen Brutus den Ledergurt um den Hals, und Monsieur Roulette lief mit einem Ende vom stärksten Zeltseil herzu. Dieses wurde am Halsband des Elefanten festgemacht, und die zehn Männer bemächtigten sich des anderen Endes. Tim und Abdullah ließen gedämpfte Trommelwirbel und blecherne, tuschartige Tonfolgen hören, und die Männer legten sich – auf Florians »Achtung, tos!« hin – mächtig ins Zeug, das heißt, sie lehnten sich zurück, gruben die Hacken in den Sand und zogen, was ihre Kräfte hergaben, während Brutus sie gutmütig beäugte und nicht einen Zoll nachgab. Daraufhin packten die Männer noch einmal zu, legten sich fast horizontal zurück, während Brutus sie wieder gutmütig beäugte und auch diesmal keinen Zoll nachgab. Florian sagte: »Schön, liebe Leute, ihr habt es wenigstens versucht. Abdullah, gib jetzt den geheimen Hindu-Befehl.« Der Neger rief: »Peggy, taraf«, der Elefant schritt langsam rückwärts und zog die Männer hinter sich her, als wären sie lauter Zeltpflöcke. Tim hob auf seinem Kornett zu einer Walzermelodie an, woraufhin Brutus die Gangart beschleunigte und fast tanzte, dabei die Männer hinter sich herzog, einmal um die Piste herum, während ein Mann nach -118-
dem anderen losließ und zu Boden fiel. Die Menge bog sich vor Lachen und trampelte mit den Füßen, daß es für das Gradin gefährlich wurde. Wieder rief Florian: »Großer Brutus, größtes Tier auf Gottes Erdboden!« Der Elefant und Abdullah, der so wild trommelte, daß beinahe das Trommelfell platzte, entfachten einen Sturm der Begeisterung und ernteten den größten Applaus, den sie bisher erhalten hatten. Deshalb war Florians nächste Ansage nur in Bruchstücken zu hören: »Monsieur ... unser großer Bauchredner ... und Tierstimmenimitator ... Sie entzücken.« Mit vielen Handstandüberschlägen und radschlagend kam Rouleau in die Manege gewirbelt, blieb dort unvermittelt stehen und begann übergangslos und ohne die Lippen zu bewegen, wie ein Hund zu bellen wobei es sich um ein gedämpftes Bellen handelte, wie das eines Hundes, dem man einen Sack über den Kopf gezogen hat – und zeigte dieweil bedeutungsvoll auf die immer noch auf der anderen Seite der Manege stehende, umgedrehte Waschbalge. So stand er da und bellte eine Weile vor sich hin, erregte damit jedoch nicht viel Aufmerksamkeit; dann ging er hin, drehte unter vielen theatralischen Gesten die Waschbalge um und bewies, daß kein Hund darunter war. Es war nur gut, daß das Publikum nicht besonders aufmerksam war, denn Monsieur Rouleaus Stimmakrobatik war wirklich nicht überwältigend. An einer Stelle fing er an zu greinen wie ein hungriges Baby, und das immer noch mit unbewegtem Mund; dann jedoch machte er plötzlich den Mund auf und rief mit seiner eigenen Stimme: »Geben Sie Ihrem armen Kind die Brust, Madame«, und fuhr mit herrischem Finger auf eine Frau in der Menge zu, die in Wolldecken eingehüllt ein Baby auf dem Arm hielt. Empört rief sie zurück: »Ich bin ’ne anständige Frau, ich geb’ doch dem Kind nich’ öffentlich ’n Titt!« Woraufhin die Zuschauer sich wieder bogen vor Lachen. Und Rouleau, der zweifellos begriff, daß er keinen größeren Lacherfolg beim Publikum erzielen würde, verließ -119-
radschlagend das Zelt. Florian eilte herzu, seinen Rückzug zu decken, doch bekam man von der Ansage der nächsten Nummer nur bruchstückhaft etwas mit. »... ehemals von den Burischen Freischärlern ... gegen die Zulus ... Hotspur!«. Endlich kehrte soweit wieder Ruhe unter dem Publikum ein, daß alle zumindest den Schluß seiner Ansage hören konnten: »... Um Sie mit der aufsehenerregenden Darbietung der ›Ungarischen Post‹ in Spannung zu versetzen.« Im selben Moment vernahm man von draußen donnernde Hufe und gleichzeitig den von Tim geblasenen Kavalleriebefehl: »Attacke!«, zu dem Abdullah derart die Trommel schlug, daß es sich anhörte, als würden immer wieder Kanonen abgeschossen. Captain Hotspur mußte seinen Anritt schon ziemlich weit vom Chapiteau entfernt begonnen haben, denn die Pferde gingen in vollem Galopp, als sie hereingestürmt kamen. Seite an Seite stoben Schimmel und Apfelschimmel zwischen Piste und Gradin dahin; wie ein richtiger ungarischer Czikos stand der Mann mit der lila Uniform jeweils mit einem Fuß auf dem Rücken eines der Pferde, die Zügel beider in der linken Faust gebündelt, während er mit der rechten eine tückisch lange Nilpferdpeitsche schwang. Die Zuschauer jubelten, als das Trio mehrere Male donnernd die Piste umrundete, die Pferde wilde Augen machten und Schaum vorm Maul hatten, als trügen sie tatsächlich eine dringende Nachricht durch die Pußta. »In der richtigen Ungarischen Post«, erklärte Florian Edge und Yount, zu denen er getreten war, »treibt der Reiter jetzt seine beiden Zelter so weit auseinander, daß bis zu sieben Pferde, eines nach dem anderen, unter seinen gegrätschten Beinen hindurchziehen, wobei er deren Zügel aufschnappt, bis er eine ganze Herde lenkt. Leider haben wir dafür nicht genügend Pferde.« Der Captain brachte seine beiden Pferde rutschend zum Stehen, sie stiegen, was sehr schön anzusehen war, und ihre -120-
Hälse bogen sich wegen des feststehenden Ausbinders zum Schwanenhals durch. Gewandt nahm Hotspur jetzt rittlings auf dem Schimmel Platz. Plötzlich war Clover Lee zur Stelle, ergriff den Zügel des Apfelschimmels und führte ihn beiseite, während Hotspur den Schimmel sauber über die Piste hinwegsetzen ließ, so daß er jetzt in der Manege selbst lief. Dort rief er: »Mak gauw«!, trieb ihn zu einem Galopp an, ritt um die Manege herum und sprang dabei immer wieder vom Rücken des Pferdes hinab und federnd wieder hinauf. Sein Hut mit der hochgeklappten Krempe flog in den Sand, woraufhin Clover Lee herzulief, um ihn aus dem Gefahrenbereich herauszuholen. Als nächstes ließ Hotspur sich kopfunter am Pferd herunterhängen und hielt sich dabei nur mit einem Fuß am Gurt fest. Dann setzte er sich wieder auf, um gleich darauf abzuspringen und neben dem Pferd einherzulaufen und neuerlich aufzuspringen und sich am Gurt um den ganzen Pferdeleib herumzuarbeiten, während das Tier unbekümmert weitergaloppierte. Die Zuschauer beklatschten bewundernd jede neue Leistung. Fast jeder von ihnen hatte zumindest ein Pferd besessen und kannte Pferde besser als jedes andere Transportmittel, war also imstande, reiterliches Können besser zu beurteilen als, sagen wir, eine gute Hindu-Elefantendressur. Ihr Beifall feuerte Captain Hotspur dazu an, jeden einzelnen Trick zu wiederholen, bis ihm der Schweiß tropfenweise vom Gesicht sprühte. Als Captain Hotspur das weiße Pferd wieder so abrupt zum Stehen brachte, daß es stieg, sagte Florian: »Jetzt wird’s Zeit für den Pete Jenkins.« Er stolzierte in die Manege hinein, wo Hotspur dabei war, sich zu verneigen. Clover Lee brachte dem Hauptmann den Hut, und er trocknete sich mit einem Lappen sorgsam die schweißnasse Platte, ehe er den Hut aufsetzte. Florian wandte sich an die Zuschauer: »Während Captain Hotspur sich in der wohlverdienten Pause verschnauft, habe ich etwas zu verkünden. Einer unserer Gäste heute abend hat mir mitgeteilt, wir hätten ein Geburtstagskind im Haus – eine -121-
Dame.« Das Publikum machte interessierte Geräusche, lehnte sich vor und sah sich suchend um. Florian warf einen Blick auf einen Zettel. »Und zwar feiert die Dame einen ganz besonderen Geburtstag – ihren siebzigsten, nämlich! Das gesegnete biblische Alter.« Die Leute ließen erkennen, daß sie beeindruckt waren. »Und wegen des günstigen Zusammentreffens – daß sie nämlich einen so hohen Geburtstag hier bei uns im Circus feiert – möchte ich die Dame ersuchen, sich zu erheben, damit wir alle ihr alles Gute wünschen, und zwar ... Mrs. Sophie Pulsipher, wohnhaft in der Rivermont Avenue!« Er klatschte, und die Leute schlossen sich ihm an. »Hat er nicht was von einem Pete Jenkins gesagt?« murmelte Edge. »Offenbar war es ein Pete Jenkins, der es ihm gesteckt hat«, sagte Yount. »Kommen Sie, Mrs. Pulsipher!« forderte Florian sie dringlich auf. »Bitte, nicht schüchtern sein. Kommen Sie und begrüßen Sie das Publikum.« »Da isse! Da isse!« ließen sich mehrere Stimmen vernehmen. Florian beschattete die Augen, um die Sitzreihen abzusuchen. Auf einer der oberen Reihen kämpfte eine Frau unbeholfen damit, sich auf eines der Bretter zu stellen. Die Männer um sie herum halfen ihr dann behutsam hinunter bis zum Erdboden. »Da ist sie!« rief Florian. »Wie steht es mit den Glückwünschen, meine Damen und Herren – für Mrs. Sophie Pulsipher?« Aller vorherige Beifall verblaßte neben dem, der jetzt zu hören war, die Menge fiel ein, als Tim die Melodie von ›For He’s a Jolly Good Fellow‹ blies; eine kopftuchtragende und mit einem Umschlagetuch bekleidete, offenbar gichtige kleine alte Dame kam in die Manege gehumpelt. Edge und Yount dachten, die alte Circus-Zigeunerin wäre in eine ihrer Rollen geschlüpft, nur näherte sich Magpie Maggie Hag jetzt gerade mit einem -122-
winzigen Napfkuchen und einer Kerze in der Mitte von der anderen Seite des Chapiteaus, woraufhin Mrs. Pulsipher kehrtmachte und der Aufmerksamkeit entfliehen wollte, die ihr zuteil wurde. Doch Florian hielt sie am Arm fest. Einige der Zuschauer hörten auf zu singen und riefen statt dessen: »Kerze ausblasen! Und sich was wünschen!« Mrs. Pulsipher schien unschlüssig, zauderte, beugte sich dann jedoch vor und blies nach etlichen kümmerlichen Versuchen die Kerze aus. »Sie soll sich was wünschen! Der Wunsch!« rief die Menge. Ermutigend lächelte Florian ihr zu und neigte den Kopf, um sein Ohr an ihren Mund zu bringen. Was immer sie sagte, es schien ihn zu verwundern, und er bedachte sie mit einem eigentümlichen Blick. Dann lachte er und schlug es ihr mit einem entschiedenen Kopfschütteln ab. Das Publikum war wie gebannt; es verstummte und wartete. Immer noch kopfschüttelnd, sagte Florian leise, aber doch laut genug, daß jeder ihn verstehen konnte: »Nein, nein! Mrs. Pulsipher, ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihren Herzenswunsch offenbart haben, doch nein – nein, das geht nicht.« Etliche von den Zuschauern riefen: »Sagen! Sagen!« Florian schien ein wenig betreten. »Nun, hm ... die liebe alte Dame ...« Er hielt inne, um dann doch zögernd damit herauszurücken: »Sie sagt, sie wäre noch nie auf einem sattellosen Pferd geritten. Ha ha! Ist das die Möglichkeit, meine Damen und Herren? Was Mrs. Pulsipher möchte, ist, einmal die Manege zu umrunden, und zwar im Seitensitz, Captain Hotspur hinter sich.« Der Captain, der zusammen mit den beiden in der Manege stand, machte gleichfalls ein verdutztes Gesicht und runzelte die brauenlose Stirn. Die Frauen auf den Rängen riefen gurrend Dinge wie: »Awww, diese durchtriebene Alte ...«, und ein paar junge Rüpel schrien: »Hey, soll sie doch! Mal seh’n, wie sie reitet.« Die jungen Rüpel gaben den Ausschlag; andere nahmen ihren Ruf auf: »Soll sie doch! Schließlich hat sie Geburtstag! Soll sie doch -123-
reiten!« Florian machte noch mehr den Eindruck, als wünsche er, niemals damit angefangen zu haben. Mrs. Pulsipher stand für alle sichtbar zitternd da, während Florian zu dem sichtlich verärgerten Captain Hotspur trat und sich mit ihm besprach. Gleichwohl kamen die beiden zu Mrs. Pulsipher zurück, und die Leute jubelten und klatschten glücklich in die Hände. Clover Lee führte den Schimmel an den Erdwall der Piste heran. Munter hoben Florian und der Captain die alte Dame auf Snowball hinauf. Es gab einiges unbeholfene Gerangel, und sogar das Pferd wandte fragend den Kopf nach hinten, als sie Mrs. Pulsipher in eine Haltung brachten, die jener des Damensattels glich – nur, daß kein Sattel da war. Florian hielt sie fest, während Hotspur sich vergewisserte, daß die alte Dame sich auch wirklich an den Griffen am Gurt vor ihr festhielt. Dann sprang er scheinbar mühelos hinter sie, schlang ihr die Arme um die Taille und nickte Clover Lee zu. Das Mädchen führte das Pferd am Zaum und ging ganz, ganz langsam. Trotzdem schien die alte Dame furchtbar aufgeregt und kicherte mit einem leicht hysterischen Unterton in den höchsten Tönen. Die Zuschauer lachten mit ihr und klatschten wieder Beifall, als führte sie irgendeinen Trick vor, mit dem sie selbst Hotspur in den Schatten stellte. Tim tutete blechern auf seinem Horn. Plötzlich erbebte das Zelt in einer Mischung aus weiblichen Schreckensschreien und männlichem Gelächter. Das Publikum sprang auf, und Florian und Magpie Maggie Hag – sogar Edge und Yount- stürzten nach vorn an die Piste. Beim ersten Trompetenstoß war ein Ruck durch das Pferd gegangen. Captain Hotspur traf dies völlig unvorbereitet, und er rutschte vom Pferd hinunter, was dieses womöglich noch mehr scheuen ließ. Es bockte und schickte Clover Lee zu Boden, und jetzt galoppierte das Pferd wie von Sinnen wieder und immer wieder um die Manege, wobei Mrs. Pulsipher sich angstvoll am Gurt festklammerte, als gelte es das liebe Leben; doch alles andere -124-
von ihr flatterte wie ein Lumpensack von einer Flanke des Pferdes zur anderen. Das Pferd wurde noch zusätzlich in Schrecken versetzt, als Florian, Edge und Yount es einzufangen versuchten, und so wurde es womöglich noch schneller, und die Bretter des Gradins bebten, als Männer in der Menge versuchten, herunterzukommen und zu helfen. Doch ehe die allgemeine Verblüffung und der Aufruhr noch stärker wurden, schaffte die alte Dame es irgendwie, die Beine unter sich anzuziehen und sich aufs Pferd hinaufzuschieben, so daß sie nunmehr kniend durch die Manege schoß. Jeder andere Mensch im Zelt blieb stehen und erstarrte in lautloser Verblüffung. Dann ließ Mrs. Pulsipher den Gurt vollends los. Mit einem federnden Sprung stand sie plötzlich oben auf dem scheinbar durchgehenden Pferd und pfefferte ein Feuerwerk von fliegenden Schals, Kopftüchern, Röcken und anderen Kurzwaren in die Luft – um sich plötzlich als wohlgestalte, hübsche, in ein glitzerndes Trikot gekleidete, lächelnde und mühelos in aufrechter Stellung dahinreitende Frau zu entpuppen. »Madame Solitaire!« verkündete Florian lauthals. Die Zuschauer bekundeten nochmals ihr Vergnügen über die Verwandlung der alten Dame in eine kesse Frau, die jetzt eine anmutige Pose nach der anderen einnahm und dabei so heiter und zuversichtlich aussah, als wäre das unter ihr dahingaloppierende Pferd ein Teppich in einem Salon. Sie balancierte auf einem Bein, sie wirbelte herum und pirouettierte, sie machte Bewegungen, als wäre sie ein fliegender Schwan, und jedesmal, wenn das Pferd sie durch eines der Sonnenstrahlenbündel hindurchtrug, glitzerte ihr pailettenbesetztes Mieder und gleißte der weiße Tüllrock im übrigen Dämmer des Chapiteaus auf wie Wetterleuchten. Für Edge war es nicht das erstemal, daß er Spieler und Darsteller in pailettenbesetztem Kostüm sah, doch war ihm nie klargeworden, wie die Pailetten das Licht nach oben warfen. Solitaires Gesicht wurde von tanzenden Lichtkringeln bedeckt, die es -125-
geheimnisvoll machten, als wäre es das Antlitz einer Najade unter sanft bewegtem Wasser. Die Zuschauer nahmen wieder auf den Brettern des Gradins Platz, diejenigen von den Circusleuten, die nicht dazugehörten, verließen die Manege, und Yount und Edge kehrten wieder zur Eingangstür zurück. Dort gesellte sich Florian zu ihnen und strahlte überaus zufrieden darüber, wie fabelhaft diese Nummer gelaufen war. Sie sahen zu, wie Madame Solitaire weiterhin ihre gelenkigen und graziösen Tanzfiguren auf dem unter ihr dahinfliegenden Pferd aufführte. Geradezu mürrisch brummelte Yount: »Sie haben gesagt, diese Nummer hieße Pete Jenkin. Wieso das?« »Ach, wenn ich das wüßte«, sagte Florian gutgelaunt. »Wahrscheinlich hat jemand dieses Namens sie das erstemal aufgeführt.« Der Schimmel fiel in eine langsamere Gangart, Madame Solitaire sprang elfengleich vom Pferd und riß die Arme Vförmig hoch, um ihren Applaus einzufordern – der überwältigend kam –, während Monsieur Roulette und Tim aus dem Chapiteau hinausschlüpften. Florian lief herzu, die Dame väterlich in die Arme zu schließen und gleichzeitig frotzelnd laut zu rufen: »Madame Pulsipher dankt Ihnen, meine Damen und Herren!« Das Lachen der Menge und der Beifall für die zusammen mit ihrem Pferd abgehende Solitaire brandeten gleichzeitig auf. Florian forderte – und erhielt – eine Runde Applaus für die Pferde und sagte dann: »Damit die Pause, in der wir die Manege für die nächste spannende Nummer unseres Programms für Sie vorbereiten, auf angenehme Weise vergeht, hier noch mal unser Hanswurst und Dummer August, unser Sprechclown, der überaus beliebte ... Tim Trimm.« Diesmal trat Tim blitzgeschwind und federnd auf und wurde auch nicht mehr von seinem übergroßen und überweiten Kostüm -126-
behindert. Was er darunter getragen und jetzt anhatte, hätte von jeder Familienwäscheleine abgenommen werden können. Ursprünglich war es die Flanellunterwäsche eines Knaben gewesen, war als solche jetzt jedoch nicht mehr zu erkennen, da sie durch große Tupfer in allen möglichen Farben praktisch unkenntlich gemacht wurde. Außerdem hatte er diesmal Abdullahs Trommel statt des Horns dabei. Darauf trommelnd kam er herein, stakste jetzt ruckend und mit eckigen Bewegungen damit durch die Menge und erzählte dabei – mit seiner normalen lauten Stimme und nicht mehr mit Wichtelmanngequäke – einige der ältesten Witze der Welt. »Der Prinzipal von diesem unserm Circus wollte nich’, daß wir diese unsere Trommel kriegen, wißt ihr!« Bumbum. »Er sagte, der Lärm rege ihn furchtbar auf.« Bummbumm! »Deshalb ha’m wir ihm versprochen, sie nur dann zu schlagen, wenn er schläft!« Da-Bumm! Möglich, daß einige der Kinder unter den Zuschauern lachten. Deshalb stellte Tim die Trommel ab und versuchte es mit etwas anderem. »Unser Prinzipal is’ nämlich Ausländer, wißt ihr. Deshalb muß man aufpass’n, wie man was sagt. Als ich ihm sagte, ich hab’n Bärenhunger, wißt ihr, was er da tat? Da hat er mir ’n halbes Rind vorgeworfen!« Nicht mal die Kinder lachten. Inzwischen schoben Captain Hotspur, Abdullah und Monsieur Roulette den Käfigwagen mit dem Löwen durch die Vordertür des Pavillons und durch die Öffnung im Erdwall der Piste. Florian trat vor, zeigte auf den Wagen und sagte: »Meine Damen und Herren, sehr verehrtes Publikum! Sie alle haben Gelegenheit gehabt, sich dieses Tier dort von nahem anzusehen. Sie haben gesehen, wie groß der Löwe ist, und kennen die Schärfe seiner gefürchteten Reißzähne. Und Sie haben sein Brüllen gehört, das einem durch Mark und Bein geht.« Captain Hotspur stocherte mit dem Ende seiner Nilpferdpeitsche zwischen den Käfigstangen herum. Die Raubkatze schlug mit der Pranke danach und stieß das erhoffte Knurren aus. »Jetzt -127-
werden Sie Zeuge sein, wie ein unerschrockener Mann sich in den Käfig mit dem tückischen Raubtier darin hineinwagt, um Ihnen zu zeigen, wie der Mensch über den König der Tiere triumphiert. Ich bitte Sie, sich jeden Beifalls zu enthalten und auch sonst keine unerwarteten Geräusche zu machen, denn sobald ein Löwe erschrickt oder die Aufmerksamkeit seines Dompteurs auch nur für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt wird – nun ja, das könnte verheerende Folgen haben. Deshalb bitte ich um absolute Ruhe und ... ohne weiter drum herum zu reden ... hier jetzt der tollkühne und verwegene Captain Hotspur ... und der König der Großkatzen, der Löwe MAXIMUS.« Gehorsam enthielt sich das Publikum jeder auch nur im Flüsterton geführten Unterhaltung. In dramatischer Geste riß der Captain sich den Hut mit der hochgeschlagenen Krempe vom Kopf, zog auch den epaulettenbesetzten lila Uniformrock aus und ließ die nackte Brust und die braungebrannten Arme sehen. Die zu einer Rolle aufgeschossene Peitsche in der Hand, entriegelte er vorsichtig die Käfigtür. Knurrend stieß Maximus etwas aus, das man als tückisch oder bedrohlich hätte ausgeben können. Langsam setzte Captain Hotspur einen Fuß auf die Schwelle zum Käfig und schob sich immer noch überaus langsam hinauf, trat zögernd ein und zog die Tür hinter sich zu, so daß sie wieder verriegelt war. Jetzt standen der Mensch und die große lohfarbene Raubkatze sich auf einem von Käfigstangen umgrenzten Raum gegenüber, der nur einen Meter zwanzig mal drei Meter maß. Der Captain entringelte seine Nilpferdpeitsche und ließ das ausgefranste Ende dicht vor Maximus’ Nase knallen, der wieder mit der Pranke danach schlug und dabei seine formidablen Zähne sehen ließ. »Platz!« befahl Hotspur auf deutsch mit einer Stimme, die ähnlich heiser klang wie die des Löwen, und nach widerborstigem Zögern senkte Maximus das Hinterteil und hockte sich hin. Irgend jemand auf dem Gradin klatschte zweimal, doch Hotspur warf einen funkelnden Blick in die -128-
Richtung und befahl dann – wieder auf deutsch: »Mach schön!« Der Löwe gab sich neuerlich widerspenstig, knurrte leise und sah sich finster um, als suche er nach einem Fluchtweg, doch dann richtete er sich auf dem Hinterteil auf und hob die Vordertatzen. Der Captain ließ den Löwen ein kleines Repertoire nicht sonderlich sensationeller Tricks absolvieren – was sollte er auch schon machen? dazu war im Käfig viel zu wenig Raum – und ließ unter anderem Maximus über seine Peitsche springen, (»Hoch!«), sich niederlegen und (»Krank!«) alle Viere in die Luft reckend auf den Rücken wälzen. Dann trieb er den Löwen an das äußerste Ende des Käfigs, stellte sich selbst mit dem Rücken gegen das andere Ende und hielt sich die Raubkatze mit der ausgestreckten Peitsche vom Leib, während Florian wieder auftauchte und verkündete: »Und jetzt, meine Damen und Herren, wird Captain Hotspur den verwegendsten und todesmutigsten Versuch von allen wagen. Er wird versuchen, seine absolute Macht über den Löwen zu demonstrieren, indem er ihm mit bloßen Händen das Maul öffnet ... und seinen ungeschützten Kopf in den Killerrachen dieser blutrünstigen Bestie hineinsteckt! Lassen Sie uns absolute Ruhe bewahren ... und beten wir alle zu Gott.« »Platz!« herrschte der Captain den Löwen an, und wieder setzte Maximus sich knurrend und anscheinend widerstrebend, als wäre er eine Hauskatze, auf die Hinterhand. Die Zuschauer verharrten mucksmäuschenstill und warteten atemlos gespannt; Schritt um Schritt näherte Hotspur sich dem Tier und ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder. Er brauchte der Großkatze nicht einmal die Kiefer auseinanderzuzwängen; denn Maximus riß den Rachen auf, als finde er das alles zum Gähnen langweilig. Captain Hotspur drehte den Kopf nach links – sein Kopf war für diesen Trick besonders gut geeignet, denn er war unbehaart und glatt –, steckte ihn zwischen die klaffenden Kiefer des Tieres und grinste von dorther sein Publikum schauerlich an. Nach -129-
einem Augenblick zog er den Kopf wieder hervor, rückte etwas ab von dem Tier und sprang auf. Um die Arme wie sonst Vförmig hochzureißen, war der Käfig nicht hoch genug, und so begnügte er sich damit, die Hand mit der aufgeschossenen Nilpferdpeitsche theatralisch in Richtung Löwe auszustrecken und die andere Hand betont lässig in die Tasche zu stecken – und in dieser Haltung strahlend den Sturm der Begeisterung, die Hochrufe und die bewundernden Pfiffe über sich ergehen zu lassen. Und wieder wurde aus dem Beifall plötzlich entsetztes Geschrei und Gekreisch – als Captain Hotspurs Grinsen in einem von Todesqualen gezeichneten Mundaufreißen unterging und sich sein Körper qualvoll wand. Maximus war mit dem immer noch weitgeöffneten Rachen vorgestoßen und hatte ihn um den Unterarm des Captains zuschnappen lassen. Das Gesicht zur Grimasse verzerrt und sich windend, gelang es Hotspur, den Arm den ihn umklammernden Zähnen zu entreißen; Blut strömte ihm durch die Finger. Erregt riefen die Zuschauer durcheinander, als eine Reihe von Circusleuten hinzulief, um Captain Hotspur zu helfen. Roulette, Abdullah und Tim Trim waren als erste in der Manege, blieben aber wie vom Donner gerührt stehen, als Captain Hotspur sie durch die zusammengebissenen Zähne hindurch anherrschte: »Zurück! Nicht weiter! Ihr dürft euch nicht selbst in Gefahr bringen!« Zu dem Löwen gewandt, sagte er mit fester Stimme: »Zurück! Still!« und streckte ihm dann die Peitsche entgegen, ihn sich vom Leib zu halten. Maximus ließ von dem Angriff ab; er blieb, wo er war, und sah mehr amüsiert als vom Blut wild gemacht aus. Den unverletzten Arm mit der Nilpferdpeitsche ruhig und sich den Löwen auf Abstand haltend, steckte er den blutverschmierten und tropfenden Arm durch die Käfigstäbe. Abdullah bückte sich sofort, riß einen langen Streifen von einem der vielen Gewänder, die er anhatte, ab, trat dicht an den Käfig heran und band beherzt -130-
den Lappen um den ihm hingehaltenen Arm. Die Schreie der Zuschauer legten sich allmählich, es wurden Schluchzer und Gestöhn und bewundernde Rufe laut, als der wackere Captain Hotspur sich langsam, Schritt um Schritt, zurückschob bis an die Käfigtür. Monsieur Roulette sprang hinzu, sie zu entriegeln, und als der Captain rückwärts hinausgesprungen war – und dabei schliddernd auf dem Boden landete –, knallte Roulette die Tür wieder zu und verriegelte sie. Wiewohl offensichtlich unsicher auf den Beinen, bestand der Captain auf einem richtigen Abschluß seiner Nummer. Er reckte sowohl den Peitschenarm als auch den Arm mit dem blutigen Verband in die Höhe und erhielt den verdienten Applaus – zumindest von der Mehrheit des Publikums. Einigen Frauen waren die Sinne geschwunden, und ihre männlichen Begleiter waren dabei, ihnen mit dem Hut Kühlung zuzufächeln. »Ist Ihnen jemals aufgefallen«, sagte Florian zu Edge, als Roulette und Abdullah den Captain stützten, um ihn hinauszuführen, »daß eine Frau erst in Ohnmacht fällt, wenn es nichts mehr zu sehen gibt?« »Nun, Ihnen jedenfalls scheint der Anblick von Blut nichts auszumachen.« Florian gab sich verwundert. »Jedenfalls nicht, solange es das Blut eines Esels ist. Ihr habt doch gesehen, wie es aufgefangen und aufgehoben wurde. Der Captain hatte ein bißchen davon in einer Wursthaut in der Hosentasche stecken.« Winkend betrat Florian wieder die Arena, um die Aufregung der Menge zu beschwichtigen. »Meine Damen und Herren, wir bedauern den grauenhaften Zwischenfall, doch zum Glück kann ich Ihnen mitteilen, daß der Arzt unseres Unternehmens mir versichert, der Captain sei durch den Angriff des menschenfressenden Löwen nicht wirklich schlimm verwundet. Der Captain wird bald wieder unter uns weilen, sobald die Wunde richtig versorgt ist und er sich ein -131-
wenig erholt hat. Deshalb werden wir jetzt eine Pause einlegen. Das Programm wird in einer halben Stunde fortgesetzt. In der Zwischenzeit werden unsere begabten Musikanten ein paar beliebte Melodien spielen, um Sie damit zu unterhalten.« Auf dieses Stichwort hin begannen Abdullah und Tim ›What Is Home Without a Mother‹ zu spielen. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen, es steht Ihnen frei, das Zelt zu verlassen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Bei dieser Gelegenheit können Sie unser rollendes Museum zoologischer Abnormitäten besichtigen; ich persönlich werde Ihnen einen aufschlußreichen Vortrag dabei halten und zwar über einige weniger bekannte Tatsachen über seltene Tierarten, die darin zu sehen sind. Gleich daneben können Sie einen erst vor kurzem eingefangenen Wilden Mann aus den Wäldern betrachten ...« Die meisten Zuschauer kletterten bereits steifbeinig von den Bänken, unterhielten sich und gestikulierten aufgeregt mit den Händen. »Wenn einige der Damen es vorziehen, auf den Zuschauerbänken zu bleiben, steht es Ihnen frei, sich vom überragenden Können unserer Hellseherin, Madame Magpie Maggie Hag, zu überzeugen. Sie wird Ihnen akkurat prophezeien, was Sie in der Zukunft noch zu erwarten haben, Ihnen Ratschläge in Herzensangelegenheiten erteilen, in Sachen Geld, über Heiratsaussichten ...« Nachdem alle, die das Chapiteau verlassen wollten, gegangen waren, halfen Edge und Yount Abdullah und Monsieur Roulette, den Käfigwagen mit dem Löwen hinauszuschieben. Eine große Menge von Neugierigen versammelte sich um den Käfig, um zuzusehen, wie Roulette Maximus eine Portion Eselsfleisch vorwarf – als Belohnung dafür, daß er so edel seine Pflicht erfüllt hatte. Yount drückte sich in der Nähe herum, um zu hören, was Florian an »wenig bekannten« Tatsachen über die -132-
außergewöhnlich gut bekannten Geschöpfe mitzuteilen hatte, die ausgestopft im Museumswagen zu besichtigen waren. »... sieht zwar so aus, wie ein ganz gewöhnliches Waldmurmeltier, das den Dichter zu den unsterblichen Versen von ländlichem Humor inspiriert hat: ›Wieviel Holz würde ein Murmeltier hacken, wenn ein Murmeltier Holz hacken könnte ...?‹« Im Inneren des Chapiteau, in dem Magpie Maggie Hag gerade einer jungen Frau mit einfachem Gesicht, aber glühenden Augen gegenübersaß, schob Edge sich nahe genug heran, um mitzubekommen, wie die Zigeunerin sagte: »Du willst, daß der Mann sich in dich verliebt, Juvel? Dazu mußt du folgendes tun: Nimm einen langen Bindfaden. Warte, bis er im Sonnenschein steht, wo er dich aber nicht sehen darf. Nimm den Bindfaden, miß seinen Schatten damit aus und schneide den Bindfaden in genau dieser Länge ab. Und nicht vergessen: Er darf nichts davon merken. Leg den Faden unter dein Kopfkissen. Masherava! Er wird in Liebe zu dir entbrennen! Fünf Cent.« Draußen hüpfte an seiner Kette der Wilde Mann aus den Wäldern hin und her und schnatterte und kratzte sich unter seinen Tierfellen, unter dem Dreck und der Holzkohlenschwärze an unanständigen Stellen, während Florian die davorstehende Menge unterrichtete: »Da bislang noch nie ein solches Lebewesen wie er gefangen wurde, sehen die Gelehrten sich außerstande, den Wilden Mann einem bestimmten Land zuzuordnen. Doch aufgrund der Untersuchung seiner besonderen Bezahnung – das heißt, durch Vergleich seiner Zähne mit denen anderer bekannter Säugetiere – sind die Wissenschaftler zu dem Schluß gekommen, daß er halb Bär und halb Mensch ist. Daraus kann man eigentlich nur folgern, daß er entgegen aller genetischen Wahrscheinlichkeit von einem Schwachsinnigen aus den Bergen mit einer Bärin gezeugt wurde. Oder – noch grauenhafter, sich das vorzustellen daß der Wilde Mann der Sproß eines Bären ist, der irgendwie -133-
eine Menschenfrau ...« Florian beendete den Satz nicht, sondern ließ dies in der Luft hängen, und die Augen der Frauen in der Runde weiteten sich, als sie sich ausmalten, wie das wohl gewesen sein mochte. »Wie von einem Bärenabkömmling nicht anders zu erwarten, mag der Wilde Mann, der ja zur Hälfte ein Bär ist, sein Fleisch am liebsten roh. Deshalb tun Sie, meine sehr verehrten Damen, vielleicht gut daran, die Augen abzuwenden, denn gerade jetzt ist Fütterungszeit für dieses Geschöpf.« Keine einzige, die nicht hingeblickt hätte! Monsieur Roulette warf dem Kretin einen Oberschenkelknochen hin, den zuvor Maximus saubergenagt und nahezu glänzend poliert hatte. Der Wilde Mann packte den Knochen gierig und mit einem entzückten Aufstöhnen und ließ seine Zahnreihe klappernd daran herauf- und herunterwandern. Die Gaffer sprachen halblaut miteinander, und Yount flüsterte Roulette zu: »Ich finde das nur entsetzlich! Den armen Idioten zu so was zu mißbrauchen!« »Pourquois?« wollte Rouleau wissen. »Er genießt es. Es macht ihn glücklich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und bewundert zu werden. Daheim, in seiner Familie, hat man ihn doch nur verachtet.« »Trotzdem. Irgendwie finde ich das nicht richtig.« Ein wenig spitz sagte Roulette: »Sie und Ihr ami sollten sich hüten, den Menschen andauernd Vorwürfe dafür zu machen, daß sie das tun, was sie am besten können – statt das zu tun, was sie Ihrer Meinung nach tun sollten.« Im Chapiteau hörte Edge weiter zu, wie Magpie Maggie Hag einer in mittleren Jahren stehenden, aber immer noch sehr reizvollen Frau sagte: »Vielleicht möchtest du alten reichen Gatten loswerden und eine lustige Witwe sein. Um das zu erreichen, mußt du folgendes tun: Nimm einen Bindfaden, miß – während er in der Sonne steht – genau seinen Schatten aus, aber -134-
laß es ihn nicht merken. Rolle den Bindfaden zusammen, schiebe ihn ihm, wenn er schläft, unters Kopfkissen. Er bald tot – mulengi! Zehn Cent.« »... Und jetzt, hochverehrtes Publikum«, brachte Florian seine Ansage für den zweiten Programmteil zu Ende, »da ist sie ... die Base des tapferen General Fitzhugh Lee, Großnichte eures geliebten General Robert E. Lee – auf ihrem Pferde Bubbles, in dem ihr leicht den Sohn von Traveller erkennen könnt, General Lees berühmten Grauschimmel. Sie selbst jedoch ist berühmt als der Welt jüngste, begabteste Equestrienne, Mademoiselle Clover LEE!« Tim und Abdullah hoben unter Geschepper und Getrommel zu ›The Erie Canal‹ an, Clover Lee ritt strahlend und seitlich wie im Damensattel auf dem ungesattelten Rücken des Apfelschimmels in die Manege. Captain Hotspur und Monsieur Roulette trabten zu Fuß hinterher und stellten sich neben den Mittelmast. Florian ging wieder zum Vordereingang, wo Edge sagte: »Wie können Sie es nur wagen, ihr eine solche erlauchte Verwandtschaft anzudichten? Die Göre ist genausowenig mit Onkel Bobby und Neffe Fitz verwandt wie ich es bin.« »Sie wissen das. Ich weiß das. Aber wissen diese Bauerntölpel es auch?« »Wenn sie aber wissen, daß Traveller ein Wallach ist und nie Nachkommen hatte, könnten sie auch in bezug auf all die anderen Bären Verdacht schöpfen, die Sie ihnen aufgebunden haben.« »Sie sind ja nicht hergekommen, um Clover Lee die Hand zum Bund fürs Leben zu reichen; sie wollen sie nur reiten sehen. Besteht auch nur im entferntesten die Möglichkeit, daß sie aus einer Familie stammt, die sie kennen, sind sie vielleicht um so eher geneigt, ihr zuzujubeln.« Das Pferd trabte um die Manege, und Clover Lee sprang mit -135-
einem Satz auf seinen Rücken; doch ihre Bewegungen waren eigentlich weniger anmutig und fließend als die ihrer Mutter es gewesen waren. Als Tim und Abdullah zum Refrain des Liedes anhoben (›Low Bridge, everybody down...‹) lief Captain Hotspur mit einem Band an die Piste – es war nur eines der rüschenumwundenen rosa Seile, die Edge schon vorher aufgefallen waren. Ein Ende des Seils war am Mast in der Mitte befestigt, das andere hielt Hotspur sich über den Kopf, um vor Clover Lee ein Hindernis aufzurichten. Das Pferd ging in leichtem Galopp darunter hindurch, während das Mädchen mit einem Sprung darüber hinwegsetzte und hinterher sicher wieder auf dem Rücken des Pferdes landete. Als Roulette mit einem zweiten Band hinauslief, (›Low bridge, for we’re going through a town...‹), mußte Clover Lee beim nächstenmal zwei Sprünge nacheinander schaffen. Nachdem sie diesen Trick mehrmals wiederholt hatte, ließen die Männer die roten Bänder hinunter. Captain Hotspur stand auf dem Erdwall, der die Manege umringte, und hielt einen Schmuckreif in die Höhe vor sich hin – einen der mit rosa Kreppapier umwundenen Reifen. Clover Lee sprang, drehte einen Salto hindurch und landete wieder sicher auf dem immer noch ruhig galoppierenden Pferd. Wieder trat Roulette vor, diesmal mit einem zweiten Reifen, und kaum hatte das Mädchen einen Salto hinter sich, mußte sie auch schon den nächsten vollführen. Das war hübsch anzusehen, und sie erhielt donnernden Applaus, als sie schließlich vom dahinsprengenden Pferd hinunterglitt. Und als Florian das Publikum nochmals an die edle Abkunft des Tieres erinnerte, heimste auch Bubbles tosenden Beifall ein. »Und jetzt, direkt aus Paris ... wo seine erstaunliche Gelenkigkeit Kaiser Louis Napoleon und Kaiserin Eugenie in Erstaunen versetzte ... der Meisterjongleur, Meisterspaßmacher und Meisterparterreakrobat ... meine Damen und Herren: MONSIEUR ROULETTE.« -136-
Seine akrobatischen Tricks waren unvergleichlich besser als seine Bauchrednerei und Tierstimmenimitation es gewesen waren. Ja, Edge hielt sie für überragend gut und mochte gern glauben, daß selbst Kaiser und Kaiserinnen es hinreißend fanden, ihm dabei zuzusehen. Zum sanften Gedudel und gelegentlich blecherner Ausgelassenheit von Tim Trimm führte Monsieur Roulette Sprünge, Schrauben und Überschläge vor, bei denen man sich fragte, ob er überhaupt Knochen im Leib habe oder dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen sei. Er verlieh jedem einzelnen Trick zusätzlich französisches Flair, indem er jedesmal, bevor er ansetzte, »Allez houp!« rief und »Houp là!« wenn er es geschafft hatte; manchmal erklärte er sogar auf französisch, was er vorhabe: »Fair le saut perilleux au milieu de l’air! Voilà!« Nachdem er mehrere Überschläge vorwärts und rückwärts sowie etliche Salti mortali hintereinander ohne Hilfestellung und Hilfsmittel absolviert hatte, lief er an die Seite und holte jene kurze Leiter herbei, die Edge ihn hatte ins Zelt tragen sehen. Diese nun stellte er mitten in der Manege aufrecht hin, lehnte sie an nichts an, sondern balancierte sie nur auf ihren zwei Beinen – um rasch auf der einen Seite hinauf- und auf der anderen gleich wieder hinabzuklettern, wobei die Leiter irgendwie einfach stehenblieb. Er nahm eine ganze Reihe von Posen auf der Leiter ein und führte Balanceakte an dieser nur auf den beiden Holmen stehenden Leiter vor, wobei er selbst manchmal auf den Sprossen stand und manchmal horizontal von der Leiter abstand, indem er mit dem einen Fuß auf einer der Sprossen stand und sich mit dem Spann des anderen unter einer anderen festhakte; dabei zitterte die Leiter und schwankte leise hin und her, blieb jedoch wie durch ein Wunder immer aufrecht stehen. Dann huschte er die freistehende Leiter bis ganz nach oben hinauf, stellte sich auf die beiden Holmenenden und bewegte sich damit vorwärts wie auf zusammengebundenen Stelzen und umrundete auf diese Weise die ganze Manege. Ohne zuvor erst -137-
wieder abzusteigen, machte er auf den Holmenenden Handstand und führte im Handstand die gleiche Gehbewegung aus – auch diesmal schaffte er es einmal ganz um die Manege herum. Den größten Teil seiner Nummer über saß das Publikum mucksmäuschenstill da, gleichsam als fürchtete es, jeder Laut könne ihn zum Absturz bringen. Doch sein Handstand und die anschließende Umrundung der Manege lösten nun doch einen Sturm der Begeisterung aus, und neben dem Applaus wurden Hochrufe und Pfiffe laut. Draußen im Requisitenwagen war Yount mit einem Seilende, Segelmacherhandschuh und gebogener Nadel beschäftigt, als Clover Lee plötzlich an ihm vorbeischoß und anfing, ohne auch nur vorher die Wagentür zuzumachen, sich bis auf die Haut zu entkleiden. Yount war dermaßen verdutzt, daß er nicht einmal höflich den Kopf abwandte, sondern sie einfach anstarrte und schließlich stotterte: »Mädchen, was tust du da?« »Mich fürs Finale umkleiden. Schweiß frißt einem eher Löcher in die Kleider als Motten. Deshalb muß ich sie sofort ausspülen. Was haben Sie denn bloß, Sergeant Obie? Sie als Soldat müssen doch wissen, was Schweiß ist, oder?« »Ja, schon ... natürlich.« »Ach so, dann haben Sie wohl noch nie eine nackte Frau gesehen?« »Nein, hm ... jedenfalls nicht gratis, nein, Miß.« »Dann genießen Sie’s, denn sonst verschenk’ ich nichts. Das heb’ ich mir für später auf, wenn ich groß bin, wenn ich drüben in Europa einen Herzog oder einen Grafen kennenlerne, es ihm zu schenken.« Jetzt machte Yount womöglich noch ungläubigere Augen. »Aber nur zu, schaun Sie sich nach Herzenslust all das wenige an, das ich habe.« Dann lachte sie, als sie erkannte, auf was sein Blick eigentlich so starr gerichtet war. »Ach, das ist es.« Sie hielt ein kleines Polster in die Höhe, das sie gerade aus ihrem achtlos hingeworfenen Trikot -138-
herausgezogen hatte. »So was trägt jede Artistin. Uns Frauen dient es dazu, unsere kleine Ritze zu bedecken, damit sie dem Publikum nicht zuzwinkert. Und nennt sich Cachesexe – das ist französisch.« »Das hätt’ ich mir denken können.« Sie stopfte sich das Cachesexe zwischen die Beine, schlüpfte schnell in andere Kleider und huschte zum Wagen hinaus. Fassungslos und kopfschüttelnd sah Yount ihr nach, fuhr dann in seiner Näherei fort und trug das Ergebnis zu Madame Solitaire. Im Chapiteau brachte Monsieur Roulette jetzt jenen Apparat in die Manege, den Edge für eine Kinderwippe gehalten hätte. Es war ein kurzes Sprungbrett, das Roulette hinauflief und von dessen Ende er absprang. Selbiges tat er mehrere Male, wobei das Brett ihm zusätzliche Höhe und eine längere Flugbahn verschaffte, in deren Verlauf er seine phantastischen Übungen vollführte, bei denen er den Körper manchmal rückwärts durchbog, so daß Kopf und Fersen einander berührten, oder die Beine mitten in der Luft zum Spagat spreizte. Inzwischen führte Abdullah Brutus wieder ins Chapiteau, und der Höhepunkt von Monsieur Roulettes Nummer bestand darin, daß er einen Anlauf nahm, unglaublich kraftvoll von seinem Brett absprang, hoch in die Luft flog, dort zu einem engen Knoten zusammengeduckt hoch über dem Elefantenrücken einen mehrfachen Salto mortale vollführte und auf der anderen Seite des Dickhäuters scheinbar mühelos auf dem Boden landete – »Houp là!« und damit beim Publikum einen Begeisterungssturm entfesselte, daß fast das Zeltdach in die Luft geflogen wäre. Nachdem Abdullah den Elefanten hinausgeführt hatte, kam er hüpfend wieder zurück in die Manege, wo Florian ihn diesmal als »den Meister jener anderen Hind-Geheimnisse« vorstellte, »die in der Hindusprache als die Kunst des Hannibal-Tyree bezeichnet werden. Das ist auch auf Hindu ein Zungenbrecher, meine Damen und Herren, bedeutet aber nichts weiter als -139-
›Wunderwirker‹. Und um Ihnen zu zeigen, was es damit auf sich hat... jetzt Abdullah aus BENGALEN.« Zunächst schien der Neger mit leeren Händen dazustehen, doch als er die Hände auf und ab bewegte, hatte er in der einen plötzlich eine Zwiebel. Er schnippte sie in die andere Hand, doch in der ersten hielt er irgendwie immer noch eine Zwiebel, die diesmal in die Luft geschnippt wurde, wonach jetzt beide Hände eine Zwiebel hielten ... und so weiter. So schnell, daß das Auge dem nicht folgen konnte, holte Abdullah Zwiebeln aus dem Nirgendwo und schickte sie von einer Hand zur anderen; das ergab Bahnmuster, die mit einer solchen Geschwindigkeit durcheinanderwirbelten, daß die verschwommenen Flugbahnen ein ungreifbares Gespinst bildeten, sich miteinander verwoben und wieder entwirrten und immer verzwickter zusammenfanden. Dann verringerte sich die Anzahl der Zwiebeln unverhofft auf geheimnisvolle Weise, bis man einzelne Zwiebeln unterscheiden konnte, wie sie von einer Hand zur anderen flogen. Zuletzt war nur noch eine einzige davon zu sehen, die Abdullah müßig hochwarf und wieder auffing, wobei er sein Publikum strahlend angrinste. Er warf sie ein letztesmal in die Höhe, höher als jemals zuvor, brachte den Kopf genau an jene Stelle, wo sie wieder herunterkommen mußte, fing sie mit dem Mund auf und biß krachend ein saftiges Stück davon ab. Über das Geklatsche hinweg sagte Florian zu Edge – und Yount, der sich wieder zu ihnen gesellt hatte: »Wenn man sich das vorstellt, Freunde dieser Mann war früher mal ShoeshineBoy.« Tim Trim lief hinzu und reichte Abdullah drei brennende Fackeln kurze Stecken mit Bündeln von brennenden Pechkieferspänen am einen Ende –, mit denen Abdullah eine Weile jonglierte, daß sie hoch über seinen Kopf hinauswirbelten und sich dabei um die eigene Längsachse drehten, was im Dämmer des Chapiteaus ein hübsches Bild ergab. Nachdem er damit fertig war und sie alle mit einer Hand aufgefangen und -140-
ausgeblasen hatte, lief wieder Tim hinzu, diesmal mit einem Stoß jener Suppenteller, aus denen sie gestern abend gegessen hatten. Abdullah ließ sie scheinbar völlig sorglos zwischen seinen Händen hin- und herfliegen, und diesmal hielt Tim sich ganz in der Nähe auf. Er spielte wieder den Clown und sah Abdullahs Nummer mit einem Ausdruck fassungslosen Staunens zu. Dann vollführte er flehentliche Gesten, auf die Abdullah mit einem zustimmenden Nicken reagierte. So stellte Tim sich neben ihn, Abdullah griff sich einen der durch die Luft fliegenden Teller heraus und reichte diesen Tim. Als Tim ihn nur offenen Mundes anstarrte, mußte Abdullah ihm den Teller wieder wegnehmen, damit der Kreislauf in der Luft nicht durchbrochen wurde. Daraufhin wieder die flehentlichen Bitten von Tim, und wieder reichte Abdullah ihm einen der Suppenteller hin, den Tim diesmal sofort hochwarf, worauf Abdullah durch die halbe Manege stürzen mußte und dabei die ganze Zeit über mit den anderen Tellern jonglierte, um den von Tim hochgeworfenen Teller in den Strom der anderen Teller wieder einzureihen. Die Zuschauer kicherten, prusteten, und es dauerte nicht lange, da kamen sie aus dem Lachen gar nicht mehr heraus, während Abdullah und Tim hierher und dorthin schossen, sich dabei anrempelten, hinfielen, es jedoch gleichwohl schafften, die Teller weiterhin durch die Luft fliegen zu lassen. Schließlich vollführte Abdullah eine unübersehbare Geste des Abscheus und brach die ganze Nummer ab, während die Suppenteller in kunterbunter Folge noch durch die Luft flogen, kreuzte die Arme und trat beiseite. Tim schoß hierhin und dorthin und fing die Teller auf, wie sie herunterkamen, doch waren es deren zuviele für ihn, und er konnte nur eine bestimmte Anzahl halten – und der letzte fiel ihm auf den Kopf und zerbrach in viele Scherben, woraufhin die Gaffer sich vor Vergnügen auf die Schenkel klatschten und brüllten. Tim machte ein zerknirschtes Gesicht, schien dann perplex -141-
und schließlich wütend. Plötzlich stieß er einen Wutschrei aus – und die Gaffer hörten auf zu lachen, sich zu biegen und gegenseitig in die Rippen zu stoßen. Tim hatte einen der Suppenteller in ihre Richtung geschleudert, so daß er mit der Öffnung nach unten auf die am weitesten von ihm entfernte Sitzreihe zuflog. Doch sonderbarerweise verlangsamte der Teller seinen Flug, blieb scheinbar in der Luft stehen, wirbelte dann über die geduckten Köpfe hinweg, wendete und flog zurück in Tims wartende Hand. Völlig verdutzt richteten die Zuschauer sich wieder auf. »Jetzt wissen Sie, warum Tim sich die Auflaufform geangelt hat«, rief Florian laut Edge zu, denn wieder gab es Gelächter und Applaus. »Um der Jongleurnummer die Krone aufzusetzen.« Unter unzähligen Verneigungen zogen Tim und Abdullah sich zurück und nahmen Horn und Trommel auf, um einen Tusch für den Wiederauftritt von Captain Hotspur und Madame Solitaire samt ihren beiden Pferden zu blasen. Wieder stand der Captain mit gegrätschten Beinen auf Snowball und Bubbles, doch diesmal stand die hübsche Dame direkt hinter ihm, hatte ihm die eine Hand leicht auf die Schulter gelegt, während sie mit der anderen die Menge grüßte. Hotspur hatte wieder seinen lila Uniformrock an, und so konnte niemand sehen, ob er noch bandagiert war oder nicht; jedenfalls konnte er offensichtlich beide Arme wieder voll gebrauchen. Die Pferde umrundeten Seite an Seite immer wieder die Manege, während die beiden verschiedene kunstvolle Posen einnahmen, manchmal zusammen und auf beiden Pferden, manchmal einer von ihnen auf einem Pferd für sich allein, manchmal beide auf einem. Die meisten Tricks bestanden darin, daß Madame Solitaire mit Hilfe von Captain Hotspur Stellungen einnahm, die sie sonst nicht geschafft hätte – sich etwa auf Snowballs Kruppe stellte und eine Brücke rückwärts baute, wobei Hotspur auf Bubbles einen Arm ausstreckte, sie zu stützen, und sie sich immer weiter -142-
hinunterließ, bis ihre Hände auf Snowballs Kruppe auflagen –, wobei beide Pferde die ganze Zeit über dahingaloppierten. Die gefährlichste und unwahrscheinlichste Pose hob sie sich selbstverständlich bis zum Schluß auf. Hotspur senkte ein Knie auf den Rücken seines Pferdes, und die Frau setzte sich ihm rittlings auf die Schulter. Langsam richtete der Captain sich jetzt auf und schob den Fuß des Beines, mit dem er gekniet hatte, immer weiter hinüber, bis er wieder auf beiden Pferden stand. Sodann zog Madame Solitaire vorsichtig einen Fuß zur Zeit an sich heran, stellte sich Hotspur auf die Schulter und richtete sich auf, bis sie frei auf ihm stand, sich an nichts festhielt, die Arme schwingengleich ausstreckte und der Captain sich in die Manege hineinlehnte, während die Pferde immer weiter im Kreis herumdonnerten. Als die Pferde die Gangart verlangsamten und Madame Solitaire und Captain Hotspur behende zu Boden sprangen und beide Arme in die Höhe rissen, gingen Horn und Trommel im brausenden Applaus unter. »Madame Solitaire und Captain Hotspur danken Ihnen für den Beifall, meine Damen und Herren«, rief Florian laut, als er sich wieder Gehör verschaffen konnte. »Und jetzt, vorm Abschiedsgruß unseres Finales, noch ein ganz besonderer Leckerbissen für Sie – und zwar zusätzlich zu unserem regulären Programm. Da wir eine so besonders warmherzige Aufnahme bei Ihnen gefunden haben, hat der Geleitschutz unserer Wagenkolonne – Colonel Zachary Plantagenet-Tudor von den Britischen Grenadieren – sich aus freien Stücken erboten, Sie – ohne vorher geübt zu haben – als Scharf- und Kunstschütze zu erfreuen.« »Nein, dieser Schuft!« entfuhr es Edge. Tim Trimm hob augenblicklich zu einer schmissigen Version von ›British Grenadiers‹ an; Florian winkte Edge zu sich, ließ seine Maske nicht einen Moment fallen und log für das Publikum weiterhin das Blaue vom Himmel herunter: »... Wie keineswegs allgemein bekannt, haben unsere strammen -143-
britischen Sympathisanten unserer tapferen Konföderierten Armee ein paar ihrer erfahrensten Scharfschützen geschickt, die uns in unserem gerade zu Ende gegangenen Kampf gegen die Yankee-Invasoren aus dem Norden beigestanden haben ...« »Colonel«, sagte Yount höchlichst amüsiert, »du tust gut daran, in die Manege zu steigen, sonst weiß er nicht mehr, was er denen alles erzählen soll und ihm geht die Puste aus.« »Soll er doch, dieser unverfrorene Windhund. Ich will sonstwie heißen, wenn ich mich vor all diesen Leuten blamiere.« »Nun, noch mehr blamierst du dich, wenn du jetzt kneifst.« »Himmel HERRGOTT!« Wie gehetzt sah Edge sich um, mußte jedoch erkennen, daß alle auf den Plätzen ringsum ihn erwartungsvoll ansahen. Florian winkte ihn immer noch auffordernd zu sich heran und ratterte weiter: »Da unsere Vorstellung jedoch schon überlang ausgefallen ist, wird Colonel Zachary nur eine einzige Demonstration seines Könnens als Präzisionsschütze geben. Ich werde ihn daher bitten, nur einen Schuß abzugeben – und eine Flamme auszuschießen, die ich persönlich hochhalten werde. Daran können Sie erkennen, welches Zutrauen ich in das scharfe Auge und das überragende Können des Colonels setze.« Er holte ein Zündholz aus der Westentasche, zog einen Pechkiefernspan aus Abdullahs beiseite gelegten Fackeln heraus, zündete diesen an und hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt in die Höhe. »Himmel«, knurrte Edge, »er ist nicht nur wahnsinnig sondern auch noch lebensmüde. Obie, rasch, hast du ein Messer zur Hand?« »Uh huh.« Yount zog ein zum Fürchten großes Klappmesser aus der Tasche und klappte einen kleinen Korkenzieher heraus. Florian fuhr fort: »Um dem Colonel die typisch britische Zurückhaltung zu nehmen, bitte ich Sie, ihn mit einem -144-
Sonderbeifall willkommen zu heißen«, woraufhin die Zuschauer gehorsam anfingen zu klatschen. »Verflucht noch mal!« knurrte Edge und reichte Yount seinen Revolver. »Rasch, Obie, hol’ eine der Kugeln raus« und stieg in die Manege. »Colonel Plantagenet-Tudor!« salbaderte Florian und winkte mit seiner kleinen Flamme. »Heute nicht im britischen Roten Rock, sondern im schlichten Grau unserer geliebten Konföderierten Armee!« Der Applaus brauste womöglich noch lauter auf. »Verneigen Sie sich, Colonel Zachary.« Steif und unbeholfen kam Edge dieser Aufforderung nach, funkelte Florian aber gleichwohl giftig an. Dann trat er wieder an die Piste aus Erde, wo Yount ihm die große Pistole reichte. Edge streifte die Vorderseite der Trommel des Revolvers mit einem Blick und drehte diese ein Loch weiter; dann stieg er zurück in die Manege. Die Menge wurde still, und das dreifache ölige Klicken des Hahnspannens war deutlich zu hören. Edge stand, die Waffe seitlich herunterhängen lassend, da, bis Florian in zehn Schritt Entfernung ohne zu zittern die winzige Flamme in die Höhe hob. Edge trat ein Stück beiseite, so daß er Florian zwischen sich und dem – menschenleeren – Hintereingang des Chapiteaus stehen hatte. Dann hob er die Waffe, schien überhaupt nicht zu zielen und drückte den Abzug durch. Selbst in der beträchtlichen Weite des großen Zelts war der Schuß als peitschendes Blam zu hören, und etliche Leute sprangen von ihrem Sitz hoch. Florian jedoch zuckte nicht zusammen, und die Flamme am Ende des Pechkieferspans war augenblicklich erloschen. Die Leute klatschten kräftig in die Hände, doch Edge reckte weder die Arme in Siegerpose über den Kopf, noch blieb er stehen, um sich bewundern zu lassen. Er drehte sich vielmehr einfach um und nahm seinen früheren Platz neben dem Vordereingang wieder ein. Als ob der Revolverschuß ein Signal gewesen wäre, zogen die Artisten und die Circustiere zum -145-
festlichen Finale noch einmal ins Chapiteau ein. Florian blieb in der Manegenmitte stehen, drehte sich mit dem Umzug, als ob seine mit dem Zylinderhut ausgestreckte Hand ihn lenkte. Edge kommentierte: »Die meisten haben sich umgezogen, bloß um an diesem Finale teilzunehmen.« »Das tun sie, weil der Schweiß ihnen die Kostüme zerfrißt«, erklärte Yount, als habe er das schon immer gewußt. Doch dann gab er die Quelle seiner Weisheit preis: »Das hat die kleine Clover Lee mir erzählt. Stell dir vor, sie hat sich direkt vor mir ausgezogen. Diese Circusfrauen sind noch schamloser als Indianersquaws. Und weißt du, was die Kleine mir noch erzählt hat? Daß sie sich das, was sie zwischen den Beinen hat, aufspart, bis sie drüben in Europa einen Grafen oder einen Herzog kennenlernt.« »Hoffentlich gibt’s auch noch genug davon«, sagte Edge. »Ihre Mutter hat den gleichen Traum. Würde mich gar nicht wundern, wenn es die alte Zigeunerin auch täte.« »Was ich sagen wollte«, sagte Yount, »als Kind in diesem Alter wußte ich überhaupt nicht, daß ich irgendwas zwischen den Beinen hatte, außer dem Zapfen zum Pinkeln.« Nachdenklich schwieg er. »Hey, vielleicht hätte ich mein Ding auch für irgend so eine Gräfin aufsparen sollen oder – Zack, gibt es eigentlich so was wie Herzoginnen?« »Klar gibt es die. Außerdem glaube ich, daß diese Frauen nur dadurch zu Gräfinnen oder Herzoginnen werden, daß sie Grafen oder Herzöge heiraten. Vielleicht haben Sarah oder Clover Lee ja berechtigte Hoffnungen, sich einen Mann mit Titel zu angeln, aber du könntest das nicht. Jetzt im Ernst, Obie, willst du dich eigentlich diesem Haufen anschließen?« »Naja, ich behaupte jedenfalls nicht, es nicht zu tun. Himmel, in Tennessee würd’ ich so was wie ’ne Gräfin doch nie zu sehen kriegen.« Die Truppe hatte die Manege zwei- oder dreimal umrundet. -146-
Jetzt dämpfte Tim sein Horn und hob zum bekanntesten Lied der Zeit an, und Madame Solitaire und Mademoiselle Clover Lee sangen bezaubernd hoch zu Pferd: Wir haben uns geliebt, Lorena Wer wagte schon zu sagen, wie heiß? Der Text von ›Lorena‹ war von schwülstigem Schmerz erfüllt, doch war das Lied so schön und von genauso bitterer Süße wie ›Auld Lang Syne‹, und die Zuschauer summten oder sangen es mit, während sie von ihren Bänken herunterkletterten und dem Vordereingang zustrebten: Es ist ja jetzt egal, Lorena Das Vergangene ist in die Ewigkeit eingegangen. Da Edge und Yount offenbar die einzigen Circusangehörigen waren, die ihnen im Weg standen, blieben etliche Leute beim Hinausgehen stehen, um ihnen für die Unterhaltung zu danken. »Ich würd’ meinen«, ließ ein älterer Mann sich vernehmen, »man sollt’ vielleicht nicht grad’ die Art und Weise feiern, wie der Krieg zu Ende gegangen ist. Aber es ist schon tröstlich, daß nicht mehr gekämpft wird. Und daß ihr grade jetzt vorbeigekommen seid, läßt uns alles heute doch in einem etwas günstigeren Licht erscheinen.« »Ja«, sagte eine ältere Dame. »Nichts hebt die Laune so sehr, wie ein Circus oder eine Versammlung mit einem guten Erweckungsprediger.« »Und ihr seid der erste Circus, der seit Kriegsausbruch zu uns gekommen ist«, sagte eine andere Dame. »Ma un’ ich, wir ha’m die Dose Pfirsiche aufgehoben«, sagte ein in mittleren Jahren stehender Mann, »um damit zu feiern, wenn unser Junge nach Hause kommt. Aber letzte Woche hörten wir, daß er nicht wieder heimkommt. Und so sin’ wir froh, die Pfirsiche gegen Eintrittskarten eingetauscht zu haben. Ma un’ ich, wir kam’ uns vor, als ob unser Melvin dabei war’, un’ so -147-
haben wir’s sehr genossen. Gort segne euch!«
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6 »Unsere Einnahmen, unser Gewinn, unsere Beute!« frohlockte Florian. Er stand in der Tür des Zeltwagens, in dem die Sachen gestapelt waren und rief laut die einzelnen Posten aus: »Erst das Eßbare. Nun, da sehe ich Eier, Wurst und Pilze, aus denen Mesdames Maggie und Solitaire gerade ein Gericht zusammenkochen. Hausgemachte Wurst, sagte die Dame, die sie brachte, und ich hatte den Anstand, nicht nachzufragen, was alles hineingekommen ist. Außerdem haben wir die Zwiebeln bekommen, mit denen Abdullah jongliert hat, und daneben noch eine anderer Feldfrüchte als da sind: Kartoffeln, Möhren und Rüben, Pastinaken und ein paar Schwarze Walnüsse. Zwei gar nicht mal so kleine Beutel Maismehl und einen Krug Schmalz. Vier Scheiben Wabenhonig. Mindestens zwanzig Gläser Eingemachtes – mal sehen – Tomaten, Brechbohnen, Pfirsiche, Kürbis, Pflaumen, süßsaure Wassermelonen. Je einen ganz schön großen Sack Feuerbohnen, Kichererbsen und Erdnüsse noch in der Schale. Von den Kindern drei Schnüre mit Schildfisch und Welsen. Meine Damen, ich denke, die sollten wir nicht allzu lange ungekocht herumliegen lassen.« »Fisch hat es schon zum Frühstück gegeben«, erklärte Sarah. »Und jetzt gibt es erst mal Eier, Wurst, Pilze und Maisbrot und Honig aufs Brot. Und Kaffee. Kaffee-Ersatz aus Erdnüssen zwar nur, aber immerhin ist es der erste, den wir seit langer Zeit überhaupt zu trinken bekommen.« »Wer gern etwas anderes trinken möchte«, sagte Florian und fuhr mit dem Aufzählen fort, »wir haben Fichtennadelbier, Dattelpflaumen- und Muskatellerwein. Keines dieser Getränke ist übermäßig vom Teufel Alkohol beleckt. Aber, für diejenigen unter uns, die keine Abstinenzler sind, habe ich hier auch noch zwei Tonkrüge mit dem besten ›Weißen Blitz‹, den Lynchburg, wie man mir sagte, aufzuweisen hat.« Alle Männer bis auf den Kretin reichten Florian ihren Becher -149-
aus Blech oder Porzellan, und er schenkte großzügig Whiskey aus, für sich selbst auch einen, und dann fuhr er fort: »Nun zum Nichteß- oder trinkbaren, gleichwohl brauchbaren Dingen – mal sehen, was wir da haben. Zunächst mal einen Vorrat von dem, wofür Lynchburg berühmt ist; die Menge dürfte für ein Leben reichen. Tabak, und zwar in Form von Shag-Tabak, Priem oder sogar von Blättern für diejenigen, die sich Zigarren rollen möchten. Hier, Abdullah, nimm einen Brocken Kautabak und gib ihn gleich mal Brutus; den hat er sich verdient. Des weiteren haben wir Geschirr aller möglichen Art erhalten, unter anderem die Teller zum Jonglieren. Außerdem Nägel, Schrauben und Stecknadeln. Einen kleinen Spiegel, etliche Kerzen sowie einen Kanister Petroleum und Lampendochte. Einen Stapel noch nicht allzu fadenscheiniger Woilachs, eine Kiste Hufeisen unterschiedlicher Größe und drei oder vier Futterbeutel für den Fall, daß wir jemals wieder zu Getreide kommen, die armen Tiere damit zu füttern. Nicht wenige Städterinnen haben mit Bändern, Goldlitzen und Papierblumen bezahlt. Madame Hag, ich überlasse es Ihnen zu entscheiden, ob Sie damit etwas für die Kostüme anfangen können. Außerdem haben wir hier eine ganze Reihe von Uniformteilen, die wir einfärben können; wir haben ja sogar ein paar Tiegel mit Farbstoffen wie Kupfervitriol, Sassafrasöl und Sumach bekommen.« Er hielt inne, um sich noch einen Schluck Whiskey zu genehmigen. »Eigentlich bringt es viel mehr Spaß, diesen Tauschhandel zu treiben, statt einfach nur Geld zu kassieren. Man weiß eben nie, was alles auf einen zukommt. Dies hier, zum Beispiel.« Er hielt ein sechssaitiges Banjo hoch, das bis auf die Tatsache, daß es nur die Hälfte der langen Saiten aufwies, noch ganz gut erhalten war. »Wenn wir noch drei weitere Saiten auftreiben, muß einer von uns lernen, darauf zu spielen. Aber ich habe sogar ein Instrument für mich bekommen.« Er steckte eine Trillerpfeife in -150-
den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Ich habe viel zu lange ohne so ein Ding auskommen müssen, und ein Sprechstallmeister ohne Trillerpfeife ist wie ein Dirigent ohne Taktstock.« Er ließ sie sorgsam in seiner Westentasche verschwinden und fuhr dann mit der Aufzählung fort: »Hier haben wir eine hübsche kleine Reisebibliothek für uns. Sechs oder sieben Nummern des Camp Jester Magazines und drei Sonntagsblättchen. Und das hier, mal sehen: Nick of the Woods, The Indian Wife of the White Hunter und The Forayers – ›Raubritter und Schnorrer‹, ha! Damit sind wohl wir gemeint. Von den Kindern habe ich einen ganzen Haufen von diesen kleinen ›Trost- und Notbeuteln‹ bekommen, die die Sonntagsschulen eigentlich an die Truppen schicken sollten. Ich nehme an, diese erbaulichen Traktätchen gegen das Trinken, Fluchen und dergleichen können wir getrost wegwerfen. Außerdem enthalten die Beutel aber auch Nützliches wie zum Beispiel Nadel und Faden.« Wieder nippte er an seinem Whiskey. »Und jetzt, last but not least, das Bargeld, das wir eingenommen haben. Ich freue mich, verkünden zu können, daß wir die gewaltige Summe von vier Dollar, siebenundachtzigeinhalb Cent in guten harten Yankee-Dollars verdient haben; hinzu kommt noch das Papiergeld: achthundert Südstaatendollar. Ich muß schon sagen, alles in allem kein schlechtes Geschäft.« Die Circusangehörigen klatschten genauso begeistert Beifall, wie zuvor das Publikum, doch Edge sagte: »Ich denke, ich bin ein in der Wolle gefärbter Südstaatler, Mr. Florian. Nur kann ich offen gestanden nicht begreifen, warum Sie weiterhin diese wertlosen Lappen annehmen.« »Kann ja sein, daß ich mich irre«, sagte Florian, »aber ich habe den starken Verdacht, daß wir irgendwo unterwegs wieder mal auf unverbesserliche Rebellen stoßen werden, die sich -151-
weigern könnten, Yankeedollars für das anzunehmen, was wir von ihnen haben möchten.« »Wenn Sie meinen«, sagte Edge und verstummte. »Maggie«, rief Florian zu der Zigeunerin hinunter, »wie ist es dir während der Pause mit den Damen ergangen?« Sie sah von ihrer Kocherei auf und sagte: »Sieben Dollar.« Das setzte Florians Fröhlichkeit einen Dämpfer auf. »Aber Mag, sonst hast du doch viel mehr verdient ... ich hatte mir, nun ja, mindestens ... Zum Teufel, Mag, umgerechnet sind das doch noch nicht mal sieben Cent.« »Kein Papiergeld.« Sie schenkte ihm nicht nur ihr zahnlückiges, sondern ihr schönstes selbstgefälliges Lächeln. »Richtiges Geld.« »Was?« Jetzt war Florian wie vor den Kopf geschlagen, genauso wie alle anderen auch. »Aber das ist ja fast soviel wie alles, was wir im Roten Wagen überhaupt eingenommen haben. Rebellen- und Yankeedollar zusammen.« Magpie Maggie Hag legte den Löffel, den sie in der Hand hatte, nieder, um zwischen ihren unzähligen Röcken und Unterröcken herumzutasten. Schließlich zog sie ein Stoffbeutelchen hervor, in dem es verheißungsvoll klingelte, und reichte es Florian hinauf. Jules Rouleau fragte: »Wie um alles in der Welt bist du daran gekommen, Mag?« »Frauen!« sagte sie und spuckte verächtlich aus. »Egal, ob Krieg, Elend oder das Jüngste Gericht – alle Frauen sind diebische Elstern. Einen Penny nach dem anderen legen sie heimlich als Notgroschen beiseite. Jede Frau versteht sich aufs Mausen genausogut wie eine Zigeunerin. Kann sein, sie gibt es nicht für Essen, Schuhe für Familie oder Tand für sich selbst aus. Aber sie legt Notgroschen zurück, um sich Träume deuten oder Hand lesen oder sich prophezeien zu lassen, was in -152-
Liebesdingen auf sie zukommt. Einen Mann, wenn sie keinen hat, oder einen neuen Mann, falls sie doch schon einen hat. Lehrt mich Frauen kennen! Jetzt kommt her. Essen fertig. Gutes Abendessen.« Es war in der Tat ein gutes Essen, das überdies höchst willkommen, um nicht zu sagen, unbedingt notwendig und längst überfällig war; die Kochstelle wurde zum Lagerfeuer, an dem herum man jetzt, wo der Nachmittag in den Abend überging, sitzen konnte, ohne zu frieren. Nur der Wilde Mann schlürfte und schlabberte und schlotzte seinen Anteil an der Mahlzeit ohne Sinn und Verstand in sich hinein und verzog sich dann. Die anderen würzten das Essen mit freundschaftlichem Geplauder in den verschiedenen Jargons der verschiedenen Circuskünste. Hannibal Tyree sagte zu Tim Trimm: »Wär’s für dich leichter, reinzukommen, wenn ich ‘ne Kaskade machte statt zu duschen?« »Das ist egal. Aber nächstesmal, wenn ich den Teller bumerange und die Gaffer verschreck’, sollten wir sie auslachen, damit sie entspannen. Das beste wär’, du gibst mir’n Tritt in die Wampe und kugelst mich.« Clover Lee sagte zu Ignatz Roozeboom: »Ich glaube, statt am Schluß den einfachen Abgang zu machen, sollte ich einen letzten Salto rückwärts twisten.« »Ja, gut. Aber du darfst beim Landen nicht schwanken, sonst sieht das unsicher aus. Ich würde lieber in einem Einarmer abgehen.« Edge lehnte sich zu ihr hinüber: »Ich erinnere mich, daß Sie Ihr Trikot ›Zweite Haut‹ nannten. Aber das Oberteil haben Sie mit einem ausländischen Namen benannt.« »Das ist ein Leotard. Aber warum das ärmellose Trikot so genannt wird, weiß ich nicht.« »Du solltest dich was schämen, Edith Coverley«, sagte -153-
Florian. »Der Mann, der es entwarf und ihm den Namen gab, ist der größte Trapezkünstler aller Zeiten. Jules Leotard.« Rouleau sagte: »Soweit ich weiß, sind in Frankreich alle möglichen Sachen ihm zu Ehren benannt worden – rissole à la Leotard, pàiste Leotard – genauso, wie es bei uns zum Beispiel die Jenny-Lind-Haube, die Jenny-Lind-Polka und so weiter gibt.« »Wie bezaubernd!« rief Clover Lee. »Wer weiß, vielleicht werde ich in Frankreich berühmt, und sie benennen irgendwas nach mir.« Edge wandte sich Magpie Maggie Hag zu, die eine weitere Pfanne Würste heiß machte und sagte: »Ma’am, hoffentlich gibt es hier in Lynchburg ausreichend Bindfaden. Sagen Sie eigentlich jeder Frau, daß man sich damit einen Mann einfängt – oder ihn gegebenenfalls los wird?« »Warum nicht, gadjo? Hast du jemals versucht, den Schatten eines Mannes mit einem Bindfaden abzumessen, ohne daß er es merkt? Es kann sehr lange dauern, ehe man es schafft. Lange genug jedenfalls, daß der Mann sich in irgendwen verlieben kann. Oder auch ins Gras beißen. Es braucht bloß seine Zeit, das mit dem Bindfaden stimmt immer.« »Hallo, Pferdesoldat«, sagte Tim Trimm. »Da Sie uns dauernd Fragen stell’n, möcht’ ich auch mal eine an Sie stell’n. Wie kommt es, daß Sie kein’ Bart tragen? Ihr Sergeant trägt zwar einen, aber das tut praktisch jeder andere Soldat auch. Glauben Sie, Sie hätten ’n zu hübsches Gesicht, um es hinter einem Bart zu verstecken?« Edge sagte ungerührt: »Ist das der Grund, warum du keinen trägst?« »Scheiß, nö. Circusleute tragen kein’ Bart, weil sie sich damit im Gerät oder sonstwas verfangen könn’. Das is’ gefährlich. Irgendwann wird der Walroßbart von unserm alten Ignatz sich mal im Gebiß des alten Löwen verheddern. Un’ dann is’ das -154-
Geschrei groß, was, Dutchman?« Roozeboom zuckte nur mit dem Schnauzer. Edge sagte zu ihm: »Falls Sie wirklich mal in Gefahr kommen, hoffentlich denkt dann nicht die ganze Truppe, das alles sei nur gespielt, wie jetzt mit dem falschen Blut.« »So was nennt man ›Schmiere‹ «, erklärte Tim. »Um dem ganzen noch was draufzusetzen. Zusätzlichen Glanz und Gloria.« Roozeboom gluckste in sich hinein. »Als ich noch ein Jong war und noch am Lernen, sagte mein alter Baas zu mir: Die Schwierigkeit besteht nicht darin zu pissen, sondern die Pisse schäumen zu lassen.« Sogar Edge mußte lachen und wandte sich wieder Tim zu. »Ich rasiere mich, damit Flöhe und Läuse sich nicht in meinen Barthaaren einnisten.« In der Erinnerung an Erlebtes fügte er noch hinzu: »Den ganzen Krieg über sind diese Leute mit den Daguerreotypie-Apparaten hinter uns hergewesen. Jedesmal, wenn ich eines von ihren Bildern sehe – zum Beispiel von einer Gruppe von Generälen mit Rauschebart beim Kriegsrat oder wo auch immer –, frage ich mich, wie um alles in der Welt diese Generäle es fertiggebracht haben, lange genug stillzusitzen, damit der Mann bei der langen Belichtungszeit seine Aufnahme machen konnte. Ich weiß verdammt gut, daß es sie juckte, sich zu kratzen.« Widerwillig sagte Tim: »Eins muß ich zugeben, Soldat. Sie haben ’n guten Schuß hingelegt, vorhin. Klappt das eigentlich jedesmal?« »Woher soll ich das wissen?« knurrte Edge. »Ich habe nicht viel Erfahrung damit, auf Zahnstocher zu schießen.« Nachdem er und Yount fertig gegessen hatten, machten sie es den anderen nach, das schmutzige Geschirr fortzubringen. Die hölzerne Waschbalge – die an diesem einen Tag bereits als Waschzuber für Menschen und verschwitzte Kostüme, als -155-
Sitzgelegenheit und als Podest für den Elefanten gedient hatte – stand wieder richtig herum und mit Flußwasser gefüllt da, und die Artisten spülten ihre Teller und Becher darin, ehe sie sie an Magpie Maggie Hag weiterreichten, damit diese sie gründlich mit Sand reinigte. Edge und Yount stopften sich die Pfeife, schlenderten müßig umher und saugten mit großem Genuß den Rauch in sich hinein. Yount blieb vor dem immer noch essenden Hannibal stehen und fragte ihn mit großem Ernst: »Junge, redest du eigentlich richtig Hindu mit deinem Elefanten?« Kichernd sagte Hannibal: »Himmel, no, Sir. ›Mile up‹ un’ ›tut‹ un’ all die andern Wörter, das is’ bloß Circusjargon mit Elefanten, un’ so red’ ich auch mit Peggy. Master Florian red’ den Gaffern zwar ein, es is’ Hindu, aber woher soll’n die das wissen? Die ha’m keine Ahnung nich’.« »Oh«, sagte Yount, »dann habe ich wohl auch keine Ahnung.« »Viel Ahnung haben wir in der Beziehung alle nicht«, sagte Florian, der das zufällig mit angehört hatte. »Ich weiß nicht einmal, ob es sowas wie eine Hindusprache überhaupt gibt.« »Das überrascht mich«, sagte Edge. »In der kurzen Zeit, seit wir uns kennen, habe ich Sie mindestens in drei weiteren Sprachen reden hören. Wieviele sprechen Sie denn wirklich?« Florian dachte nach und sagte: »Fließend nur Französisch, Deutsch und amerikanisches Umgangsenglisch. Einigermaßen, so daß ich damit durchkomme: Holländisch, Dänisch, Italienisch, Ungarisch und Russisch. Das macht wieviele? Acht. Neun, wenn Sie das bißchen Latein dazurechnen, das ich auf dem Gymnasium gelernt habe. Und zehn, wenn Sie den Circusjargon mitzählen.« »Gott du allmächtiger!« rief Yount aus. »Warum machen Sie sich nicht einfach frei von dem ganzen Haufen hier und lassen sich von den Leuten bezahlen, Sie selbst zu bewundern?« -156-
»Wo haben Sie die denn alle gelernt?« wollte Edge wissen. »Zum Teil durch den Zufall der Geburt. Ich stamme aus dem Elsaß, und das liegt in der Mitte Europas. Kennen Sie das?« »Ich weiß ungefähr, wo es liegt.« »Westlich davon liegt das französische Lothringen. Östlich davon das Herzogtum Baden, wo deutsch gesprochen wird. Franzosen und Deutsche schlagen sich ständig um den Besitz des Elsaß, deshalb wachsen wir Elsässer zweisprachig auf und sprechen deutsch wie französisch. Da ich französisch konnte, fiel es mir relativ leicht, italienisch zu lernen. Und da ich deutsch konnte, fiel mir das Holländische einfach so zu. Was die anderen Sprachen betrifft, so war ich mal mit einer Dänin verheiratet, später mit einer Ungarin und noch später mit einer Russin. Wenn es eine bessere Methode gibt, eine Sprache zu lernen, als Bettgeflüster, dann ist es das gegenseitige Sichverfluchen.« Yount meinte brummelnd: »Mein Gott, wer hätte das gedacht.« »Kann man wohl sagen. Da wir aber gerade bei Europa sind – hat es Ihnen Spaß gemacht, einen britischen Grenadier zu spielen, Zachary?« »Naja, ich war entschlossen, das Thema mit keinem Wort zu erwähnen, weil ich Angst hatte, ich würde anfangen zu fluchen, aber wo Sie es schon anschneiden ... Zunächst einmal schießen Grenadiere nicht mit Revolvern. Die werfen Handgranaten.« »Ach, wirklich? Ja, selbstverständlich. Da hatte ich mal wieder keine Ahnung. Ich dachte, es handelte sich um eine Elitetruppe. Jedenfalls habe ich redlich versucht, Ihnen zu Ruhm und Ehre zu verhelfen.« »Mir wäre es lieber, Sie würden es nicht noch einmal versuchen. Da Sie mir nicht im voraus Bescheid gesagt hatten – ob Sie nicht doch lebensmüde wären –, war ich mir nicht sicher, ob ich Ihnen den Gefallen tun sollte, Sie zu erschießen oder -157-
nicht.« »Kommen Sie, kommen Sie. Ich war fest überzeugt von Ihrem Können als Präzisionsschütze. Wollen Sie etwa behaupten, ich wäre in Gefahr gewesen?« »In nicht geringer sogar. Es ist verdammt viel einfacher, einen Menschen zu erschießen, als mit Absicht danebenzuschießen. Selbst wenn ich als Pistolenschütze Weltmeister wäre, meine erste Kugel könnte so schlecht gegossen sein oder so schlecht im Lauf sitzen, daß sie seitlich abprallen und als Querschläger durch die Gegend segeln würde. Das wäre nun nicht weiter schlimm, wenn es darum ginge, einen Menschen zu treffen; schließlich habe ich ja noch weitere fünf Schuß in der Trommel. Aber wenn ich mit Bedacht nach links ziele, wo Sie die Fackel hielten, und diese eine Kugel zufällig ein Rechtsabweicher gewesen wäre ...« »Grundgütiger Himmel!« sagte Florian leise und betrachtete Edges Revolvertasche mit neuem Respekt. »Aber schließlich hat sie es nicht getan. Und Sie haben nicht daneben geschossen. Sie haben die Flamme getroffen.« »Das brauchte ich nicht. Jeder Windhauch hätte sie ausblasen können, und mehr als Wind habe ich nicht geschossen – es war nichts weiter als ein Windstoß. Während Sie diesen Wundercolonel mit den hochtrabenden Namen ansagten, hat Obie die Kugel aus der Patrone gepolkt.« »Aber – aber es gibt doch Leute, die von Beruf Kunstschütze sind. Mit einer zuverlässigen Waffe ...« »Ach, auf meinen Revolver kann ich mich durchaus verlassen. Es ist eine Remington 1858, Kaliber 4.4 und hat sechs Schuß in der Trommel. Eine bessere Handfeuerwaffe gibt es nicht. Wovon ich spreche, das ist die Munition. Wäre ich ein Scharfschütze, würde ich mir vorher verdammt genau ansehen, womit ich schieße. Das heißt, falls man mich im voraus davon informierte, daß ich irgendwelche Trickschießerei veranstalten -158-
soll.« »Ja, ja. Verstehe, was Sie meinen. War leichtsinnig von mir ... unüberlegt ...« Um sich dem sardonischen Blick von Edge nicht weiter auszusetzen, zeigte Florian nochmals auf den Revolver und fragte: »Gehört der zur Standardbewaffnung?« »Für die Yankees, ja«, sagte Yount verächtlich. »Unsere Art, uns zu bewaffnen, war ja, zu nehmen, was wir kriegen konnten.« »Und das haben Sie getan.« »Mehr als nur einmal«, erklärte Edge trocken. »Der erste Revolver, den ich einem Yank abnahm, war ein Colt 4.4. Aber der hat keine Klammer über der Trommel, deshalb leiert sie nach einiger Zeit leicht aus. Deshalb hab’ ich es beim nächstenmal auf einen Yankee abgesehen, der diese hier hatte.« »Ich würde meinen, jede 4.4 würde ausreichen, einen Menschen zu töten. Aber für mich war es unübersehbar, daß der Karabiner, den Sie am Sattel tragen, eine Bohrung aufweist wie eine kleine Kanone.« »Der hat Kaliber 5.8 und dient dazu, ein im Angriff vorpreschendes Pferd zu fällen.« »Ah ja, natürlich. Auch ein Geschenk von den Yankees?« »Nein, der Karabiner ist reines Südstaatenerzeugnis. Der stammt von den Coole Brothers unten in New Orleans. Auch eine vorzüglich gearbeitete Waffe.« Daß er sich über sein Spezialgebiet auslassen konnte, schien Edges Zorn etwas besänftigt zu haben. Deshalb wagte Florian es jetzt zu fragen: »Ich sehe ein, ich habe Ihnen übel mitgespielt, Zachary; aber das Publikum war von Ihrer improvisierten Leistung durchaus begeistert. Außerdem haben Sie sehr überlegen mitgespielt. Nehmen Sie mir das jetzt wirklich krumm?« Edge machte ein säuerliches Gesicht, warf einen Blick zum -159-
Chapiteau hinüber und sagte schließlich: »Ach, was soll’s. Allzu schwer ist es mir wohl nicht gefallen.« »Gott sei Dank!« sagte Florian und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Gleichwohl drängte er nicht weiter. »Sagen Sie, welches ist die nächste einigermaßen große Stadt?« »Die gibt es einfach nicht«, antwortete Yount an Edges Stelle. »Jedenfalls keine so große wie Lynchburg, und nicht in dieser Ecke von Virginia. Lynchburg ist immerhin die drittgrößte Stadt im Staat; und die beiden anderen großen Städte liegen weit im Osten, wo sich Hase und Fuchs Gute Nacht sagen.« Edge sagte: »Wenn Sie die kürzeste Route nach Norden einschlagen wollen, die hier übers Vorgebirge führt, dann ist Charlottesville die nächste Stadt von einiger Größe. Oder Sie folgen den Tälern in nördlicher Richtung, dann ist die nächste Stadt Lexington; dorthin wollen Obie und ich. Aber das sind von hier über achtzig Kilometer und liegt westlich von hier, hinter den Blue Ridge Mountains.« »Das wären zwei Tagesreisen und ginge übers Gebirge«, sann Florian. »Wenn wir dorthin führen, wo ihr hinwollt, Freunde – könnten wir dann noch auf eure Pferde und eure Gesellschaft zählen?« Edge und Yount sahen sich an und sagten dann, sie hätten nichts dagegen. »Dann ist das der leichteren Route ohne eure Pferde vorzuziehen«, sagte Florian. »Wir werden mit euch nach Lexington fahren.« »Wir hatten aber vor, morgen weiterzureiten«, sagte Edge. »Gut, dann gleich morgen. Wir fangen sofort mit dem Abbau an.« »Sie wollen keine Spätvorstellung geben?« fragte Yount. »Soweit ich weiß, tun andere Circusse das.« »In großen Städten, und wenn wir ausreichende Beleuchtung -160-
haben, Obie, tun wir das auch. Aber niemals auf dem flachen Lande. Da gehen die Leute mit den Hühnern schlafen und müssen mit dem ersten Hahnenschrei aus den Federn. Mag Lynchburg auch ganz schön groß sein, es liegt immer noch auf dem flachen Lande, und die meisten, die hier leben, sind Farmer. Außerdem glaube ich, wir haben aus der Stadt herausgeholt, was zu holen ist.« »Da sollte ich Sie wohl besser warnen«, sagte Edge. »Lexington ist nur eine kleine College-Stadt und vor noch nicht einem Jahr von General Hunters Yankees ausgeplündert worden. Für Sie wäre da vermutlich nur wenig zu holen.« »Eine Stadt mit einem College? Dort wollen Sie sich vermutlich als Lehrer niederlassen, stimmt’s? Wahrscheinlich beherbergt Lexington Ihre Militärakademie.« »Hat beherbergt. Aber nicht nur das Virginia Military Institute, sondern auch das Washington College. David Hunter hat beide Institute geplündert. Der Rest der Stadt lebt davon, Professoren, Kadetten und Studenten zu ernähren und unterzubringen. Und Erstere gibt es vermutlich nicht mehr; kann also sein, daß die ganze Stadt verlassen ist. Kann sogar sein, daß es töricht von mir ist, dorthin zu wollen; aber ich bin nur für mich allein verantwortlich, und es hängt nicht eine ganze Korona von mir ab. Das ist bei Ihnen anders.« »Ja, schon, aber der Mensch braucht ein Ziel, und wenn es noch so illusorisch oder ... was ist das?« Was sie unterbrach, war ein klirrender, singender Laut. Zuerst war es nur ein zusammenhangloses Sirren, doch dann hörte man so etwas wie den Versuch einer Melodie heraus. »Seht dort«, sagte Yount. »Der Kretin ist es. Er hat das kaputte Banjo gefunden, das Sie heute bekommen haben.« »Nicht nur gefunden hat er es«, sagte Florian. »Er spielt auch darauf. Als ob er Banjospielen könnte.« Sie gingen dorthin, wo der Wilde Mann, den Rücken gegen -161-
ein Wagenrad gelehnt, auf dem Boden saß. Ohne auch nur eine Note auszulassen, sah er zu ihnen auf und grinste sie an, wobei seine Zunge zwischen den Zähnen hervorschaute. »Hört zu!« sagte Florian. »Man kann sogar heraushören, was er spielt!« »Uhhu. ›Lorena‹, sagte Yount. »Und gar nicht mal so schlecht, wenn man bedenkt, daß er nur die Hälfte der Saiten hat. Zum Glück ist eins davon die Daumensaite.« Florian kniete nieder, ließ die Hände des Wilden Mannes vorübergehend innehalten, nickte ihm dann aufmunternd zu und pfiff ihm die ersten Takte von ›Dixie Land‹ vor. Der Schwachsinnige lauschte, verzog das Gesicht zu einem noch breiteren Grinsen und zupfte und riß die entsprechenden Töne an. »Ach, zum Teufel«, sagte Yount. »›Lorena‹ und ›Dixie‹ kennt doch der letzte Nigger.« Wieder gebot Florian den Händen des jungen Mannes Einhalt und pfiff eine Melodie, die weder Edge noch Yount benennen konnte. Wieder lauschte der Wilde Mann aufmerksam, um gleich darauf dieselbe Melodie nachzuspielen. Mit einem Ausdruck von Triumph und ehrfürchtigem Staunen richtete Florian sich auf. »Das kennen nur wenige Neger. ›Partant pour la Syrie‹.« »Was?« sagte Yount. »Die französische Hymne. Nun ... Gehört habe ich von solchen Phänomenen zwar schon, meine Herren, aber er ist der erste, dem ich begegnet bin. Ein Idiot savant.« »Und was ist das?« »Was Sie hier vor sich sehen. Und dem Sie lauschen.« Der Wilde Mann spielte diesen Teil der Hymne wieder und immer wieder. »Ein Idiot, bar jeden Intellekts und jeder Fähigkeit – bis auf ein Gebiet, auf dem er unerklärlicherweise alle anderen -162-
übertrifft –, ohne, daß ihm das jemals jemand beigebracht hätte, und vermutlich ohne die geringste Ahnung, was er eigentlich tut. Manchmal ist es die Mathematik – ein Idiot savant kann addieren und Berechnungen durchführen, die eine ganze Buchhaltung zur Verzweiflung brächten. Und bei diesem hier ist es die Musik.« Florian lüpfte den Hut, um sich zu kratzen. »Beim heiligen Hades, ich habe das immer für Humbug gehalten, dabei würde ich schwören, daß die Wissenschaftler diesen hier mit Wonne in die Finger kriegen würden. Wir könnten einen beträchtlichen Preis für ihn erz...« »Nun, was die Wissenschaftler betrifft, so weiß ich nicht recht«, sagte Yount nachdenklich. »Aber in Lexington gibt es Colleges und Professoren ...« Florian straffte sich und schnippte mit den Fingern. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Obie! Einfach so! Wir haben nicht nur ein Ziel, sondern jetzt auch noch einen Grund, um dorthin zu gehen. Zachary, Ihr VMI darf das erste Gebot auf diesen Jungen abgeben.« »Jesus! Da kehre ich zu meiner Alma mater zurück und biete einen Idioten zum Kauf an. Mr. Florian, Sie haben’s wirklich darauf abgesehen, mich zu quälen, ja?« Doch Florian hörte gar nicht zu; er ging mit großen Schritten davon, stieß auf seiner neuen Trillerpfeife ohrenzerreißende Pfiffe aus und rief verschiedene Namen: »Hotspur! Abdullah! Roulette! Alle her zu mir zum Zeltabbau! Morgen in aller Herrgottsfrühe brechen wir von hier auf.« »Da sollte ich wohl besser mit anpacken«, sagte Yount. »Wie steht’s mit dir, Zack?« »Ach, zum Teufel! Natürlich auch ich!« Der Zeltabbau vollzog sich ziemlich so wie der Aufbau, nur in genau umgekehrter Reihenfolge und wesentlich schneller, obwohl es fast schon dunkel war. Magpie Maggie Hag, Sarah und Clover Lee holten Laternen aus den Wagen, zündeten sie -163-
an, betraten das Chapiteau und leuchteten den Männern bei ihrer Arbeit. Als erstes wurde das Gradin abgebaut. Die locker auf die Treppenwangen gelegten Bankbretter abzunehmen, ging schneller, als sie hinzulegen; ebenso ging es rascher, die Stützen mit den Gabelungen und die Pflöcke vorn herauszunehmen. Edge fand dieses Unternehmen interessanter als die Arbeit bei Tageslicht, und das einfach deshalb, weil Mensch wie Gerät und Material im Dämmerlicht größer und beeindruckender wirkten als bei Tageslicht. Die von den Frauen in die Höhe gehaltenen Laternen warfen die Schatten von Menschen und Dingen an das Zeltdach hoch oben und verliehen ihnen mit den schnellen und geübten Bewegungen, die sie machten, etwas Geheimnisvolles. Als das letzte Stück Holz hinausgezogen und im Requisitenwagen verstaut war, verließen Frauen wie Männer das Chapiteau, um draußen zu arbeiten. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch das Lampenlicht verlieh allem ein noch gespenstischeres Aussehen, als das Mondlicht es getan hätte. Die Nachtkälte ließ leichten Nebeldunst vom Boden aufsteigen, so daß die Laternen keinen klaren Lichtstrahl ausschickten, sondern eine verschwommene, diesige Helligkeit verbreiteten wie im Traum – einen Schimmer, der wiederum durch die Schwärme von Nachtfaltern, die den Laternen überall hin aufblinkend folgten, etwas Märchenhaftes bekam. Außerdem vervielfältigten sie mit ihren zitternden kleinen Schatten die größeren, welche die schwankenden Laternen hin- und herschießen ließen. Jeder der Arbeitenden warf einen gewaltig langen und gedehnten Schatten, entweder auf das Dach des Chapiteaus, oder von den Füßen aus bis weit über den Boden des Festplatzes, wo das Schattendunkel von der Nachtschwärze verschluckt wurde. Und machte der Betreffende einen Schritt, zerschnitt der lange Schatten seiner Beine gewaltigen, ungreifbaren Scheren gleich den lampenerhellten Bewuchs am Boden. Wieder kletterte Tim eine der Rondellstangen hinauf, um von -164-
dort aus auf einer der Nahtstellen weiter den wogenden Hang des Chapiteaus hinaufzuhuschen, um die Seile zu lösen, mit denen er den Haltering an der Mastspitze festgezurrt hatte. Und wieder schlidderte er herunter und landete in den wartenden Armen Roozebooms. Hannibal hatte seinem Elefanten inzwischen wieder das Lederkollar umgelegt und führte Peggy um die Absegelungen des großen Zeltes herum; Clover Lee folgte den beiden mit einer Laterne. An jedem Anker blieben sie stehen, Hannibal streifte die Schlaufe des Seils, das an Peggys Kollar festgemacht war, über den Anker, der Elefant lehnte sich nur zurück, und der Anker – den drei kräftige Männer mit dem Vorschlaghammer fast einen Meter tief ins Erdreich getrieben hatten – rutschte heraus, als käme er nur aus dem Wasser an die Oberfläche. Dann ging es weiter zum nächsten. Florian hob einen der Anker auf und unterzog seine Spitze, das armdicke Mittelstück und das vom Vorschlaghammer plattgeschlagene oder gar gespaltene Ende einer genauen Untersuchung. »Ach, sie werden’s wohl noch eine Weile machen«, sagte er wie im Selbstgespräch. Doch Yount arbeitete in der Nähe und warf ihm einen fragenden Blick zu. Florian erklärte: »Im allgemeinen schneiden wir jedes Jahr neue Anker – und zwar im Winterquartier; anderthalb Meter müssen sie lang sein. Aber gegen Ende der Saison sind sie durch den häufigen Aufund Abbau dermaßen mitgenommen, daß sie nur noch nutzlose Stummel sind. In Wilmington waren keine neuen zu haben, doch dort spielte das auch weiter keine Rolle, weil wir ja nicht umzogen. Aber jetzt, sehen Sie, sind die meisten höchstens noch einen Meter zwanzig lang, und ich muß sehen, bald einen guten Hain mit vielen Jungbäumen zu finden, wo wir neue schlagen können.« Yount nickte verständnisvoll und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Er half Roozeboom und Rouleau, die Rundleinwand abzuhaken, die einzelnen Teilstücke zusammenzurollen und im -165-
Zeltwagen zu verstauen. Edge half Tim Trimm, die Absegelungen von den herausgezogenen Ankern zu befreien, die Schlaufenenden von den Spornen der Rondellstangen herunterzunehmen und die Seile dann säuberlich aufzuschießen. Während sie von einer Absegelung zur anderen gingen, versetzte Tim den Rondellstangen einen Tritt, so daß sie unter dem Überstand des Chapiteau herausfielen; sechs von ihnen ließ er jedoch aufrecht stehen. Als Elefant und Zeltarbeiter das Chapiteau einmal umrundet hatten, hing es nur noch vom hohen Mast und den wenigen Rondellstangen, die stehengeblieben waren, schlaff herunter. Hannibal lief im Dunkeln darunter durch und kam mit einem einzelnen Seil wieder zum Vorschein. Dieses in der Hand, sah er Florian aufmerksam an. »Alle draußen?« rief Florian. Dann steckte er die Trillerpfeife in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Hannibal riß an seinem Seilende, irgendwo löste sich ein entscheidender Knoten oder Block, denn der Haltering rauschte die ganze Länge des Mastes herunter und das Chapiteau fiel endgültig in sich zusammen. Alle, die um das Zelt herum standen, spürten den Wind, der darunter hervorkam und wurden besprüht mit Staub, Kies, kleinen Krautteilchen, Stroh und Papier und anderem Abfall, den die Zuschauer zurückgelassen hatten. Die gewaltige Leinwand bauschte sich weiterhin und wogte, und die Ränder sanken, nachdem die eingeschlossene Luft entwichen war, still zu Boden. Edge und Yount folgten den anderen, als sie auf die Zeltleinwand hinaufliefen, wobei sie achtgaben, nur die Nähte zu betreten, mit denen die verschiedenen Teile zusammengefügt waren, und traten die letzten Lufttaschen aus. Rasch lösten sie die Seile, wo die Tortenstücke des Zeltdaches am Haltering zusammenliefen, und schnürten die Seilverbindungen von dort bis zum äußeren Rand auf. Dabei machten sie sich nicht erst die Mühe, die Seile einzeln aus sämtlichen Metallösen -166-
herauszuziehen, die sie gestern so sorgsam zusammengezurrt hatten, sondern zogen einfach daran, woraufhin das Seil aus mehreren Ösen zugleich auslief. »Nur nicht zu schnell ziehen«, warnte Rouleau Edge. »Bei trockenem Wetter kann die Reibungshitze so ein Seil in Brand setzen. Oder die gesamte Leinwand.« Nachdem die Leinwandbahnen voneinander gelöst waren, rollten die Männer sie zu dicken Bündeln zusammen und verschnürten sie mit den Seilen, die sie gerade herausgezogen hatten. Jetzt blieb nur noch der Mast in der Mitte stehen und schwankte gefährlich hin und her, denn gehalten wurde er nur noch von dem mächtigen Sporn im Schuh an der Basis. Wieder brachte Hannibal Peggy herbei und verknotete ihr Kollar mit einem Seil, die Männer packten ein anderes und – auf Florians Pfiff und seinen Ruf: »Runterlassen!« zogen sie daran (»Heeby!«), um den Mast dazu zu bringen, sich umzulegen. Auf der anderen Seite nahm Peggy das Gewicht auf, stemmte sich (»Weeby!«) gegen den Druck und ließ den Mast sanft zu Boden gleiten, wobei der Schuh sich mit auf die Seite legte. Als es geschafft war (»Shaggid!«), lief Roozeboom hinzu, um den Schuhsporn aus dem ausgehöhlten Teil des Mastes herauszuziehen. Rouleau nahm rasch (»Taggid!«) sämtliche Blöcke und Seile ab und schoß sie auf. Dann (»Braggid!«) zogen alle Männer mit vereinten Kräften die verschiedenen Teile des Mastes aus den sie umfassenden Manschetten heraus. Als sämtliche Zeltbahnbündel, Mastsektionen, Blöcke und Seile (»Maggie MOO-long!«) im Zeltwagen verstaut waren, blieb vom ganzen Chapiteau nichts übrig als der ringförmig aufgehäufte Erdwall, der die Manege umgrenzt hatte. Das Holz in der Kochstelle gloste nur noch, doch reichte Magpie Maggie Hag das aus, um die Kanne mit dem KaffeeErsatz aus Erdnüssen aufzuwärmen und jedem einen Becher einzuschenken. Sie sowie einige von den Männern setzten ihre Pfeife in Brand und ließen einen der Whiskeykrüge -167-
herumgehen. Peggy erhielt wieder einen Brocken Kautabak. Als Florian dann nochmals auf der Trillerpfeife pfiff, zuckten alle zusammen. »Verflucht noch mal!« sagte jemand. »Hätt’st du das Ding doch bloß nie gekriegt!« »Ich hab’ doch nur den Zapfenstreich geblasen!« sagte Florian. »Morgen geht’s früh los!« Er, Trimm, Roozeboom und Rouleau kletterten im Requisitenwagen in ihre Koje. Edge entrollte seine dünne alte Schlafmatte und breitete Wolldecken unter dem Wagen aus – genauso machten es Yount, der Neger und der Wilde Mann –, als ihm eine Laterne über die Schulter schien und Solitaires Stimme an seinem Ohr leise den etwas umgedichteten Text jenes Liedes sang, den er zuvor gehört hatte: Als du im Circus saßst und sie erblicktest, Wußtest du, daß du es warst, dem ihr Lächeln galt.
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7 Obwohl die Kutsche am nächsten Morgen schon sehr früh vom Festplatz herunterrollte und die anderen Wagen ihr folgten, spielten bereits ein paar Kinder ›Circus‹ in der verlassenen Manege und auf dem plattgedrückten Rund, auf dem das FLORILEGIUM sein Zelt aufgeschlagen hatte. Hannibal und der Elefant bildeten wieder die Nachhut der kleinen Karawane, und der Neger lief immer wieder über die Straße, um so viele der dort angeklebten Circusplakate abzulösen wie möglich. Schließlich konnte man sie später wieder verwenden. Ohne irgendwelche Schwierigkeiten brachte der Circus seine Tagesstrecke hinter sich. Als die Bergfalten sich mit Zwielicht füllten und vom Fluß frösteln machender Dunst aufstieg, schlug Florian Edge vor, irgendwo zu halten; es sei ja Platz zum Lagern genug und ausreichend Holz und Wasser vorhanden. Edge jedoch meinte, sie sollten noch weiterfahren, und es dauerte nicht lange, bis klar wurde, was er damit beabsichtigte. Denn sie verließen die Blue Ridge Mountains und fuhren in ein grünes und freundliches Tal hinein, wo die Sonne erst jetzt im Begriff war, hinter einer zweiten Bergkette weiter im Westen unterzugehen und die Luft immer noch warm und golden war. »Das Tal von Virginia«, erklärte Edge, als die Wagen auf eine Wiese am Flußufer rollten. »Weiter südlich ist es das Tal des Roanoke-Flusses, und im Norden das Tal des Shenandoah.« »Wirklich ein hübscher Flecken Erde«, sagte Florian. »Das haben früher auch schon die Indianer gedacht, die Catawbas, Onondegas und Shawnees – als Jäger alle Rivalen und im allgemeinen auf Kriegsfuß miteinander. Dennoch schlossen sie ein Abkommen. Sie waren übereinstimmend der Meinung, dies Tal wäre so überwältigend schön, so voll von Wild und anderen guten Dingen, daß sie hier zwar alle auf die Jagd gehen, sich aber niemals gegenseitig bekämpfen wollten.« -169-
Betont nüchtern setzte er noch hinzu: »Die Weißen sind weniger vernünftig gewesen.« »Sie haben hier gekämpft?« »Nicht direkt hier, aber weiter unten im Tal mehrere Male. Ganz bis runter nach Gettysburg einmal, das in Pennsylvania liegt. Aber ich habe schon lange vorher hier gelebt. Das hier ist Rockbridge County. Ein paar Kilometer weiter bin ich geboren.« »Was Sie nicht sagen! Wie heißt denn Ihre Heimatstadt?« »Es ist keine Stadt, sondern nur ein Stück Schwemmland, das einfach Hart’s Bottom hieß. Das Haus gibt es schon lange nicht mehr, und meine Eltern sind längst tot. Aber bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr etwa habe ich hier in Rockbridge gelebt. Und in den Jordan-Hochöfen und Walzwerken gearbeitet. Wenn wir den North River da drüben entlangfahren, werden Sie sie sehen. Früher gingen die Kähne mit der Kohle und dem Erz unentwegt auf und ab.« Während die Frauen Holz sammelten und ein Feuer entzündeten, warf Roozeboom Maximus noch einen Brocken vom Eselsfleisch vor, ging dann einen Wagen nach dem anderen ab und untersuchte die Hufeisen der Pferde, ehe die Männer diese ausspannten und frei grasen und saufen ließen. Als die Circusleute sich endlich zu ihrer eigenen Mahlzeit niederließen, war es längst dunkel geworden. Aber es war eine balsamische Nacht mit einem klar bestirnten Himmel. Auch das Essen konnte sich wieder sehen lassen: gebackener Fisch, Maisbrot, Steckrüben und Bohnen und dazu süßsauer eingelegte Melone. Der Ersatzkaffee ging zu Ende, weshalb Magpie Maggie Hag beschloß, den Rest fürs Frühstück morgen aufzuheben. Irgendwo auf der Weide fand sie ein minzartiges Kraut, das die Leute hier Oswege-Tee nannten, und brühte davon eine Kanne auf. Nach dem Abendessen setzten die Männer die Pfeifen in Brand und ließen einen der Whiskeykrüge die Runde machen. -170-
Florian setzte sich zu Edge und Yount und sagte nach einem Seufzer des Wohlbehagens: »Das muß man Ihnen lassen, Sir – Zachary: Sie haben sich ein schönes Tal ausgesucht, um auf die Welt zu kommen.« Yount knurrte: »Das werden Sie längst nicht mehr so schön finden, sobald Sie weiter nach Norden kommen. Als wir es das letztemal sahen, war das ganze verdammte Tal von Staunton bis an die Staatsgrenze völlig verwüstet – und das war erst vorigen Herbst.« »Große Schlacht da oben?« »Eine große und viele kleine. Aber schlimmer noch waren die Brände, als der Teufel und sein Stellvertreter fanden, sie müßten das Shenandoah-Tal zur Hölle machen.« Florian legte den Kopf auf die Seite und sagte: »Sie sprechen gern in Rätseln, nicht wahr? Ich weiß zwar, daß Ulysses Grant den Spitznamen ›Teufel‹ weg hat. Doch daß er jemals seinen Fuß nach West-Virginia gesetzt haben soll, ist mir neu.« »Hat er auch nicht«, sagte Yount. »Er hat Little Phil hergeschickt.« »Sie meinen Sheridan?« Edge sagte: »Das Shenandoah-Tal war sozusagen das Nachschubgebiet oder die Kornkammer unserer Armee. Korn, Holz, Gemüse, Rindvieh, Schafe und Pferde. Grant schickte Phil Sheridan her, das alles kurz und klein zu schlagen, bis hier kein Grashalm mehr wuchs und kein Stein mehr auf dem anderen stand. Wir haben sogar eine Durchschrift seines ursprünglichen Befehls gesehen. Darin hieß es sinngemäß etwa: ›Lassen Sie das Tal so unfruchtbar zurück, daß selbst die Krähen, die drüber hinfliegen, nichts zu fressen finden.‹ Und daran hat Sheridan sich gehalten. Deshalb heißt er hier in dieser Gegend nicht gerade liebevoll ›Stellvertreter des Teufels‹.« Yount fügte noch hinzu: »Aber er hat sich nicht nur -171-
sämtlicher Vorräte und all des Viehs bemächtigt. Er setzte Weideflächen und Wälder, Farmhäuser und Scheunen und Mühlen in Brand. Ließ die Zivilisten ohne Dach überm Kopf, ohne Nahrung und ohne etwas anzuziehen zurück alte Leute, Frauen und Kinder – und das kurz vor Einsetzen des Winters. Das war alles andere als soldatisch.« »Dann wart ihr beiden also bei denen, die versuchten, Sheridan aufzuhalten?« »Versucht haben wir’s«, sagte Edge. »Lee schickte jeden Mann her, den er entbehren konnte. Aber die Yankees waren uns um das Doppelte überlegen. Und waren überdies auch noch mit dem neuen Henry-Repetiergewehr ausgerüstet. Obie und ich dienten damals beim fünfunddreißigsten Virginischen Kavallerieregiment.« »Schlimm, schlimm!« sagte Florian, um sie davon abzuhalten, noch mehr von ihrem Unglück zu erzählen. Dann meinte er: »Was geht da eigentlich vor?« erhob sich ein wenig unsicher und fragte: »Stimmt was nicht mit Maggie Hag?« Die Zigeunerin war verschwunden, und nur Sarah und Clover Lee räumten nach dem Essen auf. Sarah sagte: »Richtig, irgendwas hat sie. Aber ich glaube nicht, daß sie krank ist. Sie hat nur plötzlich gemurmelt, irgendwas passiere irgendwo, und sie müsse die Geister befragen.« »Mein Gott!« sagte Florian. »Hat sie etwa gesagt, was passieren könnte?« »Das nicht – aber daß sie die Geister befragt, dafür leg’ ich meine Hand ins Feuer. Man kann sie ja von hier aus fast riechen. Sie hat nämlich einen von deinen Krügen mit in den Wagen genommen.« Hilflos schlug Florian die Hände zusammen. Da Edge und Yount immer noch im Besitz eines Kruges waren, setzte er sich wieder zu ihnen und erklärte: »Mag hat nämlich diese Anfälle -172-
sehr häufig.« Yount fragte: »Hat sie wirklich das zweite Gesicht? Hat sie jemals irgendwas von Belang vorausgesagt?« »Das ist schwer zu sagen. Manchmal schlägt sie vor, wir sollten eine andere Straße einschlagen als die, auf der wir uns gerade befinden. Und dann tun wir ihr immer den Gefallen, weshalb wir natürlich nicht wissen, was uns auf der anderen Straße hätte zustoßen können.« Florian tat einen tiefen Schluck und wechselte das Thema. »Sagen Sie, Zachary. Wie kommt eigentlich ein Hillbilly, so ein Hinterwäldler aus den Bergen, der Sie doch zu sein behaupten, zu einer so guten Ausbildung, lernt Sprachen und wird ein ziemlich hoher Offizier, statt einfach ein Hillbilly-Klotz zu bleiben?« Edge dachte länger nach, ehe er antwortete: »Hauptsächlich Neugierde. Ich weiß noch, als Junge hat mein Papa mir immer das Lied vorgesungen, das folgendermaßen geht: ›Der Bär zog über den Berg, um zu sehen, was er sehen könnte ...‹ Das geht so an die zwanzig Minuten eintönig weiter, der Bär klettert die ganze Zeit über, und am Ende heißt es schließlich: ›Der Bär kam über den Berg rüber, doch alles was er sehen konnte ...‹« »›war die andere Seite der Berge‹«, fiel Florian ihm ins Wort. »Jawohl. Das kenne ich.« »Für die Leute, die hier lebten, war das die Bibel. Was hat es für einen Sinn, über den Berg zu ziehen, wenn es drüben nichts weiter gibt als die andere Seite der Berge? Und ich habe das nicht geglaubt. Deshalb war es vor allem die Neugier, die mich von hier fortgetrieben hat – und die Unzufriedenheit. Ich war nicht sonderlich scharf darauf, mein ganzes Leben in John Jordans Walzwerk zu schuften. Deshalb hab’ ich mich, als der Mexikanische Krieg ausbrach, freiwillig gemeldet. Zur Kavallerie, versteht sich.« »Und dort haben Zack und ich uns kennengelernt«, ergänzte Yount stolz. »Auf dem Ritt nach Mexiko.« -173-
»Genausowenig hatte ich allerdings vor, mein Leben als einfacher Soldat hinzubringen. Immerhin war ich offenbar so gut, daß ich unserem Colonel Chesnutt auffiel. Und als der Mexikanische Krieg zu Ende ging, war Jim Chesnutt so nett, alle Empfehlungsschreiben und Anträge für mich aufzusetzen, damit ich ins VMI kam – als Staatskadett, wie man das nennt und was soviel bedeutet wie freier Unterricht, Kost und Logis, Uniformen und Bücher – alles frei.« »Ich hingegen hab’ mich nur als einfacher Soldat durchgeschlagen«, sagte Yount. »Staatskadett zu sein, ist aber eine große Verpflichtung«, sagte Edge. »Nach dem Examen hat man die Wahl: entweder eine Bestallung als Second Lieutenant anzunehmen, oder aber in irgendeine Schule auf dem Lande einzutreten und zwei Jahre lang Lehrer zu spielen. Deshalb zog ich ’52 wieder die blaugelbe Kavallerieuniform an und wurde rausgeschickt in die Kansas Territories.« »Und da sind wir uns zum zweitenmal begegnet«, sagte Obie, »in Fort Leavenworth.« »Garnisonsdienst in Friedenszeiten?« sagte Florian. »Na, was Langweiligeres und Anstrengenderes kann ich mir kaum vorstellen.« »Aber nicht auf den Großen Ebenen, und nicht Anfang der Fünfzigerjahre, weiß Gott nicht!« sagte Yount. »Das war die Zeit, in der die Territories – also das Gebiet, das noch kein eigener Staat war – Bleeding Kansas genannt wurde. Da gab es all die Grenzauseinandersetzungen. Prosklaverei gegen Antisklaverei. Und jedesmal, wenn so eine Auseinandersetzung sich legte, konnten wir damit rechnen, daß irgendwelche Mormonen gegen Anstand und Sitte verstießen oder irgendwelche Indianer einen Einwandertreck überfielen, so daß wir hin mußten und dafür sorgten, daß es ihnen leid tat.« »Einer meiner Kameraden, auch ein Lieutenant, war ein -174-
gewisser Elijah White«, fuhr Edge fort. »Der nahm nach einiger Zeit seinen Abschied von der Army und ging als Gentlemanfarmer nach Virginia. Doch als der Unabhängigkeitskrieg ausbrach, stellte Lije seine eigene Ranger-Truppe für die Konföderierten auf. Das war ungefähr zur gleichen Zeit, da ich mein Nordstaaten-Offizierspatent und Obie seinen Gestellungsbefehl zurückgab; da haben wir uns Lije White angeschlossen. Als seine Berittenen als 35. KavallerieRegiment regulär in die Südstaaten-Army aufgenommen wurden, wurde ich zum Captain befördert und Obie wurde mein Spieß. Den Rest kennen Sie. Das ist die Geschichte meines Lebens. Alles nur eine Folge der Neugier – und der Unzufriedenheit.« Entschieden schüttelte Florian den Kopf. »Wenn ich mir überlege, wo Sie herkommen, haben Sie es weit gebracht, und ich würde wetten, daß Sie es immer noch weiter bringen werden. Aber Glück – das sind die Asse, die das Leben an einen austeilt. Alles, was Sie erreicht haben, Zachary haben Sie sich selbst erkämpft – oder Sie hatten den Schneid, es sich zu nehmen.« Mit unbewegtem Gesicht sagte Edge: »Es war keine altjüngferliche Bescheidenheit, die mich mein Licht unter den Scheffel stellen ließ. Himmel, es zu was bringen und sich deshalb selbst bewundern, das kann jeder. Herrlich, wie ich mich raufgearbeitet habe, vom unbekannten Hillbilly bis zum Gipfel des stellungslosen Soldaten, dessen mittlere Jahre gerade anfangen und der von den Brosamen lebt, die man ihm unterwegs zukommen läßt – und das mit der Aussicht, daß ein freier Neger sich in Mississippi jetzt tatsächlich um das Amt des Gouverneurs bewerben kann!« Doch dann ließ er den Sarkasmus fallen. »Nein, das mit dem Glück war schon ehrlich gemeint von mir. Und dankbar bin ich auch. Wieder ein Krieg, der aus und vorbei ist, und ich immer noch am Leben. Was will man mehr? Aber jetzt ist auch dieser Krug alle und ich bin -175-
müde. Gute Nacht, Gentlemen!« Die Etappe, die sie am nächsten Tag den North River entlang zurücklegten, war für den Circus noch weniger beschwerlich als die vom Vortag, denn die Straße über die sanft gewellten Hügel wies nur geringe Steigungen und Gefalle auf. Magpie Maggie Hag lag, den Whiskey-Krug immer noch dabei, in ihrer Koje; offenbar setzte ihr das, was sie die Nacht zuvor an Gesichten gehabt hatte, immer noch unheimlich zu. Der Schwachsinnige zupfte immer noch Banjo und spielte unentwegt die letzten beiden Lieder, die er gehört hatte, das heißt, er beglückte die Landschaft abwechselnd mit den Nationalhymnen von Dixieland und Frankreich. Das genügte, um den wenigen Reitern oder Wagen, denen sie auf der Straße begegneten, klarzumachen, wer ihnen da entgegenkam, doch Florian, der wie immer vorausfuhr, warnte noch zusätzlich und rief: »Passen Sie auf Ihre Pferde auf! Es kommt ein Elefant.« Einmal, als die Straße ein gutes Stück vom Fluß zurückwich, gleichsam als sei ihr daran gelegen, jeden Reisenden durch ein Tal zu führen, das mit weißen und gelben Krokussen und Narzissen bestanden und von blühenden und wohlduftenden Fliederbüschen gesäumt war, ließ Edge Florian gegenüber ganz beiläufig die Bemerkung fallen: »Das hier ist Hart’s Bottom, und da drüben bin ich geboren worden.« Er zeigte auf die zerfallenen Mauerreste eines Hauses oder vielleicht auch einer Scheune oder eines Stalles. Gleichwohl schien er keinerlei Lust zu haben zu verweilen, um über die Stätte seiner Kindheit nachzusinnen oder Zwiesprache zu halten mit irgendwelchen Gespenstern. Auf der Höhe des Nachmittags rollten die Wagen über eine Holzbrücke, die über einen kleineren Fluß führte, und mußten dann die einzige, etwas steiler ansteigende Straße dieses Tages zurücklegen. Von der Hügelkuppe aus hatten sie einen Blick über Wiesen und Wälder hinweg auf eine adrette kleine Stadt, die freilich noch ein paar Kilometer entfernt lag – saubere -176-
ziegelgebaute Geschäftshäuser, ansehnliche Wohnhäuser mit säulenbewehrtem Portikus davor sowie einige hochragende, scharf konturierte Kirchtürme. »Wir befinden uns auf dem höchsten Punkt des Water Trough Hill«, sagte Edge. »Unten – und das ist gut für die Pferde – gibt es denn auch den Wasser-Trog. Und das da drüben ist Lexington, und die gezackten schwarzen Dinger, die Sie da am Rand sehen können, sind die Mauern und Türme des Virginia Military Institute, oder vielmehr das, was davon übriggeblieben ist. Auf der anderen Seite der Stadt, hinter dem Friedhof, liegt der Platz für den Markt und Schausteller – wahrscheinlich die beste Stelle, um das Zelt darauf aufzuschlagen, falls man uns das erlaubt.« Sie fuhren den Hügel hinunter, und unten tranken Pferde und Elefant dankbar an dem Trog; dann ging es die lange Straße weiter bis zu einem Mühlendamm und über eine Brücke von frisch geschlagenem, noch nicht gestrichenen Holz. Diese brachte sie über den North River, an den Ruinen der MilitärAkademie vorüber. Als ob der Circus schon erwartet worden wäre, versammelten sich sämtliche Kinder der Stadt und umtanzten ihn, zogen der Kolonne voraus und warnten jeden Reiter vor dem Elefanten. Auch die Erwachsenen versammelten sich zu beiden Seiten der Hauptstraße, um dem Einzug der Circuskarawane beizuwohnen und diese Menschen waren nicht in die Alltags-Overalls und Kattun gekleidet. Die Männer trugen Hüte, Anzüge und sogar Krawatten, die Frauen dagegen Reifröcke und blumenbesetzte Schutenhüte – das meiste war zwar ziemlich altmodisch und bereits abgetragen, doch verriet die Kleidung unmißverständlich den Sonntagsstaat der Städter. Florian zog an den Zügeln und ließ Snowball halten und lüpfte seinen Hut vor einem so respektheischend beleibten und vollbärtigen Mann – wobei der Bart sogar nach Rasierwasser duftete –, daß er gar nichts anderes sein konnte als einer der Stadtväter. Höflich erkundigte Florian sich danach, ob morgen -177-
auf dem Festplatz eine Circusvorstellung genehm sei. »Morgen?!« rief der redliche Mann genauso entrüstet, als hätte Florian um die Erlaubnis gebeten, sich vor seinen Augen zu entkleiden und zu entblößen. »An einem Sonntag ist sowas niemals statthaft, Sir.« »Ach, Verzeihung«, sagte Florian, plötzlich nervös geworden. »Ich habe zwar das Datum verfolgt, doch nicht, welchen Wochentag wir haben. Wir würden im Traum nicht daran denken, den Sabbat zu entheiligen.« »Nicht nur den Sabbat, Sir. Ihr Kalender muß völlig durcheinander geraten sein. Morgen ist nämlich Ostersonntag!« Edge sagte: »Stimmt. Denn vor einer Woche war Palmsonntag, der Tag des Waffenstillstands. Am Montag haben wir die Waffen abgegeben. Mir kommt es vor, als ob das alles schon viel länger zurückliegt.« Der wohlanständig aussehende Herr fuhr fort: »Wir haben morgen wahrhaft Grund zum Jubeln – genauso wie heute auch schon. Nur feiern wir fromm und würdig, nicht mit Theaterdonner. Und in der Kirche, nicht in einem Circuszelt.« »Hmrrrr ... einen besonderen Grund zum Jubeln, sagen Sie?« erkundigte Florian sich. »Ist etwas geschehen, das die Auferstehung an Glanz noch übertrifft?« »Ja, wo sind Sie denn gewesen, Mann? Die freudige Nachricht muß doch überall in Virginia laut verkündet worden sein. Der Despot Abraham Lincoln ist tot.« »Was?« entfuhr es Florian ungläubig. »Der war doch jünger als ich.« »Er ist keines natürlichen Todes gestorben, Sir. Die Regierung in Washington wollte die Nachricht geheimhalten, aber die Telegraphenleitungen haben den ganzen Tag über gesummt. Gestern abend ist ein Attentat auf den Mann verübt worden, und heute morgen ist er seinen Verletzungen erlegen.« -178-
»Wir danken Ihnen, uns dies mitgeteilt zu haben. Ich zweifle nicht, daß jeder von uns morgen zum Dankgottesdienst in der Kirche erscheinen wird.« Inzwischen waren sie weitergefahren, und Florian wandte sich an Edge: »Sie haben gesagt, Sie wollten sich hier niederlassen. Sie machen aber keineswegs einen glücklichen Eindruck. Was haben Sie denn?« »Mich hier niederlassen? Wenn dieser pietistische Geier die Wahrheit gesprochen hat – wenn dieser Lincoln wirklich tot ist –, dann gibt es nirgendwo im Süden einen Ort, wo man sich mit Freuden niederlassen könnte.« Ungläubig fragte Florian: »Sie haben für Vater Abraham doch wohl keine persönliche Zuneigung gehegt, oder« »Nein. Aber sind Sie denn genauso verbohrt wie dieser alte Sabbergreis eben? Wenn Lincoln nicht mehr ist, können wir jede Hoffnung auf einen Frieden, der Haß keinen Raum läßt, fahren lassen. Insbesondere dann, wenn der Attentäter ein Südstaatler war. Das wäre für Stanton und Seward und all die anderen erbarmungslosen Leute in Washington ein Grund mehr, auf dem Süden herumzutrampeln und ihn auszuquetschen, wie sie es schon immer haben tun wollen. Und wenn dieser trinkfreudige Johnson Präsident ist, dann ist er nichts weiter als ihre Marionette. Lincoln hat von Wiederaufbau gesprochen. Jetzt hingegen müssen wir uns auf Rache, Vergeltung und Repressalien gefaßt machen.« »Nun, Sie sollten nicht verzweifeln, ehe wir Genaueres hören. Vielleicht sind alle Regierungsmitglieder in Washington tot.« »Ich werde mich umhören.« Ohne darauf zu warten, daß Florian anhielt, schwang er sich vom Kutschbock hinunter und sprang hinaus. Sarah und Clover Lee, die mit in der Kutsche saßen, sahen blaß und betroffen aus. Er wartete am Straßenrand, bis der Zeltwagen kam. Yount lenkte ihn. Edge ging ein Stück nebenher, um ihm die Nachricht hinaufzurufen, und dann sagte er noch: »Ich will mal sehen, ob ich nicht alte Bekannte -179-
aufstöbern kann. Um mehr in Erfahrung zu bringen.« Als Edge sich wieder meldete, war es längst dunkel geworden. Das Chapiteau war inzwischen aufgebaut worden und schimmerte anheimelnd von den Laternen innen, wo die Männer dabei waren, das Gradin aufzustellen. Florian kam heraus, sah Edge und eilte ihm entgegen, wobei er mit dem Daumen auf das Zelt wies. »Teilweise, um den Jungs was zu tun zu geben. Zum Teil aber auch, um unsere Ankunft in der Stadt bekanntzumachen. Denn ich möchte in einer solchen Situation nicht gerade Plakate kleben lassen. Kommen Sie, Zachary, essen Sie. Maggie ist auf und arbeitet wieder und hat Ihnen was vom Abendessen aufgehoben. Haben Sie irgendwas Neues erfahren?« »Ja«, erklärte Edge bedrückt. Sie traten ans Feuer, wo sich auch alle anderen um ihn scharten, um mit ernstem Gesicht zuzuhören. Magpie Maggie Hag reichte Edge einen Teller Bohnen mit Maisbrot, und er berichtete mit vollem Mund: »Ich habe jemand getroffen, den ich noch von früher kenne, den alten Colonel Smith, ehemals Verwaltungsdirektor des VMI. Ist es übrigens noch, obwohl es so gut wie nichts zu verwalten gibt. Er ist inzwischen zum General befördert worden, und ich vermute, er bekommt von den Scouts und Spitzeln, die immer noch Bericht erstatten, sämtliche telegraphischen Berichte zu lesen. Lincoln ist tot, daran ist nicht zu zweifeln; der’s getan hat, stammt aus Maryland. Allerdings scheinen noch eine Menge anderer darin verwickelt zu sein, alles ehemalige Soldaten der Konföderierten oder Sympathisanten.« »Also genau das, was du befürchtet hattest«, sagte Sarah. »Ja. Letztlich läuft es darauf hinaus, daß damit Robert E. Lees Ehrenwort gebrochen wurde. General Lee hat vor einer Woche die Waffen niedergelegt – kein weiteres Blutvergießen. Grant genauso – kein Blutvergießen mehr. Und dann – gottverdammt noch mal! – kommt einer von uns daher und schießt Lincoln -180-
feige in den Rücken. Ich wünschte, ich bekäme diesen Hund zwischen die Finger, dann gnade ihm Gott! Eines jedenfalls kann ich garantieren, er hat ›Süden‹ zu einem Schimpfwort gemacht – zu einem schlimmeren Schimpfwort, als es je zuvor gewesen ist. Und noch etwas kann ich euch garantieren – der gesamte Süden wird das zu büßen haben.« Florian sagte: »Ich nehme an, General Smith empfindet und denkt genauso wie Sie. Jedenfalls war er wohl nicht von Schadenfreude erfüllt wie der Kerl, dem wir auf der Straße begegnet sind.« »Francis Smith ist ein sehr vernünftiger Mann. Er hat sogar eine Flasche erstklassigen Monongahela-Whiskey aufgemacht – und normalerweise trinkt er überhaupt nicht –, damit wir anstoßen und dem Süden kondolieren könnten. Gottlob hat nicht jeder in Virginia die unselige Einstellung eines Bauerntrampels oder Saufkopps.« »Rooineks nenn’ wir bei uns zu Hause solche Trottel«, sagte Roozeboom. Und Clover Lee sagte: »Wollen Sie sich denn noch immer hier niederlassen, Mr. Zachary?« »Nein, Miß«, sagte Edge und stieß einen Stoßseufzer aus. »Zwar habe ich General Smith andeutungsweise gesagt, man könnte mich überreden, wieder fürs VMI zu arbeiten, aber auf dem Ohr hat er sich taub gezeigt.« Er ließ den Blick in der Runde der Circusleute schweifen. »Wißt ihr, was er mir gesagt hat? Er sagte, das hier gehört nicht mal mehr zum Commonwealth of Virginia. Von jetzt an ist es offiziell nichts weiter als der Federal Military District Number One, es wird von einem von Washington ernannten Gouverneur regiert und wahrscheinlich unter Kriegsrecht gestellt werden.« »Ca va chier dur!« ließ Rouleau sich vernehmen. »Da sollten wir sehen, daß wir so schnell wie möglich in den Norden kommen, bevor wir hier in der Falle sitzen.« -181-
Yount sagte: »Aber Zack, es kann dir doch niemand in den Unterricht reinreden – und unterrichten möchtest du doch gern.« Edge stieß ein trockenes Lachen aus. »Das Institute als solches mag wohl überleben, aber es wird verdammt lange dauern, bevor es sich wieder Militärakademie wird nennen dürfen oder die Studenten Kadetten – oder sie Strategie lernen oder auch nur wieder Uniform tragen dürfen. Nein. General Smith und die anderen Kollegen werden es schwer genug haben, selbst klarzukommen. Die brauchen keinen Klotz am Bein wie mich.« Und sardonisch setzte er, zu Florian gewandt, noch hinzu: »Und Ihren Idiot savant werden sie auch nicht brauchen.« »Aber was werden Sie dann tun, Zachary?« »Nun, General Smith hat gesagt, viele ehemalige Südstaatenoffiziere gehen nach Mexiko, um für oder gegen Maximilian zu kämpfen. Kommt darauf an, von welcher Seite sie gerade gebraucht werden. Aber Himmel, ich bin schon mal unten im Süden gewesen und habe dort gekämpft.« Er sah von seinem Bohnenteller auf. »Da klingt Europa allemal besser. Wenn Ihr Angebot immer noch gilt, Mr. Florian, haben Sie jetzt einen Kunstschützen.« »Was Sie nicht sagen!« erklärte Florian überaus erfreut. »Und einen Kraftakrobaten«, sagte Yount. »Und zwei gute Pferde.« »Was Sie nicht sagen!« wiederholte Florian. »Willkommen in unserer Mitte, Gentlemen!« »Welkom, Meneers«, sagte Roozeboom. »Bien venue, mes amis«, sagte Rouleau. »Bater, gadjo«, sagte Magpie Maggie Hag. »Jetzt seid ihr Erster Mai.« Yount sagte: »Aber noch haben wir April, Ma’am.« »Erster Mai, das ist Circusjargon«, sagte Florian jovial. »So nennt man alle Neuangeworbenen und alle diejenigen Artisten, -182-
die nur vorübergehend arbeiten. Denn solange mildes Wetter herrscht und das Jahr schon ziemlich fortgeschritten ist, kriegen wir Neue, soviele wir wollen. Aber solange das Wetter noch unsicher ist, kündigen nur erfahrene Circusleute. Bald werden Sie selbst andere Neue als ›Erster Mai‹ begrüßen.« »Nun, ihr könnt mich gern als Neuling ansehen«, sagte Edge. »Was das Schießen betrifft, bin ich vielleicht schon ein Veteran, aber Kunstschütze habe ich noch nie gespielt. Ihr werdet mir noch zeigen müssen, welche Rolle ich eigentlich spielen soll.« »Und mir auch«, sagte Yount. »Mit Vergnügen, mit Vergnügen«, sagte Florian. »Aber anfangen sollten wir damit, Ihnen eine Einführung in die Circussprache zu geben. Spielen zum Beispiel tun nur Schauspieler. Circusartisten arbeiten. Eine Nummer für jeden von euch ausarbeiten werden wir, sobald wir ...« Doch er wurde unterbrochen. Sechs oder sieben streng gekleidete Lexingtoner kamen gerade in diesem Augenblick auf den Festplatz und äußerten den Wunsch, unter vier Augen mit dem Prinzipal des Unternehmens sprechen zu dürfen. Florian ging mit den Herren zum Chapiteau hinüber und redete ausgiebig und ernst mit ihnen. Dann wurde ringsum Hände geschüttelt, die Herren verließen den Festplatz und Florian kehrte ans Feuer zurück. Er sah erfreut aus. »Das Glück ist uns weiterhin hold. Vielleicht ist es aber auch die Vorsehung – oder sogar der Himmel –, wo doch alle diese Herren Geistliche waren. Falls wir unseren Pavillon morgen nicht brauchen, bitten sie, ihn sich für eine ökumenische Andacht auszuleihen.« Die meisten Circusleute bekundeten ihre Verwunderung und stellten Fragen, doch Tim Trimm sagte verdrossen: »Irgendwas daran stinkt. Ich glaub’, es gibt keine Kirche, in der ich das Heil meiner Seele noch nicht gesucht hätte. Aber so was wie eine Ökumenische Kirche gibt es gar nicht.« -183-
»Ökumenisch bedeutet allumfassend, Tim. Verschiedene Sekten tun sich bei besonderen Gelegenheiten zusammen. Wobei das Besondere diesmal zweifellos das Zusammentreffen von Ostern und der Ermordung Lincolns sein dürfte. Die Geistlichen erwarten sich für morgen großen Zulauf.« »Es gibt doch überall in der Stadt Kirchen«, ließ Trimm sich nicht abbringen. »Wozu ausgerechnet das Chapiteau eines Circus?« Geduldig sagte Florian: »Richtig, alle etablierten Glaubensrichtungen besitzen eindrucksvolle Gotteshäuser. Doch die Männer, die uns eben einen Besuch abgestattet haben, sind durch die Bank Pfarrer von Gemeinden, die nicht besonders wohlhabend sind. Die kommen in der Wohnstube ihrer Gemeindemitglieder zusammen oder in leeren Läden oder was weiß ich sonst. Adventisten, Tunker, Evangelische, QuimbyAnhänger, Leute, die an die Wiederkehr Christi vor dem Ende des Jahrtausends glauben – ich habe keine Ahnung, wie sie sonst alle noch heißen. Aber für morgen erwarten sie eine Beteiligung, die alle ihre Möglichkeiten übersteigt. Deshalb haben sie um unser Chapiteau gebeten, und das für einen ganzen Tag, vielleicht sogar für einen Gottesdienst, der die ganze Nacht dauert jedenfalls eine Gemeinde nach der anderen. Möglicherweise sogar mehrere Gemeinden, die gleichzeitig Gottesdienst abhalten, was dann wahrhaft ökumenisch wäre.« »Und du hast Ja gesagt?« fragte Sarah ungläubig. »Ein in der Wolle gefärbter Ungläubiger?« »Aber deswegen besitze ich doch so etwas wie gesunden Menschenverstand, Madame Solitaire. Genauso wie die frömmsten, und auch er muß gelegentlich Nahrung erhalten. Diese Gottesdienste schließen mit einer Kollekte. Ich habe um die Hälfte der Einnahmen als Pacht gebeten. Ein Viertel haben sie angeboten, und geeinigt haben wir uns bei einem Drittel.«
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8 Am Morgen benutzten die Frauen Pumpen und Tröge des Festplatzes, um jedes Kostüm und jedes Kleidungsstück, das nicht gerade getragen wurde, zu waschen – unter anderem auch jene Kostüme, die lange im Requisitenwagen gelegen hatten. Die neuen Artisten, Edge und Yount, konnten jetzt also ihre Auswahl treffen, um Kostüme für sich selbst zusammenzustellen. Roozeboom zog eine Wäscheleine, die im Zickzack zwischen Zelt- und Requisitenwagen hin und herging und auf der die nassen Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt wurden. Sie bildeten in der Aprilsonne ein farbenfrohes Bild. Dort hingen paillettenbesetzte Leotards, durchsichtige Musselinröcke, fleischfarbene Trikots, grellfarbene Fracks und Gehröcke, ausgebleichte Schlüpfer und einteilige Unterwäsche, Strümpfe und alle möglichen anderen Wäschestücke, unter anderem auch die kleinen Chachesexe genannten Schutzvorrichtungen. Als Sarah und Clover Lee ihren besten Sonntagsstaat anlegten – woanders längst aus der Mode gekommene Hauben und Röcke, die so alt waren, daß sie noch mit Reifröcken statt Krinolinen gespreizt waren, in denen die Coverleys aber ausnehmend hübsch aussahen –, gingen sie zum Ostergottesdienst in die gedrungene, aus Stein gebaute presbyterianische Kirche, die gleich neben dem Festplatz auf der anderen Seite des Friedhofs lag. Auch die meisten Männer trugen heute Anzüge, die schmucker waren als ihre üblichen Overalls, und gingen zum Gottesdienst: Trimm zu den Baptisten, Roozeboom zu den Methodisten, Rouleau zur episkopalischen Kirche – in Lexington das, was der katholischen Kirche am nächsten kam –, und selbst Hannibal ging und suchte sich irgendeine Gemeinde von Schwarzen. Inzwischen waren auch die ersten Pfarrer, die das Zelt gemietet hatten, auf dem Festplatz erschienen und brachten auf -185-
einem Wagen eine tragbare Kanzel mit Lesepult daran und sogar ein kleines Harmonium mit, was sie alles im Zelt aufbauten. Kurz danach kamen auch schon die ersten Gläubigen – zu Fuß, zu Pferde und in allen möglichen Gefährten. Längst ehe die Pfarrer Strohhalme gezogen hatten, um das Los entscheiden zu lassen, wer den Anfang machte, wimmelte es auf dem Festplatz von Lexington von mehr Menschen, als je auf dem Lynchburger Circusplatz zusammengekommen waren. Wiewohl diese Leute den unterschiedlichsten Bekenntnissen angehörten, waren sie offenbar nicht nur gekommen, um ihren eigenen Geistlichen predigen zu hören, sondern auch den Gottesdiensten aller anderen beizuwohnen. Der Museumswagen blieb heute verschlossen, und den Käfigwagen des Löwen sowie den Elefanten hatte Florian hinter dem Chapiteau aufgestellt beziehungsweise festgemacht, so daß sie nicht für jedermann, insbesondere aber für die nichtzahlende Öffentlichkeit zu sehen wären. Den Wilden Mann konnte er aber nicht gut den ganzen Tag über an die Kette legen. Jedenfalls trug der Kretin nicht seine Lumpen und zerfetzten Felle; sie drückten ihm das Banjo in die Hand und forderten ihn auf, sich nicht unter die Leute zu mischen. Er ging hinaus und setzte sich an die Rückseite des Chapiteaus. Jedesmal, wenn drinnen die Orgel einen Choral spielte, brauchte er nur die ersten Takte zu hören, um die Melodie gleichzeitig mit dem Gesang von Chor oder Gemeinde auf seinem Instrument zu zupfen – genau in der richtigen Tonlage und im richtigen Takt, und das auf den wenigen vorhandenen Saiten. Während sich die Leute aus der Stadt und dem umliegenden Land weiterhin von der Hauptstraße näherten, den Festplatz überquerten und ins Zelt hineingingen, setzten Florian, Edge, Yount und Magpie Maggie Hag sich in den Schatten des Zeltwagens. »Maggie verwaltet unseren Kostümfundus und fungiert gleichzeitig als Schneiderin«, sagte Florian. »Aber ehe wir über -186-
das Kostüm reden, das Sie anziehen, sprechen wir lieber erst einmal davon, was jeder von Ihnen tun soll und will. Zuerst Sie, Zachary. Sie haben also einen Säbel, einen Karabiner und eine Pistole ...« »Allein kann ich mit dem Säbel nicht viel anfangen.« »Sie können ihn zum Beispiel bei der Parade aus der Scheide ziehen und so ins Chapiteau einreiten. Damit läßt sich doch wunderbar blitzend herumfuchteln.« »Schön. Dann zum Karabiner. Er hat nur einen einzigen Schuß. Deshalb werde ich für den größten Teil meiner Nummer vor allem auf meine Pistole angewiesen sein.« »Einen sechsschüssigen Revolver habe ich noch nie gehabt. Bitte, tun Sie mir den Gefallen und erklären Sie mir, wie das Ding funktioniert.« Edge zog die Waffe aus dem Pistolenhalfter heraus. »Geladen wird er genauso wie Ihre alte Büchse, nur, daß man diese kurzen Zylinderkammern lädt; man braucht also nicht erst Pulver hineinzuschütten, dann den Ladepfropf nachzuschieben und die Kugel den ganzen Lauf hinunterzustoßen. Zuerst wird die Ladung Pulver in die Öffnung einer jeden Kammer hineingeschüttet.« »Da ich nicht davon ausgehen kann, daß der Yankee, dem das Ding gehört hat, Ihnen Ladeanweisungen gegeben hat – wie haben Sie herausgefunden, wieviel Pulver Sie hineinschütten müssen?« »Als ich die Waffe bekam, fand ich die richtige Menge heraus, indem ich über Schnee schoß.« »Über Schnee?« sagten Florian und Magpie Maggie Hag wie aus einem Mund. »Ich stand in einer Schneewehe und gab einen Schuß nach dem anderen ab, wobei ich jedesmal ein bißchen mehr Pulver hineintat. Als ich dann unverbrannte Pulverteilchen auf dem -187-
weißen Schnee entdeckte, wußte ich, daß ich überlud und bin bis zur richtigen Menge zurückgegangen.« »Genial!« sagte Florian. »Nun aber zum Schauschießen im Chapiteau – ich denke, da nehme ich nur eine leichte Ladung Pulver. Gerade genug, um die Reichweite und Genauigkeit zu gewährleisten, aber nicht genug, daß die Kugel besonders weit fliegt.« »Damit nicht die Kuh von irgendwem draußen getroffen wird.« »Als nächstes lege ich eine Bleikugel hier auf die Öffnung der Zylinderkammer. Die Kugel muß um Haaresbreite größer sein als das Loch. Jetzt ziehe ich diesen unter dem Lauf entlangführenden Hebel heraus. Er klappt nach unten und preßt – sehen Sie? – diesen Schlagbolzen in den Kolben hinein. Der Schlagbolzen schiebt die Kugel tief in die Kammer hinein, genauso wie ein Ladestock. Hat man Ladung und Kugeln in allen sechs Kammern drinnen, drückt man auf jeden dieser sechs Nippel um die Rückseite des Zylinders eine Zündkapsel. Dann spannt man den Hahn, drückt ab, und der Schuß geht los. Im Grunde geht das genauso wie bei Ihrer Büchse, nur, daß hier bei jedem Spannen des Hahns eine neue Kammer vorgeschoben und man sechs Schüsse nacheinander abfeuern kann, ehe man wieder laden muß. Ich persönlich lasse den Hahn nach dem Laden immer in Ruhestellung, so daß er zwischen zwei von diesen Nippeln aufliegt. Damit verhindere ich, daß sich unabsichtlich ein Schuß löst.« »Eine wunderschön gearbeitete Waffe«, sagte Florian bewundernd. »Sieht sogar elegant aus, wenn man sie so anschaut.« Er stand auf. »Entschuldigen Sie mich einen Moment. Es sind so viele Menschen und es kommen immer noch mehr, daß ich besser mal nachsehe, ob das Gradin auch nicht zusammenbricht.« Yount ging mit ihm; am Eingang warfen sie einen Blick um -188-
die Rundleinwand. Die Bretter der verschiedenen Ränge waren voll besetzt, vornehmlich von alten Leuten, Frauen in Reifröcken und jungen Mädchen. Da noch keine Manege gebaut worden war, saßen die jüngeren Männer und Knaben auf dem Boden um die Stehkanzel herum. Die Leute hatten gerade aufgehört, zu Banjo- und Harmoniumbegleitung ›Shall We Gather at the River?‹ zu singen. Überspielt von den Sonnenkringeln, die durch die Öffnung des Halterings oben und durch Löcher in der Zeltleinwand hereinfielen, nahmen sie jetzt wieder Platz, um dem Prediger zu lauschen: »Brüder und Schwestern im Herrn, dies ist ein Monat der Sonntage gewesen. Vor zwei Wochen, gleichfalls am Sonntag, erreichte uns die schreckliche Nachricht, daß General Lees Stellungen im Osten zusammengebrochen wären, daß unser Präsident und das Kabinett sowie der Kongreß aus Richmond flöhen und unsere Hauptstadt dem Feind überließen. Eine Woche später, vorigen Sonntag also, erhielten wir dann die womöglich noch erschreckendere Nachricht, daß General Lee mit seiner gesamten Nordvirginischen Armee die Waffen streckte. Der noble Krieg gegen die Tyrannei des Nordens ging hier im Alten Dominion zu Ende; unsere tapfere Konföderation sollte es bald nicht mehr geben.« Ein Aufstöhnen ging durch die Menge; sogar Schluchzer wurden hier und da laut. Der Prediger hob die Stimme, und aus Trübsinn wurde Jubel. »Das waren die dunkelsten Sonntage seit vielen Jahren, doch der heutige bringt uns wieder Licht. Denn an diesem Tage, dem Ostersonntag, während wir in Hosianna ausbrechen, weil unser Herr Jesus Christus aus seinem Grabe auferstanden ist, können wir den Herrn auch deshalb preisen, weil die Ausgeburt der Hölle auf dieser Erde – während seines Erdenlebens hienieden als Abe Lincoln bekannt – zurückgeholt wurde in das Feuerloch, von wannen er gekommen ist! Jawohl, meine Brüder und Schwestern, der alte Abe schmort jetzt in der Hölle.« -189-
Inbrünstig sprach die Gemeinde im Chor: »Amen!« Florian sagte: »Obie, glauben Sie wirklich, daß diese Art von Geschwafel unser Chapiteau heiliger macht? Ich bin schon zufrieden, wenn die Gottheit keinen Blitz herniederschleudert und es zerfetzt.« Sie kehrten zum Zeltwagen zurück, wo Florian sagte: »Sehen wir uns mal die Sachen an, die die Damen gewaschen und aufgehängt haben. Mal sehen, ob uns dabei ein Einfall kommt, wie Sie beide am besten auftreten.« Magpie Maggie Hag zeigte auf etwas unter der Weißwäsche Hängendes und meinte: »Lederwams?« »Hm, ein Lederkoller«, sagte Florian. »Zachary, wie wär’s, wenn Sie ›Wilhelm Teils Triumph über den Tyrannen Gessler‹ darstellten?« »Und wer soll der Junge mit dem Apfel auf dem Kopf sein?« fragte Edge. »Tiny Tim? Oder der Wilde Mann? Wer wäre notfalls entbehrlich? – Mr. Florian, selbst ein Meisterschütze wird ab und zu ein wenig zu tief schießen.« Wieder streckte Magpie Maggie Hag den Finger aus und meinte: »Federn?« Florian sagte: »Ja, da ist ja der Federnumhang, den Madame Solitaire schon lange nicht mehr getragen hat. Wir könnten ein paar Federn herausnehmen und einen Kopfputz draus machen. Dann brauchten Sie nichts weiter als nur noch ein einfaches Lendentuch.« »Himmel, wenn Sie mich als Rothaut ausstaffieren wollen – warum spare ich dann nicht gleich das ganze Blei und Pulver? Und schleudere ein paar Tomahawks?« »Großartig! Könnten Sie das?« »Nein.« Aufseufzend sagte Florian: »Ach, das beste ist vermutlich, daß wir auf meinen ursprünglichen Plan zurückgreifen. Colonel -190-
Deadeye? Colonel Ironsides? Colonel Ramrod? Das ist es. Das ist ein guter Name. Würden Sie sich mit Colonel Ramrod – Oberst Ladestock – einverstanden erklären, Zachary?« »In Uniform?« »Ja, nur natürlich nicht in der, die Sie anhaben. Die brauchen Sie für täglich. Aber in Lynchburg haben wir alle möglichen Uniformteile gekauft. Mag, könntest du nicht irgendwas Flottes zusammenstellen und einfärben?« Edge fragte: »Violett wie die von Hotspur? Da würde ich Yankeeblau fast vorziehen.« »Nein, gadjo«, sagte Magpie Maggie Hag. »Indigo und Heidelbeerblau – das war’s, was ich damals an Färbemitteln hatte. Jetzt können Sie sich aussuchen, was Ihnen am besten gefällt. Gelb? Orange? Schwarz?« »Schwarz und Gelb«, antwortete Florian an seiner Stelle. »Das sieht flott und verwegen aus. Und wo wir gerade dabei sind, Mag, schneide für Obie doch eines von diesen Hose-undWesten-Ensembles auseinander. Mach so was wie den Pelz eines Höhlenbewohners daraus – du weißt schon, ein Träger über der Schulter, sonst die Brust frei – und benutze dieselben Farben. Das ganze sollte gelb mit schwarzen Leopardenflecken sein.« »Verdammt gut!« sagte Yount, grinste und trommelte sich auf die Brust, so wie er sich vorstellte, daß Höhlenbewohner es täten. »Hier kommt der Quakemaker – der Bebenmacher.« »Und jetzt zu den Requisiten, die Sie brauchen«, sagte Florian. »Irgendwas Kräftiges und Schweres sollte es schon sein.« »Ich hab’ schon was«, sagte Yount stolz. Und schon griff er in den Zeltwagen hinein und schob und rollte etwas herum. Eine nach der anderen rollten drei gewaltige eiserne Kanonenkugeln heraus und landeten mit dumpfem Aufprall auf dem Boden. -191-
»Ich freß’n Besen!« sagte Florian. »Kugeln für die Zehn-Zoll-Columbia-Kanone«, sagte Yount. »Offensichtlich Restbestände von General Hunter. Die Dinger sind ausgebrannt, ohne zu explodieren; vielleicht sind sie aber auch nie scharf gemacht worden. Vierzigpfünder, also keine Leichtgewichte, jedenfalls schwer genug für einen Kraftakrobaten, damit herumzuspielen. Wenn wir aber die Löcher für die Ladung und die Lunte verstopfen, merkt keiner von den Gaffern, daß sie hohl sind. Sie sehen wie durch und durch aus Eisen aus und damit ein ganz schönes Stück schwerer, als sie in Wirklichkeit sind.« »Wo haben Sie sie gefunden?« »Da drüben auf dem Friedhof. Vierzehn Stück lagen da zu einem hübschen Kegel aufgeschichtet beisammen. Ich dachte, drei sind genug für mich ...« »Himmel, Obie!« sagte Edge. »Die Dinger gehören zu einem Denkmal über Stonewall Jacksons Grab.« »Tatsächlich?« »Jedenfalls liegt er dort begraben. Und wahrscheinlich ist sein Grab das heiligste Fleckchen Erde in ganz Rockbridge County.« »Tatsächlich? Nun, wenn ich Stonewall wär’, würde ich mir wirklich was anderes wünschen, als mit den Kanonenkugeln von diesem Vandalen Hunter auf dem Bauch im Grab zu liegen.« Florian sagte: »Sorgen Sie bloß dafür, daß die Leute aus der Stadt vor der Vorstellung morgen nichts davon zu sehen kriegen. Danach bauen wir ab, ehe sie begreifen, wo die herstammen könnten.« »Und wie soll ich mit ihnen auftreten?« fragte Yount. »Soll ich etwa damit jonglieren wie Hannibal? Da würde ich doch gleich tot umfallen wie General Jackson.« »Captain Hotspur wird schon etwas einfallen. In seiner Jugend ist er auch als Kraftjongleur eingesprungen. Aber da -192-
kommt er ja gerade.« Roozeboom, Rouleau und Trimm hatten sich auf dem Heimweg von ihren Kirchen getroffen. Rouleau warf mißbilligend einen Blick auf das Chapiteau und sagte: »Merde alors, Florian. Was schreien Ihre lieben Pfaffen denn da drin rum? Das ist ja fast bis in die Stadt runter zu hören.« Alle lauschten. Lautstark ereiferte sich der Pfarrer einer der weniger gemäßigten Sekten: »Das Tier aus der Offenbarung – das war dieser Abraham Lincoln. Wie heißt es doch noch in der Offenbarung Dreizehn? ›Und es ward ihm gegeben ein Mund, zu reden große Dinge und Lästerungen.‹ Und hat Lincoln nicht gelästert, meine Brüder und Schwestern im Herrn? Hat er nicht die schändliche Proklamation der Befreiung aller Sklaven von sich gegeben?« Reaktion: »Leg sie aus, Bruder!« »Werfen wir nochmals einen Blick in das dreizehnte Kapitel. Da heißt es: ›Und ihm ward gegeben zu streiten mit den Heiligen.‹ Und hat er nicht Krieg gegen uns geführt? Ist er nicht zu Felde gezogen gegen alle geheiligten Überzeugungen, Traditionen, Tugenden unseres geliebten Südens?« Reaktion: abgrundtiefes Gestöhn. »›Und es ward ihm gegeben, daß er dem Bilde des Tiers den Geist gab.‹ Und das bezieht sich darauf, daß Lincoln die schwarzen Wilden von ihren rechtmäßigen Herren freiließ!« »Kushto!« murmelte Magpie Maggie Hag. »Rooinecks!« knurrte Ignatz Roozeboom. Edge fragte: »Wird denn in den orthodoxeren Kirchen auch so gewettert wie bei diesen Bibeleinpaukern?« »Sie zerfließen nicht gerade vor Mitleid, daß Mr. Lincoln tot ist«, sagte Rouleau. »Aber in der Episkopalischen Kirche jedenfalls beklagen sie die Tatsache, daß er totgeschossen wurde.« -193-
»Wobei mir was einfällt«, sagte Florian. »Zachary, ich habe mal einen Kunstschützen gesehen, der schoß kleine Glaskugeln in Scherben, die sein Assistent in die Luft warf.« »Dann muß er als Schütze aber ein Zauberkünstler gewesen sein.« »Nicht wirklich. Die Zuschauer dachten, er feuerte Kugeln ab, dabei hatte er seine Flinte mit Schrot geladen. Wenn wir einen Assistenten finden, der die Glaskugeln hochwirft – könnten Sie diese dann mit Ihrem Karabiner zertrümmern?« »Mit Schrot brächte das selbst der Wilde Mann fertig. Aber ich habe nun mal keine Schrotpatronen; Schrot gehört nicht zur Standardausrüstung bei der Kavallerie.« »Das wäre weiter kein Problem. Ich habe Schrotpatronen.« »Aber würde sich das Publikum denn nicht fragen, wie es kommt, daß ich nicht jedesmal ein neues Loch in das Zeltdach schieße, wenn ich den Karabiner abfeuere?« »Wenn Gaffer etwas grenzenlos bewundern, kennen sie keine Kritik mehr. Schön also, das wäre der Karabinertrick in Ihrer Nummer. Clover Lee kann als Ihre Assistentin arbeiten. Da kommen die Damen Coverley ja gerade. Und ich habe noch eine Idee – wenn ich daran denke, wie Sie neulich abend diese Flamme ausgeschossen haben. Clover Lee, meine Liebe, würdest du stehenbleiben und dich nicht mucksen, wenn Zachary mit der Pistole auf dich schießt und du die Glaskugel zwischen den Zähnen auffängst?« »Wie bitte?« sagte Edge. »Diesen alten Hut?« sagte das Mädchen sorglos. »Wie wär’s denn mal mit einer Variante? Warum fängt Ignatz sie nicht mit seinem Schnurrbart auf?« »Captain Hotspur ist kein hübsches Mädchen. Kein Publikum zittert vor Angst, daß ihm ein Loch in den Kopf geschossen wird.« -194-
»Jetzt hören Sie mal zu!« protestierte Edge. »Beruhigen Sie sich, Zachary«, sagte Sarah. »Wir werden Ihnen mal zeigen, wie man so was hinkriegt. Wir lassen doch nicht zu, daß durch Sie jemand ums Leben kommt.« Plötzlich brandete im Chapiteau laut der Choral ›Bringing in the Sheaves‹ auf. Florian winkte Trimm und Rouleau: »Ihr beiden geht jetzt rein und haltet mal ein Auge auf die Kollekte, wenn sie den Klingelbeutel rumgehen lassen. Schätzt, wieviel drin sein könnte. Und würden Sie, Captain Hotspur, Obie inzwischen ein paar Hinweise und Tips geben, was man als professioneller Kraftakrobat zu tun hat?« Roozeboom und Yount hoben jeder eine von General Jacksons Kanonenkugeln auf. »Christus Jesus, Mann!« meinte Roozeboom. »Mit Kleinigkeiten geben Sie sich wohl erst gar nicht ab, was?« Sie trugen die Eisenkugeln bis ans äußerste Ende des Festplatzes, wo sie unbemerkt von Stonewalls Lexingtoner Verehrern probieren konnten. »Obie, Sie wissen, vas is spier – wie sagt man – Mußkeln?« »Na klar: Muskeln.« Yount ließ seinen Bizeps tanzen. »Ja. Als Kraftmensch müssen Sie wissen, was für unterschiedliche Muskeln der Mensch hat und was man damit macht. Es gibt lange Mußkeln und kurze Mußkeln. Und breite. Die langen Mußkeln wie etwa in Ihrem Arm sind zum Werfen und Heben da. Breite Mußkeln für Überanspannung und schwerste Beanspruchung. Sie wissen, was Trapezius ist?« »So nennt man die Schaukel hoch oben in der Circuskuppel, an der die Akrobaten ...« »Nee, nee, nee! Trapezius ist ein Mußkel – hier.« Er klopfte Yount auf den fleischigen Rücken. »Breiter Mußkel, Trapezius, der zäheste im ganzen Körper. Darunter liegt der SplensiusMußkel.« Er klopfte Yount oben auf den Nacken. »Auch der ist breit und hält unglaublich viel aus. So, und jetzt mal los! Sie haben auch früher schon schwere Gewichte gehoben, ja?« -195-
Roozeboom beugte die Knie und schob die Hände unter eine der Eisenkugeln. Yount nickte. »Ich weiß, dazu braucht man die Kraft von Bein- und Rückenmuskeln. Wenn man einfach so hebt, kann im Körper was reißen.« »Ja, stimmt.« Die Kanonenkugel in der Hand, richtete Roozeboom sich auf. »Also, wenn man sie so hoch hat, kann man sie hochwerfen.« Er tat es und warf den Vierzigpfünder ein Stück in die Höhe. Dann stand er einfach da und ließ ihn wieder auf den Boden plumpsen. »Aus solcher Höhe fängt man so ein Gewicht nicht mit den Händen auf, sonst bricht man sich was. Man fängt sie mit dem Nacken auf.« »Mit dem Nacken? Sind Sie wahnsinnig?« Roozeboom sagte nichts. Er hob die Eisenkugel nochmals in die Höhe, stellte sich aufrecht hin, warf sie etwa einen Meter hoch in die Luft, neigte den rasierten Kopf und fing das Ding mit einem schmatzenden Laut mit dem Nacken auf. Dabei wankte er mit dem Oberkörper nur kurz hin und her, um sie einen Moment dort ruhen zu lassen – dann ließ er sie über die Schulter abrollen und fing sie mit den Armen auf. »Jesus Christus!« sagte Yount ehrfürchtig. »Da riskiere ich doch lieber einen Darmriß, als daß ich mir den Hals brech’.« »Man muß eben üben. Dabei bildet sich nach und nach der Splenius-Mußkel zu einer Art Kissen heraus: das fängt den Stoß ab, und das Gewicht trägt der Trapezius-Mußkel. Ich zeig’s Ihnen. Beugen Sie den Kopf!« Yount tat, wie ihm geheißen. Sanft legte Roozeboom die Kanonenkugel auf die Schrägung zwischen Younts Hinterkopf und Schulteransatz. »Nehmen Sie mal die Hand hoch und fühlen Sie! Die Kugel muß in der Wölbung zwischen Hinterkopf und erstem Rückenwirbel ruhen. Und niemals diesen Wirbel treffen, sonst tut das höllisch weh!« »Jesus!« -196-
»Übung macht den Meister«, sagte Roozeboom und hob die Kugel wieder herunter. »Und wie soll ich probieren, wenn Sie mir das mal erklären wollten?« »Erst einmal – dann viele Male – Kugel auf den Kopf und den Kopf neigen und Kugel runterrollen lassen, daß sie vom Nacken aufgefangen wird. Nach einiger Zeit die Kugel etwas über Kopfhöhe hochwerfen, schnell bücken und mit dem Nacken auffangen. Immer ein bißchen höher werfen. Dazu brauchen Sie keinen, der Ihnen hilft, Meneer Kvakemaker! Und jetzt zeigen Sie mir mal, wie Sie damit anfangen. Heben Sie sie auf!« Er ließ die Kugel wieder auf den Boden plumpsen. Yount hockte sich, die Knie links und rechts davon, hin, schob die Hände drunter und richtete sich auf. »Nee, nee, nee. Sie machen das viel zu leicht, Obie. Sie müssen so tun, als ob sie zehnmal schwerer wäre. Sich anspannen! Einen Schweißausbruch haben!« »Verdammt noch mal, Ignatz. Ich kann unmöglich auf Befehl schwitzen.« »Wen interessiert das? Nehmen Sie einen Lappen, wischen Sie sich Gesicht und Hände ab und schütteln Sie zweifelnd oder verzweifelt den Kopf. Die Gaffer halten das für echt.« Yount, der sich ziemlich albern vorkam, tat so, als tupfe er sich verzweifelt Schweißperlen von der Stirn. »Ja, gut. Und Sie haben einen großen Bart, das macht sich gut bei einem Herkules. Trotzdem schlage ich vor, daß auch Sie sich den Kopf rasieren. Denn die Kopfhaut schwitzt von allen Körperteilen am meisten. Schweißglänzende Glatze, und Sie sehen wie ein richtiger Kraftmensch aus.« »Es gehört offenbar doch mehr dazu, als ich gedacht hatte«, sagte Yount. »Für alles Gute lohnt es sich zu arbeiten. Sogar häßlich auszusehen. So – und jetzt legen Sie die Kugel auf den Nacken und üben Sie, sie in der Balance zu halten, daß sie nicht -197-
runterfällt. Klaar? Wenn Sie ständig so rumlaufen, kräftigt das die Mußkeln. Nicht jetzt. Ich seh’ Gaffer auf dem Platz. Gaffer sollten nie mitbekommen, wie man probiert.« Drüben, am Eingang zum Chapiteau hatten sich einige Schäfchen des Predigers herausgewagt, entweder, um bei der Schwüle drinnen frische Luft zu schnappen, oder weil Harmonium und Banjo ›Stand Up, Stand Up for Jesus‹ angestimmt hatten und Körbchen oder Klingelbeutel herumgingen. Sobald die Frauen draußen im Freien waren, nestelten sie ihre Hauben auf und fächelten sich damit Kühlung zu. Einige der Männer zündeten sich eine Pfeife oder Zigarre an. Die Kinder hüpften über den ganzen Zeltplatz. Eine Frau rief zweien von ihnen zu: »Vernon und Vernelle, daß ihr auch artig seid! Macht, daß ihr da von den Sachen dieser Leute wegkommt! Was habt ihr bei der Wäscheleine zu suchen?« Und dann verschlug es ihr offenbar die Sprache, ehe sie sagte: »Der Himmel sei mir gnädig!«, davontrippelte und eine Horde anderer Frauen herbeiholte, die die Köpfe zusammensteckten und miteinander tuschelten. Sie näherten sich der Gruppe der Circusleute, und die Mutter von Vernon und Vernelle sagte frostig zu Florian: »Sind Sie der Besitzer dieses Circus?« »Ich habe die Ehre, Madame.« Er nahm schwungvoll den Zylinder ab und lächelte. »Der Prinzipal, wie wir in Circuskreisen sagen. Was kann ich für Sie tun, meine Damen?« Eine sehr große Frau sagte gestreng: »Sie könnten aufhören, unter ehrbaren Bürgerinnen Ihre lockere Moral heraushängen zu lassen.« »Eh?« machte Florian erschrocken. »Sehen Sie sich das dort drüben an, Sir!« befahl eine Frau mit einer Nase so scharf wie ein Beil. »Die Wäscheleine!« »Ach, die Wäsche!« sagte Florian angemessen zerknirscht. »Natürlich haben Sie recht, meine Damen, der Sonntag sollte ein -198-
Ruhetag sein. Doch ich bitte Sie, haben Sie Nachsicht und verstehen Sie die Erfordernisse des Lebens auf der Straße. Wir müssen das Notwendige verrichten, sobald es möglich ist. Das ist doch wohl kein so großes Sakrileg, daß ...« »Es ist schon schlimm genug, am Tag des Herrn Wäsche herauszuhängen«, erklärte die Mutter von Vernon und Vernelle. »Aber sehen Sie, was hängt da so frei herum, daß Männer wie Frauen es sehen können? Die Unaussprechlichen!« Florian machte ein womöglich noch betreteneres Gesicht, doch Magpie Maggie Hag fragte nach: »Sie meinen die Unterwäsche?« Die Frauen zuckten zurück bei diesem Wort, doch die große faßte sich rasch wieder und sagte: »Jawohl! Das ist skandalös und unanständig!« Diesmal sagte Florian ohne Zerknirschung: »Meine Damen, ich habe es im Laufe der Jahre geschafft, mir die meisten Untugenden abzugewöhnen. Gleichwohl glaube ich, daß Moral aus mehr bestehen sollte denn nur Schamhaftigkeit.« Die Beilnasige sagte: »Sie werden uns nicht einlullen, indem Sie uns mit schändlichen Ausdrücken kommen, Mister. Ich fordere Sie nochmals auf, sich anzusehen, was dort auf der Leine hängt. Die Unaussprechlichen von Männern und Frauen nebeneinander!« Boshaft sagte Sarah: »Ach, ich glaube nicht, daß sie gleich kopulieren, meine Liebe. Dazu sind sie viel zu naß und schlapp. Würden Sie das, in dem Zustand?« Den Frauen stockte der Atem, und die Mutter von Vernon und Vernelle sagte: »Ihre lockere Moral heraushängen zu lassen, ist schon Ihrem eigenen Töchterchen gegenüber schlimm genug; aber meine Kinder sind jedenfalls unschuldig und rein. Meine Damen, am besten gehen wir gleich zur Polizei!« »Papperlapapp!« ließ Clover Lee sich plötzlich vernehmen. »Wie kommen diese alten Schachteln dazu, sich einzubilden, -199-
Kinder wären rein und unschuldig?« Nicht minder unvermittelt ließ Clover Lee sich, wiewohl immer noch in einen glockenförmigen Reifrock gewandet, zur Seite fallen und schlug langsam und wie verzögert Rad. Dabei rutschte ihr der Rock herunter und entblößte die ganze Länge ihrer Beine, ehe sie wieder aufrecht dastand. Die Frauen fuhren kreischend zurück und riefen: »Gott steh uns bei!« und »Schändlich!« und »Schlimmer als schändlich! Habt ihr nicht gesehen? Sie hat überhaupt nichts darunter!« Damit entflohen sie und suchten Zuflucht im Allerheiligsten des Chapiteau. »Du solltest dich was schämen, Clover Lee!« sagte Sarah in gespielter Empörung. »Du hast das Schamgefühl dieser kreuzbraven, sittsamen Frauen verletzt!« »Mokedo!« fauchte Magpie Maggie Hag verächtlich. »Brave und sittsame Frauen sind auch nicht anders gebaut als andere. Nur, daß sie immer gleich solchen Aufstand machen. Und, Clover Lee, vielleicht hast du sie so sehr aufgeregt, daß sie uns jetzt in Schwierigkeiten bringen.« »Hoffentlich nicht«, sagte Florian. »Aber trotzdem – geht und nehmt die Wäsche ab, Mag, oder verbirg das Verworfene daran irgendwo.« Sie ging, als Tim Trimm und Jules Rouleau gerade aus dem Chapiteau herauskamen. »Ah, da sind ja die Klingelbeuteljungs. Mal sehen, was es uns bis jetzt eingebracht hat.« »Sieht nach einer ganzen Masse aus«, sagte Rouleau und reichte ihm eine Tüte aus Papier. »Nur handelt es sich um lauter konföderiertes torchecul.« Tim sagte: »Ach, wißt ihr, bei so einer Kollekte wirft keiner was rein, was sich lohnte. Die Prediger haben nicht mal versucht, was beiseitezubringen, ehe wir unseren Anteil bekamen.« »Na, das könnten an die tausend Dollar sein«, sagte Florian und wühlte zwischen den schlaffen und ziemlich abgegriffenen -200-
Banknoten. »Wert sind sie etwa zehn Dollar. Nicht schlecht, wo der Tag doch erst halb vorüber ist. Und irgendwie werden wir die nutzen, Jungs.« Dann sah er auf, schaute an Rouleau und Trimm vorbei und sagte verwundert: »Nanu, was ist das?« Hannibal Tyree kam gerade von seinem Gottesdienst zurück – und zwar nicht allein. Der Elefant sollte eigentlich immer noch hinterm Chapiteau stehen, doch Peggy kam von der Hauptstraße her hinter dem Neger über den Festplatz getrottet. Den Rüssel hatte der Dickhäuter Hannibal über die Schulter gelegt, der sich mit beiden Händen daran festhielt. Ein weiterer Mann wiederum – ein Weißer – hielt einen von Hannibals Armen fest gepackt. Der Elefant brachte es irgendwie fertig, eine merklich schuldbewußte Miene zur Schau zu tragen, während die beiden Männer offensichtlich wütend waren. Alle drei marschierten auf die Gruppe der Circusleute zu, und Hannibal sagte: »Mas’ Florian« – dabei kam dies durchaus nicht als serviles Gebrummel –, »da geh ich inne Kirche un’ verlaß’ mich auf euch, daß ihr auf unser wertvolles Eigentum aufpaßt, un’ was passiert? Unten inner Kirche war’n wir grad’ dabei, froh zu sing’, doch plötzlich is’ die Kirche leer, un’ ich hör’s kreischen, als stund’ der Gottseibeiuns persönlich vor’er Tür. Ich geh’ raus un’ seh’ die Brüder un’ Schwestern in alle Himmelsrichtung’ aus’nanderspritz’n, un’ wer steht da und wart’ auf mich? Die öle Peggy! Eins aber sag ich Ihn’, Mas’ Florian, sie hätt’ auf’m Weg genausogut erschoss’n wer’n könn’ oder in’n Brunn’ fall’n oder ...« »Halt jetzt den Mund, Boy«, sagte der weiße Mann. Er trug seinen Sonntagsanzug, doch außerdem noch einen Blechstern auf dem Revers. Zu Florian gewandt, sagte er: »Dieser Fleischberg ist wie eine Ziege durch alle Gemüsegärten von Lexington gezogen und hat jeden grünen Halm abgerupft, die Klos umgeworfen, und ein Teil von dem Denkmal auf General Jacksons Grab fehlt auch, und deshalb bin ich hier, um Ihnen allen zu sagen, daß ich Sie für den Schaden haftbar mache. Ich -201-
bin Stellvertretender Sheriff von diesem County, und mein eigenes Klo war unter denen, die umgestürzt wurden.« Florian entschuldigte sich überströmend, und Edge fand es bemerkenswert, daß er damit anfing, sich zuerst bei dem Schwarzen zu entschuldigen. »Tut mir schrecklich leid, Abdullah; wir alle bekennen uns schuldig. Es ist ja keine Entschuldigung, daß wir den Kopf mit anderen Dingen voll hatten. Bitte, ich entschuldige mich im Namen aller. Gehe und binde Brutus an, wo er hingehört, und gib ihm einen Brocken Priem, das wird seine Nerven beruhigen.« Bis Hannibal den Elefanten davonführte, ließ Florian den weißen Mann wortlos wüten, dann wandte er sich ihm zu und sagte: »Das hat was von der Jungfrau Maria und ihrem Lämmchen, nicht wahr, Sheriff? Nun ...« Er straffte die Schultern. »Können Sie mir sagen, auf wieviel sich der Schaden etwa beläuft?« »Nein, Sir, das kann ich bis jetzt nicht. Während dieses Tier die Gärten plünderte, war fast die halbe Bevölkerung in Ihrem Zelt da versammelt. Ich werde den Schaden nicht erfassen können, bis nicht alle wieder daheim sind und anfangen, ein fürchterliches Geschrei anzuheben.« »Dann lassen Sie uns zumindest damit beginnen, daß wir für Ihr eigenes Häuschen bezahlen.« Das jedoch tat der Stellvertretende Sheriff mit einer Handbewegung ab. »Lassen Sie nur gut sein. Es ist ja kein nennenswerter Schaden entstanden. Nur, daß Ma grade in dem Augenblick drin saß. Nein, was ich sagen wollte – der materielle Schaden ist das geringste von allen Problemen. Ich könnte für Sie alle einen Haftbefehl erlassen dafür, daß Sie ein gefährliches wildes Tier wie dieses frei rumlaufen lassen.« Florian ließ ein volltönendes Glucksen vernehmen. »Diesen sanftmütigen alten Dickhäuter? Aber eine Elefantenkuh stellt -202-
doch keine größere Bedrohung dar als irgendeine Kuh-Kuh.« Die anderen Circusangehörigen waren bemüht, völlig ungerührt dazustehen, doch auf diese Bemerkung hin handelte sich Florian von Rouleau, Sarah und Clover Lee Blicke ein, die einem scharfen Verweis gleichkamen. »Wie Sie selbst beobachtet haben, Sheriff, ist unser Tier ein reiner Pflanzenfresser. Unbeholfen und plump – gewiß. Aber bösartig? Niemals!« »Nun ...«, sagte der Stellvertretende Sheriff. »Nun, dann bleibt immer noch die Erregung öffentlichen Ärgernisses. Nachdem es sämtliche Gemüsegärten abgegrast hatte, hat das Geschöpf – falls Sie diesen vulgären Ausdruck entschuldigen, meine Damen –, hat das Geschöpf überall in den Gärten Kot fallen lassen.« »Wie bitte? Gott du allmächtiger!« entfuhr es Florian. Dann riß es ihn zu Edge, Rouleau und Trimm herum. »Holt euch augenblicklich Schaufeln, Männer!« Der Stellvertretende Sheriff klapperte mit den Augendeckeln. »Ist das Zeugs etwa gefährlich?« »Gefährlich, Sir? Elefantenkot ist das kraftvollste Düngemittel, das es in der Schöpfung gibt. Lexington würde bald von einem wahren Dschungel überwuchert werden. Da würden die Gurken Ihnen in die Fenster ranken, der Mais so dick sein, daß man ihn mit zwei Händen nicht umfassen könnte, Wassermelonen den Verkehr auf der Straße blockieren. Aber wir werden ihn auffegen, denn schließlich ist dieser Dünger unser rechtmäßiges Eigentum. Welche Strafe man uns auch immer für den Schaden aufbrummt, wir können diesen reichhaltigen Dünger unterwegs an jede Gärtnerei verkaufen – und das für das Vierzig- oder Fünfzigfache dessen, das wir Ihrer Bürgerschaft an Strafe bezahlen müßten.« »So wertvoll ist er, eh? Nun ja, dann warten Sie eine Minute, Sir. Überlegen Sie mal! Sie werden Ihre Männer über die ganze Stadt ausschicken müssen, um die Schei..., um das Zeugs zu -203-
finden, und es hierher zurückbringen lassen. Dann wird man Sie festhalten müssen, bis sämtliche Schäden der Leute geschätzt und aufgenommen worden sind; dann erst werden Sie bezahlen müssen. Wie wär’s, wenn wir die Sache unter uns bereinigten? Sie lassen den Elefantenkot hier, und ich erkläre die Sache den Leuten; diejenigen, die das Zeugs nicht selbst verwenden wollen, können es ja an Gilliams Treibhaus verkaufen – damit wäre dann alles geregelt.« »Nun ja ...«, meinte Florian zögernd. »Es ist zwar edel von Ihnen, uns Zeit und Arbeit zu ersparen – und die Zahlung einer Strafe, versteht sich. Ich weiß nicht, ob wir nicht doch besser wegkommen, wenn wir den Dünger in kleinen Mengen verkaufen, aber ...« Florian ergriff die Hand des Mannes und schüttelte sie kräftig – »ich erkläre mich mit der Regelung einverstanden. Und hier, noch Eintrittskarten für die morgige Vorstellung. Für Sie und die werte Gemahlin, falls sie sich bis dahin von ihrem Schrecken erholt hat ... und für alle kleinen Sheriffnachkommen ...« Der Mann zog mit strahlendem Gesicht von dannen, und Florian zog sich das Taschentuch aus dem Ärmel, um sich die Stirn zu trocknen. Die anderen Circusangehörigen sahen ihn mit gemischten Gefühlen an. »Ich hab’ Sie ja schon so manchem die Hucke vollügen hören, Florian«, sagte Trimm. »Aber Peggy als Lämmchen zum Knuddeln hinzustellen das hätte noch nicht mal Ananias geschafft.« »Wenn irgendein Gaffer sie mit der Mistgabel angepiekst hätte«, sagte Rouleau, »oder irgendeine Göre sie mit einem Stein geworfen – ça me donne la chiasse! – Sie wissen ganz genau, daß sie Handstand auf dem oder der Betreffenden gemacht hätte. Und dann hätten wir wirklich eine Schaufel gebraucht.« »Selbstverständlich bin ich mir darüber im klaren«, fuhr -204-
Florian ihn an. »Und ich bin von Herzen dankbar, daß so etwas nicht geschehen ist. Aber ich weigere mich, mir Sorgen über alles zu machen, was hätte geschehen können. Das tue ich erst dann, wenn es sein muß. Und jetzt, Monsieur Roulette, Tiny Tim – zurück ins Chapiteau und zum Klingelbeutel. Colonel Ramrod, holen Sie den Quakemaker, und ihr beiden meldet euch bei Maggie zur Kostümanprobe. Madame, Mam’selle, pellt euch aus diesen überkandidelten Kleidern raus und macht uns was zu essen. Ich werde jetzt hingehen und versuchen, Frieden mit Abdullah zu schließen. Der heutige Tag mag zwar ein Tag der Ruhe und der Besinnung sein ha! –, aber morgen muß eine Vorstellung steigen!« Entweder hatten doch nicht allzu viele Gaffer Angst vor der Unanständigkeit, oder aber der Stellvertretende Sheriff hatte verbreitet, der Circus sei doch einigermaßen anständig, denn am nächsten Tag kamen wieder Leute aus Lexington und Umgebung auf den Festplatz, um sich die Vorstellung anzusehen. Zwar war die Menge nicht so dicht gedrängt wie gestern bei den Gottesdiensten, aber es reichte, die Sitze zu füllen. »Die meisten haben natürlich mit Südstaatengeld bezahlt«, sagte Florian zu Edge. »Einigen scheint aber doch klar zu sein, daß wir Sterblichen aus Fleisch und Blut ein etwas handfesteres Entgelt brauchen als die Geistlichkeit. Infolgedessen haben eine ganze Menge Leute mit Silbergeld bezahlt, und der Rest hat Eßbares oder sonst brauchbare Tauschwaren gebracht. Ein Junge war sogar dabei, der mir eine Handvoll Elefantenkot anbot.« Edge lachte. »Und Sie haben ihn fortgeschickt?« »Himmel, nein. Ich habe ihm gesagt, schon eine kleine Prise davon sei soviel wert wie eine Eintrittskarte – den Rest durfte er behalten. Es lohnt sich immer, eine gute Lüge aufrechtzuerhalten.« -205-
Magpie Maggie Hag gab im Roten Wagen immer noch Karten aus. Heute war Monsieur Roulette der Ansager vor dem Museumswagen. Im Chapiteau hatte sich beim Potpourri das Banjo des Wilden Mannes Tims Horn und Abdullahs Trommel angeschlossen. »Unter den Sachen, die wir eingenommen haben«, sagte Florian, »befinden sich auch wieder ein paar billige Teller. Clover Lee kann also welche in die Luft für Sie werfen, und Sie können sie mit Ihrem Karabiner in Scherben schießen. Wie weit sind Sie denn inzwischen mit der Ausarbeitung Ihrer Nummer gekommen?« »Ich hab’ den Revolver auf eine bestimmte Entfernung eingestellt. Den Vormittag über habe ich mit leichterer Ladung probiert und verfaulte Kakipflaumen von dem Baum dahinten heruntergeschossen. Ich nehme an, Sie haben mich gehört.« »Jawohl. Und Obie habe ich unter der Last der Kanonenkugeln stöhnen hören. Freut mich, daß Sie beide Ihre Lehrzeit so ernst nehmen.« »Nun, da ich ja schlecht einen Kakipflaumenbaum ins Zelt stellen kann, habe ich mir eine Schießscheibe aufgemalt.« Edge zeigte sie ihm: Mit einem Stück Blei von einer Kugel hatte er auf die Rückseite eines Circusplakats konzentrische Kreise aufgemalt. »Wenn Sie mir mal Ihre Bleifeder leihen, schwärze ich die Ringe und die Zielmitte ein.« »Nein, nein«, sagte Florian. »Sie sind ein aufrichtiges Mannsbild, Zachary. Aber Ehrlichkeit ist nicht unbedingt das einzig Richtige für einen Artisten. Nein, nein, eine Zielscheibe aus Papier – das geht nicht.« »Aber auf irgendwas muß ich doch schießen.« »Für heute jedenfalls werden wir noch ein paar Teller opfern. Ich will Ihnen was sagen. Laden Sie den Karabiner mit einer Schrotpatrone, und damit schießen Sie einen Teller in der Luft ab. Dann laden Sie Ihren Revolver mit fünf Kugeln, und in die -206-
letzte Kammer kommt nur Pulver hinein. Clover Lee wird auf der Erdpiste fünf Untertassen aufstellen. Die zerballern Sie so dramatisch wie möglich. Damit ist das Publikum überzeugt, daß Sie mit richtigen Kugeln schießen. Dann lege ich in der Ansage für Sie noch etwas zu, und Sie feuern die ungeladene Kammer auf Clover Lee ab. Die wird schon wissen, was sie zu tun hat.« »Schön. Sie sind der Boss. Oder vielmehr nein – der Prinzipal, wie Sie sagten.« »Sie lernen rasch.« In diesem Augenblick traten Roozeboom und Yount auf sie zu. Roozeboom trug eine Obststeige aus Holz, und Yount eine seiner Kanonenkugeln. Da Magpie Maggie Hag mit dem Nähen der neuen Kostüme gerade erst anfing, hatte Yount sich selber eines zusammengestellt. Er war barfuß, trug auch keine Kopfbedeckung und war vornehmlich in seine eigene lange Unterwäsche gekleidet; nur um die Hüfte hatte er sich eines der Felle des Wilden Mannes gebunden. Aus einiger Entfernung sah er aus wie ein sehr blasser und muskelbepackter Riese, unbekleidet bis auf das dichte Fell besagten Lendenschurzes und den Bart. Als er näherkam, begriff Edge, wie überaus nackt er aussah und rief: »Obie, was hast du gemacht? Sieh doch bloß mal an, wie du aussiehst!« »Ich hab’ mir den Kopf rasiert«, sagte Yount hochtrabend, »damit sich auch Schweißperlen bilden. Hey, Mr. Florian – Ignatz und ich haben uns was ausgedacht, was er den Höhepunkt meiner Nummer nennt. Was halten Sie davon? Er lehnt Jules’ Leiter an den Mast in der Mitte, klettert rauf und läßt eine Kanonenkugel auf diese Kiste fallen. Die geht dabei natürlich zu Bruch. Dann knie ich mich dorthin, und Ignatz läßt die Kugel auf mich runterfallen. Wie hört sich das an?« »Großartig, Obie.« Damit wandte Florian sich wieder Edge zu und sagte: »Sehen Sie? Etwas Show gehört zum Geschäft des -207-
Artisten dazu. – So, dann, alle: macht euch fertig. Gleich werde ich den Musikanten das Zeichen geben, damit sie ›Wait For The Wagon‹ spielen, was wiederum für Monsieur Roulette das Signal ist, mit seiner freien Schau Schluß zu machen. Er wird aufhören, über das Museum und den Löwen große Töne zu spucken, und die Leute ins Chapiteau schicken. Sobald alle Platz genommen haben, ist es Zeit für die Parade. Die Vorstellung kann also beginnen. Wie steht’s, Zachary – sollten Sie nicht Ihre Waffe laden?« »Das werde ich tun, sobald Madame Hag den letzten dort drüben ihre Eintrittskarte verkauft hat. Ich muß mir nämlich etwas Maismehl von ihr borgen.« »Wozu denn das?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nur eine leichte Ladung Pulver für die Pistole nehme. Deshalb möchte ich jede Patronenkammer mit etwas Maismehl zustopfen, ehe ich die Kugel reindrücke.« »Aber wird dann nicht eine Wolke von gelbem Pulver versprüht, wenn der Schuß losgeht?« »Nein. Das Mehl verbrennt, wenn es hinter der Kugel zum Lauf rausfliegt. Damit werden auch die Pulverrückstände von den vorherigen Schüssen verbrannt – es hilft also, den Lauf sauber zu halten. Jeder Pistolenschütze kennt diesen kleinen Kniff.« »Nun, man lernt nie aus!« Etwa zehn Minuten später brachte ein gewaltiges Geplärr und Gedröhn von Horn und Baßtrommel das erwartungsvolle Geraschel und Gemurmel der Menge im Chapiteau zum Schweigen. Florian ließ mit seiner Trillerpfeife einen durchdringenden Pfiff ertönen. Diesmal begann die Parade mit Colonel Ramrod besonders glanzvoll. In gestrecktem Galopp ritt er auf seinem rotbraunen Thunder ins Chapiteau und umrundete dann mehrere Male allein -208-
mit gezücktem Säbel die Manege. Zwar hatte er nach wie vor seine alten Armystiefel, die graue Hose und den Rock mit den Messingknöpfen der Südstaaten an, doch hatte Magpie Maggie Hag irgendwo einen Hut mit aufgeschlagener Krempe für ihn aufgetrieben und eine gewaltige Straußenfeder daran gesteckt, so daß er unglaublich stutzerhaft aussah. Doch die Zuschauer sahen ihn offensichtlich nicht so, denn sie brachen in anerkennenden Beifall aus. Danach kam Edge sich zu seiner eigenen Verwunderung und Genugtuung – weniger wie ein Angeber und mehr wie ein richtiger Artist vor. Infolgedessen bemühte er sich, auch sein Bestes zu geben. Beim Umrunden der Manege führte er mit seinem Säbel Ausfall und Stich, Flankenhieb, Seitenschlag und Stecher ebenso gut vor, wie er das ohne richtigen Gegner konnte, wobei seine Klinge blitzte und schwirrte und das Publikum den Beifall noch verstärkte. Ein paar Männer in der Menge stießen sogar den schrillen Rebel Yell aus, bei dem sich einem die Haare sträubten. Wieder wurde draußen ins Horn gestoßen, woraufhin Colonel Ramrod seinen Thunder vor dem Hintereingang rutschend zum Stehen brachte. Dann ließ er das Pferd in gemessener, gestelzter Gangart weitergehen und hielt den Säbel in Salutierhaltung, um so die Parade der Artisten und des Elefanten anzuführen. Er stimmte sogar mit in das Lied ›All Hail, You Ladies, Gentlemen! Let Nothing You Dismay‹ ein. Wieder kam zur Eröffnungsnummer Tim Trimm in den viel zu großen Stiefeln und der viel zu weiten Clownskleidung unbeholfen in die Manege gewatschelt, woraufhin Florian ihm vorwarf: »Du solltest eher aufstehen, Bürschlein. Du weißt schließlich, es ist der frühe Vogel, der den Wurm erwischt.« »Ha! Dann muß der Wurm ja noch früher aufgestanden sein. Und da sollte ich dem nacheifern?« Diese sowie Trimms andere schlagfertigen Antworten hatten die erwarteten Lacher zur Folge. Doch dann sagte Florian: »Du behauptest, jeden Tag schwer zu arbeiten. Da kann man wohl -209-
sagen, daß du dein Bett nachts genießt, stimmt’s?« Woraufhin Trimm antwortete: »Nein, Sir. Kaum liege ich drin, bin ich auch schon eingeschlafen. Und kaum bin ich wieder wach, muß ich auch schon aufstehen.« Er sah Florian boshaft von der Seite an und schloß: »Folglich genieße ich mein Bett überhaupt nicht.« Wieder lachten die Zuschauer, oder zumindest ein großer Teil von ihnen. Von irgendwoher ließen sich schrille Schreie wie: »Schande!« und »Ungeheuerlich!« und »Unflätige Ausdrucksweise!« vernehmen. »Himmel, das ist die Handvoll Harpyen von gestern«, sagte Madame Solitaire, die das Geschehen vom Eingang her verfolgte. Florian holte aus, um Trimm für diese Antwort eine Maulschelle zu geben, doch statt das Klatschen des Schlags zu imitieren, lief Tim davon und zwang Florian, hinter ihm herzulaufen. Tim hoppelte unbeholfen in seinen viel zu großen Stiefeln und Hosen und fiel platsch auf die Nase. Dann hatte er sich wieder hochgerappelt und schlüpfte im Laufen wie unabsichtlich völlig aus Stiefeln und Hose heraus, so daß seine nackten Beinchen unter den Hemdschößen aufleuchteten. Die Zuschauer wollten sich ausschütten vor Lachen – nur die Mutter von Vernon und Vernelle sowie ihre Gefährtinnen verzogen keine Miene. Zischend und geifernd riefen sie: »Schande! Schändlich!«, bis die anderen Leute aufhörten zu lachen und unbehaglich hin- und herrutschten. Eine der Frauen stand auf, drehte sich langsam um, ließ den Blick verächtlich über das Publikum hingehen und erklärte laut: »Nachbarn, mich deucht, ihr alle amüsiert euch zu toll, um noch gute Christen zu sein!« Betreten schauten die Gaffer drein, als hätte die Frau die Wahrheit gesprochen. Diesmal erwiesen sich Tim Trimms Lästermaul und seine giftigen Bemerkungen als nützlich. Er blieb in seinem -210-
kleinkindhaften Stolperlauf stehen und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf die Frauen, die mit trichterförmig um den Mund gelegten Händen immer noch »Schande! Schändlich!« riefen. Auf der Stelle hüpfend sprang Tim auf und ab und schrie dann laut: »Diese Vorstellung wird nicht weitergehen, ehe nicht diese Trunkenbolde in Frauenkleidern mit ihrem schlechten Benehmen aufhören!« Wieder wollte das Publikum sich ausschütten vor Lachen – und sämtliche Circusleute mit ihnen – und so mancher Finger wurde voller Schadenfreude auf die Frauen ausgestreckt. Diese wurden vor Empörung kreideweiß, dann liefen sie vor Verlegenheit puterrot an, um sich gleich darauf im Seitwärtsgang wie die Krebse durch die Reihen hindurchzuschieben, ohne sich zu erheben. Das jedoch trug ihnen Pfiffe und andere Unmutsäußerungen von Seiten der anderen Gaffer ein. »Trunkenbolde! Die Saufköppe schleichen sich raus, um sich draußen einen zu genehmigen«, woraufhin die Frauen buchstäblich aufsprangen und aus dem Chapiteau flohen. Tiny Tim Trimm nahm seine Clownsnummer wieder auf und heimste heute noch mehr an Lachern und Beifall ein, als er es sonst gewohnt war. Als er schließlich die Manege verließ, wurde er auch von seinen Kollegen mit ungewöhnlichem Beifall und anerkennendem Schulterklopfen begrüßt. Der Rest der ersten Programmhälfte fand hier in Lexington eine nicht minder gute Aufnahme als zuvor in Lynchburg. Die gutmütigen Lexingtoner ließen sich von der Pete-JenkinsNummer des »hochbetagten Geburtstagskindes« einwickeln und zeigten sich hinterher genauso begeistert, als diese sich als Madame Solitaire entpuppte, und wurden von Entsetzen gepackt, als der »tückische Löwe Maximus« Captain Hotspur durch einen ›Biß‹ Eselsblut aus dem Arm spritzen ließ. Die anschließende Pause war für Edge und Yount eine Qual, weil Florian sie beide für die zweite Programmhälfte eingeteilt hatte. Sie versicherten sich gegenseitig immer wieder, sie -211-
hofften, es würde verdammt noch mal irgend etwas passieren, um die Pause endlos in die Länge zu ziehen, und dann wieder erklärten sie, sie wünschten verdammt noch mal, sie würde schneller vergehen, damit sie ihr Debüt hinter sich brächten und ein für allemal wüßten, ob sie ein Erfolg oder eine Pleite wären. Wie zuvor begann die zweite Hälfte des Programms damit, daß Clover Lee als nahe Verwandte der Generale Fitz und Robert E. Lee und ihr Pferd Bubbles als ebenso nahe Verwandte von Traveller vorgestellt wurde. Nachdem diese Nummer vorüber war und Clover immer noch dabei war, den Applaus für sich und Bubbles mit Verneigungen zu quittieren, trat Florian aus dem Hintereingang des Chapiteau, wo Yount in seinen Unterhosen und dem Fellschurz von einem Fuß auf den anderen trat, und sagte: »Es ist soweit, Quakemaker. Irgendwelche Fragen, ehe ich die Ansage für Sie mache?« »Ja«, sagte Yount, und stellte wie von Lampenfieber gepeinigt eine völlig unangebrachte Frage. »Wie kommt es, daß Sie die Leute immer auffordern, auch für die Pferde zu klatschen? Die Pferde laufen doch eigentlich immer nur im Kreis herum, was ja Indianermustangs im Pferch auch tun, das hab’ ich mit eigenen Augen gesehen.« »Damit haben Sie recht, Obie«, sagte Florian und antwortete so ernst, wie Young gefragt hatte. »Mit richtigen Circuspferden könnten unsere Gäule ja wohl kaum konkurrieren. Aber sehen Sie sich Bubbles an, wie er jetzt da steht. Das Pferd tänzelt genauso stolz, als führte es ein schwereloses Ballett auf. Sollte ich dem Tier denn seinen Anteil an der Bewunderung vorenthalten, nach der alle Artisten sich sehnen und in der sie sich aalen?« »Nein, wohl nicht. Ich nehme es ihm auch gar nicht übel. Ich wollte es nur wissen.« Florian zitierte: Ist denn der geflügelte Pegasus edler einhergeschritten -212-
Als Rosinante, da sie sich Gott näherte? Yount fragte: »Ist das ein Gedicht, das Sie unterwegs gemacht haben?« »Nein, ich wünschte, es wäre so. Sind Sie bereit, Quakemaker?« »Bereiter kann man gar nicht sein.« Ob er von Nervosität oder Ängsten gebeutelt wurde oder ihm schlichtweg der Schrecken in den Gliedern saß, der Quakemaker und seine Assistenten, das muß zu ihrem Lob gesagt werden, erwiesen sich als die geborenen Artisten. Zu Tusch und Trommelwirbel und Banjogeklirr sagte Florian als Sprechstallmeister ihn auf höchst appetitmachende Weise an als »das gewaltige Menschenwesen, das bei einer wissenschaftlichen Forschungsreise in Patagonien entdeckt wurde, was in der argentinischen Sprache soviel heißt wie ›Land der Giganten‹ ...«In dieser Tonart ging es eine Weile weiter. »Und jetzt, wie Herkules in das Fell eines Löwen gekleidet, den er mit bloßen Händen erwürgt hat ... der stärkste Mann der Welt, der Quakemaker.« Womit Yount mit einem Schritt in die Menge trat, der fast so gewichtig war wie der von Brutus, der – den trommelschlagenden Abdullah auf dem Rücken – unmittelbar hinter ihm hereinkam. Der Elefant schleifte ein kräftiges, aus starken Seilen geknüpftes Netz mit den drei Kanonenkugeln durch den Sand, wobei letztere metallisch klickten – und Brutus bemühte sich, auch noch besonders langsam einherzuschreiten und sich gegen das Gewicht nach vorn anzustemmen, als wäre dieses selbst für einen Behemoth noch eine zu schwere Last. ExSergeant Obie Yount folgte jedem einzelnen Ratschlag, den Captain Hotspur ihm gegeben hatte, was schon damit anfing, daß er den Brustkorb blähte und vernehmlich schnaufte, als er die Eisenkugeln aus dem Netz in die Mitte der Manege rollte. Ja, er übertraf die Ratschläge sogar noch, als ihm klar wurde, daß -213-
die Sonne seinen frisch geschorenen Schädel nur noch verschwitzter zur Geltung bringen würde und er sich daraufhin mitten in ein Bündel Sonnenstrahlen hineinstellte, das durch die Löcher in der Zeltleinwand hereinfiel ... Nachdem er sich mit einem Lappen umständlich die Hände trockengewischt und übertrieben penibel die drei Kanonenkugeln um sich herum zurechtgerückt hatte, strengte er sich furchtbar an – und das ganze dauerte mehrere Minuten –, auch nur eine einzige Kugel mit beiden Händen hochzuheben. Während die Zuschauer in laute Oohhs und Ahhs ausbrachen, legte er die Kugel wieder hin, wischte sich nochmals nicht nur die Handflächen, sondern auch den nunmehr kahlen Kopf, den schwarzen Bart und sogar die Achselhöhlen ab, hob dieselbe Kugel nochmals auf, klemmte sie sich unter den Arm, bückte sich und hob unter womöglich noch augenfälligerem Kraftaufwand – mit der anderen Hand eine zweite Kugel in die Höhe. Donnernder Applaus. Er schob diese Hand nach innen, um sich auch diese Kugel unter den Arm zu klemmen, und hielt schließlich beide Kanonenkugeln links und rechts zwischen Ellbogen und Hüfte fest an sich gedrückt. Damit hatte er die Hände frei, und als er sich nochmals bückte, schaffte er es gerade eben, die dritte Kugel mit den Fingerspitzen zu packen. Als er sich unter unendlichen Mühen aufgerichtet hatte, zwei Kugeln unter den Armen und die dritte zwischen den ausgestreckten Fingern beider Hände festhielt, brauchte der Quakemaker nicht mehr nur so zu tun, als ob er schwitzte. Auch der letzte Trick, der den Höhepunkt dieser Nummer bilden sollte, lief gut. Captain Hotspur betrat die Manege und erklomm die kurze, gegen den Mast in der Mitte gelehnte Leiter. Abermals schob Yount unter viel Gewese und mit vielen kleinen Verrückungen die Obststeige zurecht und hievte sodann eine Kanonenkugel in die Höhe, um sie zwischen den beiden Holmen abzulegen, die zu beiden Seiten des Mastes hervorlugten. Dann entspann sich zwischen Hotspur und dem Quakemaker ein aus -214-
Grunzern und Gesten bestehendes Zwiegespräch, zu dem auch noch weiteres Zurechtrücken der Obststeige gehörte. Schließlich, auf ein Signal hin, rührte Abdullah seine Trommel, so daß der Wirbel erst leise anhob und dann immer stärker wurde, der Quakemaker vollführte eine Hackbewegung und Hotspur stieß die Kugel von der Leiter herunter. Die alte Steige zerkrachte in zig Teile. Wieder wuchtete der Quakemaker die Kugel unter Einsatz schierer Muskelkraft bis zu Hotspur oben auf der Leiter und begab sich dann dorthin, wo zuvor die Obststeige gestanden hatte, und ließ sich auf Hände und Knie nieder. Inzwischen waren die Schweißperlen einzeln sichtbar, als sie von seinem Gesicht auf den Sand der Manege hinuntertropften. Nach einem weiteren Austausch, der sich in Grunzern und Gesten kundtat, und unter Abdullahs womöglich noch weiter in die Länge gezogenem Trommelwirbel vom Pianissimo zum Fortissimo, versetzte der Neger der Trommel unversehens einen donnernden Schlag – Bummm! –, und in der plötzlich einsetzenden Stille ließ Hotspur die Kugel fallen, so daß sie auf Quakemakers Nacken landete, was sich anhörte, als ob ein Vorschlaghammer eine Rinderlende getroffen hätte. Der Quakemaker grunzte – was diesmal vielleicht nicht gespielt war –, doch sein Kopf blieb auf dem Hals, der Nacken blieb heil und die Kanonenkugel kullerte nicht herunter. Nach einem spannungsgeladenen Augenblick ging er mit gebeugtem Kopf hoch, um sich dann langsam zu voller Größe aufzurichten, wobei die Eisenkugel blieb, wo sie lag. Er wartete auf den Applaus, der ihm überreich zuteil wurde, dann ließ er die Kugel über die Schulter und den ausgestreckten Arm abrollen. Im letzten Augenblick drehte er die Hand blitzschnell um, so daß die Handfläche nach oben zeigte, und auf dieser kam die Kugel dann zu liegen. Er ließ die Kanonenkugel kreisen, als wöge sie gar nichts, dann ließ er sie fallen, und das Publikum vernahm deutlich den dumpfen Laut, mit dem sie auf dem Boden landete. -215-
Lang anhaltender, donnernder Beifall, während Hotspur und Trimm die Kugeln zurückrollten ins Netz, das Brutus hinausschleifte. »Das haben Sie gemacht wie ein richtiger alter Hase!« rief Florian laut und klopfte Yount anerkennend auf die Schulter. Dann lief er in die Manege, um den nächsten Künstler anzusagen: Colonel Ramrod. »Hoffentlich falle ich dagegen nicht ab«, murmelte Edge unsicher. Der alte Hase, der bis vor kurzem noch sein Kompaniespieß gewesen War, sagte zu ihm: »Gib dich nur so wie ein richtiger Colonel, Colonel.« »Mr. Obie ist gegen Schluß aber ganz schön ins Schwitzen gekommen«, sagte Clover Lee und lachte. »Ich wette, Sie haben sich ein bißchen von Ihrem Haar zurückgewünscht, damit es die Kanonenkugel abfederte.« »Das war es nicht, Miß«, sagte der Quakemaker treuherzig. »Mir fiel nur gerade in diesem Augenblick ein, daß ich meinen Kopf ehrlich verwirkt haben würde, wäre in diesem Augenblick jemand in der Menge aufgesprungen und hätte geschrien: ›Das sind doch die Kanonenkugeln von Stonewalls Grab‹.« Diese Bemerkung belustigte Edge dermaßen, daß er ganz entspannt war, als Florian mit seiner langen Ansage ans Ende kam und er fast genauso unbekümmert und großspurig in die Manege hineinstolzierte wie Clover Lee. »... Die Geißel der Rothäute, der Held der Grenzkriege, Offizier unserer eigenen ruhmreichen Konföderierten Kavallerie ... unübertroffen bester Scharfschütze der Welt – Colonel RamROD!« Als Clover Lee anmutig die Arme zur Siegespose hochriß, tat Colonel Ramrod es ihr nach und hielt dabei den messingbeschlagenen Karabiner in der einen, den federgeschmückten Hut in der anderen Hand. Die Zuschauer -216-
klatschten mehr als nur höflich oder erwartungsvoll – der Applaus galt auch dem Südstaatengrau, das er trug. »Für die erste Darbietung seiner unvergleichlichen Schießkunst, meine sehr verehrten Damen und Herren ...«, lobte Florian und erging sich in weiteren Superlativen. Clover Lee tanzte dorthin, wo am Mittelmast Ramrods wenige Requisiten bereitgelegt waren. Der Colonel ahmte Quakemakers spannungserhöhende Pingeligkeit nach, runzelte angestrengt die Stirn und tat so, als prüfe er seine Waffe von der Mündung bis zum Hahn. »... nur einen einzigen Schuß, nur eine Kugel«, ereiferte Florian sich geradezu, »womit er nur eine einzige Chance hat, das bewegliche Ziel zu treffen, meine Damen und Herren. Ich gebe Ihnen fünf Sekunden, untereinander noch Wetten abzuschließen, wenn Sie möchten.« Während Florian langsam und laut bis fünf zählte, spürte Ramrod, wie die Augen der Menge sich förmlich an ihm festsaugten, so als wäre er das Ziel eines ganzen Bataillons von Gewehrmündungen. »Mam’selle – fertig – los!« Sie ließ die Untertasse in einer steilen Aufwärtskurve bis ganz zur Chapiteau-Kuppel hochsausen. Ramrod hielt die Büchse schräg links nach vorn. Jetzt riß er den Kolben fast mühelos an die Schulter, spannte den großen Hahn, tat so, als gälte es, wirklich nur eine einzige Bleikugel auf den kleinen hellen Gegenstand abzuschießen, feuerte jedoch nur ganz allgemein in diese Richtung, weil er überzeugt war, daß ein Teil des Schrotes schon treffen würde. Die Gewalt des Schusses war so heftig, daß die Untertasse sich oben in ihre Atome aufzulösen schien. Clover Lee hüpfte begeistert umher, als hätte sie eine Wette auf den Schuß abgeschlossen und gewonnen. Tim Trimm kam gelaufen, den abgefeuerten Karabiner in Empfang zu nehmen. Eine große Wolke von blauem Rauch entschwebte, und die Leute klatschten dem Mann in Grau Beifall. Als nächstes zog der Colonel seine Pistole aus dem Halfter, betrachtete sie wieder -217-
mit gerunzelter Stirn und untersuchte sie: Er ließ den Zylinder sich drehen, zählte die Zündhütchen und so weiter. Florian erging sich zungengewandt in weiteren Lobhudeleien, und Clover Lee trug die verbliebenen fünf Untertassen an jenen Abschnitt der Pistenböschung, hinter dem nur der leere Ausgang sich auftat. Dort steckte sie die kleinen Teller mit dem Rand in die Erde des aufgeschütteten Ringwalles, so daß sie aufrecht dastanden. »Bitte machen Sie sich klar, meine Damen und Herren:« empfahl Florian, »fünf Ziele. Der Colonel hat nur sechs Schuß, sie damit zu treffen und zerspringen zu lassen.« Ramrod steckte die Pistole wieder in das Halfter an der rechten Hüfte, so daß der Walnußgriff nach vorn zeigte; die Lederpatte der Pistolentasche war aufgeschnallt und hochgeklappt. Er begab sich an die dem Ziel entfernteste Rundung der Manegenpiste, hielt die Hände ein Stück von den Hüften entfernt, ein ganz klein wenig unter der Gürtelhöhe, und Florian bellte: »Feuer!« Das Folgende passierte so schnell, daß das Blam! der Pistole gleichsam das Ausrufungszeichen hinter Florians Befehl zu setzen schien und die erste Untertasse in der Reihe auseinanderflog. Colonel Ramrod hatte die Linke vorschnellen, die Waffe herausreißen und gleichzeitig mit dem Daumen spannen lassen, während er sie schußbereit in Augenhöhe anhob. Dann fiel die Linke herunter, und es schien, als schwebe die Pistole gerade lange genug in der Luft, bis die Rechte hochgefahren und sie gepackt, der Colonel gezielt und den Abzug durchgedrückt hatte – alles so blitzschnell, daß es schien, als vollziehe es sich gleichzeitig mit Florians Befehl. Als wiederum blauer Rauch davonschwebte und die Leute klatschten und Clover Lee erfreut herumtollte, ließ Colonel Ramrod die Waffe am Abzugsbügel um seinen ausgestreckten Zeigefinger kreisen, so daß sich ein anmutiger Wirbel ergab. Dann versenkte er sie wieder in der Pistolentasche. Er hätte die noch verbliebenen vier Untertassen genauso -218-
schnell kaputtschießen können, wie es ihm gelang, den Hahn der Waffe zu spannen – aber »sorge dafür, daß es auch wirklich schwierig aussieht«, hatte der Quakemaster ihm geraten. Deshalb schoß er die nächste Untertasse im Knien in Stücke und die nächste, indem er die Pistole mit der Linken hielt, die nächste mit einem Schuß aus der Hüfte heraus, als hätte er überhaupt nicht gezielt. Zwischendurch wischte er sich die Hände an der Hose ab, fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und rieb sich mit den Knöcheln die Augen, als wären Spannung und Konzentration einfach zuviel. Als die letzte Untertasse in Scherben flog, reagierten Clover Lee und die Zuschauer so freudig und begeistert, als hätte er den letzten Yankee in Virginia erschossen. »Und jetzt!« rief Florian, als er sich wieder Gehör verschaffen konnte, »und jetzt, nachdem Colonel Ramrod das fast Unmögliche geschafft hat, wagt er sich an das wirklich Unmögliche. Mam’selle Clover Lee: Glauben Sie fest genug an das Können dieses edlen Offiziers, daß Sie Ihr Leben seiner Geschicklichkeit anvertrauen?« Das Mädchen wirkte nervös und schien zu zaudern, doch nur für einen Moment. Dann setzte sie eine zuversichtliche und entschlossene Miene auf und nickte. »Tapferes Mädchen!« lobte Florian und wandte sich Ramrod zu. »Haben Sie, Colonel, das Gefühl, daß Ihre Hand und Ihr Auge immer noch sicher genug sind, diese gefährliche Herausforderung zu bestehen? Sind Sie bereit, das Risiko einzugehen, unter Umständen zum Mörder an diesem bezaubernden jungen Geschöpf zu werden?« Colonel Ramrod sah festentschlossen und überlegen aus; er nickte resolut. »Nun denn«, sagte Florian. »Wir gehen das Wagnis also ein. Meine Damen und Herren, ich muß Sie jetzt um absolute Ruhe und Lautlosigkeit ersuchen. Denn was Colonel Ramrod jetzt versuchen wird, ist, diesem braven Kind direkt ins Gesicht zu schießen, und zwar dergestalt, daß Mademoiselle Clover Lee -219-
DIE KUGEL MIT DEN ZÄHNEN AUFFÄNGT.« Den Leuten stockte der Atem. »Bitte, absolute Ruhe. Diejenigen, die es nicht ertragen können zuzusehen, werden gebeten, den Pavillon augenblicklich zu verlassen. Desgleichen jene, die zu Ohnmacht und zu epileptischen Anfällen neigen. Colonel Ramrod darf durch keinen Laut und durch keine Bewegung abgelenkt werden.« Colonel Ramrod konnte sich ein leises Lächeln über dieses ganze Geflunker nicht verkneifen, und wenn er lächelte, sah er nicht gerade am einnehmendsten aus. Die Menschen starrten ihn an, wobei einige sein Aussehen wohl für den Ausdruck von schwermütiger Trauer über die Aussicht hielten, dem Mädchen etwas antun zu können; andere hingegen mochten annehmen, daß in diesem Augenblick nur seine echte, heimtückische Natur zum Durchbruch kam, jene, welche ihn ursprünglich einmal zur Geißel der Rothäute hatte werden lassen. Die Hände auf die Hüften gestemmt, stand Clover Lee da und kehrte den Rücken dem Hinterausgang des Chapiteaus zu. Den Kopf hatte sie trotzig gereckt, und ihre Miene trug den Ausdruck eines ›Lebewohls, du schnöde Welt!‹ zur Schau. Florian fragte: »Sind Sie bereit, Mam’selle?!« Sie wich nicht zurück, aber sie nickte auch nicht, sondern ließ einfach die Augen seitlich zu ihm hinübergleiten. »Dann empfehlen Sie Ihre Seele Gott, meine Liebe. – Sind Sie bereit, Colonel?« Ramrod leckte sich die Lippen, rieb die Hand an der Hose ab, ruckte an seinem Hut und nickte. »Sehr wohl. Ich sage jetzt nichts mehr und werde auch nicht den Feuerbefehl geben. Von diesem Augenblick an, Sir, sind Sie auf sich selbst angewiesen.« Damit trat er gänzlich aus der Manege heraus. Colonel Ramrod stellte sich breitbeinig hin und nahm eine feste, gespannte und angespannte Haltung ein. Er zielte tatsächlich äußerst genau – hielt etwas niedrig, damit etwaige kleinste Teilchen von dem noch heißglühenden Maismehl nicht Clover Lees Leotard versengten. Nach einer unendlich in die -220-
Länge gezogenen, der spannungsgeladensten Pause der gesamten Vorstellung des heutigen Tages, schoß er. Clover Lee ruckte kaum wahrnehmbar zurück; in unsicherer, wie nach Halt suchender Geste lösten ihre Hände sich von den Hüften, und der blaue Pulverdampf ließ ihre Umrisse momentan verschwimmen. Dann sah man, wie sie lächelte, ihre hellen weißen Zähne zeigte, die sie leicht auseinandergenommen hatte. Die Menge entließ den angehaltenen Atem, daß es nur so rauschte. Clover Lee führte eine Hand an den Mund, und polkte ein Stück Blei zwischen den Zähnen hervor, hielt es in die Höhe und tanzte um die Menge. Dabei zeigte sie die Kugel hoch, und die Menge brachte ihr eine donnernde Ovation dar. Nachdem sie um das gesamte Manegenrund herumgetanzt war, entdeckte sie einen mit weit aufgerissenen Augen strahlend und begeistert klatschenden alten Mann und warf diesem die Kugel zu. »Untersuchen Sie sie, Sir!« rief Florian. »Lassen Sie sie die Runde machen, damit alle sie sehen können. Die Kugel weist mit Sicherheit Spuren von der Gewalt auf, mit der sie auf den zarten Zähnen unserer liebreizenden jungen Dame aufgeprallt ist.« Als Captain Ramrod rückwärts aus der Manege hinausging und dabei wiederholt den federbesetzten Hut schwungvoll vom Kopf riß und über den Boden schleifen ließ, ging ihm auf, daß Clover Lee nicht eine unbenutzte Kugel aus seinem Beutel mit Munition und anderem Zubehör herausgenommen hatte. Sie mußte eine hinter den zerschossenen Untertassen aufgehoben haben: eine Kugel, die einsichtige Verformungen aufwies, damit man sie bedenkenlos unter den Zuschauern herumgehen lassen konnte. Mochte er es fürderhin auch mit Schwindlern zu tun haben – es waren immerhin professionelle Schwindler, die etwas von der Sache verstanden und in ihrem Beruf sehr gut waren. »Sie beweisen, daß Sie das Zeug zu einem richtigen Artisten haben, Zachary, ami«, sagte Monsieur Roulette am Hinterausgang, wo er auf seinen eigenen Einsatz wartete. »Wie -221-
Sie kurz vorm Höhepunkt das Gesicht zu einer Grimasse verzogen haben, das war wirklich meisterlich. Vieldeutig. Und überzeugend.« Edge überlegte, wie es wirklich gewesen war, und sagte: »Ich habe nichts weiter getan als gegrinst.« »Ich habe mich gefragt – ja, sogar ich habe das getan: Fürchtet er jetzt das Risiko, das Mädchen umzubringen? Oder genießt er die Vorstellung peutetre? Vieldeutigkeit – das ist wahre Kunst!« »Ich habe nichts weiter getan als gegrinst«, wiederholte Edge, doch sein Kollege war bereits davon und wirbelte im Handstandüberschlag vorwärts in die Manege, und Florian rief: »Hier kommt der flinke, behende, geschmeidige und gelenkige Gummimensch – Monsieur ROULETTE!« Edge und Yount hatten nichts mehr zu tun, bis sie auf Thunder und Lightning aufsaßen, ins Finale ritten und gemeinsam mit den anderen ›Lorena‹ schmetterten. Erst einige Zeit später, nachdem die Zuschauer sich verlaufen hatten und die Artisten auf das Abendessen warteten, kam Florian, um Colonel Ramrod zu seiner Jungfernvorstellung zu beglückwünschen. Edge saß ein wenig abseits von den anderen, war offenbar in tiefes Nachdenken versunken, und murmelte nur ein beiläufiges Dankeschön für die Komplimente. »Was ist los?« fragte Florian. »Holt die Spannung Sie jetzt mit einem hysterischen Lachanfall ein?« »Nein, nein, mit mir ist alles in Ordnung. Es hat mir überhaupt nichts ausgemacht. Und gerade das ist es, was mich beunruhigt.« »Wie bitte?« Edge holte tief Atem. »Ich habe mich gerade gefragt, ob ich für diese Art von Beruf gemacht bin. Ich bin mein Leben lang Soldat gewesen und habe es immer mit der harten Wirklichkeit zu tun gehabt.« -222-
»Das wird hier nicht anders sein. Das Circusleben unterscheidet sich gar nicht so sehr vom Soldatenleben. Wie eine Truppe sind wir häufig unterwegs und haben uns mit dem Problem herumzuschlagen, von dem zu leben, was der Zufall bringt. Wie Soldaten sind für uns Disziplin und Pflicht sehr wichtig, aber wir haben die Freiheit – ja, es ist uns ausdrücklich gestattet –, in unserer Freizeit zu tun und zu lassen, was wir wollen. Der Hauptunterschied zwischen Circus und Armee aber scheint mir etwas zu sein, was Ihnen eigentlich gefallen müßte. Wir brauchen uns weder nach Handbüchern noch nach strengen Vorschriften zu richten. Das erlaubt uns, unbegrenzt zu improvisieren und spontanen Einfallen zu folgen. In einem Circus gleicht kein Tag dem anderen. Wir erwarten das Unerwartete: Überraschungen, Hindernisse, Rückschläge und gelegentlich einen Glückstreffer. Wer als Mensch damit zurechtkommen muß, ist auf alles gefaßt und gegen alles gewappnet. Und falls Sie jemals in das Soldatenleben zurückkehren sollten – ich wette, die Erfahrung kann Sie nur zu einem noch besseren Offizier machen.« »Nachschub und Versorgung eines Circus sind für mich Wirklichkeit genug, das können Sie mir glauben. Aber ... das Theaterhafte daran? Verzeihen Sie, Mr. Florian, ich will ja nicht abschätzig über Ihren Beruf reden ...« »Für uns ist der Circus Kunst, und Kunst ist ja wohl etwas Hohes und Hehres«, sagte Florian, ohne daß es gereizt geklungen hätte. »Genau bedacht, ist unsere die älteste der Künste – die Schaustellerei, das Darbieterische oder Theaterhafte, wie Sie es nennen. Und zugleich auch die flüchtigste aller Künste, das muß ich allerdings zugeben. Wir malen mit Licht in der Luft, jawohl. Doch wie Licht in der Luft, hinterlassen wir keine Spur, machen wir keine Geschichte. Dichter hinterlassen Gedanken, Maler und Bildhauer haben Visionen – selbst Soldaten hinterlassen Taten. Wir hingegen unterhalten nur und tun gar nicht erst so, als täten wir etwas -223-
Bedeutsameres. Wir ziehen in langweilige Gemeinden ein, in denen vom Alltag gebeutelte Menschen ein ganz gewöhnliches Leben führen, und bringen ihnen den Hauch von etwas Neuem, Ungewohntem, Exotischen. Für die Spanne von vielleicht nur einem Tag lassen wir die Leute einen Blick auf Glanz und Goldgespinst werfen, Gefahren und Verwegenheiten miterleben und sie lachen und den Atem anhalten, wie sie es vielleicht noch nie zuvor getan haben. Und dann, wie im Traum oder im Märchen – oder in dem, was die Schotten glamour, ›Blendwerk‹, nennen – sind wir plötzlich verschwunden und hat man uns schon wieder vergessen.« »Da haben Sie’s. Ein Soldat ist vielleicht nichts weiter als ein Faustpfand in einem Spiel – aber das Spiel selbst ist beileibe kein Märchen.« »Krieger hinterlassen Taten, eh? Sie möchten, daß man Sie in der Erinnerung behält. Wir hingegen möchten nur, daß man uns genießt.« »So meine ich das auch nicht. Verdammt, ich bezweifle, daß General Storiewall, der sich das Gras dort drüben von unten beguckt, weiß, ob man sich seiner erinnert oder nicht. Ich meine nur, daß ein Offizier, ja, noch der geringste Rekrut, es – solange er am Leben ist – mit handfesten, unvergänglichen Dingen zu tun hat.« »Mit den ewigen Wahrheiten?« sagte Florian sarkastisch. »Mit Unvergänglichem? Dann lassen Sie mich Ihrer Erinnerung ein wenig auf die Sprünge helfen, Zachary: Vor ein paar Jahren haben Sie noch in der blauen Uniform der Union gegen die Mexikaner gekämpft. Wenn Sie heute noch den blauen Rock trügen – was, meinen Sie, würde Ihre Einheit jetzt, wo dieser Krieg vorbei ist, als nächstes tun? An der Seite der Mexikaner kämpfen, um die Franzosen aus Amerika hinauszuwerfen?« »Gut, dann keine ewigen Wahrheiten«, sagte Edge ein wenig unbehaglich. »Aber ein Soldat weiß jedenfalls jeden -224-
Augenblick, wo er steht. Wer sein Feind, wer sein Verbündeter ist, was schwarz ist und was weiß. Worauf ich hinaus will, ist, daß man hier – im Circus – eben noch denkt, man weiß etwas, und gleich darauf ist man sich nicht mehr so sicher, weiß man es nicht mehr. Gewiß, auch Sie haben Wirklichkeiten, zum Beispiel die Sorge, woher genug zu essen bekommen, Geld, um weiterzukommen. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, ist alles wieder ganz anders, und man hat es mit der reinen Unwirklichkeit zu tun. Wie zum Beispiel ... nehmen Sie Sarah. Ich weiß, Sie wissen über sie und mich Bescheid.« »Da braucht es keine Erklärungen, Zachary, und auch keine Entschuldigungen. Längst ehe Sie hier auftauchten, hatten Madame Solitaire und ich uns ausgesprochen und waren zu einem beiderseits befriedigenden Arrangement gekommen. Ein Mann meines Alters erhebt in der Liebe keinen Anspruch auf Alleinbesitz mehr; er möchte sie nur zwischendurch immer wieder mal ruhig genießen. Eine herbstliche Liebe gibt einem Menschen den nüchternen Glanz und die wohlige Wärme eines Sonnenuntergangs im September; jedenfalls quält sie ihn nicht mit den Frühlingsstürmen von Groll und Eifersucht.« »Ich wollte mich nicht entschuldigen. Und habe auch gar nichts dagegen, sie mit Ihnen zu teilen. Was ich sagen wollte, war – nun, wenn wir beide Sarah und Zack sind, dann ist das etwas Wirkliches. Wird sie jedoch zu Madame Solitaire, ist es – ich weiß nicht –, ist sie jedenfalls Märchenfirnis und Goldgespinst.« Edge hielt nachdenklich inne, doch dann fuhr er fort: »Vielleicht kommt das näher an das heran, was ich meine: Heute nachmittag hörte ich Sie die reizenden kleinen Verse über Pegasus und Rosinante zitieren. Das hörte sich an, als wäre es etwas, woran Sie aufrichtig glaubten.« Mit einer Handbewegung zeigte er zum Chapiteau hinüber. »Doch was immer Sie sonst dort drinnen sagen, klingt alles andere als aufrichtig.« »Ach, ja ... das Komödiantische«, sagte Florian achselzuckend. -225-
»Das betrifft nicht nur Sie. Es geht um den Unterschied zwischen Sarah Coverley und Madame Solitaire, Hannibal und Abdullah, Peggy und Brutus. Eben noch sind Sie eines, und gleich darauf etwas ganz anderes. Und jetzt auch ich: Zachary Edge und Colonel Ramrod. Gleich, nachdem ich meine Nummer in der Manege hinter mich gebracht hatte, kam Jules Rouleau zu mir und sagte, er bewunderte mich, weil ich so vieldeutig sei, wo ich doch nichts weiter getan hatte als ...« »Ach, ja ... Monsieur Roulette«, sagte Florian und zuckte abermals mit der Schulter. »Es geht um alle und um alles. Eben noch ist es handfestes Geschäft, geht es darum, Essen und Futter zu finden. Und aufrichtige Gefühle, wie die Ihren in bezug auf die besagten Verse. Und gleich darauf hat man es mit reinen Phantasiegebilden zu tun. Vom Wirklichen zum Unwirklichen. Sollte nicht auch ein Circus entweder das eine oder das andere sein?« Florian überlegte einen Moment, doch dann streckte er den Finger aus und sagte: »Sehen Sie, dort.« Clover Lee hatte das Kostüm, das sie zuletzt getragen hatte, ausgewaschen und hängte es zum Trocknen auf. Die Sonne war am Untergehen, und die bernsteinfarbenen Strahlen, die fast waagerecht über die Erde fielen, ließen das Leotard, das das Mädchen gerade aufhängte, in allen möglichen Farben schillern. Florian sagte: »Dieses Kleidungsstück ist mit Pailletten, Schaumünzen, Brillanten, Flitter benäht, Sie können es nennen, wie Sie wollen. Jedes einzelne Plättchen ist etwas – stellt eine Einheit dar –, es existiert, es ist nichts weiter als ein winziges dünnes Plättchen leuchtend gefärbten Metalls. In der Circusmanege, von der Sonne oder einem Scheinwerfer getroffen, reflektiert es den Bruchteil einer Sekunde diese Farbe überdeutlich. Und da die Zuschauer in einem Circus dem Artisten, der es trägt, nicht sehr nahe sind, sehen sie nur dieses -226-
aufblitzende Geflirr von Rot und Gold und Grün und Blau. Und jetzt sagen Sie mir, Zachary, was, bitte, ist wirklicher. Das an sich uninteressante Metallplättchen oder das vibrierende Farbengeglitzer? Entscheiden Sie sich, und Sie haben Ihre eigenen Fragen beantwortet. Außerdem werden Sie ein ganzes Stück auf dem Wege zu einem bedeutenden Philosophen fortgeschritten sein.« Florian erhob sich, klopfte sich den Hosenboden ab und sagte vorm Gehen noch einmal: »Was ist wirklicher? Das Plättchen oder das Glitzern?«
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9 Schon früh am nächsten Morgen rollten sie weiter. Die nächste Stadt von einiger Größe, Staunton, lag knapp fünfzig Kilometer weiter Richtung Norden, die Florian an einem Tag zu schaffen hoffte. Deshalb war das Chapiteau schon am Abend zuvor abgebaut und die Wagen mit den schweren Dingen bereits beladen worden. Jetzt waren die meisten Männer dabei, die letzten Sachen zu verstauen und die Pferde anzuschirren, wobei sie zwischendurch eine kleine Pause machten, um sich einen noch warmen Maiskuchen und knusprige Scheiben Rückenspeck in den Mund zu schieben, die die Frauen buken und brutzelten und portionsweise austeilten. »Hätten Sie was dagegen, Lightning vor den Zeltwagen zu spannen und auch zu lenken, Zachary?« fragte Florian. »Denn unserem Quakemaker ist noch etwas blümerant zumute.« »Ein bißchen blümerant nennen Sie das?« stöhnte Yount. »Ich glaub’, ich hab’ mir gestern doch den Hals gebrochen. Diese verdammte Angeberei!« Mit schmerzverzerrtem Gesicht und langsamen Bewegungen schob er sein Hemd ein wenig hinunter, um ihnen die blutunterlaufenen Stellen zu zeigen. Edge pfiff durch die Zähne und sagte: »Obie, erinnerst du dich an die Sonnenuntergänge in der mexikanischen Wüste? Du brauchst dich nicht mehr anzustrengen. Wir taufen dich ›Abendlandschaft‹ und knöpfen den Leuten Geld dafür ab, dich bloß nur anzusehen.« »Keine Sorge, Obie«, sagte Florian hochtrabend. »Unser Circusarzt bringt das schon wieder hin. Docteur-Medecin Roulette.« »Was hilft denn gegen einen zerschmetterten Nackenwirbel?« fragte Yount ihn. »Regardez«, sagte Rouleau. »Das hier ist mein ganzer Arzneivorrat: Watte, etwas zum Einreihen und Laudanum. Die -228-
Watte benutze ich, um Ihnen die Salbe einzureihen, und Sie nehmen dieweil einen Schluck von dem Laudanum.« »Sie können in der Kutsche mit mir fahren, Obie«, sagte Florian. »Da werden Sie am wenigsten durchgerüttelt.« Doch dies war ein Trugschluß. Die Kutsche holperte tüchtig; außerdem wurde man noch tüchtig hin und her geworfen, denn die Straße war erstaunlich holperig und wies tiefe Radspuren auf. Snowball mußte schon aufpassen, wo er hintrat. »Wie nennt sich diese fürchterliche Straße? Und warum ist sie so furchtbar?« »Dies ist der Valley Pike, der von Lexington aus nach Norden führt«, sagte Yount zwischen Murren und Unbehagen. »Eine Schotterstraße, zumindest früher einmal. Eine der wenigen wirklich erstklassigen Straßen in Virginia. Wahrscheinlich können wir noch von Glück sagen, daß sie nie ausgebessert worden ist. Denn wenn sie noch heil wäre, müßten wir alle paar Kilometer Straßenzoll zahlen.« »Haben denn die Mauteinnehmer das Geld genommen und sind abgehauen? Ich dachte, die Mautgebühren dienten zur Instandhaltung der Straße.« »Es war ja nicht Vernachlässigung, die diese Straße kaputtgemacht hat, Mr. Florian. Das war der Krieg. Vier Jahre hindurch sind hier Rebellen- und Yankeearmeen zu Fuß, zu Pferd und mit ihren Wagen durchgefahren.« Als er wieder einmal durchgerüttelt wurde, grunzte er. »Das war übrigens einer der Gründe, warum ich froh war, bei der Kavallerie zu sein. Wir brauchten uns nicht an die Straßen zu halten, sondern konnten querfeldein reiten.« »Ach ja. Ich verstehe, warum die Kavallerie die fahrenden Ritter einer jeden Armee gewesen sind.« »Naja, selbstverständlich habe ich den Patrouillendienst jedem anderen vorgezogen. Das ist wesentlich besser als Schützenlöcher und Schützengräben auszuheben oder diesen -229-
dicken Eisenkugeln auszuweichen, mit denen die Kanoniere sich gegenseitig bepfeffern. Wirbel der Kavallerie haben immer nur nach einem fairen Kampf auf annehmbarem Gelände verlangt. Deshalb war die beste Zeit, bei der Kavallerie zu sein, noch während des Mexikanischen Krieges gewesen. Weite offene Ebenen, um darauf zu kämpfen, keine Zivilisten oder Siedlungen, die einem beim Angriff im Weg standen. Am besten war man noch daran, wenn man weit weg war von allem Goldlametta der Stabsoffiziere, den Nachschubleuten, dem Geputze und Gewienere.« Weiter hinten in der Wagenkolonne saß neben Edge Sarah auf dem Kutschbock des Zeltwagens und sagte: »Wirf dich jetzt bloß nicht in die Brust, Zachary, weil dieses eine Publikum deine Nummer beklatscht hat. Du mußt noch viel Geduld und Mühe investieren. Verstehst du, ein Publikum in wenigen Tagen zu überzeugen, das kann jeder. Aber um die Artisten zu überzeugen, braucht es unter Umständen Jahre. Du mußt jeden einzelnen Trick immer wieder probieren und vervollkommnen.« »Ich will gar nicht erst fragen, was denn da der Unterschied ist«, sagte Edge. »Du wirst es mir ja doch gleich erklären.« »Es geht um den Unterschied zwischen Wirkung und Kunst. Jedes gewöhnliche Publikum gerät aus dem Häuschen bei etwas, das schwer und gefahrvoll aussieht. Aber nur andere Artisten und wenige Zuschauer, die etwas mehr Durchblick haben, wissen einen wirklich schwierigen Trick zu schätzen, der womöglich auch noch mühelos wirkt, bloß weil er mit sehr viel Anmut, Können und – naja – Jesus vorgeführt wird.« Der Wagen rutschte plötzlich ungewöhnlich stark. »Im Moment sind wir wohl mitten in einer Perchenummer.« Aus dem Wageninneren kam Pochen. Edge ließ das Pferd halten, und die nach hinten hinausgehende Tür des Wagens öffnete sich. Magpie Maggie Hag tauchte auf und erklärte, sie habe versucht, an den neuen Kostümen zu arbeiten, doch das gehe nicht; bei diesem Geschaukel könnte man höchstens -230-
Rührei machen. Sie kletterte zum Kutschbock hinauf und setzte sich neben sie. Schnalzend brachte Edge Lightning dazu, sich wieder in Bewegung zu setzen. Edge und Sarah setzten das Gespräch fort. Er sagte: »Dann darf ich wohl annehmen, daß ein echter Künstler lieber vor ein paar Eingeweihten auftritt als vor Publikum.« »Du denn nicht?« fragte sie. »Ist das bei dir denn nicht genauso gewesen? Bei der Kavallerie, meine ich? War es denn kein besseres Gefühl, der Achtung anderer Kavalleristen sicher zu sein als der irgendwelcher ahnungslosen Zivilisten, die schon bei einer albernen Parade Beifall klatschten?« »Ja, das war wohl so. Aber vergiß nicht: ein Kavallerist muß gut in seinem Beruf sein, sonst ist er bald ein toter Mann.« Schnippisch und damenhaft zugleich sagte Sarah: »Quatsch! Soll ich dir ein paar riskante Circustricks nennen und dir sagen, welche Artisten dabei ums Leben gekommen sind?« »Drücken wir es anders aus: Die Kavallerie ist notwendig.« Magpie Maggie Hag sagte: »Hör mal zu, gadjo, die Leute sind auf Circusse genauso angewiesen wie auf Soldaten. Uns gibt es mindestens genauso lange. Jongleure und Spaßmacher – praktisch dasselbe wie Abdullah und Tiny Tim; solche Circusleute haben schon die Kreuzzugsheere begleitet. Die Tempelpriester im alten Ägypten waren auch nichts weiter als Bauchredner oder Tierstimmenimitatoren wie Jules Rouleau nur daß sie Götterstatuen reden ließen. Und Circusleute waren nicht nur was Niedriges, auf das man herabsah. Viele haben es in der Welt weit gebracht. In Byzanz gab es mal die Tochter eines Tierbändigers, die als Circustänzerin ausgebildet wurde. Und was ist aus ihr geworden? In den Geschichtsbüchern heißt sie Kaiserin Theodora.« »Und in Philadelphia gibt es heute eine Grotesksängerin«, sagte Sarah, »die zweiköpfige Nachtigall. Eigentlich ist sie nur eine junge Mulattin oder es sind zwei, wie ihr wollt –, von der -231-
geht das Gerücht, daß sie sechshundert Dollar die Woche verdient. Yankee-Dollar, wohlbemerkt! Ich wette, soviel hat noch nicht mal ein Kavalleriegeneral bekommen.« »Nein«, gab Edge zu, enthielt sich aber jeden Kommentars hinsichtlich der Tatsache, daß die beiden Frauen mit zwei so grundverschiedenen Dingen wie einer römischen Kaiserin und einer zweiköpfigen Mulattin das gleiche beweisen wollten. Sarah fuhr fort: »Mag ja sein, daß ich niemals so berühmt werde wie ein notwendiger Soldat wie Jeb Stuart oder eine Bühnenkünstlerin wie Jenny Lind. Aber Circus ist nun mal mein Metier, und da bemühe ich mich, darin so gut zu sein, wie es mir möglich ist.« Edge nickte anerkennend. »Wegen der Hochachtung deiner Kollegen nicht nur der Zivilisten, die ja von Tuten und Blasen keine Ahnung haben.« »Jawohl. Hier in Amerika, wenigstens. In Europa soll das laut Florian anders sein. Er sagt, dort könnte selbst das gewöhnlichste Publikum noch zwischen reiner Artistik und schönem Schein unterscheiden.« Magpie Maggie Hag pflichtete ihr bei. »Circus in Amerika und Circus in Europa – das ist ein Unterschied wie zwischen einer Niggerminstrel-Show und einem Opernballett. In Spanien hab’ ich einen Kautschukmann, einen richtigen Klischnigg, am Ende seiner Nummer weinen sehen, weil er meinte, ganz ungewöhnlich gut gewesen zu sein.« Edge fragte: »Sind die Damen wirklich der Meinung, daß Florian es schafft, uns nach Europa zu bringen?« Sarah sagte: »Entweder er schafft es, oder er geht bei dem Bemühen, es zu schaffen, drauf. Und kann durchaus sein, daß er dabei draufgeht. Gestern abend, als er unsere bisherigen Einnahmen durchzählte – und zwar Mags und unseren Anteil an der Kollekte zusammen –, ist er auf rund vierzig US-Dollar und ungefähr fünftausend Konföderiertendollar gekommen. Und -232-
wenn er jemand findet, der ihm die Rebellendollars eintauscht – sagen wir, gegen etwa fünfzig Yankeedollar –, dann sind das immer noch nur etwa hundert Dollar – alles in allem.« »Und die Wahrscheinlichkeit, daß wir das Chapiteau an irgendwelche Sektenprediger vermieten können, ist ja wohl äußerst gering«, sagte Edge. Sarah fuhr fort: »Er hat sich eine Landkarte vorgenommen und entschieden, daß Baltimore für uns am günstigsten ist, wenn wir auf ein Schiff hoffen, das uns nach Europa bringt. Und hat überschlägig kalkuliert, daß es sich bis dahin in etwa einem Dutzend Ortschaften lohnt, das Chapiteau aufzubauen. Wenn unsere Einnahmen überall so günstig sind wie in Lynchburg, und falls es uns gelingt, die Rebellendollars gegen Yankeedollars einzutauschen, und sofern wir es unterwegs schaffen zu leben, ohne größere Ausgaben bar bezahlen zu müssen, und wenn wir nicht irgendeine Katastrophe erleben, die uns Geld kostet – ja, wenn all das gelingt, dann müßten wir bis Baltimore vier- bis fünfhundert Dollar zusammenbekommen.« »Ich habe zwar nicht viel Ahnung von der Seefahrt«, sagte Edge. »Trotzdem nehme ich an, daß jede Reederei entschieden mehr dafür verlangen wird, den ganzen Circus über den Atlantik zu bringen.« »Nicht uns alle«, sagte Magpie Maggie Hag, »aber auch wieder mehr als uns.« Ehe Edge oder Sarah fragen konnte, was sie damit meinte, fuhr sie fort: »Madame Solitaire, du hast mir schon seit sehr langer Zeit keinen Traum mehr erzählt. Hast du keinen Traum, der gedeutet werden müßte?« »Immer nur denselben alten Traum, den ich immer wieder träume«, sagte Sarah fröhlich. »Ich falle vom Pferd, und da ist ein Netz, das mich auffängt, so daß ich mich nicht verletze. Nur, daß ich mich irgendwie nicht aus den Maschen des Netzes befreien kann.« »Und ich habe gesagt, was das zu bedeuten hat. Aber bis -233-
dahin vergeht noch viel Zeit.« Edge erkundigte sich höflich: »Erzählen Ihnen denn alle ihre Träume, Madame Hag? Ich meine, nicht nur die Zuschauerinnen, sondern auch die Circusleute?« »Alle, ja.« Sarah fragte: »Hat noch jemand irgendwelche bedeutungsvollen Träume gehabt?« »Ja.« Nach einem Augenblick sagte Sarah: »Ja, und?« »Ich sage weder, wer geträumt hat, noch was der Traum zu bedeuten hat. Aber einen deute ich so, daß sich irgendwo ein Rad dreht. Und nach einem anderen Traum gibt es Schwierigkeiten mit einer schwarzen Frau.« Edge sagte: »Wir haben aber keine schwarzen Frauen. Beim Circus, meine ich.« »Und mit einem Rad arbeitet auch keiner«, sagte Sarah nachdenklich. »Maggie, meinst du, jemand sprengt unsere Truppe? Und daß Hannibal irgendeine Schwarze heiratet? Was?« »Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Magpie Maggie Hag. »Wir gehen nach Europa, ja, wir werden sogar mehr sein, als wir im Moment sind.« Sarah jedoch ließ nicht locker: »Dann meinst du, es schließen sich uns noch Neue an?« Tief in ihr Umschlagtuch gehüllt, nickte die alte Zigeunerin; doch sagen tat sie kein einziges Wort. Spät abends sagte Edge zu Sarah: »Ehe du einschläfst, sag mir: Der Traum, von dem du gesprochen hast, träumst du den jede Nacht?« »Nein. Nur ab und zu. Und da ich ihn in den Nächten, wo wir zusammen waren, nie geträumt hab’, werd’ ich’s wohl heute nacht auch nicht tun. Aber falls doch – und das ist das -234-
Sonderbare daran –, es ist immer derselbe. Ich stürze vom Panneau, werde aber immer vom Netz aufgefangen.« Sie schliefen wieder abseits von den anderen, diesmal auf einem Acker außerhalb von Staunton. Die Circuskarawane war erst nach Dunkelwerden eingetroffen, und sie hatten ein Lager aufgeschlagen, ohne das Chapiteau zu errichten. Edge fragte: »Und wie deutet Maggie den Traum?« »Ach, mit lauter Hokuspokus und Quitsche-Quatsche. Die Maschen des Netzes, in denen ich mich verstricke – daß ich in schlechte Gesellschaft gerate und man mich dann allein sitzen läßt. Irgendwas in der Richtung.« »Du glaubst doch hoffentlich nicht an sowas, oder?« Er hielt sie im Arm, und sie zuckte mit den Achseln. »Falls es geschieht, und wenn es soweit ist, werde ich es glauben. Sie hatte ja auch mit dem Tod von Abe Lincoln recht.« »Davon hat sie nie ein Wort gesagt. Sie ist bloß früh schlafen gegangen – vielleicht mit Bauchgrimmen – und alle haben das hinterher als böses Omen genommen.« »Nun, hoffentlich hat sie damit recht, daß wir nach Europa kommen. Und ob noch Neue zu uns stoßen – ob sie damit recht hat, wird sich ja bald herausstellen.« Ihre Stimme verriet, daß sie am Einschlafen war. »Möchte mal wissen, wen oder was wir zuerst bekommen.« »Abner Mullenax heiß’ ich«, sagte ein Mann, packte Florians Hand und drückte sie ihm ausdauernd und kräftig. »Die Vorstellung, die ihr da gegeben habt, die war wirklich fabelhaft!« Die Nachmittagsvorstellung des nächsten Tages war gerade zu Ende gegangen, und der Mann war zusammen mit den anderen Zuschauern aus dem Chapiteau herausgekommen. Er trug die grobe, handgearbeitete Arbeitskluft eines Farmers, doch schätzte Edge ihn auf unter vierzig; jung genug also, um Uniform zu tragen – die er zuvor vermutlich auch getragen hatte; über dem einen Auge trug er eine schwarze Augenklappe. -235-
»Die Vorstellung war wirklich so fabelhaft, daß ich euch meine Dankbarkeit beweisen möchte, Gents. Ich möchte Ihnen ein tolles Angebot machen.« Florian gab nur ganz allgemein seine Dankbarkeit zu verstehen. Ehe der Mann zu ihnen getreten war, hatte er sich Edge und Rouleau gegenüber ärgerlich über die geringe Beteiligung der Bewohner von Staunton beklagt – und über die mindere Qualität der Sachen, mit denen sie bezahlt hatten. Er war nicht in der Stimmung, noch weitere Enttäuschungen einzustecken. Gleichwohl schien er doch verwundert und etwas weniger übellaunig, als Abner Mullenax fortfuhr: »Ich hab’ nämlich ein großes buntes Circuszelt, das ihr haben könntet. Genauso groß wie dies hier, nur viel hübscher. Halt, nicht fragen, wieviel ich dafür verlange. Kommen Sie einfach mit und sehen Sie sich’s an, und wenn es Ihnen gefällt, können Sie es für einen Apfel und ein Ei haben. Mein Wagen steht da drüben, und meine Farm ist knapp fünf Kilometer von hier entfernt. Wenn wir uns beeilen, können wir losfahren, ehe all diese Leute hier uns die Straße verstopfen. Sie könnten noch vor Einbruch der Dunkelheit mit Ihrem neuen Zelt zurück sein. Was sagen Sie dazu?« Die drei Circusleute sahen einander mehr als verblüfft an, doch in einem schienen sie sich alle einig: warum nicht? Sie begleiteten Abner Mullenax daher bis zu seinem klapprigen Ackerwagen und kletterten hinauf: Florian auf die Sitzbank neben ihn; Edge und Rouleau hingegen hockten sich breitbeinig auf den Boden. Rouleau hatte noch nicht einmal sein buntes Kostüm ausgezogen. Munter klatschte Mullenax seinem Zugtier die Zügel auf den Rücken, um das Maultier anzutreiben, und so gelang es ihnen tatsächlich fortzukommen, während die anderen Zuschauer immer noch durcheinanderliefen. Ein kurzes Stück fuhren sie den Pike entlang, bogen dann in einen kleinen Feldweg ein, und bis auf eine Abschweifung – »unterm Stroh da hinten liegt eine Flasche, Gents. Bedient euch und gebt sie dann -236-
mir!« – redete Mullenax die ganze Zeit über von nichts anderem als von seinem Zelt. »... ein prächtiges Ding – und sieht funkelnagelneu aus! Hab’s den ganzen Krieg über gehütet wie meinen Augapfel. Meine Frau und meine Töchter wollten es schon zerschneiden und sich Kleider und was weiß ich sonst noch draus nähen. Hab’ ich aber nicht zugelassen. So was schnippelt man doch nicht auseinander! Das gehört nun mal heil und alles zusammen – und bei Gott, ich hab’ dafür gesorgt, daß es das auch geblieben ist.« Endlich gelang es Florian, auch mal ein Wort zu sagen: »Verzeihen Sie, Mr. Mullenax, aber ...« »Sagen Sie Abner zu mir. Hier, genehmigen Sie sich’n Schluck!« Florian trank einen Schluck von dem Selbstgebrannten Whiskey und nahm einen neuen Anlauf. »Krr, Abner – bei welchem Circus waren Sie denn?« »Ich?« Er lachte. »Bei gar keinem, es sei denn, Sie nennen die Schlacht von First Manassas einen Circus.« Er nahm einen herzhaften Schluck. »Sie meinen, wo ich das Zelt her hab’? Ich hab’s gefunden. Nachdem ich als Invalide aus dem Krieg heimgekommen war. Ich war ja schon früh dabei, hat mich mein Zielauge gekostet – hab’s an eine winzige Kugel verloren, bei Manassas –, und früh wieder davon. Und als ich zurückkomme auf meine Farm, was finde ich da auf meiner Klitsche? – Das Zelt!« »Sie haben ein Circuszelt gefunden?« Mullenax bedachte ihn aus seinem verbliebenen Auge mit einem blutunterlaufenen Blick. »Sie glauben doch nicht etwa, so ein Riesending hätt’ ich gestohlen?« »Nein, nein, selbstverständlich nicht. Aber es fällt genauso schwer zu glauben, daß jemand sein Chapiteau auf Ihrem Grund und Boden aufschlägt, dann abhaut und es einfach stehen läßt.« -237-
»Aufgebaut war es nicht. Es lag einfach auf dem Boden. Erst wollte ich es selbst kaum glauben. Als ob’s von irgendwoher hingeweht worden wär’.« »Nun«, meinte Florian leise und immer noch fassungslos. »Daß so ein Zelt weggeweht wird, soll schon vorgekommen sein. Ich selbst hab’s zwar noch nie erlebt, aber vorstellbar ist es schon. Was ich mir nur partout nicht vorstellen kann, ist, daß die Circusleute nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und die ganze Gegend abgeklappert haben, um es wiederzufinden.« Während des Restes der Stunde, die sie brauchten, um seine Farm zu erreichen, nahm Abner Mullenax abwechselnd einen Zug aus der Flasche und erging sich über seine kurze Dienstzeit während des Krieges. Das Farmhaus erwies sich als ebenso klapprig wie der Ackerwagen. Nur ein halbherzig kläffender Köter begrüßte sie – keine der Frauen, die Mullenax erwähnt hatte –, ein Koben voller Schweine quiekte und grunzte, weil sie offenbar darauf warteten, gefüttert zu werden. Die Männer kletterten vom Wagen herunter. Mullenax, der ziemlich unsicher auf den Beinen war, führte sie hinter der Scheune zu einem Heuhaufen, den er dann auseinanderzuzerren begann. »Hab’ gut drauf achtgegeben, seht ihr? Den Wettereinflüssen ebenso entzogen wie unbefugten Blicken. Sogar die beiden Male, wo die Yankees hier haltmachten, gaben sie sich mit ein oder drei Schweinen zufrieden, die ich zurückließ, damit sie überhaupt was fanden. Hier drin haben sie jedenfalls nicht rumgestochert.« Nachdem er genügend Heu fortgenommen hatte, erkannten sie, daß das Heu einen weiteren Ackerwagen verbarg – einen ganz gewöhnlichen, nur, daß der Boden von zusammengelegten Stoffbahnen und einem Gewirr von Seilen bedeckt war. Edge und Rouleau sprangen Mullenax bei, das Heu wegzuräumen, bis sie erkennen konnten, daß die Stoffbahnen zur Hälfte leuchtendrot und zur Hälfte weiß und gewaltige Buchstaben aus Stoff draufgenäht waren. Merkwürdigerweise waren die Seile -238-
dünner als die eines gewöhnlichen Chapiteaus, die Fasern, aus denen sie bestanden, feiner; im übrigen schienen sie eine Art Netz zu bilden. Nachdem der ganze Wagen freigemacht worden war, lagen drei dicke Lettern obendrauf in einer Reihe und ergaben die Silbe RAT. »Ma foi!« entfuhr es Rouleau geradezu ehrfurchtsvoll. »Kein Wunder, daß Ihre Frauen es zerschneiden wollten. Das ist ja reine Seide!« Florian versetzte ihm insgeheim einen Rippenstoß, um ihm das Maul zu stopfen, doch Edge stand auf der andren Seite des Wagens und ließ sich nicht davon abhalten, seinerseits einen Kommentar abzugeben: »Jawohl, Ponge- oder Japanseide. Und sogar noch doppeltdicke. Und diese Seile, die sind aus Leinfaden gedreht.« Dann lachte er. Da Mullenax diesen Ausdruck der Belustigung falsch deutete, fragte er besorgt: »Ein Seidenzelt ist nicht zu gebrauchen?« »Ach, zu irgendwas werden wir es schon gebrauchen können ...« begann Florian, doch fuhr ihm Edge über den Mund und sagte: »Mr. Mullenax, das hier ist kein Circuszelt.« »Wie bitte?« sagte der Farmer und bekam einen Schluckauf. »Das verdammte Ding war doppelt so groß wie mein ganzes Haus!« Edge fragte: »Haben Sie außerdem auch noch eine Art Korb gefunden? Einen ziemlich großen Weidenkorb?« »Uh hun«, machte Mullenax und sah Edge an, wie wohl so manche Frau aus der Schar der Zuschauerinnen Magpie Maggie Hag ansah, wenn diese ihre Orakelsprüche von sich gab. »Der liegt da unter dem Stoff. So groß, daß drei Mann ohne weiteres ein Bad drin nehmen könnten, wäre er nur aus Zinkblech. Und noch’n paar andere Sachen – aus Holz, Messing und Kautschuk. Ich dacht’, das müßten irgendwelche Circusgeräte sein.« Edge wandte sich an Florian, der verwirrt und verärgert zugleich aussah. »Möchten Sie die Lagen ein bißchen -239-
auseinandernehmen, Mr. Florian? Dann wird man lesen können, was diese Buchstaben bedeuten, nämlich: SARATOGA.« »Die Mühe können wir uns sparen«, sagte Florian ein wenig pikiert. »Offensichtlich haben Sie es bereits früher gesehen. Was ist das ganze?« »Mit eigenen Augen gesehen habe ich diesen hier nicht, nur davon gehört. Es handelt sich um einen Beobachtungsballon der Yankees.« »Na, da brat mir aber einer ’n Storch!« sagte Mullenax. »Vor vier Jahren«, fuhr Edge fort, »nach der Schlacht bei First Manassas, als die Rebellen drauf und dran waren, Washington einzunehmen, bekamen die Yankees es nun doch mit der Angst zu tun und fürchteten um die Sicherheit ihrer Stadt. Deshalb legten sie rings um die Stadt umfangreiche Verteidigungsanlagen an, zu denen unter anderem auch ihr Ballon-Corps gehörte. Sämtliche Luftballons hatten Namen. Die Saratoga stand bei Centreville, und mit ihr stieg jeden Tag ein Mann auf, um aufzupassen, daß es beim Bahnhof Manassas nicht zu irgendwelchen Truppenzusammenziehungen kam. Im November gab es dann einen gewaltigen Sturm, und bei starkem Wind kann ein Ballon nicht oben bleiben. Deshalb kurbelten die Yanks die Saratoga runter, so dicht über die Erde, daß der Beobachter sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen konnte; danach aber hat sich das Ding losgerissen und ist ihnen entwischt. Der Nordwind hat es weggeweht wie Herbstlaub. Kein Mensch hat jemals erfahren, was draus geworden ist.« »Nun«, ließ Mullenax sich vernehmen, »freu’ ich mich doch, wenigstens etwas von Manassas mitbekommen zu haben. Da habe ich das Ding hier gehütet wie einen verdammten Familienschmuck und – Scheiße! Läßt sich denn überhaupt nichts damit anfangen?« »Mais oui!« rief Rouleau, und ihm blitzten die Augen. »Ein Circus, der es sich leisten kann, einen Ballon aufsteigen zu – -240-
autsch!!« Er war ein zweitesmal mit einem Rippenstoß traktiert worden. »Im Moment können wir nichts damit anfangen, Abner«, sagte Florian rasch. »Aber ich denke, es wird uns schon was einfallen. Das Hauptproblem ist: Wie transportieren wir das Ding?« »Ach, was soll’s«, sagte Mullenax. »Lassen Sie ihn einfach in dem Wagen liegen. Ich hol’ nur den Muli und spann’ ihn vor diesen. Und schaff ihn zurück zum Circusplatz.« »Das ist zwar sehr freundlich von Ihnen. Damit aber haben wir noch lange nichts, ihn draufzuladen. Unsere anderen Wagen sind alle proppenvoll.« »Ei verflucht, Mann. Abner Mullenax verschenkt nie was halb! Ich schenk Ihnen diesen Wagen obendrein – und dazu auch noch das Maultier, ihn zu ziehen. Sie brauchen nur zu sagen, Sie wollen die Sachen haben.« »Schön, ja, wir wollen sie haben«, erklärte Florian mit einer Bestürzung, die schon an Argwohn grenzte. »Wir möchten Sie bloß nicht übervorteilen. Das ist ein hübsches Angebot, das Sie uns da machen, Sir nur frage ich mich, ob ...« Er ersparte es sich, die Möglichkeit von ungebührlichem Whiskeyeinfluß auf diese unerhörte Transaktion anzudeuten. »Ich meine – Sie wollen wirklich überhaupt nichts dafür haben? Sie schenken uns den Ballon, mit dem Sie ja vermutlich nie etwas würden anfangen können. Aber den Wagen und das Maultier? Die braucht ein Farmer doch wohl.« »Nur, wenn ich Farmer bliebe«, sagte Mullenax, und jetzt trat etwas Spitzbübisches in das blutunterlaufene Auge. »Darf ich Ihnen noch was zeigen?« Er führte sie zu dem unsäglich stinkenden Schweinekoben, in dem sich ein Eber, ein paar Sauen und drei Ferkel im Schlamm suhlten und mehr Lärm machten als Maximus der Löwe jemals fertiggebracht hatte. »Habt ihr vielleicht mal ’n Schwein -241-
gesehen, das was darstellt?« »Hm ... ja.« »Dann werdet ihr jetzt noch was zu sehen kriegen.« Eine kurze, roh zusammengezimmerte Leiter stand draußen am Koben. Mullenax hob sie über die Stallwand hinüber und lehnte sie von innen dagegen. Sofort kam eines der Ferkel durch den Schlamm herangeplatscht, schüttelte pedantisch einen kleinen Treter nach dem anderen sauber und hoppelte dann, als wär’s eine Katze, die Stufen hoch, blieb stolz stehen, machte kehrt und zockelte wieder hinunter. Ein zweites Ferkel näherte sich, tat es dem ersten nach, und dann noch ein drittes. Ehe die Vorstellung auch noch wiederholt wurde, hob Mullenax die Leiter wieder heraus. »Hübsch war das, Abner!« sagte Florian. »Haben Sie ihnen das beigebracht?« »Nein. Ich will nicht lügen und mich damit brüsten, ich hätt’ das getan. Es ist einfach so: Man braucht bloß eine Leiter vor so ein Schwein hinzustellen, und es wird raufklettern, genauso, wie es jeden Zauntritt raufklettern wird. Aus irgendeinem Grund macht das Schweinen offenbar Spaß.« »Das hab’ ich nicht gewußt.« »Es wissen auch nicht viele Menschen. Ich hab’s auch nicht gewußt, bevor ich nicht durch Zufall drauf gekommen bin. Ich habe eine Leiter in diesen Koben reingestellt und dann gesehen, was passierte.« »Heiliger Bimbam!« sagte Florian. Dem folgte ein kurzes Schweigen, während dem Mullenax ihn flehentlich ansah. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Abner«, sagte Florian, »möchten Sie, daß wir als Bedingung für die Übernahme des Luftballons diese abgerichteten Ferkel kaufen ...« »No, Sir! Ich verlange nichts weiter, als daß Sie außer dem Ballon, dem Wagen und dem Maultier auch noch die Schweine nehmen. Und mich!« -242-
Den Circusleuten blieb fast der Mund offen stehen. Schließlich faßte Rouleau sich und sagte: »Es geht Ihnen darum, mit dem Circus das Weite zu suchen, mon vieux?« »Sie haben’s erfaßt. Ich möchte, daß Sie mich und diese Ferkel als Ihren – tja, wie soll ich’s nennen? –, als Ihre Schweinenummer engagieren. Als Gage zahlen Sie, was Sie meinen – oder wir arbeiten für weiter nichts als Kost und Logis.« »Hmm«, machte Florian. »Mal sehen. Schweine. Eber. Tasmanische Wildeber. Augenklappe – Seeräuber – Captain Kidd. Nein, einen Captain haben wir bereits ...« »Gents, ich möchte ja nicht, daß Sie irgendwas überstürzen, aber ich hab’ meine Gründe, warum ich’s eilig habe.« »Abgemacht! Denn ich hab’s!« erklärte Florian. »Barnade Bill und seine tasmanischen Wildsäue!« »Yee-ee-hoo-ee!« Mullenax stieß einen durchdringenden Rebellenschrei aus, so daß jeder auf dem Hof zusammenzuckte. Selbst die Schweine verstummten vor Schreck. Florian sagte: »Sie haben aber eine Frau und Ihre Töchter erwähnt, Abner! Sollten wir – das heißt: Sie und wir – nicht vorher darüber reden? Schließlich ...« »Sie sind aber nicht hier. Ich hab sie in Ihren Circus ausgeführt.« »Und dann sind Sie losgefahren und haben sie einfach zurückgelassen?« »Wenn sie es leid werden, nach mir Ausschau zu halten, machen sie sich zu Fuß auf den Heimweg. Oder irgendwelche Nachbarn nehmen sie mit. Das ist ja gerade der Grund, warum ich’s so eilig habe. Es gibt noch eine andere Straße, die wir für den Rückweg nehmen können, damit wir ihnen nicht in die Arme laufen.« Edge sagte: »Sie wollen einfach verschwinden? Kein -243-
Lebewohl? Nichts?« »Sie kennen meine Frau und meine Töchter nicht, Colonel. Und wenn Sie Glück haben, lernen Sie sie auch nie kennen. Und wenn Sie noch mehr Glück haben, werden Sie selbst niemals so was Ihr eigen nennen.« »Aber sind Sie denn sicher, daß die Sie nicht verfolgen werden?« fragte Florian. »Wir verlassen ja die Stadt nicht sofort. Heute war der Besuch so schwach, daß wir morgen noch eine Vorstellung geben wollen. Das heißt, weiterziehen werden wir frühestens übermorgen, und selbst dann verschwinden wir nicht einfach hinterm Horizont. So ein Circus kommt immer nur langsam voran.« »Dieser Weiberschwarm wünscht mich zum Teufel, solange ich denken kann. Wenn ich und die Tiere uns morgen hier nicht blicken lassen und uns Ihnen anschließen, folgt uns das Weibervolk bestimmt nicht. Um mich loszuwerden, geben sie obendrein mit Freuden auch noch ein Maultier und ein paar kleine Schweine her. Kommt. Leute, helft mir mal!« Mullenax hielt die Zügel in der Hand, und Florian, Rouleau und Edge hatten jeder ein an den Beinen zusammengebundenes, sich windendes und quietschendes Borstenvieh auf dem Schoß und drängten sich auf dem Fahrersitz, bloß damit die kostbare Seide samt Linnenseilen keinen Schaden nahm. So fuhren sie auf einem Umweg zum Festplatz zurück und begegneten weder einer Mrs. noch irgendwelchen Misses Mullenax. Während der Fahrt fragte Rouleau Edge wißbegierig danach aus, was dieser sonst noch von Luftballons und der Technik des Ballonfahrens wußte. »Viel weiß ich wahrhaftig nicht«, gestand Edge. »Ich hab’ nur mehrere in der Luft hängen sehen. Die von den Yankees. Die Konföderierten haben sich kaum mit irgendwelchen Luftballons abgegeben, glaube ich, und ich habe nur diejenigen gesehen, die auch wirklich aufgestiegen sind. Und zwar in Richmond. Sie -244-
haben sie bei der Tredegar Gießerei mit Gas vollgepumpt.« »Arretez! Mit was für Gas denn?« »Wenn ich das wüßte! Aber das Ballon-Corps der Yankees war mit pferdegezogenen Apparaten ausgerüstet, mit denen sie sie an Ort und Stelle füllen konnten. Durch ein Fernrohr hab ich das beobachtet, aber Genaueres kann ich darüber nicht sagen. Die Apparate, das waren nichts weiter als ein paar Metallbehälter, die hellblau angestrichen und auf ganz gewöhnliche Nachschubwagen montiert waren. Davon gingen eine ganze Reihe von Schläuchen ab.« »All diese Dinge müssen wir in Erfahrung bringen«, erklärte Rouleau mit Entschiedenheit. »Wir müssen Aeronautes werden. Einen Ballon besitzen und ihn nicht aufsteigen lassen, war’ doch eine Schande. Eine Ungeheuerlichkeit. C’est tout dire. Er muß aufsteigen!« Am nächsten Morgen ritt Hannibal auf Peggy trommelnd durch ganz Staunton, stieß einladende Rufe aus; Tim Trimm folgte ihm auf Bubbles und klebte überall Plakate an. Obie Yount verbrachte den Vormittag damit, verbissen zu probieren. Er hatte sich eingeredet, der spärliche Besuch der gestrigen Vorstellung sei seine Schuld, weil ihm der Nacken zu sehr weh getan hatte, um als Quakemaker aufzutreten – von dieser Überzeugung ließ er sich auch nicht abbringen, als alle Kollegen ihm klarmachten, daß Staunton wohl kaum einen ›Bebenmacher‹ erwartet habe. Der Rest der Truppe machte sich den Vormittag über das Vergnügen, die Ballonhülle aus ihrer langen Gefangenschaft zu befreien, auf dem Gras auseinanderzufalten und zu bewundern. Stolz ins Gesicht geschrieben, nahm Mullenax zum Frühstück ab und zu einen Schluck aus der Flasche – er schien deren unendlich viele zu haben – und stand daneben, als seine neuen Kollegen immer wieder die imponierende Länge der schlaff daliegenden Ballonseide, der Seile und der Weidengondel abschritten – und lobende, kalkulierende und von Sehnsucht getragene -245-
Bemerkungen dazu machten. Sarah las den mit Stoff draufgenähten Namen und sagte: »Saratoga. In der Versammlungshalle von Saratoga Springs habe ich mal den ›Mazeppa‹-Ritt vorgeführt. Wenn man diesen Ballon aufbläst, ist er bestimmt doppelt so hoch wie die Halle.« Roozeboom sagte: »Ja, verdomde großer Sack.« Florian befühlte den Stoff und sagte: »Irgendwie ist das ganze Ding mit einem elastischen Überzug versehen. Damit wird der Ballon vermutlich luftdicht gemacht.« Edge sagte: »In Kopfrechnen bin ich wohl nicht mehr so gut wie früher, aber ich würde meinen, was wir hier vor uns haben, das müssen an die zwölfhundert Ellen doppeltschwere Japanseide sein.« »Mishto!« sagte Magpie Maggie Hag und fuhr sich geradezu lüstern mit der Zunge über die schmalen Lippen. »Wieviele nevi Kostüme ich daraus machen könnte! Nevi für jeden Artisten.« »Jamais de la vie!« erklärte Rouleau streng. »Das hier ist keine Leinentruhe, sich daraus zu bedienen, Madame. Mit diesem Ding könnten wir unser Glück machen.« »Aber das nur, wenn wir Mittel und Wege finden, den Ballon auch aufzublasen«, meinte Edge. Selbst in zusammengesunkenem Zustand war der Gegenstand ihrer Bewunderung schon etwas Beeindruckendes. Der flach auf dem Rasen ausgebreitete Seidenballon maß an der breitesten Stelle siebzehn Meter – »In aufgeblasenem Zustand ergibt das einen Durchmesser von knapp elf Metern«, sagte Edge, nachdem er sein Kopfrechnen doch aktiviert hatte und war über doppelt so lang: ein birnenförmiges Gebilde aus leuchtendroten und weißen länglichen Keilstücken, die an den Rändern sorgfältigst übereinandergelegt, mit Gummi verklebt und verstärkt worden waren. Das schmale Ende der Birne lief in einer Röhre aus, die wiederum am unteren Ende einen Messinghahn aufwies; daneben hingen eine leuchtendblaue und -246-
eine leuchtendrote Strippe herunter. Die blaue lief ganz durch das Balloninnere bis nach oben und war mit einem großen und komplizierten Ventil verbunden, das aus Mahagoniholz, Messing und Kautschuk bestand und ganz in die oberste Spitze des Ballons eingearbeitet war. »Auch die rote Strippe scheint ganz bis oben hinaufzureichen«, sagte Florian. »Aber wozu sie dient, ist mir wirklich unerfindlich.« »Ich glaube, ich verstehe«, sagte Magpie Maggie Hag zu jedermanns Verwunderung. »Einer der Zwickel oben ist nur provisorisch übereinandergeschlagen und vernäht.« »Ah, bien entendu!« sagte Rouleau. »Hat man nach sorgfältiger Überlegung die blaue Schnur gezogen, damit sich das Ventil oben öffnet und man hinuntergehen und landen kann, zieht man auch noch an der roten Schnur, um diesen Zwickel aufzureißen. Damit entweicht auch noch der verbliebene Rest des Gases, und der Ballon fällt in sich zusammen; sonst würde ja die Gondel über den Erdboden geschleift werden. Vorm nächsten Aufstieg muß er allerdings wieder angenäht werden.« Die obere Hälfte der rotweißen Saratoga wurde von einem rautenförmigen Netz aus Linnenschnur umfangen, das jetzt zwar schlaff und locker dalag, den aufgeblasenen Ballon jedoch fest umspannen mußte. Die unteren Enden der Linnenschnüre wurden unter dem Ballon zusammengenommen und dort mit einem kräftigen freihängenden Holzreif von etwa anderthalb Meter Durchmesser verknüpft. An diesem Reif wiederum hing an weniger, dafür aber kräftigeren Seilen die rechteckige Gondel aus Weidengeflecht, in der zwei Personen reichlich, zur Not aber auch drei Platz finden konnten. Edge lenkte die Aufmerksamkeit der Betrachter auf die Tatsache, daß der Boden der Gondel mit einer Eisenplatte verstärkt worden war. »Das ist die Panzerung«, sagte er. »Damit man dem Beobachter von unten nicht in die – nun ja: zwischen die Beine -247-
schießen kann. Groß war diese Gefahr allerdings nie – nur immer dann, wenn er aufstieg oder zum Landen herunterkam. Oben in der Luft schwebte er außerhalb der Reichweite von Gewehrkugeln.« »Die Seide hat die lange Lagerung unbeschadet überstanden«, bemerkte Florian. »Allerdings ist das Linnennetz zerschlissen und hier und dort gerissen. Das sollte schon sicher sein. Captain Hotspur, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie sich in Ihrer Freizeit darum kümmern und das Netz flicken würden. Und du, Mag, mach nicht ein Gesicht, als enthielte man dir etwas vor. Irgendwo werden wir schon hübschen Stoff auftreiben, aus dem du dann was nähen kannst. Inzwischen hast du ja auch noch damit zu tun, die Kostüme für Obie und Zachary fertigzumachen. Außerdem brauchen wir ein Seeräuberkostüm für unseren neuen Kollegen, Barnacle Bill.« So nahm Magpie Maggie Hag, wenn auch knurrend, Edge und Yount mit zu einer Anprobe der Kostüme, die sie bis jetzt zusammengestichelt hatte. Des weiteren lotste sie Mullenax von seinem flüssigen Frühstück fort. Florian, Roozeboom und der Wilde Mann falteten die Saratoga zusammen, um sie wieder in ihrem Wagen zu verstauen. Während Colonel Ramrod und der Quakemaker ihre neuen Sachen anprobierten, und zwar betont vorsichtig, um die provisorischen Nähte nicht zu sprengen, sah sich die alte Frau Barnacle Bill genau an und erklärte, das wichtigste Teil eines Seeräuberkostüms habe er ja schon: die schwarze Augenklappe. Sie gab ihm dazu nur noch ein Zigeunerstirnband in schreienden Farben, das er sich um den Kopf binden sollte, und ließ ihn sein Drillichhemd gegen einen bereits verschossenen, grünweiß gestreiften Pullover eintauschen. Jetzt, so erklärte sie, sei er hinreichend ausstaffiert. Nachdem sie hier etwas gezogen und dort neu festgesteckt hatte, entließ sie auch Edge und Yount, und letzterer kehrte zu seinen Kanonenkugeln zurück. Edge spazierte müßig in das Chapiteau hinein und erblickte dort ein Hilfsgerät, das er bis dahin noch -248-
nicht gesehen hatte. Etwa in mittlerer Höhe stand vom Zeltmast in der Mitte ein zweiter und wesentlich schlankerer Mast ab, wie eine Gaffel von der Spiere. Am Mast befestigt war er mit Hilfe eines lockeren Eisenrings, der es ihm erlaubte, rund um den Mittelmast zu kreisen. Die ›Gaffel‹ reichte bis etwa in die Manegenmitte hinaus und wies am Ende ein Loch auf. Von der Spitze des Zeltmastes führte ein Seil durch dieses Loch, dessen anderes Ende an einem von Clover Lee getragenen Ledergürtel befestigt war, die auf dem leicht um die Manege galoppierenden Bubbles stand. Ignatz Roozeboom unten in der Manege lenkte das Pferd und touchierte es gelegentlich mit der Schmitze seiner langen Circuspeitsche, der Cambriere. Mit der anderen Hand hielt er das von der Masthöhe herunterhängende Seil fest gepackt. »Longe nennt man das«, sagte er, als Edge sich erkundigte. »Ich halte dies Seil in der Hand, das über Rollen bis zur Kuppel hoch- und dann über den Ausleger wieder nach unten führt bis zu Mam’selles Rettungsgürtel. Rutscht sie ab, stemm’ ich mich mit meinem Gewicht dagegen, und sie stürzt nicht zu Boden. Die Longe dient dazu, neue oder schwierige Tricks zu probieren.« »Ich versuche, Bubbles den Wechsel vom Links- zum Rechtsgalopp beizubringen«, rief Clover Lee Edge zu. »Ein bißchen von links nach rechts überzuwechseln, während ich über die Bandeaus springe.« Sie führte vor, was sie meinte. Roozeboom, der das Longenende immer noch festhielt, knallte mit der Peitsche, während Clover Lee zu einem Salto abhob und leicht und sicher wieder auf Bubbles Kruppe landete. Dann ließ Roozeboom die Peitsche wieder knallen, woraufhin das Pferd während Clover Lee sich in der Luft drehte – einen Galoppwechsel nach rechts ausführte, was es diesmal jedoch verpatzte; infolgedessen lief das Pferd nicht an der richtigen Stelle, als sie herunterkam. Ihr Fuß rutschte vom Pferderumpf ab, Roozeboom stemmte sich ins -249-
Seil, und das Mädchen hing lachend und sich immer noch um den Mast drehend in der Luft, und zwar fast zwei Meter über dem Boden. Roozeboom gab beim Seil etwas nach und ließ sie langsam tiefer hinunter, bis ihre Füße den Boden berührten und sie anmutig zum Stehen kam. »Der verdammte alte Apfelschimmel mag einfach keine Kirschtorte«, sagte sie. »Ich kenne kein Pferd, das Kirschtorte mag«, sagte Edge. »Aber was hat das damit zu tun?« Nachsichtig sah Clover Lee ihn an. »Beim Circus bedeutet ›Kirschtorte‹ Extraarbeit. Normalerweise soll die ja auch extra bezahlt werden, aber das geschieht meistens doch nicht. Aber wer Arbeit scheut, hat beim Circus auch nichts zu suchen. Da kann man genausogut alles hinschmeißen und abhauen.« Edge verließ das Zelt und dachte nach. Er war sich durchaus darüber im klaren, daß Clover Lee ihn nicht als Faulenzer hatte hinstellen wollen; zugleich merkte er aber auch, daß das Mädchen sich größte Mühe gab, eine winzige Kleinigkeit ihres Tricks zu vervollkommnen, die den meisten Zuschauern noch nicht einmal auffallen würde. Auch der Quakemaker bemühte sich verbissen, wieder in Form zu kommen, um die Arbeit wieder aufnehmen zu können, während er selbst, Colonel Ramrod, sich einfach dem Müßiggang überließ. Deshalb sann er jetzt darüber nach, wie er seine eigene Nummer noch verbessern könnte. Just in diesem Augenblick kam ein kleiner Negerjunge mit einem Korb farbenprächtiger getrockneter Kürbisse des Wegs. »Getrocknete Kürbisse gefällig, Massa? Sich ’ne Schöpfkelle draus zu mach’n?« Edge gab ihm zwei Eintrittskarten, womit er wahrscheinlich bei weitem zuviel bezahlte, aber er kaufte den ganzen Korb voll. Die Kürbisse würden in tausend Stücke zerplatzen, wenn man drauf schoß, genauso schön auseinanderfliegen wie die -250-
Untertassen; dafür machten sie aber auch viel mehr her, da sie ja alle von unterschiedlicher Größe und unterschiedlicher Färbung waren; in den Augen der Zuschauer mußte es aussehen, als wäre es dadurch nur um so schwieriger, sie zu treffen. Diese Vorstellung gefiel Colonel Ramrod ausnehmend gut. Folglich verwendete er die kleinen Kürbisse am Nachmittag. Auch wenn das Chapiteau keineswegs bis zum Bersten voll war, so war die Zahl der Zuschauer Gott sei Dank doch wesentlich größer als am Tag zuvor und das Publikum erwies sich – was Colonel Ramrods Schießkünste betraf – zudem auch noch als aufgeschlossen und empfänglich. Unter denen, die laut applaudierten, befanden sich auch zwei kleine schwarze Jungen. Die beiden klatschten am begeistertsten, und einer rief dem anderen laut und fröhlich zu: »Das sin’ meine Kürbisse, die er zerteppert hat.« Selbstverständlich hatte Florian Barnacle Bill und seine Tasmanischen Wildsäue diesmal noch nicht aufs Programm gesetzt, weil man sonst Gefahr lief, daß Mullenax erkannt und seine Anwesenheit den verlassenen MullenaxFrauen hinterbracht wurde. Abner verfolgte die Vorstellung unterm Gradin verborgen und meinte, es sei durchaus in der Ordnung, daß er an seinem ersten Tag beim Circus nicht gleich auftreten solle. »Ich hab’ mit meinen Schweinen aber auch was vor«, vertraute er Edge an. »Jetzt, wo mich keine Farmarbeit mehr ablenkt, werd’ ich ihnen noch mehr beibringen, als bloß ’ne Leiter raufzuhoppeln und wieder runter.« Es amüsierte Edge nicht wenig, daß ein Neuling, der bislang noch nicht einmal in der Manege gestanden hatte, bereits jetzt erpicht darauf war, einen neuen Trick zu ersinnen und die Welt damit in Erstaunen zu versetzen. Allerdings sollte Edge bald dahinterkommen, daß kein Circusartist – und war er noch so alt und hatte er noch soviel Erfahrung sich jemals mit etwas geringerem als Perfektion in seiner Nummer zufrieden gab. So wie auch der Circusdirektor sich niemals mit seinem Programm -251-
zufrieden gab, und wenn es noch so vielfältig war. Es gab immer noch etwas, das man besser machen konnte. Da Florian jetzt den Quakemaker und Colonel Ramrod im Programm hatte – und Barnacle Bill nur darauf wartete loszulegen –, brachte er Monsieur Roulette an diesem Nachmittag in Staunton bei, er solle seine Bauchrednernummer einfach vergessen. Diese Ankündigung hatte keineswegs einen empörten Aufschrei zur Folge, wie man hätte meinen können. Jeder im Circus – Roulette selbst Inbegriffen – betrachtete die Absetzung dieser Nummer als Gnade ihm und dem Publikum gegenüber. Keineswegs schmollend, probierte Jules von da an mit verdoppeltem Eifer, um seine Akrobatennummer mit noch tollkühneren Verrenkungen zu verbessern – mit Tricks, die er Affenhüpfer und Löwensprung nannte, Souplettes und Brandies. Außerdem besorgte er sich eine kleine Petroleumfunzel, die er bei den nachfolgenden Vorstellungen schon beim Hereinkommen in die Manege in der einen Hand hielt, während er mit der anderen aus dem Stand Salti machte, sich verrenkte, als wäre er eine Schlange, und mit einhändigen Überschlägen glänzte. »Das macht Eindruck auf die Leute«, sagte er zu Yount, »daß die Flamme dabei nicht ausgeht.« »Naja, das macht ja sogar auf mich den größten Eindruck«, sagte Yount. »Pourquoi? Recht bedacht, ami, warum sollte die Flamme nicht brennen bleiben?« »So gesehen, haben Sie wohl recht. Jedenfalls macht das wirklich was her.« Dann fügte er noch hinzu: »Ich muß mir wohl selbst was Neues ausdenken, damit der Quakemaker nicht völlig untergeht.« Nördlich von Staunton war das Shenandoh-Tal, wie Edge und Yount gesagt hatten, vom Krieg arg verwüstet worden. Die Dörfer und kleinen Ortschaften standen zwar noch, aber sie -252-
hatten großen Schaden erlitten. Sheridan war zu schnell vorgerückt und die Brände von seinen Leuten zu hastig gelegt worden, als daß damit jede Gemeinde völlig vernichtet worden wäre. Er hatte sich zur Hauptsache damit begnügt, Mühlen, Lagerhäuser, Waffenarsenale, Kornspeicher und dergleichen zu zerstören. Infolgedessen sah es in den größeren Ortschaften so aus, als wiesen sie gleichsam Zahnlücken auf; in manchen Straßen fehlte hier ein einzelnes Haus, dort eine ganze Häuserzeile; manche Plätze sahen aus wie ein Trümmergrundstück. Die Gebäude, die noch standen, waren von Gewehrfeuer zernarbt; viele wiesen sogar Löcher von den Einschlägen von Kanonenkugeln auf, und manche saßen jetzt schief auf ihren Fundamenten. Wo die Häuser in Brand gesteckt worden waren und die Bewohner sie hatten verlassen müssen, hatten diese hinterher jedenfalls behelfsmäßige Unterkünfte aus nicht zueinander passenden Brettern und zurückgelassenen Soldatenzelten errichtet. Hier und da konnte man in der Ferne abseits von Sheridans Zug durch die Talmitte und damit für die Yankees zu weit, um sich die Mühe zu machen hinzureiten und ihr Zerstörungswerk zu vollenden – gelegentlich solide Anwesen und dann und wann sogar ein paar Herrenhäuser von einiger Pracht sehen, die der Brandschatzung entkommen waren. Wo immer jemand lebte, dessen Knochen heil geblieben waren – gleichgültig, ob Mann oder Frau oder Kind –, hatte man die Felder zumindest teilweise wieder eingesät, so daß sich jetzt das erste keimende Grün zeigte. Es kam wieder Leben ins Tal, wenn auch langsam und unter Schmerzen. Auch schöpften die Bewohner wieder Hoffnung, das Land könne sich womöglich rascher erholen, da die jüngeren Männer sich aus dem Krieg zurückmeldeten. Infolgedessen nahmen sie die Ankunft von FLORIANS FLORIERENDEM FLORILEGIUM als Zeichen von guter Vorbedeutung; allerdings besaßen sie kläglich wenig, um den -253-
Eintritt mit Geld oder geeigneten Tauschwaren zu bezahlen. Das veranlaßte Florian dazu, überall bekanntzugeben, der Circus werde in jeder der kleinen Städte im Nordteil des Tals zwei, manchmal sogar drei Tage lang bleiben und Vorstellungen geben, um den Leuten, die draußen auf dem Lande lebten, Gelegenheit zu geben, in die Stadt zu kommen. Obwohl das ein Vielfaches an Arbeit bedeutete, erzielte der Circus in jeder dieser Ortschaften annähernd die gleichen Einnahmen – einiges davon in gutem Silber, einen Haufen Südstaatengeld, manches Eßbare, Tragbare oder sonst Brauchbare – wie sie zuvor bei nur einer einzigen Vorstellung in dem vergleichsweise kaum mitgenommenen Lynchburg eingenommen hatten. Als der Circus in Harrisonburg eintraf, hatte Magpie Maggie Hag die neuen Kostüme für Edge und Yount fertiggestellt. Der Quakemaker stolzierte sogar in seiner Freizeit in seinem Talmiaufzug als Höhlenbewohner mit Leopardenfell einher. Und wenn es auch Colonel Ramrod peinlich war, in seiner schwarzgelben Uniform herumzulaufen, hatte er jedoch nicht mehr das Gefühl, das Feldgrau der Konföderierten zu mißbrauchen. Die Zigeunerin hatte sogar Wolltuch genug gefunden, ihm passend zur Uniform auch noch ein Cape zu schneidern, daß außen schwarz und innen gelb gefüttert war und einen steifen Kragen aufwies, der ihm wie eine Kohlenschütte um den Kopf herum stand. Beim erstenmal trug er es gerade lange genug, um seinen Eingangsapplaus darin entgegenzunehmen; dann hakte er es auf und reichte es an Tiny Tim weiter, der es überm Arm trug, solange er schoß. »Nein, nein, nein!« rügte Florian ihn hinterher. »Himmel, das Ding ist mir doch bloß hinderlich«, sagte Edge. »So was kann ich nicht gebrauchen.« »Dann legen Sie es zum Schießen ab, einverstanden«, sagte Florian. »Aber zieh’n Sie es nicht einfach aus! So was legt man ab! Anmutig und schwungvoll. Passen Sie mal auf!« -254-
Florian nahm das Cape um und stolzierte großspurig in der leeren Manege umher, so daß das Cape sich dramatisch hinter ihm bauschte, während er mit bezaubernder Langsamkeit weitausholende Bewegungen mit dem Arm sowie schöne Verneigungen vollführte und dann vor einer imaginären Menge in Siegerpose die Arme hochriß. Dann, immer noch mit weitausgreifenden Schritten weiter gehend, hakte er das Cape mit einer Hand unterm Hals auf, vollführte mit dem ganzen Ding einen flatternden Wirbel aus Schwarz und Gelb und ließ ihn wirkungsvoll zu Boden sinken. »So macht man das«, sagte er. »Tun Sie das auch, wenn Sie es umlegen, und nehmen Sie auch Ihren Abgangsapplaus damit entgegen.« So probte Edge pflichtschuldigst den raschelnden Umgang mit dem Cape. Jetzt probten übrigens alle Artisten ständig irgend etwas, entweder ihre Standardtricks oder neue, die sie einübten. Da der Circus jetzt zwei oder drei Tage aufgebaut blieb, hatte die Truppe morgens und abends reichlich Zeit, ihre Nummern zu proben und Kostüme und Requisiten in Ordnung zu bringen. Wenn Hannibal Tyree nicht als Hindu Abdullah in der Manege stand oder bei der Parade mitritt, probte er endlos seine Jonglier- und Balancetricks, und das mit immer zahlreicheren und immer ausgefalleneren Requisiten. Er war nunmehr imstande, seine Shower mit so unterschiedlich geformten und verschieden schweren Gegenständen wie einem Hufeisen, einem kleinen Blumenbukett, einem leeren Schmalztiegel und einem Hühnerei vorzuführen, um – nach einiger Zeit – erst einen, dann auch den zweiten seiner schäbigen Schuhe abzustreifen und ihn dem kunterbunt durch die Luft fliegenden Reigen einzufügen. Hannibal und Tim Trimm gemeinsam wiederum brachten viel Zeit damit zu, das Banjorepertoire des Wilden Mannes zu erweitern. Sie setzten sich hin und spielten jedes Lied durch, das im Programm auftauchte, von der ›Dixie Land‹ -Ouvertüre bis -255-
zur ›Lorena‹ im Finale. Außerdem brachten sie dem Wilden Mann ein Stück bei, das sie zur Begleitung der QuakemakerNummer ausgesucht hatten, in der Yount seine schiere Kraft demonstrierte: ›If Your Foot Is Pretty, Show It‹ – ›Wenn du hübsche Füße hast, zeig sie!‹ – und selbstverständlich ›Barnacle Bill the Sailor‹ – ›Muschel-Bill, der Matrose‹ – ganz für den Schluß. Abner Mullenax hatte dies Lied noch nie gehört; deshalb fuhr ihm der Schrecken in die Glieder, als er hörte, wie die Musikanten es probten und Tiny Tim zur Musik auch noch sang – und zwar die zotigen Texte des Originallieds, ›Bollocky Bill‹, was andeutungsweise soviel heißt wie Bill mit den Großen Eiern. »Ist das nicht ’n säuisches Lied, um es in Anwesenheit von Damen zu singen?« fragte Mullenax Florian bänglich. »Ich und meine Ferkel – das ist ’ne saubere Nummer, wissen Sie?« »Während Ihrer Nummer wird nur die Melodie gespielt, Abner. Singen tut keiner.« »Naja, wenn das so ist ... schön, also. Ich möcht’ nicht erleben, daß meine Schweinchen mit faulen Eiern bepfeffert werden.« Das stand auch nicht zu befürchten. Jedes Publikum war aufs neue hingerissen von seinen Ferkelchen, selbst als sie – in den allerersten Vorstellungen – nichts weiter taten, als die Leiter raufzuhopsen und wieder runterzurutschen. Als das FLORILEGIUM Woodstock erreichte, hatte Mullenax dem kleinsten und klügsten seiner Ferkel etwas beigebracht, was die Gaffer regelrecht verzauberte. Nur für wenige Probenvormittage hatte Mullenax sich Roozebooms Longe ausgeliehen, das Ferkelchen mit einem Gurt an der Leine befestigt, es außerhalb des Manegenrings niedergesetzt und mit Hilfe von Roozenbooms Nilpferdpeitsche zu einem niedlichen Schweinsgalopp angetrieben. Das kleine Schwein vermochte nur außerhalb des aufgeworfenen Erdwalls im Kreis herumzuwetzen, doch konnte Mullenax es dazu bringen, daß es -256-
auf Kommando stehenblieb; er brauchte nur die Schmitze am Ende der Peitschenschnur vor ihm zu senken. Allerdings schnippte Mullenax gleichzeitig mit einem Fingernagel, und nach einer Reihe von Umläufen hatte das kluge Kerlchen gelernt, beim Laut des Nagelschnippens stehenzubleiben, ohne daß Mullenax die Peitsche zu Hilfe nehmen mußte. Bei der zweiten Probe konnte Mullenax das Tier sogar ohne Longe laufen lassen. Beginnend mit der ersten Vorstellung in Woodstock erwies sich das Ferkelchen – das Florian unbedingt Hamlet genannt haben wollte, obwohl Mullenax dieser Name ›unwürdig‹ erschien, weil er zwar die Bedeutung von ›Weiler‹ oder ›kleines Dorf‹ dafür kannte, nicht jedoch den Namen des Prinzen von Dänemark – als Star der gesamten Schweinenummer, ja fast des gesamten Circusprogramms. Barnacle Bill ließ also das Schweinchen um den Manegenring wetzen und rief dann: »Hamlet, such jetzt das Mädchen, das gern geküßt werden möchte!« In dem daraufhin aufbrandenden Gelächter achtete kein Mensch auf das Fingernagelschnippen, welches das kleine Schwein vor irgendeinem hübschen Mädchen in der vordersten Bankreihe zum Stehenbleiben brachte, woraufhin dieses natürlich errötete und die versammelten Gaffer dazu brachte, in wieherndes Gelächter auszubrechen. Nun touchierte Barnacle Bill das Ferkel mit der Peitsche, woraufhin es sich wieder in Bewegung setzte, diesmal, um das Mädchen herauszusuchen, das »unbedingt im Dunkeln geküßt werden möchte«, und so weiter. Bei vielen Vorstellungen hinterher bereitete es Florian erhebliche Schwierigkeiten, den Piraten und sein Ferkelchen aus der Manege herauszuholen, denn das Publikum schien nie genug von diesen Vorstellungen zu bekommen. Nach dem endlosen Reigen von Verneigungen und DacapoRufen im Anschluß an seine Nummer, als Mullenax endlich seinen Abgang fand, sagte er mit beträchtlicher Whiskeyfahne zu Florian: »Könnte sein, daß ich jetzt für Größeres reif bin. -257-
Meinen Sie, Captain Hotspur wäre bereit, mir Unterricht in der Löwendressur zu geben? So wie er Obie Yount bei seiner Kraftmenschennummer hilft?« »Anmaßendes Mannsbild!«, sagte Florian, ohne es indes ernst und böse zu meinen. »Die Löwendressur erlernen? Sie besitzen eine angeborene Begabung für so was, das brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu sagen. Aber trotzdem braucht es dazu noch einiger anderer Eigenschaften. Wie kommen Sie darauf, daß Sie es lernen könnten?« »Ich komme darauf, weil ich meine, ich könnte es.« Florian sah ihn anerkennend an. »Das ist eine gute Antwort. Ich werde bei Captain Hotspur ein Wort für Sie einlegen, Abner.« Doch Roozeboom hatte jetzt, da der Geist des Wettstreits die ganze Truppe gepackt hatte, auch so schon alle Hände voll zu tun. Ob es darum ging, den beiden Coverley-Frauen neue Tricks bei den verschiedenen Pferdevorführungen beizubringen oder Maximus aus seiner üblichen Trägheit zu neuer Betriebsamkeit aufzustacheln, damit auch der Löwe den einen oder anderen neuen Trick lernte, Roozeboom war dabei, wie er auch Quakemaker auf sehr umsichtige Weise half, neue Kraftleistungen zu erbringen. Auf dem, was noch vor kurzer Zeit ein ausgedehntes Schlachtfeld um den New Market herum gewesen war, hatte Yount eine Yankee-Haubitze gefunden – sie hatte halb versunken und schlammüberzogen in einem inzwischen ausgetrockneten Morastloch gelegen –, hatte Lightning davorgespannt, sie herauszuziehen und zum Festplatz zu bringen. Auf den ersten Blick war Florian nicht dafür, ein so schweres Geschütz dem ohnehin nicht geringen Transportproblem des Circus hinzuzufügen. Doch Roozeboom trat Yount zur Seite und nannte seinerseits gute Gründe, warum er es doch tun sollte. »Das Ding is’ in Wirklichkeit gar nich’ so schwer, wie es -258-
aussieht, baas«, sagte Roozeboom. »Wird aber verdammt schwer aussehen«, sagte Yount, »wenn die Gaffer zusehen, wie es über mich wegrollt. Ignatz sagt, ich kann mit zwei Brettern über Brust und Beine in der Manege liegen und ...« »Wie ich Obie schon gesagt hab’, Brust- un’ Beinknochen sind die härtesten Knochen überhaupt. Außerdem hat dieser Obie einen Brustkorb wie en verdomde Eichenfaß und Schenkel wie Baumstämme ...« »Ich laß’ Lightning über ihn weggeh’n ...« »Guter Gott, Obie«, sagte Florian erschrocken. »Dieser Percheron muß doch eine dreiviertel Tonne wiegen.« »Wir haben’s schon ausprobiert. Solange Ignatz dafür sorgt, daß der Gaul nicht stehenbleibt, fühle ich das ganze Gewicht nur für vielleicht eine Sekunde – wenn nämlich die Bretter für ihn umkippen, damit er die andere Seite runterkann. Dann wird er zusätzlich diese Feldhaubitze ziehen, und hinterher wird auch sie über mich wegrollen, ‘türlich werd’ ich ächzen und stöhnen – es soll schließlich gut aussehen. Das wirkt bestimmt noch sensationeller als der Trick mit der Kanonenkugel, die mir auf den Nacken fällt.« »Nun ...«, meinte Florian stirnrunzelnd. »Aber das verdammte Geschütz ist so groß! Wir können es unmöglich aufladen. Folglich brauchen wir noch ein Zugtier, um es davorzuspannen.« Das eiserne Kanonenrohr selbst war knapp einen Meter siebzig lang, lagerte jedoch auf einer gewaltigen Rohrwiege mit Holmen, Drehschrauben und hängenden Ketten, die zusammen mit dem eisenringgefaßten Schwanz- und Rücklaufstück die Lafette bildete – diese wiederum wurde flankiert von den beiden Rädern, die höher waren als die Kanone selbst lang war. »Unsinn, die kann die öle Peggy ziehen«, erklärte Hannibal zuversichtlich. »Seh’n Sie, Mas Florian. Man braucht bloß das -259-
Schwanzstück anzuheb’n, un’ das ganze Ding ruht voll’ ausgeglich’n zwisch’n dies’n beid’n Rädern. Für Peggy is’ das ‘ne Kleinigkeit. Un’ stell’n Sie sich bloß mal vor, was für’n tolles Bild das unnerwegs gibt.« »Na, schön«, sagte Florian und spreizte die Hände. »Für Brutus bist du verantwortlich. Solang der Bulle seinen Dienst beim Aufbau und in der Manege tut, kann ich mich nicht beklagen. Wir behalten die Kanone.« Inzwischen hatten so viele der Kollegen so viele ihrer Tricks verfeinert und ausgebaut, daß Edge sich angeregt fühlte, seiner Nummer einen neuen Trick hinzuzufügen – einen, wie ihn andere Kunstschützen auch schon gezeigt hatten. Unter den Tauschgegenständen, die im Roten Wagen abgegeben worden waren, entdeckte er einen kleinen Handspiegel, wie Frauen ihn benutzen; so fing er jetzt an, seine Pistole rückwärts über die Schulter abzuschießen und mit Hilfe des Spiegels zu zielen. Er lud vier Kammern des Zylinders der Remington mit ganz normalen Bleikugeln, die fünfte mit Schrot und die sechste – wie zuvor – nur mit Pulver, während die Kammer mit Maismehlbrei zugestopft wurde. Nachdem er in der Manege mit dem Karabiner einen von Clover Lee in die Höhe geworfenen kleinen Kürbis aus der Luft heruntergeschossen hatte, benutzte er den Revolver, um die anderen fünf Kürbisse abzuschießen, die er auf der Manegenumwallung aufgestellt hatte. Vier zerschmetterte er mit den normalen Kugeln, die er allerdings in den unterschiedlichsten Positionen abfeuerte. Dann drehte er sich um, benutzte den Spiegel, um über die Schulter das Ziel anzuvisieren, wobei er den fünften Kürbis nur ganz allgemein anvisieren mußte, um ihn mit der breit streuenden Schrotladung zu zertrümmern. Zum Schluß feuerte er die sechste und ungeladene Kammer direkt auf Clover Lee ab, damit sie »die Kugel mit den Zähnen auffangen« könne. Florian war so angetan von Edges beeindruckendem neuen -260-
Höhepunkt, daß er Colonel Ramrod gleichsam beförderte, indem er ihn die begehrte ›Schlußnummer‹ machen ließ – die letzte Nummer des Programms vor dem allgemeinen glanzvollen Abschluß oder Finale. Damit mußten diejenigen, die bisher die Schlußnummer gestellt hatten – Captain Hotspur und Madame Solitaire – an die vorletzte Stelle rückten. Aber Sarah war stolz auf Edge, ihren »Protege«, und der völlig phlegmatische Roozeboom war unfähig zur Eifersucht, so daß sie sich ohne Murren mit dem zweitbesten zufrieden gaben. »Tout eclatant!« sagte Florian begeistert zu Rouleau, als die beiden beisammen standen und in Strasburg zusahen, wie die Schlußnummer sich dem Höhepunkt und damit dem Ende näherte. »Wir haben ein Programm erarbeitet, mit dem man sich wahrhaftig sehen lassen kann. Jetzt brauchen wir bloß draußen noch ein ansprechendes Beiprogramm. Etwas, das uns in den Pausen etwas zusätzliches Geld einbringt.« Rouleau lachte. »Wenn diese Bauerntölpel nur zahlen könnten! Merde alors! Schließlich zahlen sie für das Hauptprogramm wenig genug!« »Ich denke da weiter voraus, Jules. Weiter die Straße hoch. Weiter im Norden, wo sie sehr wohl bezahlen können. In den Städten gehen die Menschen nicht mit den Hühner zu Bett; da können wir neben diesen Matinees noch Spätvorstellungen geben. Und in Europa können wir uns dann erst richtig entfalten. Sollen die Armen uns für reich halten und die Reichen für risquetouts.« »Nun, ein Ballonaufstieg wäre für ein solches Beiprogramm genau das richtige. Wenn ich nur herausfinden könnte, wie so was geht. Die ganze Zeit über quetsche ich nun schon die Leute in Häusern aus, die so aussehen, als beherbergten sie einen heimgekommenen Soldaten, und erkundige mich, ob er irgendwo im Umkreis des Ballon-Corps gedient hat. Sie können sich ja vorstellen, wie man mich daraufhin ansieht. Mais, sous serment – irgendwo und irgendwie – werde ich lernen, wie man -261-
einen Aerostat in den blauen Himmel aufsteigen läßt.« »Nun, solange das noch nicht der Fall ist, meine ich, sollten wir während der Pausen ein ausgewachsenes Beiprogramm zeigen. Der Wilde Mann und das Museum sind da einfach zu wenig. Was wir brauchen, sind echte Mißgeburten – ein wandelndes Skelett, die dickste Frau der Welt, ein doppelgeschlechtliches Wesen, so in der Art. Wenn Sie sich nach Ballons und so erkundigen, fragen Sie bitte immer auch, ob jemand weiß, wo man solche Wesen kriegen könnte.« Doch kurz nach dem Abbau am späten Abend mußte der Circus die Entdeckung machen, daß er überhaupt keine Mißgeburt mehr hatte. Tim Trimm merkte es als erster. Nachdem sie alle ums Feuer herum gehockt und zu Abend gegessen hatten, fragte Tim: »Ist unser Ich seine Nigger-Fidel endlich leid geworden? Er geigt jedenfalls nicht wie sonst.« Alle sahen sich fragend an. Sarah sagte: »Vor kurzem war er noch hier. Er hat sein Abendbrot bekommen, da bin ich mir sicher. Es ist ja auch nicht zu überhören, wenn der Wilde Mann ißt.« »Nun, aber im Moment ist er jedenfalls nirgends zu sehen«, sagte Yount, nachdem die Artisten das Dunkel abgesucht hatten; endlich fanden sie sich alle wieder zusammen. Magpie Maggie Hag sagte unergründlich: »Eine gadjo-Frau heute, sie bittet mich, ihr aus der Hand zu lesen. Will wissen, ob sie denn niemals ein Baby kriegt. Diese Frau hatte wilde Augen, wie übergeschnappt, weshalb sag’ ich ihr, jawohl, sie wird shavora haben. Was ich ihr allerdings nicht gesagt hab’, war, daß ich fand, sie sei verdammt alt, um damit anzufangen, eine Familie zu gründen.« Etwas erstaunt sah Florian sie an. »Mag, willst du damit sagen, irgendeine Frau, die sich verzweifelt ein Kind wünscht, hätte den Wilden Mann aus den Wäldern entführt?« Die Zigeunerin zuckte nur mit den Achseln. -262-
»Scheiß, sie hätt’ mich haben könn’«, sagte Tim und kicherte. »Geschieht ihr recht, wenn sie merkt, daß sie einen Schwachkopf entführt hat.« »Nun, dann muß sie sein Banjo auch mitgenommen haben«, sagte Clover Lee, die gerade in den Lichtkreis des Feuers trat. »Ich hab’ im Requisitenwagen und überall sonst nachgesehen – es ist aber nirgends zu finden.« In fragendem Tonfall sagte Hannibal: »Ja, wißt ihr was. Ich glaub’, der Jung’ is’ vom Circus weggelauf’n, weil er glaubt, er is’ Circus. Ich un’ Tim hätt’n ihm nich’ die ganzen Lieder beibring’n soll’n.« »Da könnte was dran sein«, sagte Florian. »Selbst die Schwachsinnigsten sind zu verschlagenen und abwegigen Dingen imstande. Ich hatte mal eine Frau, die so war.« »Im Dunkeln hat es aber keinen Sinn, nach ihm zu suchen«, sagte Edge. »Doch wir beide, Obie, werden morgen früh beim ersten Morgengrauen satteln und mal einen Erkundungsritt machen.« Selbiges taten sie, und Roozeboom und Sarah kamen auf Snowball und Bubbles mit; damit konnte jeder in einer Himmelsrichtung suchen. Jedoch keiner von ihnen fand den Wilden Mann. Um Mittag waren alle wieder zurück, und Florian sagte ergeben: »Hoffentlich kann die kinderlose Frau ihm ein Zuhause geben, und hoffentlich liebt sie Banjomusik. Jetzt müssen wir unsere nächste Etappe zurücklegen: dreißig Kilometer bis nach Winchester, und das, wo wir doch erst so spät aufbrechen. Wenn ihr jetzt absatteln und die Pferde ins Zuggeschirr spannen würdet, kann es losgehen. Und, Barnacle Bill, ich fürchte, jetzt müssen Sie unser Wilder Mann sein, bis wir einen neuen finden.« »Wie bitte?« sagte Mullenax. »Das ist eine alte Circusregel: der Zuletztgekommene muß sich mit Wasser begnügen, hat als Zielscheibe eines jeden Spotts -263-
und Streichs zu dienen. Mit anderen Worten: der Zuletztgekommene muß die dreckigsten Arbeiten verrichten. Vor jeder Vorstellung werden Sie brüllen und für Maximus mit den Ketten rasseln. Und dann, während der Pause ... hm ... ich denke, wir werden Sie zum Krokodilmenschen machen.« »Wie bitte?« »Da ist nichts Unangenehmes dran. Früher hat Abdullah Krokodil gespielt, bis wir den Ich bekamen. Es muß sich eines aus dem anderen ergeben, wie es sich unterwegs ergibt. In der ersten Programmhälfte sind Sie natürlich weiterhin unser Barnacle Bill. Doch dann ziehen Sie sich aus, binden sich einen Lendenschutz um, wir begießen Sie mit Plakatkleister, und dann wälzen Sie sich ein bißchen im Staub. Trocknet die Dreckschicht, bildet sich eine Kruste, die bröckelig wird und höchst realistisch wie Schuppen aussieht.« »Verflixt und verflucht!« »Mit Ihrer Seeräuberaugenklappe geht das natürlich nicht«, fuhr Florian munter fort. »Heben Sie die doch bitte mal eben hoch, Abner, und lassen Sie mich das Loch sehen. O, gräßlich, jawohl. Aber gut! Dadurch bekommen Sie noch was Schreckenerregenderes. Ihre Krokodilmenschnummer könnte sich als ein genauso großer Kassenmagnet erweisen wie die Ferkeldressur.« »Verflucht und verflixt!« Während die meisten noch dabei waren, die Zugtiere vor die Wagen zu spannen, sagte Sarah mit einer gewissen Ehrfurcht in der Stimme zu Magpie Maggie Hag: »Sie haben vorhergesagt, nicht alle von uns würden nach Europa gehen. Einen sind wir jedenfalls schon los!« »Aber noch jemand wird abspringen«, sagte die Zigeunerin und zeigte auf Mullenax, der mißmutig Fußtritte ins Leere verteilte und den Staub aufwirbelte, den er bald als zweite Haut tragen sollte. »Wir sind immer noch gleiche Anzahl. Noch -264-
welche werden abspringen, mehr dazukommen.«
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10 Es war Freitag abend, als sie in Winchester eintrafen und in der Nähe des Negerfriedhofs einen Platz zum Aufbauen fanden. Am Samstag gaben sie vor einer recht ansehnlichen Zuschauerschar eine Vorstellung, und gönnten sich für Sonntag eine Pause, ehe sie am Montag wieder auftraten. Die meisten Circusangehörigen hatten irgend etwas zu erledigen oder mußten in ihrer Freizeit probieren, doch einige von ihnen schlenderten auch die Loudoun Street hinauf, um sich Winchester anzusehen. In der Nähe des Gerichts war ein ganzer Häuserblock dem Erdboden gleichgemacht worden; jetzt diente der freie Platz einem Markt unter freiem Himmel. Da standen Farmwagen, Handkarren und provisorische Verkaufsstände mit handgemalten Schildern daran wie: Fische, Gebackenes und Gesottenes, Kurzwaren, Gemüse und so weiter, doch nur der Fischstand hatte viel zu verkaufen. Edge, Rouleau und Mullenax gingen gemeinsam spazieren und achteten nicht weiter auf ein kleines schwarzes Mädchen in fadenscheinigem ungebleichtem Baumwollstoff, das dem Markt mit einem Korb zustrebte, der fast genauso groß war wie sie selbst. Als sie mit ihrem womöglich noch schwerer gewordenen Korb vom Markt zurückkam und ihnen wieder begegnete, fiel sie ihnen deshalb auf, weil plötzlich ein wenig vertrauenerweckender älterer weißer Mann an sie herantrat. Das heißt, ein Mann, der überwiegend weiß war. Die drei Artisten waren in den Eingang eines leeren Ladens getreten, um aus dem Wind herauszukommen und sich eine Pfeife anzuzünden, und wurden so unbeobachtet Zeugen der Szene. »Laß sehen, kleines Mädchen«, sagte der Mann, hielt sie an und warf einen Blick in ihren Korb. »Ein Laib Brot, zwei Fische und einige Tüten mit diesem und jenem. Genau das, was du hast holen sollen. Weißt du aber auch noch, wo du diese Sachen -266-
abliefern sollst?« »Na, klar«, antwortete das Kind verwirrt und voller Mißtrauen. »Ich soll sie mein’ öle Mistress Morgan bring’, Sir, in unser Haus.« »Richtig.« Der Mann hob einen Finger in die Höhe und legte den Kopf auf die Seite. »Jetzt laß mich mal sehen, ob du wirklich das kleine schwarze Mädchen bist, das ich treffen soll. Also Mistress Morgan aus der ... aus welcher Straße noch?« »Na, ausser Weems Street, Sir, gleich dahint ...« »Ganz recht. Nur hat Mrs. Morgan gesagt, sie braucht diese Sachen sofort, und sie geht aus – besucht Mrs. Swink – und wird nicht in der Weems Street sein, wenn du hinkommst. Deshalb hat sie mir aufgetragen, sie ihr zu Mrs. Swinks ins Haus zu bringen. Hier hast du einen Penny. Geh und kauf dir was dafür. Ich nehm jetzt den Korb ...« Unvermittelt sah er sich von drei Männern umringt. Keiner von ihnen war klein und allzu freundlich sahen sie auch nicht aus. Rouleau sagte zu dem Mädchen: »Behalte du deinen Korb, petite negrillonne, und sieh zu, daß du schnell dorthin kommst, wo du hingehörst.« Gehorsam suchte das kleine Ding das Weite. Angewidert blies Edge dem Mann seinen Pfeifenrauch ins Gesicht und sagte: »Das war ja wohl der mieseste Trick, der mir je untergekommen ist.« Mullenax sagte zu ihm: »Mister, lassen Sie uns beide mal eben dort um die Ecke gehen, in die Seitengasse; dort besudeln wir jedenfalls nicht das Straßenpflaster mit Ihrem Blut und können die Sache wie Ehrenmänner besprechen.« Der Mann setzte ein trübes Lächeln auf und sagte achselzuckend: »Lassen Sie uns das tun. Ist vielleicht genauso gut, bei einer Schlägerei wie Hungers zu sterben. Und verdienen tu’ ich’s ja. Das war wirklich der mieseste Trick, den -267-
Foursquare John Fitzfarris jemals versucht hat.« »Hunger ist keine Entschuldigung für Diebstahl«, knurrte Mullenax. »Nun, es ist immerhin die beste, die ich je gehabt habe«, erklärte Fitzfarris. »Sie hätten mal einige meiner anderen Ausreden hören sollen.« Rouleau sagte: »Wenn Sie der Kleinen einen Penny haben geben können, peteur, hätten Sie sich zumindest ein Stück Brot kaufen können, den ärgsten Hunger damit zu bekämpfen.« »Nur hätte jeder Geschäftsmann auf den ersten Blick erkannt, daß dieser Penny ein genauso falscher Fuffziger war wie ich selber es bin«, sagte Fitzfarris. »Es handelt sich um einen mexikanischen Centavo, den irgendein Gauner mir angedreht hat. Damals hätte mir klar sein müssen, daß ich anfange, nicht mehr so helle zu sein wie früher. Gehen wir rüber in die Gasse, und bringen wir es hinter uns.« »Moment«, sagte Edge. »Sie waren in Mexiko?« »Nun, nicht direkt in Mexiko.« Er warf einen Blick auf Edges Uniform. »An der Grenze unten war ich, in Fort Taylor, als ihr Soldaten von unten wieder zurückmarschiertet. Um euch etwas von Dr. Hallelujah Weatherbys Wirksamen Samariter-Balsam zu verkaufen. Damit ihr den Tripper loswürdet, den ihr euch bei den hübschen Senoritas geholt habt – ehe ihr zurückkehrtet zu euren Liebchen.« Rouleau konnte nicht umhin zu lachen, und Mullenax fragte – diesmal ohne zu knurren: »Und hat es das? Den Tripper geheilt, meine ich?« »Das hoffe ich aufrichtig. Als Haarwuchsmittel hat das Zeugs bei mir kläglich versagt, genauso wie als Schmerzmittel, Hühneraugenpackung und Mittel gegen Frauenleiden – gegen was es sonst noch helfen sollte, weiß ich nicht mehr.« Damit wandte er sich wieder an Edge. »Nein, Soldat, mein hinreißendes Äußere habe ich nicht erst seit Mexiko. Ich war so -268-
vernünftig gewesen, mich aus dem Krieg rauszuhalten. Dafür habe ich in dem neueren leider mitmachen müssen, und was mich so malerisch verunstaltet hat, das war ein Rohrkrepierer.« Edge überlegte einen Moment. Dann wandte er sich an die anderen und sagte: »Leute, ich würde meinen, wir können diesen vorübergehenden Abfall von der Gnade eines ehrenwerten Veteranen übersehen, was meint ihr? Und ihm vielleicht was zu essen und zu trinken anbieten?« Als die anderen zustimmend nickten, fuhr er fort: »Da drüben ist ein Saloon, und ich hab’ ein bißchen von Florians Rebellengeld dabei – vielleicht nimmt der Barkeeper es an.« Der Wirt war bereit dazu – mag sein, daß er sich fürchtete, es nicht anzunehmen, als die vier furchterregenden Gestalten auf seine Bar zusteuerten. Er versuchte nicht einmal, sie mit amerikanischem Muskatellerwein oder Kürbisbier abzuspeisen, den einzigen Getränken, die zu sehen waren, sondern holte unter der Theke gleich ein Fäßchen echten Mountain Whiskey hervor. Nach etwas zu essen gefragt, ging er nach hinten und kam mit harten Eiern und einigen Scheiben Graubrot mit Schmalz darauf wieder. Während Fitzfarris ausgehungert alles hinunterschlang und mit Whiskey nachspülte, gab er seinen neuen Gefährten einen raschen Überblick über seinen Werdegang. »Manchmal habe ich Schuldverschreibungen, Aktien, Goldanleihen und andere todsichere Anlagen vertrieben. Ich habe Beiträge für nichtexistierende Wohltätigkeitseinrichtungen eingetrieben. Und habe mit einer Salbe gehandelt, die aus Schwarzen Weiße macht. Oder zu irgendeiner Rasse, die es bis jetzt gar nicht gibt. Wenn mir auch alles andere fehlgeschlagen ist, bis jetzt hab’ ich’s immer noch geschafft, irgendwelche Flüssigkeiten in ein paar leere Flaschen zu füllen und meine Dr. Hallelujah-Etiketten draufzukleben. Nur kann ich jetzt kein Allheilmittel mehr unter die Leute bringen, wo ich selbst nur allzu sichtbar unter etwas so Scheußlichem leide. Für einen Bauernfänger ist Vertrauen die Grundlage des Geschäfts, und -269-
Vertrauen in anderen zu wecken, schafft man am besten, wenn man selbst Vertrauenswürdigkeit ausstrahlt. Wie aber soll ich das jetzt machen?« Rouleau murmelte: »Hinin«, und nippte nachdenklich an seinem Whiskey. »Schlimmer noch, ein Bauernfänger wie ich braucht ein mittelmäßiges, nichtssagendes Dutzendgesicht. Früher hatte ich das mal. Zehn Minuten, nachdem mir irgendein Kunde irgend was abgekauft hatte, hätte er mich nicht mal mehr im Kreis seiner Verwandten wiedererkannt. Jetzt jedoch falle ich wie ein Kannibale in einem Kirchenchor aus dem Rahmen. Ich könnt’ mich nicht mal mehr bücken, um irgendwas zu stibitzen und wegzulaufen. Pferde fangen an zu scheuen, wenn sie mich sehen. Und Kinder fangen bei meinem Anblick an zu weinen.« »Vielleicht«, sagte Rouleau sich vortastend, »sollten Sie daran denken, mal etwas anderes zu unternehmen.« »Nun, es gibt natürlich immer noch das Versandgeschäft«, sagte Fitzfarris trübsinnig, »falls man sich jemals wieder auf die Post wird verlassen können. Ich könnte auch über Anzeigen verkaufen.« Edge fragte: »Aber wie können Sie in einer Zeitungsannonce Vertrauen ausstrahlen?« »Einmal, als ich nicht mehr aus noch ein wußte«, sagte Fitzfarris, »und in meiner Kasse vollständig Ebbe war, stieß ich auf einen fliegenden Händler mit Bauchladen, der Haarbänder für zwei Cent das Stück verkaufte. Hübsche Bänder übrigens, in allen möglichen Farben, über einen halben Meter lang und eine halbe Hand breit. Da dachte ich mir: Irgendwie muß es doch einen profitableren Markt für solche Sachen geben. Deshalb sprach ich ihn an, feilschte mit ihm und kaufte ihm den ganzen Restposten für anderthalb Cent das Stück ab.« Er hielt inne, um ein Ei zu verspeisen und einen Schluck Whiskey zu trinken. Mullenax fragte: »Und dann? Dann haben Sie die bunten -270-
Bänder für einen Phantasiepreis an irgendwelche Niggermädchen verkauft, richtig?« »No, Sir. An junge Männer vielmehr – von welcher Hautfarbe, kann ich nicht sagen, denn verkauft wurde alles nur auf dem Postweg –, da allerdings für einen wirklich saftigen Preis.« »An Männer?« »Ich frage Sie nur, Freund Mullenax, was ist die alles durchdringende, alles überschattende und alles beherrschende Sorge aller jungen Männer? Die Angst, sich unmännlich zu verhalten, verweichlicht zu sein, ungeeignet für die Ehe, und das durch die Kindheitsgewohnheit des ...« Er hielt inne und sah sich um. Es war niemand im Saloon außer ihnen selbst und dem Barmann, der so tat, als höre er nicht interessiert zu. Gleichwohl senkte Fitzfarris die Stimme und sprach in vertraulichem Flüsterton weiter: »Durch die tückische und verwerfliche Gepflogenheiten der Selbstbefleckung.« Mullenax bekam einen Schluckauf und sagte laut: »Was, zum Teufel, ist das?« Rouleau neigte sich zu ihm hinüber, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, woraufhin Mullenax sagte: »Ach so! Die hausgemachte Sünde.« »Mit der mir verbliebenen Barschaft«, fuhr Fitzfarris fort, »ließ ich mir etwas drucken und brachte auch eine Reihe von diskreten Zeitungsannoncen unter. Darin forderte ich alle jungen Männer, die Sorgen um den Zustand ihrer Männlichkeit plagten, auf, ein Muster ihres Urins einzuschicken, welches Dr. Hallelujah Weatherby kostenlos analysieren würde. Nun, ich wurde von Proben förmlich überschwemmt, was mich bei der Post nicht gerade beliebt machte.« »Und besonders reich auch nicht, soweit ich sehen kann«, sagte Edge. »Worum ging es denn eigentlich?« »Dr. Hai schickte jedem, der seine Urinprobe eingesandt hatte, eine verheerende Analyse – die selbstverständlich im -271-
voraus gedruckt worden war – und in der praktisch stand: ›Werter Herr, Ihre Probe zeigt unmißverständlich, daß Sie dieser gefürchteten Gewohnheit gefrönt haben. Infolgedessen werden Sie in Bälde mit dem Verlust Ihres Haupthaars, Ihrer Zähne, Ihrer Sehkraft, Fruchtbarkeit und Potenz sowie Ihrer Geisteskräfte zu rechnen haben. Beigefügt war ein Zertifikat, welches den Leidenden gestattete, sieben Dollar in bar einzuzahlen, woraufhin ihnen postwendend eine garantierte Heilung von all diesen Leiden geschickt werde. Mit einer Geldzurück-Garantie bei Nichtgefallen.« »Die Bänder?« »Ein Band an jeden Kunden. Genauso schnell, wie die Sachen rausgingen, investierte ich einen Teil der sieben Dollar in weitere Annoncen. Mein Geschäft ging blendend – hab’ das Geld nur so gescheffelt –, bis ich es für geraten hielt, diesen Trick aufzugeben und die betreffende Stadt zu verlassen.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Rouleau. »Einen Heiltrank vielleicht, wie Ihren Samariterbalsam, oder Pillen oder sonstwas. Aber ein Haarband!« »Jeder Kunde erhielt zusammen mit der Schleife eine Gebrauchsanweisung. Abends solle er die Hände zusammenlegen und sie damit zusammenbinden. Nun ist es selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit, sich so einen ... ich meine, sich mit zusammengebundenen Händen dieser Sünde hinzugeben. Nur Dr. Weatherbys geniale Erfindung konnte ihn von dieser hartnäckigen und schlechten Sitte abbringen.« Ein langes, abwartendes und erwartungsvolles Schweigen machte sich im Saloon breit. Schließlich war es der Barmann, der es nicht mehr aushalten konnte und fragte: »Und hat es das?« »Jemand davon abgebracht? Das bezweifle ich, mein Bester. Haben Sie jemals versucht, sich die eigenen Hände zu fesseln?« »Nun ... aber ... dann müssen Sie ja einen Haufen -272-
Rückzahlungsforderungen erhalten haben.« »O ja, gewiß. Und manche mit den unflätigsten Ausdrücken. Jedem, der sich beschwerte, schickte ich ein weiteres Schreiben, in dem er angewiesen wurde, das Kleingedruckte der Garantie genau durchzulesen. Dort hieß es nämlich, das Geld werde jedem sofort zurückgeschickt, der Dr. Weatherby drei eidesstaatliche Erklärungen vorlege – eine unterschrieben von seinem Pfarrer, eine von einem Familienangehörigen, und eine von irgendeinem prominenten Geschäftsmann der Gemeinde, in der er lebte –, in denen bestätigt würde, daß der Betreffende de facto kein notorischer Selbstbeflecker sei und daß er trotz der professionellen Hilfe von Dr. Weatherby fortfahre, dem unseligen Laster zu frönen. Ich habe nie wieder ein Wort gehört von ...« Was er noch sagte, ging unter in dem schallenden Gelächter des Barmannes. Nachdem der Mann sich wieder gefaßt hatte, schüttete er ihnen allen und sich selbst freigebigst Whiskey ins Glas und sagte: »Diese Runde geht auf Kosten des Hauses, Boys! So hab’ ich seit vor dem Krieg nicht mehr gelacht, als so ein Windhund ausgerechnet mit der Frau des Pfarrers durchbrannte. Das Komische an der ganzen Sache war, daß Pfarrer Dudley hinter ihnen herjagte, und er vom Blitz getroffen wurde. Trinken wir aufs Glück, Mr. errr.« »Ex-Corporal Foursquare John Fitzfarris.« »Sagen Sie, Mr. Foursquare, hat Ihnen Ihr Beruf jemals noch was anderes eingetragen außer Spaß, Geld und lebenslange Feindschaft? Ist das der Grund, warum Ihr Gesicht halb blau und halb normal aussieht? Sie sehen nämlich aus wie Pfarrer Dudley, als sie ihn nach Hause brachten.« »No, Sir«, sagte Fitzfarris säuerlich, aber immer noch höflich. »Eine fehlerhafte Kanone ist losgegangen und hat mir glühendheißes Schießpulver übers halbe Gesicht gepustet. -273-
Schwarzes Schießpulver, das unter der Haut liegt, wirkt blau. Sieht aus, als hätte ich mich absichtlich von der Nase bis zum Ohr und vom Haaransatz bis zum Schlüsselbein tätowieren lassen.« »Naja«, sagte der Barkeeper, »Sie können ja immer noch im Circus auftreten.« »Übrigens«, sagte Rouleau, »wir drei sind zufällig vom Circus. Ich selbst arbeite als Parterreakrobat. Der Colonel ist Kunstschütze. Und der Seeräuber arbeitet mit Wildschweinen.« »Da schlag doch einer lang hin«, sagten Barkeeper und Fitzfarris wie aus einem Munde. »FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM, das im Moment gleich neben dem Negerfriedhof floriert. Ich bin ermächtigt, Ihnen eine Anstellung anzubieten, Monsieur Fitzfarris. Warten Sie! Attendez!« Er hielt eine Hand hoch. »Bevor Sie mir eine runterhauen, hören Sie mich an. Als Tätowierter Mann aufzutreten, ist zumindest einer Karriere vorzuziehen, bei der es vornehmlich darum geht, kleinen Negermädchen ihre Einkäufe abzuschwindeln.« »Gott du allmächtiger!« murmelte Fitzfarris. »Bin ich froh, daß meine alte Mutter und alle, die mir Gutes wollten, tot sind. Sich vorzustellen, daß es einmal so weit mit mir kommen würde! Daß man mir anbietet, als Monstrum in einem Circusbeiprogramm aufzutreten!« »Sie sollten das nicht zu gering einschätzen«, sagte Rouleau. »Ein Wandercircus bietet einem vielfältige Gelegenheiten – wie soll ich es ausdrücken –, alle seine Talente zum Tragen zu bringen. Und gestatten Sie mir, darauf hinzuweisen, daß man nie länger als ein paar Tage an einem Ort bleibt.« »Naja«, meinte Fitzfarris und dachte nach. Florian strich sich eine Stunde später zufrieden über den kleinen Bart und sagte zu Fitzfarris: »Wenn Sie was dagegen haben, als Tätowierter Mann aufzutreten, können wir Sie als – -274-
nun, wie wär’s mit Blauhähermann?« Gottergeben meinte Fitzfarris: »Das ist, als überlege man, was eine würdigere Bezeichnung fürs Arschloch ist – arius oder rectum! Lassen wir es beim Tätowierten Mann.« So kam es, daß die Leute aus Winchester in der Pause zwischen der ersten und der zweiten Hälfte der Vorstellung draußen vorm Pavillon Florian ausrufen hörten: »Meine Damen und Herren, Sie sehen hier den kühnsten Entdeckungsreisenden unserer Zeit. Darf ich Sie bekanntmachen mit: Sir John Doe, den Tätowierten Mann. Aus Gründen, die Sie gleich anerkennen werden, zieht Sir John es vor, seinen wirklichen Familiennamen nicht preiszugeben, würde man daran doch erkennen, daß er einem der erlauchtesten Adelshäuser Englands entstammt.« Offenen Mundes starrten die Leute Fitzfarris an, der in Colonel Ramrods Manegenumhang gehüllt dastand, um sein zur Hälfte blaugefärbtes Antlitz besonders gut zur Geltung zu bringen. Er gab sich größte Mühe, mit seinem halb fleischfarbenen, halb blauen Gesicht möglichst wie ein englischer Edelmann auszusehen. »Auf einer Entdeckungsreise, die ihn ins ferne Persien führte«, fuhr Florian mit dröhnender Stimme fort, »wagte Sir John es, sich in eine von Schah Nasirs Favoritinnen zu verlieben, die schöne Prinzessin Shalimar; es gelang ihm, sich in den innersten Harem des Palastes einzuschleichen, um der Prinzessin seine Liebe zu gestehen. Unglückseligerweise wurde Sir John überrascht und von den Haremseunuchen gefangengenommen, so daß die zarte Liebesgeschichte ein tragisches Ende fand.« Florian tupfte sich mit dem Taschentuch die Augen, während Fitzfarris stoisch vor sich hinblickte. »Der Schah war außer sich und verbannte die bezaubernde Prinzessin auf einen fernen Berggipfel, wo sie bis zum heutigen Tage schmachtet. Sir John aber wurde damit bestraft, daß man -275-
ihn verunstaltete, bis er aussah wie Sie ihn heute vor sich sehen. Der grausame Schah Nasir ließ seine kräftigen schwarzen Eunuchen diesen mutigen Mann festhalten, und er mußte hilflos über sich ergehen lassen, wie man ihm die eine Hälfte seines Antlitzes mit den blauen Flammen des schrecklichen bengalischen Feuers versengte. Jetzt durchzieht Sir John als Tätowierter Mann die Welt. Er lehnt es ab, zu seinem eigenen Volk zurückzukehren. Außerstande, jemals seine geliebte Prinzessin in die Arme zu schließen, muß er die untilgbaren Zeichen dieser tragischen Liebe eingebrannt tragen.« Wieder betupfte Florian sich die Augen, und etliche Frauen unter den Zuschauern schnieften. »Sir John ist der einzige Europäer, der jemals den Harem eines persischen Potentaten betreten hat und mit dem Leben davongekommen ist. Er ist auch bereit, davon zu erzählen. Wenn einer von Ihnen, meine Herren, geneigt wäre, lächerliche zehn Cent zu entrichten – oder zehn Dollar in Konföderiertengeld –, ist Sir John bereit, freimütig über sämtliche skandalösen Haremsgeheimnisse zu berichten: von den Jungfrauen, die mit Gewalt genommen werden, von den verstümmelten Eunuchen, von den lüsternen Konkubinen. Die Damen und die jüngeren unter Ihnen werden es selbstverständlich vorziehen, nichts über derlei Vorkommnisse zu erfahren – wenn Sie mir bitte folgen wollen, wenden wir uns jetzt dem Krokodilsmenschen zu, einer schreckenerregenden Bestie, die an den Ufern des Amazonas entdeckt wurde ...« Offensichtlich war niemand an den Haremsgeheimnissen interessiert, beziehungsweise keiner der Männer unter den Zuschauern konnte die zehn Cent oder Dollar entbehren. Sie gingen mit Florian weiter, um sich Abner Mullenax anzusehen, der sich bäuchlings am Boden wälzte. Als die Circuskarawane Winchester am nächsten Morgen verließ, saß Fitzfarris neben Rouleau auf dem Kutschbock des Requisitenwagens. Er sagte: »Wissen Sie, ich hab’ mir weiß -276-
Gott bis jetzt eingebildet, als Quasseltüte unübertroffen zu sein. Aber dieser Florian, dem kann keiner das Wasser reichen: der hat ja Nerven aus Gußeisen, eine beinharte Chuzpe und kann lügen wie gedruckt.« Rouleau lachte. »Eh bien, ich erinnere mich noch, wie ich vor langer Zeit was ähnliches machte. Da hat Florian uns eingeschärft, wir sollten niemals daran denken, was als schicklich gilt, und uns dadurch einengen lassen, und weder an die Vergangenheit denken noch an Konvention oder Moral. All das birgt nichts weiter als Banalitäten. Ich glaube, Fitz, Sie und Florian werden wie Brüder miteinander auskommen.« Florian, der – Edge auf dem Pferd neben sich – in der Kutsche an der Spitze der Kolonne fuhr, sagte: »Dieser Fitzfarris. Auf welcher Seite hat er denn gedient, als er diese sonderbare Entstellung eingebrannt bekam?« »Ich hab’ ganz vergessen, ihn danach zu fragen«, sagte Edge. »Aber ich glaube, ich würde ihm sowieso nicht glauben, wenn er es mir erzählte. Ich denke, solche Kleinigkeiten spielen heute keine Rolle mehr.« Er streckte den Finger aus. »Dort hinten geht die Straße nach Charlestown ab – falls Sie immer noch auf dem kürzesten Wege nach Baltimore wollen.« Florian lenkte Snowball auf die Straße, die in östlicher Richtung vom Pike abzweigte. Es handelte sich um einen festen Feldweg mit einer wesentlich besseren Oberfläche als der aufgerissene Schotterbelag des Pike. Doch schien eben dies Abbiegen einem der Wagen allzu arg zugesetzt zu haben, denn es krachte und schien zu splittern, und dann vernahm man eine Flut von Flüchen. Florian zog an den Zügeln, um Snowball zum Stehen zu bringen, und schaute zurück. Am Ballonwagen hatte eines der Hinterräder sich in seine Bestandteile aufgelöst. Der Wagen saß mit Schlagseite hinten auf der Straße, und zwischen den nunmehr aufgerichteten Deichseln wurde das Zugmuli fast in die Luft gehoben. Mullenax lag auf der Erde, streckte alle viere von sich und schüttelte drohend die Faust. -277-
»Gottverdammich, Himmelarschundzwirn, ich tu’ überhaupt nichts anderes mehr als mich im Staub zu wälzen!« Die anderen Männer versammelten sich, um den Schaden zu begutachten. Roozeboom sagte: »Dieser Wagen ist zulange unterm Heu ausgetrocknet, Abner. Die Speichen saßen alle locker. Hätt’ diese Räder vorher gut quellen lassen sollen – in irgendeinem Bach unterwegs. Das ganze ist meine Schuld.« »Naja, immerhin ist das Rad nicht gebrochen«, sagte Tim. »Nur aus’nandergefall’n. Das kriegst du wieder hin, Holländer!« »Ach ja, schließlich hab’ ich jedes Rad dieses Konvois mal in der Mache gehabt. Aber das bedeutet: erst wieder zusammensetzen, dann einen Wasserlauf oder Teich finden und das Rad die ganze Nacht über quellen lassen.« »Gott sei Dank, daß es ausgerechnet der Wagen ist, den wir am ehesten entbehren können«, sagte Florian. »Alle anderen können weiterziehen, während Sie das Rad reparieren.« Plötzlich ließ sich eine neue Stimme vernehmen: »Ist irgend jemand von den Herren ein Yankee?« Als sie sich umdrehten, sahen sie einen Mann hinter einem Zaun stehen. Der Zaun war überwuchert von Geißblattranken, die in voller Blüte standen und köstlich dufteten. Der Mann hatte graues Haar und war hager, sonst aber für die Zeit und den Ort erstaunlich gut beisammen und sogar gut gekleidet. Hinter ihm dehnte sich ein sanft ansteigender Hügel, der ehemals ein riesiger Rasen gewesen sein mußte, jetzt jedoch voller Unkraut war. Am Ende des Hanges war ein von alten Eichen umstandenes Herrenhaus mit einem Portikus zu sehen, dessen Säulen über zwei Stockwerke gingen. »Nein, Sir«, sagte Florian. »Ein paar von uns sind Emigranten aus Europa, aber alle anderen wackere Südstaatler. Das hier zum Beispiel ist Colonel Edge, ehedem bei der Konföderierten Kavallerie, Sergeant Yount desgleichen, und dann Corporal Fitzfarris ...« -278-
»Ich bin Paxton Furfew, vormals Adjutant der Heimatwehr von Frederick County, jetzt im Ruhestand«, sagte der Mann mit der weichen Aussprache des wohlgeborenen Gentleman aus Virginia. »Verzeihen Sie, daß ich Sie ausgehorcht habe – aber möchten Sie gern auf Oakhaven rasten, während Ihr Wagen repariert wird? Mrs. Furfew und ich können Yankees nun mal nicht ausstehen, sind aber für Gesellschaft anständiger Leute immer sehr dankbar. Vielleicht würden die Damen Ihres Zuges die Nacht gern in einem richtigen Schlafzimmer verbringen. Außerdem erfreuen wir uns einer recht annehmbaren Tafel – selbstverständlich den Umständen entsprechend.« »Das ist aber überaus artig von Ihnen, Sir«, sagte Florian. »Ich denke, ich darf als Direktor dieses Unternehmens sagen, daß wir Ihrer Einladung mit Freude und mit dankbarem Herzen Folge leisten.« »Wir haben Ihnen dankbar zu sein, Sir. Wir haben noch nie einen Circus zu Gast bei uns gehabt – und einen Elefanten auch nicht. Doch wenn Sie einfach ein Stück weiterfahren, werden Sie auf die Zufahrt zum Haus treffen. Lassen Sie den zusammengebrochenen Wagen einfach hier liegen. Ein paar von unseren Schwarzen können ein Stück vom Zaun hier wegnehmen und den Wagen zu unseren Werkstätten hinaufziehen. Ihr Wagenmeister wird dort eine Schmiede samt Esse und allem nötigen Gerät vorfinden.« Die Circusleute zogen die Straße hinan, die an der Plantage entlangführte, und fuhren durch einen von Steinpfeilern getragenen schmiedeeisernen Torbogen, der die Aufschrift Oakhaven trug und folgten einer sanft geschwungenen Zufahrt zwischen ungeschnittenen Buchsbaumhecken, die früher Blumenrabatten eingefaßt hatten. Das Herrenhaus war noch größer, als es von der Straße aus gewirkt hatte, nur sah es ziemlich heruntergekommen aus: Überall blätterte die Farbe ab, waren die Fenster zerbrochen oder mit Karton zugemacht worden und der Stuck, mit dem die Holzsäulen umgeben waren, -279-
bröckelte dermaßen ab, daß sie sich ausnahmen wie römische Ruinen. Mr. und Mrs. Furfew erwarteten sie auf der Veranda; sie war so pummelig wie er hager. Wiewohl auch sie wohlgekleidet – in ausladende Reifröcke mit vielen Falbeln – und obgleich sie mit der gleichen Magnolienstimme ausgestattet war wie ihr Gatte, erwies sich ihre Redeweise als so schlampig und ungebildet bäurisch wie die seine gepflegt. »Un’ Sie sag’, keiner von Ihn’ is’n Yankee« – mit diesen Worten begrüßte sie ihre Gäste. »Und sind darüber unendlich froh, Madame«, sagte Florian. »Diejenigen von uns, die nicht für Dixie gekämpft haben, haben zumindest den gesamten Krieg über mit dem Süden gelitten.« »Ich hab’s ja schon immer gesagt«, erklärte sie. »Die Yankees mögen uns besetzt halten, aber mehr schaffen sie nie. Den Geist des Südens ha’m sie nich’ besiegt. Hab’ ich das nich’ immer gesagt, Mr. Furfew?« »Jawohl, immer, meine Teure«, murmelte er. Und dann, dem Circus zugewandt: »Wollen Sie nicht eintreten und eine Erfrischung zu sich nehmen? Die Stalljungen werden sich um Ihre Tiere kümmern. Und auch Ihren eigenen Schwarzen einweisen.« Eine Anzahl Neger – die meisten von ihnen barfuß und in abgetragene Baumwollanzüge gekleidet, und dabei von einer Unterwürfigkeit, als hätten sie nie von der Sklavenbefreiung gehört, kamen, die Zügel zu übernehmen. Den Elefanten jedoch sowie Thunder vor dem Löwenwagen überließen sie verängstigt und die Augen rollend Hannibal und Roozeboom, die sie beide zu den Stallungen führten. Als die Artisten aus ihren Wagen kamen – wobei die Frauen sich bemühten, so königlich und graziös auszusteigen, als entstiegen sie bei einem Hofball einem Landauer –, fuhr Mrs. Furfew fort, ihrem Ärger Luft zu machen. »Da wir hier ja unmittelbar anner Grenze zum Feind sitzen, ha’m wir mehr Yankees gesehen, als wir je wieder zu sehen -280-
hoffen. Diese Halunken ha’m unser Oakhaven fast ruiniert. Sag’s ihnen, Mr. Furfew!« »Die Yankees haben Oakhaven fast ruiniert«, wiederholte er geduldig, als er sie in eine Halle führte, die zwar riesig, aber völlig unmöbliert war. »Sie haben alles geplündert, entzweigeschlagen und ...« »Und was diese Halunken nich’ ha’m mitnehm’ könn’, ha’m sie kaputtgeschlagen. Erzähl ihn’ das mit’n Kronleuchtern, un’ mit’n Billern, Mr. Furfew.« Mit unbestimmter Handbewegung wies er auf Decke und Wände. »Hier in der Halle hingen früher zwei zueinander passende Kristallüster sowie eine Portraitgalerie der Furfews. Die Yankees ...« »Die Leuchter ha’m sie runtergeriss’n, und was von den Kristallklunkern nich’ kaputtgegangen war, ha’m sie ihren Pferden als Schmuck umgehängt. Dann holt’n sie ’n Topf mit Teer und malten Mr. Furfews Großmama Sophronia un’ Tante Verbena un’ all den annern Damen Bärte an. Ha’m sie einfach ruiniert! Die Herren der Ahnengalerie hatt’n ja alle schon’n Bart, un’ da ha’m diese Yankees ihre Bajonetts genomm’ un’ die Leinwände zerschlitzt. Erzähl ihn’ das mit’n Büchern un’ den Uhren, Mr. Furfew.« Aufseufzend berichtete er: »Sie haben alle Uhren fortgeschleppt, bis auf die große Standuhr. Die war viel zu groß, sie mitzunehmen, und da haben sie sie die Treppe hinuntergeworfen, um sie kaputtzumachen. Sie haben alle unsere Bücher verbrannt, darunter eine hundert Jahre alte Bibel, in der die Geburten, Todestage und Hochzeitstage aller Furfews aufgezeichnet waren. Auch alle anderen Familienunterlagen haben sie ins Feuer geworfen, Landbesitztitel, Sklavenverzeichnisse, alles Schriftliche. Und jetzt, meine Teuerste, bringst du die Damen vielleicht nach oben und läßt ihnen von den Mädchen Wasser zum Waschen bringen.« -281-
Mrs. Furfew machte ein Gesicht, als würde sie viel lieber weiter über die viele Unbill reden, die ihnen widerfahren war, geleitete dann aber doch Sarah, Clover Lee und Magpie Maggie Hag die lange und geschwungene Treppe hinauf, an der eine Reihe Geländerstäbe fehlten ebenso wie etliche Trittstufen und Stoßbretter. »Bitte verzeihen Sie, daß Leutitia sich so laut ereifert, Gentlemen«, sagte Mr. Furfew verständnisheischend und zeigte auf seine Frau, die hinter den anderen Frauen die Treppe hinaufstieg. »Sehen Sie sich nur ihre Schuhe an. Seide, würde man denken. Dabei hat sie die einzelnen Stücke sorgfältig von alten Galanterieschächtelchen abgelöst, und die schwarze Bluse, die sie anhat, war einmal die Bespannung eines alten Regenschirms. Ach, der elende schöne Schein bei Armut und Bedürftigkeit. Wenn es so aussieht, als kennte sie nichts anderes als Yankee-Haß nun, der hat bei ihr aber auch seine Gründe, weiß Gott!« »Nun, ich meine, Sie können sich gratulieren, immer noch ein Haus zu besitzen«, sagte Florian. »Ganz zu schweigen von der Dienerschaft. Mich wundert, daß Ihre Schwarzen nicht mit den Yankees davongelaufen sind.« »Ich glaube, dafür haben sie alle viel zuviel Angst vor Leutitia«, sagte Mr. Furfew unter einem glucksenden Gekicher, das nicht nur humorvoll war. Fitzfarris fragte: »Was für Yankees waren es denn, die hier bei Ihnen eingefallen sind?« »So ziemlich alle regulären Armeen, die es gibt. Die unter dem Befehl von McClellan, Banks, Shields und Milroy. Banks hat seinen Stab hier einquartiert, zweifellos der Grund, daß das Haus nicht niedergebrannt wurde. Und ab und zu haben wir auch noch den einen oder anderen unserer konföderierten Kommandeure hier erlebt. Jackson und Early haben an unserer Tafel gespeist. Doch in letzter Zeit, seit der verdammte Sheridan -282-
abgezogen ist, ist haufenweise anderes Gesindel vorbeigekommen, um nachzusehen, ob es nicht doch noch was zu holen gab, das die Regulären vielleicht zurückgelassen haben. Und die letzten schurkischen Versprengten vor einer Woche – als die nichts fanden, was sie gebrauchen konnten, haben sie mitgenommen, was sie nicht gebrauchen konnten. Sehen sie sich das hier an.« Er hatte sie in ein Zimmer geführt, das einst der Salon gewesen sein mußte, obwohl heute als einziges Möbelstück ein massiver Flügel von geradezu imperialer Größe darin stand. »Ein Bösendorfer mit Erard-Mechanik«, sagte er. »Oder was davon übriggeblieben ist.« Er hob den gewaltigen Deckel hoch, und sie schauten hinein. Die letzten Strolche hatten die Reste jenes Teers, mit dem zuvor die Familienportraits der Furfew verunstaltet worden waren, benutzt und ihn über Saiten und Hämmer des Konzertflügels gekippt. »Fils de putain«, knurrte Rouleau. »Völlig verhunzt.« Edge sagte: »Wenn ich mich recht entsinne, Sir, haben Sie gesagt, Sie hätten der Bürgerwehr hier angehört.« »Jawohl, verdammt noch mal. War schon zu alt und hinfällig, um noch regulär zu dienen. Nicht mal einen Sohn hatte ich, ihn hinzuschicken. Und so ziemlich das einzige, was ich in der Bürgerwehr tun konnte, war, unsere Nachbarn von unseren eigenen traurigen Erfahrungen profitieren zu lassen. Gleich zu Anfang versuchten wir, Leutitias Schmuck zu retten, das Familiensilber und solche Dinge – indem wir es draußen im Garten vergruben. Doch den Trick kannten die Yankees bereits. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, den ganzen Garten umzuwühlen. Sie gingen bloß rum und stocherten mit ihren Ladestöcken im Boden herum, bis sie auf etwas stießen. Dann ließen sie die Sachen von unseren eigenen Schwarzen ausgraben. Als Oakhaven danach zum erstenmal wieder frei war von irgendwelchen Besatzern, versteckten wir alles, das zu behalten sich lohnte, unter den Aborten – und zwar sehr tief -283-
darunter – und unter dem Misthaufen im Stallhof. So gelang es uns, eine ganze Menge von Eingemachtem, Wurzelgemüse und sogar Getreide zu retten, und ich riet meinen Nachbarn, es genauso zu machen. Ach, übrigens, ich habe Cadmus angewiesen, Ihren Tieren Hafer vorzuschütten. Sie sehen aus, als könnten sie das gebrauchen.« »Aber mein lieber Herr«, sagte Florian laut. »Sie werden die Tiere verwöhnen. Jedenfalls übertreffen Sie sich in Ihrer Gastfreundschaft. Bitte, lassen Sie mich dafür bezahlen.« Mr. Furfew machte ein betretenes Gesicht und warf einen Blick in die Halle. »In Gottes Namen, Mann, wenn Sie Unionsgeld dabei haben, lassen Sie das hier nicht sehen. Nirgendwo hier, meine ich. Wir haben geschworen, nur Konföderiertengeld auszugeben und anzunehmen.« »Zufällig kann ich Ihnen damit dienen.« Mr. Furfew tat das mit einer Handbewegung ab. »Eines Tages kam ein kranker Yankee hier vorbei, und als unser kleiner schwarzer Boy ihm eine Schöpfkelle Wasser anbot, gab der Soldat ihm einen Penny. Leutitia griff sich die Münze und warf damit nach dem Mann. Dann peitschte sie den Boy fast bis aufs Blut aus, weil er das Geld angenommen hatte.« Er seufzte. »Aber, wie ich schon sagte, sie hat weiß Gott ihre Gründe.« »Es stimmt, der Krieg verleitet einen zu vielem«, bestätigte Mrs. Furfew, nachdem sie alle sich um einen provisorischen Tisch ohne Tischtuch zum Mittagsmahl niedergelassen hatten und von einer kunterbunten Ansammlung von Blech- und Holztellern und mit einem womöglich noch bunteren Durcheinander von Bestecken aßen. »Für mich ist Oakhaven besudelt. Wissen Sie was – als diese dreckigen Yankee-Offiziere hier einquartiert waren –, da hatt’n die doch die Stirn, alle ihre Liebsten aus Washington herkommen zu lass’n! Diese hart’n un’ gewöhnlich’n Yankee-Weiber. Was diese Offiziere an Linnen un’ Zudeck’n nicht stahlen, als sie endlich abrückten – -284-
na, wir ha’m das rausgeschafft un’ verbrannt. Desweg’n könn’ wir Ihn’ nur Strohsäcke geben, Ladies, un’ wenn die ’n bißchen schimmelig ausseh’n, dann denken Sie nur, das is’ jedenfalls konföderiertes Grau.« Verstohlen sah Edge zu Sarah und Clover Lee hinüber, diesen harten und gewöhnlichen Yankee-Weibern, doch die hielten die Augen sittsam gesenkt und sahen nur auf ihren Teller – und er hatte den starken Verdacht, daß weder die eine noch die andere seit ihrer Ankunft hier das Wörtchen ›verdammt‹ über die Lippen gebracht hatte. Unvermittelt fiel ihm auch auf, wie grotesk die Schar der Circusleute sich in zumindest passabler zivilisierter Umgebung um einen Tisch herum ausnahm. Da waren zwei Männer mit glitzernder Glatze, der eine mit wildem Walroßbart und der andere mit einem womöglich noch verwegeneren schwarzen Schnauzer; der glatt und geleckt aussehende, graumelierte Prinzipal; eine Bohnenstange von schmalschultrigem Mannsbild, das man für einen typisch virginischen Bauerntölpel gehalten haben würde, hätte ihn nicht die unheimliche schwarze Augenklappe geziert; zwei recht gutaussehende jüngere Männer, von denen einer allerdings für immer eine blaue Gesichtshälfte hatte; ein Zwerg, der mit dem Kopf kaum über den Tischrand hinaussah; eine hübsche Blondine in mittleren Jahren und ein hübsches blondes Mädchen sowie eine alte Vettel, deren Nase und Kinn – wiewohl unter ihrem Umschlagtuch, das sie nicht einmal bei den Mahlzeiten ablegte, kaum zu sehen – bei jeder Kaubewegung aufeinander zufuhren wie zwei Scherenblätter. Und dann er selbst, Zachary Edge, wie immer er auch aussah. Was Wunder, dachte er, daß das kleine Mulattenmädchen, das ihnen bei Tisch aufwartete, sie mißtrauisch mit aus den Höhlen quellenden Augen ansah, wenn sie ihnen Schüsseln und Platten reichte. Florian schluckte eine Gabelvoll von dem saftigen Gericht auf seinem Teller hinunter und sagte: »Ich habe größtes Mitgefühl -285-
für alle Ihre Entbehrungen, Madame. Sie müssen aber gut damit zurechtgekommen sein und machen offenbar das Beste aus den Vorräten, die Ihnen noch verblieben sind. Das Essen schmeckt köstlich.« »Vielen Dank, Mossjöh. Jawohl, unsere Tante Phoebe vollbringt wahre Wunder mit so gut wie nichts. Ich wünschte nur, sie würd’ ihr’n hellhäutigen Rangen ’n bißchen Manieren beibring’n.« Nun hob sie die Stimme an und rief das kleine Mädchen, das Yount in diesem Augenblick gerade Schmortomaten auf den Teller häufte. »Heda, Miss. Du bietest dem Gentleman vonner rechten Seite an. Das ist die falsche Seite. Komm her, freche Göre.« Das Mädchen, kaum älter als zwölf oder dreizehn und von einer Hautfarbe, hell wie das Fell eines Rehkitzes, rollte die Augen und rief klagend: »Mistis, das habb ich nie kapiert. Wie kannie rechte Seite falsche Seite sein?« »Halt’n Mund!« Mrs. Furfew lief im Gesicht violett an wie eine Aubergine, so daß sie dunkler aussah als die kleine Mulattin. »Komm her, hab’ ich gesagt, du aufsässiges kleines Biest!« Widerstrebend schob das Mädchen sich um die Tafel herum bis zu einer Stelle, wo Mrs. Furfew ausholen und ihr eine tüchtige Ohrfeige geben konnte. Das Mädchen zuckte zusammen und wollte weglaufen, doch herrschte Mrs. Furfew sie an: »No, Miss, ich will das hör’n. Blas die Back’n auf, wie ich es dir gelernt hab’.« Das Mädchen machte Pausbacken, wodurch ihre Hautfarbe sich womöglich noch mehr aufhellte, und Mrs. Furfew versetzte ihr noch einen Backenstreich, der diesmal ein Whap! zur Folge hatte, das lauter widerhallte, als Tim es in der Manege je geschafft hatte. Als alle anderen vor Verlegenheit schwiegen, löste Mr. Furfew die Spannung, indem er sich Florian zuwandte und ihn fragte, welches Ziel der Circus auf seinem Treck in den Norden -286-
denn anstrebe. »Baltimore, Sir, auf dieser Seite des Atlantik. Wir haben nämlich vor, uns mit dem ganzen Circus nach Europa einzuschiffen – falls es uns gelingt, unser Konföderiertengeld einzutauschen, um die Passage bezahlen zu können.« Florian sah Mr. Furfew sich winden und sagte beschwichtigend zu Mrs. Furfew gewandt: »Wir müssen wieder zu Geld kommen, doch sind wir entschlossen, es nicht damit zu verdienen, daß wir eine Tournee durch Yankeeland machen.« Sie war nicht puterrot geworden, ja, sie nickte sogar beifällig. »Das sin’ genau meine Gefühle. Mein lieber Bruder hat sein Blut in Tennessee vergoss’n. Aber ich hab’ aufgehört, ihn zu betrauern. Heute beneid’ ich Henry sogar, wirklich. Er hat für die Sache gekämpft, un’ das war mehr, als wir Frau’n tun konnt’n. Wir konnt’n ja nur versuch’n, durchzukomm’ un’ weiterzumach’n.« »In Petersburg«, sagte Yount, »kamen die Damen während der Kampfpausen aus der Stadt heraus, um uns Soldaten Mut zuzusprechen.« Das sagte er mit ätzendem Unterton, was Mrs. Furfew jedoch nicht zu bemerken schien. »Sie brachten uns Traktate, in denen wir aufgefordert wurden, weder dem Glücksspiel zu huldigen, noch zu fluchen, noch überhaupt Ungehöriges zu tun. Nur kämpfen und töten sollten wir, wie es unsere Pflicht sei.« Abermals nickte Mrs. Furfew beifällig. »Jawohl, uns’re Aufgabe war es, unsern Männern Mut zu mach’n. Das war ja ziemlich das einzige, was wir schwachen Frau’n tun konnt’n. Deshalb beneid’ ich Henry ja so. Der konnt’ jedenfalls sterb’n für das, woran er glaubte.« Träge erhob Fitzfarris die Stimme und sagte: »Und was war das, Ma’am?« »Nun ja – nun ja, der Süd’n ’türlich. Südstaatenkultur, Südstaatengrundsätze un’ Südstaatenmoral. Henry muß stolz -287-
darauf sein, für so was gefall’n zu sein. Mein’ Sie nich’ auch, Corporal?« »Ich weiß nicht, Ma’am. Ich habe viele Gefallene gesehen, und keiner hat so ausgesehen, als war’ er stolz darauf, gefallen zu sein. Ich würde meinen, Henry ist einfach froh, sich hinlegen und ausruhen zu können. Und sich nicht mehr als einmal erschießen lassen zu müssen.« »Er is’ gar nich’ erschoss’n, Corporal. Sein Colonel hat mir’n netten Kondolenzbrief geschrieb’n, un’ darin hieß es, Henry is’ an Durchfall gestorb’n.« »Ah, dann, wette ich, ist er womöglich noch froher darüber, endlich seine Ruhe zu haben. Ich hab’ selbst mal an der Scheißerei gelitten und ...« Plötzlich ging Mrs. Furfew in die Luft. »Hör’n Sie mal! Einer, der mit’n Leben davongekomm’ is’, kann es sich leist’n, ’n Tot’n ’n Tot’n sein zu lass’n un’ die große Sache zu verunglimpf’n. Ihr Männer habt leicht vergeb’n un’ vergess’n, denn schließlich wart ihr es, die den Krieg verlor’n ha’m.« Sie war wieder wie eine Aubergine angelaufen. »Aber von den Frau’n des Südens wird die gloriose Sache nie vergess’n wer’n. Wir ha’m nie die Waffen gestreckt un’ uns nie ergeb’n un’ wer’n das auch nie tun!« »Oh, oh«, sagte Florian und beeilte sich, die Wogen wieder zu glätten. »Obstkuchen zum Nachtisch – nehmen die Wunder denn gar kein Ende? Und genauso schmackhaft wie das ganze Essen vorher schon. Ihre Köchin ist ein wahrer Schatz, Madame.« Mrs. Furfews Gesichtsfärbung verblaßte zusehends. Widerwillig fand sie sich damit ab, daß das Thema gewechselt wurde. »Jawohl, Phoebe backt ’n ganz anständigen Obstkuch’n. Vor all’m, wenn man bedenkt, daß sie kaum was anneres reintut als Kakipflaumen, Nüsse un’ Pfefferkörner.« »Ich glaube, ich gehe mal hin, der Küchenchefin ein -288-
Kompliment zu machen«, sagte Florian. »Wenn Sie gestatten?« Er wartete Mrs. Furfews herablassend zustimmendes Nicken ab und floh dann. Doch die Hausherrin bekam keinen Koller mehr, und die Tafel wurde ohne weitere unangenehme Zwischenfälle aufgelöst. Mrs. Furfew bestand darauf, daß »die Damen alle« der eisernen Sitte der Südstaatenschönen folgten, sich zur Mittagsruhe auf ihr Zimmer zurückzuziehen und der Ruhe zu pflegen. Roozeboom ging hinüber in die Schmiede, um das auseinandergebrochene Wagenrad wieder zusammenzusetzen, die anderen Männer hinaus auf die Veranda, um sich eine Zigarre anzuzünden. Dort lösten sie sich in Gruppen von zwei, drei Mann auf. Mr. Furfew erging sich Trimm und Edge gegenüber über die Vorkommnisse auf der Plantage: »... Jawohl, Jeff Davis wurde stark kritisiert. Aber, meine Herren, Präsident Davis kannte die Mentalität des Südens. Er wußte, wenn der Konflikt zwischen uns und dem Norden jemals gütlich beigelegt werden sollte, der Süden den Krieg gewinnen mußte. Oder wenn nicht, der Süden die Hucke voll kriegen mußte – gründlich vollkriegen, sogar.« »Nun, so ist es ja auch gekommen«, grunzte Tim. »Jawohl, wir haben verloren. Aber ah! – war es nicht ein fabelhafter Kampf?« Fitzfarris sagte zu Rouleau: »Unser Gastgeber ist ein gebildeter Herr, sie hingegen völlig ungebildet; die ist nicht besser als eine Schweinehirtin, spielte sich aber auf wie sonstwas! Wie, meinen Sie, haben diese beiden jemals zusammengefunden?« »Tiens, ich meine, die beiden müssen sich im tiefen, tiefen Wald begegnet sein«, sagte Rouleau südstaatlerhaft gedehnt. »Wahrscheinlich hat er ihr einen Dorn aus der Pfote gezogen.« Mullenax sagte zu Yount: »Bei der Person piept es wohl. Hoffentlich drehen nicht alle Frauen in Dixieland durch wie die -289-
hier.« Yount meinte knurrend: »Wenn solche Frauenspersonen den Krieg weiterführen wollen, wenn er längst vorbei ist – sollen sie doch! Mrs. Furfew leidet vielleicht daran, daß sie nicht genug elegante Schuhe hat, und deswegen wütend. Aber ich hab’ keine Frauen gesehen, denen ein abgeschossen worden wäre – nicht mal in Petersburg.« »Und auch kein Auge ausgeschossen«, sagte Mullenax. »Zwar läßt sich nicht leugnen, daß es die Männer sind, die den Krieg verloren haben aber wir haben weit mehr verloren als nur den Krieg. Ich bin ganz Ihrer Meinung, Obie. Wenn sie wollen, können die verdammten alten Weiber den Krieg haben und damit machen, was sie wollen.« Im Küchenhaus, das vom Wohnhaus getrennt und nur über einen seitlich offenen, aber gedeckten Laufgang zu erreichen war, hatte Florian der Köchin – Phoebe Simms, einer mächtig ausladenden, tiefschwarzen Frau – maßlos übertriebene Komplimente und ihr auch sonst schöne Worte gemacht und stellte ihr jetzt mit Bedacht eine Reihe von verfänglichen Fragen: »Hast du nie daran gedacht zu reisen, Tante Phoebe? Jetzt, wo es dir freisteht, zu gehen, wohin du willst?« »Ich wüß’ nich’, wo ich besonners erwartet würd’«, sagte sie gutmütig und spülte dabei weiter das Geschirr. »Außerdem habb ich hier Verpflichtung’n.« »Nun, deine Verpflichtungen Mrs. Furfew gegenüber halten sich doch wohl in Grenzen, oder? Ich habe gesehen, wie sie ihre Mädchen behandelt.« »Jed’nfalls gibt sie ihn’ was zu ess’n.« »Du bist es, die ihr was zu essen gibt, Tante Phoebe. Es gibt Menschen, die wüßten deine Dienste besser zu schätzen und würden dich besser behandeln, Menschen, die dir die Achtung entgegenbringen würden, die dir gebührt. Und dich was -290-
Besseres sein ließen als bloß Hausmädchen.« »Un’ das wär’?« »Du könntest eine Circusartistin sein. Ein Kassenmagnet.« Sie kicherte, daß ihre ganze Fettleibigkeit wogte. »Hihi, ich un’ ’n Trikot anhab’n, Mas’ Florian, un’ rumhüpf’n? Ich bin mal in’n Circus gewes’n un’ hab’ all die hübsch’n Ladies bewunnert. Aber alles was gut is’ – ich bin eb’nso schwaaz wie fett.« »Das ist ja gerade der Grund, warum ich dich gern hätte. Ich biete dir eine würdige Stellung. Keine komischen Kleider und kein Rumgehüpfe. Du würdest bloß auf einem Podest sitzen und dich bewundern lassen. Die Dicke Dame in FLORIANS FLORILEGIUM. Sogar mit einem Titel würde ich dich adeln – Madame Alp!« »Kein Mensch wird je ’ne Niggerin Ma’am nenn’n. Un’ überhaupt – ich bin auch nich’ viel dicker als de öle Mistis.« »Dafür aber wesentlich beeindruckender. Daß du so prachtvoll tiefschwarz bist, erhöht das Eindrucksvolle doch nur! Du würdest anständig bezahlt werden ...« »Bezahlt? Sie mein’, richtig Geld auf die Hand?« »Aber natürlich doch. Im Moment mag das nicht besonders viel sein, bis wir in den Norden kommen, wo das richtige Geld ist. Aber jawohl doch, du würdest bezahlt werden, und fast jeden Tag was Neues zu sehen bekommen, und alle Rechte und Privilegien einer Freigelassenen genießen.« »Mein Gott, mein Gott ...« »Und deine anderen Talente würden wir keineswegs vernachlässigen. Du könntest für uns genauso kochen, wie du es hier tust. Und ich garantiere dir, daß man das bei uns besser zu schätzen weiß als hier. So würdest du zum Beispiel zusammen mit uns essen und nicht irgendwo am Dienstbotentisch. Beim Circus sind wir alle eine Familie. Da brauchst du bloß unseren geachteten -291-
schwarzen Kollegen, Hannibal Tyree, zu fragen.« »Naja ... wir beid’n ha’m schon mit’nanner gered’«, gab Phoebe zu, »als ich ihm ’n Teller vom Ess’n gegeb’n hab’. Der spuckt wirklich große Töne für’n Nigger.« »Nun, siehst du? Was brauch’ ich noch zu sagen?« »Aber ... was is’ mit mein’ Kinnern?« »Eh?« »Mein’ klein’ Negerlein: Sunday, Monday, Tuesday un’ Quincy?« »Quincy? Haben Sie sich nicht verhört – hat sie nicht Wednesday gesagt?« erkundigte Edge sich, als Florian ganz aufgeregt mit der Neuigkeit zu ihm kam. »Der Junge ist ein anderer Wurf. Er ist erst acht. Aber die Mädchen ...« »Mr. Florian«, sagte Edge nachsichtig. »Ich habe mir diese Tante Phoebe genau angesehen. Sie haben bereits den größten Circuszwerg der Welt. Und jetzt wollen Sie sich auch noch mit der dünnsten Dicksten Dame der Welt schmücken? Na, unten in Rockbridge County ist jede dritte Frau dicker und schwabbeliger als Phoebe Simms – jedenfalls, wenn sie sich erst mal einen Mann geangelt hat.« Florian wedelte auf die elegante Weise von Mr. Furfew mit der Hand und tat dies Argument als unwichtig ab. »Maggie Hag kann sie ausstopfen, daß sie dick ist wie ein Nilpferd. In Europa hat man vermutlich noch nie eine schwarze ›Dickste Frau der Welt‹ gesehen. Aber vor allem, Zachary, überlegen Sie doch mal! Die drei Mädchen sind erst dreizehn Jahre alt – Drillinge, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen! Und hübsch sind sie auch noch! Sie haben doch die eine gesehen, die bei Tisch bedient hat. Ich hatte ja keine Ahnung, was für einen phantastischen Coup ich da gelandet habe! Wir kriegen nicht nur eine ›Dickste Frau der Welt‹, sondern auch noch drei fabelhaft -292-
aussehende milchkaffeebraune Drillinge! Mit so was kann kein anderer Circus aufwarten! Der Junge Quincy ist schwärzer noch als Abdullah, aber einen zweiten Hindu können wir immer gebrauchen.« »Merkwürdig! Wie kommt die Frau dazu, drei milchkaffeehelle Töchter zu bekommen und dann einen Jungen, tiefschwarz mit blauem Gaumen?« »Ich war nicht so rüde, sie direkt danach zu fragen. Aber früher hat sie einem anderen Herrn gehört, und vielleicht war sie damals auch schlanker und reizvoller. Er jedenfalls muß ein stattliches Mannsbild gewesen sein – jedenfalls dem Resultat nach zu urteilen. Wahrscheinlich hätte kein Mensch ein Wort darüber verloren und es wäre überhaupt nicht weiter aufgefallen, wenn Phoebe eine Halbbluttochter bekommen hätte. Aber Drillinge – was meinen Sie, wie die Nachbarschaft sich das Maul zerrissen hätte! Folglich hat er sie Hals über Kopf verkauft. Der kleine Quincy stammt erst aus der Zeit hier in Oakhaven. Ich vermute, daß Stallmeister Cadmus der Vater ist.« »Nun«, sagte Edge, »ich kann Sie ja nicht des Sklavendiebstahls beschuldigen. Die Schwarzen sind jetzt alle frei. Aber meinen Sie nicht, daß Sie den Furfews ihre Gastfreundschaft übel vergelten?« »Selbstverständlich habe ich, was Mr. Furfew betrifft, ein schlechtes Gewissen. Phoebes Kochkünste müssen der einzige Lichtblick in seinem Leben sein. Aber der Herrin was wegzunehmen, meine ich, rechtfertigt alles.« »Dem kann ich nicht widersprechen«, sagte Edge. »Sogar ein Zigeunerleben wäre besser für solche kleinen Negerlein als hier großzuwerden. Und wie wollen Sie das anstellen?« »Den Simmses gehört ja nicht mehr als das, was sie auf dem Leibe tragen; deshalb werden sie sich nicht mit Gepäck belasten. Sie brauchen gleich morgen nach dem Frühstück – nichts weiter zu tun, als sich wegzuschleichen, am äußersten Ende des -293-
Besitzes über den Zaun zu springen und auf uns zu warten. Dort lassen wir sie aufsteigen. Und wo wir doch jetzt den Ballonwagen haben, haben wir auch gleich ein Gefährt für sie – sogar schlafen können sie darin. Wir brauchen zum Schutz bloß eine Zeltbahn drüberzuwerfen. Ich hoffe nur, daß wir schon ein ziemlich weites Stück fort von hier sind, ehe sie vermißt und wir verfolgt werden.« »Das dürfte kein Problem sein«, sagte Edge. »Rund zehn Kilometer weiter überschreiten wir die Grenze nach West Virginia. Selbst wenn die Furfews einen rechtlichen Anspruch auf die Simmses hätten – kein Anwalt aus Virginia könnte ihn dort durchsetzen.« »Ah, gut, gut,« frohlockte Florian und rieb sich die Hände. »Selten hat die Dame Fortuna ihren Segen so reich über uns ausgeschüttet. Mit all diesen Negerlein können wir unsere eigene Truppe Äthiopischer Minstrel-Sänger aufstellen – nein, nein, so nennt jeder hergelaufene Circus sie.« Er überlegte kurz und sagte dann: »Ich hab’s! Die Heiteren Hottentotten! Wie finden Sie das, Zachary?« Edge seufzte nur auf und sagte: »Mich überrascht überhaupt nichts mehr.« Das jedoch sollte sich am nächsten Morgen nach dem Frühstück ändern. Die Circusleute bedankten sich nach allen Seiten und wollten bereits losfahren, als Mrs. Furfew Edge beiseite nahm und sagte: »Colonel, da Sie ja wohl der ranghöchste konföderierte Offizier unter dies’n Leuten sind, möcht’ ich Ihn’ was zeig’n. Un’ Ihr’m Musjöh Florian auch. Am besten nehm’ Sie so was wie ’ne Brechstange mit, was Festes jed’nfalls.« Neugierig gemacht, ging Edge und holte Florian und Yount dazu. Nachdem Mrs. Furfew sich vergewissert hatte, daß niemand ihnen folgte, führte sie die drei Männer um Haus und Wirtschaftsgebäude nach hinten über ein brachliegendes Feld, wo sie über alte Maisstoppeln dahinstolperten. Schließlich -294-
gelangten sie an ein kleines Gehölz, das man nicht abgeholzt hatte, weil es einen sonst unansehnlichen Unrathaufen verbarg: große Feldsteine, Baumstubben, abgestorbene Äste und anderen Unrat, der bei der Urbarmachung übriggeblieben war. »Musjöh«, sagte Mrs. Furfew, »Sie ha’m gesagt, Sie wollt’n Konföderiertengeld gegen Yankeedollar eintausch’n. Räum’ Sie mal die Stubb’n un’ die Sach’n weg und sehn Sie mal, was Sie da hinten find’n wer’n.« Immer noch neugierig, taten sie wie geheißen und legten nach einiger Mühe den hinteren Teil eines blaugestrichenen, metallbeschlagenen Wagens ungewöhnlicher Bauart frei. Edge trat verblüfft ein paar Schritt zurück und rief aus: »Das ist ja ein Autenrieth-Wagen! Drinnen mit lauter Fächern und Regalen ausgestattet. Hauptsächlich haben die Yankees so was als Ambulanzwagen benutzt. Aber schauen Sie, Obie – die Beschriftung auf diesem hier: P.D. Das steht in diesem Falle nicht für Medical Department, verdammt noch mal, sondern für Pay Department – Zahlmeisterei. Ma’am, ich weiß nicht, wie dies Ding hierher gekommen ist, jedenfalls handelt es sich um den Wagen des Zahlmeisters irgendeiner Truppe.« »Ganz recht«, sagte sie. »Könn’ Sie das Ding aufbrech’n?« »Sie haben gewußt, daß er hier steht? Und wußten, um was es sich handelt?« sagte Edge, als Yount mit seiner Brechstange an einer der Türen mit Vorhängeschloß davor herumfuhrwerkte. »’türlich hab’ ich das gewußt. Ich hab’ ihn ja von Cadmus un’ ein paar vonnen anner’n Boys hier versteck’n lass’n. Aber bitte, daß Sie ja Mr. Furfew kein Wort davon verrat’n! Un’ jetzt, Musjöh, zu Ihr’m Konföderiert’ngeld...« »Aber wo haben Sie ihn her?« Edge war völlig durcheinander und ließ sich nicht so leicht von seiner Frage abbringen. »Von Little Phil Sheridan. Jedenfalls von irgend’ner Abteilung, die auf’m Marsch nach Osten im Februar hier durchgekomm’ is’. Der Eisenreif’n vom Rad is’ gesprung’n, un’ -295-
da is’ der Rest der Truppe weitergezog’n, bis er repariert sein sollte. Die Yankees ha’m von mir verlangt, daß ich ihn’ ‘n Dinner vorsetz’, während Cadmus dran arbeitete. Es war’n ein Fahrer, ein Lieutenant un’ zwei bebrillte Schreiber. Wahrscheinlich hält Sheridan immer noch Ausschau nach dem Ding, oder hat die Leute als Deserteure aufschreib’n lass’n; bloß lieg’n die hier unter dem Unrat – wenn Sie sie seh’n woll’n.« »Wie bitte?« riefen Edge und Florian wie aus einem Munde. Yount sah sich mit weit aufgerissenen Augen um, versuchte jedoch weiterhin, das Vorhängeschloß abzusprengen. »Phoebe hat ihn’ was zu ess’n gekocht, un’ ich hab’s selbst vonner Küche hergetrag’n. Aber dabei bin ich am Gewächshaus vorbeigekomm’ un’ hab Pariser Grün druntergemischt.« »Madame, das ist Arsenik!« sagte Florian entsetzt. »Naja, man vernichtet Gart’nungeziefer damit, un’ da habbich gedacht, vielleicht bringt’s auch Yankee-Blauröcke um. Un’ das hat’s auch getan. Nach’m Essen war’n sie inner Schmiede, um Cadmus bei der Arbeit zuzuseh’n, un’ da ha’m sie sich gekrümmt un’ angefang’ zu schrei’n. Mr. Furfew glaubt, sie sin’ hinner’n anner’n her un’ ha’m die eingeholt. Mir wär’s schon lieber, er bleibt bei dem Glauben.« »Ah ... um ... jawohl«, sagte Florian mit merkwürdig erstickter Stimme. Ein lauter Krach, und Öse wie Riegel des Türverschlusses wurden durch Younts Brecheisen abgesprengt. Dann quietschte es rostig, und die Metalltür ging auf. »Aber warum, Madame Furfew, enthüllten sie uns dieses Geheimnisses?« »Weil Sie Konföderiertengeld ha’m. Ich werd’s Ihn’ abkauf’n.« »Bei Gott dem Allmächtigen – sie kann’s!« rief Yount. Er stand im Wageninneren auf dem schmalen Gang zwischen den Reihen von Borten und Schubladen. »Da muß ja wohl der Monatssold für eine ganze Division drin liegen! Und alles in -296-
Nordstaaten-Greenbacks!« »Ich gratuliere Ihnen, Madame«, sagte Florian. »Damit sollten Sie weit kommen, wenn es gilt, Oakhaven für allen angerichteten Schaden zu ent...« »Möge der Herrgott mich tot umfall’n lass’n, wenn ich auch nur ein’ Penny anrühr’!« erklärte sie mit Entschiedenheit. »Die Lad’nbesitzer hier inner Gegend wiss’n, daß ich mit nix anner’m bezahl’ als mit Südstaatengeld. Deshalb will ich ja Ihrs!« »Da bin ich Ihnen mit Freuden zu Diensten, Madame. Hatten Sie an die offizielle Tauschrate gedacht oder an die heute übliche?« »Ich werd’ Ihn’ Dollars für Dollars geb’n, im Verhältnis eins zu eins.« Als Florian seine Stimme wiederfand, entfuhr ihm ein Dankgebet in einer seiner Muttersprachen – etwas, das Edge und Yount noch nie zuvor bei ihm erlebt hatten: »Ich mache mir Flecken ins Hemd ... Rrrr, ich meine, unser Schatzmeister verfügt über einen ganzen Haufen Konföderiertendollar. Jedenfalls weit über neuntausend. Bekäme ich sie irgendwo sonst gegen Unionsdollar eingetauscht, wären sie kaum mehr wert als neunzig ...« Mrs. Furfew lief wieder auberginenviolett an, so daß Florian in seinen Beteuerungen innehielt und sagte: »Verzeihen Sie, Madame. Wenn Sie gestatten, daß ich mich kurz mit meinen Kollegen berate ...« Florian, Edge und Yount gingen ein Stück beiseite, und Florian vertraute ihnen halblaut an, um was es ging: »Diese Person gehört eingesperrt! Ich habe ja schon so manches niederträchtige Ding gedreht, aber jetzt zögere ich, eine unter Gottes besonderem Schutz stehende nachweislich Verrückte übers Ohr zu hauen!« Edge murmelte: »Neuntausend harte Dollar, damit kämen wir ohne weiteres nach Europa und könnten vermutlich sogar noch ein paar ausstehende Gagen auszahlen.« -297-
»Richtig, richtig ... aber unrecht Gut gedeiht nicht gut! Und jetzt auch noch Blutgeld?« »Hören Sie, Mr. Florian«, knurrte Yount. »Ich bin ja selten aufsässig, aber jetzt muß ich mal was sagen. Was mich betrifft, so habe ich nicht die geringsten Skrupel, diesem Ungeheuer hier das Fell über die Ohren zu ziehen. Laufen Sie und holen Sie das wertlose Papiergeld, das wir da haben, und ich fange schon mal an, die Greenbacks in den Fächern da drin zu zählen. Und wenn es Sie beruhigt, übernehme ich Übergabe und Entgegennahme des Geldes, sobald Sie wieder hier sind.« Genauso wurde es gemacht. Auf Mrs. Furfews Geheiß bedeckten die drei Männer den Zahlmeisterwagen wieder mit dem alten Unrat. Als sie zum Herrenhaus zurückkehrten, beulten sich die Taschen von Florians Gehrock – hatte er doch genau neuntausendzweihundertundvierundzwanzig Dollar in echtem, kaufkräftigem US-Geld darin. Keiner der drei brachte es fertig, Mr. Paxton Furfew gerade in die Augen zu sehen, als sie ihm zum Abschied die Hand schüttelten. Die Kolonne der Circuswagen fuhr in gemessener Gangart die Auffahrt hinunter und die Straße entlang bis an die Grenze der Oakhaven-Plantage. Phoebe Simms und ihre vier kleinen Simmses warteten bereits wie verabredet auf sie. Die Karawane blieb stehen, und Mullenax half den Negern, auf den zeltbahnbedeckten Ballonwagen hinaufzuklettern. Dann rief Florian: »Und jetzt laßt uns machen, daß wir weiterkommen!« Er knallte mit den Zügeln und trieb Snowball zu einem leichten Galopp an, und die ihm folgenden Zugtiere strampelten sich ab, um nicht hinter der Kutsche zurückzufallen. »Noch nie«, sagte Florian zu dem neben ihm sitzenden Edge, »noch nie habe ich an einem einzigen Vormittag soviele Schändlichkeiten verübt. Haha! Und noch nie bin ich mit meiner ganzen Verderbt- und Sündhaftigkeit so durch und durch glücklich gewesen!« -298-
»Mir geht es nicht anders. Das mit dem Geld ist eine feine Sache, und jetzt, wo ich die Simmses habe an Bord gehen sehen, glaube ich, auch sie anzuheuern, hat sich gelohnt. Der Junge ist ja nicht mehr als ein kleiner Tintenklecks und seine Mammy auch keine sensationelle Mißgeburt aber die drei kaffeesahnefarbenen Mädchen sehen sich in der Tat ähnlich wie Erbsen in einer Schote.« »Warten Sie, bis Sie sie in paillettenbesetztem Trikot sehen, Zachary sogar glitzernde Trikots können wir uns jetzt leisten. Nicht zu sagen, wie bezaubernd die aussehen werden! Ich kann nur hoffen, daß wir ungeschoren davonkommen.« »Wenn Oakhaven erst vorige Woche von marodierenden Yankees heimgesucht wurde, bedeutet das, daß hier im Grenzgebiet Recht und Ordnung immer noch auf sich warten lassen.« »Ach, vor irgendwelchen Hütern des Gesetzes habe ich jetzt keine Angst mehr. Wobei sich mir vor Entsetzen die Haare sträuben, ist die Vorstellung, daß diese Frau uns verfolgen könnte.« Doch das blieb ihnen erspart.
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11 In Charles Town durften sie ihr Zelt auf dem alten Rennplatz aufschlagen. Florian schickte die Männer sofort an die Arbeit, so daß das Chapiteau noch im Abenddämmer stand und sie in der Dunkelheit bereits den Erdwall der Manegenpiste aufschütten konnten. Als die Truppe sich endlich um das Lagerfeuer herum niederließ, bekam sie aber auch ein gutes Essen vorgesetzt, denn Phoebe Simms hatte die Kocherei übernommen und wirkte mit den wenigen Vorräten des Circus’ genauso Wunder, wie sie es zuvor bei den Furfews getan hatte. Nach dem Essen zündeten die Männer und Magpie Maggie Hag sich ihre Pfeifen an, und Abner Mullenax ließ eine seiner anscheinend nie leer werdenden Flaschen herumgehen. Florian sagte: »Rückt mal alle näher heran. Ich muß etwas bekanntgeben. Heute ist Zahltag!« woraufhin alle in Hochrufe ausbrachen. Florian fand auf dem Boden eine alte Schieferplatte und stellte mit seinem Zimmermannsbleistift umfängliche Berechnungen darauf an. Sodann zählte er von dem Stapel Banknoten, den er von Mrs. Furfew erhalten hatte, eine entsprechende Anzahl Greenbacks ab. Diejenigen Artisten, die erst vor kurzem dazugestoßen waren, bekamen alles ausbezahlt, was ihnen zustand, was jedoch verständlicherweise nicht viel war. Edge und Yount zum Beispiel schuldete das Unternehmen ja nur die Gage für rund drei Wochen, und entsprechend erhielten sie auch nur jeder zweiundzwanzig Dollar. Die Mitglieder der ursprünglichen Truppe – alle, die bereits lange vor Wilmington dabei gewesen waren – erhielten eine beträchtlich höhere Pauschale, aber auch beträchtlich weniger, als ihnen eigentlich zugestanden hätte: »Wenn aber unser Glück anhält – und genügend Zuschauer kommen –, müßte es eigentlich möglich sein, das Defizit von Mal zu Mal mehr zu verringern. Ihr wißt ja, meine alten Freunde, daß der größte Teil unseres Schatzes beiseitegelegt -300-
werden muß, damit wir die Überfahrt bezahlen können.« Dafür war aber jeder von ihnen in eindeutig harter Währung bezahlt worden, und so beklagte sich keiner. Sarah Coverley erklärte sogar, sie habe vor, zur Feier des Tages in die Innenstadt zu gehen und für sich und Clover Lee irgendeine Kleinigkeit zu kaufen, die der reine Luxus wäre. »Halten Sie sich bitte zurück, meine liebe Madame Solitaire«, mahnte Florian. »Es könnte ja auch sein, daß unsere Glückssträhne nicht anhält. Deshalb lege ich euch allen nahe, zumindest einen Teil der Gage in den guten alten MicheleBeutel zu stecken.« Sarah zuckte mit den Achseln und setzte sich wieder hin. Florian fuhr fort: »Da unser FLORILEGIUM sich sozusagen dem Zustand, nähert, wo wir flüssig sind und wir immer mehr geworden sind, müssen wir mal überlegen, wie wir alle am nutzbringendsten zusammenarbeiten. Falls jemand irgendwelche Vorschläge hat, würde ich die gern hören. Ich meinerseits habe einige zu machen, und es würde mich interessieren, wie ihr darüber denkt.« Er sah sich in der Runde um. »Irgendwelche Kommentare?« »Zunächst möchte ich mal wissen, was ein Michele-Beutel ist«, sagte Mullenax. Grinsend sagte Sarah: »Das ist das, was deine Frau um den Hals tragen würde, wenn du noch eine hättest, Abner.« »Eh?« »Jedenfalls ist ein Michele-Beutel alles, was ich hatte, als der meinige mich sitzen ließ. Wenn zu einer Truppe auch Frauen gehören – besonders solche, deren Männer viel trinken –, dann werden sie soviel Geld auf die hohe Kante legen, wie sie können. Manche Frauen kaufen ab und zu einen winzigen Diamanten, den sie in einem Beutel aus weichem Sämischleder um den Hals tragen, den Michele-Beutel. Diamanten lassen sich leicht tragen und überall zu Geld machen. Deshalb hat eine Frau immer einen Notgroschen, wenn sie ihn braucht.« -301-
Mullenax murmelte irgend etwas von ›ewig besserwisserischen Weibern‹, erklärte, soviel trinke er ja gar nicht, und nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Na schön. Also zu meinen Vorschlägen«, sagte Florian. »Erst mal zu dir, Madame Alp.« Es dauerte eine Zeitlang, ehe Phoebe Simms begriff, daß sie gemeint war. Sie sagte: »Oh ... yassuh!« und brach in ein entzücktes Lachen aus. »Das dauert, eh’ man sich dran gewöhnt, nich’ mehr Tante oder Mammy genannt zu wer’n.« »Nun, unter uns werden wir dich anreden, wie du es am liebsten hast.« »Spielt kein’ Rolle nich’«, sagte sie und lachte nochmals auf, diesmal allerdings eher trübsinnig. »Man hat mich Darling und Honey genannt, un’ man hat mich Niggerschlampe genannt. Dabei bin ich immer dieselbe gewes’n, un’ ich weiß, wer ich bin.« »Ich wünschte bei Gott, mehr wüßten das! Aber wie auch immer – bei deinem ersten Auftreten in der Öffentlichkeit wirst du Madame Alp sein. Aber zunächst einmal möchte ich, daß du morgen früh als erstes dies Geld hier nimmst und auf den Markt gehst. Kaufe Vorräte für uns, so daß wir für die nächste Zeit Grundnahrungsmittel genug haben. Und kaufe auch frisches Pferdefleisch für die Raubkatze. Und alles an Töpfen, Pfannen und Besteck, von dem du meinst, daß wir es brauchen. Und kaufe reichlich von allem, denn wenn du erst einmal unsere Madame Alp und damit eine Berühmtheit bist, kannst du nicht mehr ungehindert rumlaufen und zulassen, daß jeder Bauernlümmel dich gratis anglotzt.« »Yassuh, ich geh’ auf’n Markt.« Jetzt wandte Florian sich Magpie Maggie Hag zu: »Madame Garderobiere, ich möchte, daß du sofort anfängst, ein riesiges Kleid für Madame Alp auszustopfen. Sorge dafür, daß sie sobald als möglich anfangen kann, sich zur Schau zu stellen. Und denk -302-
dir auch ein Kostüm für die Drillinge aus. Ich weiß, ich lade dir damit viel Arbeit auf, Mag, aber die drei haben jedenfalls zumindest dieselben Maße. Und hier ist Einkaufsgeld auch für dich! Gehe hin und kaufe jedes auffällig grellfarbige Stück Tuch und alle Posamenten, die in Charles Town aufzutreiben sind. Wir haben uns allzu lange mit Fetzen und Lumpen abfinden müssen.« Die alte Zigeunerin murmelte etwas, das sich dankbar anhörte. »Und jetzt zum nächsten: Colonel Ramrod. Sehen Sie sich bitte mal die neuen Pferde an, die wir gekauft haben, ja? Und stellen Sie fest, ob sie im Geschirr gehen.« »Das steht zu erwarten«, sagte Edge. »Ihre bisherigen Besitzer haben sie doch für alles mögliche benutzt. Aber ich werde das genau feststellen.« »Und dann brauchen wir Extrageschirr, um sie laufen zu lassen, Captain Hotspur.« »Ja, Baas, ich geh’ und kaufe alles, was wir brauchen.« »Ich habe aber noch etwas anderes, was Sie gleichzeitig erledigen können, Captain. Da Sie ja auch der Zeltmeister sind, möchte ich, daß Sie auch für ausreichende Beleuchtung im Chapiteau sorgen. Hier haben Sie reichlich Geld. Kaufen Sie, was Sie dazu brauchen.« »Herr Jesus Christus!« rief Roozeboom aus. »Meinen Sie das wirklich, Baas? Wir geben jetzt also auch Abendvorstellungen? Ich kann alles kaufen – Kandelaber und alles?« »Alles. Sie bestimmen, was wir brauchen, und das bekommen Sie auch. Morgen, meine Damen und Herren, werden wir zum erstenmal in dieser Saison zwei Vorstellungen geben – eine Nachmittags- und eine Abendvorstellung. Mam’selle Clover Lee, hier hast du meinen Bleistift, und hier ist ein Stapel Plakate. Schreibe auf jedem einzelnen Plakat dazu – ›Abendvorstellung 8 Uhr‹. Und Tiny Tim, du mußt morgen früh -303-
mit den Hühnern raus und Plakate kleben. Abdullah und Brutus, ihr reitet die Stadt ab wie üblich, aber schreit den Leuten in die Ohren, daß es zwei Vorstellungen gibt: eine am Nachmittag und eine nach Einbruch der Dunkelheit.« »Yassuh, Mas’ Florian.« »Abdullah, Abdullah, für dich bin ich immer noch Sahib Florian. Und für deinen Hindulehrjungen auch. Mach das dem kleinen Quincy ein für allemal klar. Nein, Quincy, das klingt nicht besonders überzeugend nach Hindu. Wie wär’s mit Ali Baba? Quincy heißt von heute an beruflich Ali Baba.« Roozeboom sagte: »Baas, jetzt, wo wir Mevrouw Alp en dem klonkies haben, können sie bei Regen nicht mehr auf dem offenen Wagen fahren. Wir brauchen einen weiteren geschlossenen Wagen, eine richtige Maringotte.« »Hm, ja, da haben Sie wohl recht. Also, besorgen Sie eine. Sie soll so robust und billig wie möglich sein. Gottlob haben wir jedenfalls genügend Zugpferde für all unsere neuen Wagen. Eines der neuen Pferde kann auch die Kanone ziehen, damit Brutus entlastet wird.« »Ja, Baas.« »Jeder bei uns hat zwei oder gar drei Aufgaben zu erfüllen, das sollte bei den neuen Pferden auch nicht anders sein. Colonel Ramrod, meinen Sie, Sie könnten ihnen ein paar Tricks für die Manege beibringen? Da wir jetzt mehr Pferde als Reiter haben, sollten Sie jetzt vielleicht an eine Freiheit denken.« »Schon möglich, wenn Sie mir sagen, was eine Freiheit ist?« »So nennt man eine Nummer von Pferden ohne Reiter, nur mit dekorativen Puscheln – also buntem Federschmuck auf dem Kopf. Sie können sie dazu abrichten, daß sie vielfältige Figuren in den verschiedenen Gangarten zeigen, und zwar auf Zurufe hin. Oder noch besser, durch unauffällige Handzeichen oder auf Knallen mit der Chambriere hin, so daß es so aussieht, als täten sie alles völlig von selbst.« -304-
»Ich kann’s ja mal versuchen.« »Gut. Tun Sie das. Und machen Sie das gut, Colonel Ramrod, werden Sie befördert und übernehmen einen der Posten, die ich jetzt innehabe den des Sprechstallmeisters – oder das, was die Laien einen Nummernansager nennen.« »Ach, du meine Güte«, sagte Edge. »Ich bin aber längst nicht so gut im Dauerquasseln wie Sie.« »Ach, das Reden übernehme weiterhin ich. Dafür arbeiten Sie mit und Peitsche oder Chambriere. Lassen Sie die Nummern alle ordnungsgemäß beginnen und zu Ende gehen – Ihre eigene Inbegriffen und in einer bestimmten Reihenfolge ablaufen. Und denken Sie sich etwas aus, irgendwelche Patzer oder Nummern, die nicht klappen, zu kaschieren. Das müssen Sie einfach überspielen. Entscheiden Sie, ob eine Nummer abgebrochen wird oder länger laufen soll als normal. Solche Sachen. Das lernen Sie schon mit der Zeit. Und sobald wir es uns leisten können, wird die lächerlich kleine Gage, die Sie im Moment beziehen, verdoppelt.« Rouleau fragte: »Florian, mon vieux, denken Sie daran abzudanken? Haben Sie vor, Ihren Michele-Beutel zu nehmen und abzuhauen?« »Au contraire. Wir haben uns stark vergrößert und sind jetzt fast ein richtiger Circus. Jedenfalls nicht mehr nur eine armselige kleine Klitsche. Und da muß der Prinzipal eben einige seiner Verantwortlichkeiten delegieren. Was mich zu Ihnen bringt, Sir John.« Einen Moment waren alle verblüfft, sahen sich gegenseitig fragend an und schwiegen. Dann ging ein Ruck durch Fitzfarris, und er sagte: »Ach, ja. Das bin ich. Himmel, ist ’ne lange Zeit her, daß man mich was anderes genannt hat als Tante, Mammy oder Honey darling ...« »Sir John, Sie haben wirklich eine angeborene Suada. Deshalb möchte ich, daß Sie die Oberaufsicht über unsere -305-
Sideshow übernehmen. Das ganze sollte zu einer eigenständigen Ergänzung unseres Hauptprogramms ausgebaut werden. Vorläufig werde ich noch Sie ansagen und Ihre tragische Geschichte erzählen, damit Sie keine Hochstapelei in bezug auf die eigene Person betreiben müssen. Aber dann trete ich beiseite, und Sie machen die Ansage. Erklären Sie die Löwenfütterung, ergehen Sie sich lang und breit über das Museum Zoologischer Wunder, berichten Sie, wie der Krokodilsmensch eingefangen wurde, und stellen Sie Madame Alp nebst ihren – ja, wie wollen wir sie nennen? – nebst ihren Drei Grazien vor?« »Nein, nein«, sagte Fitzfarris. »Wenn ich wirklich für die Sideshow verantwortlich sein soll, möchte ich richtige Kuriositäten zeigen. Wie wär’s mit den ›Drei Weißen Afrikanischen Pygmäen‹? Hättest du was dagegen, Madame Alp?« »Sie sin’ja immer noch Sunday, Monday un’ Tuesday für mich, un’ für sie bin ich immer noch ihre Mammy. Sin’ aber gute Mädchen; sie wer’n tun, was Sie von ihn’ verlang’n.« »Schön«, sagte Fitz. »Und noch etwas möchte ich vorschlagen, Florian. Sie haben davon gesprochen, daß Außenstehende sich Madame Alp nicht gratis und franko ansehen dürfen. Aber den Löwen kriegen unterwegs doch alle zu sehen, ohne was dafür zu bezahlen.« Florian sagte: »Nun, so ein Löwe, der ist Circus. Der zieht die Menschen an.« »Dafür haben wir doch schon den Elefanten. Ich bin dafür, daß wir den Löwen unterwegs durch geschlossene Seitenwände vor den Blicken der Neugierigen abschirmen.« »Aber ein Käfigwagen, von dem man nur leere Wände sieht, zieht Menschen nicht besonders an, Sir John.« »Das ließe sich ändern. Der Käfigwagen hat doch jetzt nur eine ganz gewöhnliche Handbremse. Ignatz, könntest du die -306-
nicht abmontieren und statt dessen eine riesengroße Bremse einbauen, fast so dick wie einen Baumstamm?« »Ja. Aber wozu?« »Die Leute sehen diesen geschlossenen Käfigwagen über die Straße rollen. Und dann sehen sie diese überdimensionale Bremse neben dem Fahrersitz – und fragen sich natürlich, was in Gottes Namen so groß und so stark ist oder so Gefährliches in der Kiste hockt, daß man eine solche Schutzvorrichtung braucht. Das, meine ich, weckt die Neugier.« Alle ums Feuer herum starrten ihn an, und schließlich sagte Rouleau leise: »Par dieu, der Mann hat wirklich Circusblut in den Adern.« Voller Bewunderung sagte Florian: »Ich wünschte ehrlich, Sir John, ich könnte Sie als unseren Quartiermacher samt Klebekolonne vorausschicken. Mein Gott, Sie könnten es schaffen, daß man schon vor unserer Ankunft über uns redet oder in der Zeitung schreibt, wie über den CIRCUS BARNUM. Ich jedoch laß’ die Leute unseren Tätowierten Mann anstaunen, ohne daß sie dafür bezahlen!« Er wandte sich an die anderen. »Ja, Leute, das was mich im Augenblick am meisten beschäftigt, ist, daß wir dafür sorgen sollten, mehr Musik für das ganze Programm zu haben. Besitzt irgend jemand in der Beziehung besonderes Talent? Kann jemand ein Instrument spielen?« Phoebe sagte: »Sunday kann’ bißchen aufm Klavier klimpern. Das hat die öle Mistis ihr beigebracht.« »Nein, so was!« sagte Florian. »Hat der alte Drachen wirklich mal was Gutes getan?« Er sah sich die drei zerlumpten SimmsMädchen an, die wie auf der Stange nebeneinander gesessen und nur gleichzeitig mit den Augen gerollt und sie dorthin gerichtet hatten, wo gerade jemand sprach. »Welche von euch ist Sunday?« »Das bin ich, Suh«, sagte eine von ihnen, die sich sonst in nichts von den anderen unterschied. Alle drei waren gleich -307-
gekleidet: in formlose, an den Säumen ausfransende Kleidchen aus ungefärbtem, handgewebtem Kattun, unter denen sie offenbar weiter nichts anhatten – Schuhe trug ohnehin keine von ihnen. »Sunday, meine Liebe – weißt du noch, was du gespielt hast?« »Yassuh. Klavier.« »Ich meine, die Titel – wie die Stücke hießen, die die Frau dir beigebracht hat.« Verständnislos sah Sunday ihn an. »Ich hab’ Musik gespielt, Suh. Musik is’ kein Stück, kann also kein’ Nam’ ha’m.« »Kannst du uns denn vielleicht eines von den Sachen vorsummen, die du gespielt hast?« Wie ein verängstigtes Füllen rollte Sunday mit den Augen, doch dann begann sie schüchtern zu summen, wurde allmählich lauter, bis alle es hören konnten. Florian sagte: »Ah, ›Vous diraije, mamam‹. Das ist es.« Yount sagte: »Für meine Begriffe hörte es sich nach ›Twinkle, Twinkle, Little Star‹ an.« »Das ist dasselbe Lied«, sagte Florian. »Vielleicht keine große Musik, dafür aber international. Monsieur Roulette, vielleicht läßt sich dies Lied und damit Sunday irgendwo einarbeiten. Wer Klavier spielen kann, kann doch bestimmt auch Akkordeon spielen, n’estce pas?« Roulette kratzte sich am Kopf. »Das nehme ich eigentlich an. Sie muß nur das Quetschen lernen. Ich werde sehen, ob ich in irgend’nem Leihhaus eins auftreibe. Dann können Sunday und ich beide drauf spielen. Gleichzeitig will ich versuchen, ihr ihre grauenhafte Aussprache abzugewöhnen.« Florian sagte: »Ich möchte aber, daß die drei noch was anderes für uns sind als bloße Abnormitäten in einer Sideshow. Madame Solitaire, mache du einen ersten Versuch mit den -308-
Mädchen. Stelle fest, ob sie für die Reiterei begabt sind. Wir werden einen Versuch mit ihnen machen und herausfinden, wo ihre besonderen Talente liegen. Monsieur Roulette, sehen Sie sich den kleinen Jungen hier an – Ali Baba. Ist acht Jahre nicht genau das richtige Alter, um einen Klischnigger aus ihm zu machen?« »Einen Kautschukmenschen? Oui. Bei noch jüngeren brechen die Knochen zu leicht. Und wesentlich später sind die Sehnen und Bänder nicht mehr elastisch genug.« »Würden Sie es übernehmen, Ali Baba in die Kontorsionistik einzuführen?« »Ich kann’s versuchen. Ihn so geschmeidig machen, daß er zum Schlangenmenschen wird.« »Ui!« rief der kleine Quincy leise, doch niemand ging darauf ein. Roozeboom war am nächsten Morgen der erste, der aus der Stadt zurückkam – und zwar mit einem neuen Wagen, den er gekauft hatte, einem geschlossenen Wagen, ähnlich dem Zeltwagen, und auch ähnlich heruntergekommen – und forderte Mullenax auf, ihm beim Ausladen des Inhalts zu helfen. Da waren Fackelstangen, die an einem Ende mit terpentingetränktem Dochtmaterial umwickelt waren, und insgesamt vierzig kleine Petroleumfunzeln mit Reflektor dahinter. »Und was, zum Geier, ist das hier?« fragte Mullenax unter der Last des größten Stücks der neuen Ausrüstung ächzend. »Ein Kronleuchter«, sagte Roozeboom. »Ach, darunter hab’ ich mir was Hübsches vorgestellt, so was Ähnliches wie das, was Mr. Furfew offenbar in seiner Halle hatte. Nichts weiter als Glasröhren und Klunkern.« »Diesen hier hab’ ich selbst bei einem Zimmermann gebastelt. Schnell zusammengeschlagen.« -309-
»Das sieht man.« Ein Haufen Dachlatten waren zusammengenagelt worden und bildeten eine Pyramide aus nach oben immer kleiner werdenden Holzrahmen; oben an der Spitze war ein Eisenring zum Aufhängen angebracht. »Körnt u, klonkie!« rief Roozeboom die nächststehenden der Simmsschen Drillinge herbei. »Du steck mal die Kerzen auf; wir haben noch anderes zu tun.« Damit holte er eine riesige Kiste voll billiger Talgkerzen hervor und zeigte ihr, wie er es meinte. Er zündete eine der Kerzen an und benutzte diese, um die Standfläche der anderen aufzuweichen, diese fast zum Schmelzen zu bringen und sie dann dicht an dicht um den obersten Rahmen herum aufzustellen. »Stell sie dicht beieinander auf, so viele hingehen. Und dann weiter hinunter zur nächstunteren Stufe und es dort genauso machen. Der Leuchter sollte an die dreihundert Kerzen tragen.« Die beiden Männer gingen, die Fackelstäbe zu verteilen, und Mullenax entdeckte, daß an den vier oberen Ecken des Käfigwagens sowie am Museumwagen bereits Halterungen dafür angebracht waren. Roozeboom steckte weitere Fackelstäbe in einer Reihe in den Boden, damit von der Straße ein Zugangsweg bis zum Eingang erhellt wurde. Links und rechts vom Chapiteau-Eingang stellte er noch zusätzlich ein paar auf. Im Zeltinneren zeigte Roozeboom Mullenax, wie man ganz um die unterste Sitzreihe des Gradins in regelmäßigen Abständen die kleinen Petroleumlampen dergestalt aufhängte, daß die Reflektoren das Licht in die Manege warfen. Während Mullenax das tat, ging Roozeboom zum Mast in die Mitte und löste eine Reihe von Seilen von den Klampen, um den Baum oder die Gaffel nur ein kleines Stück vom Mast abzufieren, so daß die Longe herunterhing. Nachdem das Simms-Mädchen den Holzleuchter über und über mit Kerzen besteckt hatte, trugen die beiden Männer das ungefüge Ding ins Chapiteau und befestigten das Longeende am Ring oben. Roozeboom rief »Hauruck«, und -310-
so hievten sie den Leuchter die acht Meter bis ans Gaffelende hinauf, wo er ein kleines Stück von der Kuppelmitte entfernt hing. »Heute abend lassen wir ihn runter, stecken die Kerzen an und ziehen ihn wieder hoch«, sagte Roozeboom. »Das sieht bestimmt hübsch aus. Du wirst sehen. Außerdem habe ich aus der Stadt Radspeichen mitgebracht, Naben, Keile und Bandeisen sowie Wagenschmiere. Ich werde jetzt etwas Holzkohle zum Glosen bringen, meinen Hammer und Amboß holen, und dann fangen wir an, alle unsere Wagenräder gründlich zu reparieren.« Schwitzend waren sie bei dieser Arbeit, als die Kollegen aus der Stadt heimkehrten – und zwar mit beträchtlichem Gequietsche und Gedudel. Jules Rouleau hockte keck auf einem der Wagen, fuhrwerkte mit einem Akkordeon herum, und quetschte nicht besonders gut, dafür aber laut den ›Frere Jacques‹ heraus. »Es ist fast ein Vergnügen, hier im Yankeeland zu sein«, erklärte Yount für alle und jeden. »Charles Town ist zwar nicht der Nabel der Welt, aber man kriegt hier mehr als in ganz Dixie Land zusammen.« »Das kann man wohl sagen«, stimmte Florian zu, der einen neuen Zylinderhut aufhatte, und zwar einen wesentlich schwereren und stattlicher aussehenden als seinen bisherigen Seidenzylinder. »Ich habe mir gesagt, verdammt noch mal, Monsieur le directeur, auch Sie haben eine Belohnung verdient. Voilà, le chapeau!« Er brachte den Zylinder zum Rotieren wie ein Jongleur, ließ ihn über seinen Arm laufen und beförderte ihn dann schwungvoll zurück auf den Kopf. »Hübsch, Baas«, erklärte Roozeboom pflichtschuldigst, und dann ängstlich: »Haben Sie auch Fleisch für Maximus mitgebracht?« »Fast ein halbes Pferd«, sagte Edge. »Und für uns etwas Rindfleisch. -311-
Weder getrocknetes Biltong, noch Pökelfleisch, noch geräuchertes. Nein, richtiges Rindfleisch.« Yount sagte: »Ich hab’ mir fast ’n Bruch gehoben, als ich Tante Phoebes Vorräte schleppen mußte.« Selbstgefällig sagte diese: »Ich glaub’, ich hab’ jed’n Markt inner Stadt leergekauft!« »Und Maggie jeden Stoffhändler und Dekorateur«, sagte Rouleau. »Zwar gab es keine Riesenballen Stoff zu kaufen, aber was es gab, hat sie erstanden.« »Und wie ich sehe, hast du deine Quetschkommode bekommen«, sagte Mullenax zu Rouleau, um sich dann Fitzfarris zuzuwenden: »Und wie steht’s mit dem Saft, um den ich gebeten hab’?« »Yessir, yessir, drei Bouteillen voll«, ließ Fitz sich fröhlich vernehmen. »Da in der Kiste, zusammen mit meinen Flaschen.« Mullenax holte eine der Flaschen hervor, entkorkte sie, nahm einen Schluck, schmatzte mit den Lippen und ließ die Flasche die Runde machen. »Wie kommt das, Fitz, daß du mir volle Flaschen gekauft hast und dir nur leere?« »Die werden nicht lange leer bleiben, die sind für mein Stärkungsmittel. Außerdem möchte ich dich um einen Gefallen bitten, Abner. Kann ich einen kleinen Schuß von deinem Whiskey in jede Flasche gießen? Das überdeckt dann alle anderen Zutaten.« »Einverstanden. Aber nur einen Schuß. Was kommt denn sonst noch rein?« »Mag sagt, sie hat etwas Brechwurzlösung, die ich haben kann. Das wirkt auf seine Weise auch ziemlich gut. Und Clover Lee sagt, sie hätt’ grade ein rotes Trikot ausgewaschen, und das Waschwasser sieht hübsch rosa aus. Sonst brauche ich nichts weiter.« »Himmel: Spülwasser, Kotzwurz und ein Schuß Fusel! Soll -312-
das die Trippermedizin sein, von der du geredet hast?« »Aber nein. Das ergibt einen tollen Rachenputzer.« Als Magpie Maggie Hag ihn am Ärmel zupfte, sah er sich um. »Komm und hole dir Brechwurz. Und noch was anderes hab’ ich für dich.« »Und ihr Mädchen – probiert mal die Schuhe an, die ich euch mitgebracht habe«, sagte Sarah zu den Drillingen. »Und danach werden wir euch mit Snowball und Bubbles bekanntmachen. Mal sehen, ob ihr sie mögt und ob sie euch mögen.« »Und dann zu dir, Sunday ...« sagte Rouleau. »Welche immer von euch Sunday ist – jedenfalls werden wir beide uns mal hinsetzen und Akkordeon zusammen üben.« Als alle anderen auseinandergingen, langte Mullenax noch einmal nach der Flasche und trug sie dorthin, wo Roozeboom sich von seinen Anstrengungen erholte. Er hockte auf dem Boden und lehnte sich gegen ein Rad des Käfigwagens. Mullenax ließ sich neben ihm niederfallen und bot ihm die Flasche an. »Dank u, nee«, sagte Roozeboom. »Nicht so kurz vor Vorstellungsbeginn.« »Kommt selten vor, daß ich dich mal nicht arbeiten sehe, Ignatz. Dabei möchte ich dich was fragen. Alle versuchen, irgendwelche neuen Kunststücke zu probieren. Da möchte ich meiner Bildung ein bißchen auf die Sprünge helfen. Florian hat gesagt, du könntest unter Umständen bereit sein, mir die Löwendressur zu lernen.« Mit dem Daumen zeigte Roozeboom über die Schulter. »Da drin steckt ein Löwe. Geh und dressier’ ihn. Geluk en gezondheitd!« »Ach, Unsinn, Mann. Der alte Kaminvorleger da drin ist doch schon zahmer als mein Opa.« »Das glaubst du! Dann stell dich doch mal dicht genug ran -313-
und sag dem Kaminvorleger Guten Tag!« Mullenax richtete sich auf und brachte das Gesicht nahe genug an die Käfigstangen heran. Maximus bleckte augenblicklich die gelben Zähne und knurrte bedrohlich. Mit einem Ruck fuhr Mullenax zurück, hockte sich wieder hin und nahm zur Stärkung erst einen Schluck, ehe er sagte: »Ich nehm’ an, er ist schlechter Laune. Woran erkennt man, daß er gut gelaunt ist? Schnurrt er dann?« »Nee. Löwen können nicht schnurren. Von allen Großkatzen können nur Cheetahs und Pumas das. Und die wiederum können nicht brüllen. Und Tiger, naja, Tiger, die machen ein Geräusch, wie nur Tiger es machen können. Sie stoßen ein knurrendes Chuffchuff aus – das bedeutet Behagen und gute Laune –, ist das gleiche wie Schnurren.« »Das ist ja mächtig interessant, Ignatz, hilft mir bloß nicht sonderlich weiter. Wir haben schließlich nur einen Löwen, und der hat bis jetzt nichts anderes getan als gebrüllt.« »Für den Dompteur bedeutet das Brüllen weiter nicht viel. Könnte sein, der Löwe ist böse, hat Hunger, oder er ist in Spiellaune – alles mögliche. Manche sagen, wenn Großkatzen mit dem Schwanz hin- und herfegen, sind sie zornig. Ich aber sage: Aufgepaßt – wenn eine Großkatze steif wird, wenn sie zu Stein erstarrt, dann ist sie gefährlich. Und ich sage noch: Wenn du eine Raubkatze arbeitest, vergiß nie, daß du fünf Mäuler vor dir hast. Eins voll von Zähnen, und vier voll von Krallen. Soviel kann ich dir sagen, Abner: Wenn du in diesen Käfigwagen reinkommst, hast du nie wieder Langeweile.« »Sag mir, was soll ich tun? Gibt es denn keine Regeln, so wie das ABC?« »Für Löwendompteure gibt es vermutlich neunundneunzig Regeln und keine einzige, auf die man sich verlassen kann. Trotzdem zähle ich dir ein paar davon auf, mit Vergnügen sogar. Erste Regel: Sich einer Raubkatze nie furchtsam nähern und sie -314-
nie ängstlich anfassen, immer fest und entschlossen, und nie unerwartet, nie von hinten.« »Naja, das hab’ ich schon auf der Farm gelernt. Wenn man einen Eber überraschend anfaßt, fährt der aus der Schwarte!« »Faß einen Löwen so an, und er zieht dir das Fell über die Ohren. Und nie vergessen: Wenn eine Raubkatze dich beißt, kann sie auch wieder loslassen, aber wenn sie ihre Krallen in dich schlägt, kann sie das nicht mehr. So hat der Herrgott ihre Tatzen nun mal gemacht. Wenn eine Katze die Pfote ausstreckt, um sich was zu holen, strecken die Sehnen die Krallen und lassen sie in ausgefahrener Stellung verharren. Deshalb, selbst wenn eine Katze dich unabsichtlich packt und es ihr leid tut, reißt sie beim Zurückziehen der Tatze ganze Fleischbatzen aus dir raus.« »Gut. Das also ist Regel Nummer eins. Und wie sieht Nummer zwei aus?« »Tweede: Laß dir’n neues Auge wachsen.« »Was?« »Nur ein Auge zu haben, Abner, bedeutet, daß du Entfernungen nicht gut abschätzen kannst. Du solltest aber immer ganz genau wissen, wie weit du von der Katze entfernt bist. Außerdem ob die Katze – und darin sind sie wie die Menschen – Links- oder Rechtshänder ist. Du mußt also jede Raubkatze genau kennen, um zu wissen, welche Tatze du ständig im Auge haben mußt. Und jemand mit nur einem Auge ... der auf soviel aufpassen muß ...« »Ich kann mir aber kein anderes wachsen lassen. Da muß ich es eben drauf ankommen lassen.« »Derde Regel: Niemals auch nur das geringste Risiko eingehen! Vierde Regel: Mach einen Bogen um dies Zeug!« Er zeigte auf Mullenax’ Whiskeyflasche. »Eine Katze hält nach jeder Schwäche Ausschau und nutzt sie sofort aus.« -315-
»Ach was, ich hab’ mit etwas Schnaps im Blut immer besser gearbeitet.« Trocken sagte Roozeboom: »Im Holländischen heißt es, es ist töricht, sich auf angetrunkenen Mut zu verlassen. Aber komm mal her, Abner! Stell dich neben mich.« Er erhob sich und stellte sich dicht an die Käfigstangen. »Soll Maximus uns zusammen sehen. Dann wird er dich bald als Freund akzeptieren, und wir gehen zusammen in den Käfig hinein.« Mullenax setzte die Flasche ab, und gemeinsam standen die beiden Männer eine Zeitlang vorm Käfig. Roozeboom streckte ab und zu die Hand durch die Gitterstäbe, um dem Löwen den Kopf zu kraulen. Nach einer Weile fühlte auch Mullenax sich ermutigt genug, das gleiche zu tun, und der Löwe ließ auch ihn gewähren. Nach einiger Zeit schoben die beiden Männer sich ohne jähe Bewegungen zur Käfigtür hinüber und machten sie auf. Maximus knurrte, tat das jedoch wie abwesend. Roozeboom trat ein und redete dabei mit leiser, beschwichtigender Stimme auf das Tier ein, trat dann nahe heran und zauste dem Löwen liebevoll die Mähne. Unterdessen schob auch Mullenax sich seitlich hinein, blieb aber klugerweise am Schmalende des Käfigs stehen. Diesen ganzen Vorgang verfolgte mit äußerster Wachheit eine von den Simms-Drillingen, die ein kleines Stück vom Käfigwagen entfernt stand. In ihrem absurden Kleid aus zerschlissenem, handgewebten Kattun und den brandneuen, knallgelben langschäftigen hochhackigen Schuhen wirkte sie eher wie ein reizendes Entlein. Als sie Roozeboom und Mullenax mit äußerster Vorsicht den Käfigwagen betreten sah, verzog sie den Mund andeutungsweise zu einem verträumten Lächeln, und jedesmal, wenn der Löwe knurrte, ging ein Zittern durch ihren ganzen Leib. Sie wiederum wurde von Sarah, Rouleau und Florian beobachtet. Letzterer meinte: »Das Mädchen hat Angst.« -316-
»Nein, sie genießt es«, sagte Sarah. »Sie ist ein eigenartiges Kind. Als ich sie Bubbles auf den Rücken hob und sie außer der Mähne nichts hatte, sich daran festzuhalten, und ich dem Gaul erlaubte, mit ihr die Manege zu umrunden, hatte ich gedacht, sie würde es zumindest ein ganz kleines bißchen mit der Angst bekommen. Doch sie sagte: ›Das fühlt sich gut an‹, und hatte dabei das gleiche sonderbare Lächeln im Gesicht – und zitterte doch am ganzen Leibe.« Florian meinte achselzuckend: »Vielleicht ist sie die geborene Reiterin. Welche ist es denn überhaupt?« »Monday. Bald wirst du sie auseinanderhalten können. Sunday ist die quicke und lebendige, Monday die verträumte und merkwürdig verhaltene. Und Tuesday, nun, die ist ein Arbeitstier. Die schafft alles und wird vermutlich alles pflichtschuldigst erledigen; allerdings ohne inneres Feuer oder äußere Glut.« »So ungefähr schätze ich das auch ein«, sagte Rouleau. »Jetzt laßt uns beraten, wofür wir sie einsetzen.« Florian sagte: »Naja, in der Sideshow zeigen wir sie selbstverständlich als Trio. Aber in der Manege, meine ich, sollten wir sie etwas auseinanderreißen. Dadurch wirkt unsere Truppe auch größer und bunter.« »Bien«, sagte Rouleau. »Sarah, du und Ignatz: nehmt Monday und Tuesday für die Pferde, während ich Sunday und Quincy behalte. Der Junge ist als Kontorsionist ganz vielversprechend, und bei dem Mädchen dürfte dieselbe Grundausbildung nicht schaden. Vielleicht wird eine Parterreakrobatin aus ihr, möglicherweise auch eine Seil- oder sogar Hochseilakrobatin, falls wir jemals so was bekommen.« »Damit bin ich einverstanden«, sagte Florian. »Und wie steht es mit unserer Klavierspielerin – gewöhnt sie sich um und wird sie Akkordeonspielerin werden?« »Bis jetzt sind wir über ›Vous diraisje‹ noch nicht -317-
hinausgekommen. Aber ich glaube, diese Sunday, die lernt alles. Sie hat mir gesagt, sie hofft, irgendwann im Leben mal jemand zu sein, jedenfalls etwas Besseres als ihre Mammy. Ich hab’ gesagt, sie könnte schon mal den ersten Schritt in diese Richtung tun und ihre Mutter Mutter nennen, und seither tut sie das.« »Tante Phoebe wird sich gebauchpinselt fühlen«, sagte Sarah. »Außerdem habe ich ihr klargemacht, gutes Englisch zu sprechen, wäre der richtige Weg, es in der Welt zu etwas zu bringen. Daraufhin hat sie mich gebittet, es ihr zu lernen – und ich habe angefangen, ihr den Unterschied zwischen lehren und lernen beizubringen, was sie á l’instant kapiert hat.« »Da brat mir doch einer ’n Storch!« murmelte Florian. »Wo ich schon mal dabei bin, Clover Lee zu unterrichten, werde ich ihr auch gleich Lesen und Schreiben beibringen. Und Französisch und Englisch auch. Die kleinen Mulattinnen sind ja alle drei reizende Chabines, Florian, aber mit dieser Sunday, da haben Sie sich einen echten Schatz geholt.« Sie wurden von Magpie Maggie Hag unterbrochen, die rief: »Ola, Florian, schauen Sie, was ich Ihnen bringe.« Als sie sich umdrehten und den Fremden bei ihr sahen, setzten sie zur Begrüßung höflich lächelnde Mienen auf. Als der Mann jedoch näherkam, wurde aus ihrem Lächeln ungläubiges Staunen. »Wer hätte das gedacht!« murmelte Florian. »So wahr ich Sarah heiße«, hauchte Sarah, »Sir John Doe, wie er leibt und lebt.« »Magische Maggie, Sie haben Wunder gewirkt!« sagte Rouleau. Zum erstenmal, seit sie ihn kannten, wies Fitzfarris’ ganzes Gesicht dieselbe Farbe auf, und zwar eine sehr menschliche Farbe. Erst als er unmittelbar vor Ihnen stand, konnten sie die Schminkschicht erkennen. -318-
»Wie hast du das nur fertiggebracht, Maggie?« fragte Florian. »Barossan – Sie erinnern sich an den kleinen Kasper, Toby, den wir vor langer Zeit mal dabei hatten? Billy Kinkade? Als der stiften ging, hat er mir welche von seinen Schminkfarben zurückgelassen, un’ die hab’ ich seither nicht aus der Hand gegeben. Diese ganz bestimmte Farbe nannte Billy the Kink ›Teint-Balsam‹. Das hat er immer als erstes aufgetragen nicht das Zink-Weiß, wie die meisten Clowns – und ging erst dann zu den leuchtenderen Farben über. Ich hab’ gedacht, probier mal aus, wie es bei Sir John wirkt.« »Fabelhaft wirkt es!« rief Sarah aus. »Fitz, Sie sind ein richtig gutaussehender Herr.« »Und wissen Sie, was das bedeutet, Sir John?« gurrte Florian fast verzückt. »Sie können unsere Spitze machen.« »Spitze bin ich ohnehin schon.« »No, no. Unser Vorausmann, unser Anzeigenagent, der Anführer unserer Klebekolonne, unser Quartiermeister, unser Vertrauensmann bei den Behörden.« »Ah«, machte Fitzfarris, dem ein Licht aufging. »In meinem früheren Beruf hat man so was einen Einseifer genannt.« »Sie werden sich die schöne Schminke abkratzen müssen, weil Sie ja heute nachmittag und am Abend als Tätowierter Mann auftreten. Aber unsere nächste Station wird Harper’s Ferry sein, das nur zehn Kilometer weiter liegt. Morgen früh können Sie dann Ihr gutes Gesicht wieder auflegen und hinüberreiten, um die Reklamemühle in Gang zu setzen.« Aus Richtung Charles Town ließ sich jetzt das Bumfoum von Hannibals Trommel vernehmen. Kleistertopf und Quast in der Hand, kam Tim Trimm auf dem kleinsten der neuen Pferde auf den Festplatz geritten. »Sieht so aus, als ob Tim die ganze Stadt mit Plakaten vollgeklebt hätte«, sagte Florian. »Dahinter kommt auch schon -319-
Brutus – die ersten Zuschauer des heutigen Tages im Gefolge. Wir sollten sehen, daß wir mit der Vorstellung beginnen. Monsieur Roulette, würden Sie Maggie helfen, den Roten Wagen zurechtzumachen und die Kasse zu eröffnen?« Er wandte sich um und rief Mullenax zu, der gerade aus dem Löwenkäfig herauskam: »Barnacle Bill, ahoi!« Großspurig und ein wenig verschwitzt, doch äußerst zufrieden mit sich, kam Mullenax herbei. »Ich fürchte, ehe wir unsere anderen Abnormitäten in passende Kostüme stecken können, müssen Sie noch den Krokodilsmenschen weiter machen.« Mullenax blieb stehen und machte ein stolzes Gesicht. »Na, was Hübscheres kann ich mir gar nicht vorstellen!« rief Clover Lee aus. »Au!« schrie Quincy Simms, um dann schnell abbittend hinzuzufügen: »Tut mir leid, Mas’ Jules, hat aber wehgetan.« »Das soll es auch«, sagte Rouleau, der einen von den schwarzen Füßen mit den malvenfarbenen Sohlen des Jungen in der Hand hielt und dabei war, die Zehen vor und zurück zum Hacken zu biegen. »Das, was ich dir hier zeige, mußt du in Zukunft selbst tun, so oft wie möglich und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und zwar jedesmal so weit, bis es so wehtut und du es kaum noch aushalten kannst. Dabei wird sich der Spann jedesmal ein wenig müheloser und weiter durchdrücken. Das ist die einzige Methode, den spitzen Zeh zu bekommen, und den braucht ein Kautschukmensch nun mal. Und jetzt gib den anderen Fuß her.« »Auauaua!« heulte Quincy. »Tut mir leid, Massa.« »Flenner!« sagte Sunday überheblich. »Un’ der Mann is’ nicht’ Massa, sondern Monsieur Rouleau.« »J’en ai plein le cul«, brummte Rouleau vor sich hin. »Wieso hab’ ich mir acht Jobs auf einmal aufgehalst!« »Er spricht europäisch mit dir, Quincy«, sagte Sunday fröhlich. »J’en ai plein le cul. War das richtig, Monsieur?« -320-
»Völlig richtig, cherie. Und ich nehme an, das wirst du in Zukunft noch oftmals sagen. Und jetzt zieh diese albernen steifen Schuhe aus. Wir müssen anfangen, auch deinen Spann weich zu machen.« Er drückte an ihren kitzfarbenen Füßen mit den rosigen Sohlen herum, und sie widerstand tapfer der Versuchung, gleichfalls vor Schmerz zu schreien. Florian kam herbeigeschlendert und fragte onkelhaft: »Nun, wie läuft es hier?« – und erschrak ein wenig, während Rouleau sich vor Lachen kaum halten konnte, als Sunday freudig piepste: »J’en ai plein le cul.« »Vor allem anderen, Abner«, sagte Roozeboom, »mußt du wissen, wie man Großkatzen pflegt. Unser armer Maximus hat gelernt, praktisch alles zu fressen. Aber jetzt, wo wir uns Skoff leisten können, wird er zehn bis zwanzig Pfund Fleisch pro Tag fressen. Und das bedeutet immer: mageres Fleisch. Fettes Fleisch bereitet Löwen Blähungen. Außerdem füttere ihn immer nur mit Fleisch, das noch an Knochen haftet, damit die Katze langsam fressen muß. Sonst würgt sie das Zeugs unzerkaut runter und kriegt Verdauungsstörungen. Und einen Tag in der Woche überhaupt nichts zu fressen geben; damit der Bauch sich völlig leert. Und einen Tag im Monat gib ihm lebendiges Skoff – ein Huhn, ein Zicklein, vielleicht eins von unsern Ferkeln.« »Bist du des Teufels, Ignatz – mit diesen Ferkeln verdien’ ich mir den Lebensunterhalt! Zumindest solange, bis ich als richtiger Löwenbändiger auftreten kann. Aber jetzt erzähle mir, wie das mit dem Zähmen geht.« »Naja ...« Roozeboom zupfte an seinem Walroßbart. »Zähmen und trainieren, das sind zwei grundverschiedene Dinge. Hier in Amerika folgen die meisten Raubtierlehrer dem Beispiel von Thomas Batty – und versuchen damit zu glänzen, in welchem Maß der Dompteur die Tiere beherrscht. In Europa hingegen folgen viele dem Beispiel der Hagenbecks – und sind -321-
bemüht, besonders die Schönheit der Tiere zur Geltung zu bringen, ihre Anmut, die einfachen Aufgaben, die sie gelernt haben.« »Aber Maximus ist ja keine Schönheit. Allerdings immerhin schöner als ich. Deshalb werd’ ich die Leute ihn und seine Tricks bewundern lassen.« »Nee, eine Raubkatze lernt nie einen Trick – Tiere können einen Trick nicht vom Mann im Mond unterscheiden –, ein Tier wird zu einem Kunststück abgerichtet, der Dressur. Nur zwei Dinge machen es dem Menschen möglich, eine Katze zu einem Dressurakt abzurichten. Eins davon ist die Geduld, die der Mensch haben kann, und die Gier, die ein Tier hat. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß eine Katze sich nicht darüber klar ist, stärker zu sein als der Mensch. So setzt man die Gier der Katze und die Geduld des Menschen ein, um sie zu einer Dressur abzurichten. Sagen wir, du steckst einen Besenstiel quer durch seinen Käfig. Er geht, er steigt darüber weg – du gibst ihm ein Stück Fleisch. Dann steckst du den Besenstiel jeden Tag ein Stück höher, so daß er höher und immer höher steigen muß, und du belohnst ihn jedesmal mit einem Brocken Fleisch. Eines Tages wird er vor der Wahl stehen: mit einem Satz drüberzuspringen, oder unterdurchzukriechen. Und du sagst auf deutsch: ›Springe!‹« »Warum nicht auf englisch: jump over?« »Weil die Befehle immer auf deutsch gegeben werden. Ist Tradition, aber auch vernünftig. Manchmal kauft man eine Raubkatze von einem anderen Circus, doch brauchst du dir keine Gedanken zu machen, ob er nun französisch spricht, zulu, oder chinesisch. Alle Raubkatzen gehorchen deutschen Befehlen.« »Na, schön, ich sag’ also: ›Springe!‹ Und was dann?« »Springt sie tatsächlich, gibst du ihr wieder ein Stück Fleisch. Steck den Besenstiel jeden Tag ein Stück höher, und sie wird -322-
immer höher springen. Es wird nicht lange dauern, und sie wird jedesmal, wenn du sagst: ›Springe!‹ einen hohen Sprung machen.« »Warte mal. Noch mal von vorn. Wenn sie das erste Mal vor der Wahl steht – was ist, wenn sie drunter durch kriecht?« »Dann schimpfst du, sprichst mit zorniger Stimme, knallst mit der Peitsche, gibst ihr kein Fleisch. Schlag sie notfalls sogar, aber nicht, um ihr wirklich wehzutun, nur, um ihr zu zeigen, daß du wütend bist. Nie grausam sein. So eine Raubkatze ist gefährlich genug, du brauchst sie dir nicht noch zum Feind zu machen. Wenn es nicht anders geht, fang noch mal ganz von vorn an. Mit dem Besenstiel auf dem Boden.« »Jesus! Sowas Einfaches! Und dafür braucht es solange?« »Du bist als Mensch der Überlegene, stimmt’s? Du bist es, der die Geduld aufbringen kann, und die mußt du nutzen. Schaffst du es, eine Katze auf ein Kunststück zu dressieren, wird sie es endlos wiederholen. Die gewente maak die gewoonte. Aber falls sie sich ein einzigesmal weigert, mußt du darauf bestehen, daß sie es doch tut. Es darf ihr nie, nie in den Sinn kommen, daß sie ungehorsam sein und damit durchkommen kann. Sie darf niemals ahnen, daß sie stärker ist als du, sei es an Willenskraft oder an schierer Muskelkraft. Sollte eine Katze dich jemals kratzen, zuck nicht zusammen und werde nicht wütend – laß die Raubkatze einfach nicht merken, daß du verletzt bist – klaar?« »Das ist wirklich viel verlangt – von einem Menschen zu erwarten, daß er nicht mal zusammenzuckt.« »Verlaß den Käfig einfach so bald du kannst. Voetsak! Ist sowieso das beste, sich Karbol zu holen und die Wunde zu verbinden. Katzen sind saubere Tiere bis aufs Maul und zwischen den Krallen. Da setzen sich immer kleine Fleischfetzen fest und verwesen. Ein harmloser Biß oder ein Kratzer kann eine tödliche Infektion zur Folge haben. Und nie -323-
vergessen: Wenn eine Großkatze dich angreift – ihre empfindlichste Stelle ist die Nase. Rein kräftemäßig kommst du nie gegen eine Katze an; aber wenn du ihr eins auf die Nase gibst, kann es sein, daß sie zurückweicht.« »Vielleicht.« »Was immer geschieht, Abner, versuch unbedingt stehenzubleiben; nie zu Boden gehen, auch wenn der ganze Käfig voller Katzen verrückt spielt. Wenn du aufrecht stehst, bist du größer als sie, bist du immer noch überlegen. Aber wenn du fällst, nimmst du dich in ihren Augen aus wie eine frisch geschlagene Beute, eine Gazelle, die man fressen kann. Sie werden sich auf dich stürzen und auffressen.« Mullenax schluckte. »Du meinst ... wenn ein Dompteur einmal hinfällt, auch nur ein einziges Mal, ist er verloren?« Roozeboom zuckte mit den Achseln. »Versuch, so hinzufallen, daß du mit dem Gesicht auf dem Boden zu liegen kommst. Wenn eine Raubkatze auf freier Wildbahn Beute schlägt, wird sie als erstes die Eingeweide fressen. Liegst du auf dem Bauch, wird sie versuchen, dich mit der Tatze umzudrehen, um an deinen Bauch ranzukommen. Vielleicht verschafft das dir Zeit, daß jemand herbeigelaufen kommt und dir hilft.« »Vielleicht«, sagte Mullenax noch einmal und sah Maximus mit neuem Respekt und neugewonnenem Verständnis an. »Nun, wir reden von Großkatzen, die schon einigermaßen gezähmt sind – und daß ich bei ihnen im Käfig bin. Aber mal angenommen, wir bekommen einen neuen Löwen, oder ein ganzes Rudel. Wie fängt man da an? Was machst du da als allererstes?« »Ich würde mich lange davorsetzen und sie beobachten.« »Was beobachten?« »Was sie tun. Himmel, Abner, das weißt du doch schon. Auf deiner Farm hast du schließlich auch die Schweine beobachtet; dabei hast du entdeckt, daß sie auf Leitern raufklettern. Und hast -324-
daraus die Nummer mit den Ferkeln gemacht, die auf eine Leiter klettern.« »Das ist alles? Das ist das ganze Geheimnis? Herauszufinden, was das Tier bereits kann?« »Oder gern tut und vielleicht noch besser machen kann. Katzen sind verspielt. Löwen, Tiger sind darin auch nicht anders als kleine Kätzchen. Du beobachtest, wie sie miteinander spielen; vielleicht siehst du eine, die rückwärts springt, oder eine, die sich gern rumwälzt. Finde heraus, was die Katze von sich aus tut, ermutige sie dazu, das zu übertreiben, mach, daß es ihr zur Gewohnheit wird. Nach einiger Zeit hast du eine Katze, die riesige Sprünge rückwärts machen kann, oder sich wie ein Faß umeinanderrollt. Die Gaffer finden dich wunderbar, daß du es fertigbringst, eine Raubkatze dazu zu bringen, etwas Unnatürliches zu tun.« »Ich fress’n Besen! Da hab’ ich auf meiner eigenen Farm gelernt, wie man Löwen bändigt – und das nicht mal geahnt!« »Ich kannas nich’ ertragen, daß die Leute mich so sehn!« ließ Monday Simms sich quengelig vernehmen. »Daß die Leute mein’ Beine nackt un’ bloß sehn!« kam es klagend auch von Tuesday Simms. »Sie ha’m ja recht, Miß Maggie«, knurrte Phoebe Simms. »Is schon schlimm genug, daß ich so auslad’nd ausseh’ wie das Zelt da drüb’n. Aber meine Mädchen, die sehn unschicklich aus.« Magpie Maggie Hag war fertig mit dem Zusammenheften der Kostüme von Madame Alp und der Weißen Pygmäen und hatte eine Anprobe befohlen. Madame Alps Bluse und Rock, die ohnehin schon sehr weit geschnitten waren, wurden jetzt von innen so ausgestopft, daß sie an den Knöpfen und an den Nähten zu platzen drohten; der Rock brauchte keine Krinolinreifen, um rundum abzustehen. Im Gegensatz dazu hatte die Kostümmeisterin die Kostüme der Mädchen überschlank und sylphidengleich zugeschnitten: es waren wirklich kaum mehr als -325-
Trikots, die sich wie eine Haut um den schmalen Torso und die gertenschlanke Taille legten. Magpie Maggie Hag hatte auch noch Stoff von hellbrauner Farbe gewählt, die ähnlich wirkte wie ihre eigene Hautfarbe – die Mädchen waren also ›fleischfarben‹ gekleidet – und hatte sie nur mit einem Gesprenkel von Pailletten um Büste und Lenden aufgehellt: rote bei Monday, gelbe bei Tuesday und bläulichschillernde bei Sunday. »Darin kann ich mich ja nich mal hinsetz’n«, klagte Tuesday Simms. »Un’ ich kann kaum steh’n«, knurrte Phoebe Simms. Die alte Zigeunerin stritt sich nicht herum, sondern ging Florian holen. Als er herzutrat, schrien die beiden Mädchen auf und verbargen sich hinter ihrer elefantendicken Mutter. »Verzeih, daß ich offen rede, Madame Alp«, sagte er. »Aber ich habe nicht das geringste Verständnis für die Klagen der Mädchen über die Trikots. Seit ich die Mädchen kenne, sind sie in nichts weiter rumgelaufen als eine Art Unterrock. Jetzt sieht man zumindest ihren nackten Hintern nicht mehr ...« »Die Mädchen sin’ grade alt genug, ihr’ Tage zu krieg’n. Desweg’n trag’n sie nix darunter.« »Ihre Tage?« wiederholte Florian echogleich. »Ihre Regel«, erklärte Magpie Maggie Hag. »Den Evasfluch.« »Ach so«, machte Florian. »Ah. Hm. Nun, dann, meine Damen, überlasse ich es Madame Hag, euch über – naja, über Tücher und Binden aufzuklären. Trikots sind nun mal nicht zum Sitzen da, sondern damit man sich frei und ungehindert bewegen kann. Das braucht ihr bei eurer Arbeit, und um eure Beine und die Büste dabei zu zeigen.« »Mas Florian, sie seh’n aber ganz nackig aus.« »Madame Alp, ich habe in meinem Leben mehr Länder gesehen als du Landkreise. Und nirgends habe ich jemals etwas -326-
Erhebenderes gesehen als eine schöne Frau in nacktem Zustand.« »Aber das is’ unanstännig. Sich so vor Weiß’n zu zeig’n.« »Du hast sowohl Madame Solitaire und Mademoiselle Clover Lee im Trikot gesehen. Wenn weiße Frauen ihren Körper zeigen können, haben deine Töchter jedes Recht, es gleichfalls zu tun. Im übrigen weisen sie in ihrem Alter noch nicht genug Rundungen auf, sich dafür zu schämen, sie zu zeigen. Wenn das erst soweit ist, werden sie sie stolz vorführen. Und jetzt will ich von solchen Beschwerden nichts mehr hören. Übrigens möchte ich dir ein Kompliment machen, Madame Alp. Du siehst wirklich alpenhaft aus – wie ein Gebirge. Maggie, sieh zu, daß du diese drei Kostüme morgen bis zur Pause fertig hast.« Magpie Maggie Hag schaffte das. Und brachte die weiblichen Simmses dazu, sie auch anzuziehen. Fitzfarris war rechtzeitig von seinem Ritt nach Harper’s Ferry zurück, um seine Rolle in der Sideshow zu spielen und die Ansage zu übernehmen. »Und jetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, bitte, bewundern Sie diesen lebenden Fleischberg ... Ehe die Marktwaage unter dem Gewicht zusammenbrach, zeigte sie das Lebendgewicht der Dame mit siebenhundertfünfundfünfzig Pfund an ... Nur der Elefant Brutus schafft es, sie vom Boden in ihren besonders kräftig gebauten Reisewagen zu heben. Die Damen unter den Zuschauern können sich selbst von Madame Alps einzigartiger Fettleibigkeit überzeugen, indem sie sie in die massiven Schenkel kneifen. Aus Gründen der Schicklichkeit werden die Herren gebeten, sich dessen zu enthalten ...« Die weiblichen Simmses waren so dankbar, plötzlich als etwas ganz Besonderes zu gelten, daß sie ihr prüdes Geziere ebenso ablegten wie irgendwelche Hemmungen. Sie genossen ihre Berühmtheit ebenso wie die Tatsache, daß den Leuten förmlich die Augen aus den Höhlen quollen. »Ich hatte Glück«, erklärte Fitzfarris Florian, als die Gaffer -327-
wieder zurückströmten ins Chapiteau, um sich dort die zweite Hälfte des Programms anzusehen. »Ich kam gerade in dem Augenblick in Harper’s Ferry an, als der Zeitungsherausgeber seine Wochenausgabe drucken wollte. Ich konnte ihn bewegen, etwas herauszunehmen und statt dessen die Warnung über den wilden Abner Mullenax einzurücken, der frei herumläuft. Die Ausgabe müßte eigentlich gerade verkauft werden. Hier, eine habe ich mitgebracht.« Der Harper’s Ferry Herald war auf die leere Rückseite einer alten und verblaßten Tapete gedruckt. In die Ecken war die Nachricht der Woche eingerückt worden: »Krokodilswesen beim Circus entlaufen«. Darunter war eine Geschichte zu lesen, die Fitzfarris dem Drucker offensichtlich diktiert hatte. Florian las sie durch, lächelte und ließ sie unter den anderen Artisten herumgehen, damit sie sie bewunderten. Dann sagte er: »Sir John, es ist das erstemal, daß wir seit langer Zeit wieder in der Zeitung stehen. In Wilmington wurden sie es leid, immer wieder über uns zu schreiben und zu lesen – und das längst, ehe wir die Stadt verließen.« »Außerdem habe ich keine Klebekolonnen ausgeschickt, die ganze Stadt mit unseren Plakaten zu pflastern. Und habe zudem auch noch einen anständigen Festplatz zwischen Bolivar Street und Camp Hill angemietet. Alles in allem hat mich das nur ein paar Freikarten gekostet.« »Sehr gut. Alle mal herhören! Diesmal fahren wir die Nacht durch. Wir bauen gleich nach der Abendvorstellung ab und brechen sofort hinterher auf. Alle, die keine Wagen lenken – versucht, unterwegs ein bißchen zu schlafen. Und Barnacle Bill – bleiben Sie in Ihrer Krokodilskruste.« »Aaaargh!« machte dieser verzweifelt. »Nein – noch besser – legen Sie noch eine Schicht drauf, ehe wir von hier losfahren. Und dann hauen Sie sich in Ihrem Ballonwagen hin. Wir müssen so tun, als hätten wir Sie -328-
unterwegs wieder eingefangen; folglich könnten wir gezwungen sein, auf Verlangen einen Krokodilsmenschen vorzuweisen.«
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12 Die Circuskarawane war jetzt von der Harper’s FerryHalbinsel noch einen guten Kilometer entfernt. Die Straße zwischen den Bolivar-Höhen und dem Flußtal des Shenandoah führte bergan, als Florian, der die Karawane in seiner Kutsche anführte, vor sich so etwas wie den Widerschein einer Stadtbeleuchtung am Himmel wahrnahm. Er wußte nicht, was er davon halten sollte, erschrak dann jedoch, als die Helligkeit sich bewegte, auf ihn zugestürmt kam und beim Näherkommen sich als ein Haufen fackel-, laternen-, gewehr-, keulen- und mistgabelbewehrter Menschen erwies. »Seid ihr diejenigen, denen dieses Krokodilsungeheuer entwischt ist?« grölte ein bärtiger Mann an der Spitze des Haufens. Der erschrockene Snowball stieg in der Doppeldeichsel der Kutsche. »Wir sind hier, um zu verhindern, daß es in uns’re Stadt reinkommt – da sei Gott vor!« Die Wagenlenker auf den nachfolgenden Gefährten zogen an den Zügeln, um nicht mit den Fahrzeugen vor ihnen zusammenzustoßen, und aus so manchem Wageninneren konnte man Schreie und Flüche der Zirkusangehörigen hören, die durch den plötzlichen Ruck beim Halten unsanft aus dem Schlaf gerissen worden waren. Der Haufen der Bewaffneten verteilte sich links und rechts von der Circuskarawane, hielt den Wagenlenkern rücksichtslos Fackeln und Laternen ins Gesicht, die Pferde scheuten, wieherten und tänzelten erschrocken auf der Stelle. Fitzfarris hatte auf dem Fahrersitz des Ballonwagens geschlafen und es versäumt, das Maultier anzuhalten, das jetzt versuchte, um das vor ihm fahrende Gefährt herumzukurven. Dadurch rutschte eines der Vorderräder des Ballonwagens in einen Straßengraben, und der Wagen legte sich auf die Seite. Fitz rutschte auf dem Kutschbock, doch Mullenax, der auf der Abdeckung geschlafen hatte, flog vom Wagen herunter. Er landete auf allen Vieren – zwischen den Beinen einer -330-
Menschenmenge und mitten im grellen Schein ihrer Fackeln –, plinkerte mit seinem einen gesunden Auge, war zwar benommen, fauchte aber geistesgegenwärtig wie ein Tier. Was immer die Männer vorgehabt hatten, sie ließen von ihrem Ziel ab. Statt dessen wichen sie entsetzt zurück und schrien mit großem Stimmaufwand alle durcheinander: »Himmelherrgott!« – »Seht doch!« – »Es läuft frei rum!« – »Nichts wie weg!« Alle Männer auf dieser Straßenseite sprangen über den Graben, warfen den größten Teil ihrer Fackeln und Waffen fort und suchten über den Friedhof, der dort an die Straße grenzte, das Weite. Mullenax seinerseits stieß einen heiseren Schrei aus, rappelte sich hoch und entfloh in die Richtung, die auch sie eingeschlagen hatten, wobei er den Graben übersprang und zwischen Grabsteinen und Grabhügeln hin- und herwetzte. Wiewohl immer noch im Halbschlaf und behindert durch die Lehmschicht des Krokodilsmenschen, lief er in löblicher Schnelligkeit davon. Ein paar derjenigen, die vor ihm flüchteten, blickten zurück, wurden schreckensbleich und riefen: »Himmel!« – »Er ist hinter uns her!« – »Schneller, schneller!« Die auf dem Rückzug befindliche Horde beschleunigte nach Kräften, und Mullenax, der gar nicht auf den Gedanken kam, sich seinerseits umzublicken und festzustellen, wovor sie eigentlich auf der Flucht waren, stieß noch mal ein heiseres Bellen aus und lief seinerseits schneller. Von seinen hastig hinund herfahrenden Armen und Beinen bröckelten Flocken getrockneten Lehms und Plakatkleister ab und blieben unter den anderen zurückgelassenen Dingen wie Büchsen, Mistgabeln, Fackeln, Hüten und ausgespuckten Priemen liegen. Diejenigen Männer aus Harper’s Ferry, die beim Beginn der Flucht auf der anderen Seite der Wagenkolonne gewesen waren, rissen jetzt verwirrt den Mund auf und starrten ins Dunkel, in dem die Hälfte ihrer Schar verschwunden war. Nicht anders erging es den Circusleuten. Alle standen da und lauschten den -331-
verstreuten fernen Schreien und Rufen, die sich hügelan verloren. »Ungeheuer!« brummelte einer der Männer aus der Stadt überwältigt. »Wenn die mit der Geschwindigkeit auf den Fluß treffen, tut sich der bestimmt auf wie das Rote Meer.« »Siehmaleinerguck!« rief derjenige, der als erster gesprochen hatte, und wandte sich wieder Florian zu. »Wir haben versucht, das Ungeheuer zu umzingeln und in einen Korral zu treiben. Und wenn es jetzt einen von den unseren tötet oder auffrißt, wird einer aufgeknüpft. Und es ist nicht nur das Ungeheuer, das ich meine.« »Keine Sorge«, sagte Florian und überlegte fieberhaft. »Wir danken Ihnen, daß Sie das Geschöpf aus seiner Deckung aufgescheucht haben. Wir haben es unterwegs überall gesucht. Aber wir besitzen das einzige Mittel, es in seine Schranken zu weisen und zu überwältigen. Abdullah!« Den verbliebenen Städtern fuhr ein gehöriger Schrecken in die Glieder, als plötzlich der Elefant in den Lichtkreis der Fackeln trat. »Nimm Brutus und setz hinterher!« befahl Florian und deutete flußwärts. »Bring den Krokodilsmenschen her. Egal wie – tot oder lebendig«, fügte er für die Fremden bestimmt noch hinzu. Als der Dickhäuter in Richtung Friedhof loszockelte und dabei fröhlich Grabsteine umwarf, zog Florian einen Stapel Eintrittskarten aus der Tasche und teilte sie aus wie beim Kartenspiel. »Keine Bange, Gentlemen. Wir werden das Ungeheuer einfangen. Und wenn wir es lebendig wiederbekommen, können Sie heute nachmittag kommen und es sich ansehen – und zwar sicher angekettet. Im übrigen können Sie von Glück sagen, dem tückischen Geschöpf nicht begegnet zu sein, ohne einen Elefanten dabei zu haben.« »Himmelherrgott, ich werde ja von Minute zu Minute mehr zu einem Krokodil«, fluchte indessen Mullenax verbiestert und -332-
troff von feuchtem Schlamm, Wasserpflanzen und Schleim, als Hannibal und der Elefant ihn zum Festplatz brachten, wo die Circusleute gerade anfingen, das Chapiteau hochzuziehen. »Aber als ich von einem Flußufer runterrutschte, bin ich jedenfalls stehengeblieben, während die anderen einfach weitergeschwommen sind. Die müssen jetzt bereits die Chesapeake-Bucht erreicht haben.« »Wieso, um alles auf der Welt«, sagte Sarah kichernd, »hast du denn eigentlich die armen Männer verfolgt, Abner?« »Ich sie verfolgt, Lady? Ich schlag’ die Augen auf und seh’, wie alle Welt die Beine in die Hand nimmt, als wär’ der Leibhaftige hinter ihnen her, und hör’ sie alle schreien: ›Er ist los!‹ Und ich hab’ gedacht, sie meinen den Löwen!« Bei so vielen Freikarten war es kein Wunder, daß das FLORILEGIUM am Nachmittag ein volles Haus hatte. Aber viele kamen auch zu den nächsten Vorstellungen wieder – die Männer von der Bürgerwehr konnten sich gar nicht sattsehen an dem Krokodilsmenschen und seinem Bezwinger, dem Elefanten – und brachten Freunde und entfernte Verwandte mit, die sich das Ungeheuer ansehen wollten, und die Schreckensgeschichte dieser Nacht wurde in vielen Varianten immer wieder aufs neue erzählt so daß das Chapiteau bei allen vier Vorstellungen, die sie in Harper’s Ferry gaben, ausverkauft war. Nach der ersten Vorstellung des ersten Tages, während alle anderen Circusangehörigen versuchten, etwas Schlaf nachzuholen, fuhr Florian mit seiner Kutsche in die Stadt hinein. Als der Circus erwachte, war Florian bereits mit einem wohlgekleideten Herrn zurückgekehrt, der auf einem kräftigen Dreifuß einen gewaltigen Photoapparat aufbaute. »Mr. Vickery ist Kunstphotograph«, stellte Florian ihn vor. »Er wird uns einiges an Nebenverdienst verschaffen – Bilder, die wir bei der Sideshow verkaufen können. Madame Alp, würdest du und die Pygmäen sich bitte ins Kostüm werfen ...« -333-
Abnormitäten und Kuriositäten saßen dem Künstler also Modell: Sir John Doe groß en face, dann kamen die Weißen Pygmäen selbdritt, Madame Alp in einsamer Majestät – alle saßen fast eine volle Minute mucksmäuschenstill da und bemühten sich, nicht einmal in die untergehende Sonne zu blinzeln, während Mr. Vickery an irgendwelchen Knöpfen herumdrehte, seinen blasebalgähnlichen Tubus auseinander-, dann wieder zusammenschob, Glasplatten hineinsteckte und wieder herausholte, die Kappe vom Verschluß nahm und sie wieder drübersetzte. »Was soll das überhaupt?« fragte Madame Alp Florian. »Es wird dir helfen, etwas nebenbei zu verdienen. Du sollst nicht nur eine Wachsfigur sein, die die Leute begaffen wie die Sachen im Museumswagen. Sie werden gern eine Erinnerung an dich mit nach Hause nehmen wollen. Mr. Vickery wird in sein Atelier zurückkehren und nicht nur ein Bild von dir abziehen, sondern hundert Abzüge machen – auf kleinen Kartons. Das, was man in Europa cartesdevisite nennt.« »Cartesdevisite«, wiederholte Sunday still für sich. »Du und die Mädchen und Sir John – ihr werdet den Circusbesuchern diese Karten zu fünfzig Cent das Stück anbieten. Sobald mein, ahem, ziemlich hoher Einsatz abgedeckt ist, kannst du diese fünfzig Cent behalten.« Mullenax sagte: »Ich denke nicht daran, den Leuten auch noch eine Erinnerung an mich in meiner Krokodilsverkleidung zu hinterlassen.« »Nein, Barnacle Bill«, sagte Florian liebenswürdig. »Ich denke, Sie haben für das FLORILEGIUM getan, was Sie konnten. In dieser Stadt treten Sie das letztemal als Krokodilsmensch auf.« »Dem Himmel sei Dank!« Am nächsten Abend, als Captain Hotspur mit der Löwennummer wieder Tod und Teufel herausforderte, sagte -334-
Florian zu Fitzfarris: »Sie sollten heute während der Pause die Ansage etwas knapp halten. Legen Sie dann Ihr Reisegesicht an und reiten Sie zu unserem nächsten Aufenthalt voraus. Frederick City liegt rund fünfunddreißig Kilometer von hier entfernt, und Sie brauchen bestimmt etwas Schlaf, wenn Sie dort eintreffen.« »Einverstanden. Nur muß Mag mir bei dem Gesicht noch helfen. Hoffentlich ist sie dazu aufgelegt. Sie hat gesagt, sie fühlt sich heute abend nicht besonders.« »O mein Gott. Bestimmt wieder einer ihrer Orakelanfälle.« »Ach, das ist es? Sie murmelte irgend was von was Schlechtem, das auf uns zukommt. Auf der anderen Seite des Wassers – was immer das bedeuten mag. Aber wie dem auch sei, ich werde gleich nach der Pause losreiten. Besondere Anweisungen?« »Das gleiche wie bisher: soviel Erwartung wecken wie möglich. Aber diesmal bitte nichts über ein entwichenes Ungeheuer.« Am nächsten Tag setzte der Circus über die Pontonbrücke über den Potomac und erreichte den Staat Maryland. Fitzfarris sollte den Circus beim Erreichen von Frederick City an diesem Abend treffen und ihnen den Weg in die Stadt zeigen. Deshalb war Florian nicht wenig erstaunt, als Fitzfarris bereits rund zehn Kilometer vor Frederick City wieder auftauchte. »Ich bin herausgeritten, um euch abzufangen«, sagte Fitz schwer atmend. »Vielleicht bewahrheitet sich Maggie Hags dunkle Vorahnung. Ich habe Schwarze die ganze Stadt mit unseren Plakaten vollkleben lassen, doch als ich ihre Arbeit überprüfen wollte, mußte ich feststellen, daß jemand anders seine Plakate über die unseren gekleistert hat. Ein anderer Circus.« »Das hätt’ ich nicht gedacht!« sagte Florian. »Und die Plakate abgerissen, was? Das ist ein alter Trick. Eigentlich sollten wir -335-
uns geschmeichelt fühlen, daß ein anderes Unternehmen unsere Konkurrenz fürchtet. Aber was mich erstaunt, ist, daß in dieser Gegend überhaupt ein anderer Circus arbeitet. Wem gehört er denn?« »Irgend’nem Yankee. Jedenfalls glaube ich das, dem Namen nach«, sagte Fitz und suchte etwas unter seiner Hemdbrust. »Hier ist eines seiner Plakate.« »TREISMAN’S TITANIC«, murmelte Florian, als er das Plakat auseinanderfaltete. »Das muß ein Neuling sein. Von dem habe ich noch nie gehört – und ich kenne die Branche durch und durch. Irgendeiner, der versucht, sich durch uns Starthilfe zu verschaffen. Wahrscheinlich hat er von den ausverkauften Häusern gehört, die wir gehabt haben – und sich gedacht, da hänge ich mich dran. Jedenfalls tritt er am selben Tag und zur selben Zeit gegen uns an.« Er reichte Sarah und Clover das Plakat hinunter, die – neugierig gemacht – ausgestiegen waren. Sarah überflog die Ankündigung und sagte: »Das ist alles Unsinn, Florian. Da habe ich mir schon Hoffnungen gemacht, wir würden alte Artistenfreunde treffen, aber hier stehen überhaupt keine Namen. Bloß die Nummern – ›Furiose Feuerläufer‹, ›KunstTurnen‹ ...« Sie reichte das Plakat an Edge weiter, der neben Florian saß, und der las laut vor: »TREISMAN’S TITANISCHE ZELTSHOW, nie geschaute Wunder asiatischer Circus-Kunst ...«, um dann unten auf das Plakatende zu schauen: »Hier steht, daß sie ihr Zelt am Liberty Turnpike aufschlagen.« »Ich bin hin, um es mir anzusehen«, sagte Fitzfarris. »Aber da war noch nichts. Ich habe uns einen weit besseren Festplatz verschafft – nur haben sie einen größeren, falls das was zu bedeuten hat.« »Das ist vermutlich reine Angabe«, sagte Florian. »Sie haben also Ihren Vorausmann kennengelernt?« -336-
»Nein. Er muß gerade rechtzeitig eingetroffen sein, um eine Klebekolonne zu engagieren, und dann sofort wieder losgeritten sein.« »Gut. Hier haben Sie noch etwas zusätzliches Geld, Sir John. Reiten Sie wieder hin, nehmen Sie reichlich Plakate mit, heuern Sie seine Kolonne an, reißen Sie alle seine Plakate ab und kleben Sie unsere wieder dran.« Nachdem Fitzfarris in Richtung Stadt davongaloppiert war und die Circuskolonne hinter ihm sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, sagte Edge zu Florian: »Die Sache scheint Sie nicht sonderlich zu beunruhigen.« »Ach, so was kennt jeder alte Circushase. Ich hab’s mal erlebt, daß zwei Unternehmen derart verbissen miteinander rivalisierten, daß sie eine ganze Saison hindurch in einer Stadt nach der anderen zur selben Zeit spielten. Manchmal haben sie sich mit den Preisen unterboten, manchmal sich gegenseitig die Absegelungen gekappt. Und manchmal, wenn es keiner von beiden Truppen gelungen war, über die andere zu triumphieren, hat einer den anderen einfach aufgekauft – mit Mann und Maus und Wagen. Wer weiß, vielleicht passiert hier das gleiche.« »Nun hören Sie auf!« spottete Edge. »Das ist doch heller Wahnsinn! Sie werden dies Unternehmen nie hergeben. Dazu habe ich Sie zu hart und mit zuviel Engagement arbeiten sehen.« »Himmel, nein! Natürlich nicht. Ich habe nur gemeint, daß ich diesem Treisman vielleicht sein Unternehmen wegschnappen könnte.« »Das ist ja noch verrückter! Inzwischen verstehe ich aber genug vom Circus um zu wissen, daß man mit dem Geld, das wir haben, noch nicht mal einen Elefanten kaufen könnte.« »Vergessen Sie nicht ... wenn man in einer Klemme sitzt, gibt es nur eins: bluffen!« Jedenfalls stellten sie beim Einzug in Frederick City fest, daß die ganze Stadt mit FLORILEGIUM-Plakaten vollgeklebt war. -337-
Fitzfarris erwartete sie am Stadtpark. Sie beeilten sich, das Chapiteau aufzubauen. Danach bürstete Florian sorgfältig den Staub der Landstraße von seinem neuen Zylinder und seinem alten Gehrock und wollte gerade wieder die Kutsche besteigen, als Edge ihn zurückhielt und sagte: »Moment. Hier sind kräftige Männer und Waffen genug, die Sie mitnehmen könnten. Ich bin übrigens auch dabei – das möchte ich mir unter keinen Umständen entgehen lassen.« »Eigentlich wollte ich zunächst einmal nur das Terrain erkunden. Aber Sie haben recht. Wir können genausogut geschlossen auftauchen. Wer möchte mit?« »Ich und Obie und alle anderen, bis runter zu Tiny Tim. Was denken Sie denn?« »Wir können den Festplatz und die Damen unmöglich ohne jeden Schutz zurücklassen. Unsere Gegner könnten schließlich genau das gleiche vorhaben wie wir.« »Ignatz und Hannibal sind noch dabei, die Piste aufzuschaufeln, und Ignatz möchte mit den neuen Mädchen auch noch etwas probieren. Er und Hannibal sollten als Schutz eigentlich genügen. Abner, nimm deinen Ballonwagen. Da passen wir alle hinein.« Fitzfarris fuhr mit Florian, der sie zum anderen Circusplatz führen sollte. Als sie dort anlangten, war es bereits Abend geworden, doch die anderen waren beim Schein von Fackeln und Laternen noch beim Aufbau ihres Zeltes. Auch sie hatten nur einen Elefanten, ihnen bei der schweren Arbeit zu helfen, doch war ihr Chapiteau anderthalbmal so groß wie das vom FLORILEGIUM und im übrigen ein Zweimaster. Die Größe des Chapiteaus war aber auch das einzige, wodurch sich das Konkurrenzunternehmen von ihnen unterschied. Sonst gab es keinerlei Anzeichen, daß es sich um einen besseren Circus handelte. Hier wie beim FLORILEGIUM hatten sich viele Einwohner aus Frederick City eingefunden, um -338-
beim Aufbau zuzusehen, doch standen sie eigentlich nur im Weg. Ein Mann, der aussah wie ein Verkäufer in einem Gemischtwarenladen er trug eine Brille und war offenbar ziemlich abgekämpft –, war bemüht, die Zuschauer mit fahrigen Bewegungen zurückzuscheuchen. Florian stieg aus, näherte sich diesem Nervenbündel – dessen Handbewegungen ihm gegenüber jede Wirkung verfehlten – und fragte mit einer Stimme, die den Lärm auf dem Festplatz übertönte: »Bin ich zufällig auf der Müllkippe der Stadt gelandet, Sir, oder sollte dies doch, wie auf den Plakaten angekündigt, Trashman’s Trivial Tent Show sein?« Mit fisteliger, ungehaltener Stimme verwahrte sich der Ladenschwengel: »Treisman’s ... Titanic! Haben Sie nur kein Gefühl für sowas, Sir, oder haben Sie vor, mein ehrenwertes Unternehmen absichtlich in den Schmutz zu ...« »Ihr Unternehmen, Sir?« dröhnte Florian erstaunt und verächtlich zugleich. »Sind Sie etwa der Eigentümer dieses runtergekommenen Tingeltangels?« Der Ladenschwengel machte den Mund mehrere Male auf und zu und war außerstande, ein Wort hervorzubringen, doch zwei andere Stimmen überschlugen sich mädchenhaft schrill: »Wer hat so ein Schandmaul? Wer hat diese Chuzpe! Das kann doch nur Florian sein!« »Florian, Lieber! Macushla!« Zwei hinreißend hübsche Frauen mit karottenrotem Haar stürzten aus dem Dunkel des Festplatzes hervor und umarmten Florian ebenso stürmisch wie liebevoll und bedeckten ihn mit feuchtschmatzenden Küssen. »Florian! Er ist es wirklich!« »Wie lange es her ist, kedvesem!« Der Ladenschwengel Treisman sah mißtrauisch und zunehmend verwirrt zu. -339-
Lachend befreite sich Florian aus der Umarmung, um endlich sagen zu können: »Pfeffer! Paprika! Meine scharfen Schönen! Was für eine wunderbare Überraschung!« »Aber was machen Sie hier?« fragte diejenige, die er Paprika genannt hatte. »Ürülek! Sie suchen doch wohl keine Anstellung in dieser miesen Klitsche?« »Nein, nein. Ich habe immer noch meinen eigenen Laden! Und wahrhaftig keine miese Klitsche!« »Dann sind Sie auf der Suche nach Artisten!« rief Paprika. »Meiner Treu, Sie sind gekommen, um nach uns zu suchen!« entfuhr es Pfeffer. »Nun ...«, sagte Florian. Aus dem verwirrten Gesichtsausdruck des Ladenschwengels wurde heller Schrecken. »Wie wir es bedauert haben, daß wir uns von Ihnen trennen mußten, Florian!« »Aber als Sie nie wieder im Norden auftauchten, dachten wir, Sie müßten im Krieg umgekommen sein.« »Nein, wir haben alle überlebt. Kommt und begrüßt eure alten Freunde – und einige neue.« Er führte sie zu dem Ballonwagen und kümmerte sich weder um das wutverzerrte Gesicht des Ladenschwengels noch um seine hilflosen Proteste. Tim Trimm und Jules Rouleau sprangen spornstreichs vom Wagen herunter und fielen je einem der Rotschöpfe in die Arme. »Paprika, du vizla Schlawinerin!« »Jules, gutes altes Haus!« »Brady Russum, du böser kleiner Kobold du! Wie furchtbar – du bist kein bißchen gewachsen!« »Und Pfeffer, das irische Waschweib! Immer noch an der Perche? Wer von euch beiden macht denn heute die Ober- und wer die Unterfrau?« -340-
»Arrah, wie schmierig sich das anhört, wenn du das so sagst.« Florian übernahm es, die anderen vorzustellen: Edge, Yount, Fitzfarris und Mullenax – die bei diesem Ansturm schöner Weiblichkeit, dem Durcheinander von Beleidigungen und Freundschafts- oder geradezu Liebesbeteuerungen nicht wußten, wo ihnen der Kopf stand. »Diese Karottenköpfe, Gentlemen, sind Pfeffer und Paprika – privat Rosalie Brigid Mayo aus der gleichnamigen irischen Grafschaft, und Cecile Makkai – oder Makkai Cecile, wie sie korrekterweise in Budapest genannt werden würde, wo man sie allerdings öfter mit Schimpfnamen bedacht hat. Ich selbst bin es gewesen, Gentlemen, der sie veranlaßt hat, Amerika mit ihrer Schönheit und ihrer Verworfenheit zu beglücken. Pfeffer und Paprika sind die beste Perchenummer in der Circuswelt heute. Wobei ich davon ausgehe, daß ihr beiden immer noch an der langen Stange arbeitet.« Paprika, die braunäugige, sagte: »Ich arbeite auch am Trapez, denn dieser Circus hat eines. Und Pfeffer macht auch noch den Zopfhang.« Pfeffer, die grünäugige, erkundigte sich: »Aber Sie, Florian – was machen Sie hier? Ziehen Sie wieder in den Norden?« »Nicht nach Norden, sondern nach Osten, mavourneen. Erst nach Baltimore, und von dort aus weiter nach Europa.« »Nach Europa?« kam es wie aus einem Mund von beiden, und in den grünen wie in den braunen Augen leuchtete es auf. Pfeffer sagte: »Sie woll’n wirklich rüber über den großen Teich?«, während Paprika sich vergewisserte: »Nach Europa, igazäri?« »Nach Europa, idenis«, sagte Florian. »Schade, daß ihr schon ein Engagement habt.« »Ein Engagement bedeutet nicht, daß wir hier mit diesem Circus verheiratet wären«, erklärte Pfeffer aufgeregt. -341-
»Machen Sie uns ein Angebot«, sagte Paprika. »Irgendein Angebot«, sagte Pfeffer. »Dieser Treisman ist geizig wie eine Nonnenfut.« »Ach, was soll die Feilscherei«, sagte Paprika. »Komm, Pep, holen wir unser Gerät.« Der Ladenschwengel stieß einen Klageschrei aus. »Wartet doch, ihr beiden!« rief er händeringend, wandte sich dann jedoch an Florian. »Mister, das können Sie mir nicht antun. Pfeffer und Paprika sind meine Hauptattraktion.« Pfeffer bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. »Sie haben es gesagt. Alles andere an Ihrer Schmiere ist bozzymakoo. Gehen wir, Pap.« Sie wandte sich zum Gehen. Immerhin bewies der Ladenschwengel genug Mumm, um haßerfüllt zu fauchen: »Wenn ihr das Trapez anrührt, bekommt ihr’s mit der Polizei zu tun!« »Izzy, nimm die Schaukelstange und steck sie dir sonstwohin!« sagte Paprika. »Die Perche ist unser Eigentum. Jules, komm und hilf uns tragen.« Noch einmal wandte der Ladenschwengel sich an Florian und zeterte speichelsprühend: »Das können Sie nicht machen, Mister. Dafür zerre ich Sie vors Gericht. Erst die Diffamierung und jetzt ... und jetzt ... Zuneigungsentfremdung!« »Sir!« sagte Florian und betrachtete hochmütig seine Fingernägel. »Ich habe nicht mit dem kleinsten Köder gewunken.« »Das ist unethisches Verhalten! Das verstößt gegen das Gesetz! Das ist kriminell.« Rouleau und die Mädchen kehrten zurück. Er und Paprika trugen einen Requisitenkoffer und ein langes, aus Metall und Leder bestehendes Gestänge. Pfeffer hatte einen Haufen paillettenbesetzter Trikots und etliche weibliche Kleidungsstücke über dem Arm. Als sie die Sachen auf den -342-
Ballonwagen luden, unternahm der Ladenschwengel einen letzten, diesmal tränenreichen Versuch: »Was will dieser Gauner euch zahlen? Ich lege auf sein bestes Angebot noch etwas drauf.« Pfeffer sagte: »Er kann uns viel bezahlen oder gar nichts – Hauptsache, er nimmt uns wieder mit zurück nach Europa. Verpiß dich, Izzy! – Fahren wir, Boys!« Als Kutsche und Ballonwagen den Festplatz des FLORILEGIUM erreichten, gab es nochmals eine freudige Wiedersehensszene, denn die beiden Karottenköpfe kannten alle, die Florians Truppe schon länger angehörten. »Clover Lee, wirklich? Aber du bist doch fast noch ein Baby gewesen!« Sie steckten die Hände sogar ohne jede Angst zwischen die Stangen des Käfigwagens und kraulten dem Löwen die Mähne. »Macska« nannte Paprika ihn und streckte die Arme so weit sie konnte hindurch, während Pfeffer den »großen alten Peig« (wie sie den Elefanten nannte) so weit umarmte, wie das bei der Größe des Dickhäuters überhaupt möglich war, und dieser trompetete und wackelte mit dem Rüssel, so glücklich war er, sie wiederzusehen. Dann wurden die beiden Frauen mit Phoebe Simms und Quincy sowie mit Sunday und Monday bekanntgemacht. »Ihr macht eine Zwillingsnummer?« erkundigte sich Pfeffer. »Sie sind sogar noch mehr als Zwillinge«, sagte Florian selbstgefällig. »Wartet nur, bis ihr den Rest der Familie zu sehen bekommt. Wo steckt Tuesday denn?« Hannibal deutete zum Chapiteau hinüber, das von der einzelnen Arbeitslaterne nur dürftig erhellt wurde, die in seinem Inneren leuchtete. »Sie is’ mit Ignatz noch bei der Arbeit.« »Kommt, meine Lieben«, sagte Florian. »Ihr habt euren Freund, den alten Captain Hotspur noch nicht begrüßt.« Fast die gesamte Truppe begleitete sie hinüber zum Chapiteau. Alles lachte und plapperte fröhlich durcheinander. -343-
Als sie näherkamen, konnten sie Snowballs Hufe rhythmisch und geduldig um die Manege donnern hören. Sie gingen durch den Haupteingang hinein, und Pfeffer brach in den traditionellen Gruß der Iren, die zu Besuch kommen, aus: »God and Mary to all here!« Dann blieben sie und die anderen wie vom Donner gerührt stehen. Im flackernden Licht der einzigen Korbfackel, die am Mast in der Mitte festgemacht war, warf der stetig trabende Snowball einen gigantischen Schatten, der sich rundherum über die leeren Bänke des Gradins und die sich blähende Rundleinwand dahinzog. Es mußte Schwerarbeit für das Pferd gewesen und auch schon geraume Zeit her sein, daß man ihm das Kommando ›Trab‹ gegeben hatte. Tuesday saß rittlings auf ihm, umklammerte ihn mit den Beinen so fest sie konnte und streckte sich weit vor, hatte die Hände in der Mähne des Pferdes verhakt und krallte sich mit aller Kraft daran fest. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und vor Erschöpfung, Schrecken und der Anstrengung, solange ungehört um Hilfe geschrien zu haben, verzerrt. Mit dem Gürtel hing sie immer noch an der Longe, die sich leise quietschend mit dem Pferd um den Mast drehte. Allerdings war die Longe durch ein besonderes Gewicht extrem straff gezogen. Genau in der Mitte zwischen Tuesday und dem Mast war die Longe um Ignatz Roozebooms Hals herum abgeknickt. Die Spannung hielt ihn nahezu senkrecht und zog ihn rückwärts immer wieder um die Manege herum, so daß seine Stiefel rutschten und holperten, als ob sie spielerisch rückwärts liefen. Seine Hacken hatten eine tiefe Rinne in den Boden geschliffen. Das Licht der Fackel ließ seine Glatze in gesundem Rosa erglänzen; die Augen hatte er offen und die haarlosen Brauenbögen in einem Ausdruck leichter Überraschung hochgezogen, doch war er bereits seit einiger Zeit tot. Die ExSoldaten waren die ersten, die sich fingen. Fitzfarris hielt das Pferd, und Edge befreite Roozeboom von der Longe, während -344-
Yount Tuesday vom Pferd herunterhob und Mullenax sie vom Gurt befreite. Dann kamen die Frauen herzugelaufen, um das hemmungslos schluchzende Mädchen zu trösten. »Sich stranguliert, nicht wahr?« sagte Florian traurig, als er sah, wie Edge den Toten behutsam auf den Manegenboden legte. »No, Sir. Hätte er das getan, wäre er jetzt im Gesicht gedunsen und bläulich verfärbt. Außerdem hätte Ignatz sich befreien können, ehe er erstickte. Er hat sich das Genick gebrochen. Es muß verdammt schnell gegangen sein.« Wiewohl von Entsetzen gepackt und unfähig, zusammenhängend zu reden, konnte Tuesday mit schwacher und krächzender Stimme dennoch soviel berichten, um zu bestätigen, daß alles sehr plötzlich gekommen war. Sie hatte auf Snowball gestanden, Captain Hotspur hinter ihr auf der Kruppe gekniet, um ihre Hüften in einem ganz bestimmten ausbalancierten Winkel zu biegen, als sie mit einem Fuß abgerutscht war. Zwar hatte sie sich gefangen, gleichzeitig jedoch einen heftigen Ruck verspürt, als das Seil Roozeboom erwischt und zur Seite gestoßen hatte. Der unvermittelte Ruck hatte bewirkt, daß sie vornübergeneigt auf dem Pferd zu liegen gekommen war und in dieser Stellung seither verharrt hatte stundenlang, wie sie meinte –, wobei der breite Ledergurt sie dermaßen eingeschnürt hatte, daß sie nur heiser und schwach um Hilfe hatte winseln können. Und das Pferd, nachdem es von Roozeboom den Befehl zum Traben bekommen hatte, wäre bis zum Sanktnimmerleinstag weitergetrabt und hätte auf die Erlaubnis von Roozeboom gewartet, endlich stehenbleiben zu dürfen. »Bringt das Kind runter ans Feuer«, sagte Sarah. »Und gebt ihr einen heißen Punsch von Abners Whiskey. Sie hat Furchtbares durchgemacht.« »Am besten macht ihr einen Punsch für alle«, sagte Rouleau. -345-
»Ihre Schwestern sehen auch ganz grün im Gesicht aus.« Clover Lee, Quincy, Sunday und Monday waren außerhalb der Manege stehengeblieben. Die drei ersteren hatten die Augen fassungslos aufgerissen, rührten sich nicht von der Stelle. Monday dagegen zitterte von Kopf bis Fuß und rieb merklich ihre Schenkel aneinander, wobei sie einen starren und wie abwesenden Ausdruck im Gesicht trug, der nicht minder starr und abwesend wirkte als der von Roozeboom. »Bringt die Kinder raus«, sagte Florian. »Dumm, daß sie das mitansehen mußten. Maggie, würdest du dich darum kümmern, die Leiche zurechtzumachen?« Niemand antwortete. Magpie Maggie Hag hatte sie nicht ins Chapiteau begleitet. »Siehst du?« flüsterte Sarah Edge zu. »Sie hat prophezeit, daß jemand von uns einer schwarzen Frau wegen Schwierigkeiten haben würde. Tuesday ist zwar weder schwarz noch eine richtige Frau, aber immerhin Negerin.« Sie fanden die Zigeunerin noch am Kochfeuer, wo sie emsig an einem violetten Kleidungsstück stichelte. »Mag«, sagte Tim Trimm. »Wir müssen dir was Schreckliches ...« »Ja«, sagte sie und sah an ihm vorbei. »Barnacle Bill.« »Ma’am?« »Ich hab’s an der Taille enger gemacht und die Beinlinge verlängert.« Sie hielt Captain Hotspurs altes Kostüm an ihm hoch wie zur Anprobe. »Ich denke, jetzt wird es passen.« Dann begab sie sich zu einem der Wagen, holte etwas alte Leinwand heraus und ging langsam allein – eine winzige Gestalt, dunkler als die Nacht – hinüber ins Chapiteau. »Sie wird ihn waschen und ins Leichentuch einwickeln«, sagte Florian. »Begraben werden wir ihn, sobald es hell wird.« »Und wo?« fragte jemand. »In der Manege, natürlich.« -346-
»Wie bitte?« entfuhr es Yount. »In der Manege begraben und dann hinterher eine Vorstellung geben? Auf seinem Grab tanzen?« »Es ist die Manege, die er selbst geschaufelt hat«, sagte Florian. »Die Manege war es, wo er gelebt hat und am lebendigsten gewesen ist. Captain Hotspur würde sich gewiß keinen anderen Ort zur letzten Ruhe wünschen. Und wenn es so etwas wie eine Seele gibt, dann wird die seine sich eine Abschiedsvorstellung von uns ansehen.« Leise sagte Pfeffer: »Jetzt muß jemand es den Tieren beibringen.« »Ja«, sagte Mullenax. »Darf ich das tun, Mr. Florian?« »Genau Sie sollten es tun.« So ging Mullenax, die traurige Nachricht dem Löwen Maximus beizubringen und ihm eine Zeitlang in seinem Kummer Gesellschaft zu leisten. Die anderen gingen, um erst die Kinder und dann sich selbst mit einem Glas Punsch zu trösten, wobei sie nicht vergaßen, auf ihren toten Freund anzustoßen. Dann legten sie sich schlafen. Am nächsten Morgen, während Tim und Hannibal auf Horn und Trommel ruhig und ohne viel Aufhebens davon zu machen, einen Totenmarsch spielten, warfen die Circusangehörigen einer nach dem anderen mit einer kleinen Schaufel Erde in das Loch, das direkt unter dem Manegenleuchter gegraben worden war, den er selbst gezimmert hatte. Dann schaufelten Yount und Rouleau das Grab zu. Phoebe Simms sagte in klagendem Tonfall: »Wollt’n ihr überhaupt nix ausser Heilig’n Schrift les’n?« Florian dachte nach, zupfte seinen kleinen Bart und sprach schließlich: »Saltavit. Placuit. Mortuus est.« Als Pfeffer und Paprika die lateinischen Worte hörten, schlugen sie andeutungsweise ein Kreuz. Rouleau, der einzige -347-
weitere Katholik der Truppe, sah von seiner Schaufel auf, verzog leicht amüsiert das Gesicht und sagte: »Ich glaub’ nicht, daß das aus der Heiligen Schrift ist.« Achselzuckend sagte Florian: »Hab’ ich irgendwo mal gelesen. Der Grabspruch irgendeines römischen Circusmannes. Paßt aber.« Alle warteten sie, doch als Florian nicht übersetzte, tat Edge es: »Er tanzte herum. Er hat Freude verbreitet. Er ist tot.« Als es Zeit wurde für die Vorstellung, drängten sich im Park Karren und Wagen und sogar einige Kutschen; vor allem aber kamen die Leute zu Fuß. Und es kamen nicht nur Hungerleider; die meisten bezahlten ihre Eintrittskarten mit Geld, und nur wenige erwarben sie durch Tauschgeschäfte. Als Fitzfarris die Menge sah, schwang er sich aufs Pferd und ritt auf die andere Seite der Stadt hinüber. Bei seiner Rückkehr berichtete er Florian voller Genugtuung, daß Treisman – vielleicht weil er zwei seiner besten Artisten verloren hatte – seinen TITANIC abgebaut und sich klammheimlich davongemacht hatte. »Wie die Araber«, zitierte Fitz, »sich lautlos aus dem Staub gemacht.« »Nun, hoffentlich bekommen wir ihn nie wieder zu sehen«, sagte Florian und lachte. »Ein echter Circusmann hätte in jedem Fall eine Vorstellung gegeben, selbst nach einer solchen Schlappe. Und wenn er vor leeren Bänken gespielt hätte. Was beweist, daß es sich bei dem Mann um keine echte Konkurrenz gehandelt hat. Er wird früher oder später Pleite machen, und man wird nie wieder von ihm hören.« »Er ist weiter nach Westen gezogen«, sagte Fitz. »Ich hab’ rumgefragt. Folglich werden wir in Cooksville nicht wieder auf ihn stoßen.« »Und wenn wir Cooksville hinter uns haben, Sir John, werden Sie nur noch einmal den Vorausmann spielen müssen – jedenfalls auf dieser Seite des großen Teichs. Aber jetzt kommen Sie rein. Es gibt etwas zu sehen, das Ihnen Freude -348-
machen wird. Sie kommen gerade noch rechtzeitig, um sich die Nummer Ihrer neuen Kolleginnen anzusehen.« Pfeffer und Paprika rückten an die Stelle von Captain Hotspurs Nummer an den Schluß der ersten Programmhälfte; denn Mullenax hatte sich außerstande erklärt, jetzt schon als Dompteur im Löwenkäfig vor dem Publikum aufzutreten. Da das FLORILEGIUM keinerlei Vorrichtungen besaß, an denen Paprika ihren Trapezakt und Pfeffer ihren Zopfhang hätten vorführen können, traten die beiden nur mit ihrer Perchenummer auf. Die Perche bestand aus einer sechs Meter langen, ziemlich eingedellten Metallröhre, von der die Farbe abblätterte und die unten eine gepolsterte, jochartige Gabelung aufwies, während sie am oberen Ende von knubbeligen Verformungen starrte und mit einer Reihe von Lederschlaufen ausgestattet war. Die beiden jungen Frauen hatten nur paillettenbesetzte Trikots an, wobei die Metallplättchen in Mustern angeordnet waren, die dazu dienten, die weiblichen Rundungen zu betonen. Nachdem Edge die Mädchen in die Manege gepfiffen und Florian sie mit blumigen Worten vorgestellt hatte, halfen die beiden Männer Pfeffer, sich das Joch auf die Schulter zu setzen und die Perche senkrecht zu stellen, damit sie sie balancierte. Dann kletterte Paprika – die Oberfrau an Pfeffer – der Unterfrau – in die Höhe und erklomm die sechs Meter der Stange. Während Pfeffer den Blick himmelwärts gerichtet hielt, ihre Füße einen ständigen kleinen Schlurftanz ausführten und ihr Körper schwankte, um das Gleichgewicht zu halten, stand Paprika ohne Stütze und Halt auf den Metallgriffen ganz oben an der Spitze, ging mehre Male an diesen in den Handstand, steckte dann die Hand in eine Lederschlaufe, stemmte sich mit einem Fuß gegen das Rohr und nahm dergestalt verschiedene anmutige Posen ein. Dann steckte sie einen Fuß in die Schlaufe, ließ sich niedersinken, bis eine Hand die Perche packte, und vollführte kopfunter die gleichen Posen. Dann huschte sie wieder ganz bis nach oben hinauf, stellte sich neuerlich auf -349-
beide Hände und vollführte eine Reihe von Verrenkungen, auch diesmal wieder mit dem Kopf nach unten, bog den Rücken zur Brücke durch und führte sowohl zur Seite wie nach vorn und hinten einen Spagat aus. »Tja, ich sehe schon, wie ich dich an eine Klischniggnummer verliere«, wandte Sarah sich an Edge, als sie gemeinsam zusahen. »Nicht nur, daß sie beide biegsam sind wie Schlangen, sie sind auch mindestens zwölf oder fünfzehn Jahre jünger als ich.« »Ich glaube, da brauchst du keine Angst zu haben«, sagte Edge gutmütig. »Pfeffer hat der kleinen Sunday heute mittag ein paar akrobatische Lektionen erteilt und sie dabei gewarnt: ›Du sollst dich niemals verlieben! Das stört deinen Gleichgewichtssinn.‹ Ich hab’ so eine Ahnung, als ob diese beiden Frauen an Männern nicht sonderlich interessiert wären.« »Damit hast du recht. Die beiden sind Lesben. Fricatrices, die nie in was anderes verliebt waren als ineinander. Aber für manche Männer besitzen Lesben ja einen besonderen Reiz.« Sarah seufzte tief auf. »Gott, Männer haben da eben Glück. Frauen müssen alt werden, und Männer werden noch nicht mal je erwachsen.« »Ich bin aber nicht Männer, sondern ich«, sagte Edge. Bei diesen Worten löste er den Blick lange genug von dem Geschehen in der Manege, um sie zärtlich anzusehen. »Und bis jetzt bist du weiß Gott noch keine Maggie Hag – das hat noch lange Zeit.« Doch dann mußte er in die Manege laufen, denn Paprika kam die Perche heruntergeglitten, und Pfeffer ließ sie unbekümmert einfach klirrend zu Boden fallen. Edge und Florian packten jeder eine der Frauen bei der Hand, und alle vier gemeinsam rissen sie die Arme in die Höhe – das Signal für den Applaus. Als Florian den Gaffern Lust machte, das Chapiteau zu verlassen, und sich der Sideshow zuzuwenden, stand Obie -350-
Yount plötzlich ganz nahe neben Clover Lee, und die beiden wurden rüde von zwei Zuschauerinnen angerempelt, daß sie ihrerseits gegeneinanderstießen. Unheilverkündend schüttelten die beiden Frauen aus dem Publikum den Kopf und erklärten pikiert und im Brustton der Überzeugung: »Eine Schande!« »Jawohl, abscheulich!« Clover Lee grinste Yount verschwörerisch an und hielt sich nahe bei den Frauen, als diese gewichtig das Zelt verließen. Auch Yount folgte ihnen. Die Damen tauschten sich weiterhin über die soeben abgeschlossene Nummer aus und bestätigten sich offensichtlich gegenseitig in ihrer Meinung. »So etwas müssen Christinnen sich wirklich nicht ansehen!« »Wie recht Sie haben!« Yount flüsterte Clover Lee zu: »Was haben diese alten Kühe denn eigentlich. Es war doch eine Nummer, an der nun wirklich nichts auszusetzen war, und die beiden Frauen waren wunderschön anzuse...« »Pst!« machte Clover Lee und heftete sich den beiden Kritikerinnen an die Fersen. »Wahrscheinlich Italienerinnen, diese Schlampen!« »Damit werden Sie wohl recht haben. Keine gutchristliche Frau würde sich jemals in solchem heidnischen Zustand zeigen.« »Zwei erwachsene Frauen – und dann unter den Armen unrasiert!« Clover Lee grinste noch mutwilliger als zuvor, fiel jetzt jedoch hinter die beiden zurück und ließ sie laufen. Yount bedachte Clover Lee wie die beiden Damen mit einem fassungslosen Blick, kratzte sich am Glatzkopf und sagte: »Wer hätte das gedacht! Keinem Menschen würde es was ausmachen, und wenn diesen beiden alten Schachteln Federkiele -351-
unter den Achseln wüchsen! Gleichviel, es scheint Sie ja mächtig interessiert zu haben, Mam’selle. Meinen Sie, da was Bedeutendes gelernt zu haben?« »Weiß nicht«, sagte Clover Lee kichernd. »Aber wenn gutchristliche Frauen etwas mißbilligen, muß das irgendwie was Reiz- und Lustvolles sein.« Damit enteilte sie, um sich für die zweite Hälfte des Programms umzuziehen. Der Verlust von Ignatz Roozeboom hatte den Circus zumindest vorerst nicht nur um die Löwennummer gebracht, sondern auch um Captain Hotspurs Mitwirkung an der Pferdedressur. Edge erbot sich von sich aus, ihn zumindest soweit zu ersetzen, daß er die Voltigereiterei übernahm. Da er auf Thunder in Garnisonszeiten an sportlichen Wettkämpfen der Kavallerie wie etwa Ganter-Grabschen teilgenommen hatte, war er bei der Voltige womöglich sogar noch besser, als Roozeboom es gewesen war. Das Pferd ging in vollem Galopp, Edge saß auf oder ab, schwang sich unter den Bauch des Pferdes, um etwas vom Erdboden aufzuheben, ließ sich ganz fallen, packte Thunder beim wehenden Schweif und ließ sich buchstäblich um die Manege herumschleifen, rappelte sich wieder hoch, strampelte sich neben dem Pferd ab und sprang dann behende wieder auf den Pferderücken. Indem er diese Nummer übernahm, schlüpfte er wiederum in eine neue Rolle. Florian bestand darauf, daß er als ›Buckskin Billy – Unerschrockener Reitersmann aus dem Wilden Westen‹ angekündigt wurde, woraufhin Magpie Maggie Hag ihm in aller Eile noch ein Kostüm aus Hemd und Hose nähte, das vornehmlich aus Fransen bestand. Als der Circus an einem grauen und verregneten Nachmittag Baltimore erreichte, war dies für manche der Circusleute die größte Stadt, die sie jemals betreten hatten. Die Wagenkolonne zog über die Old Liberty Road in die Stadt ein, und sobald diese Piste zu einer gepflasterten Straße wurde, mit Ziegelhäusern und -352-
anderen Gebäuden zu beiden Seiten, wurde sie auch zu einer regelrechten Kloake, die ungehindert den Rinnstein heruntergelaufen kam. Erst stank es unangenehm, dann abstoßend und schließlich so unerträglich, daß ihnen speiübel wurde. Es war unverkennbar, daß der überwältigende Gestank zu einem großen Teil von den hinter den Wohnhäusern gelegenen Senkgruben herrührte, deren flüssiger Inhalt einfach in die kanalisationslosen Straßen geleitet wurde. Nur ein einziger vom ganzen Circus entdeckte sofort etwas, das er an Baltimore bewunderte und sogleich hoch schätzte. Jules Rouleau erhob sich vom Kutschbock des Zeltwagens, um alle anderen darauf aufmerksam zu machen: »Voilá! Schaut! So was haben wir in Dixieland nie zu sehen bekommen. Nicht mal in New Orleans gibt es Gasbeleuchtung!« Die anderen sahen ohne sonderliches Interesse hin. »Gas! Das heißt, wir können den Ballon steigen lassen.« Es stimmte: Die Innenstadt von Baltimore wies an jeder Straßenecke moderne Gaslaternen auf, deren schimmernde Glaszylinder ein reizvolles, pfirsichfarben getöntes weißes Licht auf die schmuddeligen Fabrikmauern und die kümmerlichen Straßenbäume sowie auf das schmierige und schleimige Straßenpflaster warfen – und auf die Plakate des FLORILEGIUM, die der Vorausmann Fitzfarris überall hatte ankleben lassen. Viele hatte der Regen bereits von ihrem Untergrund abgewaschen oder lösten sich überhaupt auf, so daß Florian die Kolonne eilends zu dem ihnen zugewiesenen Festplatz scheuchte. Das Gaslicht vermochte jedoch trotz seiner perlenschimmernden Schönheit nicht die anderen gasförmigen Dünste der Stadt zu vertreiben. Je weiter Florian in die Stadt vorstieß, desto weniger behagte ihm das, denn der Gestank wurde immer schlimmer. Schließlich, in der Pratt Street, wo die Kolonne eine Brücke über Jones Falls hinwegführte, die in Wirklichkeit nichts anderes waren als ein Verwesungsgeruch verströmender blubbernder und zischender Morast fand Florian, -353-
daß die Innenstadt von Baltimore einfach unerträglich sei. Sobald er eine einigermaßen große Nebenstraße entdeckte, bog er ein, lenkte gleich darauf nochmals nach links ab und führte die Karawane den ganzen Weg zurück, den sie gekommen waren, und das waren über drei Kilometer. Dann rollten sie die Eutaw Street hinauf zu den reinlicheren Hügeln des Druid Hill Park. Dort ließ er seine Kutsche auf einer größeren Grünfläche halten und wandte sich an alle: »Ich hab’ keine Ahnung, welchen Platz die Stadtväter uns in ihrer unergründlichen Weisheit zugewiesen haben. Aber ich will verdammt sein, wenn ich das Chapiteau irgendwo näher an die schreckliche Stadt heran verlege als hier, und wenn wir dafür die doppelte Gebühr bezahlen müssen. Hier können wir frei atmen, und dahinten ist sogar ein Teich mit frischem Wasser. Würden Sie, Colonel Ramrod, den Aufbau beaufsichtigen – dann verfolge ich die Plakate noch einmal zurück und sehe zu, ob ich Sir John finde? Ist er immer noch im Zentrum, hockt er vermutlich in irgendeiner Finte und läßt sich vollaufen, um seinen Geruchssinn zu betäuben. Aber wie dem auch sei, zusammen mit ihm werde ich mich bemühen, die Erlaubnis zu erhalten, hier das Chapiteau aufzuschlagen.« »Und was ist, wenn die Stadtväter nicht damit einverstanden sind?« wandte Edge ein. »Das hier ist doch ein richtig gepflegter Park mit Musikpavillon und allem«, sagte Yount. »Wir stellen sie einfach vor ein fait accompli, was wollen sie da schon machen«, sagte Florian. Das Chapiteau im Regen aufzubauen, war keine einfache Sache, zumal die Zeltbahnen sofort naß und enorm schwer wurden, nachdem sie erst einmal aus dem Zeltwagen heraus und ausgebreitet waren. Die nassen Seile waren schlaff und schwer durch die Metallösen zu ziehen, und die Anker ließen sich so mühelos in den feuchten Boden treiben, daß man dem Halt der -354-
Absegelungen mißtraute. Deshalb sorgten die Männer dafür, daß die Seile, mit denen die einzelnen Zeltbahnen miteinander verzurrt waren, nur locker hindurchgeführt wurden und die Absegelungen selbst leicht nachgaben. Deshalb sah das Chapiteau, nachdem es einmal stand, schlaff und krumpelig aus und hing leicht durch. Sollte der Regen jedoch aufhören, stand zu erwarten, daß die Seile trockneten und sich strafften und das Zelt von selbst wieder stramm dastehen würde. Edge übertrug Hannibal die Verantwortung, die ganze Nacht aufzubleiben und dafür zu sorgen, daß – wenn der Regen vor Morgen aufhörte – die sich straffenden Seile nicht die Anker aus dem Boden zogen. Die Arbeit war getan, und Phoebe Simms kochte das Abendessen, als Florian zurückkehrte. Er hatte Fitzfarris im Schlepptau, und Fitz war in der Tat ziemlich angetrunken und befand sich in einem leicht rührseligen euphorischen Zustand. »Ich muß das mit’m Vorausmann erst richtig lernen«, erklärte er mit schwerer Zunge. »Da komm ich innie Stadt und red’ den Leut’n gut zu und schmier’ diesen un’jenen, un’ die im Rathaus sitzen da un’ rühr’n sich nich’. Das beste, wassie mir geb’n wollt’n, war das Gelände gleich hinter Weaver’s Sargfabrik. War’ das nich’n pass’nder Platz fürn Circus? Da braucht bloß so’n Mann wie dieser Florian zu komm’ un’ die Stadtschreiber aufzuscheuch’n un’ Sauerkrautdeutsch mit ihn’ zu quatsch’n, un’ schon ha’m wir die Erlaubnis, in dies’m elegant’n Park das Zelt aufzuschlag’n.« »Dazu gehört nicht viel«, erklärte Florian bescheiden. »Ich wußte halt nur, daß jeder Baltimorer, der was taugt oder was zu sagen hat, von Deutschen abstammt. Spricht man aber jemand in der Sprache an, die er am liebsten spricht, kann man fast alles von ihm haben. Deshalb habe ich auch mehr als nur die Erlaubnis zum Zeltaufbau hier bekommen. Monsieur Roulette, ecoutez. In der ganzen Stadt spricht man von nichts anderem als davon, daß die letzte Konföderierte Armee vor drei Tagen unten in Louisiana die Waffen gestreckt hat. Die Nachricht ist gerade -355-
eben eingetroffen. Da habe ich die Behörden beschwatzt, den Sieg und den Frieden zu feiern, und daß dazu unbedingt ...« »... une ascension d’aerostat gehört!« beendete Rouleau den Satz. »Genau das. Morgen werden ein paar Leute von den Städtischen Gaswerken kommen und mal sehen, wie man den Ballon flottmachen kann. Und jetzt müssen Sie so tun, als wüßten Sie, wie man das macht.« »Verlassen Sie sich ganz auf mich. Ich werde mich benehmen und verhalten wie l’aeronaute comme il faut. Dafür habe ich Ihnen aber auch ein Geschenk zu machen. Mein Protegee Sunday hat es geschafft, auf der Quetschkommode fehlerlos ›Vous diraije, maman‹ zu spielen, und ihre Schwestern und ihr Bruder haben den englischen Text gelernt und können ihn dazu singen.« »Hervorragend!« sagte Florian. »Das ist genau die richtige Begleitung für einen Ballon-Aufstieg. Die ›Heiteren Hottentotten‹ zwitschern ›Twinkle, Twinkle, Little Star‹, während Sie gen Himmel entschweben!« »Ist das wirklich eine gute Idee?« fragte Edge. »Die Saratoga ist ihren Betreuern schon mal davongeflogen, dabei haben die genau gewußt, wie man damit umgeht. Jules, wäre es nicht besser, Sie würden das erste Mal heimlich und nicht in aller Öffentlichkeit üben?« Rouleau wackelte mit dem Finger vor seiner Nase herum. »Das klingt ja alles so vernünftig, mon ami, nur: mit Circus hat das nichts zu tun. Da kann ich nur Pascal zitieren: Le cœur a ses raisons que ...« »Ich kenne diesen Ausspruch, und er hat sehr, sehr viel für sich. Aber verdammt noch mal, wenn ...« – er wandte sich an Florian – »Sie haben mich zum Sprechstallmeister gemacht, der für die Sicherheit und das Wohlbefinden der gesamten Truppe verantwortlich ist. Ich sage, dieser Aufstieg ist nicht sicher.« -356-
»Ich neige dazu, dem zuzustimmen«, sagte Florian, »nur ... sagen Sie mir eines. Wie soll man denn heimlich mit einem Ballon üben, der fast so groß ist wie Baltimores Wahrzeichen, der Pulverturm unten in der Stadt?« »Schon, aber ...« »Außerdem kann Monsieur Roulette das Einfüllventil des Ballons nicht einfach über eine Straßenlaterne halten und den Gashahn aufdrehen. Da ist er schon auf die Hilfe von Technikern angewiesen.« »Schon, aber ...« »Zachary«, ließ Rouleau sich vernehmen, »wenn ich schon explodieren oder von diesem Planeten verschwinden soll – meinen Sie, ich würde das heimlich tun? Mais non, dazu wünsche ich mir eine große Menschenmenge, die mir zujubelt, während ich in die Luft steige.« »Schon, aber ...«, wandte Edge ein drittes Mal ein, zuckte dann jedoch resigniert mit den Schultern. »Abner, hol eine Flasche. Laß uns mit der Hurra-Schreierei früh anfangen.«
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13 Das Chapiteau brach in der Nacht nicht zusammen, und der Morgen brachte Sonnenschein, der dem Zelt bald wieder seine richtige Form verleihen würde. Edge übertrug es Yount, ein Auge darauf zu haben, und stieg dann in die Kutsche, um mit Florian und Fitzfarris in die Innenstadt zu fahren. Bei Tageslicht roch die Stadt nicht ganz so widerlich – vielleicht bildeten sie sich aber auch bloß ein, daß ein Großteil des Gestanks vom Regenwasser weggeschwemmt worden sei. Fitz stieg vor dem Redaktionsgebäude der Baltimore Sun aus, um dafür zu sorgen, daß die Ankunft des Circus sowie der bevorstehende Ballonaufstieg gebührend Beachtung fanden, gleichzeitig aber auch den Druck besonderer Plakate in Auftrag zu geben, mit denen die beiden Ereignisse überall bekanntgemacht werden sollten. Gleich um die Ecke entdeckte Florian das Kontor der BALTIMORE & BREMEN SHIPPING LINE. Gemeinsam mit Edge trat er ein, doch Edge stand nur schweigend da, während Florian mit dem Reedereivertreter redete. Als er sich endlich von dessen Schreibtisch abwandte, machte er einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck. »Ihre Schiffe laufen Bremen an und machen vorher noch in Southampton fest«, erklärte er Edge beim Verlassen des Kontors. »Nur erwarten sie in nächster Zukunft keines ihrer Schiffe hier in Baltimore; außerdem war Herr Knebel alles andere als begeistert von der Aussicht, einen Circus an Bord eines Passagierschiffes zu transportieren. Er hat mir empfohlen, mich an eine Frachtreederei namens MAYER, CARROLL zu wenden – draußen auf dem Point, wo immer das auch sein mag.« Sie fuhren zum Hafen hinunter und erkundigten sich. Das innere Becken des Baltimorer Hafens blieb, wie sie erfuhren, Lastkähnen und Küstenseglern ohne großen Tiefgang vorbehalten. Um die Piers der größeren Hochseeschiffe zu -358-
finden, mußten sie lange um das Innenbecken herum fahren bis hinaus nach Locust Point am anderen Hafenende. Eigentlich hätte es im Bereich der Anlegepiers wie in jedem Seehafen am schlimmsten riechen müssen. Doch Baltimores Hafen war von lieblicheren Wohlgerüchen erfüllt als jedes vornehme Wohnviertel, denn hier befanden sich die Kaffeespeicher und verströmten das würzige Aroma frisch gerösteter Kaffeebohnen. Als Florian und Edge schließlich ein ziemlich schmuddeliges Lagerhaus mit dem Namensschild MAYER, CARROLL über der Kontortür fanden, waren sie nicht wenig verblüfft, als sie auf dem Firmenschild lasen, daß die Firma sich als ›Spediteure von Cumberland-Kohle nach allen überseeischen und amerikanischen Häfen‹ bezeichnete. »Da hat man uns offenbar an die Falschen verwiesen«, sagte Edge. »Oder hören sich coal und circus im Deutschen gleich an!« »Circus und Kohle«, brummte Florian. »Aber wo wir nun mal hier sind ...« Er kletterte vom Kutschbock herunter, und Edge folgte ihm. Florian und der Kontorvorsteher unterhielten sich auf deutsch, und Edge stand wieder nur herum. Diesmal jedoch zog sich das Gespräch eine Weile hin, und Florian machte ein erfreutes Gesicht. Er wartete, bis er mit Edge wieder draußen war, ehe er beglückt ausrief: »All’ Italia!« »Nach Italien?« »Haben Sie gewußt, daß Kohle der wichtigste amerikanische Exportartikel in dieses neue Königreich ist? Ich auch nicht. Doch MAYER, CAROLL hat eine Schiffsladung Kohle, die in drei Tagen nach Livorno in der Toskana abgeht. Welches Land könnte günstiger für uns sein als Italien? Italien – das ist die Heimat des heiligen Vitus, und der wiederum ist der Schutzpatron aller Schausteller und Gaukler. Außerdem wird bei unserer Ankunft in Europa Herbst sein, und -359-
am Mittelmeer herrscht ein wesentlich milderes Klima als an der Nordsee. Und noch mehr: Von Livorno geht es geradewegs landeinwärts nach Firenze – Florenz.« »Aber ... Florian ... auf einem Kohlenpott?« »Großer Gott, nein! Auf einem modernen Kohlendampfer. Das Fahrzeug ist so modern, daß es von einer Schiffsschraube angetrieben wird und nicht von irgendwelchen Schaufelrädern. Gehen wir mal an die Pier und sehen wir ihn uns an. Frachtdampfer Pflichttreu – na, wie hört sich das an?« »Wenn Sie es aussprechen können, kann ich wohl damit fahren.« »Ein trefflicher Name. Er bedeutet Pflichterfüllung und Treue. Und ich möchte meinen, ein vollbeladener Kohlendampfer schlingert nicht, und das wiederum verspricht eine schöne ruhige Überfahrt.« Sie bogen um die Schuppenecke, gelangten auf den Pier, und Edge sagte: »Doch nicht etwa das? Haben Sie nicht gesagt, es sei neu?« »Nun ... modern – neu nicht unbedingt.« Ein Kohlenschiff muß wohl mit der Zeit verdreckt und abgewirtschaftet aussehen, dachte Edge nachsichtig. Erfreut stellte er fest, daß das Fahrzeug immerhin Masten und Takelage aufwies, zur Not also Segel setzen konnte, falls seine neumodische Schiffsschraube sich als genauso mitgenommen erwies wie alles andere. Außerdem gab es vorn und achtern Ladebäume, mit denen man sicherlich den Elefanten und die Zirkuswagen an Bord hieven konnte; denn bei dem einzigen Zugang zum Schiff, der sonst zu sehen war, handelte es sich um eine gewöhnliche Holzleiter, die von der Pier zum Deck hinaufreichte. Mit schiefem Mund fragte Edge: »Und was soll die Lustpartie kosten, wenn man fragen darf?« »Chchmmm. Darüber haben Herr Mayer und ich uns noch -360-
nicht weiter unterhalten. Denn zunächst müssen wir uns dem Kapitän der Pflichttreu, Kapitän Schilz, vorstellen und ihn bewegen, uns als Decksladung und Passagiere mitzunehmen. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, daß ein Schiff einen Circus transportiert.« Sie gingen an Bord, und Florian fragte nach dem Kapitän. Eine Gestalt in Uniform tauchte auf, und nach einigem Hin und Her auf deutsch sagte Florian auf englisch: »Colonel Edge, bis vor kurzem bei der Arme – Kapitän Schilz von der Pflichttreu.« »Nicht so förmlich«, sagte der Mann mürrisch, während er Edge die Hand schüttelte. »Kapitän, das ist doch nur ein hochtrabender Ehrentitel so was gibt es eigentlich nur bei der Kriegsmarine.« Sein Atem roch leicht nach Schnaps. »Die Herren sind Pilger?« Florian sagte: »Chchmm – Pilger? Nein, Käpt’n. Ich bin Eigentümer, und Colonel Edge ist der Direktor eines Wandercircus. Wir möchten eine Überfahrt nach ...« »Circus? Nein, kommt überhaupt nicht in Frage?« fiel Schilz ihm ins Wort und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. Dann erklärte er auf englisch: »Tiere, die scheißen mir das ganze Deck voll.« Schon wollte Edge seinen Zweifel anmelden, daß das Deck der Pflichttreu durch etwas so Harmloses wie Scheiße noch mehr besudelt werden könne, als Florian einfach die Hand ausstreckte, um dem Kapitän offensichtlich zum Abschied die Hand zu schütteln, und dabei murmelte er: »Schade. Sie lassen einen Bruder gestrandet am Ufer zurück.« Der Händedruck sowie diese Worte schienen Kapitän Schilz zu verwundern, und was er dazu sagte, kam größtenteils wieder auf englisch: »At lowwater mark, Bruder?« »Oder eine Kabellänge vom Ufer entfernt. Es ist jammerschade. Zumal alle unsere schönen Frauen gleichfalls gestrandet zurückbleiben müssen.« -361-
»Schöne Frauen?« wiederholte der Kapitän so laut, daß sämtliche Decksarbeiter in Hörweite die Ohren spitzten. »So leicht geht das«, sagte Florian voller Genugtuung, als er und Edge sich neuerlich dem Kontor der Reederei näherten. »Erfreulich, daß der Kapitän für schöne Frauen etwas übrig hat«, meinte Edge. »Ach, ganz so einfach ist das nun auch wieder nicht«, sagte Florian. »Aber hoffentlich kommen wir beim Aushandeln des Preises ebenso glücklich davon. Hier, Zachary, nehmen Sie diese tausend Dollar und stecken Sie sich die Banknoten in den Stiefelschaft. Als Notgroschen, sozusagen. Dann kann ich jedenfalls ehrlich meine Taschen vor Herrn Mayer umkrempeln und ihm erklären: ›Das ist alles, was ich habe‹.« Beinahe hätte er das auch tun müssen. Als erstes verlangte Herr Mayer von ihm eine Liste, in der jeder Mensch, jedes Tier, jeder Wagen und jeder einzelne Teil der Ausrüstung aufgeführt war, den er an Bord zu bringen gedenke. Dann nahm der Kontorvorsteher das Lademanifest und begann, neben jeden einzelnen Posten den Preis hinzuschreiben – gepfefferte Preise. »Aber, mein Herr!« erhob Florian Einspruch. »Sechs der Passagiere sind noch Kinder. Die kommen doch gewiß zum halben Preis mit, oder? Und von den Tieren sind nur vierzehn lebendig – der Löwe, der Elefant, sechs Pferde, drei kleine Schweine und ein Maulesel. Alle anderen, die ich aufgeführt habe, sind tot.« »Sie haben tote Tiere dabei?« fragte Herr Mayer voller Abscheu. »Da wird Ihnen aber der Zoll einen Strich durch die Rechnung machen.« Florian erklärte, daß es sich um ausgestopfte Tiere handele. Während Herr Mayer ärgerlich neu zu rechnen begann, sagte Edge leise: »Selbst wenn Sie Clover Lee als Kind rechnen – ich zähle nur fünf Kinder.« »Wir stecken Tim in kurze Hosen. Ruhe jetzt!« -362-
Trotzdem waren die Kosten für die Überfahrt höher, als Florian hätte bezahlen können, ohne einen Griff in Edges Stiefel zu tun. Doch schließlich erklärte er sich unter viel Gestöhn bereit, Mullenax’ Maulesel und Younts Yankee-Kanone doch nicht mitzunehmen, womit er Herrn Mayer soweit herunterhandelte, daß er die nunmehr geforderte Summe bezahlen konnte, indem er ihm praktisch jeden Dollar aushändigte, den er bei sich hatte. Er hätte auch noch weiterfeilschen oder sich entschließen können, noch das eine oder andere zurückzulassen, doch war Mittag bereits vorüber, und die Zeit für die Vorstellung rückte näher. In flottem Trab verließen sie den Hafen, wobei Florian unterwegs ständig vor sich hingrummelte. »Verflucht, ich hätte den Mann unter Vertrag nehmen sollen, statt ihn zu bezahlen. Der ist beim Wahrsagen besser als Maggie Hag. Jedenfalls hat er mein Vermögen praktisch bis auf den Pfennig genau eingeschätzt. Und die tausend Dollar in Ihrem Stiefelschaft werden beträchtlich abnehmen, wenn wir Futter kaufen, damit uns die Tiere auf See nicht verhungern. Wenn wir hier in Baltimore nicht ordentlich Kasse machen ...« »Verspricht das ein großer Tag zu werden!« unterbrach Edge ihn. »Sehen Sie sich das an!« Wiewohl Edge auch früher schon einen Beobachtungsballon gesehen hatte, der Anblick hatte immer noch etwas Eindrucksvolles. Tatsächlich konnten er und Florian das leuchtend rotweiße Oberteil der Saratoga und die schwarzen Lettern ihres Namens eher sehen als die Baumwipfel des Parks, in dem er stand. Als sie auf den Hügel zufuhren, sahen sie, daß der Ballon von vier Seilen gehalten wurde, die wiederum an vier kräftigen Pflöcken festgemacht waren, die um die geflochtene Gondel herum im Boden staken. Sämtliche Circusangehörigen sowie eine ansehnliche Menge von Bürgern aus Baltimore standen herum und bewunderten den Ballon. Das seidenglatte, birnenförmige Gebilde wurde oben von einem Leinennetz -363-
gehalten, dessen einzelne Stränge unten an einem Holzreif zusammenliefen, und ragte fast doppelt so hoch wie das Chapiteau an seiner höchsten Stelle. Die beiden riesigen Stoffkonstruktionen, von denen die eine sich quer vor dem Grün des Parks dehnte, während die andere sich senkrecht vor dem Himmelsblau reckte, bildeten einen prächtigen Anblick. »Une beaute accomplie. Keinerlei Probleme«, sagte Jules Rouleau, als Florian und Edge ihn in der Menge fanden. »Diese beiden Herren hatten schon Erfahrung damit.« Er zeigte auf die Männer, die stolz lächelten und Overalls mit der Aufschrift BALTIMORE GAS & COKE trugen: »Sie sagen, unsere Saratoga hier wäre das großartigste aerostat, das man hier je gesehen hat – allerdings nicht das erste. Aber wie dem auch sei, der Musikpavillon da drüben ist mit Gasbeleuchtung ausgestattet. Infolgedessen brauchten les messieurs von dort aus nur einen langen Gummischlauch bis an das Anhängsel des Sacks heranführen, wie wir aeronauts so was nennen.« Der jüngere von den Gasleuten meinte: »Das Leuchtgas hier ist nich grad das beste für den Ballon. Es hat weniger Auftrieb als anderes.« »Tatsächlich?« sagte Florian. »Für mich sieht es aber genauso aus, als wäre das Ding drauf und dran, in die Luft zu springen.« »Naja, aufsteigen wird er schon«, sagte der ältere von den beiden. »Und einen Mann trägt das Ding auch, aber mehr nicht. Und auch ohne Ballast sieht er ziemlich schlaff aus. Eigentlich brauchten Sie Wasserstoff. Wenn der Ballon damit gefüllt wird, trägt er glatt drei Mann. Aber um Wasserstoff zu erzeugen, braucht man einen Generator.« »Ihr solltet alle gut aufpassen, daß der Zuckerpuppe nix passiert«, sagte der andere. »Der äußere Firnis is’ schon ziemlich brüchig, un’ innen braucht er’n neuen Überzug aus Klauenfett. Die Dichtung um das Klappenventil ha’m wir schon von uns aus erneuert.« -364-
»Ah«, ließ Florian sich ungerührt vernehmen. Rouleau erklärte: »Damit vom Gas nichts entweicht, eh’ ich nicht will, daß was rauskommt. Außerdem waren les messieurs so freundlich, mir eine Dose von der Dichtungsmasse zu überlassen, die frühere Ballonfahrer hiergelassen haben.« »Wirklich sehr freundlich«, sagte Florian, doch machte er ein langes Gesicht, als der ältere Mann ihm ein Blatt Papier reichte und sagte: »Übern Daumen gepeilt fünfundzwanzigtausend Kubikfuß. Natürlich kriegen Sie Mengenrabatt; deshalb hab’ ich die Endsumme auf fünfundsiebzig Dollar abgerundet – und keine Cents.« Mit erstickter Stimme sagte Florian: »Ich bin davon ausgegangen, daß wir die Vorstellung zugunsten einer Feier der ganzen Stadt gäben.« »Ich weiß nur, daß wir soviel Gas reingepumpt ha’m, daß man ganz Baltimore zwei oder drei Nächte lang erleuchten könnte. Wenn Sie mit’m Rathaus über die Rechnung streiten wollen, tun Sie das nur! Nur würden die dann höchstwahrscheinlich einen Eigentumsnachweis für den Ballon und Ihren Ballonführerschein sehn wollen – un’ natürlich eine Kaution für alle Schäden, die Sie anrichten könnten ...« Florian machte ein säuerliches Gesicht, gab dann jedoch Edge mit einem Nicken zu verstehen, er solle mal in seinen Stiefelschaft hineingreifen, woraufhin Edge mit dem Bündel Scheine wieder hochkam und die geforderte Summe hinblätterte. Nachdem die Männer sich getrollt hatten, wandte Florian sich in vorwurfsvollem Ton an Rouleau und sagte: »Das ist ein Luxus, der uns teuer zu stehen kommt. Von dem Geld hätten wir eine Menge Heu, Hafer und Pferdefleisch kaufen können.« »Ich hatte ja keine Ahnung, mon vieux ...« Gerade in diesem Augenblick kam, wie alle anderen von dem -365-
hochragenden Ballon angezogen, noch ein Wagen den Hügel heraufgerollt, und unter der Familie, die aus dem Kutschkasten quoll, befand sich auch Fitzfarris, der sich hatte mitnehmen lassen. Unter dem einen Arm trug er einen großen, runden Gegenstand aus Holz, und als er näherkam, sagte Florian: »... können bloß hoffen, daß der Aufstieg soviel Besucher und soviel Eintrittsgeld zusätzlich herbringt, daß die entstandenen Kosten gedeckt werden ...« »Keine Angst und keine Bange«, rief Fitzfarris fröhlich. »Sorgen Sie nur dafür, daß sämtliche Vorbereitungen langsam und gemächlich und mit der größten Sorgfalt vonstatten gehen, Jules, altes Haus. Gib den Gaffern Zeit genug, daß sie fickerig werden und sich, bloß um abgelenkt zu werden, meiner Zwischenvorstellung zuwenden.« Dann ließ er sehen, was er mitgebracht hatte. Das ganze sah aus wie eine breite, flache, aus einfachem Fichtenholz gefertigte Trommel, die ein paar Fuß breit, aber nur wenige Zoll tief war. Das Unterteil war fest und solide, wohingegen der Oberteil nahe am Rand einen Kreis von einundzwanzig Bohrlöchern von einem Zoll Durchmesser aufwies. In die flache Wandung war eine einzelne Öffnung eingeschnitten, die groß genug war, daß Fitz seine Hand hineinstecken konnte. »Ich hatte einfach keine Zeit, ein richtiges Glücksrad zu machen, und da hab’ ich einen Zimmermann beauftragt, mir dieses Mäusespiel zusammenzuklopfen. Uns bleibt nicht mal genug Zeit, das Ding ansprechend anzupinseln, aber es wird seinen Dienst tun.« Die anderen fragten, was zum Teufel denn ein Mäusespiel sei, doch Fitzfarris wandte sich bereits mit laut erhobener Stimme an die umstehenden Neugierigen und rief: »Zwei Vierteldollar für den ersten Jungen, der mir eine Feldmaus fängt.« Sämtliche Kinder, ob schwarz oder weiß, spritzten auseinander und durchstreiften vornübergebeugt auf der Suche nach Mauselöchern oder Nestern den Park. Und an den erschrockenen -366-
Florian gewandt, sagte Fitz: »Dürfte ich mir mal den Bleistiftstummel ausleihen, den Sie immer bei sich tragen?« Fitzfarris kennzeichnete mit dem Bleistift ein jedes der Löcher in der Trommelwandung mit einer Zahl von 0 bis 20. Ein kleiner Negerjunge kam herbeigelaufen und hielt eine winzige braunweiße Maus in den schalenförmig zusammengelegten Händen. Fitzfarris nahm sie ihm ab, bedankte sich bei dem Jungen und sagte flott zu Florian: »Betriebsausgaben. Zahlen Sie dem Burschen die beiden Vierteldollar, ja, bitte, Boss?«, und schoß dann auf den Wagen mit den Zeltstangen zu, um sich die Schminke aus dem Gesicht zu wischen und sich für seine Rolle als Tätowierter Mann zurechtzumachen. Sowohl die Nachmittags- als auch die Abendvorstellung war an diesem Tag nur spärlich besucht, und das offensichtlich, weil die meisten erhofften Besucher wohl darauf warteten, am nächsten Tag auch noch gratis den Ballonaufstieg mitzubekommen. Doch in der Pause, nachdem die Gaffer sich am Tätowierten Mann, den Drei Weißen Afrikanischen Pygmäen, dem Museum Zoologischer Wunder und Madame Alp sattgesehen – und sogar ein paar Visitenkarten gekauft hatten –, stellte Sir John sein Maus-Spiel vor. »Einsatz: Zehn Cent, Gewinn: zwei Dollar! Das hier ist das ehrlichste Ratespiel, das je ersonnen wurde. Setzt einen Dollar, und ihr könnt zwanzig gewinnen! Bei diesem Spiel steht menschliche Intuition gegen tierischen Instinkt. Die Herrschaften brauchen bloß das Loch zu bestimmen, auf das die Maus Mortimer zulaufen wird.« Er hatte seinen neuen Holzapparat auf den allgegenwärtigen Waschzuber des Circus gestellt. Das Spiel bestand in nichts anderem als darin, das Mäuslein in die Mitte des Bretts zu setzen, von wo aus es nichts besseres zu tun hatte, als schnurstracks auf eines der Löcher in der Wandung zuzuwieseln und im dunklen Inneren zu verschwinden. Dort wartete Fitz’ -367-
Hand bereits darauf, es aufzufangen, wieder herauszuziehen und neuerlich auf das Brett zu setzen. Fitzfarris war alsbald von einer Traube von Gaffern umringt. Die meisten waren Männer, und nachdem sie das Spiel eine Zeitlang verfolgt hatten, kramten sie in ihren Taschen nach Kleingeld und legten Zehn-Cent-Stücke, aber auch ein paar größere Münzen und sogar ein oder zwei Dollarscheine neben das eine oder andere der mit Ziffern gekennzeichneten Löcher. Die Maus huschte jedesmal, wenn sie den Blicken der Zuschauer ausgesetzt wurde, pflichtschuldigst in eines der Löcher, und Fitzfarris wiederum zahlte pflichtschuldigst jedem Gewinner seinen Gewinn aus und beglückwünschte ihn gleichzeitig lautstark. »Zwei Dollar diesem hellen Kopf! Das hat sich gelohnt, Sir! Eine Rendite von zweitausend Prozent für Ihren Einsatz.« Der Lärm zog andere Neugierige an, und bald standen die Leute so dicht, daß die hinten Stehenden über die vor ihnen Stehenden hinwegreichen und sich fast den Arm ausrenken mußten, um ihren Wetteinsatz loszuwerden. Schließlich lag immer dann, wenn die Maus loslief, vor jedem Loch ein Wetteinsatz, und es gab auch jedesmal einen Gewinner, der Fitzfarris’ lärmig vorgebrachten Glückwünschen noch sein Triumphgeheul hinzufügte. »Verstand siegt über tierischen Instinkt! Das hier ist absolut das ehrlichste Spiel, das Sie jemals spielen werden, meine Herrschaften! Und wieder ein Gewinner! Nicht drängeln, meine Herren! Geben Sie bitte auch den Damen eine Chance, einen Riesenglückstreffer zu landen.« Die Maus schien unermüdlich, und das Spiel erfuhr nur dann gelegentlich eine Unterbrechung, wenn Fitz das ganze Brett mit einem feuchten Lappen abwischte. Selbst bei dem spärlichen Publikum heute dehnte Fitzfarris die Pause möglichst lange aus, bis die Spieler entweder genug hatten oder sich außerstande sahen, weitere Verluste hinzunehmen. »Fünfundsiebzig Dollar, vierzig Cent Reingewinn für einen -368-
Tag!« sagte Fitz glückstrahlend, als die Pause der Abendvorstellung zu Ende ging. »Nicht zu glauben!« sagte Florian. »Wie haben Sie das hingetrickst, Sir John?« »Hingetrickst, Sir?« Fitzfarris machte ein unsäglich gekränktes Gesicht. »Nun, man geht schließlich davon aus ... bei jedem Glückspiel auf Rummelplätzen ... wie zum Beispiel dem Schale-und-ErbseSpiel ...« Fitzfarris schüttelte entschieden den Kopf. »Ein abgekartetes Spiel durchschaut jeder. Dazu braucht es keinen detektivischen Spürsinn, Sie sollten einmal einem x-beliebigen Schale-undErbse-Schwindler genau auf die Finger schauen. Er hat unweigerlich einen langen Fingernagel, unter dem er die Erbse verbirgt. Bei meinem Mausspiel jedoch braucht nichts hingebogen zu werden. Da gibt es einundzwanzig Löcher, auf die man setzen kann; und sagen tu’ ich, daß ich bei einer Chance von eins zu zwanzig den Gewinn auszahle. Nehmen Sie an, einundzwanzig Gaffer setzen je zehn Cent. Ich streiche sämtliche Zehn-Cent-Stücke ein und gebe dem Gewinner zwei Dollar-Scheine. In Wirklichkeit steckt er ja nur einen Gewinn von neunzehn Zehn-Cent-Stücken ein; ich jedoch, ich bin um einen Zehner reicher. Das schwankt natürlich, denn es kommt ja ganz drauf an, wer wieviel auf welches Loch setzt; aber das überzählige Loch – Nummer Null – fällt immer ans Haus, wie wir Spieler sagen.« »Ja, natürlich, verstehe«, sagte Florian. »Ich hatte nur gedacht ... daß Sie das Brett ab und zu mit dem Lappen abwischen ... vielleicht hätte das mit einer heimlichen Präparierung zu tun ...« »Das ist nichts weiter als Salmiakgeist. Wenn nämlich eine Maus ein paarmal ins selbe Loch läuft, könnte sie hinterher ihrer eigenen Witterung folgen und immer wieder dorthinein laufen. Deshalb wische ich das Brett nach ein paar Spielen immer -369-
wieder ab. Auf diese Weise bleibt Mortimer ehrlich.« Das erste, was Rouleau am nächsten Tag tat, war zu seiner geliebten Saratoga zu laufen. Dort öffnete er einen Messinghahn ganz unten an dem, was er das Anhängsel des Ballons nannte, und ein reichlicher Wasserstrahl kam herausgeblubbert und wurde mit Bedacht über den Rand der Korbgondel abgeleitet. »Anweisungen von den Technikern«, erklärte er denen, die ihm dabei zusahen. »Leuchtgas hat nämlich einen bestimmten Feuchtigkeitsgehalt, der in der Nachtkühle kondensiert. Schließlich wäre es sinnlos, mehr Gewicht mit hinaufzunehmen als unbedingt nötig.« »Vielleicht ist es heute morgen sinnlos, überhaupt irgend etwas zu tun, kedvesem«, meinte Paprika. »Maggie jedenfalls bleibt heute vormittag im Bett.« »Au Backe!« sagte Edge. »Sieht sie für den Aufstieg etwa Schlimmes voraus?« Paprika zog auf unnachahmlich beredte ungarische Weise die Schultern hoch. »Vom Ballon hat sie nichts gesagt. Nur von einem Rad hat sie gesprochen.« »Aha!« sagte Rouleau erleichtert. »Dann geh und mach Foursquare Fitz mal ein bißchen Angst. Er ist der einzige, der mit so etwas wie einem Rad oder Reifen arbeitet.« Voller Genugtuung klopfte er auf die Weidengondel. »Ich, Jules Fontaine Rouleau, fühle mich fürderhin befreit von so etwas Erdverhafteten wie einem Rad.« Paprika zuckte nochmals mit den Achseln und redete, während sie mit Obie Yount nach hinten ging, wo Phoebe dabei war, das Frühstück zu bereiten. »Jules redet von Erdverhaftetsein. Oijoi! Ich habe Akrobaten erlebt, die die haarsträubendsten Kunststücke vorführten, dabei alle möglichen Gefahren überlebten und dann hinterher bei irgendeinem erdverhafteten Unfall zum Krüppel wurden oder gar zu Tode kamen.« -370-
»Wie zum Beispiel?« fragte Yount, als sie sich auf den Boden hockten und auf ihr Frühstück warteten. Er genoß es ausgesprochen, zwischen Paprika und Pfeffer zu sitzen. »In Paris, da kannte ich eine Trapezkünstlerin, die war ebenso berühmt wie berüchtigt. Sie spannte ein Seil zwischen den Türmen von Notre Dame und tanzte darauf. Dafür war sie bekannt, aber die frommen Leute entrüsteten sich und erklärten, Unsere Liebe Frau werde sie ihres Sakrilegs wegen gewißlich strafen. Eine Woche später fiel sie von einem bateaumouche und ertrank in der Seine.« »Und weißt du noch, Matuschka?« sagte Pfeffer. »Dieser Australier in Warschau, der die Fette Dickmamsell spielte?« Und an Yount gewandt, erklärte sie diesem: »Das war ein Clown, der sich so tolpatschig anstellte, daß er ständig hinfiel und alle viere von sich streckte. Er trat dauernd in einen Eimer voll Wasser und spritzte alles voll. Keinen einzigen Knochen hat er sich jemals gebrochen, war’s nicht so, Matuschka? Und dann hat er sich eines Tages das Schienbein am Eimerrand aufgeschrammt. Durch das Färbemittel der Strümpfe entzündete sich die Schramme, und bei Gott, zuletzt mußte ihm das Bein abgesägt werden!« Sie schlug ein Kreuz und murmelte: »Heilige Muttergottes, steh mir bei!« »Sagen Sie mal, meine Damen«, meinte Yount. »Wo ich nun mein Stierkalb zurücklassen muß, hab’ ich versucht, Quakemaker-Kunststücke zu erfinden, zu denen man keine Kanone braucht. Und da habe ich daran gedacht ... wie wär’s, wenn ihr beide auf meinen Schultern eine Pyramide bauen würdet?« »Das gibt nicht viel her«, meinte Paprika. »Wie wär’s denn damit, wenn wir uns auf deine Schultern stellten und die SimmsGirls sich auf die unseren? Die könnten wir beide mit Leichtigkeit tragen – wenn du es schaffst, uns zu tragen.« »Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Yount und blähte seinen -371-
Brustkorb zu Faßgröße auf. »Ich wäre einverstanden«, sagte Edge, als Yount ihn aufsuchte und ihm die neue Nummer vorschlug. Dann bedachte er Yount mit einem für ihn typischen Grinsen und sagte gutmütig: »Ich weiß ja, daß du immer wieder mal unsterblich verknallt warst in eine von unseren Damen, Obie. Aber immer nur in eine zur Zeit! Hast du jetzt ein Auge auf beide Rotschöpfe geworfen?« Verlegen trat Yount von einem großen Fuß auf den anderen. »Nicht wirklich. Ich geb’ ja, zu, bei beiden läuft einem das Wasser im Mund zusammen. Aber diese Paprika, bei der krieg’ ich wirklich weiche Knie. Mit der würd’ ich mit Freuden mal anbandeln, und wenn sich die Gelegenheit ergibt, sag’ ich ihr das auch. Was halten Sie davon, Zack?« »Ich meine, du tätest besser daran, dich an einen Schandpfahl binden und zwicken zu lassen, Obie.« »Nun«, sagte Yount verärgert, »jedenfalls dank’ ich für die guten Wünsche!« »Nun hab’ dich mal nicht so, Partner. Ich hab’ doch bloß gemeint ... na ja ... Rothaarige stehen nun mal in dem Ruf, ziemlich kratzbürstig zu sein. Und wer weiß, wie erst so ein ungarischer Feuerschopf ist? Jedenfalls sieh dich vor, daß du nicht gestochen wirst!« Grinsend ließ Yount seinen Bizeps spielen. »Da muß schon ein Freitag auf einen Dreizehnten fallen, daß Quakemaker Angst vor einem kleinen bissigen Mädchen hat!« Mit stolzgeschwellter Brust stapfte er davon, und Edge sah ihm fast mitleidig nach. Obwohl es noch ziemlich früh am Tag war, hatte sich bereits eine große Anzahl der Bürger Baltimores zum Park aufgemacht, vornehmlich, um den Ballon zu bewundern, aber gleichzeitig auch in der Absicht, ihre Neugier in bezug auf das zu befriedigen, was sich rund um den Circus tat. Deshalb beeilten sich die Frauen der Truppe, nach dem Frühstück alles -372-
wegzuräumen, die über Nacht gewaschene und aufgehängte Wäsche abzunehmen und überhaupt das Gelände präsentabel zu machen. Sodann kletterten sie allein oder zu mehreren gleichzeitig in den Requisitenwagen, um ihre Alltagskleidung ab- und die Manegenkostüme anzulegen. Phoebe Simms war die erste und nahm Sunday mit, denn sie brauchte Hilfe beim Anziehen ihres weiten Kostüms – oder vielmehr dabei, es um sich herum zu drapieren – und während die beiden damit beschäftigt waren, fand einfach niemand sonst im Wagen Platz. Als Madame Alp tauchte Phoebe wieder auf, und um sich nicht unentgeltlich von den versammelten Einfaltspinseln anglotzen zu lassen, begab sie sich in den Zeltwagen, wo sie jedenfalls Magpie Maggie Hag Gesellschaft leisten konnte, die immer noch unter ihren Vorahnungen litt oder woran auch immer sie krankte. Als nächste verschwand Clover Lee im Requisitenwagen; zusammen mit Sunday stieg sie gerade in ihr Trikot, als Pfeffer und Paprika zu ihnen stießen. Die beiden weißen Frauen und das weiße Mädchen plapperten beim Ankleiden munter miteinander, wohingegen Sunday stumm blieb, sich unbeholfen in ihr fleischfarbenes Trikot zwängte und bemüht war, den anderen dabei nicht im Wege zu sein. Das war bei der Enge und dem Durcheinander nicht einfach, denn ständig wurde das eine oder andere hin und her gereicht, mußten Korsetts und Mieder geschnürt und der einen oder anderen etwas zugeknöpft werden, wechselten Tiegel mit Rouge, Puderdosen und Puderquasten, Cremes und Pomaden die Hände und halfen sie sich gegenseitig beim Schminken. Der kollegiale Ton, der zwischen allen Mädchen herrschte, ermutigte Clover Lee, Pfeffer und Paprika zu erzählen, was sie in Frederick City zufällig mitbekommen hatte: wie brave Christinnen sich entrüsteten, bei ihnen beiden die Achselhaare gesehen zu haben. Paprika und Pfeffer war das überhaupt nicht peinlich, und sie zeigten sich über den Bericht auch nicht betreten; sie bogen sich vielmehr vor Lachen, als Clover Lee -373-
schloß: »Sie haben gesagt, ihr müßt Italienerinnen sein.« Pfeffer und Paprika fielen sich um den Hals und kreischten vor Vergnügen. »Hast du da noch Töne?« entrüstete sich Pfeffer völlig außer Atem. »Ich hätt’ mir fast in die Hose gemacht.« »Ausgerechnet Italienerinnen! Daß ich nicht lache!« schnaubte Paprika. »Diese ahnungslosen alten Schachteln!« »Nun, ich weiß ja, daß ihr keine Italiener seid«, sagte Clover Lee. »Aber ist das etwas, das ihr von den Italienerinnen gelernt habt? Sich aus irgendeinem Grunde dort nicht zu rasieren? Ich hab’ Florian gefragt, aber der hat nur gehüstelt.« Was neuerlich einen Lachanfall zur Folge hatte. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, sagte Pfeffer fröhlich: »So ist das eben beim Schaugeschäft, meine liebe Colleen. Zumindest für uns Frauen! Wenn die Leute eine Frau mit brandrotem Haar sehen – eben mal keine langweilige Brünette oder Braune oder Mausgraue –, fragen sie sich sofort: Ist das auch ihre natürliche Haarfarbe? Frauen fragen sich das natürlich boshaft, Männer hingegen einfach voller Lüsternheit, weil sie bei ihren gewöhnlichen Frauen selten was anderes zu sehen kriegen als eine schwarze oder braune Muschi.« »Deshalb lassen wir keinen Zweifel daran, daß unser brandrotes Haar echt ist und wir schon so zur Welt gekommen sind«, sagte Paprika. »Wenn die Deppen einen Blick von unserem rötlichen Achselhaar erhaschen, wissen sie selbstverständlich verdammt gut, daß wir auch unten ein rotes Dreieck haben. Hier, überzeug dich selbst, Kind! Und so was macht die Männer wild – sich das insgeheim vorzustellen. Und macht ihre Weiber vor Neid wahnsinnig.« »Klar, und deshalb haben wir uns halb totgelacht, als man uns Italienerinnen nannte«, sagte Pfeffer. »Meine Güte, warum sollte eine brünette Welsche den Wunsch haben, so zu tun, als wäre sie nicht am ganzen Körper dunkelbehaart wie eine -374-
Niggerin? Womit ich nichts gegen dich gesagt haben will, da hinten in der Ecke, Alannah!« »Cela ne fait rien«, murmelte Sunday. »Hast du das gehört? ›Sally Blond-Anna!‹ « rief Paprika ebenso erstaunt wie entzückt. »Beim heiligen Istvan, dieses Kind ist kein neger mehr! Sunday, angyal, du wirst ja eine regelrechte Kosmopolitin!« Sunday schien nicht recht zu wissen, was das sein sollte oder ob sie das wirklich sein wollte, sagte aber immerhin schüchtern: »Monsieur Roulette bringt mir bei, wie eine Lady zu reden. Auf amerikanisch und auf französisch.« »Ach, angyal«, sagte Paprika, »wenn dir daran gelegen ist, dich auf unserer Europatournee weiter zu bilden, werd’ ich dir mit Freuden dabei behilflich sein. Magyarisch ist hoffnungslos schwer, aber mit Deutsch kommst du auch weiter, wenn wir in Ungarn sind, und Deutsch kann ich dir auch beibringen.« Gedrechselt wie aus einem Lehrbuch, sagte Sunday auf deutsch: »Verbindlichsten Dank, Mademoiselle Makkai. Ich wünsche, alles zu lernen, was ich kann.« Pfeffer machte ob dieses Angebots eine zweifelhafte Miene; vielleicht mißbilligte sie es auch, und als sie alle den Wagen verließen, flüsterte sie ihrer Partnerin eindringlich etwas ins Ohr. Clover Lee, die nichts lieber tat, als Heimlichkeiten zu lauschen, bekam nur die letzten paar Wörter mit. »... Erst einer deine Muschi zu zeigen und dann die andere Engel zu nennen! Soviel magyarisch kann ich schon lange.« Edge und Mullenax fetteten den Pferden die Hufe mit Ofenschwärze ein, als Florian geschäftig zu ihnen trat und sagte: »Seht bloß, wieviel Leute schon da sind, und das eine geschlagene Stunde vor Vorstellungsbeginn! Heute haben wir ganz Baltimore hier. Die Schwarzen bauen schon überall im Park Imbißbuden auf und verkaufen Schweineschwarten, Schildkrötensuppe, Limonade ...« -375-
»Davon haben wir zwar nichts«, meinte Edge, »aber die Menge bleibt bei Laune. Ich hab’ der Kapelle auch schon gesagt, sie soll mal was spielen, um sie zu unterhalten.« Mullenax fügte noch hinzu: »Jeder Gaffer, der nicht grad’ ißt oder bloß Nasen und Ohren aufsperrt, spielt Fitz’ Mausespiel. Er muß heute den ganz großen Reibach machen?« »Oh, ich beschwer’ mich ja nicht über den Zulauf, den wir haben«, sagte Florian. »Es ist bloß so, daß offensichtlich kein Mensch mehr in der Stadt ist, der sich die Vorstellung morgen noch ansieht. Und ich sehe keinen Sinn darin, vor leerem Haus zu spielen wie gestern. Das war’ doch ein Reinfall. Wir sollten morgen die Vorstellung einfach abblasen. Dann haben wir einen freien Tag und können in aller Ruhe abbauen, alles gut und fest verpacken und noch Vorräte für die Überfahrt einkaufen und brauchen übermorgen nichts zu überstürzen, wenn wir zum Hafen fahren, um uns einzuschiffen.« Bis auf ein paar arme Schlucker, die zu arm oder zu knauserig waren, den Eintritt zu bezahlen, kauften sämtliche Leute im Park Karten und sahen sich zunächst einmal Maximus und das Museum an. Und als Tim und Hannibal zur immer wieder mal aussetzenden Akkordeonbegleitung von Sunday Simms ›Wartet auf den Wagen‹ spielten, strömten die Leute ins Chapiteau und drängten sich dort wie die Heringe. Viele von ihnen setzten sich auf die Piste oder standen, wo immer sie einen Platz fanden. Nach der Pause, den eingestreuten kleinen Nummern sowie nach der Teilnahme an weiteren Mausspielen – während das Nachmittagspublikum noch die zweite Hälfte der Vorstellung genoß –, füllte sich der Park draußen bereits wieder mit Leuten, die frühzeitig gekommen waren, um vor der Abendvorstellung noch den Ballonaufstieg mitzubekommen. Sie kauften genug Karten, um den Pavillon nochmals zu füllen, und nachdem außerdem eine ganze Reihe von Leuten, die die erste Vorstellung gesehen hatten, beschlossen, auch noch die zweite abzuwarten und sich nochmals nach Karten anstellten, mußte -376-
Florian die letzten schließlich nach Hause schicken. Das tat er nicht unwillig, vielmehr mit Vergnügen, war es doch das erste Mal während der gesamten Tournee, daß der Circus ausverkauft war. Seinen Anweisungen entsprechend traf Jules Rouleau die Vorbereitungen für den Aufstieg mit größter Gemächlichkeit und verschaffte Fitzfarris damit reichlich Zeit, mit seinem Spiel mehr Geld denn je zu scheffeln. Da für den eigentlichen Aufstieg nicht mehr nötig war als das Loswerfen der Halteseile, bestand Rouleaus echte Vorbereitung in nichts anderem als aus dem Zeltwagen eine Strickleiter zu holen und diese in den Gondelkorb zu werfen – und das zu einem Zweck, den er keinem Menschen auf die Nase band. Florian drehte eines der Zirkusplakate dieweil zu einer Tüte und verkündete durch dieses primitive Megaphon der ihn umringenden Menschenmenge: »Monsieur muß das Nachlassen der Abendbrise bei Sonnenuntergang abwarten ... Für ein so tollkühnes Unternehmen bedarf es absoluter Windstille ... Doch selbst dann ist es immer noch außerordentlich gefährlich ...« Zwischen diesen wiederholten Aufrufen spielten Tim und Hannibal lauter Stücke, die ihnen einem Ballonaufstieg angemessen schienen – ›Näher, mein Gott, zu Dir ...‹ und dergleichen – und jedesmal, wenn Sunday die Melodie bekannt war, fiel sie mit ihrem Akkordeon ein. Schließlich jedoch, als die Leute anfingen zu murren und damit zu verstehen gaben, daß die Spannung der Ungeduld wich, und als Fitz’ Klientel das Geld für die Einsätze ausging, feuchtete Rouleau einen Finger an, hob ihn in die Höhe und nickte Florian feierlich zu, um ihm zu verstehen zu geben, daß er keinen Wind spüre. Dann sprang er mit einem Satz in die Gondel. Tims Kornett ließ eine erregende Tonfolge hören, Hannibal wirbelte auf seiner Trommel einen wilden Rhythmus, und Horian rief: »Männer an die Seile!« ... Pause ... und: »Leinen los!« Edge, Yount, Mullenax und Fitzfarris ließen gleichzeitig die -377-
vier Halteseile fahren, und die Saratoga machte einen munteren Satz nach oben. Gleichwohl hielten die vier Männer immer noch das Anker- und Einholseil, das bereits am Ballon befestigt gewesen war, als sie ihn erworben hatten. Hand über Hand ließen sie es auslaufen, damit der Ballon nur langsam, ruckhaft und keinesfalls auf besonders dramatische Weise in die Höhe stieg. Für die Zuschauer konnte es aussehen, als wäre es eine Stange, die das aufgeblähte Gebilde in die Höhe stieße. Tim, Hannibal und Sunday spielten, und sie und die anderen Heiteren Hottentotten sangen – ungefähr im selben Stakkato, mit dem die Saratoga in die Höhe ging – ›Blinke, blinke, kleiner Stern ...‹ Der Ballon konnte keine aufsehenerregende Höhe erreichen, denn das Ankerseil, das aus dem Korb ausrauschte, war nur rund hundertachtzig Meter lang, ehe die Männer es unten an den Pflöcken belegten. Doch wie dem auch sei – die Saratoga war wunderschön anzusehen, und wenn ihr Aufstieg auch nicht rasant gewesen war, er hatte zumindest etwas Majestätisches gehabt, und jetzt schwebte sie immerhin in einer Höhe, die jene von Baltimores Schrot-Turm um das Doppelte übertraf und diese Einrichtung zum Gießen von Kugeln war immerhin das höchste, was die Einheimischen zu sehen gewohnt waren; außerdem war das leuchtende Scharlachrot und Weiß der Ballonseide aus dem bereits im Schatten liegenden Park aufgestiegen bis zu einer Höhe, wo sie die Strahlen der untergehenden Sonne immer noch traf, und so leuchtete der Ballon, als wäre er selbst eine kleine Sonne. Nachdem die Zuschauer während des Aufstiegs ein langgezogenes, seufzendes »Ahhh« ausgestoßen hatten, löste sich plötzlich nochmals ein »Ahhh« von ihren Lippen, diesmal freilich, als ob sie die Luft anhielten – denn hoch droben hatte Monsieur Roulette offenbar den Verstand verloren und sprang aus dem Gondelkorb hinaus. Selbst die Circusangehörigen wurden überrascht, denn sie waren damit beschäftigt gewesen, das Halteseil zu belegen und -378-
hatten daher nicht mitbekommen, daß Rouleau vorm Hinausspringen die Strickleiter aus der Gondel geworfen hatte. Selbstverständlich hielt er sich an der Leiter fest, deren obersten Teil er innerhalb des Korbrunds befestigt hatte, und führte jetzt dieselben akrobatischen Kunststücke und Verrenkungen vor, die er unten in der Manege an seiner Leiter vorführte – und die Menge lachte und schluchzte vor Erleichterung, brach in Hochrufe aus und klatschte vor Vergnügen. Die meisten zumindest. Irgend jemand zupfte Florian am Ärmel und sagte mit eisiger Stimme: »Sir, man hat mir gesagt, Ihr wäret der Besitzer dieses Unternehmens.« Als Florian sich umdrehte, sah er einen Herrn mit bekümmert langem, von anglikanischen Sechstagefransen gesäumten Gesicht. »Der bin ich, Sir. Ich darf annehmen, daß die Vorstellung Ihnen gefällt.« »Freude und Vergnügungen sind nicht unser Lebensziel, Sir«, sagte der Mann und zeigte auf die anderen Leute, die mit ihm gekommen waren zwei oder drei Männer und ein paar Frauen, die sämtlichst den Ausdruck frommer Betroffenheit zur Schau trugen. »Wir repräsentieren den Büreerkreuzzug, und man hat uns zur Kenntnis gebracht, daß zu Ihrer sogenannten Unterhaltung auch ein gewisses Glücksrad gehört.« »Grundgütiger Himmel!« murmelte Edge, der an Florians Seite stand. »Maggie Hag hat also wieder einmal recht.« Sanftmütig meldete Fitzfarris sich zu Wort: »Das Rad, wie Sie es nennen, gehört mir. Und wenn Sie hier sind, um sich zu beschweren, kann ich Ihnen versichern, daß es sich um ein ehrliches Spiel handelt.« »Ehrlich oder unehrlich – darum geht es uns nicht«, sagte der Mann. »Wir sind nur daran interessiert, dem unschuldigen Opfer dieser Ungeheuerlichkeit und Würdelosigkeit zu Hilfe zu eilen.« Fitz schien bestürzt. »Gewiß, einige haben Geld verloren, das gebe ich zu. Aber Ungeheuerlichkeit? Würdelosigkeit? Ich -379-
verstehe nicht ...« »Wir wünschen, daß Sie uns dieses Spiel zeigen«, sagte eine Frau mit einem Pfannkuchengesicht. »Warum nicht«, sagte Fitzfarris. »Aber im Augenblick hängt unser Kollege dort oben mitten zwischen Himmel und Hölle, und ...« »Und zwar augenblicklich«, sagte die Frau. »Sonst müssen wir den Konstabler holen.« Florian sagte zu Fitz: »Monsieur Roulette droht keine Gefahr. Er wird noch eine Weile seine Kapriolen schießen. Gehen Sie und holen Sie Ihr Brett, Sir John.« Fitzfarris kam mit dem Waschzuber und seinen Spielapparat zurück. Dann langte er in die Tasche und zog sein Mäuslein hervor, das erst einen Brocken Käse loslassen mußte, mit dem es gerade beschäftigt war. »Sie unterbrechen Mortimer bei seiner Mahlzeit«, sagte er und setzte die Maus auf das Brett. »Was jetzt passiert – die Spieler raten, in welchem Loch er verschwinden wird. Und Mortimer wählt von sich aus, in welchem. Völlig ohne jeden Zwang, ohne Trick. Sehen Sie? Diesmal war es Nummer siebzehn. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dies Spiel zu manipulieren, daran zu drehen oder es vorauszubestimmen.« »Genau so, wie wir vermutet haben«, sagte eine Frau mit einer Frisur wie aus Eisen. »Tierquälerei!« Fitzfarris war zwar darauf vorbereitet, sich gegen den Vorwurf der Schwindelei, des Betrugs oder der Taschenspielerei zu verteidigen, doch diese Beschuldigung traf ihn völlig unvorbereitet. Einigermaßen aufgebracht sagte er: »Lady, Sie und Ihre Freunde waren es, die Mortimer bei seiner Mittagspause gestört haben. Sehen Sie etwa, daß ich ihn quäle?« »Wenn auch vielleicht keine offenkundige Tierquälerei«, sagte einer der Männer, »dann jedenfalls eine Perversion der natürlichen Verhaltensweise des Tieres und eine Verletzung seiner Würde.« -380-
»Würde?« sagte Fitzfarris ungläubig. »Mann, was Sie hier vor sich sehen, ist eine ganz gewöhnliche Feldmaus. Kein edles Pferd, das mißhandelt wird. Nichts weiter als eine Maus – die genau das tut, was Mäuse tun –, nämlich in einem Loch verschwinden.« »Aber auf Ihre Aufforderung hin«, sagte eine der Frauen eisig. »Nicht aus eigenem Antrieb. Das Geschöpf wird ohne jedes Mitgefühl erniedrigt.« Jene Hälfte von Fitz’s Gesicht, die nicht blau war, war mittlerweile puterrot angelaufen; er schien sprachlos und einem Schlaganfall nahe; da sah Florian sich genötigt einzugreifen. »Madame, vielleicht lassen Sie dieser Maus ein übertriebenes Maß an Sorge zukommen; denn diese Maus steht im Augenblick gewissermaßen im Rampenlicht und ist eine Berühmtheit. Doch überlegen Sie mal. Wenn Sie dies Nagetier in Ihrer Küche umherlaufen sähen – würden Sie dann nicht ein unliebsames Gezücht darin sehen? Würden Sie sie nicht töten – als wäre es eine Küchenschabe?« »Das ist etwas völlig anderes!« Die Dame blieb unerschütterlich. »In dem Fall würde das Tier seiner normalen Lebensweise und auch seinem normalen Überlebensinstinkt folgen. Hier jedoch wird es zu widernatürlichen Handlungen gezwungen.« Jetzt war auch Florian mit seiner Weisheit am Ende. Er konnte nur stottern: »Widernatürliche Handlungen? ... Eine Feldmaus?« Am liebsten hätte Edge sich aus dieser Farce herausgehalten, doch begriff er, daß diese Eiferer imstande wären, ihre Nase auch noch in andere Dinge zu stecken, die sie nichts angingen, und etwa die Freilassung des Löwen, des Elefanten oder von Barnacles Schweinchen zu verlangen. Selbst wenn es sich um nichts weiter handelte als eine unliebsame Einmischung, konnten sich daraus Verzögerungen ergeben, und die Pflichttreu -381-
sollte in drei Tagen aus dem Hafen auslaufen. Die Liebenswürdigkeit in Person, sagte er daher: »Verzeihung, Leute. Wenn ich recht verstanden habe, erheben Sie Einwände, daß in Sir Johns kleinem Spiel ein Säugetier Verwendung findet. Irgend jemand hat gerade eben eine Küchenschabe erwähnt. Wären Ihre Bedenken und Ihre Empfindlichkeiten beruhigt, wenn wir die Maus durch eine Küchenschabe ersetzen?« Keiner lachte über diesen zusätzlichen Abstieg ins Lächerliche. Die Mitglieder des Bürgerkreuzzugs tauschten fragende Blicke. Der Mann mit dem anglikanischen Sechstagebart kratzte sich sinnend in demselben und murmelte: »Hm ... nun ja ... eine Küchenschabe gehört zur Klasse der Wirbellosen ... und damit zweifellos einer niederen Stufe der Schöpfung an ...« Woraufhin Edge rasch sagte: »Sir John, eine kräftige Küchenschabe tut es doch auch, nicht wahr?« Und noch ehe Fitz etwas dazu sagen oder auch nur in kreischendes Gelächter ausbrechen konnte, wandte sich Edge flugs an die Bürger: »Also abgemacht. Dann soll es eine Küchenschabe sein. Und vielen Dank Ihnen, werte Leute, uns auf den rechten Weg zurückgebracht zu haben. Würden nun Sie, Madame, die Güte haben, diese Maus Mortimer in Ihre Obhut zu nehmen?« Die Dame, an die er sich wandte, wich entsetzt einen Schritt zurück. »Dann lassen wir sie also frei? Sehr wohl. Sir John, lassen Sie Mortimer zurückkehren in seinen natürlichen Lebensraum.« Langsam und fassungslos den Kopf schüttelnd, kniete Fitz nieder und setzte das kleine Geschöpf auf den Boden, das sofort davonflitzte, während Florian, Edge und Fitzfarris sich umdrehten, um ihren Posten an den Halteseilen des Ballons wieder einzunehmen. Florian hingegen knurrte: »Himmelherrgott, bin ich froh, aus diesem scheinheilig winselnden Land rauszukommen! Unserer Sprache wegen hat man uns geschmäht, dafür, daß wir unsere Wäsche zum -382-
Trocknen ins Freie hängen, daß wir uns nicht die Achseln rasieren, und jetzt wieder dafür, daß wir einer Maus einen einträglichen Job gegeben ...« Ein allgemeines Atemholen der Menge unterbrach ihn, und alles stob auseinander, als das Landungsseil heruntergesaust kam und die Seilrolle in ihrer Mitte landete. Alle wandten sie den Blick nach oben – nur um festzustellen, daß Rouleau seine Kunststücke beendet hatte, wieder in den Korb hineingeklettert war und seine einzige Verbindung zur Erde hinuntergeworfen hatte. Sofort stieg die Saratoga noch um ein Stückchen und trieb seitlich über die Hügelkuppe hinweg. Gleichwohl schien Rouleau es nicht darauf angelegt zu haben, sich wegtreiben zu lassen; denn er hatte gleich darauf an dem Strick gezogen, der mit dem Ventil oben auf dem Scheitel des Ballons verbunden war. Aus dem bislang birnenförmigen Sack wurde ein zunehmend karottenförmiges Gebilde, das jetzt tiefer ging. Immer dünner und länger, und dabei so faltig werdend, daß die breiten rotweißen Keile zu schmalen Streifen wurden, sank er in einiger Entfernung, aber immer noch im Druid Hill Park zu Boden. Sanft setzte der Korb auf dem Rasen auf, Rouleau zog an der Reißleine, der Ballon verlor das letzte Gas, bauschte sich, flatterte am Boden und sank immer mehr in sich zusammen. Unter weiteren Hurrarufen und Beifallgeklatsche lief die Menge auf die Stelle zu, wo der Ballon niedergegangen war. Edge, Fitz, Florian und Mullenax rannten gleichfalls hinzu, um zu verhindern, daß jemand auf die kostbare Ballonseide trat. Als Rouleau sich aus der Gondel hinauswand und unter den Stoffalten hervorkroch, umringten die Leute ihn, um ihm die Hand zu schütteln und ihm aufmunternd auf den Rücken zu klopfen. Nachdem er sich die Gratulanten vom Hals geschafft hatte, trat er strahlend, schwitzend und überhaupt ein wenig gerötet auf Florian zu und sagte: »Verzeihen Sie, Monsieur le Proprietaire – und auch Sie, Moniseur le Directeur –, aber ich konnte der Versuchung, für einen kurzen Augenblick die -383-
absolute Freiheit zu erleben, einfach nicht widerstehen.« »Ist schon in Ordnung, Jules«, sagte Edge. »Hauptsache, Ihnen ist nichts passiert. Jedenfalls war Ihre Vorführung der krönende Abschluß des ganzen Unternehmens.« »Und der Himmel weiß, wann wir Ihnen dazu wieder werden Gelegenheit geben können«, sagte Florian. »Aber packen wir das Ding zusammen, ehe die Gaffer auf die Idee kommen, sich als Andenken kleine Fetzen davon abzureißen.« Fitzfarris und Mullenax waren bereits damit beschäftigt, Ballon und Seile geradezuziehen, und Edge beeilte sich, ihnen dabei zur Hand zu gehen. Rouleau lief, um den Ballonwagen zu holen. Die drei waren immer noch dabei, die Saratoga zu straffen und zu einem Bündel zu verschnüren, als hinter ihnen Unruhe aufkam – Rufe wurden laut, Schritte waren zu hören und dann der deutliche Ruf: »Ist vielleicht ein Arzt unter den Anwesenden?« »Da muß was passiert sein«, sagte Florian, zögerte jedoch, den Ballon unbeaufsichtigt liegenzulassen. »Warum kommt Monsieur Roulette nicht mit dem Wagen?« Statt dessen kam der kleine Quincy Simms angelaufen und berichtete atemlos: »Oij! Master Jules hat sich was getan. Ihr sollt alle kommen.« »Was? Wieso? Was ist passiert?« »Er springt auf den Wagen zu, der Gaul scheut, Master Jules kriegt ein Bein in die Speichen und: krrachch!« »Großer Gott«, sagte Florian. Die anderen liefen, so schnell sie konnten. »Ali Baba, du bleibst hier und paßt auf die Saratoga auf. Laß keinen Menschen ran!« Dann lief auch Florian. Rouleau war bereits auf die Persennig im Ballonwagen gebettet worden. Er war kreidebleich im Gesicht und knirschte mit den Zähnen; ein älterer Herr mit einem Kneifer auf der Nase -384-
tastete ihm vorsichtig das Bein ab. Einige Circusangehörige lugten eifrig über die Wagenseiten hinweg, während andere die Leute abhielten näherzukommen. Als Florian sich hineinlehnte, öffnete Rouleau die zusammengebissenen Zähne, sah ihn mit einem gequälten Lächeln an und sagte leise: »Zweimal am Tag riskiere ich es auf der Erde, mir die Knochen zu brechen ... heute oben am Himmel noch ein drittes Mal ... und jetzt ... regardez! Vielleicht hab’ ich es mir selbst zuzuschreiben. Peter plus haut que le cul ...« »Chut, ami. C’est drólement con. Wie schlimm ist es, Doktor?« Der Arzt schüttelte den Kopf, nahm den Kneifer ab und schürzte die Lippen. Dann kletterte er vom Wagen hinunter und nahm Florian beiseite, ehe er redete. Edge drückte sich ganz in ihrer Nähe herum. »An drei Stellen gebrochen, und das ist noch wenig für sein Alter. Der Mann muß die Knochen eines Heranwachsenden haben.« »Richtig, er ist außergewöhnlich gelenkig. Und das ist gut, nicht wahr? Sie werden doch rasch und sauber wieder zusammenwachsen, oder?« »Das ist ja gerade das Schlimme, Sir. Eben weil die Knochen so biegsam sind, handelt es sich um Grünholzfrakturen und komplizierte Mehrfachbrüche. Die aufgesplitterten Bruchstellen haben Fleisch und Haut durchstoßen. Selbst wenn es gelingen sollte, die Bruchstellen wieder zusammenzufügen, würde das einen Monat oder noch länger strikte Ruhe bedeuten. Und während dieser Zeit eine verminderte Blutzirkulation, so daß größte Gefahr besteht, daß die Fleischwunden brandig werden.« »Und was raten Sie uns?« flüsterte Florian. »Ich sage: amputieren.« »Grundgütiger Himmel!« entfuhr es Edge. »Der Mann ist -385-
Berufsakrobat.« »Es steht Ihnen selbstverständlich frei, sich noch eine andere Meinung einzuholen. Nur rate ich Ihnen, keine Zeit zu verlieren.« Florian zwirbelte seinen Bart. Edge fuhr herum und bellte: »Abner!« »Ich bin kein Doktor!« sagte Mullenax und wich entsetzt zurück. »Aber mit Hammer und Hobel können Sie umgehen. Suchen Sie sich ein paar Bretter, mindestens fünf Fuß lang. Und wenn Sie keine finden können, reißen Sie sie aus dem Musikpodium heraus. Du da, Sunday! Du und Tim und Hannibal – dudelt irgendwas, Hauptsache, es ist schön laut. Fitz, reden Sie dem Löwen gut zu! Florian, sorgen Sie dafür, daß die Vorstellung beginnen kann, und sobald sie läuft, kommen Sie wieder her. Doktor, würden Sie die Freundlichkeit haben, noch einen Moment hierzubleiben, solange ich mit dem Patienten rede?« »Das nächste Krankenhaus ist das St. Joseph’s Hospital. Je schneller wir ihn dort hinbringen ...« »Wir sollten uns zumindest anhören, was er selber dazu zu sagen hat. Ich bin gleich wieder da.« Behutsam kletterte Edge in den Wagen, um ihn nicht zum Schwanken zu bringen, kniete nieder und sagte: »Wir haben keine Zeit, Ihnen diese Pille zu versüßen, Jules. Sie haben die Wahl – entweder mit nur einem Bein weiterzuleben oder vielleicht mit beiden zu sterben.« Plötzlich kreideweiß, lief Rouleau leicht grün an. Edge fuhr fort: »Der Arzt kann es absägen, und Sie werden zwar Schlagseite haben, dafür aber leben. Oder aber ich laß dem Bein die Behandlung angedeihen, mit der ich mal ein ganzes Pferd gerettet habe. Sagen Sie, wofür Sie sich entscheiden.« -386-
Rouleau zögerte keinen Augenblick. Wieder setzte er das gequälte Grinsen auf und sagte: »Ich bin aber nicht so gut wie ein Pferd, ami. Ich habe es verdient zu sterben.« »Versuchen Sie, immer daran zu denken; dann wiehern Sie jedenfalls und schreien nicht, wenn’s weh tut.« Rouleau lachte, doch dann knirschte er wieder mit den Zähnen. »Doktor«, sagte Edge über die Wagenseite hinweg, »er hat sich entschlossen, es drauf ankommen zu lassen. Wir danken Ihnen trotzdem.« »Was heißt, drauf ankommen lassen?« protestierte der Mann, doch Edge hatte sich bereits abgewandt und rief nach Sarah. Kopfschüttelnd folgte der Arzt dem Rest der Menge, um sich den Löwen anzusehen, den Fitzfarris so laut anpries. Mullenax kam mit einem Armvoll dünner Bretter, einem Hammer, Säge, Nägeln und einem seiner ewig bereiten Krüge. Rouleau nahm einen tüchtigen Schluck Whiskey, während Edge Mullenax in Eile anwies, einen flachen, schmalen Holztrog zu zimmern, der Ähnlichkeit mit einem Blumenkasten hatte, nur daß eine Stirnseite offenbleiben sollte, damit man Rouleaus Bein hineinlegen und sein Fuß gegen das geschlossene andere Ende drücken konnte. Am Boden und an der Innenseite war der Trog gerade lang genug, daß er von Rouleaus Schritt bis zu seiner Fußsohle reichte, während die Außenseite so lang gemacht wurde, daß sie ihm bis zur Achselhöhle hinauf reichte. Edge wandte sich an Sarah. »Lauf und hol einen Sack von der Kleie, die wir für die Pferde eingekauft haben, dazu eine Flasche Karbolineum und aus unserem Feuerholzvorrat ein paar lange dünne Stecken sowie ein paar Stoff streifen, die ich als Binden benutzen kann. Abner, du wirst Jules festhalten, damit er sich nicht muckst, wenn ich ihm das Bein langziehe. Vielleicht kann ich die zerbrochenen Knochenenden wieder zusammenfügen. Und Sie, Jules, Sie brauchen bloß zu wiehern wie eine ganze Herde Mustangs, denn es wird höllisch wehtun.« Edge wartete, bis die Musik und der Lärm der Menge aus dem -387-
Chapiteau den Höhepunkt erreichten, dann begann er eben unterhalb des obersten Bruchs zu ziehen. Wiehern konnte man das, was Rouleau tat, nicht nennen; er heulte und schrie. Sarah verzog das Gesicht und hielt sich die Ohren zu. Doch Edge fühlte, daß die drei Schwellungen am Bein eine nach der anderen zurückgingen, verfolgte mit den Augen, wie die gezackten Knochenenden zurückrutschten unter das blutige Fleisch und – wie er hoffte – dort wieder einrasteten, wo sie eigentlich hingehörten. Ehe das getan war, hatte Rouleau aufgehört zu schreien, und Mullenax brauchte sich nicht mehr auf ihn zu stemmen, um ihm jede Regung unmöglich zu machen – er war ohnmächtig geworden. Dann legte Edge die Stecken ans Bein, um es zu schienen, und umwickelte alles fest mit Stoffstreifen. Gemeinsam mit Mullenax legte er das bandagierte Bein in den neugezimmerten langen Trog, legte das längste Brett an Rouleaus Linke zwischen Brust und Arm und zurrte es mit Hilfe von Binden, die ihm um Hüfte und Brust gewickelt wurden, fest. »Sarah«, sagte Edge, »ehe er wieder zu sich kommt, reiben Sie die Fleischwunden tüchtig mit Karbolineum aus, daß es gut brennt.« Während sie dies tat, riß Edge den Sack auf, den sie herbeigeschafft hatte, ließ die Kleie in den Trog rieseln und stopfte sie um das Bein herum und obendrauf fest. »So«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Auf diese Weise kann er sich kaum rühren; gleichzeitig aber kann Luft ans Bein heran. Sarah, Sie und Maggie können die Kleie einfach wegkratzen, wenn Sie die Wunden behandeln müssen. Ich nehme an, Maggie weiß, wie man sie vernäht und was man drauftut. Hinterher kommt wieder dicke Kleie drauf und wird festgestopft. Jules wird vielleicht zwei Monate lang stramm liegen müssen. Aber mit ein bißchen Glück kommt er durch und hat hinterher sogar ein einigermaßen brauchbares Bein. Bei einem Pferd hat’s jedenfalls mal geholfen. Komm, -388-
Abner. Solange er noch nicht wieder bei sich ist – laß ihn uns rüberbringen in den Requisitenwagen, in dem er ja zu schlafen gewöhnt ist.« Nach getaner Arbeit fuhren Edge und Mullenax mit dem Ballonwagen los, die Saratoga und Quincy einzusammeln; dann beeilten sie sich, den Rest der Vorstellung noch mitzubekommen. Es war höchstwahrscheinlich das letztemal, daß das FLORILEGIUM in den Vereinigten Staaten von Amerika auftrat; außerdem mußte die Zirkustruppe den Ausfall von Monsieur Roulette wettmachen; die Artisten mußten also ihr Bestes geben. Barnacle Bill fand, jetzt lange genug gezögert zu haben, brachte den Käfigwagen des Löwen ins Zelt, kletterte selbst hinein und ließ Maximus den größten Teil seines Repertoires absolvieren – Sitzen, Niederlegen, Sichherumwälzen, Toten-Löwen-Spielen – nur, daß er dem Löwen nicht gerade den Kopf in den Rachen steckte oder dem Publikum vormachte, er werde »gebissen«. Der Quakemaker ließ die Stierkalbkanone – weil es doch die letzte Vorführung dieser Art überhaupt war – so oft über sich hinwegrollen, daß er hinterher völlig grün und blau war, und seine neueste Nummer fast nicht hätte vorführen können; er tat es trotzdem. Er ließ erst Pfeffer und dann Paprika auf sich hinaufklettern und je auf einer Schulter Aufstellung nehmen. Dann kletterten die Simms-Drillinge nicht ganz so anmutig an ihm und auch an den beiden Frauen hinauf, um diesen zu dritt nebeneinander auf den Schultern zu stehen – wobei die Frauen sich mit festverschränkten Händen zur Seite lehnten und somit aus sechs Leibern einen baumhohen Fächer bildeten. Florian und Tiny Tim mischten Lokalkolorit unter die bekannte Ansage – »Au! Den Tritt hab’ ich mir auf der Pratt Street geholt!« – und als Sir John beim Singen von Madame Solitaires Hymne für Monsieur Rouleau einsprang, wandelte er den Text leicht ab: ... Aus tiefstem Herzen verehr’ ich sie ..., Solitaire ist die Königin aller Reiter, so meine ich, Doch jetzt gehört sie -389-
Baltimore! Magpie Maggie Hag brauchte jetzt, wo ihre Vorahnung sich bewahrheitet hatte, nicht mehr darniederzuliegen – wobei man sich fragt, welches von den ›Rad‹ -Mißgeschicken es denn nun war, das sie vorausgesehen hatte – und las in der Pause in unzähligen Handflächen. Draußen vorm Zelt pries Sir John, seines Mausspiels beraubt, umständlich und wortgewaltig jede einzelne Nummer an, die drinnen gegeben wurde, und schloß mit Madame Alp: »... und jetzt wird das phänomenale Weib Andenken an ihre Ungeheuerlichkeit verteilen, klassische Vervielfältigungen von sich selbst. Sie können sie behalten, meine Herrschaften – für die Kleinigkeit von fünfzig Cent. Das ist die Gelegenheit, in Baltimore an so was heranzukommen. Sie können Madame Alp für ein Fünfzehntel Cent pro Pfund mit nach Hause nehmen.« »Haben Sie das auch gesehen, Fitz?« sagte Pfeffer hinterher zu ihm. »Nachdem die Gaffer die Visitenkarten der Fetten Dickmamsell kauften, war da ein Mann – ein Schwarzer –, der ihr alle abkaufte, die sie noch übrig hatte?« »Nein, das habe ich nicht gesehen. Aber was soll’s? Manche Männer mögen Frauen, an denen tüchtig was dran ist.« »Macht nichts. Nur daß mich das auf die Knilche in Europa gebracht hat, die ich erlebt hab’, wie sie sich rangeschlichen und versucht haben, für ein oder zwei Nächte irgendwo eine Mißgeburt anzuheuern.« »Ich werd’ ein wachsames Auge auf sie haben, aber ich bezweifle, daß jemand mit der durchbrennt.« Das tat auch keiner. Zumindest war Phoebe Simms nach dem ›Lorena‹ -Umzug und nachdem sich das Chapiteau geleert hatte, immer noch unter den Zirkusangehörigen und hatte bereits eine kräftige heiße Mahlzeit für die Kollegen bereitstehen. Sunday trug einen Teller zum Requisitenwagen, um Rouleau zu füttern, doch der hatte Mullenax’ Krug dabehalten und verspürte -390-
keinerlei Hunger, ja, er verspürte überhaupt nichts Unangenehmes. Nachdem die Truppe gegessen hatte, lagen die meisten von ihnen einfach im sommerlichen Dunkel da, unterhielten sich und rauchten. Edge machte einen letzten Rundgang. Das Chapiteau blinkte metallisch, jetzt, wo das Mondlicht vom Tau reflektiert wurde, und glomm nur blaß von innen, wo Hannibal und Quincy unter einer einzelnen Sturmlaterne schliefen. Das Zelt selbst schien verschlafen zu atmen, als ob es lebte, denn die kleinen unregelmäßigen Brisen, die hindurchgingen, ließen die Leinwand rascheln, und die Taue, der Kronleuchter und die Piste knarrten und knurrten. Als Edge seinen Schlafsack im Freien unter den Sternen ausrollte, waren nur noch Phoebe und Magpie Maggie Hag wach, saßen vor der Kohlenglut des Lagerfeuers und flüsterten miteinander. Nachdem Phoebe zu ihrem Wagen gewatschelt war, blieb Magpie Maggie Hag den größten Teil der Nacht hindurch wach, um immer wieder nach Rouleau zu sehen. Meistens schlief er, wenn auch fiebrig und unruhig. Sie zögerte, ihn allzusehr mit Laudanum zu betäuben, wo er doch ohnehin schon eine Menge Whiskey intus hatte; das wollte sie nur tun, wenn er wirklich wild wurde und um sich schlug oder aus dem schweren Trog herauswollte, in dem sein Bein festgebunden war – doch das tat er nicht. Ja, als am Morgen Edge kam, um ihn sich anzusehen, war Rouleau einigermaßen auf dem Damm und brachte sogar ein Lächeln zuwege, als er sagte: »Zut alors, Fitzfarris’ Mäuse haben es gut gehabt. Die ganze Nacht über sind sie gekommen und haben von der Kleie in meiner Kiste gemaust. Schmerzen und Langeweile halte ich schon aus, ami, aber muß ich es ertragen, daß mir rachsüchtiges Gezücht jede Nacht das Bein von oben bis unten durchkitzelt?« »Seien Sie froh darüber«, sagte Edge. »Solange die Mäuse Sie noch kitzeln, steckt noch Leben in Ihrem Bein und leben Sie selbst auch noch.« Der Abbau des Chapiteau ging nicht ›gemächlich‹ vonstatten, -391-
wie Florian es genannt hatte, aber immerhin langsam, obwohl sonst keiner von der Mannschaft fehlte. Das ganze dauerte bis Mittag, und bis dahin hatten die Frauen die andere komplizierte Packerei geschafft, die Wagen beladen und entschieden, was während der Seereise nicht benötigt würde, und was man ab und zu doch brauchte. Nachdem alle zu Mittag einen Happen gegessen hatten, rief Florian die gesamte Truppe zusammen. »Ladies and Gentlemen, ich werde jetzt nochmals eine Runde Gage auszahlen. Und wer mich hinterher in die Stadt begleiten möchte, kann das tun und den Nachmittag damit zubringen, alles einzukaufen, was man sonst noch für die Reise braucht.« Die Frauen nickten einander zu und verglichen ihre Notizen, was ihrer Meinung nach gebraucht wurde. Edge schätzte per Fingerschnippen ab, wieviel Vorräte ein jedes Tier brauchen würde. Mullenax brummelte, er tue wohl gut daran, sich einen guten Vorrat an flüssigem Seelentröster zuzulegen; und solange er unten in der Stadt sei, könne er sich auch noch einiges an horizontalem Trost leisten. »Noch ein Rat, und zwar für alle«, sagte Florian. »Kauft nicht mehr ein, als ihr wirklich braucht, um damit bis nach Italien zu kommen, denn ihr könnt mir glauben: drüben ist alles billiger als hier.« »Master Florian«, ließ Phoebe Simms sich vernehmen. »Darf ich’n diesmal auch mit?« »Aber gewiß doch, warum nicht, Madame Alp. Jetzt schadet es ja nichts, wenn die Öffentlichkeit Sie en deshabille sieht.« »Naja, ich wollt’ aber gar nich’ mit den andern gehn; ich wollt’ dahin, wo die Schwarz’n woh’n.« »Grundgütiger Himmel!« murmelte Sunday verlegen und verärgert zugleich. »Er meinte, ohne Kostüm.« Alle gingen, bis auf Maggie Magpie Hag, die zurückblieb, um Rouleau zu pflegen, und bis auf Hannibal, der blieb, um alles andere zu bewachen. Sie schafften es, sich alle in Florians -392-
Kutschwagen sowie das Gefährt zu quetschen, das am wenigsten beladen war, und das war der Ballonwagen. Sie fuhren von den luftigen Höhen hinunter in das stinkende Baltimore und hielten unten am Schrot-Turm der Kaufleute. »Dieses Gebäude sieht man von jedem Punkt in der Stadt«, sagte Florian. »Deshalb werden wir uns hier wieder treffen, und zwar gegen Sonnenuntergang.« Edge und Yount fuhren im Ballonwagen davon, um eine Futterhandlung und einen größeren Fleischmarkt zu suchen. Die anderen gingen allein oder zu zweit in alle Himmelsrichtungen auseinander, und Phoebe Simms trennte sich sogar von ihren Kindern. Etliche Stunden später waren sie und Florian die ersten, die wieder zur Stelle waren. Er lag hingegossen auf dem Kutschwagen, spielte schlaff mit der Peitsche und versuchte die Fliegen zu vertreiben, die sich auf Snowballs Rumpf niedergelassen hatten, als Phoebe entschlossen auf ihn zugewatschelt kam. »Ah, Madame Alp, haben Sie erledigt, was Sie im Schwarzenviertel zu tun hatten? Wie ich sehe, haben Sie sich einen Hut gekauft. Ein ... errrr ... richtiges Schmuckstück, wie ich sagen muß.« »Verbindlichst’n Dank. Un’ darf ich Sie was frag’n, Mas’ Florian? Isses nach’m Gesetz so, daß ich jetzt euch gehör’, bloß weil ich mit euch weggelauf’n bin?« »Aber wieso denn? Natürlich nicht. So was wie Sklaverei gibt es doch nicht mehr. Sie sind genauso frei wie jede weiße Frau, die Sie hier herumlaufen sehen. Meine Güte, haben wir es irgendwie geschafft, Ihnen das Gefühl zu geben, daß Sie nur eine Sklavin für uns wären?« »Nö, Sir. Das isses ja grade, warum’s mir so schwerfällt, Ihn’ zu sag’n, was ich zu sag’n hab.« »Wie bitte?« »Ich will nämlich heirat’n, verstehn Sie.« -393-
»Sie wollen heiraten?« »Ja, Sir. ’n feiner farbiger Herr hat um mich geworb’n. Vielleicht ha’m Sie ihn sogar geseh’n. Gelbe Schuh’ un’ Angströhr’? Er is in alle vier Vorstellung’n gewes’n, hier in Baltimore, bloß um mich zu anzuglubsch’n! Un’ hat alle meine Biller gekauft, bloß um mit mir zu red’n. Jetzt ha’m wir uns in sein Haus getroff’n und bschloss’n, daß wir heirat’n.« »Aber ... aber ... Madame Alp, Sie sind unsere unersetzliche Fette Dickmamsell!« »Das isses ja grad’, was Roscoe so gefällt. Er is’n bißchen enttäuscht, daß ich nich’ wirklich ganz so fett bin wie auf den Billern, aber er sagt, er wird mich schon noch’n bißchen mäst’n. Irgendwie kanner sich’s wohl leist’n. Er hat nämlich ’ne hohe Stelle als Vorarbeiter im Trock’ndock der CHESAPEAKE AND MAINE, ’ner Niggerfirma hier in Baltimore, gegründet von frei’n Niggern, un’ die Arbeiter, das sin’ auch alles Nigger, un’ das Unternehm’ blüht un’ gedeiht. Roscoe is’ ’ne große Nummer da. Er hat’n hübsches Haus, un’ Pferd un’ Wag’n ...« »Nun, da kann ich ihm nur gratulieren, und der Firma auch, und ... ja und Ihnen natürlich. Bloß ... das kommt ja wie aus heiterem Himmel. Ausgerechnet am Tag vor unserer Abfahrt Sie und die Drillinge zu verlieren und ...« »Nö, Sir. Für die Brut von annere Männer hat Roscoe nich’ soviel übrig. Er will, daß wir noch mal ganz von vorn anfang’n, un’ wir zusamm’ noch Kinder krieg’n.« »Madame Alp! Sie bringen es fertig, Ihre Kinder im Stich zu lassen?« »Die Mädchen sin’ja längst keine Kinder mehr, Mas’ Florian. Die ha’m alle innen letzt’n paar Woch’n ihre Tage bekomm’n. Das sin’ jetzt Frau’n und könn’ sich um Quincy kümmern. Sie brauch’n sich keine Sorg’n zu mach’n.« »Weib, ich denke jetzt nicht an mich! Ich denke an sie! Sie werden ihnen fehlen.« -394-
»Woll’n Sie mal seh’n, wie die mich vermiss’n, Sir? Woll’n Sie mal wissen, wie irgend jemand jemals vermißt wird? Geh’n Sie runter an’n Parksee da unt’n, steck’n Sie ’n Finger rein un’ stell’n Sie fest, was das fürn Loch im Wasser hinterläßt! Mas’ Florian, eine Mummy weiß: Wenn die Kinn er erst mal anfang’n, sich für ihr’ Mutter zu schäm’, dann is ihre Arbeit als Mummy getan.« »Aber, aber ... Das sagt zwar der Volksmund, aber das ist doch ...« »... kein dummes Gerede, das is’ Mummy-Weisheit. Schwarze Mummy, weiße Mummy, da gibt’s kein’ Unterschied, nö, Sir! Miss Hag un’ ich ha’m uns ausgiebig darüber unterhalt’n, un’ sie is’ ganz meiner Meinung. Die Kinner wer’n bald berühmt sein un’ große Aussicht’n ha’m. Sunday red’ jetzt schon hochgestoch’ner als die öle Miss Furfew. Die Kinner woll’n keine fette alte ungebildete schwarze Mummy am Band ha’m.« Florian redete sich den Mund fußlig, um sie zu überzeugen, und ging sogar so weit, von den fabelhaften Aussichten zu schwärmen, die Phoebe selbst hätte ... »Aber in Europa wimmelt es nur so von afrikanischen Königen auf Reisen!« Doch sie ließ sich nicht erweichen und blieb bei ihrer Meinung, daß ein leitender Vorarbeiter von der CHESAPEAKE & MAINETrockendock-Gesellschaft mehr sei, als sie sich jemals erträumt habe. »Nun, dann haben wir Sie verloren«, sagte Florian schließlich seufzend. »Das bedauern wir; gleichwohl wünschen wir Ihnen und Roscoe nur das Allerbeste. Sogar ein Hochzeitsgeschenk sollen Sie von uns bekommen. Ich weiß, die Yankees haben jedem freigelassenen Schwarzen aus dem Süden ›vierzig Morgen Land und ein Maultier‹ versprochen. Vierzig Morgen Land habe ich nicht zu verschenken, aber wenn wir morgen losfahren, werde ich unser Maultier im Park zurücklassen. Sie und Roscoe können jederzeit heraufkommen und es sich holen, -395-
wenn Sie wollen.« »Das is’ verdammt nett von Ihn’, Mas’ Florian. Das wer’n wir Ihn’ nie vergess’n.« »Aber so sehr ich es auch bedauern würde, die Drillinge zu verlieren ich muß es Ihnen einfach noch einmal sagen: Möchten Sie sie nicht irgendeiner Tante anvertrauen, oder irgendeinem Onkel, jemand aus Ihrer Familie?« »Es is’ja nich’ so, daß sie keine Familie hätt’n, wenn sie hierbleib’ – die Familie, das seid ihr ja alle!« »Ich muß schon sagen, das war ein Kompliment für uns«, berichtete Florian Edge und Yount, als sie später zurückfuhren und der Ballonwagen hoch beladen war mit Heuballen, Hafersäcken und Räucherfleisch. »Aber sie ist weg, und wie ich das den kleinen Negerlein beibringen soll, weiß ich nicht.« »Da würde ich mir an Ihrer Stelle lieber den Kopf darüber zerbrechen, wie Sie es Fitz beibringen wollen«, sagte Edge. »Da kommt er gerade. Er hat schließlich den saftigsten Brocken seiner Sideshow verloren.« Fitzfarris, Sarah und Clover Lee kamen mit Paketen beladen gemeinsam die Straße herauf. Florian trat von einem Fuß auf den anderen, als er ihnen verkündete, Madame Alp habe sich davongemacht, um zu heiraten. »Und das aus der Manege weg!« sagte Sarah. »Wenn man sich vorstellt, daß sie die erste von uns Frauen ist, die sich einen Beau aus dem Publikum angelt ...« »Scheiße!« war alles, was Fitzfarris sagte. »Ja«, sagte Florian. »Ich habe sofort daran gedacht, mich an das hiesige Waisenhaus zu wenden, Sir John, um zu sehen, was die als Ersatz vielleicht zu bieten hätten. Irgendso ein Dummerchen oder was weiß ich. Aber ohne Zeugnisse hat es mich immer unendliche Mühe gekostet, einen Direktor oder eine Mutter Oberin zu überzeugen, daß ich als Arzt wissenschaftlich -396-
interessiert bin und besondere Studienobjekte suche. Außerdem würde die Zeit nicht reichen ...« »Da kommen die meisten von den anderen«, sagte Yount. »Ich werde sie oben auf die Wagenladung setzen.« »Stecken Sie die Simms-Blagen nur in meine Kutsche«, sagte Florian. »Und Madame Solitaire, zwängen Sie sich bitte auch noch mit rein. Versuchen Sie doch, es ihnen auf dem Rückweg so schonend wie möglich beizubringen. Versuchen Sie, sie davon zu überzeugen, daß sie ja immer noch eine Familie haben, wie Phoebe gesagt hat.« Offenbar schaffte Sarah das, oder aber, die Kinder waren es gewöhnt, daß es in ihrem Leben ständig zu größeren Veränderungen kam. Jedenfalls versuchten sie nicht, davonzulaufen und ihre Mutter zu suchen; und sie ließen sich auch sonst nicht anmerken, welchen Verlust sie erlitten hatten. Trotzdem bemühten sich die Erwachsenen – nachdem sie erst Rouleau aufgesucht und den Kranken fröhlich begrüßt hatten –, die kleinen Simmses so sehr in Trab zu halten, daß sie gar nicht dazu kamen, Trübsal zu blasen. Edge und Sarah hoben Monday und Tuesday aufs Pferd und ließen sie in der nunmehr nicht mehr von einem Zelt überdachten Manege ihre Übungsrunden drehen, und Pfeffer und Paprika nahmen Sunday und Quincy bei ihren akrobatischen Übungen so sehr in die Mangel, daß sie hinterher völlig erschöpft waren. Diejenige von den Kolleginnen, die von Madame Alps Verschwinden am schwersten betroffen war, war Magpie Maggie Hag; denn jetzt mußte sie allein mit der Zubereitung des Abendessens fertigwerden und tat das unter beträchtlichem Murren. »Geschieht Ihnen ganz recht«, versetzte Florian bissig. »Sie hätten der Frau das ausreden können. Was hätte es Sie gekostet, ihr klarzumachen, daß dieser Roscoe ein notorischer Frauenprügler ist oder so.« »Ich habe ihr nur reinen Wein eingeschenkt – daß er ein guter -397-
Mann ist. Irgendwelchen Gaffern binde ich schon mal einen Bären auf – aber niemals einer Kollegin. Hau’n Sie jetzt ab! Lassen Sie mich kochen!« Florian trollte sich, ging hinunter zum Parksee und hockte sich, offenbar in ernstes Sinnen versunken, daneben. Manche, die vorüberkamen, sahen ihn verwundert von der Seite an, steckte er doch zu wiederholten Malen einen Finger ins Wasser und betrachtete dann mit mürrischer Miene die kleinen Wellenringe, wie sie immer weniger wurden und schließlich vollends verschwanden, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Das Dampfschiff Pflichttreu sah womöglich noch häßlicher aus als vor wenigen Tagen, da Florian und Edge es gesehen hatten, denn inzwischen waren die Hauptladeräume gefüllt, und das Fahrzeug lag so tief im Wasser, daß die schmutzüberzogenen Aufbauten, Masten und Rahen um so mehr ins Auge fielen. Außerdem stand die Maschine bereits unter Dampf, und der einzige dünne Schornstein stieß eine schmutzige Rauchfahne aus, die sich freilich nicht hoch in die Luft kräuselte, sondern schon vorher ständig einen gleichbleibenden schwarzen Rußregen herniederrieseln ließ. Obwohl das Beladen über die Kohlenschütte abgeschlossen war, arbeiteten die Ladebäume nach wie vor und hievten in Säcke abgefüllte Gruskohle vom Quai in die Ladeluken, wo die Schauerleute schwarzverschmiert wie alles andere – sie in dem noch verbliebenen Laderaum verstauten. Florian brachte die Wagenkolonne in einiger Entfernung von diesen Tätigkeiten und den dabei entstehenden Staubwolken zum Stehen. Es standen bereits eine Menge überflüssiger Schauerleute und Matrosen herum, saßen auf aufgeschossenem Tauwerk oder lehnten müßig an den Pollern des gepflasterten Quais, nuckelten an ihren Stummelpfeifen oder kauten Priem; vor allem aber kommentierten sie – meist abschätzig – die gesamten Ladeaktivitäten und das Können der Besatzung der Pflichttreu. Doch selbst aus einiger Entfernung konnte Florian -398-
erkennen, daß Kapitän Schilz bei dem allgemein abstoßenden Eindruck des Ganzen zumindest eine chevalereske Vorkehrung für die weiblichen Passagiere getroffen hatte. Der einzige Zugang vom Ufer zum Schiff war zwar immer noch dieselbe gewöhnliche Leiter, doch war sie inzwischen von einem ›Jungfernschirm‹ verdeckt, einer Segeltuchbahn, die von unten nach oben führte, damit Arbeiter und Müßiggänger auf der Pier den Damen nicht unter die Röcke schauen konnten, wenn sie hinaufkletterten. Florian stieg von der Kutsche herunter. »Jetzt übernehmen Sie, Zachary. Sorgen Sie dafür, daß uns nicht noch jemand davonläuft. Ich gehe inzwischen ins Kontor, um mir von Herrn Mayer den Fahrpreis für sie zurückgeben zu lassen.« Er sprach nicht weiter. »Was zum Teufel ist das?« Abwehrend trat er zurück an die Kutsche, als drei Männer über das Katzenkopfpflaster auf ihn zugestürmt kamen und dabei aufgeregt und schrillstimmig auf ihn einredeten. Freilich liefen die drei nicht nur, sondern hüpften und vollführten im Näherkommen federnde Luftsprünge, zeigten mit ausgestrecktem Finger auf die Wagen und wiesen mit weitausholenden Gebärden auf den Elefanten, als wären sie alte Bekannte desselben. Die Sprache, in der sie schnatterten, war völlig unverständlich; nur ein einziger Ausdruck – Kongmajang! – wurde immer und immer wieder unmißverständlich laut. Es handelte sich um sehr kleine Männer, die nicht größer waren als Tim Trimm, spindeldürr und nur Haut und Knochen. Ihre affenähnlichen Gesichter waren von gelblicher Hautfarbe, es handelte sich also um Ostasiaten, Männer freilich völlig unbestimmbaren Alters; jeder von ihnen hätte genausogut dreißig wie sechzig sein können. Sie trugen blusige Überwürfe und weite Hosen, die ursprünglich einmal aus weißer Baumwolle bestanden haben mochten, jetzt jedoch graue Lumpen waren; Schuhe trugen sie überhaupt keine. Nachdem sie sich vor dem völlig verdutzten Florian -399-
aufgereiht hatten, vollführten sie eine Unzahl umständlicher Verbeugungen. Dann warfen sich zwei von ihnen rücklings aufs Pflaster, so daß sie in entgegengesetzte Richtungen schauten, und streckten die Beine in die Luft. Aus dem Stand schnellte der dritte in die Höhe, rollte sich mitten in der Luft zu einer Kugel zusammen, woraufhin die beiden anderen ihn mit den Füßen hin und herstießen, so daß er sich erst in die eine Richtung drehte und dann in die andere. »Heiliger Bimbam!« entfuhr es Florian. »Ikarier! Das ist eine extrem schwierige Nummer!« »Was?« sagte Edge, der sich beschützend neben ihn gestellt hatte. »Ikarier. Das sind Fußgaukler. Sie machen das, was man einen Risley nennt – nach einem legendären englischen Akrobaten, doch eigentlich stammt die Nummer aus dem Fernen Osten.« »Sie selbst aber offensichtlich auch«, sagte Fitzfarris, der zu ihnen trat. »Ein Dreigespann von Chinamännern, würd’ ich meinen.« »Aber wie um alles in der Welt kommen die hier auf den Quai von Baltimore?« »Beim Eisenbahnbau im Westen werden viele chinesische Kulis beschäftigt«, sagte Fitz. »Ich wette, dieses Trio ist im Zwischendeck oder vielleicht sogar als blinde Passagiere auf einem Chinasegler nach Kalifornien gekommen. Wahrscheinlich haben sie keine Ahnung, wo sie überhaupt sind. Sie scheinen kein Wort englisch zu können.« Die Chinesen – wenn es denn solche waren – standen wieder und plapperten aufgeregt gestikulierend durcheinander. Was immer sie sagten, es klang dringlich und zudringlich zugleich. Auf einander deutend, sagten sie trübsinnig Hanguk, um dann stolz kwangdae hinzuzufügen. Dann zeigten sie auf die Circuswagen und sagten flehentlich: Kongmajang. -400-
»Wetten, daß das Circus heißt?« sagte Edge. »Lesen können sie nicht, aber einen Circuswagen erkennen sie schon von weitem.« »Und ich würde sagen, sie bitten, daß wir sie mitnehmen«, sagte Fitz. »Dann sollen sie mitkommen«, erklärte Florian spontan. »Wir haben gerade eine Monstrosität verloren, und unser Starakrobat ist Invalide. Eine neue Nummer kann uns nur guttun. Wir nehmen sie.« Leise meinte Edge: »Sollten wir ihnen nicht zumindest sagen, wohin wir fahren? Ich meine, wenn sie glauben, daß wir direkt nach Kalifornien segeln – was sollen sie denken, wenn wir in Italien landen?« »Italien ist für sie auch nicht fremder als Baltimore. Sie sind hier offensichtlich gestrandet und verloren, und die Sitten und Gebräuche hier jagen ihnen Angst und Schrecken ein. Sie haben keine Arbeit und sind verzweifelt. Wir geben ihnen Arbeit und zu essen.« »Sie waren gerade im Begriff, sich von Mr. Mayer Geld zurückgeben lassen. Und jetzt müssen Sie für zwei weitere Menschen die Überfahrt bezahlen.« »Nein, Sir«, sagte Florian immer noch bestimmt. »Fitz, ziehen Sie die Chinesen nackt aus und stecken Sie sie unter die Ausstellungsstücke ins Museum. Wenn Herr Mayer rauskommt, um Nasen zu zählen, werde ich ihm sagen, es wären Affen.« Fitz und Edge schnaubten erschrocken und erhoben amüsiert Protest, doch Florian ließ keinen ihrer Einwände gelten. »Wenn er das nicht glauben will, werde ich ihn davon überzeugen, daß sie alle drei zusammen noch nicht mal soviel wiegen wie Madame Alp.« Fitzfarris trieb die Chinesen zusammen und führte sie zum Museumswagen. Er kurbelte eine der in den Angeln sitzenden Seitenwände herunter, löste den Maschendraht und machte den -401-
Chinesen begreiflich, daß sie hier einzusteigen hätten, falls sie mit wollten. Dann schickte er sich mit einigem Widerwillen an, die Männer zu entkleiden und gab den anderen zu verstehen, sie sollten es ihm nachtun. Die Chinesen waren im ersten Moment verdutzt, schienen das ganze jedoch dann als eine weitere kalifornische Sitte hinzunehmen und taten, wie ihnen geheißen. Splitterfasernackt kletterten sie zwischen die ausgestopften Tiere. Fitz hakte das Drahtgitter wieder ein, schloß die Seitenverschalung und ließ sie im Dunkeln sitzen. Wie sich herausstellte, wäre es nicht nötig gewesen, sie zu entkleiden. Herr Mayer tauchte zwar aus seinem Kontor auf, um die Köpfe der Passagiere zu zählen sowie die Wagen, Tiere und anderen Posten auf der Liste abzuhaken, die Florian ihm gegeben hatte. Doch als dieser ihn eilends am Museumswagen vorbeitrieb und sagte: »Da drin sind nur die ausgestopften Tiere, von denen ich gesprochen habe«, forderte Herr Mayer ihn nicht auf zu öffnen. Allerdings erbot er sich auch nicht, das Fahrgeld für eine Person herauszurücken, als es zur Zählung der Passagiere kam und einer fehlte. Florian beschloß, es nicht drauf ankommen zu lassen und sagte seinerseits nichts. Das Bunkern war endlich abgeschlossen, und so konnten die Ladebäume des Frachters den Circus an Bord hieven. Edge und Yount übernahmen es, die Wagen einen nach dem anderen ans Schiff heranzufahren und die Pferde auszuspannen, während die Schauerleute den Wagen mit Tauen und Greifhaken festhakten und die Männer an Deck eine Dampfwinde bedienten, um jeden einzelnen Wagen hochzuhieven und an Bord zu nehmen. Es gab einen prekären angstvollen Augenblick. Als der Museumswagen an der Reihe war, ergab es sich, daß Fitzfarris die Seitenwand nur provisorisch dichtgemacht hatte. Der Wagen schwebte gerade über dem Schandeck und schaukelte in der Luft, als die Seitenwand aufklappte. Die Circusleute, die zuschauten, hielten die Luft an, als die Decksarbeiter fassungslos zu den drei kleinen, verschrumpelten und gelben -402-
nackten Gestalten hinaufstarrten, die sich voller Schrecken am Maschendraht festkrallten. Doch das einzige, was geschah, war daß einer der alten Seeleute seinen Priem ausspuckte und ungerührt zu einem jüngeren sagte: »Hab’ ich’s dir nicht gesagt, Kumpel? Mit der Tide kommen die verrücktesten Dinge an Bord.« Mit diesen Worten schloß er die Seitenklappe und machte sie wieder dicht. Maximus beschwerte sich so lautstark, daß die Matrosen sich voller Unbehagen anblickten, als der Käfigwagen an Bord genommen wurde. Doch als eine Bauchschlinge den Elefanten hochhievte, klammerte Hannibal sich gleichfalls daran und redete dem Dickhäuter leise gut zu: »Ruhig, alte Peggy, ganz ruhig bleiben!« – und der Elefant schien den kurzen Ausflug durch die Luft regelrecht zu genießen und ließ die schweren Beine wohligschlaff herunterhängen. Der Elefant, Maximus in seinem Käfig und zwei weitere Wagen wurden steuerbords auf der offenen Back aufgestellt, die Kutsche und die restlichen drei Wagen an Backbord. Die Fahrzeuge wurden festgezurrt und die Räder verkeilt, so daß sie nicht rollen konnten, der Elefant mit den beiden rechten Beinen mittels Ketten an den Schandecksklampen festgemacht. Dann verlagerte sich alle Aktivität auf den Ladebaum achtern. In Bauchgurten hängend kamen die acht Pferde an Bord, allerdings nicht so ruhig und gelassen wie Peggy. Sie wieherten, rollten wild mit den Augen und keilten aus, so daß ein paar Decksarbeiter um ein Haar getroffen wurden, ehe die völlig verängstigten Tiere am Schandeck festgemacht werden konnten. Mullenax ließ seine drei Schweine die Gangway von selbst hinaufklettern, was sie mit viel Schwung und zur Belustigung der Arbeiter und der müßigen Zuschauer schafften. Mullenax trieb sie aufs Achterdeck und ließ sie sich auf dem Stroh niederlegen, das dort als Streu für die Pferde ausgebreitet worden war. Seine einzige Vorsichtsmaßnahme bestand darin, den Seeleuten klarzumachen, daß es sich bei dem Borstenvieh -403-
nicht um lebende Vorräte für die Kombüse handele. Die anderen Circusangehörigen kamen gleichfalls über die Leiter an Bord und trugen Hunderte Stücke Handgepäck bei sich. Rouleau auf seiner Matratze, die auf einer Planke festgemacht worden war, wurde behutsam von seinen Kollegen aus dem Requisitenwagen herausgehoben, ehe dieser an Bord ging. Jetzt wurde sein Krankenbett vorsichtig auf einer der Kohlenpaletten abgesetzt, und selbst die rauhen Seeleute bemühten sich um größtmögliche Behutsamkeit, als sie ihn an Bord nahmen und in eine Kammer trugen. Fünf der mit je vier Kojen ausgestatteten Kammern in den Aufbauten zwischen Vormast und Achterdecksmast waren den Passagieren zugewiesen worden. Nur Florian und Fitzfarris zogen in der von Rouleau ein, damit dieser möglichst viel Luft zum Atmen hätte. Hannibal ließ es sich nicht nehmen, an Deck bei seiner Peggy zu schlafen, und Quincy teilte eine Kammer mit seinen drei Schwestern. Damit blieb nur noch eine Kammer für die vier anderen weißen Männer, und die fünf weißen Frauen waren entzückt, zwei Kammern für sich zu haben. Sobald er unbeobachtet war, schlich Fitzfarris sich auf die Bank, um die Rückwand des Museumswagens aufzumachen, damit die drei Chinesen Licht und Luft hatten und hinaussehen konnten; dann arrangierte er den ausgestopften Inhalt des Wagens so, daß die Lebenden Platz genug hatten, es sich auf dem Boden bequem zu machen. Sobald alles Gerät verstaut war, drängten sich die Passagiere auf dem Achterdeck, um zuzusehen, wie die Pflichttreu ablegte. Die Zuschauer an Land ließen sich herab, die Leinen des Schiffes von den Pollern loszumachen, und die Decksarbeiter zogen sie an Bord und schossen sie zu Rollen auf. Es wurde lautstark geläutet und gebimmelt, Dampfpfeifen ertönten durchdringend. Der Schornstein mittschiffs rülpste und stieß einen Schwall schwarzen Rauchs aus, von dem ein öliger Ruß herunterregnete, und das rußbedeckte Deck erzitterte, als die -404-
Maschinen anfingen zu arbeiten. Allmählich verbreiterte sich der Streifen übelriechenden schmutzigen Wassers zwischen Schiffswand und Quaimauer. Dann vibrierte das Deck gemächlicher, und alle zuckten nervös zusammen. Pfeffer rammte Paprika den Ellbogen in die Seite, flüsterte: »Schau, dort drüben«, und zeigte auf Monday Simms. Wie beseligt hielt diese das Gesicht in den Wind, und ihre Schenkel rieben sich aneinander. »Das Mädchen reibt wieder Mostrich.« Kein Mensch sonst bemerkte das. Alle verfolgten, wie Locust Point hinter ihnen zurückblieb und Baltimore immer kleiner wurde, die Stadt, die sich um den Schrot-Turm herum zu drängen schien. Es kam zu etlichen Veränderungen in der Vibration der Decksplanken, und der schwarze Schnee rieselte unterschiedlich dicht herab, während der Frachter ein paar Kursänderungen vornahm und in den Kanal einlief. Dann war plötzlich Fort McHenry der Steuerbordwand ganz nahe und das städtische Lazarett lag backbords. Unvermittelt wich das Land zu beiden Seiten schwungvoll zurück, die Pflichttreu hatte den Binnenhafen hinter sich, schwamm im breiten Patapsco-Fluß, und alle an Deck brachen in ein lautes Hurra aus. Als der Hafenlotse von Bord ging, kam es noch einmal zu einem kurzen Aufenthalt; immer noch konnte man in der Nähe und in der weiteren Ferne Land erkennen, als der Frachter langsam die Chesapeake Bay abwärts fuhr. Aber sie hatten Kurs auf Europa genommen.
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AUF SEE
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1 Als die Passagiere am nächsten Morgen an Deck gingen, um vor dem Frühstück nach den Tieren zu sehen, konnte man auf beiden Seiten der Pflichttreu immer noch Land sehen. Die Maschinen liefen kraftvoll, und die sich drehende Schiffsschraube hinterließ ein schäumendes Kielwasser. Doch einer dicken Frau ähnlich, die mit hurtig huschenden Schritten geht, aber nur langsam vorankommt, schien das Schiff trotz aller Bemühungen kaum weiterzukommen. Kapitän Schilz stand an Deck und sah zu, wie die Mannschaft die Decksplatten abspritzte, um wenigstens einen Teil der öligen Rußschicht fortzuspülen, die sich im Laufe der Nacht angesammelt hatte. Da jedoch das Schiff nur so langsame Fahrt machte, daß es seinem eigenen Rauchausstoß nicht entkam, sammelte sich der Ruß wieder fast so schnell, wie er weggeschwemmt wurde. »Guten Morgen«, grüßte der Kapitän einigermaßen freundlich, und Tim Trimm sagte sofort quengelig: »Das da ist nicht Europa. Bewegt sich dieser Kahn überhaupt vorwärts?« Kapitän Schilz sah hochmütig auf ihn herab. »Du Winzling nennst mein Schiff langsam? Es ist nicht langsam. Es macht nur mäßig Fahrt, macht es.« »Und hat außerdem Ratten an Bord«, sagte Sarah, um sich dann an Edge zu wenden und zu beschweren: »An Land hat Jules sich daran gewöhnt, daß die Mäuse in den Trog krochen, in den Sie ihn gezwängt haben. Aber als wir gestern abend seinen Verband erneuern wollten, war er völlig durcheinander. Da waren ihm nämlich Ratten reingekrochen.« Mit leichtem Spott sagte Kapitän Schilz: »Gnädige Frau, würden Sie vielleicht auf einem Schiff reisen wollen, das die Ratten verlassen haben?« »Was ich mir wünsche, lieber Käpt’n«, sagte Pfeffer, »wäre, daß Ihr mäßiges Schiff zumindest mäßig schneller voran- und -407-
damit seinem eigenen schlechten Atem entkäme. Wird das mit dem Dreck und dem Gestank die ganze Fahrt über den großen Teich anhalten?« »Meine Damen und Herren«, sagte Schilz und lief rosig an in dem Bemühen, sich zu beherrschen. »Ich war Offizier auf einem Segelschiff, bis ich – wider mein besseres Wissen – Kapitän dieses Dampfkessels wurde. An Bord eines Segelschiffes würde ich so etwas Schändliches wie einen Circus niemals dulden.« Seine Stimme wurde lauter und bekam etwas Zeterndes. »Sie sind nur deshalb an Bord, weil ich zum bloßen Mechaniker verkommen bin. Und was für eine Fracht ich auf diesem verdammten Pott mitführe, ist mir scheißegal.« Die Artisten machten ein angemessen indigniertes Gesicht, wagten jedoch nicht, den Kapitän zu unterbrechen, der mit halbunterdrückter Wut fortfuhr: »Auf diesem Dreckspott muß ich Dienst tun, bis die Schiffseigner endlich erkennen, daß nie ein Schiff gebaut werden wird, das ausschließlich mit Dampfkraft den Atlantik überquert. Jawohl, ein Frachter wie dieser könnte es schaffen – wenn er viereinhalbtausend Tonnen Kohle gebunkert hätte. Aber er verbraucht fünfundzwanzig Tonnen pro Tag, und wenn ich die ganze Fahrt über mit Maschinenkraft liefe, käme ich ohne Ladung am Ziel an. Deshalb werde ich nicht mehr Kohle verbrauchen, als unbedingt nötig. Sobald wir die offene See erreicht haben und sofern die Windverhältnisse es gestatten, verspreche ich Ihnen, die stinkenden Maschinen abzustellen und gute saubere Segel zu setzen.« »Tut uns leid, daß wir Ihr Schiff kritisiert haben«, sagte Florian diplomatisch. »Darauf verstehen Sie selbst sich soviel besser als wir.« Da Kapitän Schilz inzwischen genug Dampf abgelassen hatte, beruhigte er sich einigermaßen und sagte: »Kommen Sie, lassen Sie uns frühstücken.« -408-
Das Frühstück war reichlich und gut. Der rheinische Koch wurde Doc genannt – laut Florian hießen alle Smutjes Doc – und war ständig schlecht gelaunt – was, wie Florian behauptete, gleichfalls allen Schiffsköchen zu eigen sei. Nur selten tauchte er aus seiner engen Kombüse auf, wo er ständig mit sich selbst redete und eine ununterbrochene Flut von Verwünschungen ausstieß auf den Inhalt seiner Speisekammer, auf Töpfe und Pfannen, Heuer und Arbeitsstunden sowie auf den keinerlei edleren Regungen fähigen Gaumen des Durchschnittsmatrosen. Da war der Kammersteward – Quashee – ein ganz anderer Mann. Ein großer schwarzer Westinder, der sich eines nahezu oxfordianischgepflegten Englisch befleißigte und bei Tisch mit den geschliffenen Manieren eines professionellen Butlers aufwartete. Wenn sie nicht gerade Wache hatten, aßen auch der Erste und der Zweite Offizier sowie der Erste Ingenieur am Kapitänstisch. Der eine war Hesse, der andere Sachse und der letzte Bayer, doch sprachen sie englisch ungefähr genauso gut wie der Kapitän. Ja, trotz der Tatsache, daß die Mannschaft sich aus den Angehörigen fast aller westeuropäischen Völker zusammensetzte, war Englisch die Arbeitssprache auf dem ganzen Schiff. Das lag vermutlich daran, daß die meisten Schiffsmotoren aus England kamen; entsprechend war auch die gesamte ›schwarze Crew‹ also die Heizer – sowie ein Großteil der Matrosen Tommys, was wiederum zur Folge hatte, daß jede Anweisung und jeder Befehl, jede Nachfrage und jede Beschimpfung auf englisch wiederholt werden mußte, damit auch jeder sie verstand. Nur die Weißen unter den Circusleuten speisten die ganze Fahrt über am Kapitänstisch. Aber der gewandte Quashee hatte nichts dagegen, den Simmses ein Tablett auf die Kammer oder Hannibal eines aufs Deck zu tragen, und es machte ihm auch nichts aus, Rouleau sein Essen zu bringen. Gleich an diesem ersten Morgen gelang es den Männern, ein paar Brötchen, -409-
Essiggemüse und kalten Braten vom Frühstückstisch verschwinden zu lassen und diese Dinge hinterher den dankbaren Chinesen im Museumswagen zuzustecken. Hinterher stellte sich freilich heraus, daß Kapitän Schilz die Chinesen auch nicht mehr verachtete als ohnehin jeden anderen, der mit dem Circus zu tun hatte, und er kümmerte sich kein Deut darum, ob sie die Überfahrt bezahlt hatten oder nicht. So kam es, daß sie – nachdem Magpie Maggie Hag ihnen Kostüme zugeschnitten und zurechtgenäht hatte, damit sie anständig gekleidet wären – die Enge des Museumswagens verlassen und sich unter ihren neuen Kollegen bewegen durften; Quashee verpflegte sie, wenn er auch Hannibal fütterte, und ins Museum gingen sie nur noch zum Schlafen. Am zweiten oder dritten Tag hatten die Circusleute, die sich darüber beschwerten, wie langsam das Schiff durch die Chesapeake Bay nach Süden dahinkroch, allen Grund zu wünschen, sie hätten diese Zeit ausgiebiger genossen und sich weniger darüber beschwert. Denn nachdem die Pflichttreu endlich Cape Charles umrundete und nach Osten abdrehte, um auf den Atlantik hinauszulaufen, gab Kapitän Schilz auf deutsch einen Befehl, den der Erste Offizier auf englisch belfernd an die Mannschaft weitergab: »Hängt die Wäsche raus, Jungs!« Matrosen kletterten die Wanten hoch, um die Segel von den Spieren zu lösen. Als die Leinwand herunterrauschte und die Segel gesetzt waren, gab der Kapitän einen weiteren Befehl. Die Maschinen wurden abgestellt und plötzlich herrschte eine geradezu beängstigende Stille. Die Passagiere hatten sich mittlerweile so sehr an das unablässige Gestampfe der Maschinen gewöhnt, daß sie die Stille, in der nur die normalen Laute an Bord eines Schiffes und der Wind in der Takelage zu hören waren, nicht minder erschreckte, als wenn sie plötzlich taub geworden wären. Florian faßte sich als erster und rief: »Abdullah, schnell – lauf und tröste Brutus! Barnacle Bill, rasch zum Käfigwagen, und -410-
begütige Maximus! Sir John, Quakemaker, Colonel – los aufs Achterdeck, um die Pferde festzuhalten. Schnell!« Manche sahen ihn überrascht an, taten jedoch, wie ihnen geheißen und erkannten bald, warum er sie geschickt hatte. Von allen männlichen Passagieren war nur Florian jemals auf einem Segler gefahren und folglich der einzige, der voraussah, was passieren konnte. Die ganze Fahrt die Chesapeake Bay hinunter war der schwerbeladene Frachter waagerecht und gleichmäßig ruhig dahingefahren. Doch jetzt, unter Segeln und auf dem offenen Meer, machte die Pflichttreu trotz aller Dickbäuchigkeit und des gewaltigen Ladegewichts einen langen, knarrenden Satz voran und neigte sich dann beträchtlich nach Backbord. Die Tiere mußten tänzeln, um auf dem schräggeneigten Deck nicht abzurutschen, und den Männern erging es nicht anders, während sie den Tieren die Flanken klopften und begütigend auf sie einredeten – Mensch wie Tier mußten eine Weile von einem Fuß auf den anderen treten, um das Gleichgewicht zu behalten, denn das Deck verharrte in seiner Schräglage. Nachdem die Pferde und die Schweine sich daran gewöhnt hatten, gleichsam an einem Hang zu stehen, eilte Edge zu Rouleau in die Kammer, um sich zu überzeugen, daß das Bein des Mannes nicht aus seiner Unbeweglichkeit herausgerissen worden war. »Das ist es gottlob in der Tat nicht«, sagte Edge. »Und solange das nicht geschieht, sollte die Bewegung des Schiffes dem Bein nur guttun. Das hilft dem Kreislauf auf die Sprünge. Wie fühlen Sie sich, Jules?« »Es tut weh«, sagte Rouleau matt. »Aber merde alors, die Langeweile macht mir mehr zu schaffen als die Schmerzen. Maggie sagt, die Fleischwunden würden heilen. Und ich hoffe, die Knochen tun das auch.« »Ich glaube, die Genesung macht Fortschritte. Noch eine Woche vielleicht, und ich trage Ihre Lagerstatt hinaus aufs -411-
Deck, damit Sie ein paar Stunden Sonne pro Tag abbekommen.« »Dann lassen Sie mich inzwischen laisser pisser le merinos. Sagen Sie Clover Lee, sie soll jeden Tag mit ihren Büchern kommen – und die anderen Kinder auch –, dann werden wir den Unterricht fortsetzen.« Das Schiff verharrte die nächsten vier Stunden in seiner Linksneigung; kein Wunder also, daß die Passagiere bis dahin überzeugt waren, endlich seefest zu sein. Den Tieren wird es nicht anders ergangen sein. Doch dann hörten sie einen weiteren Ruf: »Hart lee!« was eine Menge Geschrei von der Brücke zum Deck zur Folge hatte. »Fertigmachen zum halsen!« »Anholen Großsegel!« »Ober- und Unterbramsegel!« »Fiert die Schoten und ... anholen!« Leinwand knatterte und Taukloben ratterten, Spieren knarrten, und ein Ächzen ging durch den Schiffsleib; das Schiff ruckte, es legte sich weit auf die andere Seite, diesmal nach Steuerbord, und alle Passagiere – Menschen wie Tiere – mußten wieder die Füße und das Gleichgewicht finden. Von jetzt an hielt Kapitän Schilz auf jedem Abschnitt der Überfahrt, wo immer es möglich war, die Pflichttreu unter Segeln, blieb annähernd vier Stunden auf einem Schlag, um dann für die nächsten vier den entgegengesetzten Schlag zu laufen. In den allerersten Tagen mußten die Circusleute jedesmal beim Halsen höhnisches Lachen und verächtliche Bemerkungen der Besatzung über sich ergehen lassen – »Schau, wie die den Kombüsentanz aufführen!« –, doch mit der Zeit lernten sie alle selbst das Schwergewicht Peggy und die Chinesen in ihrem Käfig sowie der flach auf dem Rücken liegende Rouleau –, sich an den jeweiligen Neigungswinkel zu gewöhnen, ohne weiter darüber nachzudenken; sogar wenn sie schliefen, schafften sie das. Aber nicht nur ihre Beine, sondern auch ihr Magen wurde -412-
seefest. Die beiden ersten Tage auf dem offenen Meer waren für jeden eine Qual. Als einmal Mullenax, Trimm, Hannibal, Sarah und Clover Lee, Fitzfarris, Sunday, Monday, Tuesday und Quincy einer neben dem anderen am Schanzkleid aufgereiht standen und das gute Essen, daß Doc und Quashee ihnen hatten zukommen lassen, in hohem Bogen wieder von sich gaben, drückte Florian seine Verwunderung darüber aus, Edge und Yount nicht in der gleichen Haltung und im gleichen Zustand dastehen zu sehen. »Ach, wir sind dagegen gefeit«, sagte Yount. »Die US-Army war so freundlich, ein Dampfschiff zu chartern, das uns von New Orleans nach Mexico brachte. Bei der Portland handelte es sich um einen Raddampfer mit Schaufelrädern an den Seiten, und die Fahrt verlief auch ziemlich glatt, bis wir im Golf in einen Sturm gerieten. Und da haben wir uns die Seele aus dem Leib gekotzt, das könnt ihr mir glauben.« Florian sagte: »Nun, es stimmt, ein Anfall von mal de mer reicht im allgemeinen aus, einen Menschen für die Zukunft immun zu machen. Deshalb wäre es ein Akt der Barmherzigkeit von euch, das den Seekranken zu sagen.« Tags darauf hatten die meisten sich erholt, und noch einen Tag später war das bei allen der Fall bis auf Tim Trimm. Dieser erwies sich als einer der wenigen Unglücksraben, die es offenbar nie schaffen, seefest zu werden. Der Ärmste stand fast den ganzen Tag über an der Reling und mußte in der Nacht zu den möglichsten und unmöglichsten Stunden zur Kammer hinausschießen. Er fand sich fürderhin nie wieder an der allgemeinen Essenstafel ein, sondern ernährte sich von Schiffszwieback und Wasser, dem einzigen, das er bei sich behielt, und seine Augen wie die von einem toten Fisch, wurden nachgerade glasig, daß er wirklich etwas von einem toten Fisch hatte. »Ist schon schlimm genug, wenn’s einem so dreckig geht«, erklärte Tim weinerlich seinen Kollegen. »Aber schlimmer noch -413-
ist es, daß dieser Sauerkraut-Kapitän jeden Morgen kommt und mich fragt, ob ich seekrank bin. Kann denn dieser Schuft nicht sehen, daß ich es bin?« Paprika spöttelte: »Wenn du deutsch könntest, kleiner Mann, würdest du begreifen, daß Kapitän Schilz nur einen Witz macht. Er fragt ja im Grunde nur: ›Wie geht es Ihnen?‹, das allerdings auf spaßige Weise. Er sagt dann nämlich: ›Nun, wie ist das werte Befinden?‹ Und das klingt im Deutschen nun mal ulkig.« »Im Grunde ist der Skipper eine gute alte Haut«, sagte Pfeffer. »Er kann zwar Landratten nicht ausstehen; ist aber uns Damen gegenüber durchaus ritterlich.« »Und hält seine Decksschrubber davon ab, allzu ritterlich zu werden«, sagte Sarah. »Wenn eine von uns Bein zeigt, fallen ihnen die Augen aus dem Kopf.« »Scheiße! Von mir aus kann der ritterliche Skipper über Bord gehen und versaufen«, knurrte Tim und pendelte weiterhin zwischen Koje und Reling hin und her. Doch wann immer möglich, suchte er sich eine Stelle in der Nähe von Peggy aus, damit der dicke Elefant zwischen ihm und etwaigen feixenden Seebären stand. Sobald die anderen Circusangehörigen die Seereise nicht mehr als aufregendes Abenteuer sahen, sondern sich an die Eintönigkeit des Daseins auf See gewöhnt hatten, fingen sie an, sich mit ihren jeweiligen Spezialitäten zu beschäftigen. Nachdem Magpie Maggie Hag engsitzende Hosen mit kurzen Beinlingen für die drei Chinesen genäht hatte, flickte sie den Riß in der Saratoga und machte sich dann daran, Extrakostüme für die anderen Akrobaten zu entwerfen – die diesmal viel besser genäht und weit üppiger mit glitzernden Pailletten besetzt waren als die alten; unter anderem nähte sie für Colonel Ramrod und Barnacle Bill neue Livreen für die Manege, die von Goldborten, Epauletten und Schnüren starrten. Insbesondere die Frauen freuten sich, Kostüme zum Wechseln zu haben, weil sie auf -414-
diese Weise weniger häufig am Waschzuber stehen mußten – oder vielmehr in Zukunft würden stehen müssen, denn an Bord des Frachters war es unmöglich, sauber zu bleiben. Nachdem die Maschinen abgestellt worden waren und ein stetiger Wind wehte, war das Schiff weit weniger verrußt als zuvor; allerdings schien sogar der Laderaum Kohlenstaub auszuatmen, und vom Schornstein loste sich immer eine schwache Rauchfahne. Auf jedem anderen Schiff hätte die Besatzung ihre freie Zeit damit verbracht, Rost zu klopfen oder den Quast zur Hand zu nehmen, doch auf der Pflichttreu ließ die Sisyphusarbeit, ständig das Deck zu schrubben, die Besatzung zu nichts anderem kommen. Daher blieben die Circuskostüme, alte wie neue, in den Kabinenkoffern verschlossen, und die Artisten trugen nur alte Overalls und abgetragene, fadenscheinige Röcke. Wurden diese so dreckig, daß sie nicht mehr zu tragen waren, wurden sie von den Frauen auf Seemannsart gewaschen, das heißt, sie wurden gebündelt an einem Tau befestigt, das Bündel über Bord geworfen und durchs Meerwasser gezogen. Einige von der Truppe konnten ihre Standardnummern probieren und an neuen arbeiten, selbst wenn das Schiff unter Segeln stand und mit beträchtlich geneigtem Deck durch die Wellen zog. Hannibal konnte mit allem jonglieren, was ihm unter die Finger kam, von Marispiekern bis zu den besten Gläsern, und dabei spielte es keine Rolle, welche Sprünge das Schiff machte; die Chinesen schafften es nahezu ebenso gut und übten ihre Füße und Zehen, und Yount konnte seine Balanceübungen mit einer Kanonenkugel auf dem durchgebogenen Hals weiterführen. Edge schoß mit einem von Henrys Repetierstutzen auf die Vögel, die sich jedesmal versammelten, wenn Doc Spülwasser und Essensreste über Bord kippte. »Wozu Munition vergeuden und auf Vögel schießen, die man nicht essen kann?« fragte Sarah ihn. -415-
»Weil ich die Eigenheiten dieses Stutzens kennenlernen muß«, sagte Edge. »Der beste Scharfschütze der Welt könnte mit einer Waffe, die ihm nicht vertraut ist, kaum Peggy treffen, selbst wenn er bisher stets mit einer Waffe aus derselben Serie desselben Modells geschossen hat. Jede Waffe aus der Werkstatt eines jeden Büchsenmachers hat ihre ganz bestimmten Besonderheiten. Diese hier muß man eine Winzigkeit tiefer links halten, aber ich denke, jetzt habe ich den Dreh raus.« Und um das zu beweisen, hob er den Henry-Stutzen an die Schulter und holte mit einem sauberen Schuß einen mit ausgebreiteten Schwingen dahingleitenden Sturmvogel herunter. Unter der Anleitung von Pfeffer und Paprika fuhren Sunday und Quincy Simms mit ihren Gelenkigkeitsübungen fort. Welche komplizierten Verrenkungen sie sonst auch machten, beide mußten jeden Tag einen Stuhl aus dem Eßraum heraufbringen und ihn auf dem Rücken balancieren, um die ›Seitenübung‹ zu machen, das heißt, erst das linke, und dann das rechte Bein waagerecht zur Seite strecken, nach vorn und wieder zurückschwenken und in dieser Stellung fünf Minuten verharren, ohne im geringsten zu zittern. Diese Übung müßten sie täglich absolvieren, solange sie lebten oder zumindest arbeiteten, erklärte Pfeffer, genauso wie sie und Paprika es machten, um Haltung und Gleichgewicht zu bewahren. Quincy war, wie geplant, zum geschmeidigsten der Simmses geworden. Er konnte jetzt sogar auf stark geneigtem Deck stehen, ohne jede Hilfe die Brücke rückwärts machen und nicht nur die Hände auf das Deck legen, sondern mit ihnen die Fußgelenke umklammern und das Gesicht zwischen den Knien durchstecken und nach vorn schauen. Mullenax hütete sich, den Löwenkäfig zu betreten und mit Maximus seine alten Kunststücke durchzunehmen oder gar neue mit ihm einzustudieren, und Pfeffer arbeitete nicht mit ihrer Perche – gleichgültig, ob mit Paprika daran oder ohne sie –, es sei denn, das Schiff lief vollkommen waagerecht, was allerdings -416-
recht häufig der Fall war. Die breite und behäbige, nur mit den nötigsten Segeln ausgestattete Pflichttreu war schon auf frischen Wind angewiesen, um überhaupt voranzukommen; hoch am Wind war sie nahezu bewegungsunfähig. Infolgedessen durfte das Feuer unter den Kesseln nie ganz ausgehen, und Wachoffiziere wie Ingenieure besaßen ein gut entwickeltes Gefühl dafür, wann die Maschinen gebraucht wurden und das Feuer hochgefahren werden mußte. Wann immer es daher danach aussah, daß ein guter Wind sich legte oder so weit nach vorn scherte, daß er ihnen ins Gesicht blies und die Brücke nach Maschinenkraft verlangte, konnten die kohleschwarzen Heizer die Schraube wieder in Bewegung setzen, ehe das Schiff zu viel Fahrt verlor. Monday Simms war, was die Schiffsmotoren betraf, ähnlich empfindlich. Nach dem ersten Tag an Bord hörte sie auf damit, ihre Schenkel ständig im Rhythmus des Deckzitterns aneinanderzureihen. Sie verfiel jetzt nur noch dann in ihren besonderen Trancezustand, wenn von der Brücke der Befehl an den Maschinenraum erging, der Maschine mehr Dampf zu geben oder sie zu drosseln, oder wenn das Maschinenpersonal aus irgendwelchen Gründen die Gangart veränderte. Was immer sie tat ob sie Pferdegeschirr putzte, Wäsche zum Durchziehen bündelte oder aber Quincy half, Tierexkremente über Bord zu schaufeln –, Monday spürte die Veränderungen im Lauf der Maschine vor allen anderen, ihre Augen wurden glasig, und die Schenkel fingen an, sich aneinander zu reiben. Auch Mullenax ließ sich von den Maschinen verführen, allerdings auf grundsätzlich andere Weise. Wie schon sein Interesse an jenem geheimnisvollen Apparat, der sich dann als der Ballon Saratoga entpuppte, gezeigt hatte, war Abner jemand, der sich für alles Technische interessierte, für Neuheiten und Erfindungen ganz besonders: Deshalb kletterte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Schiffsbauch hinab. Zuerst wagte er sich nicht weiter hinunter als bis auf den -417-
Laufsteg des Maschinenraums, wo die Wandtafel des Ingenieurs hing und eine Reihe von Meßinstrumenten aus grünem Glas standen, deren Pegelstand die Bewegungen des Schiffes genauestens widerspiegelte. Von dort konnte Mullenax in den langgezogenen schmalen Raum zwischen den Kohlebunkern hinabschauen, der gesteckt voll war von Maschinenteilen – schwarzem Eisen und blinkendem Stahl, Pleuelstangen, die sich hin- und herbewegten wie die Beine riesiger Grashüpfer, ein Gewirr von salzverkrusteten und schimmelüberzogenen dickeren und dünneren Rohren. Dieser Raum war nur dämmerig beleuchtet und erhellte sich nur kurz, wenn eine Feuerklappe geöffnet wurde; man hatte dann das Gefühl, einen Blick in den Höllenschlund zu tun. Die Heizer – halbnackt, rußgeschwärzt und schweißglänzend – wirkten wie die Gehilfen des Teufels, wenn sie den Weg zwischen dem riesigen Schwungrad und der waagerecht liegenden, sich drehenden Schraubenwelle hin- und hereilten und mit ihren Ölkannen ständig irgendwelche Maschinenteile ölten. Schließlich wurde Mullenax zu einem so vertrauten Anblick, daß der Erste Ingenieur oder Chief, wie er genannt wurde – ein gedrungener, rundlicher, rotgesichtiger und glatzköpfiger, in mittleren Jahren stehender Münchner namens Carl Beck –, eine gewisse Zuneigung zu ihm faßte, ihn mit hinabnahm in den Maschinenraum, und ihm alles zeigte und erklärte. »Die Männer sind ständig am Ölen, weil Druckblock, Wellenlager und Heckflansch immer gut geschmiert sein müssen.« Außerdem tat Chief Beck nichts lieber, als seinem Ärger über die Haltung Luft zu machen, die Kapitän Schilz und seine Offiziere den Ingenieuren gegenüber an den Tag legten. »Die alten Segelschiffleute haben nur was für Leinwand und Tauwerk übrig; deshalb sind wir für sie nichts weiter als Kohlenstocherer. Es wurmt sie, daß auch wir Offiziersrang haben und gewisse Privilegien genießen. Scheiße! Alle Handelsschiffskapitäne sind so, und den Ton geben nun mal sie -418-
an. Von technischen Dingen verstehen sie nicht die Bohne – sie haben keine Ahnung, welches Maß an Aufmerksamkeit wir aufbringen müssen, um die tückischen Maschinen und den tödlichen heißen Dampf ständig im Griff zu haben.« »Sieht aus, als ob Sie darin sehr gut wären«, sagte Mullenax aufrichtig bewundernd. »Einen Ballon könnte man mit Dampf wohl nicht steigen lassen, oder?« »Wie bitte?« sagte Chief Beck betroffen. »Einen Luftballon, meinen Sie? Nein, nein, das geht nicht. Für einen Ballon braucht man Wasserstoff.« »Jemand hat gesagt, dazu brauchten wir einen Generator.« »Ja. Um den Wasserstoff herzustellen. Einen Gasentwickler.« »Könnten Sie so ein Ding basteln?« »Ich denke schon ... nun, da gibt es unterschiedliche Typen. Um einen Ballon durch die Zerlegung von Wasser anzutreiben, brauchte man eine Anlage, die so groß wäre wie dies Schiff. Sie aber brauchen einen mobilen Apparat. Dabei müßten Sie auf die Reaktion von Schwefelsäure auf Eisenspäne zurückgreifen. Ja, so was könnte ich schon bauen ...« Er nahm seine Schiefertafel herunter, auf der er den Kesseldruck zu notieren pflegte, und nahm ein Stück Kreide zur Hand. »Zunächst ... wieviel Gas braucht Ihr Ballon denn?« »Fünfundzwanzigtausend Kubikfuß ... Das weiß ich noch ganz genau.« Beck schrieb etwas auf die Tafel und murmelte dann: »Sagen wir ... siebenhunderttausend Liter oder 700 Kubikmeter.« »Das hört sich längst nicht nach ganz soviel an.« Doch Beck hörte schon nicht mehr zu; er rechnete und murmelte vor sich hin, und so ging Mullenax wieder nach oben an Deck und suchte Florian auf. »Den Mann sollten wir unbedingt für uns gewinnen, Mr. Florian. Er hat die Schnauze voll davon, nichts weiter als ein -419-
kleiner Schiffsingenieur zu sein. Wetten, daß er zugreift, wenn Sie ihm den Job als Gaserzeuger für unseren Ballon anbieten? Aber abgesehen davon reitet dieser Carl noch ein besonderes Steckenpferd. Insgeheim träumt er davon, Musikus zu sein. Er behauptet, drei oder vier Instrumente spielen zu können.« »Was Sie nicht sagen! Ein Techniker, der gleichzeitig einen Haufen Instrumente bläst?« »Und wissen Sie, was noch? Er hat Beruf und Steckenpferd verbunden und zu Haus’ in Münch’n, wo immer das sein mag, sich ’n Kalliophon gebaut, so ein Ding, von dem Sie immer träumen.« »Ich freß’ ’n Besen«, sagte Florian, und in seinen Augen leuchtete es auf. »Das ist zu gut, um wahr zu sein. Ein ausgebildeter Ingenieur, Bläser und Bastler, der sich eine eigene Dampforgel gebaut hat! Sie haben recht, es sieht ganz so aus, als ob es sich lohnte, diesen Chief Beck ein bißchen zu umwerben.« »Tja, und da hätt’ ich einen Vorschlag zu machen. Denn da ist noch was. Dieser Carl, der jammert ständig über seine Leber, und daß seine Glatze immer größer wird, und wie ungesund es ist, ständig in der Hitze und dem Gestank und dem Lärm zu arbeiten. Ab und zu spendier’ ich ihm ja einen Schluck aus meinem Krug. Aber ich dachte, vielleicht ... ob nicht die olle Maggie ’n Rezept für Haarwuchs kennt ...« »Ich freß’ ’n Besen«, wiederholte Florian. »Mein lieber Barnacle Bill, für einen Einäugigen sehen Sie wesentlich mehr als wir mit zwei Augen.« Inzwischen hatte Pfeffer Stitches, den Segelmacher des Schiffes, bewegen können, ihr einen ganz besonderen Gefallen zu tun. Der Mann war ein hagerer Waliser, der in Florians Alter stehen mochte, aber weit älter aussah als dieser. Pfeffer beschwatzte ihn, ihr nach ihren Anweisungen eine Halterung zu fertigen, eine kleine, aus einem Metallring nebst Spannwirbel und Leinengurt bestehende Vorrichtung, die eine Menge -420-
aushalten und an der sie ihren Zopfhang vorführen konnte. Doch nicht nur das – sie schaffte es sogar, ihn zu überreden dabeizusein, wenn sie die neue Halterung ausprobierte. Stitches löste also einen Block am Vormast von seinem Tau, Pfeffer flocht sich das lange Haar zu einem festen Zopf, befestigte mit Hilfe von Ring und Spannwirbel den Leinengurt daran, rollte dann den Zopf auf höchst umständliche, aber raffinierte Weise so zusammen, daß sie am Hinterkopf einen hübschen Knoten trug, unter dem die Halterung reißfest befestigt war. Stitches kam mit dem Tauende und verknotete dieses gekonnt an dem Metallring; dann hievte er sie vom Deck hoch, bis sie unter den Wanten hing. Inzwischen hatten sich viele Circusangehörige, Matrosen und Offiziere auf Deck versammelt und klatschten laut Beifall, als Pfeffer rund sechs Meter über ihnen an ihrem Zopf hängend, mit Schlitzaugen und einem maskenhaften Grinsen, weil die Haare an ihrer Kopfhaut zogen, ihre Posen, Drehungen und akrobatischen Rollübungen vollführte. Als sie dem Segelmacher ein Zeichen gab, sie wieder herunterzulassen und sich unter dem Applaus ihrer Bewunderer immer wieder verneigt hatte, löste sie ihren Knoten, schüttelte das Haar zu der gewohnten lockigen Mähne und erstattete dann, wie schon zuvor Mullenax, Florian einen vertraulichen Bericht. »Dai ist ’n Mann, der kann wunderbar mit Nadel, Fingerhut und Handfläche umgehen, und er ist nicht argwöhnisch, wenn es um neue Aufgaben geht. Da unser armer Ignatz jetzt ja nicht mehr ist, suchen Sie doch bestimmt nach einem Ersatz als Zeltflicker. Unter uns: Der Bursche haßt Dampf genauso wie der Kapitän, und zwar einfach, weil er jetzt kaum mehr was zu tun hat. Sein Job ist überflüssig geworden. Könnt’ ja sein, daß Sie mal vorfühlen möchten, wie’s bei ihm damit steht und ob er sich uns anschließen möchte.« »Genau das werde ich tun«, sagte Florian. »Wie, sagten Sie, heißt er gleich noch?« -421-
»Dai Goesle. Das ist einer von diesen fürchterlichen Waliser Namen, die schlimmer aussehen, als sie klingen.« Sie buchstabierte Goesle. »Aber ausgesprochen wird das Gwell.« Am schlimmsten unter der Langeweile litt Fitzfarris; er mußte schließlich keine Nummer proben oder einstudieren. Um sowohl sich selbst als auch Rouleau die Zeit ein wenig zu vertreiben, suchte er den Rekonvaleszenten in seiner Kammer auf und bat ihn um Unterweisung in der Kunst des Bauchredens. »Bien. Zunächst einmal«, hob Rouleau an, »der Fachausdruck für einen Bauchredner ist ›Ventriloquist‹ oder ›Engastrimant‹. Die alten Römer und Griechen haben diese Leute nur so genannt, um ihr antikes Publikum zu beeindrucken. Denn der Bauch spielt dabei nicht immer eine Rolle, und zu lernen gibt es eigentlich nichts. Man muß nur üben. Es geht um nichts weiter, als sich einer Stimme zu bedienen, die eigentlich nicht die eigene ist, und – während man mit dieser Stimme spricht – Lippenbewegungen zu vermeiden. Ansonsten geht es nur darum, die Aufmerksamkeit des Publikums durch Handbewegungen oder ständig wechselnden Gesichtsausdruck abzulenken.« »Fischers Fritze fischt frische ...«, machte Fitz einen Versuch, gab es aber gleich auf. »Aber Jules. Es ist unmöglich, das zu sagen, ohne dabei die Lippen zu bewegen.« »C’est vrai. Deshalb sagst du es eben nicht. Du sprichst überhaupt kein Wort, das Laute enthält, bei denen die Lippenbewegung unabdingbar ist. Sag deshalb Feter Fan statt Peter Pan. Statt bei sag dei, und statt muß sag Nuß. Bloß die Lippen nicht bewegen! Bringst du so ein Wort in einem normalen Satz, wird das kein Mensch merken. Die Leute hören immer nur das, was sie zu hören erwarten. Woher sie das hören, hängt vornehmlich davon ab, wie gut man als Schauspieler ist. Da Sie die Nummer im Hauptgang geben, sind Sie dem Publikum wesentlich näher als ich es in der Manege war. Und damit haben Sie hoffentlich mehr Erfolg als ich.« -422-
»Vielen Dank, Jules«, sagte Fitzfarris mit leicht geöffnetem Mund, ohne indes die Lippen zu bewegen. »Dann will ich mal gehen und mein ... uff: sein Glück versuchen.« »Ja, und noch was. Achten Sie darauf, daß Sie keine Tiere um sich haben, wenn Sie die Nummer bringen. Zwar kann man die Gaffer dahin bringen zu glauben, man hätte ein Baby unter einer Wanne versteckt, aber Tiere sind gewitzter. Sie werden Sie anstarren, von woher das Greinen des Babys ja in Wirklichkeit kommt. Und damit wäre die ganze Wirkung dahin.« Fitzfarris ging und hockte sich in den Schatten der Rettungsboote, die vor den Kammern festgezurrt waren, und übte. Als ein Matrose die Reihe der Boote entlangging und die Davitsgeien prüfte, zeigte Fitz auf das betreffende Boot und sagte sehr besorgt: »Ich glaube, in dem Boot versteckt sich ein blinder Passagier.« Der Matrose bedachte ihn mit einem verständnislosen Blick, sah sich dann jedoch das Boot genauer an, auf das Fitz gezeigt hatte und in dessen Richtung er eine Hand ans Ohr legte – als eine geisterhafte, stark gedämpfte Stimme sich vernehmen ließ: »Oooooh, laßt uns raus!« Es dauerte eine Weile und bedurfte der Wiederholung etlicher Ausrufe wie: »Ersticken hier drin!« und: »Guter Mann, Wasser!« Doch dann begann der Matrose, der nicht wußte, wie ihm geschah, mit fliegenden Händen die Vertäuung der Persenning zu lösen, mit denen das Boot abgedeckt war. Da trollte Fitz sich und lächelte vergnügt in sich hinein. Als nächsten traf er Chips, den Schiffszimmermann, der gerade dabei war, eine Ladeluke mit einer neuen Blechabdeckung zu versehen; Fitz’ Auge fiel auf die Blechschabsel, die von der Blechschere des Mannes fielen. »Um es kurz zu machen«, sagte Fitz hinterher zu Florian, »so habe ich ihn überzeugt, irgendein armes Schwein wäre wohl noch in Baltimore in dem Laderaum eingeschlossen worden. Nachdem Chips auf mich hereingefallen war und mich umbringen wollte, erklärte ich ihm, er selbst könne diesen -423-
Streich ja auch anderen Leuten spielen. Um als Bauchredner zu fungieren, brauche er bloß ein so geformtes Blechstück unter die Zunge legen.« Fitz streckte die Handfläche aus, in der ein Stück Blech von der Größe und Form einer Fünfzig-Cent-Münze lag, das so zusammengedrückt war, daß es aussah wie eine leicht geöffnete Muschel. »Ich habe ihn darin unterwiesen, sie zurechtzuschneiden, wofür er so dankbar war, daß er mir ein halbes Lot voll zurechtschnitt. Jetzt hat dieser Chips sich irgendwo verkrochen und übt, und ich habe einen ganzen Vorrat von diesen Dingern, um sie zu verscherbeln. In der Pause werde ich als Bauchredner auftreten und den Gaffern dann weismachen, sie könnten mit einem dieser Stimmveränderer desgleichen tun ...« »Eine regelrechte Pfeife!« erklärte Florian voller Bewunderung. »Im Circus-Jargon nennt man solche kleinen Artikel, mit denen man die Leute hinters Licht führt, indem man ihnen weismacht, sie dienten irgendwelchen Taschenspielereien, eine ›Pfeife‹.« »Wenn Sie das sagen. Jedenfalls sind sie für uns Geld wert. Und außerdem haben wir in diesem Chips einen Freund fürs Leben gewonnen – oder zumindest solange, bis er an den Pfeifen verzweifelt und sie aufgibt. Hätten Sie irgendwelche Handwerksarbeit, die unbedingt getan werden muß?« »Hm«, sagte Florian. »Ob er wohl etwas Farbe übrig hat ...?« Das hatte Chips, oder zumindest tat er so, als wäre die blaue Farbe, die er besorgte, etwas, das nicht mehr gebraucht wurde. Die Circusleute halfen alle mit, die älteren Wagen zu reparieren, sie zu kalfatern und anzustreichen, so daß sie hinterher fast wie neu aussahen. Dann ließ Chips sich herbei, in seiner Freizeit die jeweils passende Beschriftung an den Wagen anzubringen. Bei manchen Wörtern beließ er es, andere hingegen wollte Florian geändert haben. Chips bewies beträchtliches künstlerisches Talent und versah die rotgelben, schwarzumrandeten Buchstaben mit herrlich schwungvollen Schnörkeln. Auf -424-
Hannibals großer Trommel übermalte er die Bezeichnung U.S. Army sogar mit dem Circusnamen, und als Edge die hübsch gemalten, wie neu strahlenden Beschriftungen an den Seiten der Circuswagen sah, bedachte er FLORIANS BLÜHENDES FLORILEGIUM mit beifälligem Blick, stutzte jedoch, als er las, was darunter stand: VEREINIGTER KONFÖDERIERTER AMERIKANISCHER CIRCUS Menagerie & Museum »Ich dachte, Sie gäben gern an und hätten nichts dagegen, als wohlhabend zu gelten«, sagte er zu Florian. »Hier ›konföderiert‹ einzufügen, läßt aber mehr auf verzweifelte Flüchtlinge schließen.« »Durchaus nicht, Zachary. Sie haben vom Klima, das in den letzten zehn Jahren in Europa geherrscht hat, keine Ahnung. Praktisch jedes Volk und jeder Europäer dort drüben hat gehofft, daß die Konföderierten gewinnen würden. Damit gewinnen wir nur Sympathie und ein herzliches Willkommen. Denken Sie dran!« »Sie sind der Boss hier. Ich glaube, was Sie sagen.« »Verdammt, das darf ich nicht vergessen. Ich muß die Truppe informieren. Denn von jetzt an bin ich nicht mehr der Boss. In Europa werde ich mich Direktor nennen und auch so anreden lassen. In Europa gibt es eine Reihe unterschiedlicher Bezeichnungen. Die lange Leine heißt Longe, und die Manege heißt Pista. Ein ausverkauftes Haus ist ein Sfondone und gähnende Leere im Zelt ist eine Bianca ...« »Hört sich ganz so an, als ob der größte Teil des Circusjargons aus dem Italienischen kommt.« »Wieso auch nicht. Schließlich sind es die alten Römer gewesen, die den Circus erfunden haben.« Florian stieß einen leisen Seufzer aus. »Wirklich ein Jammer, daß die Italiener kein Römisches Reich mehr gründen werden. Rom – der Kirchenstaat – bleibt die letzte Bastion, jetzt, wo der Rest der -425-
Halbinsel sich zu einem Königreich zusammengetan hat. Trotzdem ... Italien ... Geburtsstätte des Circus. Dabei ist es reiner Zufall, daß wir zuerst dorthin kommen. Aber wollen wir darin nicht ein gutes Omen sehen?« »Ach, ich bin schon froh, wenn wir irgendwo landen. Eine Seereise ist genauso langweilig wie Garnisonsdienst auf dem flachen Lande in Kansas.« »Bitte, sagen Sie so was nicht. Auf See gibt es nur eine Alternative zur Langeweile – die Katastrophe. Berufen Sie die nicht! Ich habe auch Maggie schon gewarnt. Die bläst mir in letzter Zeit zuviel Trübsal, wird unruhig und murmelt etwas von einem ominösen Wasserrad.« »Ich glaube, bei der drehen sich die Räder im Hirn!« sagte Edge. »Die sieht in letzter Zeit überhaupt nichts anderes als Räder. Dabei werden wir so was wie ein Wasserrad bestimmt erst wieder zu sehen bekommen, wenn wir wieder sicher an Land sind.« Stirnrunzelnd sah er an Florian vorbei. »Was haben denn unsere Schlitzaugen vor?« Die drei Chinesen hatten herausgefunden, daß Florian keine weiteren Aufträge für den Schiffszimmermann hatte. Deshalb kamen sie jetzt mit einem eigenen Anliegen. Chips machte erstaunte Augen, als er sich von den drei schnatternden und gestikulierenden kleinen Männern umringt sah, machte jedoch ein entspanntes Gesicht und lächelte sogar, als sie ihm ein Stück Papier in die Hand drückten und alle drei mit dem Zeigefinger auf eine Bleistiftzeichnung wiesen. »Oh, aye. So was wollt ihr haben, Kumpel?« Er drehte den Zettel um, ihn Florian und Edge zu zeigen. »Ihre Chinamänner möchten, daß ich ihnen dies hier baue. Aber Lotse sind Sie hier, Boss.« Die Zeichnung war elegant ausgeführt, und es war leicht zu erkennen, um was es ging. »Ein Schleuderbrett, für ihre Nummer«, sagte Florian. »Natürlich habe ich nichts dagegen, -426-
Chips, wenn Sie sich die Mühe machen wollen?« »Kommt ganz drauf an, wie groß es sein soll.« Er besprach sich mit den Chinesen, was darauf hinauslief, daß diese wieder aufgeregt durcheinanderschnatterten, Chips’ Hände ergriffen und diese in unterschiedlichen Abständen auseinanderhielten, wobei sie auf die verschiedenen Einzelheiten der Zeichnung zeigten. Schließlich rief Chips Florian zu: »Nur ein ganz kleines. Das kann ich schon machen.« Mit diesen Worten begab er sich in sein Lager, um das Material zusammenzusuchen. Zwei Tage später war er fertig und brachte das Schleuderbrett an Deck, damit die Ikarier es begutachteten. Es handelte sich um ein breites Brett von etwa 120 Zentimeter Länge, das auf einem schweren, höchstens 45 Zentimeter hohen Fußteil auflag; die Enden des Schleuderbretts hatte Chips ausgepolstert und mit Leder bezogen. Als die Chinesen sie sahen, schnatterten sie wieder laut drauflos und immer zwei von ihnen gleichzeitig; dann probierten sie das Schleuderbrett aus, was wiederum einen Schwall von Geschnatter zur Folge hatte. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, wollen sie es dicker haben«, sagte er. »Mit stärkeren Beschlägen und Angeln.« »Wenn ich bloß begreifen könnte, warum«, sagte Florian. »Sie sind doch federleicht. Wenn es zuviel Mühe macht, lieber Freund ...« »Nein, nein«, murmelte Chips. »Ich möchte, daß es richtig ist.« Als er am nächsten Tag wieder damit zurückkam, unterzogen die Chinesen das Schleuderbrett einem gründlichen Test. Einer stellte sich auf das eine Ende, der zweite sprang mit so viel Schwung auf das andere Ende, daß der erste in die Höhe schoß, in der Luft herumwirbelte, einen Salto vollführte und anschließend auf der Schulter des dritten Mannes landete. Von dieser Höhe herab sprang er mit den Füßen zuerst auf das hochstehende Ende des Schleuderbretts, so daß der zweite Mann -427-
womöglich noch höher geschleudert wurde als er zuvor, in luftiger Höhe Schrauben drehte und weitere kunstvolle Übungen vollführte, um seinerseits auf der Schulter des dritten Mannes zu landen. Und jetzt verschwamm alles und zuckte so durcheinander, daß man gar nicht mehr mitbekam, wie einer nach dem anderen auf das Brett sprang, durch die Luft wirbelte, auf einem anderen landete und wieder sprang, wobei es aussah, als täten die drei alles gleichzeitig. Als der Wirbel sich allmählich verlangsamte, wieder drei deutlich voneinander unterscheidbare Personen aus ihnen wurden und das Schleuderbrett aufhörte hochzuschnellen und die Zuschauer in Hochrufe ausbrachen, traten die drei Chinesen in einer Reihe vor, verbeugten sich höflich, schleiften das Brett dann dorthin, wo Peggy angekettet war und redeten mit ihren Schnattertönen auf Hannibal ein. Nach einer Weile verkündete dieser den Zuschauern mit ungläubiger Stimme: »Sie woll’n, daß die dicke Peggy auf diese Schaukel tritt!« »Nun«, meinte Florian nach kurzem Bedenken, »sie kann schließlich auch auf einem Piedestal stehen, Abdullah; warum soll sie’s also nicht mal ausprobieren? Die Chinesen scheinen so was schon mal gemacht zu haben.« Hannibal machte ein Gesicht, demzufolge er die Verantwortung für alle Folgen von sich wies, stieß Peggy dann jedoch gehorsam an und redete auf sie ein. Die Ketten des Elefanten waren lang genug, dem Dickhäuter zu gestatten, alle vier Füße zu heben und einen oder zwei Schritte zu machen. Als sie vom Schanzkleid wegtrat, wurde hinter ihr der unglücklich sich erbrechende Tim Trimm sichtbar, der sich dort wie üblich festhielt. Überaus vorsichtig, aber ohne im geringsten zu zaudern schob Peggy sich langsam das schräggeneigte Schleuderbrett hinauf. Sie machte ein etwas erstauntes Gesicht, als das Gewicht ihres Vorderteils das Brett dazu brachte, sich zu senken, aber ängstigen ließ sie sich nicht. Nach einer besinnlichen Pause und ohne die großen Füße zu bewegen, -428-
verlagerte der Elefant sein Gewicht, und das Schleuderbrett kippte langsam wieder zurück. Den Kopf wendend, sah das kluge Tier die versammelten Circusleute mit blitzenden Augen, hochgerecktem Rüssel und etwas an, das fast einem stolzen und erfreuten menschlichen Grinsen glich. Dann verlagerte Peggy, ohne daß jemand es ihr befohlen hätte, abwechselnd ihr Gewicht und schaukelte ständig vor und zurück. »Da kriegst du das Maul nicht mehr zu!« sagte Chips bewundernd und klatschte als erster Beifall. Von Stund an verbrachten die Chinesen fast jeden Tag damit, für ihre Nummer mit dem Schleuderbrett zu üben, und gelangten dabei zu immer schwindelerregenderen Sprüngen; hinterher durfte auch Peggy die Wippe eine Zeitlang genießen, doch das nur an den Tagen, wenn die Pflichttreu mit Dampfkraft lief und das Deck waagerecht lag. Nachdem der Elefant wippte, als hätte er nie etwas anderes getan, gewöhnten sie ihn allmählich daran, dies auch dann zu tun, wenn der eine oder andere Chinese auf seinem Rücken saß, bis sie es geschafft hatten, alle drei dort oben zu stehen und Figuren und Pyramiden zu bilden – und sich zuletzt auch noch Monday und Tuesday dazugesellten und ihre Kunststücke vorführten, während das gewaltige Tier glücklich wippte und gelegentlich lustvoll trompetete.
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2 Genau vierzehn Tage, nachdem sie Cape Charles passiert hatten und das Schiff irgendwo in der gesichtslosen Weite zwischen den Azoren und Madeira durch eine sonnenerhellte, nur gelegentlich mutwillig kabbelige See hindurchdampfte, hörte die Reise auf, langweilig zu sein. Dabei hatte der Tag angefangen wie jeder andere auch. Der Wind kam von Osten, so daß die Pflichttreu mit Maschinenkraft laufen mußte, doch vertrieb der Gegenwind den größten Teil des aus dem Schornstein quellenden Rauchs samt Ruß. Rouleau war auf Deck gebracht und auf der Back abgestellt worden, wo er – das Bein immer noch fest im Kleietrog geschient – nach wie vor rücklings auf seiner Matratze lag, aber durchaus ein fröhliches Gesicht machte, als er das Treiben der Kollegen verfolgte. Die Chinesen probten mit Peggy immer noch am Schleuderbrett, während Monday und Tuesday nur darauf warteten, daß auch sie an die Reihe kämen. Der Quakemaker stand vorn am Bug des Schiffes und strengte sich an, den schweren Anker ganz allein hochzuziehen, doch richtete er nicht das geringste aus. In der Nähe von Rouleaus Lager saßen Florian und Fitzfarris und spielten um Streichhölzer Vingtdeun. Als Florian mehrere Male hintereinander gewann, fluchte Fitz halblaut vor sich hin, schob Zündhölzchen und Karten hinüber und sagte: »Ein so fingerfertiger Mann wie Sie sollte das Falschspiel zum Beruf machen. Wieso sind Sie eigentlich statt dessen beim Circus gelandet?« »Beim Circus muß man genauso eine Lehrzeit durchmachen wie in jedem anderen Beruf«, meinte Florian achselzuckend, mischte die Karten und blickte verträumt hinüber zum Horizont. »Als ich vierzehn war, kam zufällig der CIRCUS DONNERT in meine Heimatstadt. Und als er wieder weiterzog, bin ich mit. Maggie Hag war schon bei DONNERT dabei und hat mich unter ihre Fittiche genommen.« -430-
»Der klassische Ausreißer, also. Und Ihre Angehörigen sind nicht hinter Ihnen her?« »Nein. Meine Mutter war schon tot. Mein Vater hat bestimmt begriffen, wohin ich war, aber es kann sogar sein, daß er meine Abenteuerlust gut fand. Er hatte immer gewollt, daß ich mal was Besseres werde als der Müllergehilfe, der er selber war, und der Circus war ja nun wirklich etwas, wo er nicht heranreichte.« »Was stünde nicht über einem Müllergehilfen? Aber wie haben Sie es fertiggebracht, den Circus zu bewegen, Sie mitzunehmen? Sie waren doch noch ein Kind.« Florian lächelte. »Falls Sie unter ›Mitnehmen‹ so etwas wie Bezahlen verstehen – eine Gage hab’ ich nicht bekommen. Vielleicht hätte ich nicht mal was zu essen gekriegt – wäre gezwungen gewesen, mich selbst zu verpflegen –, wenn ich nicht Maggie gehabt hätte, die sich für mich einsetzte. Wie die Dinge lagen, mußte ich auf den zusammengelegten Zeltbahnen im Zeltwagen schlafen. Zwischen den Zeltbahnen, wenn’s kalt wurde. Und das solange, bis ich mich mit meiner, vornehm ausgedrückt, ersten Frau zusammentat. Einer Kunstreiterin, die doppelt so alt war wie ich. Sie war kein bißchen attraktiv, wohl aber ihr Wohnwagen.« »Aha, also eher ein Flohcircus, was?« »Himmel, nein. Durchaus nicht! DONNERT war ein ziemlich großes, angesehenes Circusunternehmen. Und ist es noch, soviel ich weiß.« »Haben Sie irgendeine Nummer vorgeführt? Oder als Gehilfe fungiert? Oder was?« »O Gott, das war doch lange, bevor ich mich auch nur Artistengehilfe hätte nennen können. Ich kehrte Käfige aus, schleppte Wassereimer und klebte Plakate. Ich mußte die niedrigsten Aufgaben übernehmen, die es gab. Und davon gibt es viele, kann ich Ihnen sagen – bei einem Circus von der Größe Donnerts. Naja, schließlich hab’ ich mich zu einer -431-
schlechtbezahlten Stellung hochgearbeitet, und später auch ein paar Purzelbäume geschlagen. Doch gottlob habe ich mich in meiner ganzen Karriere nie auf meine Muskelkraft oder auf mein schauspielerisches Talent verlassen müssen. Wie Sie selbst bemerkt haben, liegt mein Können mehr auf dem Gebiet des – hm – Zuerwerbs und der Beredsamkeit. Als ich von einem Circus zum anderen ging – vom DONNERT zu RENZ, zum CIRCUS BUSCH und wieder zurück zu DONNERT –, war ich nacheinander Ausrufer oder Marktschreier für die Verkaufsstände und Pausenvorstellungen, wobei ich auf Vorschuß arbeitete oder Vorschüsse abzuarbeiten hatte. Außerdem hab’ ich’s mit Pferdehandel ganz schön weit gebracht. Zuerst mit ganz normalen Acker- und Karrengäulen, dann jedoch mit Circuspferden – zuletzt vertraute man mir den Ankauf von exotischen Tieren ganz allgemein an. Unterwegs habe ich mir dann etliche andere ›Frauen‹ verschiedenster Nationalität zugelegt. Das heißt: mir zugelegt und sie auch wieder abgelegt. Die Sprachen, die ich durch sie lernte, habe ich glücklicherweise nie wieder verlernt.« »Auch das eine klassische Erfolgsstory, würde ich meinen. Und wann haben Sie sich selbständig gemacht?« »Nach meinem zweiten Job bei DONNERT. Maggie Hag war immer noch dabei, und sie war es, die mich dazu anstachelte, alles daranzusetzen, dieses viel zu hoch gesteckte Ziel zu erreichen. Sie hat sich mir sogar angeschlossen, was wirklich grenzenlosen Glauben an mich bewies. Praktisch bestand der Circus nur aus uns beiden – und den paar Tieren, die wir uns damals leisten konnten.« In Gedanken immer noch ganz woanders und die Karten mischend, verfiel Florian in Schweigen; offensichtlich hing er irgendwelchen Tagträumen nach. Doch nach einer Pause fragte Fitz: »Nun? Und hat es sich gelohnt?« »Wir haben lange am Hungertuch genagt, aber richtig verhungert sind wir nicht. Und die Gewinne, die wir machten, -432-
haben wir immer wieder in das Unternehmen gesteckt. Erst haben wir noch ein paar Exoten um uns versammelt, ein paar Wagen erworben, ein paar versoffene oder überalterte oder sonst fast nicht zu gebrauchende Artisten und Helfer. Die einzige wirklich gute Nummer, die ich anheuern konnte, war die mit der Perche, Pfeffer und Paprika. Aber das erst gegen Ende. Und die hätt’ ich vermutlich auch nicht gekriegt, wenn sie nicht erst am Anfang ihrer Karriere gestanden hätten. Sie waren damals ja erst fünfzehn, sechzehn Jahre alt.« »Sie sagen, ›gegen Ende‹. Soll das heißen, Sie haben pleite gemacht?« »Pleite gemacht habe ich nie, Sir!« verwahrte Florian sich leicht verschnupft. »Ich meine, gegen Ende meines Aufenthalts in Europa. Vielleicht wissen Sie das nicht, doch nach all den Revolutionen, Rebellionen und anderen Umwälzungen um 1848 hatte eine große Auswanderungswelle unter den Europäern nach Amerika eingesetzt. Nun, die Zeit, von der ich spreche, lag so um die zehn Jahre später, und Pfeffer und Paprika bekamen immer wieder Post von Verwandten, Freunden – anderen Circusleuten, die nach Amerika ausgewandert waren. Darin stand das Übliche – das Geld liegt auf der Straße, unbegrenzte Möglichkeiten ... Da beschlossen wir, es einfach mal zu versuchen. Damals brauchte man ja nicht so was wie diese Pflichttreu, um mein FLORILEGIUM über den großen Teich zu bringen; da hätte schon ein Ruderboot genügt. Schließlich waren es nur Maggie, Pfeffer, Paprika und ich.« »Dann darf ich annehmen, daß Sie großen Erfolg gehabt haben in den Staaten.« »Nun, es ging, es ging. Monsieur Roulette wird das bestätigen. Er war einer der ersten Amerikaner, die sich uns anschlossen. Doch dann kam, Gott sei’s geklagt, euer Krieg und hat alles kaputtgemacht.« »Der liebe Herrgott weiß, daß es das getan hat«, sagte Fitz -433-
voller Mitgefühl. »Meinen Sie, es wäre Ihnen besser ergangen, wenn Sie in Europa geblieben wären?« Florian stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nun, das werden wir bald feststellen, oder?« Verträumt ließ er den Blick wieder zum Horizont hinüberschweifen. »Damals hatte ich den Ehrgeiz, den ich nie habe verwirklichen können. Den Ehrgeiz eines jeden Circusmannes. Ich bin zwar viele Male in Paris gewesen, aber nie – weder mit meiner kleinen Landstreichershow noch mit einem der geachteteren Circusse –, nie bin ich mit einem Circus nach Paris gegangen ...« »Arrah!« rief Pfeffer, als sie unangemeldet in die Kammer trat, die die Simms-Kinder bewohnten. »All ihr kleinen Negerlein spinnt wohl, was?« Schuldbewußt fuhr Sunday Simms herum und riß sich vom Spiegel über dem Waschständer los, in dem sie eingehend ihr Konterfei betrachtet hatte. »Die Maschinen haben grade das Tempo gewechselt, folglich macht deine Schwester ihr Aufsteh-Kerkuffle. Und du – was um alles in der Welt hast du mit dir gemacht?« »Verbesserungen«, sagte Sunday betreten. »Verbesserungen? Schau doch bloß, wie du aussiehst!« Jetzt entdeckte Pfeffer die Tiegel und Fläschchen, die Sunday auf ihrer Koje aufgereiht hatte. »Was zum Teufel soll denn dieser ganze Dreck?« Als müsse sie sich verteidigen, sagte Sunday: »Ich habe gehört, wie der Kapitän sagte, in etwa fünf Tagen würden wir das erste Land sehen. Und da habe ich gedacht, ich übe, wie ich mich für den ersten Hafen schön mache.« »Kronprinzessinnen-Haar-Entkräuselungspomade?« Übertrieben geschäftig las Pfeffer die Etiketten. »Dixie Moonglow-Hautbleiche? Woher hast du denn diesen ganzen Schwindel, mit dem den Schwarzen das Geld aus der Tasche gezogen wird?« »Sie gehören mir. Ich habe sie am letzten Tag in Baltimore -434-
gekauft. Und Clover Lee hat mir dabei geholfen.« »Aber wozu bloß, Mädchen?« »Damit ich weniger aussehe wie eine Schwarze, dazu!« Sundays Sprache verlor etwas von der übergenauen Aussprache, die sie sich angeeignet hatte. »Weniger wie ein kleines Negerlein – damit nicht jeder zu ihr reinkommt, ohne anzuklopfen, und in ihren Sachen rumkramt.« »Hm, meine Kleine, nun mal immer mit der Ruhe ...« sagte Pfeffer und hob beschwichtigend die Hand. »Ich wollte ja nur nach Pap suchen, wirklich – allerdings hatte ich kein Recht, hier einfach reinzuplatzen. Und jetzt, wo ich mich entschuldigt habe, alannah, erlaube, daß ich dir etwas sage. Du hast es nicht nötig, dir diesen Dreck ins Gesicht und ins Haar zu schmieren. Du bist ein bildhübsches Mädchen und kannst jeder kleinen Weißen das Wasser reichen – nur, daß du eine andere Hautfarbe hast.« »Eben«, erklärte Sunday voller Bitterkeit. »Ich bin eine gelbe Rose, eine Mulattin, eine, die nicht ganz so schwarz ist, ein farbiges Pipi-Mädchen, ein Nigger-Girl. Und nun sag mir mal, wie sieht ein echter hübscher Nigger-Fratz aus?« »Ach, wenn ich das wüßte! Ich habe ja noch nie einen zu sehen bekommen unter den richtigen Schwarzen. Aber statt zu versuchen, deine kaffeebraune Haut zu übertünchen, solltest du versuchen zu unterstreichen, wie hübsch sie wirklich ist. Du hast ja nicht wenig davon.« Wieder wanderte Pfeffers Blick voller Verachtung über das stattliche Aufgebot an Tiegeln und Fläschchen. »Dixie Moonglow! Daß ich nicht lache! DixieBlaflum kommt doch wohl eher hin! Wirf diesen Gesichtsbleicher weg! Ihr drei Simms-Mädchen habt einen Teint – kitzfarben, würde ich sagen! Stolz solltet ihr auf diese herrliche Hautfarbe sein! Und den Haar-Entkräuseler solltet ihr gleichfalls vergessen. Ihr habt weder Onkel-Toms-Gekrussel, noch eine Löwenmähne, sondern reizvoll gewelltes Haar.« »Nur oben«, sagte Sunday und schniefte. »Weißt du nicht -435-
mehr, Pep, wie du und Pap mir und Clover Lee erzählt habt, über ... über mein anderes Haar, das da unten? Wie das die Männer wild macht? Nun, meins da unten ... es ist wirklich krusselig. Nichts weiter als winzige Krusseln. Wie von lauter Pfefferkörnern gesprenkelt. Und verbergen nichts, lassen mein ... mein ... ah, du weißt schon was, nackt und bloß.« Pfeffer stieß ein herzhaftes Lachen aus. »Aber wozu es auch verbergen, Minikin? Es ist schließlich die Mutter aller Heiligen, wie wir in Irland sagen. Und im übrigen – eigentlich sollte ich dir das ja nicht sagen –, aber es gibt welche, die finden es besonders reizvoll, wenn die Pflaume einer Frau unbelaubt ist. Auf daß sie offen zutage liegt und leicht zugänglich ist. Zugänglich ganz besonderen Aufmerksamkeiten, die du zweifellos kennenlernen wirst, sobald es an der Zeit ist. Und jetzt wisch dir das Zeugs aus dem Gesicht, wasch dir die Haare und schmeiß diesen ganzen Blaflum zum Bullauge hinaus! Wo steckt denn eigentlich Clover Lee? Ich muß ihr wohl mal die Leviten lesen – zuzulassen, daß ihr euch diesen ganzen Quatsch kauft!« »Ach, einiges hat sie ja für sich selbst gekauft. Und probiert mit ihren Sachen, genauso wie ich es getan habe. Pap hilft ihr dabei.« »So, tut sie das?« sagte Pfeffer frostig. »Wo?« »Von einem der Rettungsboote ist die Persenning abgenommen; doch hängt es zu hoch in den Davits, als daß man von Deck aus hineinsehen kann. Darin kann man sich ausziehen und ein Sonnenbad nehmen. Ich kann zwar nicht verstehen, wieso jemand es drauf anlegt, braun zu werden, aber ...« Doch Pfeffer war bereits zur Tür hinaus. Wutschäumend stapfte sie übers Deck und stellte sich unter dem einzigen Rettungsboot auf, das nicht mit einer Persenning abgedeckt war – und lauschte! Es hörte sich ganz danach an, als erteilte Paprika Clover Lee ziemlich genau dieselben Ratschläge, die sie soeben -436-
Sunday erteilt hatte. Allerdings schien das weiße Mädchen diese unterwürfiger hinzunehmen als die kleine Mulattin es getan hatte. Jedenfalls war nur Paprikas Stimme zu hören: »Angyal, das sind doch semmiseg – törichte Dinge. Was für ein Unsinn! Mrs. Mill’s Busen-Balsam und Büsten-Entwickler! Nichts weiter als Schwefelsalbe und eine komische Schale aus Glas und Gummi!« Paprika lachte. »Verstehe! Die Salbe soll die süßen Brüstchen anregen, und mit dem Vakuumsauger sollen sie rausgebracht werden. Was für ein törichtes badarsag! Um dich hier zu entwickeln, braucht es nichts weiter als das normale Wachstum, Clover Lee, und du kannst dich wirklich nicht beklagen, in der Beziehung zu kurz zu kommen! Komm, laß mich dir zeigen, was ein Maler mir einst daheim in Pest gezeigt hat: Was Künstler für die idealen Proportionen bei den Brüsten einer Frau halten. Gestatte, daß ich dich berühre ...« Man vernahm das leise Geräusch, als ob ihre Leiber die Position im Boot leicht veränderten. Pfeffer knirschte mit den Zähnen. »So, paß auf: die Entfernung zwischen meinen beiden Fingerspitzen die eine auf deiner Brustwarze, die andere auf dem Schlüsselbein darüber – sollte genau der Entfernung von einer Brustwarze zur anderen entsprechen. Wie du siehst, trifft das bei dir zu. Außerdem sollte die Entfernung zwischen diesen beiden reizenden Rosenknospen genau ein Viertel deines gesamten Brustumfangs in der Höhe eben dieser Nippel betragen. Gestatte, daß ich ...« Wieder Hin- und Hergerutsche. »So genau ich es mit einer Umarmung messen kann, angyal, hast du die Idealmaße einer Frau. Und beim Wachsen werden diese Maße Schritt halten. Was sich allerdings jetzt schon sagen läßt, ist, daß die Nippel von wunderbar weiblicher Reaktionsfähigkeit sind. Siehst du? Wie keck sie sich recken und noch einmal berührt werden wollen?« -437-
Schon schickte Pfeffer sich an, sich bemerkbar zu machen, nahm jedoch Abstand davon, als der nächste Laut nichts weiter war als der Klang von hellklingendem Glas und Paprika fortfuhr: »Nun sieh dir dieses schreckliche andere ürülek an, das du dir angeschafft hast. Dixie Belle Extract vom weißen Heliotrop! Jaij! Rausgeschmissenes Geld ist das, Clover Lee – sich künstlich hergestelltes Parfüm zu kaufen! Ich will dir ein ungarisches Geheimnis verraten, eines, das den magyarischen Frauen von altersher bekannt ist. Der verführerischste und unwiderstehlichste Duft, den eine Frau tragen kann, ist ihr eigener. Der Duft ihres geheimsten und köstlichsten Saftes, dem nemi redv, ihres Lustlabetrunks. Du brauchst nur mit deinem Finger etwas aufzunehmen, so ... wenn du gestattest, angyal – und es dir hinter die Ohren zu tupfen, an die Handgelenke, zwischen die Brüste ...« Endlich ließ sich Clover Lee vernehmen. Ihre Stimme war tief und zitterte; trotzdem sprach sie mit Entschiedenheit. »Bbbitte ... bbbitte, aufhören!« Es hörte sich kurz an, als ob zwei sich balgten, und das Boot geriet ein bißchen ins Schaukeln. »lich ... ich danke dir ... daß du mir dies beigebracht hast. Aber jetzt möchte ich mich doch lieber anziehen. Bitte, hör jetzt auf damit!« Pfeffer fauchte innerlich und setzte schon zum Sprung an, um das Leibholz zu packen und sich hinaufzuziehen. Doch genau in diesem Augenblick ging ein Ruck durch das ganze Schiff unter ihr, und sie schlug längelang aufs Deck. Die Pflichttreu hatte ihre Fahrt so unvermittelt verlangsamt, als ob der Quakemaster den Anker über Bord geworfen und die Ankertrosse sich gestrafft hätte. Gleichzeitig ließ sich aus dem Bauch des Schiffes ein grauenerregendes Klirren und Zischen vernehmen, und von überallher waren die Rufe von Offizieren und Mannschaften zu hören: »Beleg das!« und »Verbrühungen!« und: »Dalli, dalli, Jungs!« -438-
Peggy hatte auf dem achteraus hochstehenden Schleuderbrett gestanden. Als das Schiff ruckte, kippte dieses samt dem Elefanten in die entgegengesetzte Richtung. Wenn Peggy es auch schaffte, auf ihren vier Beinen stehenzubleiben – die Akrobaten auf ihrem Rücken flogen aufs Deck. Selbst diejenigen, die nur herumgestanden hatten, fanden sich auf den Decksplanken wieder und streckten alle viere von sich. Ein paar Sekunden lang herrschte größtes Durcheinander, wurden Rufe laut, hörte man Männer laufen, das Deck – ja, das ganze Schiff – vibrierte wie eine Kaffeemühle, und Masten und Ladebäume schlugen wild nach allen Seiten aus. Der hohe Schornstein kippte mit einem nervenzersägenden Knirschen, dem Klirren von Spanntrossen und einem gewaltigen Aufstäuben von Rost, Ruß und Farbflocken, die sämtliche Aufbauten des Schiffes in eine erstickende schwarze Wolke einhüllten, zur Seite. Die Vibration verstärkte sich, wurde zu einem rüttelnden Stampfen und ohrenbetäubendem Kreischen, das aus dem Maschinenraum heraufdrang, ehe dann unvermittelt Stille herrschte und auf dem ganzen Schiff kein Laut mehr zu hören war. Plötzlich riefen Offiziere und Mannschaften wieder durcheinander, was sich in der allgemeinen sonstigen Stille überlaut anhörte. Manche der Matrosen sprangen in die Wanten und hangelten sich zu den Spieren hinauf, andere kletterten wie die Affen zum höchsten Punkt der Aufbauten, um den Schornstein zu vertäuen, ehe er über Bord rollte; andere nahmen vorsichtshalber an den Davits der Rettungsboote Aufstellung. Ehe auch nur ein einziger Passagier dazu kam, Fragen zu stellen, kam Mullenax den Niedergang heraufgeschossen und schrie ihnen zu, was geschehen war. »Die Schraube hat’s abgeworfen, den Propeller! Die Welle dreht durch, und sämtliche Nocken zucken! Alle legen Hebel um und machen die Ventile zu! Ich dacht’, mach bloß, daß du hier rauskommst!« »Ist irgend jemand verletzt?« fragte Florian mit zitternder -439-
Stimme. »Alles in Ordnung mit unseren Leuten?« Mit einem Blick nahm er die Circusangehörigen auf der Back in sich auf. Vom Vordersteven her näherte sich der verstört blickende Yount, der sich eine auf seiner Glatze anschwellende Beule rieb. Pfeffer und ein paar Matrosen halfen Clover Lee und Paprika von ihrem Rettungsboot herunter. Da die beiden unmittelbar unter der Traufe der Aufbauten gelegen hatten, wo der fallende Schornstein gelandet war, waren sie von Kopf bis Fuß mit Ruß beschmiert und schwarz wie die Mohren. Mit fahrigen Händen fummelten sie an Knöpfen, um ihre Kleider zu schließen, doch fanden die meisten Knöpfe nicht das passende Knopfloch. Die übers ganze Deck verstreut zu Boden geschleuderten Akrobaten waren die letzten, die hochkamen, doch immerhin – keiner blieb liegen. Offenbar hatten sie sich nichts getan. Peggy verharrte in der Schräglage, in die der Ruck sie gebracht hatte. Ihre mächtigen Füße standen nach wie vor auf dem Schleuderbrett, doch ihr Rumpf blieb gegen die neben ihr entlangführende Reling gelehnt. »Ich dachte, jetzt mache ich wirklich ein Erdbeben«, sagte Yount. »Was ist passiert!« Pfeffer nahm Paprika beiseite, klopfte ihr mütterlich den Schmutz vom Rock und knöpfte ihr das Kleid zu; gleichzeitig machte sie ihr aber gepfefferte Vorhaltungen, auf die Paprika nicht minder scharf reagierte: »... unter den Rock greifen ... und Süßholz raspeln wie ein kesser Vater in einem Mädchenpensionat ...« »Eifersüchtig, was, Pep? Hattest du etwa ein Auge auf diesen kleinen Knabberkeks geworfen?« »Brich dir bloß keinen ab! Die Kleine will von deinem Getue offensichtlich nichts wissen. Anstatt Kirschen zu pflücken, solltest du lieber den Anstand besitzen, es mit einer deines Alters zu versuchen.« »Ach, halt den Mund! Sonst hören sie dich noch!« -440-
Doch alle anderen lauschten Mullenax’ Bericht über das Tohuwabohu unter Deck, und als er geendet hatte, fragte Edge ihn: »Und was passiert jetzt?« »Nun, ich weiß, daß sie eine Ersatzschraube haben. Aber wie sie es anstellen wollen, die unter Wasser anzumontieren ... hey, übrigens, ist Jules verletzt?« Rouleau hatten sie vollkommen vergessen, und erst jetzt wurde ihnen bewußt, daß er heftig winkend mit den Armen in der Luft herumfuchtelte und mit schwacher Stimme rief: »Nom de dieu, zurück! Umkehren! Mann über Bord!« »Was? Wo? Wer?« Völlig außer Atem und heiser vom Schreien sagte Rouleau mit versagender Stimme zu Edge, der sich als erster über ihn beugte: »Peggy hat ... Tiny Tim ins Wasser geschubst ... ich hab’s gesehen.« Edge schoß an die Reling, sah achteraus und sagte: »Himmel!« Weit hinter ihnen war ein dunkler Fleck zwischen den weißschäumenden Wellenkämmen zu erkennen; mag sein – das war schwer zu sagen –, daß er mit den Armen um sich schlug, um sich über Wasser zu halten. Als das Schiff seine Schraube verlor, schien es auf der Stelle stehengeblieben zu sein, doch in Wahrheit war es noch eine ganze Strecke weit dahingeglitten. Jetzt wiegte es sich und wälzte sich träge in den Fluten; aller Schwung war heraus, und die Offiziere brüllten durcheinander und gaben Befehle, die Segel zu setzen. Den anderen erzählte Rouleau: »Tim lehnte grade wieder über die Reling und reiherte wie gewöhnlich. Als Peggy auf dem Schleuderbrett vorkippte, stieß sie gegen ihn, und er flog über Bord.« Florian griff nach dem Ärmel von Kapitän Schilz, der gerade an ihnen vorüberschoß und dabei abwechselnd fluchte und Befehle brüllte. »Käpt’n, wir müssen umkehren. Einer von meinen Leuten ...« -441-
»Dummkopf!« fuhr der Kapitän ihn an und schüttelte ihn ab. »Wir machen keine Fahrt mehr, das Steuer schlägt hin und her. Bis wir Segel gesetzt haben, geht nichts mehr ...« »Aber es ist ein Mann über Bord!« »Was?« Der Kapitän erstarrte und schrie den Männern an den Davits zu, ein Boot zu Wasser zu lassen. Der Befehl wurde mit größter Eile ausgeführt, und das Boot fuhr in die Richtung, die Edge anzeigte. Die meisten vom Circus standen am Schanzkleid, verfolgten, wie das Boot vorankam, und suchten den dunklen Fleck, den Edge gesehen hatte, doch selbst dieser konnte ihn nicht mehr entdecken. Sarah blickte zum Elefanten hinüber, der immer noch dort lehnte, wo er gegen die Reling gefallen war. »Die arme Peggy sieht schuldbewußt aus, als hätte sie es absichtlich getan.« »Abdullah«, sagte Florian. »Geh und kümmere dich um deinen Schützling. Bring Peggy von dem Schleuderbrett runter. Und versuch, sie zu trösten.« Peggy jedoch wollte sich offensichtlich nicht von der Stelle rühren, ja nicht einmal von ihrem Wärter anfassen lassen; schließlich jedoch ließ sie sich überreden, von dem Schleuderbrett herunterzutreten und sich wieder aufrecht hinzustellen. Und so wurde, in demselben Augenblick, da die Matrosen im Rettungsboot die Riemen hochnahmen und damit winkten, um zu verkünden, keine Spur von Tim Trimm entdeckt zu haben, das zweite Opfer des Unfalls sichtbar. Als der Elefant seinen mächtigen Leib von der Reling löste, klatschte Tuesday Simms in einer Haltung aufs Deck, die ein lebendiger Körper nicht einnehmen kann. Offensichtlich war sie genauso heruntergeflogen wie die anderen Artisten, jedoch auf die andere Seite von Peggy. Der Elefant hatte sie mit seinem ganzen Gewicht gegen die Reling gedrückt und sie in der Mitte durchgebrochen; jetzt lag sie wie eine Marionette da, die nicht -442-
mehr an den Fäden hängt – nur, daß etwas aus ihr heraussickerte, was in keiner Marionette vorhanden ist. Hannibal mußte fortgehen und sich übergeben, doch als er damit fertig war, sagte er mit schmerzerfüllter Stimme zu den anderen: »Die öle Peggy hat Tuesday absichtlich da festgehalten. Peggy meinte, daß sie noch lebte, solange sie beide standen. Sie wollte nicht, daß die kleine Tuesday tot aufs Deck fiel.« Die Doppelbestattung der Verunglückten und des Verschwundenen mußte warten, bis die Pflichttreu wieder Fahrt machte; denn kein Seemann läßt eine Leiche direkt unter seinem auf der Stelle treibenden Schiff ins Wasser sinken. Die Bestattung mußte also warten, bis die Ersatzschraube angebracht war, und dieses Unternehmen erforderte den Rest des Tages und den gesamten nächsten Tag. Der Rudergänger benutzte das Ruder und die Männer an der Leinwand die Segelstellung, um das Schiff möglichst an ein und derselben Stelle mit lotrechtem Kiel verharren zu lassen. Die Offiziere beaufsichtigten die Verlagerung von allem und jedem, was einiges Gewicht besaß, nach vorn, und die Heizer schaufelten soviel Kohle wie möglich in die Bunker im Vorschiff. Selbst die Circuspferde wurden vom Heck nach vorn geführt und zusammen mit Peggy auf der Back angehalftert. Sämtliche Rettungsboote wurden von den Davits genommen, aufs Vorschiff gezogen und mit Wasser vollgepumpt. Als die Sonne versank, hatte die Pflichttreu, deren ganzes Gewicht jetzt nach vorn verlagert war, eine solche Buglastigkeit angenommen, daß der Vordersteven sich senkte und das Heck halb überm Wasser hing und die Schraubenwelle gerade eben noch vom Wasser umspült wurde. Als die Matrosen am nächsten Morgen Taue an die Heckreling knoteten und die Querversteifung herunterhängen ließen, hievten die Heizer die riesige Ersatzschraube aus Messing an Deck. Kapitän Schilz knurrte fluchend auf deutsch -443-
in seinen Bart, wenn die verdammten Reeder in der ganzen Welt schon Dampfschiffe haben müßten, sollten sie zumindest wieder zu Schaufelrädern an den Seiten zurückkehren, da man diese, wenn eine Schaufel entzwei ging, zur Reparatur so weit hochdrehen konnte, daß sie über Wasser stand. »Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?« fragte Florian ihn. »Nein, Gott sei Dank. Ich habe nur einmal zugesehen, wie das bei einem anderen Schiff gemacht wurde. In der Theorie ist es ganz einfach. Aber in der Praxis ... am Heck eines Schiffes am Seil runterzugehen, das ist was für Bergsteiger ... und den Propeller einzusetzen und die Befestigungsschrauben unter Wasser anzuziehen ... das ist was für Perlentaucher! Keiner von meiner Besatzung hat das jemals tun müssen.« Florian spürte, wie ihn jemand am Rockzipfel zupfte. Er drehte sich um und sah die Chinesen – alle drei splitternackt – vor sich stehen, wieder durcheinanderschnattern und immer wieder auf die große Schiffsschraube, sich selbst und das Wasser unten zeigen. Ehe Florian oder Schilz ihr Erstaunen zum Ausdruck bringen konnten, sprang einer der Ikarier behende auf die Heckreling. Dort packte er ein Tau, stemmte sich mit den Füßen an den Heckplatten ab und marschierte – am Tau hängend rückwärts, barfuß und mit der größten Selbstverständlichkeit zum Wasser hinunter. Dort angekommen, ging er einfach weiter und ward gleich darauf nicht mehr gesehen; nur das straff gespannte Tau zeigte an, daß er immer noch da war. Florian spürte wieder das Zupfen am Rock, diesmal freilich vorn. Einer von den beiden anderen Chinesen hatte ihm die große Taschenuhr aus der Westentasche gezogen und zeigte mit dem Finger immer wieder auf das Zifferblatt. Schilz, der zum dunklen Wasser hinunterspähte, murmelte mehr verwundert als zornig: »Noch so ein beschissener Farbiger, der durch eigene Schuld ertrinkt.« »Nein ... diese beiden wollen, daß ich die Zeit messe«, sagte -444-
Florian und blickte von der Uhr zu der Stelle, wo das Tau unter Wasser verschwand, und nach einer Weile sagte er: »Alle Wetter, der Mann ist gut! Sehr gut sogar! Mindestens schon eine Minute.« Als das Wasser sich wölbte, platschend auseinanderbrach und der Mann von unten zu ihnen hinaufgrinste, steckte Florian die Uhr wieder weg und sagte: »Anderthalb Minuten, falls nicht sogar fast zwei. Vielleicht sind diese Burschen früher wirklich mal Perlentaucher gewesen. Aber egal – ich gehe jedenfalls davon aus, daß sie sich erbieten, die Arbeit für Sie zu verrichten.« »Du lieber Himmel! Drei nackten Affen soll ich das anvertrauen?« »Affe sein, heißt nachäffen. Wetten, daß Ihre Leute ihnen lieber zeigen, wie man’s macht, als es selber zu tun?« Der Kapitän fluchte halblaut vor sich hin, doch schließlich willigte er ein. Und die Matrosen waren nur allzu froh, diese Aufgabe anderen zu überlassen. Lediglich Chief Beck mußte – zumeist mittels Zeichensprache, aber ab und zu auch unter Zuhilfenahme von einem Stück Holzkohle, mit der er etwas aufs Deck malte – die Chinesen mit der simplen Tatsache vertraut machen, daß die Schraube auf der einen Seite eine viereckige Vertiefung aufwies, in die das Ende der Schraubenwelle hineinpaßte, und auf der anderen eine Nabenkuppe, die achteraus zeigen mußte. An der Nabe selbst saßen vier mächtige Befestigungsschrauben, die so fest gedreht werden müßten, daß sie sich nicht mehr rührten. Dann hüserten die Matrosen den riesigen Messingpropeller an Tauen hinunter; die Chinesen kletterten mit einem anderen Tau hinterher, wobei einer von ihnen den Schraubenschlüssel zwischen den Zähnen hielt. Die Aufgabe, die dem Kapitän bei dieser Arbeit zufiel, war weit heikler, als man annehmen möchte. Da das Ruder nicht bewegt werden durfte, solange die Chinesen dort unten arbeiteten, mußte die Pflichttreu so ruhig wie nur irgend möglich im Wasser gehalten werden; entsprechende -445-
Korrekturen durften ausschließlich mit den Segeln ausgeführt werden. Deshalb standen auf allen Rahen Seeleute und waren sämtliche Fallen und Schoten bemannt; mit Hilfe dieser Leute lenkte Kapitän Schilz das Fieren und Einholen der Leinen und damit die Stellung der Segel sehr gekonnt. Die Mannschaft arbeitete unter seiner Leitung wie ein Orchester unter einem Dirigenten, so daß es den Chinesen gelang, die neue Schiffsschraube auf die Welle zu stecken und sie dort innerhalb zwei Stunden festzuschrauben – wobei sie abwechselnd auftauchten, um Luft zu holen, und zwar immer nur einer zur Zeit, der auch nur ein einziges Mal Luft holte und danach sofort wieder untertauchte. Als sie schließlich wieder an Deck kletterten – allerdings längst nicht so munter, wie sie hinuntergestiegen waren –, wurden sie von der gesamten Besatzung mit Hurrarufen begrüßt. Chief Beck kletterte den Niedergang hinunter, während Kapitän Schilz zur Brücke hinaufeilte, von wo aus er in den Maschinenraum hinunter Befehl gab, die Maschine anzulassen. Langsam fing das Deck an zu zittern, und alle hielten die Luft an, dann gab der Kapitän den Befehl ›Langsame Fahrt voraus‹. Das Wasser unter dem hinteren Überhang wallte auf und schlug Blasen, die Vibration des Decks verstärkte sich, allerdings so, wie es sein sollte, nicht unregelmäßig – und die Holzspäne, die man über Bord geworfen hatte, glitten achteraus. Nochmals ertönte ein Hurra. Der Kapitän ließ die Maschinen stoppen und gab Befehle, alle schweren und beweglichen Gegenstände wieder nach achtern zu schaffen und das Schiff wieder so zu trimmen, daß es gerade im Wasser lag. Erst als diese langwierige Aufgabe geschafft war – inzwischen brach die Nacht herein –, befahl er, die Segel wieder zu reffen und danach volle Fahrt voraus zu machen. Die Pflichttreu nahm ihre Fahrt wieder auf. Segelmacher Stitches lieferte eine Persenning und stellte die großen gebogenen Nadeln zur Verfügung, mit deren Hilfe er – -446-
nachdem Magpie Maggie Hag Tuesdays Leichnam hergerichtet hatte – die kleine Simms in das Leichentuch einnähte. Nachdem sie einmal von der Persenning umschlossen wurde, wirkte Tuesdays sterbliche Hülle größer als die eines Erwachsenen, denn am Fußteil war ein Sack mit einem Zentner Kohlengrus auf die Bahre gebunden worden. Nun offenbarte Stitches, er sei auch noch Laienprediger eines Zweiges der Methodistenkirche, und Kapitän Schilz war froh, ihm die Aussegnung am nächsten Morgen überlassen zu können. »Herr, wir schicken Dir zwei kleine Seelen, die ihre Leinen losgeworfen haben«, wandte er sich an den Himmel, während der Rest der Circustruppe und diejenigen der Mannschaft, die gerade keinen Dienst hatten, den Kopf beugten. »Jacob Brady Russum steht bereits auf Deiner Musterrolle, Herr; die andere ist gerade dabei, sich die Gangway zu Dir hinaufzuschleppen.« Die Persenning, in die Tuesday Simms eingenäht war, lag – nur von einem einzigen Tau gehalten – auf einem Lukendeckel, der auf der einen Seite angehoben worden war, damit er eine geneigte Fläche bildete; am Fußende hatte man die Reling abmontiert. »Demütig bitten wir Dich, unsere Schiffsgenossen mit allem gebührenden Zeremoniell an Bord zu pfeifen, sie mit anständigen Seemannshosen auszustaffieren, sie stets mit deftiger Kost aus der Kombüse zu versorgen und ihnen nur leichte Aufgaben während der Tageswachen zuzuweisen, sie nur selten anzuschnauzen und sie die Neunschwänzige Katze so gut wie nie spüren zu lassen.« Sunday Simms weinte, gab jedoch keinen Laut von sich, sondern ließ die Tränen einfach übers Gesicht laufen. Edge, der neben ihr stand, legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie mitfühlend an sich. Sunday sah dankbar zu ihm auf, und ihre eigenen Tränen versiegten. Von Zeit zu Zeit sah sie ihn sogar zaghaft lächelnd an, während Stitches in seiner salzigseemännischen Trauerrede fortfuhr. »Wir flehen Dich an, o Herr, laß Deine Hand sanft auf diesen -447-
beiden Seelen ruhen. Gewähre ihnen gutes Wetter, eine See, glatt wie das Zifferblatt einer Uhr, und achterlichen Wind, Herr, während sie knatternd die Segel setzen und auf die Ewigkeit zulaufen.« Nachdem er noch ein paar Bezüge zum Leben an Bord eines Schiffes hergestellt hatte, beugte Stitches sich über das Buch und las die weit weniger beredten und bewegenden Worte der Standard-Aussegnung: »Hiermit überantworten wir die sterbliche Hülle von Tuesday der Tiefe, auf daß sie dem Vergehen anheimfalle ...« Nachdem alle ›Amen‹ gesagt, einige von ihnen sich bekreuzigt und Florian – diesmal unter Verwendung des Plurals – den alten römischen Grabspruch »Saltaverunt. Placuerunt. Mortui sunt ...« gemurmelt hatte, kappte einer der Matrosen das einzelne Tau, und Tuesday glitt genauso unauffällig und lautlos, wie sie in ihrem Leben gewesen war, den Lukendeckel hinunter, über die Bordwand hinaus und in das kaum bewegte Wasser hinab, in dem sie nicht einmal einen flüchtigen kleinen Wellenring hinterließ. Edge und Yount trugen Rouleau zurück in seine Kammer, und Edge blieb dort, um ihn zu trösten. »Du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, Jules. Macht dir dein Bein zu schaffen?« »Non, non, das geht schon – oder wird gehen, früher oder später, da bin ich ganz sicher.« »Aber was dann? Kummer? Keiner von uns kann behaupten, mehr als nur flüchtig mit gerade dieser von den kleinen Simms bekannt gewesen zu sein. Und daß du ausgerechnet über Tim Trimm innerlich aufgewühlter sein solltest als damals, als Ignatz den Tod fand, kann ich mir kaum vorstellen.« Aufseufzend sagte Rouleau: »Non ... ich vermisse Tim auch nicht als Tim. Nur hat er mir gelegentlich eine gewisse Erleichterung verschafft. Ich meine das nicht komisch.« »So? Wie denn dann?« -448-
Rouleau schüttelte den Kopf, doch Edge sah ihn weiter eindringlich besorgt an, so daß der Franzose schließlich noch einmal aufseufzte und sagte. »Ami, bei einem männlichen Gnom sind nur zwei Dinge von normaler Größe. Und zwar les orifices des deuxbouts.« Wieder ein langes Schweigen. »Der Grund, weshalb ich New Orleans verlassen mußte, waren kleine Jungen. Comprenez? Solange Tim da war – auch wenn er noch so abstoßend war –, konnte ich den Versuchungen und Peinlichkeiten widerstehen. Bist du jetzt entsetzt?« »Nein«, sagte Edge nach einiger Zeit. »Nein, du tust mir bloß leid.« Edge erzählte keinem der anderen davon; nur Florian suchte er auf, ihn von dem Bekenntnis zu berichten. »Foursquare John brummt, daß er keine Arbeit haben wird, wenn wir in Italien landen. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Zuerst hat er für seine Sideshow die Dicke Dame verloren und jetzt einen von seinen weißen afrikanischen Pygmäen. Wenn man von einem Drillingspaar ein Drittel abzieht, bleibt nicht viel vorzuweisen.« »Tst, tst, er soll sich keine Sorgen machen«, sagte Florian leichthin. »In Europa gibt es eine Menge Mißgeburten. Manche tragen sogar Kronen und sitzen auf einem Thron. Das alles muß sich im Laufe der Zeit ergeben. Am schwersten zu ersetzen ist doch Tiny Trimm.« »Wieso das: Es muß doch mehr Zwerge und Gnomen in der Welt geben als andere Mißgeburten?« »O ja, das schon. Was ich meine, ist, daß uns Tim als Tim fehlen wird.« Edge bedachte Florian so ziemlich mit demselben Blick, mit dem er zuvor Rouleau bedacht hatte, und sagte: »Schön, nil nisi bonum und so, einverstanden. An einem Bestattungstag kann ich genauso scheinheilig sein wie jeder andere auch. Trotzdem: Dieser Russum war doch nichts weiter als ein kleines Ekel.« »Und gerade weil er ein solches Ekel war, ein großer Verlust. -449-
Wir müssen uns bemühen, einen anderen zu bekommen.« »Einen anderen verabscheuungswürdigen Gnom?« »Es muß noch nicht mal unbedingt ein Zwerg sein. Jede Art von Artist geht – Hauptsache, er ist ein Widerling und ein Ekel.« »Sind Sie verrückt geworden?« »Zachary, Sie haben noch nicht Erfahrung genug, um mit einer Schar temperamentvoller Artisten fertig zu werden. Immerhin muß Ihnen doch aufgefallen sein, daß wir im großen und ganzen ganz gut miteinander ausgekommen sind, oder? Es hat nur sehr wenig Reibereien gegeben und kaum ernsthaften Streit. Und das liegt daran, daß wir alle Tiny Tim verabscheut haben. In ihm hatten wir jemand, auf den sich all unser Groll und unsere Animositäten richten konnten. Wir konnten sie auf ihn konzentrieren, sie damit vertreiben und uns deshalb besser mit den Schwächen und Schrullen der anderen Kollegen abfinden, mit den Fallstricken und Giftpfeilen des täglichen Einerleis.« Edge überlegte und nickte dann. »Bei näherem Nachdenken muß ich zugeben, daß Sie recht haben. Und deshalb werden wir uns als erstes nach der Landung nach einem neuen verachtenswerten Zwerg umsehen.« »Wir brauchen was Kleinwüchsiges, richtig. Und wir brauchen einen Clown. Ohne den ist ein Circus kein richtiger Circus. Und wir brauchen eine neue widerliche Kröte wie Tim. Finden wir alle drei in einer Person und brauchen auch noch lediglich eine Gage zu bezahlen, um so besser. Und noch besser, wenn er oder sie auch noch das Horn blasen kann.« Vier Tage später passierten sie die Straße von Gibraltar, was die Stimmung aller, Circusleute und Mannschaft, merklich hob. Gleichsam als gälte es, mit etwas zu gratulieren, kam der Erste Ingenieur, Chief Beck, mit einem kleinen Geschenk nach oben, das er für die Damen der Truppe gefertigt hatte. »Neulich habe ich Ihnen beim Training zugesehen«, sagte er, -450-
»und da dachte ich bei mir: Wenn eine hübsche Frau eine hübsche Bewegung macht – auf und ab, oder auch nur beim Gehen –, wäre es doch angebracht, wenn dies Auf und Ab oder dieser Gang musikalisch untermalt würde.« Aus dem Ersatzteillager unter Deck hatte er acht Öldüsenklappen in verschiedenen Größen zusammengesucht und auf einer armlangen Angelschnur aufgefädelt, die kleinsten zuerst, und dann immer größer werdend die anderen. Hielt er die Schnur hoch, so daß sie von der einen Hand herunterhing, konnte er die kleinen ›Glöckchen‹ mit einem kurzen metallenen Meßstab melodisch zum Klingeln bringen. Er machte vor, wie man eine langsame Oktave spielen konnte, wenn etwa Sarah sich mit bloßem Rücken schwanengleich zu einer ihrer Stellungen entfaltete, oder ein wirbeliges Arpeggio erklingen ließ, wenn Sunday einhändig Rad schlug. »Potzblitz, und einen süßen ansteigenden Triller, wenn ich an meinem Haar hochgehievt werde«, sagte Pfeffer, »oder einen absteigenden, wenn Paprika von der Perche runterkommt.« Beck sagte: »Aber selbstverständlich, dramatischere Bewegungen bedürfen der Untermalung durch eine ganze Musikkapelle! Diese kleinen Klunker hier aber haben den Vorteil, daß auch jemand sie spielen kann, der kein Musiker ist.« »Aber man muß schon ein richtiger Musiker sein«, sagte Florian, »um so etwas wie dies hier zu erfinden. Hm. Ich würde meinen, daß ein solcher Musiker nach Wegen sucht, solche Gaben zur Entfaltung zu bringen.« »Richtig ...«, sagte Beck unsicher. »Ich habe darüber nachgedacht... aber ich brauche noch Zeit.« Dann erblickte er Mullenax und packte ihn: »Herr Einauge! Ich habe in meinen technischen Handbüchern wegen Ihres Gasentwicklers nachgelesen!« »Wie beliebt?« -451-
»In den Handbüchern heißt es, um ein halbes Kilo Gewicht zu heben, bedarf es tausend Liter oder eines Kubikmeters Wasserstoff. Deshalb meine ich, daß der Generator ...« »Ach ja, der Generator! Aber ehe wir uns darüber unterhalten, Chief möchte ich Sie einer kleinen Dame vorstellen. Unserer Hausapothekerin, sozusagen. Ich habe ihr von Ihren – nun ja – Haarsorgen erzählt, und wenn ich sie recht verstanden habe, hat sie ein Heilmittel dafür zusammengebraut.« »Im Ernst? Wunderbar! Da bin ich voller Dankbarkeit und muß sie unbedingt kennenlernen.« Als Mullenax mit Beck abzog, um ihn mit Magpie Maggie Hag bekanntzumachen, lächelte Florian ihnen nach und rieb sich die Hände. Dann suchte er den Segelmacher auf. Stitches Goesle trug wie gewöhnlich – sofern er nicht gerade bei einer Aussegnung predigte – den schweren Ledergurt, an dem es von Messern, Ahlen, Marispiekern und Pfriemen nur so klirrte. »Mr. Goesle, der Kapitän war so freundlich, mir einen Stoß unbeschriebenes Papier zu schenken. Könnten Sie die Bogen in einigermaßen kleine Seiten auseinanderschneiden – und mit Fäden Bogen zusammenheften, so daß achtzehn kleine Konuitenbücher entstehen?« »Gewiß doch. Aber was, um alles in der Welt, sind Konuitenbücher?« »Das sind Dokumente, die auf Verlangen den Behörden vorzuzeigen sind. Die Stadtverwaltungen, Gendarmen und Hotelbesitzer in Europa sind fahrendem Volk gegenüber von größtem Mißtrauen. Jeder von uns muß ein solches Büchlein bei sich tragen. Es muß enthalten: Beruf, Alter, eine Personenbeschreibung und so weiter. Und jedesmal, wenn wir einen Zeltplatz mieten oder Unterkünfte beziehen, müssen wir den Bürgermeister oder den Vermieter hinterher bitten, in dem Büchlein zu vermerken, daß wir keine Scherereien gemacht und nichts zerbrochen, uns nicht rüpelhaft betrunken haben und was -452-
derlei Dinge mehr sind. Ich werde übrigens Kapitän Schilz bitten, die erste Eintragung in unserem Buch vorzunehmen und gehe davon aus, daß er uns allen einen guten Leumund bescheinigt.« Selbst den unerfahrensten Landratten unter den Passagieren wurde bald klar, daß die Frühherbstwinde im Mittelmeer zwar sanft und angenehm, gleichwohl überaus launisch sind und völlig unberechenbar von einer Ecke auf dem Kompaß auf die andere umspringen. Der Kapitän, nach wie vor entschlossen, nicht mehr von seiner Fracht zu verbrennen, als unbedingt nötig, schaltete so häufig von Dampf- auf Segelkraft und wieder zurück, daß die Pflichttreu, die den gesamten Atlantik – die Verzögerung auf hoher See eingerechnet – in zwanzig Tagen überquert hatte, nun weitere neun Tage brauchte, um von der Straße von Gibraltar bis zum Ligurischen Meer zu gelangen. Dort war es Quincy Simms, der an einem Spätnachmittag als erster den weißen Leuchtturm von Livorno sichtete, einen Freudenschrei ausstieß und alle Passagiere an Deck rief, wo sie aufgeregt umhergingen und sich die anderen Schiffe ansahen, die sich auf den verschiedenen Routen dem Hafen näherten oder gerade aus ihm ausliefen. Dann jedoch kam aufgeregt eine Dampfbarkasse um die Hafenmole herumgetuckert; Uniformierte an Deck signalisierten der Pflichttreu, sich vom Hafen fernzuhalten. Als die Barkasse nahe genug herangekommen war, rief einer von der Besatzung ihnen durchs Megaphon in verschiedenen Sprachen zu, nicht in den Hafen einzulaufen. Fluchend stand Kapitän Schilz auf der Brücke und sagte: »Ich möchte vor Dunkelheit anlegen. Was ist denn los?« Er griff nach seiner Flüstertüte und belferte hinunter: »Was gibt’s? Che cosa c’e?« Die Offiziere auf der Barkasse erklärten, sie bäten die Pflichttreu, das Einlaufen in den Hafen nur für kurze Zeit aufzuschieben, und zeigten auf etwas, das sich etwa anderthalb -453-
Meilen von ihnen entfernt abspielte. Kapitän Schilz hob seinen Feldstecher an die Augen, um sich die Sache anzusehen, doch war das ganze für die am Backbord-Schanzkleid stehenden Circusleute selbst bei schwindendem Licht noch durchaus zu erkennen. Etwa in der Mitte der Wasserfläche zwischen ihnen und der wuchtigen und verfallenden Fortezza Vecchia lief unter vollen Segeln ein makelloser Dreimaster, ein Kriegsschiff. »Seht sie euch genau an, Jungs«, sagte Stitches, als er zu ihnen trat. »So etwas werdet ihr wahrscheinlich nie im Leben wieder zu sehen bekommen. Ein altes Linienschiff, das noch Villeneuve und Nelson erlebt hat, zwei Decks und vierundsiebzig Geschütze. Sie hat jeden Quadratzoll Segel gesetzt, vom Klüver über die kleine Rah bis zum Besan.« Neben den Segeln trug das Schiff auch eine Flagge, doch war es weder die rotweißgrüne des Vereinigten Königreichs Italien noch die Flagge irgendeines der früheren Teilstaaten, sondern ein reinweißes Feld mit einem breiten, dunkelblauen X, dessen Balken von einer Ecke zur anderen reichten. »Die Kaiserlich Russische Kriegsmarine!« rief Florian. »Was um alles in der Welt ...?« »Die Russische Marine kommt oft hierher, um Manöver abzuhalten«, sagte Goesle. »Vor allem geht es ihnen wohl darum, den Türken übers Meer hinweg die Faust zu zeigen, glaube ich. Aber das sind alles moderne Schiffe. Es ist mir unerfindlich, warum sie ein so schönes altes Museumsstück wie das da drüben wieder in Dienst gestellt haben.« Nachdem sie eine Zeitlang genauer hingesehen hatten, ergaben sich noch andere Ungereimtheiten an dem Schiff. Die Decks waren völlig menschenleer; genauso war auf den Rahen oder in den Wanten niemand zu sehen; nicht einmal ein Rudergänger war zu entdecken; das Schiff bewegte sich unentschlossen im launischen Abendwind. Den Zuschauern ging auf, daß die Mannschaft das Schiff verlassen haben mußte und -454-
das Schiff ruderlos trieb; dann begriffen sie, warum. Rauch löste sich von ihm, quoll dann aus den offenen Stückpforten des Unterdecks; dann leckten leuchtend orangefarbene Flammen ins Dämmerlicht hinaus. »Das Schiff brennt.« »Und kein Mensch versucht zu löschen.« Rings um das wunderschöne, geschlagene Kriegsschiff, jedoch in respektvoller Entfernung, hielt sich eine Flotille kleinerer Fahrzeuge auf – von Dampfbarkassen und eleganten Segelbooten bis zu verlotterten Fischerbooten –, alles, nur kein dampfbetriebenes Feuerwehrboot. »Ach y fi!« Dai Goesle stieß einen echten Schmerzensschrei aus, als das Feuer von den Holzteilen des Rumpfes auf das prachtvolle Gefieder der Besegelung übersprang. Im Handumdrehen war das gesamte Schiff eine lodernde Fackel, deren Licht das des Leuchtturms, das gerade angegangen war und sich zu drehen begonnen hatte, an Helligkeit bei weitem übertraf. Fitzfarris schrak zusammen, als Monday Simms plötzlich auf ihn zugelaufen kam, ihm die Arme um die Hüfte schlang, beseligt zu der Szene auf See hinüberschaute und ihren Leib an seinem Bein rieb. Es dauerte nicht sonderlich lange, bis das Feuer, welches das Kriegsschiff verzehrte, das Pulvermagazin erreichte, das offenbar bis obenhin vollgeladen war, denn es gab eine ohrenbetäubende Explosion, die Flammen loderten hoch und Planken und Wanten flogen wie einzelne Zweige aus dem Feuerball hinaus. Die Luft zitterte, die Pflichttreu geriet ein wenig ins Schaukeln, und den zuschauenden Menschen stellten sich die Haare auf. Monday rieb sich noch einmal kräftig an Fitz’ Bein und ließ ein leises Stöhnen vernehmen. Er griff hinunter, um sie fortzuschieben, und als sie die glasigen Augen zu ihm aufhob, sagte er streng: »Tu das nie mehr, Kind! Es gibt bessere Spiele zu spielen. Geh und lerne sie.« Wachheit trat ihr -455-
in die Augen, traurig sah sie ihn an, trollte sich dann jedoch. Aus den treibenden Wrackteilen des Kriegsschiffs löste sich noch eine Reihe kleinerer Explosionen – wahrscheinlich das Pulver in den Kanonen, die sich erhitzt hatten. Doch die Beamten in der Barkasse neben ihnen schienen zu meinen, daß das Spektakel vorüber sei, denn sie signalisierten Kapitän Schilz, er könne weiterfahren. Als die Pflichttreu die Mole umrundete und eine andere Barkasse den Hafenlotsen an Bord brachte, war Florian der erste, der auf ihn zutrat. Ein Lotse war traditionellerweise eine viel zu hochstehende Persönlichkeit, und eigentlich hätte man annehmen sollen, daß dieser einem Niedrigstehenderen als dem Kapitän und noch dazu so etwas Nichtswürdigem wie einem Passagier eine glatte Abfuhr erteilen würde, doch schien dieser Lotse erstaunt und erfreut, daß ein Ausländer sich in seiner Muttersprache an ihn wandte. Er blieb stehen, um höflich und alles andere als kurz angebunden zu antworten, ehe er auf die Brücke stieg. Und Florian erstattete den anderen Bericht. »Ich habe ihn gefragt, was das alles sollte. Und etwas Verrückteres habe ich mein Lebtag nicht gehört. Offenbar hat Zar Alexander vor kurzem einen Künstler beauftragt, ihm ein bestimmtes Bild zu malen – eine Seeschlacht, die vor hundert Jahren stattfand und in deren Verlauf das spektakulärste Ereignis die Explosion eines Munitionsschiffes war. Nun, der Maler sagte, er habe keine Ahnung, wie eine solche Katastrophe aussähe. Deshalb hat der Zar für diese Demonstration gesorgt – bloß zur Erbauung eines Künstlers! Der Maler sitzt in einem der kleineren Fahrzeuge da draußen. Er wurde hierhergeschickt, wo das alte ausrangierte Schiff vor Anker lag; die Matrosen der kaiserlichrussischen Kriegsmarine beluden es, steckten es in Brand und ließen es in die Luft fliegen – und das alles nur, damit der Künstler auf seinem Bild alle Einzelheiten richtig bringt. Ich freß einen Besen, wenn das nicht Stil ist.« Trauervoll schniefte Stitches Goesle und suchte schlurfend -456-
seine unter Deck gelegene Werkkammer auf. Die Circusleute blieben an Deck und verfolgten, wie die Pflichttreu den Molo Mediceo entlangdampfte, eine mehrere Meilen lange, bogenförmige Mole aus von Meerwasser zerfressenen, tang- und flechtenbewachsenen Felsblöcken, die sich für diejenigen, die sie von Deckshöhe aus vorübergleiten sahen, wie eine haushohe Mauer ausnahm. Doch war die Mole solide gebaut und wurde in regelmäßigen Abständen von Straßenlaternen erhellt. Das Lampenlicht warf flimmernde Lichtkringel auf das tiefgrüne Hafenwasser und verlieh den dunklen Schatten, die in Wirklichkeit an der Mole vertäute Schiffe waren, überdimensionale Ausmaße. Neben der Molenbeleuchtung, dem Licht des Leuchtturms und den Positionslaternen der vielen aufund abdümpelnden Schiffe gab es noch zahllose andere bewegliche Lichtpunkte, denn die Nachtfischer waren gerade beim Auslaufen. Jedes Boot trug eine riesige, pilzförmige Lampe am Heck. Außerdem waren viele Geräusche zu hören – kreischende Dampfwinden und handbetriebene Winschen, ratternde Ladebäume und knarrende Ruderdollen, schauerlich heulende oder tutende Bojen an Liegeplätzen oder im Kanal. Und von weiter, von der äußersten Biegung der Mole her, kamen die Straßengeräusche der eigentlichen Stadt: gelegentliche Fetzen von Musik und Frauenlachen. »Ich glaube, Italien wird mir gefallen«, sagte Edge. »Jawohl, ein angenehmes Land zum Überwintern«, sagte Florian. »Viele Leute kommen aus dem kühlen Norden, um genau das zu tun – unter anderem zahlreiche Artisten vom Circus oder vom Variete, die im Moment gerade ohne Engagement sind. Infolgedessen sollten wir auch bald in der Lage sein, unsere Truppe zu vergrößern.« »Abner murrt, ein Löwe und ein Elefant – das wäre nicht gerade viel für einen Circus. Er möchte auch die Zahl der Tiere vergrößern.« »Na, ich etwa nicht? Welcher Circusbesitzer würde das nicht? -457-
Aber wenn wir vorhaben, auch durch den Rest Europas zu ziehen, dann müssen wir erst einmal die Alpen überqueren. Und der Hannibal, den wir in unserer Truppe haben, ist nicht der Hannibal. Ehe wir die Bergpässe nicht hinter uns haben, werde ich mich hüten, noch mehr Tiere zu erwerben, die nicht auf ihren eigenen Beinen hinüberkommen können.« »Naja, Sie sind der Boss, nein; Verzeihung: der Direktor. Allerdings haben Sie uns nie anvertraut, welche Reisepläne Sie von hier aus haben.« »Das ist ganz einfach. Erst mal tingeln wir durch Italien, was immer das einbringen mag. Dann ziehen wir weiter. Zuletzt geht’s nach Paris. Paris ist das Mekka sämtlicher Circusleute in Europa – was sage ich, Europa –, der ganzen Welt. Nirgend sonst wird der Circus heutzutage so geschätzt wie dort. Mittelmäßige Vorstellungen werden ausgebuht. Wer nicht top ist, sollte sich gar nicht erst hinwagen. Aber ein guter Circus – der kann dort den Ritterschlag erhalten, Ruhm und Ehre einheimsen, Privatvorstellungen vor dem Kaiser geben und Orden verliehen bekommen, die einem Louis Napoleon und Eugenie höchstpersönlich um den Hals hängen. Wenn das geschieht, kann ein so vom Glück gesegneter Circus sich vor goldgeränderten Einladungen aus jeder anderen Hauptstadt der Erde nicht mehr retten. Das zu schaffen, bedeutet mehr als Reichtum und Geld. Ein Circus, der in Paris gefeiert wird, kann zu Recht stolz darauf sein, den Gipfel erreicht zu haben.« »Dann werden wir nicht nach Paris gehen, ehe wir nicht zur Creme de la creme gehören.« »Richtig. Und auf dem Weg dorthin müssen wir unsere Truppe, unseren Tierbestand und unsere Wagenzahl vergrößern und unsere Ausrüstung und unser Programm ausbauen.« »Auf dem Weg dorthin. Aber über welche Stationen dieser Weg geht, haben Sie noch immer nicht gesagt.« »Ursprünglich hatte ich vor, von Italien über die Grenze nach -458-
Österreich-Ungarn zu ziehen – Wien, Budapest –, dann durch die dazwischenliegenden Staaten nach Frankreich und dort auf Umwegen bis nach Paris. Aber heute ... heute habe ich beschlossen, unsere Reisen nicht auf Westeuropa zu beschränken.« »Heute? Warum ausgerechnet heute?« »Zu diesem Entschluß bin ich gekommen, als der Lotse an Bord kam und mir die Gründe für das Spektakel erzählte, das uns dort hinten geboten wurde.« Florian zeigte achteraus, auf eine Stelle, die hinter den auslaufenden Fischerbooten lag und wo der Horizont immer noch von der Glut des brennenden Kriegsschiffs rot gefärbt war. »Der Lotse sagte und ich zitiere ihn wörtlich –, die Zaren aller Reußen hätten sich von jeher als mehr denn großzügig erwiesen, wenn es darum ging, die Künste zu fördern.« »Das will ich jetzt gern glauben. Aber wieso soll das auch für uns gelten?« »Zachary, wir gehören zur Kunst. Wir müssen nach Rußland. Früher oder später müssen wir uns aufmachen, dem Hof von St. Petersburg unsere Aufwartung zu machen.« »Dann werdet ihr diese brauchen«, ließ sich eine Stimme vernehmen. ES war Stitches, der von unten wieder heraufgekommen war und Florian einen Stapel Hefte überreichte. »Ach ja, die Konuitenbücher. Haben Sie verbindlichsten Dank, Mr. Goesle. Ich werde sofort Madame Solitaire bitten, damit anzufangen, die Personalien einzutragen. Aber was ist das? Ich habe nur um ein Heft pro Person gebeten, und nach der letzten Zählung sind wir achtzehn. Sie aber bringen mir zwanzig Führungsbücher.« »In zweien steht schon was geschrieben«, sagte Stitches. »Wie bitte?« Florian blätterte die einzelnen Hefte durch und fand eines, in dem auf der ersten Seite bereits mit Tinte etwas -459-
eingetragen war. Er lehnte sich vor und las im Schein der Molenlaterne, an der das Schiff gerade vorüberglitt: »Dai Goesle, Alter: zweiundsechzig, geboren in Dinbychypysgod, Wales ... Circus-Zeltmacher ... meine Herren!« »Sie kommen mit uns, Dai?« sagte Edge warmherzig und ergriff seine Hand. »Und«, sagte Florian und schlug noch ein Heft auf: »Carl Beck, geboren in München, Bayern, Ingenieur und ... Mechaniker und Kapellmeister!« »Aye«, bestätigte Stitches. »Wenn Sie uns nehmen, kommen wir beide mit, Herr Direktor. Wir schlucken den Anker und versuchen, an Land ein neues Leben aufzubauen. Er und ich, wir haben es satt, gegen den Donner anzufurzen. Chief Beck beklagt sich, daß sein Können auf See überhaupt nicht gewürdigt wird und daß er sowieso nie sein Kapitänspatent bekommt. Und ich ... nun ja, da drüben sehen Sie, wie mein Beruf sinnlos wird.« Mit wedelnder Handbewegung wies er auf den roten Schimmer am Horizont. »Mein Beruf ist tot wie Owen Glendower.« »Aber das ist ja großartig!« frohlockte Florian. »Selbstverständlich nehmen wir Sie gern in unserer Mitte auf.« »Nun, an Land gegangen und entladen wird vor morgen früh nicht«, sagte Stitches. »Wenn Sie den Rat von einem Neuen annehmen, Herr Direktor, geben Sie die Konuitenbüchlein heute abend schon an Käpt’n Schilz, damit er Ihnen gutes Benehmen bescheinigt. Ich nehme an, wenn morgen früh sein Kesselwart und sein Segelmacher ihre Heuer abholen und er sieht, wie wir beide mit Ihnen das Weite suchen, spuckt er Gift und Galle und schnaubt Feuer wie das schöne Kriegsschiff dort drüben.«
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ITALIA
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1 Als die Truppe an Land und außer Hörweite von Kapitän Schilz’ Gezeter ob des Betrugs ausgerechnet durch »einen Bruder im Geiste« war, betrat Florian allein ein Hafengebäude, über dessen Eingang stand: Dogana ed Immigrazione. Er hatte den Stapel der Konuitenbüchlein bei sich, in denen sämtliche Personalien der Circusangehörigen ebenso standen wie die lobenden Bemerkungen, die der Kapitän hinzugesetzt hatte, ehe er desillusioniert worden war. Für die drei Chinesen mußte Sarah die Daten einfach erfinden, doch immerhin waren sie imstande gewesen, ihre Unterschrift – höchst elegante kleine Tintenkrakel – unter die Angaben zu setzen, und das war mehr, als manche von der Truppe konnten. Abner Mullenax, Hannibal Tyree und Quincy Simms zeichneten nur mit Kreuz und Daumenabdruck. Sunday und Monday waren dank Rouleaus Bemühungen imstande, ihren Namen leserlich, wenn auch mit kindlicher Ungelenkheit hinzuschreiben. Der Circus wartete samt Wagen, Tieren und Gepäck auf dem ausgedehnten, gepflasterten Lungomare, der sich vom Hafen bis dorthin erstreckte, wo die eigentliche Stadt Livorno begann. Überall hatten die Fischer auf dem Pflaster Planen ausgebreitet, auf denen sie ihren frischen Fang an Hausfrauen und Domestiken, aber auch an vornehm herausgeputzten Damen verkauften, die zeigten, winkten, in Augenschein nahmen und feilschten, ohne ihre Kutsche zu verlassen. Um sich die Zeit zu vertreiben, vertraten sich einige von den Circusleuten grüppchenweise und immer noch ein wenig zaghaft die Füße. »Kommt einem komisch vor, hier rumzugehen«, knurrte Yount. »Du bist eben noch nicht landfest«, erklärte Stitches. »Schau, wenn man lange Zeit auf einem glatten, federnden Deck gegangen ist und dann hartes, völlig unnachgiebiges Land betritt, ist das zuerst ein Gefühl, als ob man auf Eiern geht.« Sie -462-
brauchten auf dem Lungomare nicht lange zu warten. Florian verließ mit höchst zufriedener Miene das Zollhaus und sagte: »Überhaupt keine Probleme. Höchstens daß es sie ein bißchen amüsiert hat, drei A. Chinks in unserer Truppe vorzufinden, aber sie haben darüber großzügig weggesehen. Alle Formalitäten sind erledigt. Wir können losziehen.« »Die wollen nicht mal unsere Waffen zählen?« fragte Fitzfarris. »Und die Tiere auch nicht auf Krankheiten untersuchen?« »Nein. Und eine Quarantäne bleibt uns auch erspart. Nicht mal was zu bezahlen brauchen wir. Ich denke, Italien ist einfach noch zu neu und zu unerfahren darin, ein vereinigtes Reich zu bilden; bis jetzt haben sie ja noch keine Zeit gehabt, einen Haufen von Bestimmungen und bürokratischen Vorschriften samt zugehörigen kleinlichen Beamten herauszubilden, die einem so auf die Nerven gehen.« »Um so besser. Und was jetzt?« wollte Edge wissen. »Zu allererst mal: tov!« erklärte Magpie Maggie Hag mit Entschiedenheit. »Jawohl, zuerst mal ein gutes Bad!« stimmte Florian zu, »und zwar zur Abwechslung mal nicht in einem Zuber Salzwasser. Ladies and Gentlemen, gestatten Sie mir eine übertriebene Geste – kann auch sein, daß es die letzte für lange Zeit ist. Folgen Sie mir in das Gasthaus dort drüben.« Er zeigte auf das auf der Landseite des Lungomare gelegene Hotel Gran Duca, ein imposantes dreigeschossiges Bauwerk, das zu den Gebäuden der Hafenverwaltung paßte. Immerhin machte das Hotel den Eindruck, als fänden hier Gäste aller Art Unterkunft, denn auf der einen Seite des Hauptgebäudes lagen ausgedehnte Stallungen, eine Wagenremise und ein Wirtschaftshof, und auf der anderen Seite ein Laden für Schiffsausrüstungen sowie einer mit billiger Konfektionsware für Seeleute. -463-
»Ich werde Zimmer für uns alle belegen«, sagte Florian, »das Bad für alle herrichten lassen und anordnen, daß im Speisesaal für die mittägliche Colazione gedeckt wird. Unsere erste Nacht in Europa werden wir in sybaritischem Luxus schwelgen.« Die Frauen stießen spitze kleine Freudenlaute aus. »Und würdest du, Zachary, so liebenswürdig sein, dafür zu sorgen, daß unsere Tiere und Wagen im Wirtschaftshof unterkommen? Sorg dafür, daß Heu und Hafer für Peggy und die Pferde sowie Fleisch für den Löwen vorhanden sind – und ganz in der Nähe eine Schlafstatt für Abdullah, Ali Baba und unsere drei Chinesen.« Edge mußte sich erst überwinden, zum erstenmal sein Italienisch auszuprobieren. Glücklicherweise geriet er jedoch an einen Pferdeknecht, der fließend mehrere Sprachen beherrschte und von einer Weitläufigkeit war, daß er nicht die geringste Überraschung bekundete, als man ihn bat, sich – neben acht Pferden – auch noch um einen Elefanten, drei Schweine, einen Löwen, zwei schwarze und drei gelbe Männer zu kümmern. Nachdem diese Dinge geregelt waren, ging Edge um das Hotel herum, um es durch den Haupteingang zu betreten. Die Halle des Gran Duca war riesig und von ziemlich düsterer Pracht: nichts als Mahagoni-Möbel, weinrote Portieren und ebensolche Plüschsessel. Aus dem an die Halle angrenzenden Schankraum drang lautes, trunkenes Stimmengewirr, während in der Halle wohlgekleidete Damen über Teetassen plauderten und nicht minder sorgfältig angezogene Herren in Zeitungen blätterten, gewaltige Zigarren rauchten oder vor sich hin dösten. Da Edge selbst nur seinen alten Waffenrock und Militärhose, Stiefel und Dreispitz trug, kam er sich in dieser Umgebung vor wie ein Bauernlümmel. Dann fühlte er sich angesprochen: »Signore, per favore. Monsieur, s’il vous plait.« Als er sich umdrehte, sah er sich einer kleinen, auffallend wohlgeformten jungen Fremden gegenüber, die ihm lebhaft winkte. Sie war von Kopf bis Fuß in blasses Gelb gekleidet – einen -464-
weit gebauschten Krinolinenrock, ein geradezu verrucht tief ausgeschnittenes Mieder, ein keckes Hütchen; während sie auf ihn zukam, legte sie einen blaßgelben Sonnenschirm zusammen – es sah aus, als blinke ein Sonnenstrahl in der eher düsteren Halle, und das Leuchten, das von ihr ausging, zog die bewundernden Blicke aller männlichen Müßiggänger sowie den steinern starren Blick einer jeden Frau im Raum auf sich. Sie hatte langes, gewelltes Haar in der rotbraunen Tönung einer polierten Kastanie. Die braune Iris ihres Auges wies soviel Goldsprenkel auf, daß sie blütenblättrig wirkte; außerdem hatte sie Grübchen in den Wangen, was den Eindruck vermittelte, als breche sie beim geringsten Anlaß in ein Lächeln aus. Sie trat auf Edge zu – und als sie vor ihm stand, reichte sie ihm gerade bis zur Brust. Außerdem hatte sie die winzigste Wespentaille, die er je bei einer Frau gesehen hatte, obwohl diese offensichtlich nicht durch so etwas wie ein Korsett eingeschnürt wurde. Sie schritt behende aus, und auch ihre Brüste bewegten sich mit größter Natürlichkeit. Mit einem kaum verhohlenen Lächeln auf den Lippen sah sie zu ihm auf, dann legte sie ihr hübsches Köpfchen auf die Seite, als gälte es zu entscheiden, welcher Sprache sie sich bedienen sollte, und als Edge den Hut lüpfte und fragend die Augenbrauen hochschob, sagte sie: »Sie sind Zachary Edge.« »Vielen Dank, Madame«, sagte er feierlich und nickte zustimmend. »Aber das habe ich bereits gewußt.« Sie schien leicht verwirrt, daß er nicht gesagt hatte: »Stets zu Diensten, Madame« oder irgendeine andere nichtssagende Floskel. Die Grübchen in ihren Wangen zitterten verhalten, und sie versuchte es mit einer anderen Sprache. »Je suis Automne Auburn, monsieur. Du metier danseuse de corde. Entendezvous francais?« »Einigermaßen ja, aber warum bleiben wir nicht beim Englischen?« -465-
Die Grübchen kamen zur Ruhe, neckisch warf sie die kastanienroten Locken hoch, zwirbelte mutwillig den Schirmgriff und sagte dann im breitesten Londoner Cockney: »Okay, Direkter. Ich bin Seiltänzerin un’ heiß Autumn Auburn un’ ...« »Das glaube ich nicht.« »Hier haben Sie’s schriftlich!« rief sie und hielt ihm eine Zeitung unter die Nase, die sie zusammengelegt unterm Arm getragen hatte. »Die Era, seh’n Sie? Die Zeitung der Circusleute. Kost’n Haufen Geld, aber von mir kriegen Sie sie umsonst. Seh’n Sie sich’n Anzeigenteil an. Die Annonce hat mich fünf verdammte Schilling gekostet.« Sie zeigte auf eine Spalte, und Edge las laut vor: »Vater bietet Managern: seine kleine Tochter, vierzehn Jahre alt ...« »Ne, die doch nich’!« Sie zog an der Zeitung, doch er las weiter, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. »... vierzehn Jahre alt, die nur ein Auge hat, über der Nase, und ein Ohr an der Schulter. Interessenten wenden sich bitte an diese Zeitung.« Er reichte ihr die Era zurück. »Ich hätte Sie für älter als vierzehn gehalten. Aber ihr Mißgeburten seht ja häufig jünger ...« »Sie könn’ auf Ihre Spaße nich’ verzichtn, was? Hier! Das hier is’ meine.« Sie nötigte ihm die Zeitung wieder auf, und er tat ihr den Gefallen und las vor sich hin: »Miss Autumn Auburn, la plus grande equilibriste aerienne de l’epoque – ne plus ultra – affatto senza rivale. Frei ab August diesen Jahres. Nun, Miss, die Vielsprachigkeit bewundere ich. Allein in diesen wenigen Zeilen zähle ich fünf Sprachen. Gleichwohl weigere ich mich nach wie vor zu glauben, daß irgendein Mensch auf den Namen Autumn Auburn getauft worden sein könnte.« Verschmitzt zog sie den Kopf ein und legte ihn auf die Seite; aus ihrem Lächeln wurde ein rückhaltloses Lachen, »’türlich is’ -466-
das nich’ mein richtigr Name.« Durch ihre dichten Wimpern hindurch sah sie zu ihm auf. »Aber wenn Cora Pearl – die zu Haus in Cheapside schlicht Emma Crouch hieß –, wenn die es geschafft hat, im lustigen Pari ihr Glück zu machn, indem sie sich Cora Pearl nannte ...« Sie wirbelte ihren Sonnenschirm herum. »... da hab’ ich mir gesagt, warum soll die kleine Nellie Cubbidge nich’ das gleiche erreichn, indem sie sich den nomdechambre Autumn Auburn zulegt?« »Und Ihrer schauerlichen Aussprache traue ich auch nicht. An Bord dieses Schiffes habe ich genug echte Cockneys gesehen und gehört.« Wieder lachte sie und sagte in einem Englisch, dessen Akzent nur melodiös genannt werden konnte: »Sie sind wirklich jeder Form von Spott unzugänglich und bis obenhin zugeknöpft, nicht wahr, Mr. Edge? Sie lächeln ja nicht einmal.« »Dafür tun Sie das um so viel hübscher, Miss. Ich möchte, daß Sie für uns beide lächeln, und das für den Rest unseres Lebens.« Einen Moment sahen sie sich schweigend, aber alles andere als gleichgültig an. Dann schüttelte sie leicht den Kopf, als gälte es, wach zu werden, und wurde wieder ausgelassen. »Geben Sie mir’n Job, Direkter, und ich lächle mich tot für Sie.« »Woher wußten Sie denn, wer ich bin?« Sie griff wieder auf ihre normale Sprechweise zurück, und doch hatte das, was sie sagte, immer noch etwas leicht Schalkhaftes. »Ich weiß alles von Ihnen. Ich sah die Circo carrozzoni landen und bin hin, den Portinaio auszufragen. Der sagte mir, alle Circusangehörigen wären gegangen, ein Bad zu nehmen – bis auf den Signor Zaccaria Eddjje, der sich offensichtlich nicht badet. Ich wollte partout nicht glauben, daß jemand auf den Namen Zaccaria Eddjje getauft sein könnte, woraufhin er mich einen Blick in Ihr Konuitenbuch werfen ließ. -467-
Sie sind Amerikaner und feiern am zwanzigsten September Ihren siebenunddreißigsten Geburtstag. Außerdem sind Sie Sprechstallmeister von FLORIANS BLÜHENDEM FLORILEGIUM et cetera pp. All diese Dinge waren von weiblicher Hand eingetragen worden, folglich haben Sie eine Frau ... oder Freundin ...« Sie hielt inne, als erwartete sie, daß er etwas sagte, und fügte dann leichthin zu: »Es ist mir unerfindlich, wie Sie eine gefunden haben wollen, wenn Sie etwas dagegen haben zu baden.« »Heißen Sie mit richtigem Namen wirklich Nellie Cubbidge?« »Herzchen – würden Sie sich den freiwillig ausdenken?« »Dann werde ich Sie Autumn nennen, wenn Sie gestatten. Wenn ich mich nicht irre, ist eine Equilibriste eine Seiltänzerin ...« »Seil oder Trosse. Schlaff oder straff. Mit eigenem Gerät.« »Wer bei uns einstellt, das ist Mr. Florian, doch drehe ich ihm den Hals um, wenn er Sie nicht engagiert. Nachdem das geregelt ist, dürfte ich Ihnen etwas zu trinken anbieten – wollen wir in der Bar dort drüben unser Abkommen besiegeln?« »Aufrichtig gesagt wäre es mir lieber, Sie würden mir was zu essen anbieten.« »Nun, wir treffen uns alle zur Colazione im Speisesaal – wenn ich recht verstanden habe, also zum Mittagessen.« »Ach, wie schön!« »Kommen Sie und helfen Sie mir, falls ich italienisch reden muß, um dem Mann an der Rezeption zu sagen, daß er noch ein Gedeck mehr auflegen lassen soll. Und wenn Sie gestatten und mich für einen Moment entschuldigen, ich möchte meine lebenslange Abneigung gegen Wasser überwinden und ein Bad nehmen.« »Ach, es wird immer schöner!« -468-
»Zum Essen bin ich dann wieder bei Ihnen, um Sie mit Ihren neuen Kollegen bekanntzumachen.« Als die Circusleute sich versammelt hatten, schoben die Kellner im Speisesaal ein paar Tische für sie zusammen. Alle hatten ihren Sonntagsstaat angelegt, sofern davon überhaupt die Rede sein kann, und Clover Lee verströmte ein Übermaß an Dixie Belle Extrakt von Weißem Heliotrop, so wie Carl Beck um sich herum die undefinierbaren Düfte jenes Haarwuchsmittels verbreitete, das Magpie Maggie Hag für ihn zusammengebraut hatte. Hannibal, Quincy und die Chinesen aßen mit den Stallknechten, und Monsieur Rouleau werde auf seinem Zimmer serviert, wie Florian sagte, um noch hinzuzusetzen, nach dem Essen werde der Hotelarzt ihn gründlich untersuchen. Infolgedessen waren sie zu vierzehn am Tisch, doch Edge holte noch einen Extrastuhl, den er zwischen sich und Florian schob; erst dann ging er, die in einem kleinen Nebenraum wartende Autumn Auburn zu holen. Er stellte sie der Truppe mit der stolzen Miene des Kenners vor, der in einem Trödelladen ein bisher unerkanntes Kunstwerk von großem Wert entdeckt hatte, und Autumn tat gutwillig ihr Bestes, ein bescheidenes und dankbares Gesicht zu der Vorstellung zu machen. Durch die Bank strahlte sie jeder Mann bewundernd an. Und wiewohl Autumn besser gekleidet war als jede andere von ihnen, standen die Frauen den Männern darin nicht nach – bis auf zwei. Sarah Coverley und die kleine Sunday Simms hatten augenblicklich Edges glühendes Gesicht gedeutet und betrachteten die Neuangekommene mit einer gewissen Schwermut. Florian hieß sie herzlich willkommen, und die meisten anderen schlossen sich dem an. Als ihr Carl Beck vorgestellt wurde, sah dieser sie eindringlich an. »Fräulein Auburn, Sie sind das gespuckte Ebenbild irgendeiner anderen Schönheit, der ich begegnet bin oder deren Bild ich gesehen habe – doch wer es gewesen sein könnte, will mir im Moment nicht einfallen.« -469-
Als Sunday Autumn die Hand schüttelte, murmelte sie nur: »Enchantee.« Sarah hinwiederum meinte leichthin: »Zachary ich gratuliere dir, bin aber gleichzeitig enttäuscht. Miss Auburn arbeitet kein Klischnigg.« Verdrossen sagte Edge: »Ich dachte, ich täte gut daran, deiner geballten Phalanx von Herzögen und Grafen aus dem Weg zu gehen.« »Ein Gentleman hätte gewartet«, sagte sie in immer noch frotzelndem Ton, »bis er zumindest vom ersten überrannt worden wäre.« Autumn, deren goldbrauner Blick während dieses Schlagabtauschs lebhaft zwischen den beiden hin- und hergegangen war, sagte: »Madame Solitaire, Sie müssen es gewesen sein, die die Personalien in die Konuitenbücher eingetragen hat.« »Jawohl, stimmt. Und ich kann Ihnen versichern, meine Liebe, daß er sich zu Ihrer äußersten Zufriedenheit aufführen wird.« »Ach, das hätten Sie in das Büchlein eintragen sollen, meine Teuerste. Jetzt muß ich das selbst herausfinden.« »Touche«, sagte Florian. »Stecken wir die Degen weg, meine Damen. Ein Mann, der auch nur das geringste auf sich gibt, haßt es, wenn in der dritten Person von ihm gesprochen wird, so als wäre er taub oder ein Weichling oder ein teurer Verstorbener – und Colonel Edge ist keins von alledem.« »Alle Wetter – ein richtiger Colonel sind Sie?« sagte Autumn mit übertriebener Zerknirschung zu Edge. »Und ich habe Sie nur mit Mister angeredet.« »Bitte alle Platz zu nehmen!« sagte Florian. »Jetzt kommen die Antipasti und – nein, kein Champagner, noch nicht – aber dafür ein anständiger Vino bianco. Sie kennen vermutlich den Weinkeller des Hauses, Miss Auburn. Wohnen Sie gleichfalls in diesem Hotel?« -470-
»Eigentlich nicht«, sagte sie, während sie sich reichlich auf ihren Teller häufte. »In der Remise des Hotels, in meinem eigenen Wagen, gleichsam zu Stallpreisen. Und, recht bedacht, auch zu Stallrationen.« »Nun, ehe Sie sich entschließen, zu uns zu stoßen, sollten wir Sie aufklären«, sagte Florian. »Dies ist seit sehr langer Zeit das erstemal, daß wir unter einem richtigen Dach wohnen, und vielleicht auch das letztemal. Aber lassen Sie uns erst dann zum Geschäftlichen kommen, wenn wir alle gesättigt sind. Erzählen Sie uns, was Sie hierher verschlagen hat.« Zwischen unverschämt großen Happen von kaltem Braten, eingelegten Pilzen und Artischockenherzen in Öl erwiderte Autumn mit stakkatohafter Wortkargheit: »Alte Geschichte. Aufgemotzte Show. CIRCO SPETTACOLOSO CISALPINO. Hier auf dem Zeltplatz. Der Herr Direktor brannte mit der Kasse durch. Alle anderen saßen auf dem trockenen. Ein paar von uns blieben hier. Kaum eine andere Wahl. Spielten für die Sommerfrischler an der See, ließen den Hut rumgehen. Hut im allgemeinen leer zurück. Jetzt ist die Saison vorüber. Immer noch auf dem trockenen.« Die Kellner trugen Terrinen mit verführerisch duftender Cacciucco-Fischsuppe auf und schickten sich an, die Platten mit den Antipasti fortzuräumen. Autumn verschluckte sich fast, als sie sagte: »Prego, lasciate«, um sie daran zu hindern; woraufhin sie sich an die Tafelgesellschaft ganz allgemein wandte und sagte: »Bitte, Sie haben für all diese kleinen Leckereien bezahlt. Wenn Sie sie nicht aufessen wollen, dürfte ich ...?« »Warten Sie, Missy«, sagte Stitches. »Es gibt noch viel mehr, gleich. Sie brauchen sich den Bauch nicht mit den Vorspeisen vollzuschlagen.« »Ich dachte auch nicht an mich. Ich dachte – wenn man sie einwickeln könnte – da sind noch ein paar andere hungrige Circusleute, die letzten Überbleibsel vom CISALPINO, die -471-
Ihnen allen dankbar wären.« Florian gab augenblicklich auf italienisch entsprechende Anweisungen, woraufhin die Kellner sich beflissen verneigten und Autumn fortfuhr: »Ich bin mehr vom Glück begünstigt als die anderen. Ich habe mein eigenes Gerät und meinen eigenen Wagen auch für die Requisiten. Tatsächlich habe ich auch ein Angebot vom CIRCO ORFEI gehabt, aber die treiben sich irgendwo hoch im Norden in Piemont herum. Was die Stallgebühr betrifft, hat die Hotelleitung hier sich zwar sehr großzügig gezeigt, doch ich kann meinen alten Gaul erst vor den Wagen spannen, wenn ich die Rechnung bezahlt habe. Infolgedessen habe ich einfach gehofft zu überleben, bis der ORFEI hier in der Gegend auftaucht – falls er das jemals tut.« »ORFEI, guter Circus«, sagte Magpie Maggie Hag. »Überall berühmt. Und wohlhabend. Keine Kirchenmäuse. Sollten sich denen anschließen.« Stirnrunzelnd sah Edge sie an. Florian bedachte sie mit einem schmerzerfüllten Blick und sagte: »Zum Teufel, Maggie. Ich wollte erst hinterher über das Geschäftliche reden, aber ...« Er wandte sich wieder Autumn zu. »Ich will gern einräumen, daß die Familie Orfei Ihnen vermutlich mehr bezahlen würde – und das auch regelmäßiger, als wir das können. Wir haben nichts zu bieten außer Vorschuß und Versprechungen.« »Wir sollten auch gestehen, daß wir nicht immer so gut essen«, sagte Edge und zeigte auf die Platten mit Meerbarben und die Schüsseln mit Spaghetti, die die Kellner gerade auf den Tisch stellten. »Ich bin frei, weiß und einundzwanzig«, sagte Autumn. »Sagt man das nicht so in Ihrem Land, Colonel Edge?« »Einundzwanzig«, wiederholte Sarah echogleich und leise in ihr Weinglas hinein. »Und treffe meine Entscheidungen selbst«, sagte Autumn. -472-
»Wenn Platz für mich da ist, Mr. Florian, würde ich mit Freuden einschlagen.« Pfeffer rief aus: »Das ist gutirisch ausgedrückt, auch wenn du eine Sassenach bist, alannah. Häng dich an den aufgehenden Stern.« Das Weinglas hebend, verfiel sie in eine noch breitere Aussprache. »In Paris wer’n wir mit edlem Schampus anstoßn un’ in schön’ Karossen die Schampus Elises rauf und runterkutschiern, nicht wahr, Pap?« Als diese nicht sofort reagierte, sagte sie mit großer Schärfe: »Nicht wahr, Paprika?« »Oh«, sagte Paprika offensichtlich aus ihren eigenen Gedanken gerissen, die sie über Sarahs wehmütig sinnendes Gesicht anstellte. »Ja, ja, selbstverständlich, Pep.« »Außerdem, Mr. Florian«, sagte Autumn, »falls Sie der einzige in der ganzen Truppe sind, der italienisch spricht, könnte ich auch in der Beziehung von Hilfe sein.« »Sprechen Sie es fließend?« Er hielt ein Essig-Öl-Fläschchen – eigentlich eine Doppelflasche – hoch, das auf dem Tisch vor ihm stand und dessen Hälse in entgegengesetzte Richtungen gebogen waren. »Im Wörterbuch-Italienisch ist dies eine Ampollina. Kennen Sie auch den landläufigen Ausdruck dafür?« Autumn lächelte ihr reizendes Grübchenlächeln und sagte: »Das ist eine Suocera e nuora, Schwiegermutter-undSchwiegertochter, und das, weil beide Tüllen nicht gleichzeitig gießen können.« Beifällig erwiderte Florian das Lächeln. »Zachary, das ist ein echter Schatz, den du da für uns aufgetrieben hast.« Dann wandte er sich Fitzfarris zu. »Sir John, bis Sie sich ein paar Sprachkenntnisse angeeignet haben, werde ich allein mit den Behörden verhandeln müssen; dazu kommen noch hundert Kleinigkeiten und die Ansage bei den Vorstellungen.« »Ich werde mit dem Lernen anfangen, so schnell es geht«, versprach Fitz. »Inzwischen«, fuhr Florian fort, »werde ich noch heute eine -473-
Druckerei aufsuchen und viele neue Plakate bestellen. Zachary, wir müssen ein neues Programm ausarbeiten, in dem auch Miss Auburn und die Chinesen Platz finden. Doch vor allem muß ich das Rathaus von Livorno aufsuchen und dafür sorgen, daß wir morgen schon einen Zeltplatz haben. Wie lange wir hierbleiben – ehe wir weiter landeinwärts ziehen –, hängt natürlich davon ab, welchen Erfolg wir hier haben.« Er sah sich im Raum um und nahm all die wohlgekleideten, tafelnden und angeregt miteinander plaudernden anderen Gäste in sich auf, so als gälte es einzuschätzen, wie weit man sie zum Circusbesuch animieren könne und ob sie auch imstande wären, den Eintritt zu entrichten. »Wenn ich noch einen Vorschlag machen dürfte«, sagte Autumn und wartete Florians Kopfnicken ab. »Bitten Sie im Municipio um die Erlaubnis, das Zelt im Park der Villa Fabbricotti aufzuschlagen. Der CISALPINO hat diese Erlaubnis nicht erhalten, doch liegt besagter Park im elegantesten Stadtteil.« »Ich danke Ihnen, meine Liebe. Sie werden uns von Minute zu Minute unentbehrlicher. Können Sie zufällig etwa auch noch Horn blasen?« Lachend verneinte sie dies, woraufhin Carl Beck sich vernehmen ließ. »Ihr Kapellmeister bin ich. Und ich brauche Musiker für eine Kapelle, oder etwa nicht?« Hilflos hob Florian die Hand. »Wir haben einen tüchtigen Trommler, einen Anfänger im Akkordeonspiel und einen Ersatzhornisten. Klein anfangen, wie man auf deutsch sagt, Herr Beck, allerdings hoffen wir ...« Stitches Goesle zeigte mit hocherhobener Gabel rings im Raum herum und sagte: »Teufel aber auch, da sitzen alle diese Itaker und können singen wie ein Waliser und jedes Instrument spielen, das man ihnen in die Hand drückt.« »Das stimmt zwar«, sagte Florian, »aber die meisten Italiener -474-
mit Ausnahme der Oberklasse haben eine panische Angst, sich weiter von daheim zu entfernen. Nein, hier in Europa ... nun ... Paprika, Pfeffer, Maggie, ich bin sicher, Ihr könnt es dem Zeltmeister erzählen.« Die jüngeren Frauen überließen diese Aufgabe Magpie Maggie Hag, die sagte: »Dazu braucht man Böhmen. Böhmen, das sind die Nigger Europas. Jeder Circus hat welche. Das sind die Handlanger, die helfen beim Abbauen, beim Fahren, beim Aufbau – und hinterher spielen sie in der Kapelle. Ihr Land ist so arm, daß sie es verlassen und man sie in Europa in jedem Circus findet. Sparen sich was zusammen und tragen das Ersparte zurück nach Hause, zur Familie, und kommen zurück und fangen wieder beim Circus an.« »Bei meinem Sam!« sagte Goesle. »Um so besser. Heuern wir also Böhmen an, Carl, für deine Kapelle und als meine Helfer. Ich hab’ mir Ihre Zeltbahnen angesehen, Mr. Florian, und da ist mir eine Idee gekommen, wie man das Fassungsvermögen Ihres Zeltes verdoppeln könnte.« »Nun, bis wir wissen, welche Massen wir anziehen ...«, begann Florian, doch ließ Carl Beck ihn nicht ausreden, fiel ihm ins Wort und sagte: »Außerdem möchte ich, daß mit dem Bau des Gasentwicklers für den Ballon begonnen wird. Und dazu brauche ich Hilfskräfte.« »Gentlemen, Gentlemen«, versuchte Florian sie zu beschwichtigen. »Ich dachte, ich hätte Ihnen beiden klargemacht, daß wir unsere Tournee mit erbärmlich wenig Kapital beginnen. Und bis das aufgefüllt ist ...« »Was kann schon ein Gasentwickler kosten?« wollte Beck wissen. »Ein bißchen Metall, ein paar Zahnräder und etliche Gummischläuche. Keine großen Ausgaben. Um ihn zu betreiben, genügen Eisenspäne, wie sie in jeder Schmiede anfallen. Das einzige, das etwas kostet, sind die Korbflaschen -475-
für die Schwefelsäure.« »Herr Kapellmeister, im Augenblick übersteigt jede Ausgabe unsere Möglichkeiten.« Beck sah eindringlich Goesle an und sagte: »Wir haben ja unsere Heuer.« Dann gaben beide nickend ihr Einverständnis zu erkennen, und Beck wandte sich wieder Florian zu. »Ein Abkommen. Die Böhmen stellen Sie. Dai und ich stecken unser Geld in Leinwand, Bleche, Musikinstrumente, alles Nötige. Je eher wir mit einem guten Programm, einer guten Kapelle und einem großen Zelt aufwarten können, desto schneller kommen wir alle zu Geld, hab’ ich nicht recht?« »Ohne Zweifel«, sagte Florian. »Und ich danke Ihnen beiden für die Geste guten Willens und des Vertrauens. Gleichwohl glaube ich, auch ein solches Gentlemen’s agreement bringt keinen einzigen Böhmen dazu, sich uns anzuschließen. Sie gehören der Arbeiterklasse an, und Denken ist die einzige Arbeit, zu der sie nicht fähig sind. Für Anteile zu arbeiten, übersteigt ihr Vorstellungsvermögen. Das einzige, was sie verstehen, ist Geld auf die Hand.« »Aber sie sind auch gewöhnt, daß ein Teil ihres Lohnes einbehalten wird«, erklärte Autumn. »Wird das nicht auch in den Vereinigten Staaten so gehandhabt?« Leicht errötend sagte sie: »Es scheint, als ob ich mich allzu häufig einmischte. Aber unser feiner Herr Direktor, der mit der Circuskasse durchgebrannt ist, hat auch eine Gruppe von Böhmen zurückgelassen, die hier festsitzen.« »Rücklagen, jawohl«, murmelte Florian und sah sie anerkennend an. »Das wird überall beim Circus so gemacht, und auch ich habe das getan, sogar in den besten Jahren, in denen es wöchentlich Gagen gab.« Für diejenigen, die keine Ahnung hatten, um was es ging, erklärte er: »Jeder, der neu bei einem Circus anfängt, bekommt die ersten drei Wochen keine Gage ausbezahlt – diese Rücklage bekommt er erst am Ende der -476-
Saison in die Hand. Das ist eine alte Sitte, die teils dazu diente, gute Leute davon abzuhalten, in den Sack zu hauen und sich einem besser zahlenden Unternehmen anzuschließen, teils aber auch philantropischen Zwecken – um zu gewährleisten, daß Trunkenbolde und Verschwender zumindest das Geld haben, sich eine Fahrkarte nach Hause zu kaufen, wenn die Saison zu Ende ist.« »Nun, da hast du’s ja«, sagte Pfeffer. »Die Böhmen kosten dich nicht mehr als den Unterhalt, und sie werden noch froh sein, wenigstens den zu bekommen. Sie brauchen ja nicht zu erfahren, daß wir sie gar nicht bezahlen könnten, und werden einfach davon ausgehen, daß es sich dabei um das alte Rücklagensystem handelt. Und wenn wir sie nach drei Wochen immer noch nicht bezahlen können ... nun, wir haben schlimmere Sorgen als das, meine Herren.« »Richtig, richtig«, sagte Florian. »Und für die Verpflegung reicht es immer noch. Also dann, Herr Beck und Mr. Goesle: Sie sollen Ihre Böhmen bekommen. Das bedeutet, daß Sie loslegen können.« Die beiden hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Köpfe zusammenzustecken, während Florian sich nochmals an Autumn wandte. »Sie erwähnten, daß da noch andere Artisten wären, die auf dem trockenen sitzen. Um was für Nummern geht es denn? Und steht ihnen das Wasser soweit bis zum Hals, daß sie sich darauf einlassen würden, sich uns auf der Rücklagenbasis anzuschließen?« »Hmm ...« machte Autumn. »Jetzt werden Sie denken, daß ich anderen nichts gönne. Selber eine Stelle finden und zusehen, wie die anderen das Nachsehen haben. Aber ich sehe beim besten Willen nicht, was Sie mit den anderen anfangen könnten.« »Erzählen Sie immerhin.« »Die einzigen, die noch in der Stadt sind, das sind die Smodlakas. Jugoslawen. Kunststücksköter.« -477-
Mindestens die Hälfte der an der Tafel Versammelten begriff nichts. Florian mußte es ihnen erklären: »Eine Dressurnummer mit Hunden.« »Es handelt sich um Promenadenmischungen – drei Tiere«, sagte Autumn. »Nicht besonders schön anzusehen, aber sie sind recht gut. Die Jugoslawen hatten jugoslawische Namen für sie, die natürlich kein Mensch aussprechen kann, und deshalb habe ich die drei Köter immer Terry, Terrier und Terriest genannt, und jetzt sind das die einzigen Namen, auf die sie noch hören.« Florian lachte und fragte: »Und was ist dagegen einzuwenden, diese Jugoslawen zu verpflichten?« »Nun, es gehören noch zwei Kinder zur Familie. Ein sechsjähriges Mädchen und ein Junge von sieben, acht Jahren. Die Reste vom Essen wollte ich für die Familie Smodlaka haben.« »Sind die Gören nur lästig, oder arbeiten sie auch?« »Das tun sie. Und zwar als Ausstellungsstücke. Sie sind nämlich beide Albinos. Weißes Haar, weiße Haut und rosa Augen.« »Echte Albinos? Aber das wäre doch mal ein Anfang für unsere Sideshow, Sir John! Ein Paar ›Geschöpfe der Nacht‹, die wir neben unserem Weißen Pygmäen zeigen könnten. Warum, um alles in der Welt, sollte ich eine solche Familie nicht haben wollen?« »Weil Pavlo, der Vater, ein absolutes Arschloch ist. Alle anderen haben ihn verabscheut.« »Soso«, meinte Florian halblaut und sah Edge bedeutungsvoll an. »Und woran merkt man, daß er ein ... hm ... Arschloch ist?« »Daran, wie er seine Familie behandelt. Mit den Kindern spricht er kein Wort, und wenn er sich an seine Frau wendet, blafft er sie an, als wäre sie nichts weiter als einer seiner Terrier. Sogar verprügelt haben soll er sie. Dabei ist Gavrila ein so liebenswerter, sanfter Mensch, daß jeder andere Pavlo deswegen gehaßt hat.« -478-
»Zachary?« sagte Florian. »Wie war das mit dem gewissen Ersatz, über den wir gesprochen haben?« »Wenn Sie meinen, Herr Direktor? Sollte er ganz und gar untragbar werden, können wir ihn ja immer noch seinen eigenen Hunden zum Fraß vorwerfen. Vielleicht bleibt uns nichts anderes übrig. Für jemand, der keine Gage zahlen kann, lassen Sie sich auf eine Riesensumme allein für die Verpflegung ein.« »Apropos Verpflegung«, sagte Florian. »Hier kommt was Süßes und was Bitteres, um die Mahlzeit abzuschließen. Zabaglione und Espresso. Miss Auburn – Sie können all diese Leute für uns ausfindig machen? Die Böhmen und die Smodlakas?« »Sie wohnen über die ganze Stadt verstreut. Wenn jemand mich begleiten würde ...« »Ich komme mit«, erbot sich Edge, ehe irgendein anderer sich melden konnte. »Aber erst möchte ich Sie Jules Rouleau vorstellen. Ich muß hören, was der Arzt zu seinen Genesungsaussichten sagt.« Als die Mahlzeit abgeschlossen war, hinterließ Florian einen Haufen Papiergeld für die Kellner. Mullenax und Yount schoben mißbilligend die Brauen in die Höhe, woraufhin er sie ermahnte: »Armut ist nur dann eine Schande, wenn sie einen dazu bringt, sich würdelos zu verhalten. Im übrigen ist diese Mancia keineswegs so üppig, wie sie aussieht. Eine Lira ist ja kaum zwanzig Yankee-Cents wert. Wobei mir übrigens was einfällt: Alle Neuangekommenen sollten ihr amerikanisches Geld umtauschen und anfangen, in Lire zu rechnen.« Die gesamte Truppe begab sich an den Hotelempfang, um genau dies zu tun. Dort wartete auch der Hausarzt des Gran Duca, ein Dottore Puccio, den Florian zusammen mit Autumn und Edge auf Rouleaus Zimmer brachte; doch auch Carl Beck und Magpie Maggie Hag ließen es sich nicht nehmen, sie zu begleiten. -479-
»Madonna puttana!« murmelte der Arzt, als er die Zudecke vom Bett des Invaliden hochhob und den Kleietrog sah. »Es una bella caccata!« woraufhin Autumn anfing zu kichern, es jedoch unterließ, das Gesagte für Edge zu übersetzen. Dr. Puccio hatte allen Grund zu diesem Ausruf. Die Kleie im Trog war zwar von Zeit zu Zeit erneuert worden, weil immer wieder Ratten und Mäuse oder beide sich daran gütlich getan hatten. So hatte sich das geschrotene Korn mit den Kotkrumen der Nagetiere und einer beträchtlichen Menge von Rußteilchen vermischt. Unten am Trogboden, wo sich die Kleie durch die vielen Tropfen verschiedener Mittel, mit denen die Fleischwunden beträufelt worden waren, verdickt hatte und hart geworden war, hatte sich grüner Schimmel gebildet. Auch das Bein selbst war schaurig anzusehen, als es endlich aus dem Trog herausgehoben wurde: geschrumpft, durch die Kleie verfärbt und verschrumpelt wie ein dürrer Zweig. Der Arzt fluchte erstaunt immer weiter vor sich hin: »Sono rimasto ... cose da pazzi ... mannaggia!« Doch wischte er das Bein sauber, drückte und knetete es und sah es sich sehr genau an. Immerhin: das Bein war ganz geblieben und nur an jenen Stellen verkrümmt, wo es ohnehin gebogen sein sollte; von den Fleischwunden waren nur noch Narben zurückgeblieben. Dr. Puccio sah von einem zum anderen und funkelte sie vorwurfsvoll an. Dann wollte er in fehlerfreiem Englisch wissen: »Wer hat diese Wahnsinnsbehandlung angeordnet? Doch bestimmt kein Arzt, oder?« »Das mit dem Kleietrog geht auf mich zurück«, gestand Edge. »Es hat einmal bei einem Pferd geholfen, das ich nicht gern erschießen wollte.« Der Arzt schnaubte erst ihn an, dann wandte er sich mit blitzenden Augen an Florian: »Signore, Sie haben mir unterschlagen, daß ich mich um den Patienten eines Viehdoktors kümmern sollte.« Und wieder faßte er die anderen ins Auge. -480-
»Abgesehen von diesem merdoso Trog – was hat man sonst noch getan.« »Die Wunden mit Karbol gesäubert«, sagte Magpie Maggie Hag. »Hinterher Basilikumsalbe, Haarlemer Balsam und lindernde Kräuterkompressen.« »Gesü, matto da legare«, brummelte der Doktor in seinen Bart, um dann erbost zu verkünden: »Nichts von alledem hätte getan werden dürfen. Heller Wahnsinn, nichts als Bauernheilmittel, Roßkuren, unverzeihliche Kurpfuscherei.« Die Circusleute machten ein betretenes und Rouleau selbst ein höchst besorgtes Gesicht. Dann jedoch zuckte der Arzt auf typisch italienische Weise mit Schultern, Armen, Händen und Augenbrauen zugleich und fuhr fort: »Trotzdem hat es geholfen. Da ihr nicht wissen könnt, warum, werde ich es euch sagen. Keines von Ihren Altweibermittelchen hätte verhindern können, daß die Krankheitskeime und Miasmen der Verwesung in die Wunden eindringen, Signora. Eigentlich hätte dieser Patient an Wundfieber sterben müssen. Und was diese merda – diese Abfallstoffe –, betrifft – denn im Grunde handelt es sich ja um zermahlene Körnerhülsen«, er zeigte voller Abscheu auf die Kleie, »so hätten Sie das Bein genausogut in Sägemehl packen können. Nur – und das hat bestimmt keiner von Ihnen gewußt –, die Kleie hat von ganz allein diesen Aspergilluspilz oder Kolbenschimmel entstehen lassen.« Er zerbröselte ein wenig von dem häßlichen grünen Schimmel. »Nun ist aber uns Ärzten – und niemand sonst, jedenfalls keinem dilettierenden Laien –, es ist also nur uns Ärzten bekannt, daß der Aspergilluspilz eine gewisse unterdrückende Wirkung auf die Krankheitserreger ausübt. Dieser grüne Schimmel, dieser ganz bestimmte Schimmel hier, er allein hat das Bein des Patienten geheilt und ihm das Leben gerettet.« »Dann haben wir’s also doch gut gemacht, oder?« sagte Magpie Maggie Hag und gluckste in sich hinein. -481-
Dr. Puccio bedachte sie mit einem säuerlichen Blick. »Zumindest sind die Aussichten gut. Das Bein wird häufig mit Olivenöl massiert werden müssen, damit die Muskeln gestärkt werden und die Beweglichkeit wiederhergestellt wird. Es wird zwei oder drei Zentimeter kürzer sein als das andere Bein. Sie werden hinterher humpeln, aber Sie werden gehen können, Signore.« »Aber ich bin von Beruf Akrobat, Dottore. Werde ich wieder springen können? Springen, hüpfen, Kapriolen schießen?« »Das bezweifle ich, und ich kann Ihnen auch nur davon abraten. Immerhin ist das Bein nicht von einem richtigen Arzt eingerenkt und geschient worden, sondern von wohlmeinenden Ignoranten.« Wieder warf er einschüchternde Blicke um sich. »Aber Sie stehen vor einer völlig neuen Laufbahn, Monsieur Roulette«, sagte Florian. »Als Aeronaute extraordinaire. Chief Beck ist dabei, für die Saratoga einen Gasentwickler zu bauen.« »Zut alors! Dann hat mein Unfall mich für immer von dem stupiden, flachen Erdboden befreit. Ich muß also dankbar sein. Und besonders euch – Zachary und Mag –, meine lieben Quacksalberfreunde!« Die Besucher verließen das Zimmer, und in der Halle sagte Carl Beck: »Bitte, Herr Doktor. Ob Sie uns wohl einen Rat geben können? Sie werden bereits bemerkt haben, daß mein Haar sich lichtet, nicht wahr?« »Ja. Aber was soll’s? Das ergeht mir genauso.« »Ich bitte Sie ja nur um Ihre Ansicht als Arzt, Dottore.« Beck zog die Flasche mit dem Mittel aus der Tasche, das Magpie Maggie Hag ihm gegeben hatte. »Riechen Sie danach? Das ist mir bereits aufgefallen.« Der Arzt wandte sich der Zigeunerin zu. »Was ist es denn?« Gekonnt äffte sie ihn in seiner überheblichen Art nach und sagte: »Ein Altweibermittelchen.« -482-
Zum erstenmal bildeten sich Lachfältchen an den Augenwinkeln des Arztes. Er entkorkte Becks Flasche und schnupperte daran. »Aha! Jawohl! Per certo! Ich kann die geheimen Ingredienzien herausriechen. Doch keine Angst, Signora, ich werde sie nicht verraten. Jawohl, mein Herr, dieses therapeutische Mittelchen sollte genauso bewundernswert helfen wie jedes andere Mittel, das der Medizin bekannt ist.« »Danke, Herr Doktor!« Beck verneigte sich erst vor ihm, dann vor Magpie Maggie Hag. »Denken Sie nicht, daß ich kleingläubig wäre, gnädige Frau. Immerhin tröstet es, sich auf die Expertise eines Fachmanns verlassen zu können.« Die anderen mußten an sich halten, um nicht loszuprusten. Als sie gingen, schlossen Edge und Autumn sich ihnen an und verließen das Hotel mit einer Riesentüte voll mit den Resten der Mahlzeit. Florian und Magpie Maggie Hag blickten ihnen nach, und Florian fragte: »Was sagen dir deine Zigeunerinstinkte, Mag? Was das Engagement der neuen Leute betrifft?« »Der Circusleute? Doch, stell nur alle ein. Bis auf das rakli.« »Das Mädchen?« Florian wußte nicht, was er davon halten sollte. »Du siehst doch keine Gefahr in Autumn Auburn, oder?« »Nein. Reizvolles rakli, sie. Gibt eine gute Artistin ab. Und für Zachary eine gute ›romeri‹.« »Frau? Nana. Siehst du Eifersucht voraus...« »Nein, nicht einmal Sarah wird auf ein so gutes rakli eifersüchtig sein. Doch im Herbst wird Auburn keine Gefahr sein, nur verletzt.« »Ach verflucht, Mag! Spar dir deine mystischen Vieldeutigkeiten fürs Publikum auf. Wie soll ich daraus schlau werden?« Sie zuckte mit den Achseln. »Mehr sehe ich auch nicht. Keine Gefahr, nur verletzt.« Als Autumn auf der Piazza den blaßgelben Sonnenschirm -483-
aufspannte und die spätnachmittägliche Sonne ihrem kastanienbraunem Haar und ihrem reizvollen Antlitz einen womöglich noch wärmeren Schimmer verlieh, konnte Edge sich nicht mehr enthalten auszurufen: »Sie sind das hübscheste Ding, das ich je gesehen habe.« »Grazie, Signore. Aber Sie sind noch keinen ganzen Tag in Italien. Warten Sie, bis Sie eine Reihe der Signorine auf der Straße gesehen haben.« »Ich werde blind für sie sein. Dazu bin ich viel zu sehr von Ihrer Schönheit geblendet. Wollen Sie mich heiraten?« Sie tat so, als überlege sie ernsthaft, und schließlich sagte sie: »Mrs. Edge. Das hört sich nach einer Schwertschluckerin an.« »Immer noch besser als Miss Cubbidge. Wenn Sie darauf bestehen ich bin auch bereit, Mr. Auburn zu werden.« »Ich bestehe auf überhaupt nichts, Zachary – die Eheschließung inbegriffen. Warum tun wir nicht einfach für eine Weile das, was man im Volksmund ›Verheiratet-Sein üben‹ nennt?« Er schluckte und suchte nach Worten. »Nun ... schön. Aber das ist ein womöglich noch unverblümterer Antrag als meiner.« »Hoffentlich vergraule ich Sie damit nicht. Ich bin weder ein liederliches Frauenzimmer, noch die Ehrbarkeit in Person. Ich habe dich vom ersten Augenblick unseres Kennenlernens an begehrt – und das trotz der abweisenden Art, mit der Sie mich begrüßt haben.« »Das war doch der reine Selbstschutz. Dein Anblick hat mich rein umgehauen.« »Dann hat es uns beide gleichermaßen erwischt. Und wäre es da nicht albern von uns, erst die ganze Routine von Flirt und Werbung durchzumachen und sich von unseren Freunden aufziehen zu lassen, dann nach außen hin alles abzustreiten und ...« -484-
»Recht hast du! Warum kehren wir nicht auf der Stelle um, gehen zurück ins Hotel und ...« »Nein. Ich bin vielleicht nicht die Ehrbarkeit in Person, aber ich will fair sein. Ich möchte, daß du dir erst ansiehst, was dir sonst entgeht. Da ... schau, dieses ranke Mädchen! Ist sie nicht hinreißend?« »Nein, Madame, die könnte mich nicht in Versuchung führen. Allerdings würde ich drauf wetten, daß sie in die Breite geht, noch ehe sie vierzig Jahre alt ist.« »Und woher willst du wissen, daß ich nicht zerfließe? Na, schön – dann die da. An der ist nun wirklich nichts auszusetzen. Das Mädchen mit den Blumen im Haar.« »Autumn, du hast Blumen in den Augen. Hör auf, mich auf Möglichkeiten aufmerksam zu machen. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.« »Ah, du übertreibst! Wie kann man nur so ungestüm sein?« »Können wir nicht jetzt umkehren?« »Wo denkst du hin? Wir haben für den Direktor etwas zu erledigen. Und jetzt hör endlich auf, mich anzustarren, Zachary – sieh dich lieber um! Schließlich ist dies dein erster Tag in einem fremden Land, auf einem fremden Kontinent. Du solltest alles Neue verschlingen wie ein Tourist von Cook’s Reisebüro.« Jetzt, da Edge und Autumn sich ein beträchtliches Stück vom Gestank des Hafens, vom Geruch nach Kohlenrauch, Dampf, Salz und Fisch entfernt hatten, war Livorno mehr ein Labsal für die Nase als für die Augen. Die nahende Dämmerung wurde dunstig und süß vom Holzrauch, der aus den Küchentüren hervorquoll. Aus sämtlichen Vorgärten und allen Blumenkästen vor den Fenstern kamen die herben, beizenden und alles andere als parfümhaften Gerüche altmodischer Blumen: Zinnien, Ringelblumen, Herbstastern. Autumn zeigte Edge sogar den kleinen Stadtpark, der der reine Wohlgeruch war: ein kühlduftender Quell in einem Hain, der ausschließlich aus -485-
aromatischen Zitronenbäumen bestand. Selbst jetzt im Frühherbst hingen die Bäume noch voll von Früchten, die offensichtlich als Allgemeingut galten. Gassenjungen kletterten die Bäume hinauf, um die Zitronen zu pflücken und Glashäfen und Krüge mit Wasser aus dem klaren Quell zu füllen, dieses mit dem Zitronensaft zu versetzen, und auf diese Weise Limonade herzustellen, die sie dann auf der Straße verkauften. Überall sah man Bettler, selbst in den elegantesten Vierteln, doch waren nicht alle so voller Unternehmungsgeist wie die kleinen Limonadenverkäufer. Die meisten hockten oder lagen einfach auf dem Bürgersteig und hatten Beinlinge oder Hemdsärmel hochgekrempelt, um schreckliche Schwären zu zeigen. Sie zupften Edge und Autumn am Rockzipfel und sagten einförmig alle dasselbe Verslein auf: »Muoio di fame ...« »Ich sterbe vor Hunger«, übersetzte Autumn. »Du brauchst aber kein Mitleid mit ihnen zu haben. Über die Hälfte von ihnen ist kerngesund, es sind nichts als Faulpelze; selbst die echten Krüppel könnten sich unten am Hafen mit Netzeflicken noch etwas verdienen.« So kam es, daß Edge nur einem einzigen Bettler ein Almosen gab; denn dieser sah echt aus und bedrängte ihn nicht. Daß es sich überhaupt um einen Bettler handelte, war nur an einem Stück Karton mit der Aufschrift CIECO zu erkennen, das er um den Hals trug. Er trug eine dunkle Brille und wurde von einem an seiner Leine zerrenden Hund so schnell durch die Straße gezogen, daß er kaum Gelegenheit hatte, sich bettelnd an irgendwen zu wenden. Edge mußte den Mann fast mit Gewalt am Weitergehen hindern und ihm eine Kupfermünze in die Hand drücken. Atemlos sagte der Mann: »Dio vi benedica!« – ›Vergelt’s Gott‹ – schüttelte verzweifelt den Kopf, deutete auf den zerrenden Hund und erzählte Edge irgend etwas. Autumn lauschte, lachte und sagte dann: »Gib ihm noch etwas mehr, Zachary. Er sagt, er habe einen richtigen Blindenhund gehabt. Der wäre immer von selbst stehengeblieben, wenn er -486-
eine Gelegenheit für eine Spende gewittert habe. Der Hund habe auch geduldig gewartet, wenn er seine traurige Geschichte erzählte. Er ist nämlich ein wohlhabender Gerber gewesen, bis er in einen seiner Krüge fiel und von der Gerbsäure blind wurde. Aber dieser Hund ist gestorben, und der neue ist hoffnungslos. Er sagt: ›Wenn dieser Hund stehenbleibt, kommt es soundso oft vor, daß ich meine Lebensgeschichte einem anderen Hund erzähle‹.« Sie lachte nochmals, und der Bettler brach gleichfalls in ein etwas klägliches Lachen aus. »Gib ihm etwas mehr, Zachary. Das waren doch nur Centesimi. Gib ihm eine ganze Lira.« Als sie weitergingen, bemerkte Edge zu Autumn, die Jugoslawen wohnten für arbeitslose Artisten aber in einem sehr feinen Viertel. Doch dann führte sie ihn hinter eine der Villen, und er erkannte, daß die Smodlakas nur eine Ecke des zum Anwesen gehörenden Holzschuppens bewohnten. Das Familienoberhaupt, ein Mann ungefähr in Edges Alter mit einer Fülle blonder Haare und üppigem blonden Bart saß auf der Schwelle der türlosen Hütte und schnitzte an einem Stecken herum. Als Autumn sich näherte, grüßte er nicht, sondern verzog nur das Gesicht, hackte verdrossen an seinem Stecken herum und sagte auf englisch: »Wenn man nichts zu tun hat, muß man sich beschäftigen.« »Statt Holzspäne zu fabrizieren, solltest du lieber eine Puppe für die Kinder schnitzen. Pavlo, darf ich dich mit Mr. Zachary Edge bekanntmachen, dem Sprechstallmeister des neuen Circus, der soeben von Übersee gelandet ist? Er ist gekommen, dir versuchsweise einen Platz in seiner Schau anzubieten.« »Svetog Vlaha!« rief der Mann aus, sprang auf die Füße, schüttelte Edge kräftig die Hand und überschwemmte ihn mit einem Schwall von Begrüßungen in allen möglichen Sprachen. Edge erwiderte: »Freut mich, Sie kennenzulernen«, so daß Smodlaka fortan meistens englisch sprach, selbst als er ins -487-
dunkle Innere des Schuppens hineinbellte: »Kommt, meine Lieblinge! Kommt und begrüßt unseren Gast!« Edge war gespannt, die Albinokinder und auch die unterdrückte Ehefrau kennenzulernen, doch was aus dem Dunkel herausgewetzt kam und freudige Laute ausstieß, waren drei kleine zottelige Mischlingshunde. Smodlaka befahl augenblicklich: »Gospodin Terry, pravo! Gospodja Terrier, stojim! Gospodjica Terriest, igram!«, woraufhin die Hunde um Edge herumwuselten, der eine aufrecht auf den Hinterläufen, einer mit dem Kopf nach unten auf den Vorderbeinen, während der dritte unablässig Purzelbäume schlug. Autumn sah Pavlo ärgerlich an, steckte dann den Kopf zum Schuppen hinein und rief: »Gavrila, Kinder, ihr dürft rauskommen!« Als erstere sich verschüchtert bis an die Tür wagte und ihre Flickenschürze zu einem dicken Strang verdrehte, ließ Pavlo von den Befehlen für die Kapriolen schießenden Hunde ab, sagte: »Weib, hol Wein!«, und Gavrila schoß zurück ins Uneinsehbare, als wäre sie auf eine Sprungfeder getreten. Pavlo fuhr fort, die Hunde wie ein Hund anzubellen, und diese fuhren stumm und ebenso gekonnt wie die drei Chinesen des FLORILEGIUM fort, wirbelig ihre Kunststückchen zu vollführen. Nach einiger Zeit tauchte die Frau mit einem Weinschlauch und drei bemalten Holzbechern wieder auf. Ohne eine entsprechende Anweisung von ihrem Mann abzuwarten, schenkte sie die Becher voll und reichte sie Autumn, Edge und ihrem Mann; dann drehte sie weiter ihre Schürze zu einem Strang. Hinter ihr lugte links wie rechts ein Gesicht hervor, das wachsbleich war und von einem Haarschopf gekrönt wurde, der weiß war wie Flachs. »Mein Weib«, grunzte Smodlaka und neigte kaum merklich den Kopf in ihre Richtung. »Ihre Brut.« Er stieß mit Edges Holzbecher an und nahm dann geräuschvoll einen Schluck aus -488-
dem seinen. »Sie haben auch einen Namen«, sagte Autumn. »Gavrila, das hier ist Zachary Edge. Zachary, die beiden Kleinen, das sind Velja und Sava.« »Zdravo«, sagten die Kinder und schüttelten ihm scheu die Hand. Bei der Mutter handelte es sich um eine slavische Blondine mit heller Haut und blauen Augen, wie der Vater sie hatte; die Mutter war auf ihre breitgesichtige und untersetzte Weise eine ausgesprochen hübsche Frau. Die beiden Kinder jedoch waren so extrem bleich, daß man einfach nicht sagen konnte, wer der Junge und wer das Mädchen war; ihr wächsernes Antlitz hatte etwas Gesichtsloses – bleiche Nasenflügel, blasse Lippen, farblose Brauen und Wimpern –, nur ihre Augen fielen erschreckend auf: rote Pupillen mit einer silbergrauen Iris darin, die hellrosa aufleuchteten, wenn ein Lichtstrahl sie traf. Wachsam warf Gavrila erst einen Blick auf ihren Mann, ehe sie sich bei den Besuchern erkundigte: »Haben Sie schon gegessen, gospodin, gospodjica? Wir haben Brot und Käse. Wir haben Wein. Wir haben alles.« »Wir haben bereits gegessen, vielen Dank«, sagte Autumn und reichte ihr die große Tüte. »Hier sind noch ein paar Kleinigkeiten, euer ›alles‹ etwas zu ergänzen, meine Liebe. Doch wir haben noch anderes zu erledigen.« »Aber Sie haben noch nicht alles gesehen, was meine Lieblinge können«, wandte Pavlo ein. Die Hunde vollführten wie närrisch immer noch ihre Kunststücke, zuletzt sprang auf überaus verschlungene Weise wie bei einem komplizierten Tanz ein Hündchen über das andere. »Nimm deine Lieblinge samt Familie und führe sie im Hotel Gran Duca Monsieur Florian vor!« sagte Autumn. »Ich bin überzeugt, sie werden ihm gefallen und er wird euch engagieren. Weißt du, wo ich die Böhmen finde?« -489-
»Prljav«, erklärte Smodlaka verächtlich. »Die arbeiten allesamt für einen Hungerlohn auf dem Bahnhof, als Gepäckträger gegen Trinkgeld. Sich dermaßen zu erniedrigen!« »Während du herumsitzst und mit makellosem Prestige an deinem Stock herumschnitzst!« erklärte Autumn. Zu Gavrila sagte sie: »Ich hoffe dich und die Kinder morgen bei der Vorstellung zu sehen. Komm, Zachary, ich weiß, wo der Bahnhof liegt.« Sie hatten nicht weit zu gehen. Wie die meisten Bahnhöfe war er ziemlich neu und - da Bahnhöfe trotz des Lärms und des Schmutzes, den sie verursachen, etwas sind, worauf jede Gemeinde stolz ist - groß und protzig mitten im Herzen der Stadt errichtet. Die Fassade bestand aus Carrara-Marmor, und die Halle überspannte zwei riesige marmorne Bahnsteige zwischen zwei Schienensträngen, einer für die ankommenden, ein anderer für die auslaufenden Züge, und dieser Teil der gesamten Anlage sah weder neu noch stolz aus: Alles war bereits schmuddelig vom Ruß und abgedunkelt durch die ständigen Rauchschwaden, die sich unter der Eisenkonstruktion des Glasdachs sammelten. Ein Zug aus Pisa war gerade eingelaufen, und die Fahrgäste schoben und stießen sich gegenseitig aus den Abteilen heraus; fast hätte man meinen können, sie bekämpften sich gegenseitig, als sie zu den Bahnhofstoiletten rannten, um sich zu erleichtern. Nachdem die Fahrgäste aus den Abteilen gestiegen waren, spie der Zug eine erstaunliche Menge an Gepäck aus, das sie mitgebracht hatten: Taschen und Koffer, Mantelsäcke und Reisetaschen sowie eine große Anzahl von riesigen flachen Holzkisten, von denen eine jede so groß war, daß sie eine ganze Tischplatte hätte enthalten können, was aber augenscheinlich nicht der Fall war, da ein einzelner Gepäckträger genügte, sie aus dem Gepäckwagen herunter auf den Bahnsteig zu stellen. Edge sah sich eine dieser Kisten genauer an und erkannte, daß -490-
mit Schablonenschrift daraufgepinselt war: Crinolina. »Bedeutet das das, was ich denke?« wandte er sich fragend an Autumn. »Enthält diese eine große Kiste nichts weiter als Reifröcke?« »Jeweils nur einen«, erklärte sie. »Die zusammenlegbaren Reifen für jeweils einen Rock. Einer in jeder Kiste. Wie, glaubst du, sollte eine Frau sonst die Unterkleider ihrer Garderobe transportieren? Ach, schau, einer der Gepäckarbeiter ist Aleksandr Banat.« Sie winkte einem abgerissenen, gedrungenen Mann, der sofort zu ihr kam und dabei seine formlose Kappe abnahm, um sich an seine Stirnlocke zu fassen und daran zu ziehen. Autumn sprach auf italienisch auf ihn ein, und er antwortete mit Grunzern, unter die er gelegentlich ein Wort ebendieser Sprache mischte. Dann zog er mit einer derartigen Heftigkeit an seiner Tolle, daß der Kopf vorruckte wie bei einer Verbeugung, und winkte Autumn und Edge, ihm den Bahnsteig hinunter zu folgen bis dorthin, wo die Geleise wieder ans Tageslicht kamen. »Er sagt, er und seine Landsleute wohnten, lebten in selbstgebauten Hütten hinterm Güterbahnhof«, erklärte Autumn. »Pana Banat ist so etwas wie ihr Boss.« Über Geleise und zwischen Schlafwagen, Weichen, abgestellten Personenwagen und Güterwaggons hindurch suchten sie sich ihren Weg. Am Rande des Güterbahnhofs stießen sie auf eine Hüttensiedlung, die ausschließlich aus Abfällen errichtet worden war - verrostetem alten Blech, Pappkartons, Leinwandbahnen, zur Hauptsache jedoch aus zusammengestellten CrinolinaKisten. Die Einwohnerschaft, die aus abgerissenen, schmutzigen Männern und ein paar abgerissenen, schmutzigen Frauen bestand, saß entweder in träger Lustlosigkeit herum oder rührte in Blechbüchsen, die über Feuern aus Abfallholz hingen, suchte in den Nähten ihrer Lumpen nach Ungeziefer. Banat verschwand -491-
zwischen den Bretterbuden und kam mit einem Halbdutzend Männer zurück. Sie hätten seine Blutsverwandten sein können, so ähnlich sahen sie ihm - brünett, behaart und gedrungen wie ein Faß. Mit weitausgreifenden Gesten und wortreich stellte Banat jeden einzelnen vor, doch Edge bekam eigentlich nur mit, daß allen ihren Namen ein Pana voranging und ihre Namen samt und sonders klangen wie Rachengegurgel. »Er sagt, Pana Hrvat kann das Hörn blasen«, dolmetschte Autumn. »Er selbst spielt Akkordeon, während Pana Srpen sogar Besitzer einer Posaune ist. Pana Galgoc und Pana Chytil spielen eine Reihe anderer Instrumente. Aber wie dem auch sei, sie sind alle erpicht darauf zu arbeiten, egal, ob als Zirkusarbeiter oder als Musikanten in der Kapelle oder als beides.« Sie gab Banat Anweisungen. »Pana Banat wird sie alle zusammentrommeln - es sind noch fünf oder sechs mehr - und sich dann unverzüglich bei Pana Florian melden.« Doch zunächst führte Banat Autumn und Edge aus dem Hüttenwirrwarr hinaus in die eigentliche Stadt, so daß sie nicht durch den Bahnhof zurückmußten, denn inzwischen wurde es bereits dunkel. Sie befanden sich im Arbeiter- und Handwerkerviertel von Livorno, wo sich Dunkelheit und Abendnebel gemeinsam durch die verwinkelten engen Gassen voranwälzten. Die städtischen Laternenanzünder waren schon unterwegs, um der Nacht einen Schritt voraus zu sein. Die Straßenlaternen, die sie entzündeten, verströmten im Nebel ein schummeriges Licht und erhellten Schaufenster, Verkaufsstände und Schubkarren von Scherenschleifern, Pastabäckern, Korallenschnitzern, Käsehändlern, Malvensammlern, Vogelfutterverkäufern und Porzellankittern, die den Heimwärtseilenden lautstark ihre Waren oder Dienste antrugen. Plötzlich kam ihnen eine ganze Menschentraube entgegen. Als sie an einem Laternenpfahl vorüberdrängte, entpuppte sie sich -492-
als eine Schar von Bettlern - allesamt zerlumpt und verdreckt, manche mit Schwären bedeckt, andere verkrüppelt und humpelnd, ja, einige sogar auf allen vieren vorwärtskriechend , doch noch seltsamer wirkte der Mann, der sie alle anführte und ihnen ganz normal voranging. »Das ist ja Foursquare John Fitzfarris«, sagte Edge und winkte ihn heran. »Wir waren unterwegs, neue Kollegen anzuheuern, Fitz. Was um alles in der Welt schleppst du denn da an?« »Die Leute sind wie die Kletten«, sagte Fitz. »Ich hab' bloß einen Spaziergang machen wollen, denn ich versuche in jeder neuen Stadt einige der besten Orte ausfindig zu machen« - dies grinsend - »und die schlimmsten. Statt dessen führe ich plötzlich diesen räudigen Bettlermob an.« Er funkelte die Masse von alten und jungen Männern und Frauen an. Diese zupften nicht an seiner Kleidung und riefen auch nicht gottserbärmlich »Muoio di fame«, sondern starrten ihn nur irgendwie fassungslos an. »Ich hab' ihnen alles Kleingeld hingeworfen, das ich bei mir hatte, aber ich werde sie nicht los. Vermutlich halten sie mich für einen der ihren.« Autumn fragte auf italienisch nach, was los wäre, und von etlichen Bettlern kamen halblaute Erklärungen. An Fitz gewandt, sagte sie: »Sie wollen eigentlich nur wissen, wie Sie zu der blauen Gesichtshälfte gekommen sind. Das halten sie für einzigartig unter ihren Berufsgenossen, und zweifellos möchten sie es selbst ausprobieren.« »Verflucht!« knurrte Fitz, »Ich hätte größte Lust, ihnen zu zeigen, wie man zu so was kommt. Geschähe ihnen recht! Eine solche Meute von Gaunern und Betrügern hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen! Manchmal bin ich ja selbst schon auf die Bettlertour gereist, deshalb kann ich schon einen echten von einem falschen Fuffziger unterscheiden. Sehen Sie den da? Den mit dem abstoßenden Schorf und den Pusteln im Gesicht und auf den Armen?« -493-
»In meinen Augen sehen sie echt aus«, sagte Edge. »Und grauenhaft.« »So was nennt man Seifenkrätze. Man schmiert sich eine dicke Schicht Seife aufs Gesicht und beträufelt sie dann mit Essig. Da brechen Pusteln auf, die ganz fürchterlich aussehen – als hätte man Lepra im fortgeschrittenen Stadium oder so was Ähnliches. Und der Bursche da drüben, das ist einer, der einen Epileptiker markiert. Stürzt wie vom Blitz gefällt zu Boden, schlägt um sich und bekommt Schaum vor dem Mund, was natürlich Scharen von mitleidigen Samaritern anzieht. Und dann die Hagere dort – möglicherweise seine Frau –, die zwischen den Samaritern hin- und herhuscht und ihnen die Taschen leert. Ich hoffe zu Gott, daß dieser Abschaum mir nicht durch ganz Italien folgt!« Autumn überschüttete die Bettlerschar sogleich mit einer Flut ätzender italienischer Verwünschungen, woraufhin diese sich verzagt auflöste und entschwand. Fitzfarris dankte ihr von ganzem Herzen und erklärte, nie wieder werde er ohne seine kosmetische Maske ausgehen; dann schloß er sich Edge und Autumn an und kehrte mit ihnen zum Gran Duca zurück. Als die drei das Haus durch den Vordereingang betraten, stellten sie fest, daß die Halle gesteckt voll war von Leuten, die nicht den üblichen wohlgekleideten Müßiggängern entsprachen, wie sie sonst die Hotelhalle bevölkerten. »Florian hält hof«, erklärte Mullenax, der zusah und dabei eine verdrehte schwarze italienische Zigarre rauchte. Ihr beizender Geruch vermochte Mullenax’ eigene Fahne nicht ganz zu überdecken, die verriet, daß er die Bar des Hotels rasch gefunden und sich dort einiges genehmigt hatte. »Er hat sich die Konuitenbücher der Leute angesehen, die Sie ihm geschickt haben, Miss Auburn. Die Leute mit der Hundenummer hat er bereits engagiert und ihnen hier ein Zimmer gemietet. Jetzt redet er mit den Arbeitern.« Edge fragte Autumn: »Meinst du nicht, ich sollte ihm helfen, -494-
sich einen richtigen Eindruck von ihnen zu verschaffen? Du kannst für mich dolmetschen.« »Nein«, erklärte sie entschlossen. »Vergiß nicht, wir müssen noch probieren.« So kam es, daß sie – wiewohl es noch früh am Tag war – Fitzfarris und Mullenax eine gute Nacht wünschten und sich zurückzogen. Edge hatte ein Zimmer für sich allein bekommen, und dorthin begaben sie sich, statt Autumns Wohnwagen aufzusuchen, denn sie wollte die Bademöglichkeiten des Hotels ausnutzen. Ein Zimmermädchen wurde ausgeschickt, das Badewasser einzulassen. Als sie zurück kam, folgte Autumn ihr voll angekleidet und ließ nur Hütchen und Parasol zurück; denn sie hatte keinen Bademantel dabei, und das Bad war ziemlich weit von Edges Zimmer entfernt. Aus demselben Grund kehrte sie auch vollständig angekleidet wieder in Edges Zimmer zurück. »Um keinen Skandal zu erregen«, erklärte sie ihm, »war ich gezwungen, alle meine Knöpfe und Verschnürungen aufzumachen und nach dem Bad wieder zu schließen. Es ist schon höchst ermüdend, sittsam zu sein.« »Dann laß’ uns unsittlich sein«, schlug er vor, »richtig skandalös. Gestatte, daß ab jetzt ich die Aufnestelei und Aufknöpferei übernehme.« Zum erstenmal in seinem Leben kam Edge in den unsäglichen Genuß, eigenhändig eine begehrenswerte Frau zu entkleiden, die in viele Schichten umständlicher europäischer Straßenkleider gehüllt war. Bis an sein Lebensende sollte er nicht vergessen, wie neu das alles für ihn war, diese komplizierten Köstlichkeiten, die mit dieser ganz bestimmten Vorbereitung auf das Miteinanderschlafen in dieser Nacht geschaffen waren. Das hatte etwas von einer keuschen Defloration vor der eigentlichen Entjungferung – gleichsam als gälte es, etwa eine Päonie oder Kamelie oder irgendeine andere Blüte mit einer solchen Fülle -495-
von Blütenblättern zu zerzupfen. Während Autumn sich diesen Liebesdiensten überließ, trug sie – zusätzlich zu allem anderen, was sie anhatte – jenes Fastlächeln samt mutwilligen Grübchen zur Schau, das nur ihr allein eigen war. Geduldig stand sie in der Mitte des lampenerhellten Zimmers wie ein Kind, das von seiner Nanny zum Schlafengehen fertiggemacht wird. Da Edge aber alles andere als eine Nanny war, zog sich ihre Entkleidung beträchtlich in die Länge, doch war es für ihn eine köstliche Zeit der Erwartung. Und während er dabei war, schien seine Mischung aus Behutsamkeit und tolpatschigfummelndem Übereifer auch Autumn zu erregen. Sie zitterte jedesmal kaum merklich und doch spürbar, wenn sie fühlte, wie er ihren Körper berührte. Edge begann nach einigem Hinschauen und Überlegen damit, ihr die Halskette aus Bernsteinkugeln aufzuhaken und abzunehmen, die ihr tiefausgeschnittenes Kostüm so besonders vorteilhaft zur Geltung brachte. Nachdem dieser Schmuck entfernt worden war, lag das blaßgelbe Perkalgewebe darunter locker genug, das dunkel angedeutete Tal zwischen den Brustansätzen erkennen zu lassen. Dieser Anblick ließ Edge innehalten und eine lange Zeit einfach verzaubert hinstarren, was Autumn wiederum tief und erbebend Luft holen ließ, was zur Folge hatte, daß die Betrachtung ihrer Brüste um so reizvoller wurde. Dann riß Edge sich zusammen, überlegte den nächsten Schritt und kam zu dem Schluß, daß er darin bestehen müsse, die winzigen rauchfarbenen Perlmuttknöpfe ihrer reichbestickten Ärmelbündchen aufzuknöpfen. Das erwies sich als äußerst schwierig für seine großen und unerfahrenen Männerfinger, doch als nächste, leichtere Aufgabe kamen die größeren Knöpfe an die Reihe, mit denen ihre Perkalbluse hinten am Hals geschlossen war. Doch nachdem er dies geschafft hatte, hielt noch immer etwas die Bluse zwischen Autumns Schulterblättern zusammen. Zum ersten Mal mußte sie -496-
ihm helfen – sie griff also hinter sich, um ihm zu zeigen, wie man Häkchen und Öse auseinandernestelte. Um ihm dann noch weiter behilflich zu sein, schüttelte sie die Bluse nach vorn, streifte die Ärmel ab und warf alles aufs Bett. Die nächste Schicht unter der Bluse war ein verzwicktes Kleidungsstück aus atlasüberzogenen Trägern, die ihr über die Schulter gingen, sich über ihrer weißen Chemise kreuzten und diese mit ihrem gelben Baumwollrock verbanden. Edge untersuchte das ganze und fand heraus, daß sich die Schlaufen vom Rockbund abknöpfen ließen. Dann mußten die Litzen dieses Taillenbunds gelockert werden. Eine weitere Verschnürung, die hinten am Rock von oben nach unten verlief, mußte aus den kleinen, von einer Rüsche verdeckten Löchern im Saum herausgefädelt werden. Dies erledigt, streifte Autumn den gelben Rock über ihre Rundungen und warf auch diesen aufs Bett. Noch immer war sie von der Taille bis zu den Enkeln von einem Gebilde umschlossen, das den Glockenrock gehalten hatte – horizontal verlaufenden Reifen aus wenig biegsamem Draht hingen an Bändern herunter und wurden von der Hüfte an immer weiter, bis sie unten an den Fußgelenken wirklich ausladend wurden. Doch mußten diese Reifen nur von den Bändern abgeknöpft werden, woraufhin sie gleichsam in konzentrischen Kreisen zu Boden fielen. Autumn trat aus dem Kreis heraus, beförderte ihn mit einem Fußtritt auf die Seite und schlüpfte dann aus ihren zierlichen, kitzledernen gelben Pumps. Nun war Autumn beileibe noch nicht nackt – allerdings nackter, als die meisten Frauen in diesem Stadium des Entkleidetwerdens. Sie trug weder ein Mieder noch ein Fischbeinkorsett, ihre Wespentaille damit einzuschnüren – und auch kein ausgestopftes Korselett, um mehr Brust vorzutäuschen, als sie hatte. Obgleich sie auch weiterhin dastand wie ein gehorsames Kind, das zum Zubettgehen bereitgemacht wird – und dabei auch nicht größer war als etwa eines der Simms-Mädchen –, für ein Kind hätte Autumn Auburn niemand -497-
halten können. Oberhalb und unterhalb der Taille, die Edge fast mit beiden Händen umfassen konnte, wölbten sich Brüste, Hüften und Gesäß auf wunderbar weibliche Weise. Die nächste sichtbare Schicht ihrer Kleidung war die ärmellose, hüftlange, von zwei schmalen Schulterträgern gehaltene Batistchemise sowie ein langer Unterrock aus übereinandergreifenden Valenciennespitzen, allerdings der billigen, maschinell hergestellten Art. Als Edge die Bänder löste, mit denen der Rock an der Taille zugebunden war und dieser unordentlich auf den Fußboden rutschte, wurde darunter ein weiteres Kleidungsstück sichtbar. Autumn hatte auch noch einen fein gefältelten und mit Hamburger Spitze gesäumten Schlüpfer sowie Strümpfe von richelieugeripptem, am Oberschenkel auffällig blauweiß gestreiftem Flor an, die oben von Strumpfhaltern gehalten wurde, das Bein hinunter blasses Gelb zeigten und unten die Fesseln mit feinen Van-DykeMustern umschlossen. Betont langsam rollte Edge einen Strumpf nach dem anderen herunter, und beide genossen sie die mähliche, außerordentlich aufreizende Entblößung der Beine sowie das Zittern, welches sein langsames Vorgehen in Autumn selbst auslöste. Dabei zitterte sie kaum vor Scham; ihrer Beine brauchte sie sich wahrhaftig nicht zu schämen, hätten sie doch jeder klassischen Statue einer tanzenden Nymphe wohl angestanden. Sie waren kräftig, ohne indes muskulös zu wirken, köstlich geformt und von einer pfirsichfarbenen Haut umspannt, die genausosehr zum Streicheln und Darüberhinfahren reizte wie richtige Pfirsiche. Nun hätte Edge erwartet, daß die Fußsohlen einer Seiltänzerin hart und von Hornhaut überzogen wären – Autumns hingegen waren für seine liebkosenden Finger nicht minder samten als ihre Ober- und Unterschenkel, und ihm ging auf, daß sie höchstwahrscheinlich so weich gehalten werden mußten, damit ihnen nicht das mindeste Erzittern des gespannten Seils entging. Als die Strümpfe abgelegt waren, stand er auf und betrachtete -498-
sie wohlgefällig und abschätzend zugleich: die nächste Schicht mußte die allerletzte sein. Sie war jetzt oben nur noch mit einem knapp sitzenden Hemdchen und unten mit dem Schlüpfer bekleidet. Als er ihr das Hemdchen über den Kopf zog, blieb ihr nichts anderes übrig, als auch die Arme zu heben. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, daß Autumn nichts davon hielt, wie Pfeffer und Paprika das Achselhaar sprießen zu lassen, um dergestalt die männlichen Zuschauer zu erregen. Autumn war an diesen Stellen glatt rasiert – und jede Achselhöhle wies nichts weiter auf als eine geringfügige Ansammlung von kastanienbraunen Sommersprossen. Selbiges schien eigentümlich, da weder ihr Gesicht, noch der Hals oder die Schultern oder – wie sich herausstellte, als er sie vom Hemdchen befreit hatte – irgendeine andere Stelle ihres Oberkörpers auch nur ein einziges Fleckchen dieser Art aufwies. Später sollte Edge darin eine ungemein reizvolle Besonderheit von Autumn sehen, die nur ihm allein bekannt war: Daß sich nämlich alle ihre braunen Leberfleckchen feinsäuberlich unter ihrem Arm versammelten und kein einziger die schimmernde Vollkommenheit ihres Leibes entstellte. Im Augenblick jedoch war er damit beschäftigt, die ins Auge fallenderen und womöglich noch reizvolleren Merkmale dieser Frau in Augenschein zu nehmen. Als er ihr das Hemdchen über den Kopf zog, hüpften ihre Brüste fröhlich, als freuten sie sich, endlich auch dieser letzten Beengung zu entkommen; sie bildeten aber auch einen Anblick, der jedes Mannes Herz höher schlagen ließ. Doch dem widmete Edge nur einen flüchtigen Moment. Als er niederkniete, um den Gummizug der letzten Hülle der jungen Frau zu packen, drückte er rasch einen flüchtigen Kuß auf jede der kastanienbraunen Knospen, die sich vorwitzig aus ihrem nicht minder kastanienbraunen Hof vorreckten. Sodann zog er das knappe Kleidungsstück nach unten, über das kastanienfarbene Dreieck, mit seinen vom Bade noch feuchten Locken hinweg und -499-
drückte, wo er nun einmal dabei war, auch ihm rasch einen Kuß auf, beugte den Kopf hinunter bis zu ihren hübschen Füßen und küßte auch diese beiden, als sie endlich aus dem letzten bißchen Stoff herausstiegen. Im Knien konnte Edge nun erkennen, daß Autumn auch an ihrer geheimsten Stelle ebenso herrlich blütenblättrig angelegt war wie in den Augen. Ihre Schenkel standen leicht auseinander, und sie war erregt und da unten einladen offen; hervor lugten allerliebste, schimmernde blaßrosa Kräuselfalten gleich den geriffelten Rändern taufeuchter Petunienblüten. Nachdem er diesen Teil von ihr eine ganze Weile in stummer Bewunderung betrachtet hatte, sagte Autumn mit leicht bebender Stimme, aber doch in neckischem Ton: »Ganz vollendet hast du dein Werk noch nicht. Ich bin noch immer nicht vollständig nackt.« Damit hob sie die Fülle ihrer gewellten kastanienbraunen Haare und zeigte ihm die winzigen Perlmuttclips, die sie an ihren Ohrläppchen befestigt hatte. »Die kannst du anbehalten, wenn du willst«, sagte Edge. »Wenn du nicht ganz und gar unsittlich, schamlos und skandalös sein willst.« »Aber das will ich!« rief sie, zog die Clips von den Ohren und warf sie fort. »Ich will es!« sang sie und warf sich aufs Bett. »Ich will, ich will!«
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2 Lächelnd nahm Autumn die Beine auseinander, und die Menge rief erst »Brava!« und dann: »Bravissima!«, während sie anmutig zum Spagat auf dem Seil herniedersank und Kapellmeister Beck seiner Kette aus kleinen Blechglöckchen ein lieblich absteigendes Arpeggio entlockte. Es war ein durchschlagender Erfolg – ein Sfondone! Das hatte Florian mit einigem Erstaunen, aber höchst befriedigt festgestellt. Er hatte es in der Tat geschafft, von den Behörden die Erlaubnis zu erhalten, das Zelt im Park der Villa Fabbricotti aufzuschlagen – »und das für lächerliche fünf Prozent des Kartenverkaufs«, wie er zu berichten wußte. »Sie überlassen sogar die Abrechnung mir! Allmählich fange ich an zu glauben, daß alle, die in diesem jungen Königreich ein Amt innehaben, noch viel zu neu auf ihrem Posten sind, um die Beamtenfreuden der Vertuschung und Erpressung kennengelernt zu haben.« Frühmorgens hatten Florian und Zeltmeister Goesle mit Hilfe des Anführers der Aufbaukolonne, Banat, und dem Dutzend anderer Böhmen Tiere und Wagen auf den graslosen Sportplatz im Park gebracht, Zelt und Sitzreihen aufgebaut und die Piste befestigt. Die Arbeiter kannten sich aus, und der einzige Helfer, den sie brauchten, war Peggy. Florian faßte keinen Vorschlaghammer und kein Seil an, sondern beschränkte sich darauf, zu zeigen, Hinweise zu geben und seine Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. Ja, er grinste wohlgefällig übers ganze Gesicht, als er sah, daß die Böhmen immer zwei Pfosten gleichzeitig in den Boden trieben, je sechs Mann an einem Pfosten, rhythmisch die Vorschlaghämmer schwangen, so daß sich das Klopfen selbst anhörte wie ein Trommelwirbel. Die Artisten kamen nach einem ausgiebigen Frühstück gemächlich aus dem Gran Duca heraus und ließen sich Zeit, auf dem Zeltplatz zu erscheinen und ihr Kostüm anzulegen. Noch gab es keine Plakate, die geklebt werden mußten, und die Zeit -501-
hatte auch nicht gereicht, eine Anzeige in das Lokalblättchen zu setzen. Deshalb bekam Peggy, kaum daß ihre Hilfe beim Zeltaufbau nicht mehr benötigt wurde, die rote Decke übergeworfen und wurde in Brutus verwandelt. Hannibal hinwiederum wurde als Abdullah herausgeputzt, und Florian brachte ihm ein paar einfache Brocken Italienisch bei. Stolz machte Abdullah sich daran, zum erstenmal in seinem Leben ›ausländisch‹ zu sprechen, wie er es nannte, schlug auf die Trommel und rief: »Segue al circo! Al parco! Al spettacolo!« Und als der Circus am Nachmittag öffnete, waren die Leute scharenweise aus der Stadt gekommen – wohlgekleidete Angehörige der gebildeten Stände aus dem eleganten Fabbricotti-Wohnviertel; Ladenbesitzer aus der Innenstadt mit ihren Familien; Seeleute, Kadetten der Marineakademie, Fischer und Hafenarbeiter –, und alle zahlten sie in Lire und keiner in Naturalien. Schüchtern meinte Gavrila Smodlaka zu ihren neuen Kollegen: »Gospodin Florian muß irgendeine Magie beherrschen. Soviele Menschen hat der andere Circus nie angezogen. Gospodja Hag, habt Ihr irgendeinen Zigeunerzauber gewirkt?« »Nein«, erklärte Gospodja Hag. »Doch wenn es hier so etwas wie einen Zauber gibt, der auch wirkt, kann man sich drauf verlassen, daß Florian drauf fliegt und ihn nutzt.« Beim Einzug der Artisten hatte es freundlichen Applaus gegeben, obwohl das ›All hall, you ladies, gentlemen‹ auf englisch gesungen wurde; dann einen nicht minder herzlichen für die Bocksprünge und Reitkünste von Buckskin Billy, dem Unerschrockenen Reitersmann aus dem Wilden Westen; für Barnacle Bill und seine begabten Schweine; die Smodlakas und ihre womöglich noch talentierteren Hunde; und für die chinesischen Ikarier, die ihre Kunststücke erst zu dritt, dann zusammen mit Brutus und dem Schleuderbrett und den am Leben gebliebenen Simms-Kindern vorführten; sodann für Pfeffer und Paprika mit ihren Balanceakten an der Stange – und -502-
geradezu hysterisches Beifallsgeklatsche, als es sich bei der kleinen alten Geburtstagsdame, »la Signora Filomena Fioretto, bisnonna di settanta anni«, um die übersprudelnd lebendige Madame Solitaire handelte. Doch erst als Autumn Auburn oben auf ihrem Seil tanzte, geriet das Publikum richtig außer Rand und Band und klatschte vor Begeisterung wie wahnsinnig. Jetzt war sie im Spagat ausgestreckt, das eine Bein nach vorn auf dem Seil, das andere nach hinten, und balancierte dort ohne jedes Hilfsgerät mit Ausnahme des blaßgelben Sonnenschirms. Ihr Kostüm war äußerst schlicht und bestand aus einem eng anliegenden, tief ausgeschnittenen und ärmellosen blauen Oberteil sowie einem fleischfarbenen Trikot für die Beine, fleischfarbenen weichen Schuhen an den Füßen. Das Kostüm war ungewöhnlich insofern, als es nicht im geringsten mit Straß oder Pailletten herausgeputzt war. Statt dessen hatte Autumn sich die nackten Schultern, Arme und den Busen leicht eingeölt und die so bestrichenen Stellen willkürlich mit Gold- und Silberflitter bestäubt. »Das nennt sich diamante«, hatte sie Edge erklärt, als dieser die Wirkung bewunderte wobei diese darin bestanden hatte, daß sie, wenn sie sich bewegte, keine grellen Lichtblitze verstrahlte, dafür aber die unbekleideten Teile ihres Körpers um so aufreizender blinkten und schimmerten. Kapellmeister Beck ließ seine kleinen Glöckchen eine ganze Serie von aufsteigenden Arpeggios von sich geben, als Autumn sich aus ihrem Spagat erhob, dabei langsam die Beine schloß wie eine Schere und sich gleichzeitig auf dem Seil in die Höhe schob. Sie drehte eine Pirouette, trippelte das Seil bis zur Plattform am Ende entlang und reckte dort die Arme übertrieben V-förmig in die Höhe. Der Böhme mit der eigenen Posaune und der andere Böhme, der das Horn blasen sollte, ließen eine Art blechernen böhmischen Hurras erschallen. Zum erstenmal, seit Edge beim Zirkus war, hörte er das massierte Klatschen, die Rufe und Pfiffe nicht nur, sondern fühlte die dadurch hervorgerufenen Erschütterungen. -503-
Jede einzelne Frau aus der Truppe hatte Autumns Debüt mit Katzenaugen verfolgt. Halb bewundernd, halb neidisch murmelte Paprika: »Aber sie ist hinreißend, diese Frau. Und wunderschön!« Dann wandte sie sich an Pfeffer und sagte: »Solchen Applaus haben wir beide noch nie erhalten.« »Hätten wir haben können«, stieß ihre Partnerin durch die zusammengebissenen Zähne hervor, »wenn unsere Nummer nicht immer mehr zum Teufel ginge. Ich wünschte, du würdest dich wieder auf die konzentrieren, die unter dir steht, und nicht auf die Schnecke jeder hergelaufenen anderen Frau!« »Ordinäres Weibsstück!« zischte Paprika und rauschte davon. Sie ging auf die andere Seite der Manege hinüber, wo sie sich angelegentlich mit Sarah unterhielt. Clover Lee hatte neben ihrer Mutter gestanden, sah Paprika jedoch eisig an und trollte sich dann. Edge war in die Manege hineingelaufen, um Autumn die Hand zu reichen, als sie die Leiter heruntergeklettert kam, und als es neuerdings zum Applaus kam, warfen sie beide überschwenglich die Arme in die Höhe. Dann ließ der Sprechstallmeister – Edge – einen schrillen Pfiff auf seiner Trillerpfeife ertönen, woraufhin vier mit Leinenhosen bekleidete Böhmen in die Manege gelaufen kamen. Zwei von ihnen bauten das Seil ab, zwei machten sich mit den Seilen des Mittelpfostens zu schaffen, um alles für Pfeffers Solonummer vorzubereiten. Die immer noch ziemlich mager besetzte Kapelle setzte zu einem gemessenen Passamezzo an, und auch Sunday, Ali Baba und Florian sprangen in die Piste. Während Florian die nächste Nummer ansagte – »adesso, signore e signori!« –, schossen die Simmses ihre lustigen Purzelbäume, um das Publikum in den paar Minuten des Ab- und Umbaus zu unterhalten. Ali Baba sank auf dem Boden zusammen, und sein Körper bildete einen Knoten, daß ihm das Kinn unglaublicherweise auf dem Gesäß saß und ihm Hände und Füße an den unmöglichsten Stellen hervorschauten, während Sunday aus dem Stand heraus vor und -504-
zurück Überschläge über ihn machte. »Dein Diamante-Kostüm gefällt mir ausnehmend gut«, sagte Edge zu Autumn, nachdem sie die Manege verlassen hatten. »Wie ein Kobold hast du dort oben ausgesehen. Außerdem muß ich sagen: Hut ab vor dir. Ich hatte wirklich nicht erwartet, daß du als Artistin so überragend bist.« »Oh, ich bin schon besser gewesen«, sagte sie professionell selbstkritisch, doch dann lachte sie. »Ehrlich gesagt, liegt das daran, daß ich unten ganz wund bin. Wir beide werden uns in unseren Vergnügungen ein wenig bescheiden müssen, Zachary – zumindest in den Nächten vor einem Auftritt.« »Und ich hatte schon Angst, daß es keine weiteren Nächte mehr geben würde. Auf die Knöchel hab’ ich mir die ganze Zeit über gebissen, als du da oben warst. Mein Gott – grätschen, springen und Saltos machen und auf einem so schmalen Hanfseil landen ...« Autumn schnippte sich einen Schweißtropfen von der Stirn und sagte in verzweifeltem Ton: »Zachary, das Seil ist doch kaum zweieinhalb Meter überm Erdboden gespannt. Stitches muß es mir unbedingt direkt unter der Zeltkuppel anbringen.« Edge warf einen Blick zurück auf das Gerüst, das aussah wie ein überdimensionaler Sägebock, nur, daß das Seil den Querbalken ersetzte. Ein langschenkliges, aus Holzbalken bestehendes X zu beiden Seiten des Manegenrunds bildete die Haltepunkte des Seils, und die beiden X wurde durch ein sinnfälliges System von Flaschenzügen und Absegelungstauen, die außerhalb des Manegenrings festgemacht waren, straff gespannt. Das eine x-förmige Kreuzbalkenstück war größer als das andere und bot einer kleinen Plattform Platz, auf welcher Autumn zwischen den einzelnen Nummern ihres Programms lehnte und sich ausruhen konnte. Dahinter befand sich die Leiter für Auf- und Abstieg der Artistin. Das kleinere X am anderen Ende des Seils bildete ihr croise de face und war oberhalb des -505-
Seils weiß angestrichen, damit sie auch bei schlechter Beleuchtung einen Fixpunkt hatte, auf den sie sich mit den Augen konzentrieren konnte. »Jetzt hör mir mal gut zu, Lady«, erklärte Edge Autumn in gestrengem Ton. »Du willst Stitches bitten, das Seil höher oben aufzuspannen? Wo es um gefährliche Unternehmungen geht, wird auch der Sprechstallmeister konsultiert.« »Dann betrachte die Sache mal mit den Augen eines Direktors und nicht mit denen eines ängstlichen Papas. Eines kann ich dir versichern: Falls ich jemals abstürze, und wäre es auch nur acht Spannen überm Boden, ich hätte mich unmöglich gemacht und wäre ein für allemal erledigt ... Pfeffer, du Wahnsinns-MicMackerin, was um alles in der Welt treibst du da?« »Deiner Nummer zu folgen, ist nicht leicht, Sassenach-Frau«, knurrte Pfeffer. Sie wartete, daß Florian mit seiner ausschweifenden Vorstellung zu Ende kam. Währenddessen krümmte sie sich zusammen, hatte eine Hand in ihrem Trikot und fuhrwerkte an einer ziemlich intimen Stelle ihres Körpers umher. »Aber eines weiß ich – diese Itaker lieben die Würze.« Sie hatte das, wonach sie suchte – ihr Cachesexe, das sie unterm Trikot schützend zwischen den Beinen trug – gepackt, riß es heraus, richtete ihr Kostüm eilends wieder her und setzte ein mutwilliges Lächeln auf. »Und wenn sie’s unbedingt sehen wollen, werd’ ich ihnen das senkrechte Grinsen zeigen.« »Ecco, l’audace Signorina Pepe!« stellte Florian sie endlich vor, die Musikanten spielten einen Tusch, und Pfeffer schleuderte das Cachesexe wie beiläufig Edge zu und tanzte beseligt ins Manegenrund hinein. Yount, der Bebenmacher, der als nächstes an die Reihe kommen sollte, stand jetzt neben Edge und Autumn. Sie sahen zu, wie zwei von den Böhmen an dem Seil zogen, mit dem Pfeffer an ihrem Knoten in die Höhe gehievt wurde, während die beiden böhmischen Musikanten jene Melodie spielten, die -506-
sie ihnen vorher vorgesungen hatte, woraufhin Yount völlig fassungslos sagte: »Aber Miss Autumn, wie kommt es, daß Ihre Ausländer dieses Lied kennen? Das ist doch ›The Bonnie Blue Flag‹.« »Ursprünglich war das die Melodie von ›The Irish Jaunting Car‹ – ›Der irische Spritztour-Wagen‹«, berichtigte Autumn ihn. »Und diese Irin ist ja eben dabei, eine Spritztour zu machen.« Pfeffer hatte Arme und Beine im selben Augenblick, da sie überm Boden schwebte, seitlich ausgestreckt und verharrte in dieser Kreuzigungshaltung, bis sie den Lungia-Balken mit der Rolle erreicht hatte, über welche das Seil lief, an dem sie hing. Dann, ehe sie mit ihren Kunststücken begann, nahm sie die Beine zusammen, woraufhin sich das Trikot über der Ritze dazwischen selbstverständlich in Falten legte und sie nachmodellierte. Da aber ihr Trikot bis auf die mit grünen Pailletten benähten verschlungenen Ornamente fleischfarben war, sah sie in der Höhe schamlos nackt aus. Die Frauen im Publikum machten leise, die Männer ziemlich laut ihre Bemerkungen, doch handelte es sich grundsätzlich um Worte der Bewunderung und nicht um abschätzige oder betroffene Kommentare, wie das in jenem Teil der Welt der Fall gewesen wäre, aus dem Pfeffer vor kurzem gekommen war. Clover Lee murmelte: »Mir würde Florian die Hölle heiß machen, wenn ich ohne mein Cachesexe hochginge. Bei ihr sieht er nicht mal hin. Wohin ist er überhaupt?« »Der König ist im Kontor«, sagte Fitzfarris, der neben ihr stand. »Ich glaube, er ist zwischen zwei Nummern jedesmal zum roten Wagen rübergeflitzt, bloß um die Lirestapel durch die Finger gleiten zu lassen. Aber da kommt er schon wieder.« »Sir John«, sagte Florian, ohne auch nur einen einzigen Blick dorthin zu werfen, worauf die Augen aller anderen gebannt gerichtet waren, »Pause machen wir gleich nach dem Auftritt des Bebenmachers, Sie können also gleich mit Ihrer -507-
Pausenschau anfangen. Mal sehen ... Ali Baba brauchen Sie nicht unbedingt. Ich muß eine Nachricht ins Hotel schicken; der Bursche kann hinlaufen und einen Zettel ...« »Schicken Sie mein Weib«, sagte Pavlo Smodlaka. »Sie kann italienisch und braucht keinen Zettel. Und ich hab’ ihr bereits befohlen, ihr Kostüm wieder auszuziehen. Weib! Komm her!« »Sehr wohl«, sagte Florian. »Gavrila, ich habe im Gran Duca hinterlassen, daß heute nacht nur noch Monsieur Roulette dort wohnt. Doch jetzt können wir es uns glücklicherweise leisten, alle unser Zimmer zu behalten, und ich sehe keinen Grund, warum wir uns diese Annehmlichkeit versagen sollen. Würden Sie bitte der Direktion ausrichten, daß heute abend die ganze Truppe wieder dort sein wird? Und noch für ein paar Nächte bleibt? Nur die Stallungen brauchen wir nicht mehr. Die farbigen Herrschaften und die Böhmen werden sich hier auf dem Zeltplatz einen Schlafplatz suchen und gleichzeitig die Tiere bewachen.« »Du weißt, was du zu sagen hast, Weib!« sagte Pavlo. »Lauf!« Woraufhin sie wie aus der Pistole geschossen davonlief. Florian nahm seinen Zimmermannsbleistift und sein Notizbuch zur Hand und kritzelte und brummelte vor sich hin: »Punkt 1: Sämtliche Lieder aus dem Englischen übersetzen. Punkt 2: Mag soll Halskrausen für die Hunde nähen ...« Von Zeit zu Zeit kratzte er sich gedankenverloren mit dem Bleistift im Bart und besudelte dessen silbrigen Schimmer. Sarah schob sich direkt neben ihn und sagte ruhig: »Da wir unsere Zimmer behalten, darf ich heute zu dir kommen? Ich würde gern ...« »O nein, nicht heute abend, nicht heute abend«, sagte Florian, ohne sich in seinem Notizenmachen stören zu lassen; dem Anschein nach hatte er nicht einmal bemerkt, wer es war, der da gesprochen hatte. »Heute abend Beratung. Mit allen leitenden Mitgliedern. Bis in die frühen Morgenstunden, -508-
höchstwahrscheinlich.« Sarah sah enttäuscht aus. Fitzfarris schüttelte den Kopf und sah die anderen an, die in der Nähe standen. Paprika verzog blasiert das Gesicht. Clover Lee runzelte die Stirn, doch konnte Fitz nicht sagen, ob sie ärgerlich war, weil Florian ihre Mutter vor den Kopf gestoßen hatte, oder weil er Pfeffers offenkundig exhibitionistische Haltung nicht bemerkte und deswegen keinen Krach schlug. Mittlerweile stand das Publikum mehr im Bann von Pfeffers tollkühnen Übungen als ihrer unverfrorenen Selbstentblößung. Die Menge brach immer wieder in bewundernde Ohs und Ahs aus, während sie zehn Meter über der Manege herumwirbelte und ihre akrobatischen Verrenkungen machte. Auf ihre besondere Weise stöhnte auch Monday Simms. Fitzfarris, der durch die Hintertür verschwinden wollte, um sich um seine Pausenshow zu kümmern, ertappte Monday dabei, wie sie hinter einem Stapel Leinwand hervorlugte und mit glühendem Kopf die Innenseiten ihrer Schenkel aneinander rieb. »Ich hab’ dir gesagt, du sollst das lassen, Kind!« fuhr er sie an. Monday schrak zusammen und sah ihn verschämt an. Aus dieser schuldbewußten Miene wurde etwas regelrecht Bittendes, als sie sagte: »Ja, und du hast mir gesagt, es gibt bessere Spiele zu spielen. So bring sie mir doch bei!« »Mach du nur weiter so, und jemand tut das bestimmt, das kann ich dir garantieren.« »Du«, drängte sie. »Ich will verdammt sein, wenn ich eine kakaobraune Welpe ausnutze. Ich wünsch’ mir meine Frauen älter und erfahrener. Frag mal wieder bei mir an, wenn du größer geworden bist, Kind. Und jetzt hol deine Schwester und macht euch fertig, Pygmäen zu spielen.« »Wie soll ich denn Erfahrung’ mach’n, wenn du sie mir -509-
verweigerst?« Doch dann machte sie den Mund zu – Autumn war aus der Hintertür hereingekommen und betrachtete sie einigermaßen überrascht –, woraufhin das Mädchen an der Rückwand des Zeltes davonlief. Achselzuckend sagte Fitzfarris zu Autumn: »Plötzlich scheint jede einzelne Frauensperson im Circus läufig zu sein.« »Wie bitte?« »Und das liegt nur an Ihnen!« »Wie bitte?« »Ich weiß nicht, wieso, aber ich hab’ das überall beobachtet, wo ich auch war. Sobald ein auffallend hübsches neues Mädchen auftaucht, fängt jedes andere an, sein biologisches Verlangen zu potenzieren.« »Was höre ich da von Verlangen?« sagte Mullenax gutmütig, als er, mit seiner neuen Löwenbändigeruniform angetan, schwerfällig auf sie zukam. Autumn sagte nur: »Ich hätte gedacht, Monday Simms wäre noch viel zu jung, um überhaupt irgendein Verlangen zu haben.« »Das macht das schwarze Blut in ihr«, sagte Fitzfarris. »Die Tropenmenschen reifen früh«, und ging seines Wegs. »Damit hat er übrigens recht«, sagte Mullenax. »Ein Arzt hat mir mal gesagt, das liegt nur daran, daß die Nigger ständig Wassermelonen essen. Er sagte, Wassermelonen verstärkten dieses Verlangen unglaublich.« »So ein Unsinn!« sagte Autumn. »Meinen Sie? Gibt es denn überhaupt Nigger in diesem England, wo Sie herkommen? Oder Wassermelonen?« »Neger nur sehr wenige. Und Wassermelonen höchst selten.« »Wie kommen Sie dann dazu, ›Unsinn‹ zu sagen? Beobachten Sie nur das andere kakaobraune Mädchen – diese Sunday Simms –, passen Sie mal auf, wie die sich nach Ihrem Mann verzehrt. Also schön, um Zack Edge zu kriegen, haben Sie -510-
Ma’am Solitaire ausgestochen. Aber auch Nigger können stechen – mit’m Rasiermesser.« »Abner, du bist betrunken.« »Miss Auburn, ich geh’ heut’ nachmittag in den Löwenkäfig rein. Und ich bin zu dem Schluß gekomm’, daß es an der Zeit ist, die Nummer mit Kopf in sein’ Maul stecken einzustudier’n. Glauben Sie etwa, das tu ich nüchtern?« Aus dem Zeltinneren ließ sich Tumult vernehmen; Pfeffer schloß ihre Vorstellung ab. Allerdings wurde ihr nicht ganz der Applaus zuteil, den Autumn geerntet hatte, und Pfeffer schien verärgert, als sie herniederschwebte und die Böhmen ihr halfen, ihren Knoten vom Haken zu lösen. Sie bedankte sich nur mit einigen flüchtigen Verneigungen, dann lief sie hinaus, die Musikanten ließen die Musik wenig elegant ausklingen und Florian mußte in die Manege steigen, um Obie Yount vorzustellen, »il creatore des terremoto«. Auf dem Weg zum Umkleiden lief Pfeffer Quincy Simms in die Arme. Unvermittelt blieb sie stehen und unterzog ihn einer eingehenden Prüfung. »Hey, Bürschlein, was wiegst du?« Er überlegte, als hätte sie ihm eine tiefsinnige philosophische Frage vorgelegt, doch schließlich sagte er: »Meine Herrn, Missus, keine Ahnung nich’.« »Nun, viel kann’s nicht sein. Meinst du, du könntest deine akrobatischen Übungen auch machen, wenn du dich in der Luft an einer Perche festhältst?« Abermals überlegte er, bis er schließlich sagte, er »nahm’ an«, er »könnt’s«. »Dann woll’n wir mal sehen. Melde dich nach der Abendvorstellung bei mir, und bleib in deinem Trikot. Wir werden probieren.« Nachdem der Bebenmacher unter viel Gestöhn und Geächze Kanonenkugeln gehoben, hochgeworfen und hatte kreisen -511-
lassen, wobei zuletzt eine mit einem Ächzer auf seinem Nacken gelandet war – die um der größeren Wirkung willen zwei Böhmen auf einer Leiter stehend unter Ächzen und Stöhnen heruntergehoben hatten –, und er stöhnend und ächzend und Grimassen schneidend dagelegen hatte, während das PercheronPferd Blitz auf dem über seine Brust gelegten Brett hinweggestiegen war –, nachdem er all dies vorgeführt hatte, bekam er einen beachtlichen Applaus, und unter das Klatschen mischten sich Rufe wie »bravo!« und »bravissimo!« und ab und zu sogar »fusto!« Beim Verneigen sagte er zu Florian, der seitlich neben ihm stand: »Ich weiß, was ›bravo‹ heißt – aber was bedeutet ›fusto‹?« »Eigentlich ist das ein Baumstamm, aber es bedeutet auch bravo, nur, hmm – mehr als bravo. In Mexiko hast du doch bestimmt das Wort macho gehört, nicht wahr? Fusto bedeutet dasselbe. Ein fusto ist ein richtiges Mannsbild.« »Ehrlich?« sagte Yount verwundert. Kaum hatte er einen anmutigen Abgang aus dem Chapiteau gefunden, begab er sich mannhaft oder vielmehr mannsbildhaft zu Paprika Makkai, pumpte Brustkorb und Bizeps auf und sagte ohne die geringste Scheu: »Mam’selle, würden Sie mit mir ausgehen?« »Miert?« sagte sie, aus ihrer anderen Sprache hochgeschreckt. »Meiner Treu, Zack sagt, Livorno ist ’ne schöne Stadt zum Spazierengeh’n. Ich dachte, wir beide könnten nach der Vorstellung vielleicht einen kleinen Spaziergang machen. Und vielleicht irgendwo zu Abend essen.« Nachdenklich betrachtete Paprika ihn und gewann allmählich ihre Selbstsicherheit wieder zurück, während er die ganze Zeit über mannhaft die Fusto-Brust beibehielt; dann wanderte ihr Blick zu Sarah hinüber, die verstohlen lächelte. »Nun, das ist höchst liebenswürdig von Ihnen, Sergeant. Ich meine, das könnte sehr schön sein. Aber selbstverständlich brauchen wir -512-
eine gardedam ... eine Anstandsdame.« »Ach, brauchen wir die?« Sein Brustkorb sackte etwas in sich zusammen. »Nun, einverstanden.« »Vielleicht könnten wir Madame Solitaire bewegen, uns zu begleiten? Ich glaube, Madame, Sie haben keine anderen Verpflichtungen ...« Die Musikanten spielten einen dünnen, aber schwungvollen Marsch, und Florian verkündete die Pause – samt Hinweis, daß Magpie Maggie Hag mit ihren wahrsagerischen Fähigkeiten zur Verfügung stehe. Beim Verlassen des Zeltes unterhielten die Leute sich lebhaft und lachten, doch eine ganze Reihe rutschte weiter nach vorn auf die ersten Bänke, um die Dienste der Zigeunerin in Anspruch zu nehmen. Edge fiel auf, daß es sich – wie eigentlich immer – um Frauen handelte. Diese jedoch befanden sich in der Mehrzahl im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft, folglich stand nicht zu erwarten, daß sie Rat in Liebesdingen allgemein suchten oder wissen wollten, wie man sich einen Mann angelt. Noch ungewöhnlicher jedoch war, daß Magpie Maggie Hag ein Notizbuch in der Hand hatte, so eines wie Florian es besaß, und sich darin etwas notierte, sobald sie mit einer Frau die Köpfe zusammensteckte. Als eine der Schwangeren ging und eine andere sich langsam näherte, nahm Edge die Gelegenheit wahr, um sie zu fragen, was all diese zukünftigen Mütter eigentlich wissen wollten. »Ja, was meinst du wohl? Selbstverständlich wollen sie wissen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen bekommen.« »Und wie errätst du das?« »Was heißt hier ›erraten‹?« erklärte sie entrüstet. »Ich bin Magpie Maggie Hag! Ich rate nicht. Neun von zehn Frauen wünschen sich einen Jungen.« »Und das wollen sie schriftlich bestätigt wissen?« »Nein, nein. Das ist nur Vorsichtsmaßnahme. Hier in Europa bleibt Circus oft genug lange an einem Ort, so daß Baby kommt. -513-
Wenn es das wird, was ich gesagt habe – Junge oder Mädchen –, Mama und Papa überglücklich, daß sie vielleicht sogar kommen und mir Geschenk bringen. Wenn aber nicht, sie vielleicht wütend. Deshalb zeige ich ihnen Geschriebenes, sag’, ich nicht falsch vorhergesagt, nein, sie falsch mitbekommen. Verstehn? Immer, wenn ich Frau sage, bekommt Jungen, schreibe ich Mädchen. Sage ich Mädchen, schreibe ich Jungen. Jetzt geh! Nicht stören! Viel Geld verdienen, ich.« Edge gluckste in sich hinein, klopfte ihr liebevoll auf den Kopf und trollte sich. Vorm Zelteingang war Florian gerade dabei, seine Lobrede auf den Inhalt des Museumswagens abzuschließen – und diese Europäer schienen tatsächlich, wie er vorausgesagt hatte, fasziniert von den mottenzerfressenen Mumien, und das einfach deshalb, weil es sich um die Überbleibsel von Geschöpfen handelte, die diesen Gestaden völlig fremd waren. Danach zeigte Florian auf Fitzfarris, der gleichmütig auf einer hochgestellten Obstkiste stand – »Un uomo bizzarro, Sir John l’Afflitto Inglese« – und beim Anblick des Leidenden Engländers murmelten etliche aus der Arbeiterklasse stammende Zuschauer irgend etwas und bekreuzigten sich. Edges Aufmerksamkeit allerdings wurde von einem anderen Anblick gefangengenommen, der ihm nicht minder bizarr vorkam. Er suchte Autumn auf und fragte sie: »Rauchen diese Italiener eigentlich Papier?« und wies mit einer vagen Handbewegung auf viele der umstehenden Männer und Frauen, die augenscheinlich genau das taten. Sie schien leicht erstaunt, daß ihn dies verwunderte, und sagte: »Ja, kennt ihr denn in den Staaten die Sigaretta nicht?« Dann erklärte sie ihm, daß es sich in Wahrheit um nichts anderes handele als um eine kurze, dünne milde Zigarre, nur daß sie in Papier eingerollt sei statt in ein Deckblatt aus Tabak. Die Sigaretta werde bei Anlässen wie diesem immer beliebter, auch in Theaterpausen, wenn man nur Zeit für ein kurzes Rauchvergnügen hätte und eine ganze Zigarre oder eine volle -514-
Pfeife Verschwendung wäre. Insbesondere Frauen hatten sie es angetan, sagte Autumn, denn sie röchen nicht ganz so durchdringend wie Zigarren und wären überdies viel anmutiger in der Hand zu halten. »Und jetzt, meine guten Leute«, sagte Fitzfarris, als die Menge genug davon hatte, sich sein Leiden anzusehen, »gestatten Sie, daß ich Ihnen meine mißgestalteten Leidensgenossen vorführe. Zunächst einmal – vorgetreten, Mädchen! – sehen Sie! Das einzige echte Paar weißer afrikanischer Pygmäen in Gefangenschaft!« »I pigmei bianchi!« dolmetschte Florian und tat dies auch weiterhin, während Fitzfarris sein Garn spann. »Und jetzt, bitte, betrachten Sie das genaue Gegenteil im Katalog der Menschenrassen – Kopf hoch, meine Kleinen! –, die Kinder der Nacht.« »I figli della notte.« »Geboren in einer Höhle, aufgewachsen in einer Höhle, haben sie Gottes Sonnenlicht nie zu Gesicht bekommen, das heißt, erst vor wenigen Monaten, als wir sie zufällig entdeckten und aus ihrer Einmauerung befreiten. Sehen Sie sie sich gut an, denn ihre zarte helle Haut und ihre empfindlichen rosa Augen können das Tageslicht nicht lange ertragen; deshalb müssen sie rasch zurück in die ihnen vertraute Dunkelheit; sonst müßten sie grausam leiden ...« Nachdem die spillerigen kleinen Smodlakas wieder abgezogen waren, dem Vernehmen nach, um im Dunkel Schutz zu suchen, trompetete Fitzfarris: »Und jetzt, meine Damen und Herren gestatten Sie, daß ich Ihnen Little Miss Mitten vorstelle.« Darauf war Florian nicht vorbereitet, und so stotterte er beim Dolmetschen herum. »La Fanciulla Guanto ... errr ... Mezzoguanto-Fräulein Handschuh ... errr ... Halbhandschuh.« Aber die Leute lachten bereits, denn Fitzfarris hatte eine Hand -515-
aus der Rocktasche gezogen, und diese Hand trug einen Handschuh; auf die Handfläche waren mit leuchtenden Farben Augen, Nase und Oberlippe aufgemalt worden, und auf den Daumenteil eine Unterlippe. Er fing sofort an mit dem Daumen zu wackeln, damit es so aussah, als redete der Handschuh, während er selbst – allerdings ohne dabei die Lippen zu bewegen – mit schriller Stimme wie eine keifende Frau sagte: »Hast mich lange genug warten lassen, John, verfluchter!« Mit seiner eigenen Stimme – und dabei die Lippen sichtbarlich bewegend – entschuldigte Fitz sich. »Ich hebe das Beste doch bloß bis zuletzt auf, meine Liebe.« Dann wogte der Streit der beiden Stimmen eine Zeitlang hin und her, wurden uralte neckische Witze eingeflochten, die allesamt auf seine Kosten gingen. Die Wirkung freilich ging weitgehend verloren, weil Florian die Beschimpfungen beider Streitenden übersetzen mußte, und das überdies mit einer Stimme. Fitzfarris ließ daher den schrillstimmig zeternden Handschuh wieder in seiner Rocktasche verschwinden, wo er mit gedämpfter Stimme weinte. Dann brachte er seine ›Pfeifen‹ zum Vorschein – »Jeder von Ihnen kann diesen Trick machen! Überraschen Sie Ihre Freunde! Werden Sie zum Mittelpunkt eines jeden Festes!« –, verkaufte aber enttäuschend wenige davon. Als Florian das merkte, gab er den Böhmen und Hannibal vorm Haupteingang des Zeltes ein Zeichen, woraufhin diese ›Wait for the Wagon‹ spielten, die Zuschauer ihre Zigaretten wegwarfen und ins Zelt zurückkehrten. Der zweite Teil der Nachmittagsvorstellung lief ab, ohne daß die Begeisterung der Menge auch nur ein bißchen nachgelassen hätte. Barnacle Bill mag nicht ganz so forsch aufgetreten sein wie sonst, vielleicht war er auch ein wenig unsicher auf den Beinen, und seine deutschen Befehle kamen ein wenig mit schwerer Zunge, aber er schaffte es, in den Käfig hinein- und auch wieder herauszukommen – und, was wohl wichtiger war, auch aus Maximus’ Maul, ohne daß ihm ein Haar gekrümmt -516-
worden wäre; er brauchte nicht einmal so zu tun, als hätte er einen Kratzer abbekommen, denn Florian hatte sich dagegen ausgesprochen, Captain Hotspurs Trick mit dem ›blutenden Arm‹ neu aufzulegen. Brutus, der Elefant, schleifte ein Dutzend vierschrötige und gedemütigte Schauermänner und Stauer durch die Manege. Abdullah, der Hindu, jonglierte außer mit vielen anderen Dingen auch noch mit einigen lebendigen und sich windenden Meeräschen aus den Gewässern Livornos. Colonel Ramrod verwendete für seinen ersten Trick jetzt einen von den Henry-Stutzen und setzte Sunday und Monday Simms als Assistenten ein. Zu seiner größten Freude hatte er im wohlbestückten großen Laden für Schiffsausrüstungen neben dem Gran Duca die Patronen gefunden, die er für den HenryStutzen brauchte. Die Kugeln hatte er herausgenommen und einen Teil des Pulvers ausgeschüttet, damit die Treibkraft nicht ganz so groß wäre; dann hatte er die Kugeln wieder eingesetzt. Abdullah hatte den Simms-Mädchen inzwischen einige einfache Jongleurkunststücke beigebracht, bei denen sie ein Stück auseinander standen und Unterteller von einer zur anderen warfen, so daß stets ein oder zwei von diesen Porzellanscheiben durch die Luft zwischen ihnen flogen. Während sie selbiges taten, waren die beiden Mädchen so aufgestellt, daß Colonel Ramrods wuchtlos abgefeuerte Kugeln harmlos im Hintergrund landeten. Auf der anderen Seite der Manege betätigte er Spanner und Hahn mit größter Gelassenheit und zerschmetterte die fliegenden Untertassen, daß die Scherben flogen, bis die Mädchen nichts mehr zu werfen hatten. Danach nahm er seine vertraute alte Remington und schoß von verschiedenen Positionen aus auf die fünf Kürbisse, die die Mädchen auf der Manegenbegrenzung aufgebaut hatten (vertrocknete Kürbisse gab es reichlich und kosteten auf den Märkten Livornos so gut wie nichts), und ließ den fünften zerplatzen, wie er es jetzt immer tat, indem er mit seinem kleinen Spiegel zielte und über die Schulter Vogelschrot -517-
abfeuerte. Inzwischen hatte Clover Lee Sunday beigebracht, die durchlöcherten Kugeln immer wieder aufzuheben, still zu stehen, ein ängstliches Gesicht zu machen und nach hinten auszuweichen, wenn Colonel Ramrod den sechsten Schuß »mitten in ihr Gesicht« abfeuerte, woraufhin die atemlos wartende Menge das gemeinsame Schweigen brach und frenetisch klatschte. »Schön, auch ich ziehe den Hut vor dir«, sagte Autumn, als er aus der Manege kam. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß du ein solcher Könner bist. Allerdings hätte ich mir das gleich denken sollen, als ich erfuhr, daß du im Programm die Schlußnummer hast.« »Die sollst in Zukunft du haben, wie Florian und ich inzwischen beschlossen haben.« »Zachary! So war das nicht von mir gemeint; ich freue mich, daß du in deiner Arbeit genausogut bist wie ich in meiner. Es wäre mir nicht recht, höher bewertet zu werden als mein Mann – oder insgeheim zu meinen, es eigentlich verdient zu haben. Gleich begabt in unterschiedlichen Disziplinen – das sind wir.« »Und ich sage: vive la difference.« »Meine Fresse! Gebildet is’ er nu auch noch!« Während des großen Finales spielten die Böhmen recht anständig, doch noch nicht einmal die Hälfte der Artisten konnte den Text mitsingen – ›We loved each other then, Lorena‹ – und so summten die meisten nur oder bewegten die Lippen, als ob sie mitsängen. Doch die Zuschauer hatten offenbar nicht das Gefühl, daß ihnen hier etwas vorgemacht würde. Sie verließen das Zelt in Hochstimmung, verstreuten sich im Park, kletterten in wartende Kutschen, winkten Vetture heran, die in den Straßen um den Park herum auf den Schluß der Vorstellung warteten, oder zogen einfach gemächlich über die Bürgersteige davon. Magpie Maggie Hag machte sich gleichzeitig mit ihnen auf den Weg ins Gran Duca, um sich zu überzeugen, daß Rouleau auch -518-
zu essen bekam und um ihn, wie verordnet, mit Olivenöl zu massieren. Yount, Paprika und Sarah eilten in ihre Circuswagen, um Zivil anzuziehen, und verließen dann gleichfalls den Zeltplatz, wobei Yount in der Gesellschaft der beiden hübschen Frauen ganz ungewöhnlich stolz und fusto aussah. Die drei verliefen sich gleich von Anfang an in den unglaublich verschlungenen Gassen der Stadt, doch den Frauen machte das nichts aus. Gemächlich schlenderten sie die schmalen und gewundenen Straßen entlang, blieben vor den Waren stehen, die auf Verkaufständen und hochrädrigen Karren feilgeboten wurden und nahmen die Finger zur Hilfe, um die Preise in Währungen umzurechnen, mit denen sie besser vertraut waren. »Fünf Centesimi!« entfuhr es Sarah vor dem Karren eines Gemüsehändlers. »Das ist ja, das ist ja nur ein Cent! Schau, Paprika, einen ganzen Korb Trauben für nur einen Penny! Und hier, Grünzeug genug, den Salat für eine ganze Familie zu bereiten – auch für nur einen Penny.« »Und hier«, sagte Paprika, als sie vor einem Geflügelverkäufer stehenblieben. »Zwei Poularden für sage und schreibe fünfundsiebzig Centesimi! Das macht hetvenöt heller ... fünfzehn Cent in amerikanischem Geld, Sarah.« »Kein Wunder, daß Florian es so eilig hatte herzukommen! Hier können wir ja für wenig Geld leben wie die Fürsten.« Nach einiger Zeit faßte Yount sich ein Herz und erinnerte sie daran, daß sie rechtzeitig zur Abendvorstellung wieder zurück sein müßten im Park. So betraten sie das erste Lokal mit einem Trattoria-Schild über der Tür. Der Wirt machte ihnen verständlich, daß er nichts weiter als eine Reihe von PastaGerichten zu bieten habe, und sie entschieden sich für das, was er empfahl, nämlich Fettucdne alle vongole. Der Trattore stellte auch noch ungefragt eine strohumflochtene Flasche auf den Tisch, Yount schenkte davon ein, probierte dann und verzog das -519-
Gesicht. »Was ist denn das?« , »Chianti«, sagte Paprika und nippte genüßlich an ihrem Glas. »Und wozu soll das gut sein?« »Was meinst du damit?« »Wenn etwas so sauer ist wie dies hier, sollte man meinen, daß es für irgendeine Krankheit gut ist.« »Idiota! Chianti ist toskanischer Wein.« »Holundersaft ist es mit Sicherheit nicht.« »Die Toskana, das ist die italienische Region, in der wir uns im Moment befinden, und Chianti ist eines ihrer stolzesten Produkte. Die Herbheit des Weins hilft, daß der butterige und salzige Geschmack der Nudeln und der Muscheln besser herauskommt.« »Ach!« Jetzt aufgeklärt, machte er sich mit beiden Händen über das Gericht her, wie man es von einem starken Mann erwartet, und Sarah stand ihm nicht wesentlich nach. Paprika hingegen stocherte mehr auf ihrem Teller herum, als daß sie davon aß; offenbar war es ihr wichtiger, die Gelegenheit zu einem ernsthaften Gespräch beim Schöpf zu packen oder vielmehr, eine Moralpredigt zu halten, was wiederum Yount mehr und mehr den Appetit verschlug; denn das Thema, dem Paprika sich zuwandte, war die mangelnde Befähigung oder Unzulänglichkeit von Männern als Liebhaber. Vielleicht wollte Paprika, wie Sarah anfangs meinte, nicht persönlich werden, indem sie ganz allgemein von ›den Männern‹, sprach, statt rundheraus zu sagen, daß ihr daran gelegen war, Yount von seiner plumpen Art abzubringen, sich an sie heranzumachen. Aber selbst, wenn das der Fall sein sollte, wurde Yount immer unbehaglicher zumute, mitanhören zu müssen, wie die Männer in Bausch und Bogen und systematisch verunglimpft wurden. »Männer«, sagte Paprika, »gehen in der Werbung überhaupt -520-
nicht auf die Frauen ein, sind selbstsüchtig und in der Kunst des Liebens ohne jedes Feingefühl. Sie vernachlässigen die unzähligen Feinheiten, die die Frauen am meisten genießen.« Mit vollem Mund sagte Yount: »Das sind wirklich gute Maccaroni, oder?« »Für einen Mann ist eine Frau nichts weiter als ein Gefäß, ihn aufzunehmen. Man erwartet von ihr nichts weiter, als daß sie soweit erregt ist, sich penetrieren zu lassen. Dabei vermögen Aufmerksamkeiten, die ihr außen zuteil werden und nicht in ihr, sie unendlich mehr zu erregen.« »Darf ich Ihnen noch etwas von diesem Kanti einschenken, Miss Paprika?« »Kein Mann ist jemals imstande, all die herrlich erregbaren kleinen Stellen außen am Körper einer Frau zu kennen. Das kann nur eine andere Frau.« Sarah, die tüchtig zulangte, hatte bislang nur amüsiert von einem zum anderen geblickt. Jetzt jedoch wurde sie etwas nachdenklich. Ihr Auge blieb auf Paprika ruhen, denn ihr ging auf, daß diese Predigt auch ihr galt. Yount wiederum fühlte sich zunehmend weniger wohl in seiner Haut; ihm war das ganze nachgerade peinlich. Seine beiden Hände hörten auf, Fettucine in seinen Mund zu schaufeln und suchten sich – als Paprika sich ausführlich über bestimmte Techniken und technische Einzelheiten ausließ – andere Beschäftigung, zwirbelten nervös am Bart und wischten den Schweiß von der Glatze. »Obie, hast du dir jemals, wenn du mit einer Frau geschlafen hast, die Zeit genommen und die Mühe gemacht, die ... nun ja, zum Beispiel ihr Chelidon zu bewundern? Oder ihr Philtrum zu streicheln?« Paprikas rosige Zunge fuhr heraus und glitt lüstern über die Oberlippe. »Hast du eine Frau jemals an diesen Stellen geküßt?« Yount wand sich und sagte mit unglücklicher Miene: »Ma’am, ich würd’ mir doch nie herausnehmen, einer Frau -521-
gegenüber diese Worte in den Mund zu nehmen, ganz zu schweigen davon, sie dort zu ...« »Da haben wir’s! Siehst du, was ich mit der Phantasielosigkeit der Männer meine? Wärest du denn so schockiert, wenn eine Frau deinem Philtrum oder deinem Chelidon soviel Aufmerksamkeit widmete? Du hast diese Stellen schließlich auch, Obie.« Yount wrang sich den Bart. »Ma’am, bitte, könnten wir von was anderem sprechen?« »Dabei ist dein Philtrum behaart«, sagte sie boshaft und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. »Und anständig bekleidet«, entfuhr es ihm. »Nein, so hab’ ich noch nie ’ne Frau reden hören! Nicht mal in ’ner reinen Männerrunde, nicht mal in der Kaserne würd’ ich es wagen, so zu reden wie Sie.« »Dummes Mannsbild! Du weißt ja noch nicht mal, wovon ich rede! Hier, laß mich dir diese Dinge zeigen.« Ehe Yount aufspringen und fliehen konnte, zeigte sie sie ihm – freilich nicht bei sich oder bei ihm, sondern bei Sarah. »Das hier ist das Chelidon.« Paprika langte hinüber – was Sarah leicht erschauern ließ – und fuhr ihr mit dem schlanken Zeigefinger über den ärmellosen Arm. »Das Chelidon, das ist die Armbeuge.« Jetzt erbebte Sarah am ganzen Leib, so als wäre sie an ihrer geheimsten Stelle geliebkost worden. »Und das hier ist das Philtrum«, setzte Paprika hinzu und strich Sarah leicht über die Rinne der Oberlippe, was Sarah wiederum erschauern ließ. »Ach«, sagte Yount und setzte sich wieder. »Meinst du denn wirklich, daß derlei anatomische Bezeichnungen solche unschuldigen Wörter – irgendwie schlüpfrig oder unanständig sind?« »Nein, das wohl nich’«, murmelte er und kam sich albern, -522-
aber nicht besänftigt vor. »Aber die Art, wie Sie darüber reden is’ es. Als ob Sie die Wörter beim Rauskommen abschleckten.« »Irgendwann solltest du mal versuchen, die Chelidons und das Philtrum einer Frau zu lecken. Vermutlich wird sie das überraschen. Auf jeden Fall aber wird sie es als angenehm empfinden. Und es wird sie erregen. Und reaktionsfähig machen. Sie wird dich für eine Ausnahme unter den Männern halten. Und dennoch: Kein Mann ist jemals eine Frau gewesen, und folglich kann er sich auch nicht in all den empfänglichen Nischen und Spalten auskennen, jenen köstlichen Stellen und Dingen, die sich danach verzehren, daß jemand mit ihnen spielt.« Yount sagte: »Hey!« Er hatte sich mittlerweile soweit gefaßt, um neuerlich schockiert zu sein. »Woll’n Sie damit sagen, ’ne Frau könnt’ leichter von ’ner andern Frau verwöhnt werd’n als von einem Mann?« »Ich will das nicht andeuten – das ist einfach so. Und doch auch logisch. Wenn es eine Frau danach verlangt, auf diese Weise verwöhnt zu werden wer sollte besser wissen, wie man das macht, als eine Frau?« »Naja ... aber ...« Yount suchte nach einem passenden Vergleich, der aber nicht verletzen sollte. »Aber das wär’ doch, als kaufte sie eine Teekanne ohne Tülle.« »Ach, kedvesem, seid ihr Männer stolz auf diese Tülle! Dabei vergeßt ihr, daß das Innere einer Frau nur zum Kinderkriegen gut ist, genauso wie das Innere einer Sau oder eines Schafs; und eine Frau ist darin keineswegs auf eine menschlichere Weise weiblich oder empfänglich wie jedes Tier.« »Das kann nur ’ne gottverdammte Lüge sein«, empörte sich Yount jetzt entsetzt. »Ich werd’ nich’ so kein Blatt vor den Mund nehm’, wie Sie, aber ich darf wohl behaupten, daß ich keine Jungfrau mehr bin, und daß es noch nie ’ne Frau nich’ genossen hätt’, wie ich sie ... Miß Paprika, was Sie da sagen, is’ -523-
schlichtweg gelogen.« »Ich sage nichts als die Wahrheit. Frauen sind« – sie lächelte – »innerhalb ihrer weiblichen Organe höchstens einen Finger lang empfindsam oder weniger tief. Sarah hier wird dir das bestätigen.« Doch Sarah sagte nur mit versagender Stimme: »Ich ... ich habe nie darüber nachgedacht«, und Yount war so erschrocken, daß er keinen weiteren Einwand erhob und Paprika unerbittlich fortfahren konnte: »Selbst wenn du Teekanne eine Tülle hättest, so groß und so lang wie ein Elefantenrüssel – das würde nichts daran ändern, daß es hi re einzige und ausschließliche Funktion wäre, Babys im Inneren einer Frau abzulegen. Was die Empfindung betrifft, die Lust und die Ekstase, so genügt ein Finger darin durchaus – oder eine Zunge –, der zudem weit hurtiger und unendlich viel mehr in der Lage ist, sie geradezu wahnsinnig zu machen vor ...« Abrupt stand Yount auf und winkte dem Trattore. »Ich denke, es wird Zeit, daß wir zurückkehr’n zu den ...« er machte eine Pause, und sagte dann brutal: »... zurück zu den ander’n Mißgeburt’n im Circus. Miss Makkai, wenn Sie vorgehabt haben, mich abzuwimmeln – das ist Ihn’ gelungen. Ich hoff nur, Sie haben mir nich’ jedes Gefühl für die andern Frauen auf der Welt abgetötet.« So kam es, daß Yount gleich im Anschluß an die Abendvorstellung wieder in Zivil den Zeltplatz verließ. Er ging auf die nächste Droschkenreihe zu, wo es ihm mit lebhaften Gesten gelang, einem Vetturino begreiflich zu machen, daß er in ein Hurenhaus gebracht zu werden wünsche. Dort angekommen, gelang es ihm wiederum, der Madame klarzumachen, es verlange ihn nach einer Hure, woraufhin er in einen billig herausgeputzten Raum gewiesen wurde, in dem Teresa Ferraiuolo sich aufhielt. Sofern Teresa Ferraiuolo Cecile Makkais geringe Meinung über die männliche Hälfte der -524-
Menschheit teilte, war sie doch vernünftig genug, sich nicht zur Unzeit darüber auszulassen, was sie auf englisch allerdings auch gar nicht gekonnt hätte. Gleichwohl, nachdem Obie Yount – befriedigt, dankbar und bis zu einem gewissen Grade wieder mit seiner alten Selbstsicherheit – gegangen war, machte Teresa Ferraiuolo die Runde bei ihren Kolleginnen im Haus, um sie zu warnen, daß diese notorischen Perversen, »gli Inglesi«, immer verrückter würden. Dieser, so berichtete sie ihnen, habe zwischen den mehr routinemäßigen und normalen Ansprüchen darauf bestanden, ihr die Armbeuge und ihren Lippenflaum zu lecken. Etwa um die gleiche Zeit leerte sich der Speisesaal des Gran Duca allmählich von den späten Gästen. Florian jedoch trug den Kellnern auf, einen großen runden Tisch abzuräumen und für seine Besprechung herzurichten, die er mit Miss Auburn, mit seinem Sprechstallmeister Edge, Zeltmeister Goesle, Kapellmeister Beck und dem Direktor für das Pausenprogramm Fitzfarris abhalten wollte. Die sechs nahmen Platz, und die Kellner eilten, die Getränkebestellungen entgegenzunehmen, damit die Besprechung wie geschmiert lief. Florian zog sein Notizbüchlein und hakte die einzelnen Punkte ab. »Mit dem detaillierten Bericht unseres Kassenwarts möchte ich Sie nicht langweilen, meine Damen und Herren. Lassen wir es bei der Feststellung, daß der Besuch heute weit besser war, als ich erwartet hätte. Vermutlich haben wir das nicht der Tatsache zu verdanken, daß wir etwa der größte Circus der Welt wären, sondern eher, daß wir ein ausländischer Circus sind und damit etwas Neues. Doch aus welchen Gründen auch immer, ich gehe davon aus, daß wir hier in Livorno mindestens noch zwei Wochen erfreuliche Einnahmen haben – erst danach wird der Andrang vermutlich abnehmen. Um unsere Kasse nicht allzusehr zu belasten, gedenke ich, die Gagen derer, die erst jetzt zu uns gestoßen sind, wie verabredet einzubehalten; alle Lebenslänglichen jedoch können damit rechnen, daß -525-
regelmäßige Zahltage eingehalten werden. Und Sie, Messieurs Goesle und Beck, können getrost jene Einkäufe tätigen, von denen wir gesprochen haben – und zwar durchaus in der Erwartung, daß Ihnen die Auslagen, die Sie aus eigener Tasche vorzustrecken bereit waren, bald ersetzt werden.« »Die Pläne für den Gasentwickler habe ich bereits fertig«, sagte Carl Beck. »Gleich morgen fange ich an, das nötige Material einzukaufen.« »Gut«, sagte Edge. »Von Maggie höre ich, daß Jules in ein, zwei Tagen wohl in einen Rollstuhl überwechseln kann und nicht lange danach mit Hilfe eines Stockes wird gehen können. Wäre schön, wenn wir seinen Ballon für einen Versuchsaufstieg fertig haben, sobald er wieder auf den Beinen ist.« »Gleich morgen werde ich auch die zusätzlichen Musikinstrumente für die anderen Böhmen kaufen, die sonst ja nichts zu tun haben«, sagte Deck. »Damit sie bei den Vorstellungen endlich mitwirken können. Ein paar Blechinstrumente sollen für den Anfang genügen, und die bekomme ich billig in einem Pfandhaus, dem Monte di Pietá. Vielleicht kommen später noch Holzblasund Perkussionsinstrumente dazu.« »Das liegt ganz in Ihren kompetenten Händen, Kapellmeister«, sagte Florian und fuhr fort: »Morgen sollte das Zelt genauso voll sein wie heute, vielleicht sogar noch voller. Heute abend haben wir von der Druckerei Plakate und Handzettel bekommen. Gleich morgen in aller Herrgottsfrühe sollen ein paar von unseren Leuten sie in der Stadt verteilen und ankleben ...« Er griff unter seinen Stuhl und holte Muster von beidem hervor, auf daß die Umsitzenden sie bewundern könnten. »Moment mal, Direktor«, sagte Goesle. »Bessere Geschäfte können wir gar nicht tun. Hätten wir heute irgendwelches Stroh im Zelt gehabt, die Gaffer hätten drauf sitzen müssen.« -526-
»Stroh, jawohl. Ich habe einfach keins auftreiben können, Dai. Aber mit einer der hiesigen Sägemühlen habe ich mich über eine Lieferung Sägemehl geeinigt. Äußerst billig. Sie werden morgen vor Öffnung liefern. Sorgen Sie dafür, daß Ihre Helfer sie über Manege und Sitzbereich gleicherweise verteilen.« »Nichts könnte mir willkommener sein«, sagte Goesle. »Aber, Direktor, falls wesentlich mehr Besucher kommen als heute, wird Maggie Hag sie vom Roten Wagen abweisen müssen.« »So schlimm ist das gar nicht«, sagte Florian. »Nichts fördert den Erfolg so sehr wie der Erfolg. Wenn die Leute in der Stadt hören, wir hätten nicht alle einlassen können, werden sie um so begieriger sein herzukommen.« »Dieses Plakat«, sagte Edge, »ist für meine Begriffe äußerst zurückhaltend. Was mir fehlt, sind lobende Adjektive. Wo bleibt denn da dein üblicher Hang zu Schwulst und Übertreibungen, Direktor?« »Ach, mein guter Junge, wenn man wirklich was zu bieten hat, braucht man nicht mehr anzugeben und zu übertreiben. Überlassen wir das doch denen, die’s sowieso niemals schaffen werden.« »So gesehen ist dein Klasseprogramm allerdings ein gutes Plakat.« »Raum für Verbesserungen wird immer da sein«, sagte Florian und sah in sein Notizbuch. »Das muß sich im Laufe der Zeit ergeben. Da wären zunächst einmal die Lieder, die wir singen. Natürlich könnten wir auf hiesige Volkslieder zurückgreifen. Aber das würde bedeuten, daß jeder in jedem neuen Land neue Texte lernen müßte. Ich jedenfalls bin mehr dafür, das uns Altbekannte beizubehalten und vielleicht nur die Texte in die jeweilige Landessprache zu übertragen. Miss Auburn, könnten Sie mir diese Aufgabe abnehmen und den Text erst einmal ins Italienische übersetzen?« »Nun ... versuchen kann ich’s ja.« -527-
»Aussagen muß der Text überhaupt nichts. Hauptsache, der Chor am Anfang klingt flott und forsch, die Begleitung von Madame Solitaire kommt romantischlieblich und der Schlußchor hat was von einem langen Abschied.« »Meine Güte, viel ist das ja wohl nicht, was Sie da verlangen, oder?« »Nein ...« Wieder warf Florian einen Blick in sein Notizbuch. »Die Vorstellungen heute waren notgedrungen unfertig und unausgefeilt; schließlich haben wir dem Publikum zunächst rasch etwas bieten wollen. Aber wir sollten uns bemühen, ein Circus zu sein und kein Variete, in dem Tricks und Schaumschlägerei einander ablösen. Ein richtiger Circus eröffnet mit einer Sensation und bringt auch am Ende etwas Umwerfendes. Zwischendurch sollte es eine wohlüberlegte Abfolge von unterhaltenden und spannenden Nummern sein. Dazwischen was zum Lachen, damit die Spannung wieder erträglich gemacht wird. Deshalb habe ich eine neue Programmabfolge entworfen. Mal sehen, ob jemand von euch was dazu zu sagen hat.« Er riß die Seite aus seinem Notizbuch heraus und ließ sie herumgehen; gleichzeitig fuhr er fort: »Miss Auburn, Ihre Nummer ist zweifellos die allerbeliebteste – deshalb soll sie in Zukunft am Ende stehen und die Vorstellung abschließen. Dann gehen die Gaffer beschwingt und mit schönen Erinnerungen an uns nach Hause und verbreiten diese gute Kunde. Colonel Ramrod, Sie sollten meiner Meinung nach in Zukunft am Ende des ersten Teils stehen – Ihre Kunstschützennummer kommt also vor der Pause. Damit entlassen wir die Menge im Zelt in angeregtester Stimmung in die Pause, die Leute sind bereit, sich ausnehmen zu lassen und zu kaufen.« »Aber was denn nur?« fragte Fitzfarris. »Vorläufig nur Maggies Dienste sowie Ihre Pfeifen und Ihr -528-
Mäusespiel. Das sollte nach dem Pausenprogramm unbedingt wieder eingeführt werden. Die Italiener sind keine einfältigen Gimpel, die sich darüber aufregen, daß eine Maus einer sinnvollen Beschäftigung nachgeht. Und da wir gerade bei den Tieren sind: Mag ist schon dabei, Halskrausen für die Hunde von Smodlaka sowie neue Kostüme für die Smodlakas selbst zu nähen. Sobald die Kostümnäherin damit fertig ist, soll sie Uniformen für Ihre Bläser nähen, Carl.« »Noch mal zurück zu den Tieren«, sagte Edge. »Ich möchte gern möglichst bald den Dressurakt ins Programm aufnehmen. Manche von den Pferden sind von der Seereise noch ganz wacklig auf den Beinen, aber wir werden weiter probieren, sobald sie wieder Landbeine bekommen haben.« »Und Sunday und Monday«, sagte Autumn. »Die beiden haben mich gebeten, sie am Seil auszubilden. Wenn Sie einverstanden sind, Direktor, möchte ich sie zunächst einmal am schräggestellten Seil ausbilden. Machen sie sich da gut, können wir zum Balancieren übergehen.« »Einverstanden. Lassen Sie mich wissen, ob eine oder beide dafür begabt sind.« »Nun«, fuhr Autumn fort, »eine Besteigung auf schräggestelltem Seil sollte möglichst hoch führen, wo man’s mit der Angst bekommt; am Ende kann dann ein Abrutschen am Seil stehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Übrigens, wo wir gerade dabei sind – ich möchte, daß mein Gerät möglichst hoch angebracht wird.« »Jetzt mach aber mal ‘n Punkt, Autumn!« begann Edge, doch Florian unterbrach ihn. »Meine Liebe, ganz meiner Meinung. Eine solche Nummer sollte soviel Spannung wie möglich erzeugen. Doch um auf das auf der Hand liegende hinzuweisen: unser Zelt hat nur einen einzigen Mast. Da oben gibt es nichts, Ihr Seil dazwischen zu spannen. Und wir haben mehr Raum ...« -529-
Jetzt fiel Carl Beck ihm ins Wort. »Ja. Und meine Bläser brauchen ein Podium überm Auftritt. Was wir jetzt haben ... gewiß, sie können sich hinter dem Eingang aufstellen und spielen. Aber eine richtige Kapelle ...« Ohne sich mit Gewalt Gehör zu verschaffen, doch mit Autorität sagte Goesle: »Wir brauchen mehr Raum, Direktor, und zwar nicht nur für die Kapelle und das Seil der Missy. Was bringt es uns schon ein, wenn wir zwar beliebt sind, aber nicht genug Platz haben, viele Leute aufzunehmen. Deshalb folgende Überlegungen von mir. Zu geringen Kosten – wir brauchten nur das Geld für einen zweiten Mast und etwas zusätzliche Leinwand – könnten wir das Fassungsvermögen des Zeltes verdoppeln. Im Moment haben Sie ein Rundzelt. Teilen wir das Rund einfach in zwei Hälften, rücken die beiden Halbkreise auseinander und zwar dergestalt, daß jede Hälfte von einem Mast gehalten wird, und spannen wir dazwischen genügend Zeltbahnen, um die Lücke zu schließen ...« »Das brauchen Sie nicht genauer auszuführen, Dai«, sagte Florian. »Ein aus einem geraden Mittelteil und zwei halbrunden Teilen bestehendes Zweimastzelt ist nichts Neues.« »Ich will ja gar nicht behaupten, daß ich es erfunden hätte. Ich behaupte nur, daß ich es herstellen kann – für wenig Geld. Wenn Sie wollen, mache ich Ihnen ein ovales Langzelt mit viel Platz für die Zuschauersitze. Und die beiden Hauptmasten links und rechts von der Manege anzubringen, bedeutet doch viel mehr Platz für die Artisten – und zwischen den beiden Masten könnte auch das Seil von Miss Auburn gespannt werden. Da kann sich jeder entfalten. Außerdem könnte ich dafür sorgen, daß das Musikpodium ins Zelt integriert wird. Überm Haupteingang, so wie in Europa allgemein üblich.« »Sehr gut«, sagte Beck beifällig. Autumn nickte und setzte ein triumphierendes Lächeln auf. Edge sah sie mißmutig an. »Ich bin mir sehr wohl bewußt«, sagte Florian geduldig, »daß -530-
ein Zelt sich erweitern läßt. Und selbstverständlich habe ich das immer vorgehabt. Aber es geht um mehr als um die Kosten für nur einen zusätzlichen Pfosten und etwas mehr Zeltbahn. Es geht ja vor allem um wesentlich viel mehr Sitzgelegenheiten.« »Darum kommen Sie ohnehin nicht herum«, sagte Goesle. »Überlegen Sie doch nur mal, was Sie im Moment haben – Bretter auf Brettern, und das ganze zusammengehalten durch die Gnade Gottes. Das war vielleicht für Amerika das richtige, wo die Sitzreihen jeden Tag auf- und auch wieder abgebaut werden mußten. Aber hier in Europa, wo wir eine Woche oder noch länger in einer Stadt bleiben werden, müssen wir schon mehr auf Sicherheit bedacht sein. Deshalb werde ich richtige Metallböcke beschaffen; dann können wir auf Ihre wackeligen Holzbeine verzichten, und die Bretter werden auch auf die Querstücke genagelt. Die Böhmen haben mir gesagt, sie könnten Bretter besorgen – gratis. Vermutlich wollen sie die Versandkisten von der Eisenbahn klauen, doch hüte ich mich, genauer nachzufragen.« »Trotzdem ...« murmelte Florian. Doch einmal in Fahrt, ließ Goesle sich nicht mehr aufhalten. »Der aufgeworfene Erdwall mag zwar für Manegen in Amerika gut genug gewesen sein, wo er nur einen Tag zu halten hatte. Hier jedoch müßte er aufgeworfen und immer wieder hochgeschaufelt werden. Von den Brettern, die uns nichts kosten sollen, kann ich auch eine haltbare und transportable Piste zimmern. In leuchtender Farbe gestrichen und obendrauf gepolstert. All das kann ich machen.« »Zeltmeister«, sagte Florian ernsthaft, »all dies sind Dinge, wie ich sie mir von Herzen wünsche. Aber überlegen Sie einmal. Sie können zwar Zeltbahnen, Holz und Böcke und alles andere, was man sonst noch braucht, kaufen. Aber womit sie transportieren? Das heißt doch auch noch: zusätzliche Wagen und weitere Zugtiere. Pferdegeschirr, mehr Futter, mehr Leute, die sich um die Tiere kümmern, einen größeren Zeltplatz, wohin -531-
wir auch kommen.« »Gestatten Sie mir, eines zu sagen«, mischte Edge sich jetzt ein. »Wie Sie vorausgesagt haben, Direktor, kosten die Dinge hier nicht viel, jedenfalls verglichen mit zu Hause. Zwar habe ich die Preise für größere Anschaffungen wie etwa Wagen und so weiter noch nicht erkundet, aber wenn sie auch so wenig kosten wie Hafer und Heu und Futterfleisch, müßten sie erschwinglich sein. Und was den eigentlichen Transport und die Tierpflege betrifft, möchte ich darauf hinweisen, daß Hannibal und Quincy versprechen, genausogut zu werden wie Roozeboom es beim Ziehen und Beladen war.« »Richtig«, sagte Florian und nickte nachdenklich. »Ich habe keine Ahnung, wie Abdullah es geschafft hat, obwohl er doch kein Wort italienisch kann – aber ich habe ihm nur Geld gegeben, das er für einen guten Futtervorrat für die Pferde, den Elefanten und die Raubkatze angelegt hat. Und der kleine Ali Baba macht sich trotz seines schauderhaften Englisch gut, wenn es gilt, die Böhmen beim Füttern, bei der Käfigreinigung und bei der Tierpflege zu beaufsichtigen.« »Nun, sehen Sie«, sagte Autumn. »Solange die Leute gut und fähig sind, Direktor, brauchen Sie keine Angst zu haben, daß wir mit Zirkuswagen oder Zeltplatz nicht fertigwerden.« »Am meisten machen mir die Finanzen Sorgen. Darf ich Sie dahingehend verstehen, daß Sie Dais grandiose Pläne für eine sofortige Vergrößerung unterstützen?« »Ich empfehle, daß wir uns nicht festlegen. Soll doch Stitches mit all seinen Extras loslegen. Können wir uns am Ende unseres Aufenthaltes hier die neuen Wagen, die Zugtiere und die andere Ausrüstung leisten, tun wir das. Wenn nicht, werden wir eben all die Neuanschaffungen abstoßen und ohne sie weiterziehen müssen.« »Klingt vernünftig«, sagte Goesle. »Ich bin bereit, es drauf ankommen zu lassen. Und weil ich von unserem Erfolg hier so -532-
überzeugt bin, habe ich bereits Pläne für unsere nähere Zukunft. Unsere Beleuchtung für die Abendvorstellung ist mehr als kläglich, und sehr bald möchte ich ...« »Ach du heiliger Bimbam!« stöhnte Florian. »Hört nur genau zu!« Goesle ließ sich nicht beirren ... »Diese Missy Pfeffer beschwert sich zu recht. Diejenigen Artisten, die unten am Boden arbeiten, bekommen ja nur ab und zu Spritzer von den Wachstropfen ab. Sie jedoch hängt an ihrem Haar ganz nahe am Kandelaber, und sie bekommt das heiße Wachs ab.« Edge lachte und erhob sich. »Meine Freunde, streitet euch ruhig weiter und schmiedet Pläne. Autumn und ich jedoch müssen ein klares Auge haben und dürfen nicht zittern, wenn wir morgen wieder auftreten sollen. Wir gehen jetzt schlafen.« Als sie gemeinsam den Speisesaal verließen, hörten sie noch, wie Carl Beck die Sache mit der Musik wieder zur Sprache brachte. »... nicht mal Notenlesen können diese blöden Böhmen. Dafür braucht man ihnen nur was vorzusingen oder vorzubrummen, und sie können es nachspielen. Deshalb denke ich für die langsamen und anmutigen Nummern an Strauß. Und für die flotten und munteren Nummern an Offenbach oder Gottschalk ...« »Weißt du was?« sagte Edge zu Autumn, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Diese ganze Ziererei und dieses Einwändeerheben, das von Florian kommt, das ist nur gespielt. Da macht er uns doch bloß was vor! Ich kenne keinen risikobereiteren Menschen auf Gottes Erde als ihn. Dem ist es bloß darum zu tun, unsere eigene Begeisterung für seine ungeheuerlichen Einfalle zu wecken. Und er schafft das jedesmal aufs neue.« »Nun, hoffentlich hast du dir noch etwas Begeisterung für andere ungeheuerliche Einfalle aufbewahrt!« erklärte Autumn. Um keine Zeit zu verlieren, nahm Autumn die Entkleidung diesmal selbst in die Hand, und nachdem sie sich aus all den -533-
verschiedenen verborgenen Kleiderschichten herausgepellt hatte, wartete sie Edge mit einer kleinen, aber höchst reizvollen Überraschung auf. Ebenso bewundernd wie amüsiert starrte er sie an, und sie sagte: »Nun? Du hast mir doch gesagt, diamante, das gefällt dir.«
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3 Wie sich herausstellte, wurde Livorno des FLORILEGIUMS nicht so bald überdrüssig. Am nächsten Tag mußten wieder Leute nach Hause geschickt werden und am übernächsten wie überübernächsten desgleichen. Die Livornesen waren ein gutmütiges Völkchen; jedesmal, wenn ihnen gesagt wurde, daß nicht einmal mehr Stehplätze im Zelt vorhanden wären, zuckten sie mit den Achseln, nahmen es mit Humor und gingen nach Hause, um jedoch am nächsten Tag wiederzukommen. Außerdem wußte Aleksandr Banat zu berichten, daß er viele wiedererkannt habe, die schon zum zweiten-, ja sogar zum drittenmal kamen. Banat hatte sich selbst zum Kartenabreißer und Aufpasser am Haupteingang ernannt, der jede Vorstellung dort Aufstellung nahm und seinen Dienst so freundlich wie unverdrossen wahrnahm, daß Florian die Garderobiere anwies, ihm ein Kostüm für diesen Posten zu verpassen – »das eines Hanswursts, denke ich« –, was Banat jedoch als unelegant ablehnte. Er zeigte auf die Wagenbeschriftung und sagte: »Ist Circo Confederato, no? Türsteher sollte Konföderiertenuniform tragen.« »Da ist was dran«, sagte Florian, und so gingen sie gemeinsam zu Quakemaker und fragten, ob dieser noch seine alte Uniform aus seiner Zeit als Rebellensergeant hätte. »Naja, naja«, machte Yount und nahm mit den Augen Maß an dem kleinen und gedrungenen Banat. »Reinpassen könnte er schon; nur oben und unten bleibt ’n Haufen übrig.« Magpie Maggie Hag jedoch konnte die Uniform passend machen, und als Yount Banat zeigte, wie man das Schiffchen flott aufs Ohr gesetzt trug, fiel nicht einmal mehr auf, daß der Mann so gut wie keine Stirn hatte. Später suchte Banat noch einen Monte di Pietá auf, erstand dort eine Reihe alter, blind -535-
gewordener Orden, wienerte sie auf Hochglanz und steckte sie sich an die Brust des grauen Uniformrocks. So kam es, daß er die Gäste des Circus fürderhin mit soldatischer Würde am Eingang begrüßte; nie machte auch nur ein einziger von ihnen jemals eine Anmerkung dazu, wie sonderbar es doch sei, daß ein Sergeant der Südstaatenarmee, der ein furchtbares Kauderwelsch aus italienisch, englisch und böhmisch sprach, zudem auch noch den Niederländischen Löwenorden, die Medaille Militaire und den marokkanischen Guissam AlaouiteOrden trug. Da das FLORILEGIUM nunmehr eine große Entfernung zwischen sich und das gelegt hatte, was Florian einmal als beschränkt bigottes Bibelland bezeichnet hatte, gab es auch keinerlei Hinderungsgrund für Sonntagsvorstellungen mehr. So kam es, daß die Truppe täglich zwei Vorstellungen gab, und das sieben Tage die Woche lang. Das Wetter blieb die ganze Zeit ihres Aufenthaltes in Livorno über schön, und der einzige Regen, zu dem es in dieser Zeit kam, fiel mitten in der Nacht und weckte Zeltmeister Goesle in seinem Zimmer im Gran Duca. Hastig stieg er in seine Kleider, schnallte sich den klirrenden Gürtel mit Messer, Marlspieker, Ahlen und anderen Werkzeugen um, lief die Treppe hinunter, weckte einen Vetturino am Droschkenstand vorm Hotel und ließ sich in den Park kutschieren, stellte bei seinem Eintreffen jedoch fest, daß Banat bereits seine Leute geweckt und die Geitaue des Zeltes hatte lockern lassen; außerdem hatte er sie angewiesen, überall dort, wo der Regen drohte, das Sägemehl naß zu machen, Persenninge aufzuspannen. »Dieser Banat versteht seine Sache wirklich gut«, berichtete Goesle Florian am nächsten Tag, »und darüber bin ich von Herzen froh. Er versteht es sogar, seine Leute dazu zu bringen, die Seilenden hochzubinden, damit keiner drüber stolpert oder das Seilende ausfasert, weil drauf herumgetreten wird. Banat entgeht so gut wie nichts, und die anderen Böhmen folgen ihm -536-
aufs Wort. Nur einer von dem Dutzend – ein Tolpatsch namens Sandov – ist ewig am Jammern, drückt sich vor allem und kapiert überhaupt nichts. Aber Banat sagt, wenn Sie gestatten, würde er versuchen, diesen Außenseiter loszuwerden.« »Hoffentlich ist dieser Sandov keiner von den Musikanten.« Goesle schüttelte den Kopf. »Der singt nur manchmal schlüpfrige Lieder. Jedenfalls nach dem zu urteilen, wie die anderen kichern. Aber Stimme hat er kein bißchen. Das tut dem Ohr eines Walisers weh.« »Nun, dann bin ich einverstanden. Soll Banat sehen, wie er ihn loswird.« Wenn die Böhmen nicht gerade beim Zeltflicken waren, den Platz sauberfegten, die Tiere fütterten, während der Vorstellung in der Kapelle spielten, die Spannung der Seile veränderten, Requisiten in die Manege schleppten oder wieder hinaustrugen – in ihrer ›Freizeit‹ schufteten sie womöglich noch mehr. Sie schafften das Holz tatsächlich herbei, und es kostete wirklich nichts (auf vielen Brettern stand in Schablonenschrift Crinolina zu lesen). Als erstes ließ Goesle sie die Bretter in kurze Abschnitte zersägen und zusammennageln, während er selbst mit Hilfe seines Segelmacherhandschuhs, der gebogenen Nadel und gewachstem Zwirn schweres Leder zu Kissen zusammennähte und diese mit Lumpen vollstopfte. Aus dem Holz wurden nach und nach zwanzig starke, leicht gebogene Kisten von jeweils dreißig Zentimeter Höhe und Tiefe und einer Länge von zwei Metern, die Goesle von den Männern leuchtend in den italienischen Farben Rot, Weiß und Grün anpinseln ließ, um dann obendrauf die Kissen festzumachen. Diese Kisten bildeten, Ende an Ende zusammengestellt, eine hübsche Piste, Einfassung der etwa dreizehn Meter im Durchmesser betragenden Manege; nur am Sattelgang des Zeltes, dem ›Auftritt‹, blieb eine Lücke von anderthalb Metern frei, um Artisten, Tiere und dem Käfigwagen Zugang und Abgang zu ermöglichen. Nie mehr sollte jemand vom FLORILEGIUM -537-
einen Erdwall aufschütten und feststampfen müssen, und nie mehr sollte der Circus einen solchen beim Weiterziehen zurücklassen, in dem die Kinder der jeweiligen Stadt hinterher Circus spielen konnten. Dies getan, wandte Goesle sich der Aufgabe zu, die recht klapprigen Sitzgelegenheiten zu verbessern. Zunächst schickte er die Böhmen aus, noch mehr Bretter herbeizuschaffen, während er selbst sich in den Schiffsbedarfsladen neben dem Gran Duca begab, um sich dort nach Metallböcken umzusehen. Der wohlbestückte Laden sollte ihn nicht enttäuschen, hielt er doch derlei Dinge auf Lager für die vielen alternden Schiffe, die solche Stempel brauchten, um durchhängende Decks abzustützen. Florian begleitete Goesle, um auf italienisch mit den Leuten zu feilschen; es gelang ihm auch, einen guten Preis auszuhandeln, weil er mehr von den Stempeln kaufte, als ein Schiffskapitän jemals brauchte. In der Zeit, da Goesle die Böhmen bei der Zimmermannsarbeit benötigte, lieh er sie gleichsam gelegentlich an Kapellmeister Beck zum Üben aus, galt es doch, die alten Instrumente zu spielen und sich an den Umgang mit den von etlichen Monte di Pietá stammenden neuen zu gewöhnen. Ein Musikant war für gewöhnlich alles, was Beck brauchte, denn da er keine Noten hatte, mußte er jedem Musiker seinen Part einzeln vorsingen oder vorsummen, und das bei jedem Stück, das er einüben wollte – »So geht das: »bum-didledumdidum.« Wenn dann endlich der Kornett- und der Waldhornbläser, der Mann mit der Posaune, der Tuba und mit dem Akkordeon ihren Part gelernt hatten, bat Beck sich jeweils zwei Männer von Goesle aus, dann drei und so weiter, bis er schließlich sogar Hannibal mit seiner Trommel dazuholte und sie nach und nach daran gewöhnte, gemeinsam zu spielen. Ein solches System hätte vermutlich sogar Berufsmusiker wie Vater und Sohn Strauß zur Verzweiflung gebracht, doch der Amateurdirigent Beck schaffte es irgendwie. -538-
Und wenn nicht alle Böhmen gerade entweder für Goesle arbeiteten oder beim Üben waren, ließ Beck von diesen Bleche zuschneiden und zu Röhren zusammenbiegen oder sie mußten die ziemlich verzwickten Teile seines Gasentwicklers zusammenschweißen. Das war womöglich eine noch heiklere Aufgabe als der stückweise Musikunterricht. Beck selbst verließ sich zumeist auf intelligentes Raten beim Weiterkommen; allerdings galt es, diese Vorstellungen unausgebildeten Mechanikern weiterzuvermitteln, die aus seinen vorzüglichen Zeichnungen genausowenig schlau wurden wie aus irgendwelchen Notenblättern und mit denen er noch nicht einmal die Sprache gemeinsam hatte. Aber auch hier schaffte er es, daß sein Improvisationssystem funktionierte – »Dies Rohr soll so aussehen: Hammer: bum, dann krumm biegen, und nochmals bum.« und der Gasentwickler allmählich Gestalt annahm. Im Verlauf der Arbeiten am Gasentwickler und der Zusammenstellung einer brauchbaren Zirkuskapelle bekam Beck gleichzeitig auch noch einen Spitznamen weg. Eines Tages rief ein Böhme einem anderen zu: »Hey, Broskev! Pana Bumdibum braucht dich!« – und es dauerte nicht lange, und jeder vom Circus nannte seinen Kapellmeister und Chefingenieur Bumbum-Beck. Während also emsig gebaut und geschafft wurde, genossen die Artisten des Circus eine vergleichsweise ruhige Zeit. Obwohl sie zweimal am Tag auftreten mußten und in ihrer Freizeit probierten, um sich weiter zu vervollkommnen oder neue Kunststücke einzuüben, dazu auch noch den Nachwuchs anlernten und sich um die Wartung ihrer Requisiten und Tiere kümmerten, waren sie zumindest von der langweiligen ›Hausarbeit‹ befreit. Sie genossen es, im Speisesaal des Gran Duca gut und regelmäßig essen zu können, die Badegelegenheiten des Hotels weidlich auszunutzen und sich dem Bewußtsein hinzugeben, daß ihre schmutzige Wäsche von -539-
unsichtbaren Waschfrauen ›unten‹ gewaschen wurde und man nur nach den Zimmermädchen zu rufen brauchte, wenn es galt, etwas zu flicken oder zu bügeln oder einen Knopf anzunähen; denn Magpie Maggie Hag hatte dieser Tage von morgens bis abends alle Hände voll mit dem Entwerfen und Nähen von neuen Kostümen zu tun. Am schönsten aber war es für ihre Begriffe, daß sie sich darauf verlassen konnten, jede Woche an einem bestimmten Tag ihre Gage ausbezahlt zu bekommen. Und da sie ihr Geld nicht nur ausschließlich für die Durchführung ihrer Nummern und die Existenzerhaltung des FLORILEGIUM auszugeben brauchten, konnten sie es auch für persönliche Anschaffungen verwenden. Doch nur wenige von ihnen verschwendeten ihre ersten Löhne für Dinge, die sie im Grunde nicht brauchten. Die milden Herbsttage wurden kürzer, nachts wurde es kühl und feucht, und der Winter war nicht weit; so ging das meiste Geld für den Ankauf von vernünftigen Zivilkleidern drauf. Florian erklärte den Frauen allerdings, Laden und Geschmack in Livorno wären nicht weniger provinziell als in Virginia und riet ihnen, alle größeren Ausgaben aufzuschieben, bis sie das mondäne und kulturell tonangebende Firenze erreicht hätten. Aber Mullenax leistete sich eine neue Augenklappe. Die alte, die er noch von der Feldzeugmeisterei der Army hatte, warf er fort, und ließ sich von einem Schneider eine passend anfertigen – aus feiner schwarzer Seide mit kleinem Sternmuster aus künstlichem Bergkristall darin. Er sah zwar immer noch aus wie ein Pirat, jetzt freilich wie ein wohlhabender Exzentriker unter denselben. Die drei Chinesen schafften es, gewaltige Spaghettibündel zu kaufen, entzündeten zu jeder Mahlzeit ein kleines Feuer auf dem Platz und kochten ihre Pasta erst, nachdem sie sie in ein wenig Fett rösch gebraten hatten. Beim Verzehr stießen sie Laute des Wohlbehagens und der Befriedigung aus, als hätten sie etwas wiederentdeckt, wonach sie sich schon seit Ewigkeiten gesehnt hatten. Manche meinten, -540-
es wäre von den Chinesen vernünftiger gewesen, wenn sie sich als erstes ein paar Schuhe gekauft hätten, doch schienen die drei Männer für irgendwelche Fußbekleidung nicht das geringste übrig zu haben und lehnten sogar Angebote ab, sich abgetragene Schuhe schenken zu lassen. Sie liefen weiterhin ungeachtet des Wetters und der Bodenverhältnisse barfuß herum. Florian seinerseits fühlte sich durch die nicht nachlassende Gunst, die das Livornoer Publikum dem Circus schenkte, ermutigt, nicht erst bis zum Schluß ihres Aufenthaltes hier zu warten, ehe er Geld in zusätzliche Transportmöglichkeiten steckte. Er erstand vier neue Kastenwagen richtig neu waren sie nicht, aber in gutem Zustand; einen, um die zusätzlichen Zeltbahnen des Großzeltes, Bankbretter, Böcke und Verbindungsstücke sowie die Segmente der Piste aufzunehmen; einen für die Böhmen zum fahren und schlafen; einen für die Familie Smodlaka samt Hunden plus Hannibal, Quincy und die Chinesen; und einen zum Transport von Kostümen, Musikinstrumenten und Requisiten, der den Artisten vor Ort auf dem Zeltplatz allerdings zum erstenmal als eine richtige Garderobe diente. Dieser Wagen wurde sogar noch mit einem kleinen Kohlenofen ausgestattet, damit sie es im Winter beim Umkleiden warm hatten und auf dem Magpie Maggie Hag kochen konnte, wenn sie einmal nicht in der Nähe einer Stadt oder eines Gasthauses waren. Die bereits völlig ausgepumpten Circusarbeiter mußten ihr letztes bißchen Freizeit – für gewöhnlich spät nachts – dazu verwenden, die neuen Wagen anzustreichen, so daß sie zum Rest des Wagenzugs paßten. Außerdem erhielt die Kutsche von Florian eine glänzende neue Lackschicht. Doch sie verrichteten ihre Arbeit ohne zu murren – bis auf den bereits berüchtigten Drückeberger Sandov. Einer der chinesischen Ikarier entpuppte sich als vorzüglicher Kalligraph; obwohl er die Wörter oder Buchstaben nicht alle kannte, kopierte er sie wunderschön von einem der alten auf die neuen Wagen; selbst auf den Planken, -541-
die Maximus’ Käfig auf Reisen umschlossen, prangten die Worte: FLORIANS BLÜHENDES FLORILEGIUM etc. etc. Da die neuerstandenen Wagen im beladenen Zustand reichlich schwer zu werden drohten, kaufte Florian für jedes Gefährt auch noch ein Pferdegespann, und auch da war er nicht knauserig. Er entdeckte einen Pferdestall, in dem acht Pinzgauer Tigerschecken zum Verkauf standen, eine österreichische Pferderasse, schwarzgefleckte Schimmel – allerdings nicht gescheckt wie die amerikanischen Pintos, sondern getüpfelt wie Dalmatinerhunde. Die Pinzgauer waren robust genug, um die Wagen zu ziehen, boten aber auch einen hinreißenden Anblick; eines Tages konnte Edge sie bestimmt in seine Dressurnummer aufnehmen. Die Artisten traten nun in einer neuen, von Florian erdachten Reihenfolge auf, damit spannende und lustige Nummern einander in bunter Folge abwechselten. Da mit dem umgestellten Programm Autumn Auburn die Schlußnummer brachte und Pfeffers Nummer viel früher kam, machte sich der Unterschied im Applaus, den die beiden Frauen erhielten, nicht mehr so aufdringlich bemerkbar. Pfeffer selbst aber bemerkte ihn wohl; sie schmollte und kochte innerlich vor Wut – zumal, nachdem Florian sich ihre Nummer endlich einmal genauer ansah, das Fehlende an ihrem Kostüm sofort bemerkte und ihr befahl, sie solle das Cachesexe unter dem Trikot wieder tragen. »Nicht, daß ich was dagegen hätte, bei dem vertikalen Grinsen Stielaugen zu machen«, sagte er. »Und die weltlichen Italiener haben offensichtlich auch nichts dagegen. Aber wenn ich dir das gestatte, Pep, kann ich das anderen schlecht abschlagen. Dann kommt es noch soweit, daß Clover Lee oder die Simms-Mädchen dem Publikum genauso zuzwinkern möchten – oder der Quakemaker seinen Beutel schwenken will –, und wir können schließlich nicht zulassen, daß jeder alles entblößt, womit der liebe Gott Adam und Eva ausgestattet hat.« So kam es, daß Pfeffer wutschnaubend davonstürmte, um ihre -542-
Ausbildung von Quincy Simms in aller Heimlichkeit weiterzubetreiben. Sie entfernte sich einfach ein Stück vom Zeltplatz, schlang dem Jungen in der Tiefe des Parks ein Seil um den Leib, warf das andere Ende des Seils über einen Baumast und zog den Jungen ein kleines Stück in die Höhe. Dort übte er die Schlangenwindungen und Verknotungen, ohne von unten gestützt zu werden. Seinen Schwestern wurde gleichfalls zusätzliche Ausbildung zuteil. Autumn unterwies sie in den Grundlagen des Seiltanzes. Da Monday und Sunday das entweder barfuß oder in ihren einzigen Schuhen tun mußten – den leuchtend gelben Springhacken-Schuhen, was einfach nicht gegangen wäre –, kaufte Autumn den beiden von ihrem eigenen Geld je ein Paar ungefütterte Ballettschuhe und gewann Goesle dafür, lange, federnde und an den Enden bleibeschwerte Balancierstangen für sie zu fertigen. Die Ausbildung begann damit, daß beide Mädchen unsicher die Schmalseite einer fünf mal zehn Zentimeter starken Latte entlangliefen, die sie sich von den slowakischen Zimmerleuten ausliehen. Schließlich tauschte Autumn diese Latte gegen ein zweieinhalb mal zehn Zentimeterbrett aus und ließ die Mädchen den zweieinhalb Zentimeter dicken Streifen entlanghuschen. Als sie endlich zu einem Seil von nur wenig mehr als einem Zentimeter Durchmesser übergingen, das nur dreißig Zentimeter über dem Boden aufgespannt war, waren die beiden Mädchen bereits von einer lobenswerten Trittsicherheit. Zu anderen Zeiten nahm Monday Simms weiter Reitstunden bei Sarah, die ihr sagte: »Ich habe einen Entschluß gefaßt. Da Clover Lee und ich auf den ruhig galoppierenden Snowball und Bubbles bereits im Stehen reiten, möchte ich, daß du Zacharys Pferd Thunder nimmst und die vornehme Kunst der Haute ecole erlernst.« »Ma’am?« Monday machte ein verständnisloses Gesicht. »Das heißt ›Hohe Schule‹. Mit anderen Worten: ein ganz -543-
besonders gut ausgebildetes Pferd samt Reiter. Das ist keine Sensationsnummer wie unsere Übungen im Stehen auf den galoppierenden Pferden, der Basse ecole oder Buckskin Bill’s Wildwestreiterei. Es handelt sich um eine überaus verfeinerte, phantasievolle Trittfolge, und es könnte sein, daß du alles vergleichsweise zahm findest. Dabei steht es in höchstem Ansehen bei jedem Zuschauer, der ein Auge für ausgefeiltes reiterliches Können hat. Die Hohe Schule wird mit einem englischen Sattel geritten, den ich dafür eigens gekauft habe.« »Das soll ein Sattel sein? Der sieht ja mehr wie ein Pfannkuchen aus.« »Das tut er wohl, verglichen mit den Schaukelstühlen, wie die Kavallerie sie benutzt. Aber du wirst bald feststellen, welche Freiheiten sein leichtes Gewicht dem Pferd gestattet und welche ausgezeichnete Kontrolle seine Kleinheit deinen Beinen erlaubt. Sitz auf, und ich werde dir ein paar Schritte zeigen, die Zachary diesem Pferd beigebracht hat, längst ehe es diesen Circus zu sehen bekam.« Monday saß mit einem Satz auf, und Sarah reichte ihr eine schlanke Reitgerte. »Laß ihn zunächst leicht kantern – keinen vollen, sondern einen leichten Kanter –, dann laß seine linke Schulter ganz leicht die Gerte spüren. Das nennt man, ›ihn touchieren‹.« Monday kanterte einmal halb um die Manege, touchierte Thunder mit der Gertenspitze, woraufhin das Pferd augenblicklich den Galopp wechselte und die Reihenfolge umkehrte, in der es den linken und den rechten Vorderfuß aufsetzte. »Noch mal touchieren!« rief Sarah Monday zu. Diese tat, wie geheißen, woraufhin Thunder zu seinem ursprünglichen Linksgalopp zurückkehrte. Als das Mädchen an ihr vorüberkam, rief Sarah: »Und jetzt laß ihn bei jedem vierten Sprung den Galopp wechseln.« Das Pferd umrundete die Manege noch einmal und wechselte den Galopp so häufig und mit einer solchen Eleganz, daß Monday beglückt ausrief: »Er tanzt ja regelrecht.« -544-
Als sie das Pferd neben Sarah zum Halten brachte, fügte sie noch hinzu: »’türlich fall’ ich beim Wechselsprung jedesmal fast von diesem Pfannkuchen runter.« »Du wirst bald lernen, die Wechsel zu reiten. Wenn die Kapelle zum Beispiel eine Polka spielt und du Thunder kantern läßt und ihn in dieser Trittfolge wechselst – vierter Sprung, zweiter Sprung, vierter, zweiter sieht es für die Zuschauer aus, als tanzte Thunder eine regelrechte schöne Polka. Hast du das erst mal gelernt, bringe ich dir anderes bei, so daß er Walzer tanzt, die Ecossaise und so weiter.« »Schwein!« brüllte Pavlo Smodlaka, als er eines Tages Florian aufsuchte, um ihm zu berichten, daß Mullenax’ tückische Borstenviecher tückisch seine Terrier angegriffen hätten. Erst wären die Kinder, Sava und Velja, dazwischengegangen, erzählte er, doch wären sie zu zart, um die kämpfenden Tiere auseinanderzureißen. Pavlo hatte in eigener Person die Kämpf enden trennen müssen, »ehe die Schweine einen von meinen Lieblingen verstümmeln, umbringen oder auffressen konnten – oder die Kinder-, aber das Fell der Hunde ist völlig verkratzt, und ihre Nerven sind in einem furchtbaren Zustand! Ich verlange, daß diese prljav Schweine geschlachtet werden!« Da Florian zusätzlich registriert hatte, daß die Schweine einen solchen Bauch bekommen hatten, daß sie kaum noch auf die Leiter klettern oder ihre anderen Kunststücke vorführen konnten, brachte er den Rest des Tages damit zu, sich ein überzeugendes Argument zurechtzulegen, um Hamlet & Co aus dem Programm herauszunehmen. Dann suchte er Mullenax auf und mußte feststellen, daß sich das Problem bereits von selbst gelöst hatte. »Die Schweine? Komisch, daß Sie gerade jetzt von ihnen sprechen, Herr Direktor. Gerade heute nachmittag habe ich sie mir vom Hals geschafft. Sie wurden zu wild, und viel zu groß, als daß man sie noch putzig hätte nennen können. Jedenfalls -545-
hab’ ich nur noch solange mit ihnen gearbeitet, bis sie gemästet genug waren, daß man sie essen konnte.« »Sie haben sie gegessen?« »Nee. Ich eß doch keine alten Freunde nich’. Jedenfallsnicht, solange ich weiß, um wen es sich handelt. Ich hab’ sie der Hotelküche überlassen.« »Einfach weggeschenkt haben Sie sie?« »Naja, sagen wir mal: eingetauscht.« Mullenax zwinkerte mit seinem einen, ganz erstaunlich blutunterlaufenen Auge. »Solange wir hier sind, habe ich von der Hotelleitung unbegrenzten Kredit im Schnapsladen eingeräumt bekommen.« Florian räusperte sich und sagte dann: »Hm, Barnacle Bill, manchmal mach’ ich mir wirklich Sorgen ...« »Aber, aber! Machen Sie sich bloß keine Gedanken meinetwegen, Herr Direktor. Die Nummer ist natürlich hin, gewiß, aber mit Maximus arbeite ich eine ganz große andere Nummer aus. Damit übertreff ich Ignatz’ gefingerten blutigen Arm allemal! Wozu ich den Löwen bring’, is’, daß er durch’n brennenden Reifen springt. Wobei ich mitten im Käfig steh’ un’ ihn ihm hinhalt’.« »Nun, das wäre natürlich großartig. Der Trick ist nicht völlig neu, doch nur wenige Dompteure schaffen ihn. Nichtmal die hingebungsvollsten und nüchternsten.« Florian betonte das Wort ›nüchtern‹ ganz leicht. »Aber ich schaffe ihn – zusammen mit dem alten Maximus. Schau’n Sie, jetzt wo er ab und zu frisches Fleisch bekommt, ist er wieder sehr viel lebhafter als vorher. Außerdem ist er auch früher schon über meine Peitsche gesprungen, wenn ich gerufen habe: ›Spring!‹ Und deshalb bin ich folgendermaßen vorgegangen. – Erstmal hab’ ich mir von Stitches ein kleines Stück Holz zurechtbiegen lassen, das im Käfig aufgestellt und ihn drüberwegspringen lassen. Ich mein’ natürlich Maximus – nich’ Stitches. Nachdem er sich daran gewöhnt hatt’, hab’ ich an -546-
beiden Seiten jeweils ein neues gebogenes Stück Holz angesetzt. Zwischen denen und über das alte Stück ist er prächtig durchoder hinweggesprungen. Un’ jetzt laß’ ich ihn alle paar Tage durch ein größeres und höheres gebogenes Holzstück durchspringen. Das braucht natürlich alles seine Zeit, aber daß es ohne Geduld nich’ geht, hat mir Ignatz beigebracht. Es wird nich’ mehr lange dauern, un’ er springt durch ’n geschlossenen Holzreifen durch, ohne, daß ihm das im geringsten was ausmacht.« »Das könnte aber passieren, wenn Sie den Reifen brennen lassen.« »Nee, auch das fang ich langsam an und geh’ behutsam zu Werk. Erst mal den Reifen oben nur mit ganz wenig Petroleum bestreichen un’ anzünden, so daß Maximus unterm Feuer durchspringt. Hat er erst mal begriffen, daß das nicht wehtut, laß’ ich die Flämmchen nach un’ nach immer weiter um den Reifen rumlaufen – das heißt: ringsum, bloß unten nich’; denn wenn er wirklich jemals angesengt wird, macht er entweder Hackfleisch aus mir, oder wir müssen ganz von vorn wieder anfangen. Aber egal wie – wenn es klappt, wird es so aussehen, als ob Maximus durch einen ganz brennenden Feuerreif durchspringt. Daß der Reifen unten am Boden gar nich’ brennt, wird kei’m Menschen auffallen.« »Richtig. Na, ich bin gespannt. Sie werden berühmt, und man wird Ihnen Beifall zollen. Wie Sie richtig sagen – Geduld, das ist das Geheimnis – und behutsam vorgehen – und nüchtern sein. Vor allem: nüchtern.« »Herr Direktor, ich kann Ihn’ wahrheitsgemäß sagen, daß ich Maximus noch nie anders als nüchtern geseh’n hab’.« Im Programm des FLORILEGIUMS fehlte immer noch das, das für Florians Begriffe unbedingt zu einem Circus dazugehört: ein Clown. Immerhin konnte Florian sich damit trösten, daß Pavlo Smodlaka – wiewohl weder Clown noch kleinwüchsig – -547-
Tiny Timm Trimm – was die Widerlichkeit betraf – aufs Haar glich und Tim insofern ideal ersetzte, als die Circusangehörigen alle einfach netter zueinander waren, bloß weil sie Pavlo Smodlaka hatten, den sie verabscheuen konnten. Auf diesen Mann war wirklich Verlaß. Bei drei von vier Vorstellungen pflegte der Dressurakt mit den Hunden folgendermaßen zu enden: Während das Publikum Beifall klatscht, huschen Pavlo und Gavrila Hand in Hand und breit lächelnd über die Piste. Während ihnen ihre drei Terrier um die Füße wieseln, ziehen sie sich unter Verbeugungen aus dem Zelt zurück. Hinter dem Auftritt, bereits draußen im Freien, versetzt Pavlo Gavrila eine tüchtige Ohrfeige, verzerrt das eigene Gesicht zu einer Grimasse und faucht sie an: »Prljav krava!«, genauso häufig jedoch auf englisch: »Dreckige Kuh!« Woraufhin sie sich wieder bei den Händen fassen, lächelnd zurückhuschen ins Zelt, wo das immer noch klatschende Publikum über die harmonische Zusammenarbeit des Artistenehepaares gerührt ist. Die beiden ziehen sich unter neuerlichen Verbeugungen zurück, und draußen kann es sein, daß er ihr noch einmal eine herunterhaut oder so brutal an ihren Zöpfen reißt, daß sie ins Wanken gerät: dabei knurrt er irgend etwas, was etwa lauten könnte: »Du hast deinen Fettsteiß genau in das Blickfeld zwischen Terry und die bestgekleideten Zuschauer geschoben!« oder: »Warum mußt du immer wie ein Haufen Scheiße dastehen?« Dauerte der Applaus an, daß sie ein weiteres Mal zurückkehrten, um sich zu verneigen, konnte der Wechsel zwischen Lächeln und Ohrfeigen noch eine ganze Zeitlang weitergehen. Nur ein einzigesmal hatte die Truppe das Vergnügen, Zeuge zu sein, wie Gavrila sich Pavlo offen widersetzte. Nach einer Abendvorstellung, als das Publikum auseinanderging, geleitete Florian einen elegant gekleideten Herrn mit Angströhre auf dem Kopf auf den Circusplatz. Die beiden näherten sich dem neuen Garderobenwagen, aus dem die vier Smodlakas gerade in -548-
Straßenkleidung hervorkamen, und Florian sagte: »Meine Freunde, ich habe die Ehre, Ihnen den Conte Ventimiglia vorzustellen. Er möchte Sie um einen Gefallen bitten. Das Steckenpferd des Grafen ist, wie er mir sagt, das Photographieren. Er hat in seiner Villa ein vollständig eingerichtetes Daguerrotypie-Atelier und möchte sich über Nacht gern Ihre Kleinen ausleihen – um seine Sammlung durch Aufnahmen von ihnen zu ergänzen.« »Bilder?« sagte Pavlo entzückt. »Ist das möglich? Ein Bild von den Terriern auf eine Platte zu bannen, obwohl sie doch so rasch durcheinanderwirbeln?« »Nein, nein«, wehrte Florian ab. »Nicht die Hunde. Die Kinder der Nacht, Sava und Velja.« »Si«, beeilte sich der Graf zu bestätigen. »I figli della notte. Svestito. Tutto nudo. Affine di fare posture – ah – spediali.« »Was soll das heißen – nackt?« sagte Florian völlig verdattert. »In besonderen Posen? Graf, davon haben Sie vorhin nichts gesagt ...« »Ach was, doch bloß die Brut«, sagte Pavlo und machte ein enttäuschtes Gesicht. Dann jedoch kam etwas Listiges in seinen Gesichtsausdruck, und er sagte: »Dieser Graf will bezahlen? Dafür, daß er sie ausleiht?« Völlig unerwartet und mit nicht minder überraschender Heftigkeit setzte Gavrila sich zur Wehr: »So was kommt überhaupt nicht in Frage. Zulassen, daß unsere Kinder ausgezogen werden? Sie besondere Posen einnehmen lassen? Oscenitá! Nur über meine Leiche!« Schützend legte sie den Arm um den Knaben und das kleine Mädchen und scheuchte die Kinder eilends zurück in den Wagen. Mit finsterer Miene sah Pavlo ihnen nach, dann jedoch wandte er sich wieder an den Grafen und zuckte resigniert mit den Achseln. -549-
»Che peccato«, murmelte der Conte Ventimiglia. Er sann einen Moment nach, während Pavlo gleichfalls davonging, und sagte dann zu Florian: »Per caso – i pigmei bianchi?« »Sunday und Monday?« sagte Florian und betrachtete den Reiter dieses besonderen Steckenpferdes nunmehr voller Abscheu. »Ich war ja völlig arglos in bezug auf die Art Ihrer Sammlung. Aber trotzdem – hier kommt Sir John, der Vormund der Mädchen. Ich will Ihre Bitte wenigstens an ihn weitergeben.« Was er tat, und woraufhin Fitzfarris eiskalt sagte: »Wie Sie wissen, Direktor, bemühe ich mich, die Sprache zu erlernen. Sagen Sie mir, wie sagt man auf italienisch: ›Schieß in den Wind‹?« Ventimiglia machte ein verzweifeltes Gesicht, überlegte noch einmal und wies auf den Garderobenwagen. Die Tür stand offen, und Magpie Maggie Hag war zu sehen. Mit einem schweren Bügeleisen, das sie drinnen auf dem Ofen erhitzte, bügelte sie ein Kostüm, das sie gerade fertiggestellt hatte. »Ebbene«, sagte der Graf mit einem letzten Hoffnungsfunken: »Per caso la strega?« Erschrocken und fasziniert zugleich starrte Fitz den Mann an und sagte dann zu Florian: »Old Mag? Dieser Kerl muß ja förmlich nach Abartigem gieren.« »Nun«, sagte Florian und gluckste, »nur aus Jux und Tollerei ...« Er rief die Zigeunerin an die Wagentür, war bemüht, sich das Lachen zu verkneifen, und machte ihr feierlich den Vorschlag. Magpie Maggie Hag hielt das leicht dampfende Bügeleisen noch in der Hand. Sie kam die Stufen der Wagenleiter mit einer für eine so alte Frau erstaunlichen Geschwindigkeit herunter, war aber zu klein, um dem Grafen das heiße Eisen ins Gesicht zu drücken; dafür ließ sie eine seiner bloßen Hände aufzischen, ehe er soviel Verstand bewies, herumzufahren und zu machen, -550-
daß er fortkam. Das letzte, was man von Ventimiglia sah, war, wie er, Magpie Maggie Hag mit dem heißen Bügeleisen auf den Fersen, Zeltplatz und Park verließ. »Unsere gute Mag«, sagte Florian lachend. »Gut, daß wir ihn los sind. Das war ohnehin nur ein päpstlicher Graf, kein richtiger Adel.« »Freut mich, das zu erfahren«, sagte Fitz, »hatte ich mich doch schon darauf gefreut, hier drüben mal einen richtigen Adligen kennenzulernen.« Jules Rouleau stattete dem Circusplatz jetzt täglich einen Besuch ab; er fuhr in einem Rollstuhl aus Korbgeflecht, den ihm das Gran Duca zur Verfügung stellte. Anfangs fielen seine Besuche nur kurz aus, doch in dem Maße, wie seine lange nicht benutzten Arm- und Brustmuskeln sich kräftigten, wurden auch die Besuche länger, bis er den ganzen Tag über blieb, aus eigener Kraft auf dem Platz herumfuhr und schließlich schneller im Zelt auftauchte und es wieder verließ, als er es je auf den eigenen Beinen hätte tun können. »Aber eines Tages werde ich wieder gehen, par dieu«, erklärte er. »Sarah hat mir einen feinen Spazierstock aus Malakkarohr gekauft, und nachts mache ich in meinem Zimmer jedesmal ein paar Schritte mehr. Natürlich hinke ich, mais merde alors, ich bin froh, überhaupt wieder auf zwei Beinen zu stehen. Sogar ein richtiges Bad kann ich schon wieder nehmen, statt mich von den Frauen an den zugänglichen Stellen mit dem Schwamm abtupfen zu lassen. Akrobat werde ich selbstverständlich nie wieder sein können, wohl aber ein aeronaut, oui. Wie ich sehe, Maitre Beck, haben Sie mit dem Apparat löbliche Fortschritte gemacht.« »Ja. Der Gasentwickler dürfte bald fertig sein. Aber die Chemikalien, die für die Gasentwicklung nötig sind, werden wir wohl erst in Florenz kaufen können. Doch in Florenz werden Sie Ballonfahrer werden.« -551-
»Merci maitre, Grand Merci.« »Nennen Sie mich doch einfach Bumbum«, sagte Beck scheu. »Das tun alle, und es klingt freundlicher und familiärer.« »Bien, Bumbum.« »Und jetzt, mein Freund, gestatten Sie, daß ich Sie ein wenig in das Ballonfliegen einweise. Ich weiß, bisher sind Sie an einer Halteleine hochgegangen. Aber wenn Sie frei dahinfliegen wollen, erfordert das einige zusätzliche Maßnahmen. Rund um die Gondel werden viele Sandsacke aufgehängt werden – das ist der Ballast. Wollen Sie schneller und höher aufsteigen, werfen Sie einen Sack nach dem anderen ab. Das heißt: nicht abwerfen – verstehen Sie? – sonst bringen Sie womöglich jemand unten auf der Erde um. Schütten Sie den Sand aus dem Säckchen. Wieviel und wie häufig, werden Sie selbst abschätzen müssen.« »Bien, und daß ich zum Zwecke des Heruntergehens an der Schnur des Klappenventils ziehen muß, damit nach und nach immer mehr Gas entweicht, weiß ich bereits.« »Richtig. Sollten Sie aber wieder höhergehen wollen, schütten Sie weiteren Sand aus. Beim Steigen und Hinuntergehen werden Sie feststellen, daß es verschiedene Winde gibt, die aus unterschiedlichen Richtungen blasen. Und wenn Sie den passenden Wind wählen, läßt sich der Luftballon regelrecht steuern, damit er zurückkehrt zum Ausgangspunkt, dem Circusplatz oder wohin auch immer. Langsam all das Gas entweichen lassen, und Sie schweben federgleich sanft hernieder.« Lächelnd setzte Beck noch hinzu: »Allerdings sollte ich noch sagen, daß ich all diese Dinge nicht aus Erfahrung weiß, oder weil ich genial wäre. Ich habe nur viele Bücher gelesen.« »C’es bandant, Bumbum. Ich danke Ihnen aufrichtig für alles, was Sie getan haben – und auch für die meisterhafte Unterweisung.« Dann jedoch war es Bumbum-Beck, der seinerseits in einem -552-
seiner anderen Berufe – dem des Kapellmeisters – Nachhilfe bekommen mußte. »Für den Auftritt des Elefanten habe ich etwas Getragenes ausgewählt«, erklärte er Florian und Edge. »Etwas aus Liszts ›Hunnenschlacht‹. Und für Ihre Pferde, Herr Edge – was wohl? – natürlich Strauß’ ›Donner und Blitz‹.« »Sie müssen übrigens darauf gefaßt sein, kurzfristig Ersatzstücke zu spielen«, sagte Florian. »Johann junior ist ständig in ganz Europa auf Tournee, und irgendwo werden wir ihm bestimmt begegnen. Was das Geld betrifft, so soll er kein Pardon kennen – könnte also sein, daß er ein Honorar dafür verlangt, daß wir seine Musik spielen. Vorläufig aber wollen wir damit proben.« So kam der Tag, an dem in der freien Stunde zwischen der Nachmittagsund der Abendvorstellung Edge die Pferde in die Manege brachte, die er bereits ohne Reiter und ohne Geschirr trainiert hatte – Snowball, Bubbles und seinen eigenen Thunder sowie die drei Pferde ohne Namen, die er daheim in Virginia Landstreichern abgekauft hatte. Alle sechs trugen leuchtendblaue Schabracken auf dem Rücken, die über und über mit Ziermünzen benäht und mit Troddeln gesäumt waren, glitzernde Kopfhalfter mit stolz ragenden Federbüschen obendrauf: ein Paradegeschirr, das Magpie Maggie Hag entworfen und mit Hilfe von Stitches Goesle auch genäht hatte. Im Moment war Goesle gerade dabei, sich von den Böhmen helfen zu lassen, die drei Abschnitte eines zweiten Mastes für das zu erweiternde Großzelt rund und nach oben sich verjüngend zu hobeln, glattzuschleifen und einen starken, mit hohem Dorn ausgestatteten Schuh für den neuen Mast zu fertigen sowie eine Stützmanschette dafür zu schmieden doch Florian und Beck überredeten ihn, den Musikern und seinen Heifern freizugeben. Die Bläser holten ihre Instrumente, und Kapellmeister Bumbum führte sie durch eine ziemlich mißtönende Darbietung der ›Donner und Blitz‹-Polka. Edge -553-
stand in der Mitte der Manege und lenkte die Pferde mit laut knallender langer Peitsche, die allerdings das Fell der Tiere selten und dann nur ganz sanft streifte, trabend oder kanternd um das Manegenrund: sie tänzelten, piaffierten und drehten Pirouetten, richteten sich neu aus, gingen alle gemeinsam auf die Hinterhand oder trabten in komplizierten Figuren wie sich schneidenden Linien oder Achten durcheinander. Doch schon nach kurzer Zeit gebot Bumbum seiner Kapelle durch ein Handzeichen Schweigen und rief entrüstet: »Herr Direktor, Ihre Pferde bewegen sich keineswegs im Takt meiner Musik! Können Sie sie nicht dressieren, daß sie besser hinhören? Das, was sie und was wir machen, ist ein großes rhythmisches Durcheinander. Ein Mischmasch.« Florian lächelte nachsichtig und sagte: »Verzeihung, Herr Kapellmeister, aber Tieren bedeuten selbst die bezauberndsten Klänge nicht mehr als ein Dohlenkrächzen. Sie sind es, der ihr Verhalten beobachten und sich im Tempo nach ihnen richten muß – nach den Pferden, dem Elefanten und sogar den Akrobaten, den Hochseilkünstlern und den Jongleuren. Wenn Sie, sagen wir, einem Terrier für seine Nummer dreißig Minuten Cancan zugedacht haben, und der Hund schafft es nicht oder macht Fehler, müssen Sie das Stück entweder in die Länge ziehen oder wiederholen. Für die Zuschauer muß es immer so aussehen, als wäre jeder, der etwas darbietet, wirklich intelligent und biete sein Kunststück ganz im Einklang mit Ihrer Musik dar. In Wirklichkeit sind Sie es, der dieses Können aufbringen muß. Genauso, wie Sie die kleinen Arpeggi mit den Glöckchenbändern zu Miss Auburns Seiltanznummern je nach Bedarf abkürzen oder in die Länge ziehen.« »Herr Direktor, Takt und Tempo der Tiere sind doch zufällig. Das hier jedoch ist eine Polka von Strauß. Und – mein Gott! – eine Polka geht nun mal im Zweivierteltakt; das Tempo ist überdies genau vom Komponisten angegeben. Erwarten Sie von mir etwa, daß ich sie von einem Augenblick auf den anderen in -554-
die Länge ziehe oder durchhetze – ritardando, accelerando?« »Jawohl: Rubato – das ist keine Sünde. Hoch über Strauß stehende Komponisten haben ihre Partituren rubato markiert, um dem Dirigenten die Freiheit zu geben, die Tempi zu variieren. Sie müssen sich bei Strauß’ Polka einfach einem rubato anbequemen – genauso wie bei allen anderen Stücken, mit denen Sie die in Bewegung befindlichen Artisten begleiten: bei Liszt für den Elefanten, den Märschen von Wagner, Ecossaisen, was auch immer. Ich habe Ihnen ja gesagt, das erfordert Können. Aber ich bin sicher, Sie schaffen es.« Beck lächelte zwar geschmeichelt, brummte aber dennoch: »Wagner, Liszt und die beiden Strauß werden Sie – wenn wir ihnen begegnen nicht zwingen, für die Verwendung ihrer Musik zu bezahlen – sie werden in die Manege springen und Sie mit bloßen Händen erwürgen.« »Das bezweifle ich«, sagte Florian gelassen. »Ich habe Opern von Wagner und Rossini gehört – und eine Strauß-Operette –, in denen die Diven den Dirigenten und das ganze Orchester zum Schwitzen gebracht haben, im Tempo nicht hinter ihnen zurückzufallen. Und noch etwas, Carl. Ich habe auch die Notfälle angesprochen. Lassen Sie weder mich noch Zachary je aus dem Auge – egal, wer von uns gerade in der Manege steht. Wenn wir dieses Zeichen hier machen« – er kreuzte die hochgereckten Arme überm Kopf –, »dann bedeutet das, das Zelt hat Feuer gefangen oder irgend etwas ähnlich Verhängnisvolles ist passiert. Dann gehen Sie – ganz gleichgültig, was Sie im Moment spielen – unverzüglich zu Mendelssohns ›Hochzeitsmarsch‹ über.« Beck machte ein entsetztes Gesicht. »Das ist doch keine Circusmusik! Das ist der reinste Schwabbelbusen! Mendelssohn zu lauschen ist, als machte man sich mit warmem Wasser naß.« »Mag sein. Aber das alarmiert augenblicklich sämtliche Artisten und die Arbeiter des Circus. Wir können mit allem -555-
fertigwerden, was passiert ist, oder es vertuschen, oder notfalls das Zelt räumen lassen. Alle diejenigen, die schon länger mit mir arbeiten, wissen, was der ›Hochzeitsmarsch‹ bedeutet. Ich werde das jetzt auch allen anderen Mitwirkenden sagen.« Florian hatte der Truppe gesagt, sie könnten damit rechnen, zwei Wochen in Livorno zu bleiben. Wie sich herausstellte, sollten sie über vier Wochen lang vor immer ausverkauftem Haus auftreten, ehe sie dann eines Abends vor einem Publikum spielten, das nicht gerade ein Sfondone verriet. Nach Beginn der Vorstellung ließ Florian den Blick über die Zuschauer schweifen, sah, daß die zwei oder drei oberen Bankreihen ziemlich leer waren und fällte auf der Stelle seine Entscheidung. Sobald er die erste Nummer – Abdullah und Brutus – angesagt hatte, ging er nach hinten, suchte Dai Goesle auf und sagte: »Stitches, wir beginnen noch heute abend mit dem Abbau. Fangen Sie mit dem Lockern der Seile an, sobald die Zuschauer das Zelt verlassen. Pisa liegt nur fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich von hier, man könnte es also in einer Nacht schaffen. Aber ich will Sie nicht bitten, noch heute nacht aufzubrechen. Für gewöhnlich hätte ich bereits einen Vorausmann hingeschickt, der alles Nötige in die Wege geleitet hätte.« »Ich wäre froh, wenn’s gleich heute abend weiterginge, Direktor.« »Danke, Dai, aber das geht nicht. Sie wüßten ja noch nicht mal, wo Sie von der Hauptstraße abbiegen müßten und welchen Zeltplatz Pisa uns zuweisen wird. Es wäre sinnlos für Sie und die gesamte Mannschaft, dort herumzusitzen und nicht ausladen zu dürfen. Nein, wir werden alle erst mal gut schlafen und morgen früh aufbrechen. Mit der Kutsche bin ich schneller dort als der Rest der Wagenkolonne. Eigentlich sollte ich mit der Stadtverwaltung von Pisa noch vor Ihrem Eintreffen alles geklärt haben. Ich werde Sie also an der Hauptstraße erwarten und Sie in die Stadt hineingeleiten. Vielleicht schaffen wir den -556-
Aufbau sogar noch vor Dunkelwerden.« »Zumindest können wir damit anfangen«, sagte Goesle. »Bedenken Sie, ich werde zum erstenmal den neuen Zeltmittelteil zwischen den beiden Halbrunden aufziehen. Vielleicht erfordert das mehrere Versuche, ehe es richtig klappt und alles wie geschmiert läuft.« »Richtig. Deshalb werde ich auch für den nächsten Tag noch keine Vorstellung ansetzen. Damit haben wir zusätzlich Zeit, die Stadt mit Plakaten vollzukleben und die Begeisterung zu wecken.« Während der Pause erfuhr die gesamte Truppe von dem unmittelbar bevorstehenden Aufbruch. Als die Vorstellung weiterging, verfolgte Sarah Coverley aufmerksam, wie ihr Schützling, Monday Simms, auf Thunder eine passable Kür der Hohen Schule vorführte, die aus Traversalen, Spanischem Schritt und Piaffen bestand. Paprika trat zu ihr und sagte in vertraulich verführerischem Ton: »Angyal Sarah, heute ist unsere letzte Nacht im Gran Duca, und es könnte sein, daß wir lange Zeit hindurch keine so luxuriöse und – ungestörte – Unterkunft haben werden. Laß uns diese Nacht hier doch gemeinsam verbringen.« Sarah errötete merklich, wandte die Augen jedoch nicht von der Manege und sagte betont gleichmütig: »Warum denn das?« »Ach, um sich zu unterhalten, wie Mädchen es tun. Über unsere Arbeit reden und uns vielleicht miteinander vergnügen.« »Uns miteinander vergnügen?« sagte Sarah wie abwesend und verfolgte weiterhin Mondays Darbietung. Da tat Paprika so, als werde sie ungeduldig und erklärte in tadelndem Ton: »Kedvesem! Nemi erintkezes.« »Du weißt, ich verstehe kein Ungarisch.« »Kedvesem heißt ›Liebste‹. Und nemi erintkezes bedeutet jene Art, sich miteinander zu vergnügen, die ich meine. Im -557-
übrigen weiß ich sehr wohl, daß du weder dumm noch unwissend bist. Du verstehst genau, was ich meine.« Jetzt hatte Sarah die Augen geschlossen und wisperte ganz leise: »Ja.« »Dann laß uns aufhören, miteinander Versteck zu spielen. Bist du jemals geküßt worden, Sarah, oder hat man dir Philtrum oder Chelidon geleckt oder gestreichelt?« »Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Sarah mit nunmehr festerer Stimme; schließlich drehte sie sich um und sah Paprika offen an. »Aber ich bin auch nicht prüde und bin niemals die typische amerikanische Ehefrau gewesen – ›eine Stellung, unter der Bettdecke und nur bei ausgemachtem Licht‹. Ich habe diese – Liebkosungen – an jeder anderen Stelle meines Körpers durchaus genossen. Und es hat mir immer gefallen, daß es ein Mann war, der sie mir schenkte.« »Aber im Augenblick hast du keinen Mann. Du bist wahrhaftig eine Madame Solitaire. Zachary hat dir den Laufpaß gegeben. Florian hat nur den Circus im Kopf. Wen sonst? Pavlo den Gräßlichen etwa?« Auf diese Worte hin mußte Sarah lächeln; dann verzog sie das Gesicht. »Ich gebe zu, daß du eine Kokotte bist, die Mann wie Frau in Versuchung bringen könnte ...« Sie ließ das verklingen. »Wenn es dir Spaß macht, stell dir ruhig vor, ich wäre ein Mann«, schlug Paprika schelmisch vor. »Was in deinem Kopf vorgeht, ist mir egal. Nur in deinem ...« »Nein!« Sarah schüttelte den Kopf. »Du hast gesagt, wir wären allein. Das stimmt nicht. Clover Lee teilt das Zimmer mit mir. Und du das deine mit Pfeffer.« »Ist das der einzige Grund, warum du nein sagst?« fragte Paprika förmlich strahlend. »Keine Heuchelei? Nichts da von Hochmut? Nur, daß wir nicht allein sind?« Sarah wurde rot. »Meine Antwort lautet trotzdem Nein, Paprika. Könnte sein, -558-
daß Clover Lee nach mir sucht. Vielleicht in Florians Zimmer, und der liebe Himmel weiß, was das für ein Theater zur Folge hätte. Pfeffer wüßte mit Sicherheit, warum sie allein schlafen gelassen wurde und würde uns am nächsten Morgen vermutlich beide umbringen.« In der Tat war es so, daß Pfeffer sie von der anderen Seite der Arena aus beobachtete und sie mit den Augen einer Viper verfolgte. Als sie Sarah das Zelt verlassen sah, trat sie neben Quakemaster, der als nächster an die Reihe kommen sollte, verwickelte ihn in eine Unterhaltung und sorgte dafür, daß Paprika das auch mitbekam. Sie plapperte nur über Belangloses, doch Yount freute sich über diese ungewohnte Vertraulichkeit; jetzt kuschelte sie sich auch noch an ihn, so daß ihre Gesichter ganz nahe beieinander waren, und beide strahlten sie. Paprika beobachtete sie immer noch, und jetzt war sie es, die mit den Augen einer Viper blickte. Noch spät in der Nacht hätten Vorübergehende auf dem Hotelkorridor vor dem Zimmer von Pfeffer Mayo und Paprika Makkai deren Stimmen selbst durch die geschlossene schwere Mahagonitür hindurch hören können. »Du abgefeimtes Luderchen, du! Die kleine kratzbürstige Clover Lee hat dich abblitzen lassen. Und jetzt raspelst du, bloß um mir einen Tort anzutun, bei ihrer Mutter Süßholz?« »Doch nicht aus Trotz, särkäny! Auch Sarah ist eine ausgesprochene Schönheit.« »Papperlapapp! Möglich, daß sie ganz knusprig ist, bloß, sie ist anderthalbmal so alt wie du. Ein Schaf, aufgemacht wie ein Lämmchen.« »Menj a fenebel! Jedenfalls ist sie eine Frau. Und jedenfalls bleib ich meiner Veranlagung treu. Du hingegen machst einem Mann schöne Augen, Himmelherrgott noch mal!« Beide hatten am nächsten Morgen rotgeweinte Augen; sie hatten getobt, und sie hatten kaum geschlafen. Doch die anderen -559-
Artisten sahen auch nicht viel besser aus, denn Florian hatte in aller Herrgottsfrühe an ihre Tür gehämmert, damit sie tüchtig frühstückten und trotzdem frühzeitig loskamen. Doch so früh es auch noch war, Stitches Goesle war bereits vor ihnen auf den Beinen und nicht untätig gewesen. »Bin nebenan im Laden für die Schiffsausrüstung gewesen«, sagte er. »Und hab’ Flaschenzüge und Rollen für den neuen Hauptmast gekauft. An so was kommt man im Landesinneren nur schlecht heran.« Die meisten Circusangehörigen aßen verschlafen und mit fahrigen Händen, doch Florian schlang sein Frühstück hinunter und eilte an die Hotelrezeption, um die Rechnung zu begleichen. Als er die geforderte Summe ohne jeden Abzug bezahlte – und auch nicht kleinlich die einzelnen Posten nachrechnete, wie es jeder italienische Gast getan hätte –, nahm der Hoteldirektor des Gran Duca mit Freuden den nunmehr auf achtunddreißig Stück angewachsenen Stapel der Konuitenbücher der Truppe und der Circusarbeiter in Empfang, nahm ihn mit in sein Kontor, und als er wieder zum Vorschein kam, trug jedes einzelne Buch eine wie gestochen geschriebene Erklärung, daß jeder Inhaber eines dieser Büchlein sich während seines Aufenthaltes in Livorno ganz und gar untadelig benommen habe. Er rief alle beim Namen auf, um jedem einzelnen sein Führungsbuch mit einer tiefen Verbeugung zurückzugeben. »Signor Rouleau ... Signorina Makkai ... Signor Goozle ...« »Das wird aber Gwell ausgesprochen«, knurrte Stitches. »Signorina Mayo ... Signor – uh – Cheenk ...« Voller Ungeduld sagte Florian auf italienisch, den Rest der Bücher werde er an sich nehmen; die Besitzer seien noch draußen auf dem Circusplatz. Als die Gesellschaft das Hotel durch den Vordereingang verließ wobei Hausdiener Rouleau im Rollstuhl aus Korbgeflecht schoben und wesentlich mehr Gepäck -560-
hinaustrugen, als die Gäste ursprünglich mitgebracht hatten –, wartete ein müder, aber unermüdlicher Aleksandr Banat bereits mit dem Garderobenwagen. Bis auf Edge und Autumn gelang es allen, samt ihrem Gepäck und Goesles großen Rollen Tauwerk, Draht und Flaschenzügen im Inneren oder auf dem Dach dieses Wagens Platz zu finden. Während die schwarzgetüpfelten Pferde den Wagen in Richtung Fabbricotti-Park zogen, gingen Autumn und Edge zu den Stallungen des Gran Duca, wo der Stalliere Autumns Pferd, bei dem man immer noch die Rippen zählen konnte, vor ihren kleinen Wagen gespannt hatte. Sie verstauten ihr Gepäck sowie Edges Ausrüstung im Wageninneren, und kletterten dann auf den Kutschbock, wo Edge die Zügel ergriff. »Nach dem, was ich da eben nach dem ersten flüchtigen Blick gesehen habe, ist das ein reizendes kleines Landhaus auf Rädern«, lautete sein Kommentar. »Ich habe ihn einer Kesselflickerfamilie abgekauft, die aus irgendeinem Grund beschlossen hatte, seßhaft zu werden. Es hat eine ganze Familie drin gewohnt, und deshalb ist ... hm ... reichlich Platz darin ... für mich ... allein.« Grinsend sah sie ihn an. »Oh, bei mir braucht’s keinen Wink mit dem Zaunpfahl, Lady. Ich kann es kaum abwarten, mich mit dir zusammenzutun und einen Hausstand zu gründen.« Edge fuhr direkt durch die Stadt zur Strada Pisa hinaus und erreichte sie gleichzeitig mit dem vom Circusplatz kommenden Wagenkonvoi. Als dieser von links nach rechts vor Edge und Autumn vorüberzog, bildete das FLORILEGIUM eine durchaus stattliche Wagenkolonne: alles in allem waren es – bis auf die schimmernde schwarzgelackte Kutsche – elf leuchtend bunt angestrichene Gefährte, von denen vier von zueinander passenden und aufsehenerregend hübschen Zweiergespannen gezogen wurden. Am Schluß der Kolonne kam das einzige nicht zu einem Gespann gehörende Pferd und zog Becks noch nicht -561-
fertiggestellten, aber bereits mit Rädern versehenen Gasentwickler. Ganz zuletzt kam Peggy eine leuchtend scharlachrote, mit Goldbuchstaben bestickte und troddelbesetzte Decke auf dem Rücken. Mit gelinder Verwunderung sah Edge, daß Pfeffer auffallend neben Obie Yount auf dem von ihm gelenkten Wagen saß, worauf Yount nicht wenig stolz zu sein schien. Jules Rouleau lag bequem ausgestreckt auf der Persenning, unter welcher der Ballon verstaut war; auf diese Weise war er am besten gegen unvorhersehbare Stöße geschützt. Als der Elefant vorüber war, lenkte Edge auf die Strada Pisa ein und klatschte dann mit den Zügeln, um Autumns alten Klepper anzutreiben, an der Circuskolonne vorbeizuziehen, und fädelte sich dann hinter Florian ein. Sobald die Wagenkolonne die gepflasterten Straßen Livornos hinter sich gelassen hatte und über die festgestampfte glatte Oberfläche der Landstraße dahinrollte, trieb Florian sein Pferd zu einem munteren Trab an, und die Kutsche entfernte sich immer weiter vom Rest der Prozession. Nach etlichen Kilometern war im Morgendunst nichts mehr von der Kutsche zu sehen, und das kleine Landhaus auf Rädern führte den Zug an. Jetzt wo er allen voranfuhr, ganz Italien vor ihm lag und er sich wirklich als Sprechstallmeister eines Unternehmens fühlte, das kein kümmerlicher Tingeltangel, sondern ein richtiger Circus war, seine Liebste neben sich auf dem Kutschbock hatte und Aussicht bestand, viele neue unbekannte Orte kennenzulernen, war Zachary Edge zufriedener mit seinem Leben und der Welt ganz allgemein, als er es seit dem Krieg oder möglicherweise sogar noch länger gewesen war.
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4 »Kaum zu glauben, was für ein Glück wir haben!« jubelte Florian, als er, wie versprochen, kurz vor Pisa wieder zu den anderen stieß. »Das Municipio verpachtet uns den städtischen Campo Sportivo zum Aufstellen unseres Zeltes. Ganz in der Nähe des berühmten Schiefen Turms. Wahrscheinlich haben ein paar reisende Pisaner unsere Vorstellung hoch gelobt. Und als ich den Behörden unsere tadellosen Konuitenbücher zeigte, brauchte ich nicht einmal mehr zu bitten. Sie boten uns diesen idealen Standort von sich aus an. Nun, laßt uns keine Zeit verlieren. Fahrt hinter mir her.« Die Kolonne hatte unterwegs keinen Halt für die Mittagsmahlzeit gemacht, sondern Kleinigkeiten genossen, die sie mitgenommen hatte, und so war es jetzt erst früher Nachmittag. Edge folgte Florian, und der Rest des Konvois folgte wiederum ihm über die Arnobrücke und dann eine breite Straße entlang, die um die Innenstadt herumführte und von vielen anderen Fahrzeugen und Scharen von Fußgängern bevölkert wurde, von denen die meisten stehenblieben, um den Einzug des FLORILEGIUMS offenen Munds zu verfolgen, während andere, die es eilig hatten oder nicht am Circus interessiert waren, laut fluchten, daß die Straße verstopft und der Verkehr aufgehalten wurde. Dieser Teil von Pisa unterschied sich kaum von den Außenbezirken von Baltimore – nichts als schmuddelige Warenspeicher und gewerbliche Bauten. Als die Wagenkolonne jedoch von dieser Umgehungsstraße in die Stadt selbst einbog, konnten die Artisten über die Dächer der Lagerhäuser hinweg den schräggeneigten Glockenturm sowie die Kuppel der Kathedrale erkennen, die fast genauso hoch ragte wie der Turm. Die Spitzen dieser beiden höchsten Gebäude Pisas blieben den ganzen Weg über bis zum Sportplatz zu sehen, einer ovalen Rennbahn mit überdachten Zuschauertribünen zu beiden Seiten -563-
sowie einem kurz geschorenen Rasen in der Mitte, der groß genug war, daß der Circus sich darin ausbreiten konnte, ohne sich beengt zu fühlen. »Glatt wie ein wohlgepflegter englischer Landhausrasen«, sagte Autumn. Und Florian meinte stolz: »Ich hab’s dir doch gesagt, Zachary, wir werden noch zu einer Freilichtschau auf Zierrasen.« Nachdem die meisten Wagen um ein Geviert herum aufgebaut worden waren, das man als eine Art Hinterhof betrachten konnte und der Garderobenwagen der Stelle zunächst stand, an welcher sich der Sattelplatz befinden sollte, rief Stitches Goesle – ohne dem Schiefen Turm, jetzt aus der Nähe, auch nur einen Blick zu gönnen – mit lauter Stimme nach den Zeltaufbauern, damit sie sich ungesäumt an das Entladen von Zelt- und Gepäckwagen machten, die Pferde ausspannten, ihnen Heu und Hafer vorwarfen und den Elefanten fütterten. Florian blieb in der Nähe, um Goesle bei der Aufsicht über den Zeltaufbau zu helfen und einen ersten Blick auf das nunmehr erweiterte Chapiteau werfen zu können. Das gleiche tat Carl Beck, um keine Zeit zu verlieren, wenn es ums Mastaufrichten und Seilespannen ging. Den Artisten jedoch, die mit dieser Schwerarbeit jetzt nichts mehr zu tun hatten, blieb der Nachmittag für sich selbst. Autumn, die schon mehrere Male in Pisa gearbeitet hatte, machte sich ein Vergnügen daraus, für Edge und die anderen Kollegen wie etwa Magpie Maggie Hag, Hannibal Tyree und die drei Simms-Kinder Fremdenführer zu spielen. Noch vor Dunkelwerden kehrten sie zum Circusplatz zurück. Als sie sich dem Campo Sportivo näherten, kam ihnen über die Rennbahn Florian entgegen und sagte ziemlich abgespannt: »Die Böhmen und ich haben noch eine Zeitlang zu tun; Abendessen gibt’s also später. Immerhin habe ich uns noch Hotelzimmer gebucht. Könnte ja sein, daß einige von euch sich frischmachen und zu einer anständigen Zeit zu Abend essen -564-
möchten. Das Hotel ist nicht ganz so prächtig wie das Gran Duca, aber es ist bequem. La Contessa Matilda heißt es. Geht zurück zur ersten Ecke und dann rechts herum.« »Na, noble Namen haben sie ja alle, unsere Hotels, verdammich«, sagte Yount. »Miz Sarah, in einem von denen müssen Sie oder Clover Lee ja die Bekanntschaft von Ihrem Grafen oder Herzog machen.« Sarah schenkte ihm ein vages Lächeln. Da sie zum erstenmal das erweiterte Chapiteau aufgebaut sahen – es wirkte wirklich viel größer und wesentlich imposanter als vorher –, nahmen sie sich die Zeit, es einmal ganz zu umrunden und von allen Seiten zu bewundern. Dann luden die meisten von ihnen ihr persönliches Gepäck in einen leeren Wagen. Edge sagte zu Autumn: »Macht es dir was aus, wenn ich dich allein lasse ..., aber ich möchte mich gern erst mit dem neuen Aufbau vertraut machen.« »Nein geh nur, Liebling. Ich nehme dein Gepäck mit.« An der Zelthöhe hatte sich nichts verändert: sie betrug nach wie vor rund zehn Meter. Doch mit dem fünfzehn Meter breiten, zwischen die beiden Hälften des ursprünglichen Runds eingesetzten neuen Mittelstück bildete das Zelt jetzt ein Oval, das von einem Ende zum anderen stattliche siebenunddreißig Meter maß. Die beiden Mittelmasten – der alte und ein neuer – ragten zu beiden Seiten des neuen Mittelteils über die Halteringe ins Freie. Um diese Ringe einzuarbeiten, hatte einiges an der alten und an der neuen Zeltleinwand geändert werden müssen – und mußte wohl noch geändert werden. Zwei der Böhmen waren an den höchsten Punkten des Zeltes bei der Arbeit; jeder von ihnen hielt sich an der Spitze eines der beiden Masten fest und handhabte emsig seine Rundnadeln, stichelte an der Zeltbahn, führte die Halteseile durch den Ring und die Ösen in der Leinwand und zog sie nach. Von unten gab Dai Goesle Anweisungen wie aus einem Schnellfeuergewehr, die der neben -565-
ihm stehende Aleksandr Banat ebenso raschzüngig zu ihnen hinaufbellte. Goesle sah, daß Edge das Werk bewundernd betrachtete, hielt inne und sagte: »Wenn wir hier abbrechen, brauche ich noch einen Tag. Ich möchte die Zeltbahn ganz auf dem Boden ausbreiten und sie anstreichen. Sehen Sie nur, wie das jetzt aussieht! Jeder sieht, daß es Flickwerk ist – neue Leinwand und alte Leinwand. Ich schlage Streifen vor, aber darüber müssen wir uns unterhalten. Auf jeden Fall verstärkt eine dünne Schicht Ölfarbe die Lebensdauer des Zeltes und wirkt überdies zusätzlich wasserabweisend. Außerdem möchte ich, daß dieser künstlerisch begabte Chinamann den Namen des Circus in ganz ganz großem Schriftzug über das Vordach laufen läßt. Wie gefällt Ihnen der Eingang jetzt, Zachary?« Statt einer nicht festgezurrten und offengelassenen Seitenbahn, die man nur zurückschlagen mußte, um einen Vordereingang zu haben, hatte Goesle vom Erdboden bis zu einer Höhe von zweieinhalb Metern zwei gerade, sauber gesäumte, drei Meter auseinanderliegende Schlitze im neuen Mittelteil angebracht. Diese Patte war nach außen in die Höhe genommen worden und wurde zu beiden Seiten von zwei neuen, wie Zuckerstangen rotweiß gestrichenen Pfählen gehalten wie ein Sonnensegel, was weit einladender wirkte als der bisherige Eingang. Edge konnte einen Blick hineinwerfen und sah genau auf der gegenüberliegenden Seite hinter der Manege die ähnlich geschnittene Tür des Auftritts. Auch bemerkte er, daß in der Mitte der Manege jetzt kein störender und die Sicht behindernder Mittelmast mehr zu sehen war. Damit für die Zuschauer so etwas wie eine Schleuse entstand, die zum Vordereingang führte, hatte Goesle linkerhand eine nicht ganz meterhohe Plattform errichtet, auf der Fitzfarris seine Pausenvorstellungen, sein Mäusespiel und seine Bauchrednerkünste zum besten geben konnte. Rechterhand dagegen standen der Rote und der Käfigwagen nebeneinander. -566-
So gelangte das Publikum zunächst an die im Roten Wagen untergebrachte Kasse, hatte dann einen guten Überblick über den Ausstellungsteil, der im selben Wagen untergebracht war, und konnte weitergehen, um sich Maximus anzusehen und danach unter dem Sonnensegel hindurch und durch den Haupteingang das eigentliche Zirkuszelt betreten. Zu beiden Seiten des so entstandenen Zugangs waren Roozebooms alte Fackelpfähle angebracht, die während der Abendvorstellung den Zugang beleuchteten. »Gehen Sie nur rein, Zachary«, forderte Goesle ihn auf. »Sie werden es kaum wiedererkennen.« Und in der Tat: Die Manege wirkte jetzt, da kein Mittelmast mehr störte, viel größer als zwölf Meter im Durchmesser. Die Hauptmasten waren gut einen Meter von der hölzernen und gepolsterten Piste entfernt in ihrem Schuh aufgestellt, so daß viel Raum blieb für den Einmarsch und die Schlußparade. Zeltmeister Goesle und Obermonteur Beck hatten außen und seitlich von den beiden Masten Absegelungen angebracht, um den Masten Halt zu geben, und diese Taue verschwanden unter den Holzplanken der Zuschauertribüne, die am Boden gut abgestützt und verschraubt worden waren. Rein rechnerisch hätte die Erweiterung durch die fünfzehn Meter des Mittelteils das Fassungsvermögen um die Hälfte vergrößern müssen. Doch in Wirklichkeit wurde die Zuschauerzahl fast verdoppelt. Die alten Sitzreihen, deren Versteifungen jetzt fest auf Eisenböcken verschraubt waren, liefen bogenförmig um die Halbkreisenden des Zeltes herum, und Goesles neue, dazu passende Bankränge bedeckten die geraden Seitenwände vor ihm. Aber zwischen den alten Bankreihen und den Hauptmasten blieb noch viel Raum übrig, den der Zeltmeister nicht ungenutzt gelassen hatte. Er hatte weitere Bänke aufgestellt, die auf gleicher Höhe mit der Manege lagen. Vor sämtlichen ersten Reihen waren in regelmäßigen Abständen Roozebooms Ölfunzeln mit den Blechreflektoren -567-
angebracht worden. »Vorläufig«, sagte Florian, der die Einrichtung des Innenraums überwachte, die immer noch nicht abgeschlossen war, »lassen wir die Gaffer sich um die Sitze vorne streiten. Aber später möchte Stitches dort Klappstühle aufstellen; von dort kann man am besten sehen; folglich kann man für diese Sitze auch höhere Eintrittspreise nehmen als für die gewöhnlichen Sitzreihen weiter hinten.« Geradezu ehrfürchtig blickte Edge sich im Oval um – es erinnerte ihn wahrhaftig an die Abbildung der riesigen römischen Amphitheater. Im ersten Moment glaubte er sogar, daß Goesle die Sitzreihen bis über den Haupteingang hinweggezogen hätte, doch dann erkannte er, daß das Holzgerüst dort oben das Musikpodium für die Kapelle war, das rings von einer Balustrade eingefaßt war und praktische Sitzgelegenheiten für die Musikanten aufwies. »Unser Obermonteur ist mit dem Spannen der Seile für die Vorstellung fast fertig«, sagte Florian und deutete in die Höhe. Edge legte den Kopf in den Nacken und erinnerte sich daran, daß er einst gemeint hatte, im Chapiteau zu stehen, sei so, als halte man sich im Inneren eines Ballons wie der Saratoga auf. Heute jedoch hatte er das Gefühl, im Inneren einer Zeltbahnkathedrale zu stehen, denn der Raum da oben war gewaltig und luftig, und das eigentliche Zeltdach schien viel höher zu sein, als es in Wirklichkeit war. Die Geitaue schimmerten dort, wo sie an den Hauptmasten zusammenliefen. Der alte Mast war immer noch mit dem gaffelähnlichen Baum ausgerüstet, der in spitzem Winkel vorkragte und über der Manege hing. Ein Böhme war hinaufgeklettert und befestigte gerade eine Talje oder Rollenblock sowie das Fall oder Seil darin, mit dem Pfeffer an ihrem Haar heraufgezogen werden sollte. Florian gab ihm durch Handzeichen Anweisungen, woraufhin er diesen schwenkbaren Baum dergestalt ausfuhr, daß er dem gleichfalls dort oben angebrachten Kandelaber nicht ins -568-
Gehege kam. Der neue Mast wies auf der Manegenseite eine kleine hölzerne Plattform auf, von der eine Strickleiter bis zum Boden herunterbaumelte. Edge brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, daß dies Autumns Plattform zum Ausruhen war. Momentan kniete Bumbum-Beck dort oben; mit einem Böhmen, der am anderen Hauptmast hing, justierte er die Spannvorrichtungen und damit die Straffheit des Seils, das in fünfzehn Meter Höhe zwischen den beiden Hauptmasten gespannt war. Am alten Mast war in Autumns Augenhöhe ein leuchtend weißer Punkt aufgemalt, nach dem sie sich richten konnte. Das Seil selbst straffte sich genau acht Meter und zwanzig Zentimeter über dem Boden, doch Edge schien, als dehne es sich in absolut schwindelnder Höhe. »Miss Auburn ist durch und durch Artistin«, sagte Florian, obwohl Edge kein Wort gesagt hatte. »Sie bewegt sich auf dem Seil mit derselben Sicherheit wie unten in der Manege. Und Artisten möchten nun einmal, daß ihre Arbeit möglichst vorteilhaft zur Geltung kommt. Sie lieben die kleine Frau, ja. Aber, Zachary, wenn Sie wollen, daß sie Sie auch weiterhin liebt, halten Sie sich an meinen Rat. Versuchen Sie nicht, Ihr Hüter zu sein.« »Sie haben recht«, sagte Edge. »Mir wird sich zwar jedesmal der Magen umdrehen, wenn sie hinaufsteigt, aber ich werde mich bemühen, es mir nicht anmerken zu lassen. Doch etwas anderes: Wir haben doch keinen Mast oder irgendein anderes Hindernis mehr in der Manege – warum graben die Leute dort jetzt ein großes Loch?« »Das ist ein Grab«, sagte Florian. Ungläubig starrte Edge hin und sagte: »Und ich soll mir keine Sorgen machen! Wer liegt denn im Sterben?« »Er ist bereits tot. Ich hatte gehofft, Sie würden es nicht merken.« -569-
»Was?« »Ein bedauernswerter Unfall – aber es hat jemand getroffen, auf den wir verzichten können. Erinnern Sie sich an diesen nichtsnutzigen Faulpelz Sandov? Als wir die Zeltbahnen beim Aufbau auseinanderrollten, fiel er heraus. Er war schon ganz steif. Wir hätten ihn zum Abstützen benutzen können.« »Das klingt in meinen Ohren aber nicht nach einem Unfall.« »Nichts an seinem Körper deutet auf etwas anderes hin. Er wurde im Schlaf einfach mit eingewickelt und ist dann erstickt.« »Das klingt doch reichlich weit hergeholt? Wie sollten seine Kumpel nicht bemerkt haben, daß er auf den Zeltbahnen schlief, als sie sie zusammenrollten?« »Hm, lassen Sie es mich mal folgendermaßen ausdrücken, Zachary. Unfälle dieser Art hat es immer gegeben ... so was kommt beim Abbau eben vor ... bei vielen Circussen. Daß es aber jedesmal einen trifft, den keiner mag und der zu nichts nutze ist, möchte ich dem Zufall zuschreiben. Gleichwohl möchte ich Sie bitten, diesen Unfall niemand sonst gegenüber zu erwähnen. Keiner unserer Artisten hat sich jemals die Mühe gemacht, unsere Böhmen zu zählen; und bestimmt kann keiner einen vom anderen unterscheiden.« Edge nickte finster. »Selbstverständlich halte ich den Mund. Wer bin ich denn, daß ich mich groß darüber aufrege, ob jemand stirbt – verdienter- oder unverdientermaßen?« »Trotzdem sollten Sie mich im Hotel daran erinnern, das Konuitenbuch dieses Mannes zu vernichten«, sagte Florian. »Falls irgendeine Behörde ihre Nase in Angelegenheiten steckt, die sie nichts angehen und auf die Idee kommt, die Konuitenbücher mit ihren Inhabern zu vergleichen.« Im Speisesaal des Contessa Matilda wurde heftig über die Musik diskutiert, die beim Einmarsch der Artisten gespielt werden sollte. -570-
»Ich hab’s immer wieder versucht, Herr Direktor«, sagte Autumn, »aber ich bringe einfach keine italienischen Verse zustande, die als Text zu unserem ›God Rest Ye Merry‹ passen. Es ist aber sowieso ein altes englisches Lied, und kaum ein Publikum hier auf dem Kontinent würde es erkennen. Deshalb habe ich mit Kapellmeister Beck gesprochen« – Beck nickte ernst – »und, wenn Sie einverstanden sind, möchten wir lieber ›Greensleeves‹ nehmen. Auch das ist zwar ein englisches Lied, aber das kennt man jedenfalls überall auf der Welt.« »Ja, das stimmt«, bestätigte Paprika. »In Ungarn spielt man es sogar auf dem Czimbal.« »Das nenne ich einen lobenswerten Vorschlag, meine liebe Autumn«, sagte Florian. »Aber klingt es nicht etwas süßlich für einen Einzug?« »Nein, Sir. Unser tüchtiger Kapellmeister hat das Lied überaus lustig und schwungvoll arrangiert« – Beck machte ein bescheidenes Gesicht -»und ich habe neue Texte verfaßt, die nicht so schmalzig und sentimental sind.« Sie reichte ihm ein Blatt Papier über den Tisch. »Ich erhebe ja nicht den Anspruch, daß es ›Die Meistersinger‹ sind, aber immerhin ist der Text so einfach, daß jeder ihn auswendig lernen kann.« Kauend überflog Florian die kleinen Vierzeiler, die sie auf italienisch geschrieben hatte, und schlug dabei leise mit Messer und Gabel den Takt der Melodie von ›Greensleeves‹. Dann legte er das Besteck beiseite und klatschte begeistert Beifall. »Das haben Sie gut gemacht, meine Liebe. Wir werden die Truppe und die Kapelle zusammenrufen und den Einzug am Morgen proben. Zachary, ich muß nochmals sagen, Sie haben wirklich einen Schatz entdeckt, als Sie diese kleine Dame für uns auftrieben. Ich bitte Sie: Gehen Sie mit dem größten Zartgefühl mit ihr um.« »Ich will’s versuchen«, sagte Edge und dachte dabei an das Hochseil.
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5 Als das FLORILEGIUM die Pforten zu seiner ersten Vorstellung in Pisa öffnete, war die mit Sägemehl gefüllte Manege unter der Zirkuskuppel wieder ganz eben. Magpie Maggie Hag verkaufte mit Bewegungen, die ihr selbst fahrig vorkamen, im Roten Wagen Karten, raffte Lire und Centesimi zusammen und schob das Wechselgeld – oder zumindest den größten Teil davon – über den Tisch, und die meisten Zuschauer hatten kaum einen Blick für die Ausstellung oder für den Löwen übrig, so eilig hatten sie es, die besten Plätze zu ergattern. So füllten sich die Zuschauerbänke schnell von unten bis hinauf zu den obersten Sitzreihen. Nachdem Banat das Sonnensegel des Eingangs heruntergelassen hatte, um den Haupteingang zu schließen, meldete er Florian mit einer Ehrenbezeugung, von der er offensichtlich annahm, daß es sich um den militärischen Gruß der Konföderierten handelte: »Ich habe fast tausend Karten abgerissen.« »Der Himmel sei gepriesen«, sagte Pfeffer, die das mitbekam. »Meiner Treu, bald werden wir reich sein wie ein Krösus.« Florian lachte: »Dann wollen wir die guten Pisaner nicht länger warten lassen, irische Maid! Marsch, zum Auftritt mit dir, damit der Einzug beginnen kann!« Die Parade wurde von Brutus angeführt, so daß der auf ihrem Rücken thronende Abdullah die Musik der Kapelle gleich von Anfang an mit seinen Baßtrommeln begleiten konnte. Bis auf den Elefanten, die Pferde und die Kapriolen schießenden Terrier sang jeder Autumns Text zur Begleitung von Becks ausgelassener Version von ›Greensleeves‹ mit: Circoo e allegro! Circoo e squisito! Circo ha cuore d’oro, E benvenuto aal Circo! Wie Autumn gesagt hatte, kannte jeder im Publikum die -572-
Melodie des Liedes. Als der Zug die Manege zum drittenmal umrundet hatte, kannte die Menge auch den Text und sang mit einer Lautstärke, die wiederum fast alle Bemühungen der Bläser zunichte machte, sich Gehör zu verschaffen. Florian und Edge hatten das Programm umgestellt, so daß jetzt die Pferdedressur den Anfang machte; die Rösser trugen bereits ihre Federbüsche sowie die glitzernden und troddelbewehrten Schabracken, und Colonel Ramrod konnte sie in die Manege eintraben lassen, während der Rest des Umzugs noch durch die Gardine verschwand. Ohne Pause ging die Kapelle zu ›Donner und Blitz‹ über, und zum Knallen der Nilpferdpeitsche schwenkten die Pferde mühelos in die gewohnte Formation ein. Edge war über die Maßen froh, daß Autumn bei dieser ersten Vorstellung im neuen Zelt erst zum Schluß in die Höhe klettern sollte. Zweifellos würde er beim Zuschauen nervös sein wie eh und je, doch wurde er jedenfalls nicht von Angst gebeutelt, ehe er seinen eigenen Dressurakt vorstellte, als Kunstschütze auftrat und noch später als Buckskin Billy aus dem Wilden Westen seine Volten schlug. Als nach dem Abgang der Pferde der Elefant wieder hereinkam, tat er dies gemessen majestätischen Schrittes, und Abdullah ließ seine Trommel unheilvoll zur ›Hunnenschlacht‹ ertönen. Die Kapelle fiel in eine flottere Weise – eine Mischung aus Suppé-Ouvertüren –, während Brutus einige seiner Solokunststücke vorführte. Das Tauziehen mit Freiwilligen aus dem Publikum war gestrichen worden. Statt dessen kamen Monday, Quincy und die drei Chinesen radschlagend in die Manege gewirbelt, lockten Brutus auf das Schleuderbrett, und während der Dickhäuter glücklich hin- und herschaukelte, führten sie ihre Figuren vor, bildeten Pyramiden und hüpften ihm bockspringend auf den Rücken. Als Brutus Abdullah und die Simms-Geschwister wieder hinaustrug, blieben die Chinesen in der Manege zurück und ließen sich zur absolut nicht dazu passenden stampfenden Musik von ›Glinka‹ gegenseitig mittels -573-
Fußarbeit durch die Luft wirbeln. Danach kamen Pfeffer und Paprika zur Begleitung von Liszts ›Ungarischer Rhapsodie‹ mit ihrer Perchestange. Die Kapelle verstummte. Florian rief schmeichelnd »Bisnonna Filomena Fioretto« vom Musikpodium herunter und stellte sie mit den üblichen Übertreibungen vor. Sarah hatte inzwischen mechanisch einige italienische Dankesfloskeln auswendig gelernt, die sie herunterratterte, wenn ihr als gebeugter alter Dame ein kleiner Geburtstagskuchen samt Kerze überreicht wurde; danach erst rückte sie mit der erstaunlichen Bitte heraus, zur Feier des Tages einmal auf einem Pferd reiten zu dürfen. Welch selbiges sie dann auch tat, zur sanften Musik von ›For He’s a Jolly Good Fellow‹, das mit krächzender und zitternder Stimme vorgetragen wurde, was nur dazu dienen sollte, etwaige Aussprachefehler bei ihr zu kaschieren. Als das Pferd mit der alten Dame durchging, kam diese Nummer spektakulärer heraus denn je zuvor – zahllose echte alte Damen im Publikum fielen tatsächlich in Ohnmacht – und das erleichterte Luftholen der Menge, die Heiterkeitsausbrüche und der Beifall steigerten sich entsprechend, als Filomena sich auf dem Pferderücken zu voller Größe aufrichtete, ihre Großmutterkleider von sich warf und als strahlende Madame Solitaire dastand. Zum erstenmal seit langer Zeit schmetterte Jules Rouleau, der neben dem Auftritt auf einem Waschzuber hockte: »Da ich im Zirkus saß und den Blick nicht von ihr lassen könnt’«. Nachdem Sarah die Ovationen entgegengenommen hatte, nahm sie ein Handtuch, rubbelte sich damit trocken und suchte Rouleau auf, um ihm zu gratulieren, daß er nach so langer Zwangspause »endlich wieder Sägemehl stieben lassen konnte«. Die Kapelle spielte die ersten Takte von »The Irish Jaunting Car«, und Pfeffer stieg zu ihrem Zopfhang auf. Sarah unterhielt sich immer noch mit Rouleau, als sie plötzlich herumgerissen und auf den Mund geküßt wurde. »Pompa’s! Prachtvoll!« rief Paprika und drückte sie an sich. -574-
»Du hast mich doch wohl ... naja, kaum zum erstenmal meine Nummer abziehen sehen«, sagte Sarah atemlos. »Ah, aber deine Stimme! Deine Italienischbrocken diesmal! Fast hätte sogar ich geglaubt, alles wäre echt und wahr. Du bist öszinten müveszi. Sagt man so auf englisch: Du bist eine Meisterin in deinem Fach?« »Nun ... ja ...«, begann Sarah, doch da küßte Paprika sie bereits wieder ausdauernd und leidenschaftlich, während Rouleau mit hochgezogenen Augenbrauen zusah. Auch aus großer Höhe sah man ihnen zu, wie Sarah erkannte, als sie sich endlich aus der Umarmung befreien konnte. Paprika folgte ihrem Blick, sah jedoch nur spöttisch zu Pfeffer empor, die – immer noch reglos und steif – mitten in der Luft hing und mit ihrem durch das Ziehen der Haare hervorgerufenen schlitzäugigen Lächeln aus eisgrünen Augen auf sie herunterstarrte. Beck versuchte verzweifelt, ›The Irish Jaunting Car‹ durch alle möglichen Triller und Ausschmückungen in die Länge zu ziehen und wartete darauf, daß sie mit ihrer Nummer begann. Das jedoch tat Pfeffer erst, nachdem Paprika wie Sarah durch den Auftritt verschwunden waren. Da erst versetzte sie sich mit ihren Schaukelbewegungen, ihren Schwingungen und Drehungen in einen solchen Wirbel, daß Beck Mühe hatte, mit der ›Jaunting Car‹ überhaupt mitzukommen. Spät am Abend saßen die meisten Zirkusangehörigen im Speisesaal der Contessa Matilda an mehreren Tischen beisammen und plauderten fröhlich und unbekümmert darüber, wie gut ihre Nummern angekommen waren, um wieviel besser man jetzt in der von jedem Hindernis befreiten Manege und zu passender Musik arbeiten könne und was für ein dankbares Publikum die Pisaner wären. Pfeffer und Paprika jedoch saßen an verschiedenen Tischen. Sarah saß noch an einem dritten, sagte nicht viel und stocherte nur mißmutig in ihrem Essen herum. -575-
Auch Edge verspürte keinen großen Appetit, obwohl er neben Autumn saß, die wie die anderen ebenso in Hochstimmung war. Ihr Hochseilakt hatte ihr in der Nachmittags- und in der Abendvorstellung stehende Ovationen eingebracht, und jetzt versuchte sie immer wieder, Edge davon zu überzeugen, daß seine eigene Dressurnummer viel gefährlicher sei als ihre Nummer. »Ich kann nicht zusehen, wenn du vom Sattel eines galoppierenden Pferdes unter seinen Bauch und zwischen die trommelnden Hufe rutschst und dann auf der anderen Seite wieder hochkletterst.« Doch das beruhigte ihn kaum. Autumn hatte so winzig, so verletzlich und so unendlich zerbrechlich bei ihren waghalsigen Kunststücken da oben unter dem Zeltdach ausgesehen. Viel später in dieser Nacht hörte Jules Rouleau, der gerade am Einschlafen war, wie die Tür seines Zimmers leise aufging und jemand in sein fast dunkles Zimmer schlüpfte. »Qu’estce que c’est?« murmelte er. »Doch um diese späte Stunde keine Massage mehr?« »Es ist nicht Maggie. Ich bin’s – Sarah. Ich brauche deine Hilfe, Jules.« »Qu’estce que c’est?« fragte er noch einmal, wiewohl er jetzt hellwach und erschrocken war. In dem dämmerigen Licht, das vom Küchenhof unten ins Zimmer hereinfiel, wo die Küchenhilfen noch beim Geschirrspülen waren, sah Rouleau, daß Sarah sich auszog. Zitternd sagte sie: »Du ... du hast doch gesehen, wie diese Paprika mich geküßt hat. Und mir nicht nur den flüchtigen Kuß gegeben hat, mit dem Zirkusleute sich oft begrüßen, sondern wie ein ... wie ein Liebhaber.« »Cherie«, sagte er, der sich inzwischen aufgesetzt hatte, seinerseits mit etwas unsicherer Stimme, als Sarah sich immer weiter auszog. »Du kannst dir doch nicht die ganze Zeit über etwas vorgemacht haben, was die Veranlagung dieser beiden -576-
Lesben betrifft.« »Nein. Bloß daß P... Paprika in letzter Zeit angefangen hat, mich zu umwerben. Und als sie mich heute küßte, habe ich es fast – nein, doch nicht ganz – genossen. Jedenfalls hat es mich erregt.« »So was kann passieren«, sagte Rouleau so unbewegt, wie es ihm möglich war. »Aber warum zu mir kommen? Warum ziehst du dich ...« »Jules, ich brauch’ einen Mann. Bloß um mir zu beweisen, daß ich keine Lesbe bin. Ich bitte dich, Jules ...« Sie war jetzt nackt und schlüpfte unter die Bettdecke zu ihm. Rouleau zuckte zurück und erklärte, fast in Panik geraten: »Cherie, du bringst mich in Verlegenheit. Du weißt doch seit langer Zeit, daß ich – auf meine Weise – das bin, was Pfeffer und Paprika auf ihre sind.« »Aber du hast jedenfalls einen ... männlichen Körper. Ich bitte dich, Jules!« »Für mich würde ... würdest nicht du, liebe Sarah, versteh mich recht ... aber der Akt als solcher würde für mich grauenhaft sein. Es gibt doch noch andere Männer in der Truppe, männliche Männer, die dir mit Freuden den Gefallen tun würden ...« »Zachary habe ich verloren, Florian hat nichts anderes im Kopf als den Zirkus, und jeder andere Mann würde sich aufplustern, groß daherreden und vor allem den Mund nicht halten. Du bist ein guter alter Freund. Tu’s nur einmal, aus Freundschaft!« »Sarah, ich kann es einfach nicht. Du weißt, ich würde alles für dich tun. Aber das – das ist mir unmöglich.« Sie dachte einen Moment nach und sagte dann scheu: »Könntest du nicht so tun, als ob – dir vorstellen, ich wäre ein Junge?« Sie kehrte ihm den Rücken zu und kuschelte sich an ihn. Rouleau stöhnte leicht auf, rutschte von seinem Kopfkissen -577-
herunter, um sich seinerseits an sie zu schmiegen und die Arme um sie zu schlingen – doch das nur an der Hüfte; er gab sich größte Mühe, nichts spürbar Weibliches an ihr zu berühren. »Und jetzt«, sagte Sarah leise, »versuch, dir vorzustellen, ich wäre jemand ... den du ... den du vorziehen würdest.« Sie langte nach hinten, um ihn zu packen, doch er wich erschrocken zurück. »Tu das nicht, bitte. Deine Hand ist allzu offenkundig die Hand einer Frau. Nicht mal reden solltest du. Ich werde ... ich will’s versuchen ...« Bis auf das Quietschen des Bettes war lange nichts zu hören. Sarah versuchte mit zaghaften Bewegungen ihres Hinterteils, Rouleau zum Erwachen dessen anzuregen, was sich partout nicht aufrichten wollte. Sie fühlte zwar, wie er anfing zu schwitzen, doch sonst nichts. Schließlich brach er das Schweigen. »Es hat keinen Zweck, Sarah. Es tut mir wirklich leid ...« »Vielleicht, wenn ich dies täte?« sagte sie und rutschte im Bett tiefer hinunter. Ihre Stimme kam jetzt gedämpft unter der Bettdecke hervor, als sie sagte: »Jungs tun dies, nicht wahr?« Leise entrang sich Rouleau wieder ein Stöhnen, aber er ließ sie gewähren. Und sie versuchte es mit Leidenschaft, Energie, Können und Ausdauer – doch vergeblich. »Je suis desole, Sarah. Es ist hoffnungslos.« Nach einem Moment, immer noch unter der Bettdecke, sagte sie demütig: »Würdest du ... würdest du das ... bei mir machen?« »Nein!« sagte er und zog sich heftig von ihr zurück. »Das versuch’ ich nicht einmal! Tut mir wirklich leid, Sarah, aber ich weiß genau, ich müßte mich übergeben. Und du würdest dir mehr denn je rejetee vorkommen.« Wie ein waidwundes Tier kroch sie im Bett wieder nach oben und bettete den Kopf auf das zweite Kissen. -578-
»Würdest du mich dann bloß in den Arm nehmen? Nichts weiter. Mich nur in den Arm nehmen, bis wir einschlafen?« Er tat ihr den Gefallen, freilich auch jetzt bemüht, nichts betont Weibliches zu berühren. Der Raum lag ganz im Dunkel; die Küchenhilfen hatten ihre Aufräumarbeit für den Abend beendet und alle Lichter gelöscht. Doch Sarah machte kein Auge zu. Sie lag immer noch hellwach da, als die Dunkelheit sich gegen Morgen etwas aufhellte und das Klappern und Klirren von Töpfen und Geschirr wieder einsetzte; die Köche kamen zurück, um das Frühstück der Gäste zu bereiten. Rouleau hatte die Arme immer noch um sie geschlungen, so daß sie sich aus lauter Rücksichtnahme nicht rührte, bis er endlich aufwachte, und das geschah ziemlich spät. So kam es, daß Clover Lee, als sie dabei war, sich am üppig gedeckten Büffet den Frühstücksteller vollzuhäufen, naiv zu dem neben ihr stehenden Florian sagte: »Mutter hat nicht in unserem Zimmer geschlafen. Ist sie bei dir gewesen?« »Hm ... nein ...«, sagte Florian. »Nein, heute nacht nicht.« Die Frage hatte ihn unvorbereitet getroffen, sonst hätte er unverfänglicher reagiert; denn Pfeffer und Paprika standen in der Schlange der nach dem Frühstück Anstehenden direkt hinter ihm. Das Gesicht verzerrt, flüsterte Pfeffer Paprika etwas ins Ohr, doch Paprika sagte: »Du weißt genau, wo ich war. In unserem Zimmer und in unserem Bett. Weißt du nicht mehr? Wir haben uns geküßt und es miteinander getrieben. Fünf- oder sechsmal, und es war wunderschön.« Diplomatisch schoben Florian und Clover Lee ab und setzten sich an einen der entfernteren Tische. Mit gepreßter Stimme sagte Pfeffer: »Und du weißt verdammt gut, wie tief ich hinterher immer schlafe. Du hättest überallhin gehen können, du Nutte!« »Mach jetzt keine alberne Szene, kedvesem. Ich geh’ doch -579-
nicht mitten in der Nacht auf ...« »Och, du genierst dich ja nicht einmal, dich bei hellichtem Tag an sie ranzumachen. Aber fragen wir sie doch selbst. Da kommt unser kleines Luder ja.« Sarah kam mit auffällig roten Augen und zerzaustem Haar in den Speisesaal. Pfeffer schoß auf sie zu und wollte wissen: »Wo hast du denn geschlafen, wenn nicht dort, wo du hingehörst?« Bissig versetzte Sarah: »Das geht dich überhaupt nichts an!« und machte einen Bogen um sie. Pfeffer zischte, knirschte mit den Zähnen, drehte sich um und warf mit dem Teller – ob auf Sarah oder auf Paprika, war nicht zu sagen, denn sie verfehlte ihr Ziel. Ein argloser Mailänder Vertreter, der nur ein bescheidenes Frühstück zu sich nahm, das aus einem butterbestrichenen Panino, Marmelade und Kaffee bestand, hatte plötzlich eine heiße Wurst und eine Portion Rührei auf dem Schoß. Er sprang auf und schrie: »Fregna! Sono fottuto!«, doch Pfeffer war bereits hinausgestampft. Sie ließ sich nicht wieder blicken – obwohl Paprika überall nach ihr suchte –, bis die Kapelle ihre Instrumente für die Nachmittagsvorstellung stimmte. Da kamen Pfeffer und Yount, einträchtig Arm in Arm inmitten der Schar derer, die sich dort drängten, auf den Sportplatz spaziert. Yount hatte ein gerötetes Gesicht und eine gleichfalls gerötete Glatze, sein Bart war ein wenig in Unordnung. Pfeffer sah nicht mehr wütend aus, sondern heiter, und das Mieder ihres grünen Straßenkleids war hier und da an den falschen Stellen zugeknöpft. »Pep!« schrie Paprika, und es war fast wie ein Aufschluchzen. »Beeil dich! Wir haben wieder ausverkauftes Haus! Du hast ja kaum noch Zeit, dich für die Parade umzuziehen.« Younts rosiges Gesicht verfärbte sich tiefrot, und er sagte: »Je nun, das ist wohl ein löblicher Zug an einer Frau – Pünktlichkeit.« »Papperlapapp, ich bin immer schnell gekommen. Und oft«, -580-
sagte Pfeffer, während Paprika entsetzt die Augen aufriß. »Obie, Macushla, möchtest du vor mir in die Garderobe?« »Das brauch’ ich nicht, Miss Pfeffer. Ich brauch’ja bloß meine Sachen auszuziehen. Mein Leopardenfell habe ich unter ...« »Daß ich das vergessen konnte!« Sie kicherte lüstern. »Ach, was soll’s. Dann vorläufig tooraloo, mein Lieber, bis zum nächstenmal.« Yount machte einen beschwipst beschwingten Eindruck, als er abzog, und Pfeffer trippelte unbekümmert die kleine Treppe des Garderobenwagens hinauf. Paprika folgte ihr. »Du hast mich bloß in Atem gehalten und mich quälen wollen, nicht wahr, Pep? Das ganze war szinleles – nur gespielt – nicht wahr?« Pfeffer murmelte, allerdings nur für sich selbst bestimmt: »Musah, schau mich an. Bin ich den ganzen Weg bis zum Hotel so rumgelaufen so unkorrekt gekleidet?« Sie knöpfte sich das Mieder auf. »Pep! Sag mir, daß nichts an alledem dran ist. Daß du nichts mit diesem schwerfälligen Stiesel hast!« Jetzt endlich sah Pfeffer sie an. »Nee, statt dessen werd’ ich dir eine alte Geschichte erzählen, wie die Kesselflicker sie erzählen. Kommt so ein Jack zu Biddy Early, verstehst du, und bittet die Hexe um einen Talisman, der dafür sorgt, daß seine hübsche Frau ihm treu bleibt. Biddy sagt ihm, er habe so was ja schon. Fragt Jack, was denn? Erklärt sie ihm, einen Zauberring. Fragt unser Jack, wo denn? Sagt Old Biddy: zwischen den Beinen deiner Frau. Solang du deinen Finger in dem Ring drin hast, wird dir niemand die Hörner aufsetzen.« »Ach, Pfeffer, Liebling, ich bin dir nicht untreu gewesen. Höchstens geflirtet hab’ ich mal. Und auch das, seit ich dich kenne, nie mit einem Mann.« -581-
»Soll ich dir dann sagen«, erklärte Pfeffer und entledigte sich mit aufreizender Langsamkeit ihres letzten Kleidungsstücks, »was dir da entgangen ist?« »Pep, du hast es nicht getan!« Schweigen. »Oder doch?« Schweigen, während Pfeffer mit aufreizenden Bewegungen in ihr Trikot stieg. »Du hast ihn nur an der Nase herumgeführt«, sagte Paprika hoffnungsvoll. »Sag bloß nicht, du hast ihn tatsächlich einfädeln lassen!« »Immer wieder. Er wird nicht umsonst Bebenmacher genannt.« Paprika brach in Tränen aus. »Du hast geschworen, nie würdest du ...« »Unsinn, jetzt werde bloß nicht hysterisch. Es war nicht so schrecklich wie das einzige andere Mal, daß ein Mann mich genommen hat. Davon habe ich dir ja erzählt. Wie mein Onkel Pete Robie mir den Rock meines Schulkleids über den Kopf zog und mich aufspießte wie ein Brathühnchen – und das noch dazu im falschen Loch, so blöde war der. Aber mit dem lieben Obie, naja, ich weiß nicht, aber vielleicht lerne ich sogar noch, größeren Gefallen dran zu finden, es richtig zu machen ...« Mit diesen Worten rauschte sie zum Garderobenwagen hinaus und ließ die in Tränen aufgelöste Paprika zurück. So kam es, daß Paprika die Parade schwänzte. Sie schämte sich, ihr gedunsenes Gesicht und das ruinierte Makeup zu zeigen. Was ihr eine tüchtige Schelte Florians eintrug – der noch eine zweite folgte, als sie steif wie ein Roboter ihre Perchenummer vorführte. Nachdem das Nachmittagspublikum sich im schwindenden Tageslicht verloren hatte, beschäftigten sich die meisten Artisten -582-
und die Böhmen damit, ihre Geräte samt Zubehör zu überprüfen und die Tiere zu versorgen. Autumn hingegen sagte zu Edge: »Hast du Lust mitzukommen, Zachary? Bum-Bum spannt mein Seil zum Probieren noch mal auf, und ich möchte dir gern was zeigen.« Er betrat zusammen mit ihr das Chapiteau. Oben auf dem Orchesterpodium brachte Dai Goesle ein paar Klavierlampen an, die er in einem Laden am Lungarno gekauft hatte. Keiner der Bläser brauchte sie eigentlich, denn außer Bumbum-Beck konnte keiner Noten lesen. Aber Magpie Maggie Hag hatte für den Kapellmeister eine Uniform geschneidert, die ihn eindrucksvoll erscheinen ließ wie einen Feldmarschall, und nun wollte er, daß man ihn auch sah. Beck jedenfalls war in diesem Augenblick sichtbar, trug allerdings Arbeitskleidung. Er hatte zusammen mit ein paar Böhmen das Ende von Autumns Seil von dem mit dem weißen Orientierungspunkt markierten Hauptmast abgehakt, es schräg bis zur Manege hinuntergeführt und befestigte dieses Ende jetzt an einem kräftigen Anker. »Ich möchte mit Monday und Sunday den Aufstieg am Schrägseil üben«, sagte Autumn. »Wenn wir nach Florenz kommen, sollten sie eigentlich soweit sein, ihr Debüt geben zu können. Aber was ich dir zeigen wollte, ist etwas anderes ... Jedesmal, wenn ich da oben auf dem Seil stehe und runterschaue, sehe ich dich blaß und völlig verkrampft zu mir raufsehen. Da habe ich mir gedacht, wenn du einfach mal mit mir bis zu der Plattform hinaufklettertest« – sie zeigte auf die Strickleiter mit den eingearbeiteten Holzsprossen –, »könnte dir das vielleicht etwas von deinen Ängsten nehmen.« »Schön. Ja, vielleicht nützt das was.« »Dann klettere rauf! Ich komm’ hinterher.« Edge schickte sich an, die Strickleiter hinaufzusteigen, wie er es bei jeder Holzleiter getan hätte. Doch kaum hatte er mit beiden Händen und beiden Füßen an den Sprossen Halt -583-
gefunden, fuhr die Leiter abrupt schräg nach außen, so daß er nahezu horizontal dahing. So saß er, wie er nun feststellte, regelrecht fest, und war außerstande, weiterzuklettern; es war so, als versuchte er die Unterseite einer Leiter hochzuklettern. Autumn lachte nachsichtig und sagte: »Doch nicht so! Es gehört schon ein gewisser Kniff dazu. Spring noch mal runter, und ich zeig’s dir.« Schamrot im Gesicht, tat er, wie ihm geheißen, und paßte auf, wie sie es ihm vormachte. »Praktisch kletterst du seitlich rauf, siehst du? Das Seil gegen den Körper gedrückt, Hände und Füße seitlich davon auf die Sprossen stellen.« Sie huschte so schnell und so behende hinauf wie ein Affe, obwohl sie sonst überhaupt nichts von einem Affen hatte. »Und jetzt du!« rief sie von der kleinen Plattform herunter. Edge folgte ihrem Beispiel, allerdings langsam und immer noch ungelenk; er hatte das Gefühl, sein Gewicht plötzlich verdoppelt zu haben. Er war so darauf konzentriert, Hände und Füße abwechselnd auf die Sprossen zu setzen, daß er erst nach unten schaute, als er oben auf der kleinen Plattform neben Autumn stand – und entsetzt zurückwich. Den Mast hinter sich mit den Händen umklammernd, rief er: »Himmelherrgott, Weib! Das ist ja, als schaute man in einen Abgrund. Von hier sieht es verdammt viel höher aus als von unten, und das hat mir schon gereicht!« »Ach, du liebes bißchen! Und ich hatte gehofft, dir die Angst nehmen zu können.« »Und jetzt schau mal dort drüben rüber!« sagte er von einem heiligen Schrecken gepackt. »Du mußt von hier bis zu dem Mast mit dem weißen Punkt rüber! Das sieht so breit aus wie der Mississippi.« »Müssen tu’ ich gar nichts. Ich tu’s bloß, weil ich Talent dafür habe. Weil es das ist, was ich am besten kann.« »Das ist doch nun glatt gelogen!« sagte Edge und entspannte sich ein wenig. »Da kann ich eine ganze Menge anderer Dinge -584-
aufzählen, die du ...« »Zachary!« »Aber das stimmt doch! Na schön, du hast mich hier raufgeholt, und ich hab’s mir angesehen. Deshalb kann ich dir aber noch immer nicht versprechen, daß ich ungerührt und abgebrüht zuschauen kann, wie du hier oben rumturnst. Es ist doch bloß, daß ich dich liebe, und mir deshalb Sorgen um dich mache. Aber wie du gesagt hast, es ist deine Arbeit und deine Kunst.« »Und mein Vergnügen. Hier oben – insbesondere, wenn plötzlich die Musik aussetzt, die Leute nach und nach still werden und die Spannung immer größer wird – ich denk’ weder an die Gefahr noch an die große Höhe, noch daß ich präzise und vorsichtig sein muß. Mein Körper vollführt von ganz allein die Bewegungen – ich selbst tue nichts weiter als lauschen. Hier oben klingt jedes Gemurmel unsäglich süß. Horch doch mal, Zachary. Hörst du? Die Leinwand über uns rauscht ganz leise, die Absegelungen summen, und sogar der Mast selbst vibriert, um sanft zu singen ...« »Autumn, meine Liebe zu dir ist viel zu groß, als daß ich zulassen könnte, wie du dir Sorgen darüber machst, daß ich mir Sorgen mache. Viel zu groß, jemals irgend etwas zu tun, das dich behindern oder gar zurückhalten könnte. Das werde ich bestimmt niemals tun. Keinerlei Bedingungen, kein du sollst nicht, keine Einmischung.« »Du bist wirklich ein rücksichtsvoller Liebhaber. Vielleicht liebe ich dich gerade deshalb.« »Im Moment ist diesem Liebhaber ein bißchen schwindlig. Muß ich genauso wieder hinunterklettern, wie ich heraufgekommen bin?« »Genauso. Füße und Hände an gegenüberliegenden Seiten der Leiter.« Als sie wieder unten waren und Autumn gegangen war, um -585-
sich zur Probe umzuziehen, blieb Edge noch da. Als außer den Böhmen niemand sonst im Großzelt war, kletterte er die Leiter mehrere Male hinauf und wieder hinunter. Hurtig wie ein Affe würde er es zwar niemals schaffen, zu diesem Schluß kam er, aber zumindest schaffte er es jetzt besser als das erstemal. Draußen, vorm Zelt, stieß Paprika auf Sarah, die nicht weit von Florian auf und ab ging, der sich mit einem wohlgekleideten Fremden unterhielt. »Sarah, kedvesem«, sagte Paprika. »Pfeffer und ich haben uns nun endgültig getrennt. Ich habe im Hotel ein eigenes Zimmer genommen. Vielleicht kann ich dich jetzt bewegen ...« »Pst!« sagte Sarah ärgerlich. »Florian hat einen erlauchten Besucher. Ich versuche mitzubekommen, worüber sie reden.« Der Fremde sagte gerade: »... älterer Bruder ist selbstverständlich der Direktor, doch ich bin der einzige Bruder, der englisch spricht. Und nach den Affisi, die wir gelesen haben – ›Konföderierter amerikanischer Circus‹ –, müßten Sie selbst eigentlich Amerikaner sein.« »Ihr Besuch ehrt mich, Signore. Während meiner früheren Aufenthalte in Europa habe ich nie das Glück gehabt, Ihrem Circus oder jemand aus Ihrer Familie zu begegnen. Wir können auch italienisch sprechen, wenn Ihnen das lieber ist.« »Nein, nein, sta bene. Es ist gut, wenn ich mein Englisch ein wenig übe. Ihre Vorstellung hat mir gefallen, Signor Florian. Klein, aber gut aufgezogen und pieno di energia – wie sagt man das? Voller Wumm?« »Das hier ist unser Sprechstallmeister, Signore«, sagte Florian, als Edge sich zu ihnen gesellte. »Außerdem ist er unser Tiratore und Kunstreiter, wie Sie gesehen haben. Darf ich vorstellen? Signor Orfei, Colonel Edge.« Die beiden Männer verneigten sich und schüttelten sich die Hand. Florian fuhr fort: »Von einem Mitglied der berühmten Familie Orfei besucht zu werden, ist Kompliment genug. Daß Sie uns überdies auch noch -586-
ein Kompliment machen, das ist wirklich ein großes Lob.« Der Besucher sagte: »Es ist immer gut, die pesare – zu gewichten? sagen Sie so – jedenfalls, sich darüber im klaren zu sein, wie gut die Konkurrenz ist ...« »Jetzt schmeicheln Sie uns«, sagte Florian, »für ein Unternehmen wie den CIRCO ORFEI sind wir doch kaum eine Konkurrenz. Ihr Unternehmen muß der älteste Circus in ganz Europa sein – jedenfalls derjenige, der am längsten ununterbrochen existiert hat.« »Davon gehen wir aus. Es sind heute über hundertdreißig Jahre her, daß ein Orfei – ein Monsignore der Heiligen Kirche, können Sie sich das vorstellen? – sich in ein Zigeunermädchen verliebte, seine Gelübde brach, die geistliche Tracht ablegte und mit ihr durchbrannte. Unterwegs spielte er die Flöte, und sie tanzte für Kupferlinge, die man ihnen hinwarf. Bis sie sich mit anderem fahrenden Volk zusammentaten. Aber über viele Jahrzehnte hinweg, Signor Florian, war der CIRCO ORFEI auch nichts weiter als ein Zug von Zigeunerwagen – ein viel kleinerer, als es jetzt der Ihrige ist.« »Eine erbauliche Geschichte, Signore«, sagte Florian. »Aber ich warne Sie. Ich hoffe, es dem ORFEI an Größerwerden und Erfolg gleichzutun.« »Da wünsche ich Ihnen buona fortuna. Manche Circusinhaber fürchten die Konkurrenz und bekämpfen sie. Ich persönlich glaube, je mehr und je bessere Circusse es gibt, desto mehr wollen die Leute sie sehen, genießen und Vergleiche unter ihnen anstellen. Ich bin nicht hergekommen, dessen möchte ich Sie versichern, Sie davon abzuhalten, mit uns zu wettteifern. Wir gastieren im Moment in Lucca, keine zwanzig Kilometer von hier entfernt, und so statte ich einem Kollegen nur einen Höflichkeitsbesuch ab.« »Vielleicht möchten Sie sich umsehen? Dem Colonel und mir würde es ein Vergnügen sein, Sie herumzuführen.« -587-
»Grazie, aber ich habe meinen Rundgang bereits gemacht – sconosciuto. Auf diese Weise sieht man am meisten. Und eines ist mir selbstverständlich sogleich aufgefallen. Sie haben überhaupt keine teloni del giro.« Florian erklärte Edge, was es damit auf sich habe: »einen hohen Zaun oder eine Abschirmung um den gesamten Zeltplatz herum.« Und zu Orfei gewandt, sagte er: »Mir ist die europäische Sitte bekannt, jedem, der nicht zahlt, den Einblick zu verwehren. Das jedoch sollte man lieber in Amerika machen; denn dort sind die Einheimischen von einer unbezwinglichen Neugier. Hier in Europa sind die Leute höflicher und stecken ihre Nase nicht in die Privatangelegenheiten des Circusvölkchens. Falls mir so ein Sichtschutz notwendig erscheint, werde ich ihn aufrichten. Aber bis jetzt haben viele andere Dinge Vorrang.« »Senz’altro. Si capisce.« Orfei stützte sich mit beiden Händen auf den Elfenbeingriff seines Ebenholzstöckchens. »Wo ich schon mal hier bin. Signori, dürfte ich Ihnen eine Frage stellen? Ihre Funambola, die Signorina Autumno, hat sich beim CIRCO ORFEI beworben. Selbstverständlich möchte ich Sie nicht Ihrer zugkräftigsten Nummer berauben. Doch wenn die Signorina immer noch den Wunsch hat ...« Edge nahm eine abwehrende Haltung ein, doch Florian kam ihm zuvor und sagte: »Das glaube ich nicht, Signore. Es ist nämlich so, daß sie und Colonel Edge hier – hm – einander so nahe gekommen sind wie Ihr abtrünniger Ahn und das Zigeunermädchen.« »Aber sie ist nicht mein Eigentum«, sagte Edge. »Sie können sie ruhig selbst fragen, und unter vier Augen.« »Nein! Niemals! Colonello, ich bin schließlich Italiener. Bitte, vergessen Sie niemals Romeo e Giulietta, Dante e Beatrice, Monsignore Orfei e la zingara. Sich in eine Liebesgeschichte einmischen? Da könnte ich mich in Italien nie wieder hoch -588-
erhobenen Hauptes sehen lassen.« »Sehr verbunden«, murmelte Edge. »Ehrlich gesagt, Signori, ist unser Programm schon ein bißchen übervoll. Mein älterer Bruder ist manchmal allzu begeistert beim Einstellen, und viel zu gefühlsbetont, um jemand rauszuwerfen. Allerdings, einer unserer Trapezkünstler – sein Vertrag wird bald auslaufen, und ich meine, er hätte nichts dagegen, sich zu verändern.« Florian sagte: »Ich wäre mehr als erfreut, eine Trapeznummer zu haben, aber wir haben kein Gerät dafür.« »Maurice Levie – er ist Franzose, aber er spricht sowohl italienisch als auch englisch –, Maurice besitzt sein eigenes Trapez. Verchromt. Wunderschön. Und hat auch ein eigenes Pferd sowie einen Wagen, es zu transportieren.« Florian pfiff bewundernd durch die Zähne. »Könnte ich ihn mir leisten?« »Hundertfünfzig Lire pro Woche.« Abermals pfiff Florian durch die Zähne, diesmal allerdings weniger bewundernd. »Dreißig Dollar! Das ist doppelt soviel, wie ich unserem Sprechstallmeister hier zahle.« Edge sagte: »Das sollte Sie nicht bekümmern. Eine gute Trapeznummer sollte uns das mindestens wert sein, wenn nicht sogar mehr. Und ich würde es ihm nicht übelnehmen, wenn er mehr verdiente als ich. Ich bin einmal oben im Zelt gewesen, und ich will verdammt sein, wenn ich da oben für noch soviel Geld durch die Luft wirbele.« Orfei sagte: »Vielleicht tun Sie beide – und auch noch andere Mitglieder Ihrer Truppe – uns die Ehre an, uns in Lucca zu besuchen. Maurice schließt die erste Hälfte unseres Programms ab, kommt also kurz vor der Pause. Sie können ihn sich ansehen und sich selbst ein Bild davon machen, ob er Ihnen soviel wert ist – und können noch am selben Tag zurück sein.« -589-
»Keine schlechte Idee«, sagte Florian. »Wenn wir hier in Pisa unsere Zelte abbrechen, müssen wir sowieso einen Tag Pause einlegen, um ein paar notwendige Renovierungsarbeiten durchzuführen. Vielen Dank für die Einladung, Signor Orfei. Der Colonel, ich und unser Leiter der Sideshow werden Sie in Lucca besuchen.« Alles in allem gastierte der Circus FLORILEGIUM nur zehn Tage in Pisa, war aber keineswegs das, was man in Amerika einen Bloomer oder in Europa eine Bianca genannt hätte. Alle Vorstellungen waren gut besucht und nicht selten mußten Zuschauer abgewiesen werden. Offensichtlich kam jeder Pisaner einmal in den Zirkus, dazu jeder Tourist und Durchreisende – doch bei dem beträchtlich vergrößerten Fassungsvermögen des Chapiteau reichten zehn Tage durchaus, sie alle einmal als Gast zu haben. In dieser Zeit kam es im Circus weder zu Unfällen noch internem Streit, auch wenn jeder merkte, daß Sarah Paprikas Gesellschaft mied und Paprika und Pfeffer, außer bei der Vorstellung, einander völlig aus dem Weg gingen. Dann, bei der Abendvorstellung des zehnten Tages in Pisa, war das Zelt nur zu zwei Dritteln besetzt – und zwar zumeist, wie Banal erklärte, von Gästen, die bereits zum zweiten Male kamen. Florian gab Anweisungen, noch am selben Abend mit dem Abbau zu beginnen. In der Frühe des nächsten Tages lag das gesamte Zeltdach flach auf dem braunen, zertretenen und sägemehlbestäubten Grasoval, wo es zuvor gestanden hatte. Stitches lief barfuß darauf herum, zog Kreidestriche über die Leinwand, um den gleichfalls barfüßigen Böhmen, die mit grünen, und weißen Farbtöpfen warteten, klarzumachen, wo und was sie streichen sollten. »Ich verwende nur die dünnstmögliche Tünche«, erklärte Goesle denjenigen von der Truppe, die zusahen, »damit die Flexibilität des Gewebes erhalten bleibt, und nicht das Glühen abgeschwächt wird, wenn das Zelt nachts von innen beleuchtet ist. Außerdem ist die Farbe dann bis morgen trocken.« -590-
Edge spannte Snowball vor die Kutsche, und Florian und Fitzfarris rollten zusammen mit ihm in flottem Trab die Straße nach Lucca dahin. Diese Landstraße wurde zu beiden Seiten von gewaltigen Kastanienbäumen gesäumt, die ihr Laub bereits abgeworfen hatten, so daß ihr Astwerk, das sich über der Straße traf, den Spitzbogen und dem Kreuzgewölbe einer Art kirchlichen Bauwerks ähnelten. Außerdem schälte sich die Borke von den Stämmen der Kastanienbäume und rollte sich zusammen wie eine Fülle sich aufrollender Bilder. Hinter den Bäumen war das Land zwar immer noch flach, doch bestand es nicht mehr nur aus Stoppel- oder Rapsfeldern wie die Gegend zwischen Livorno und Pisa. Es gab Haine mit knorrigen Olivenbäumen sowie Weingärten mit Rebstöcken, die ähnlich knotig und verdreht aussahen wie diese. Fitzfarris sagte: »Wenn jemand mich aufforderte, eine bündige Beschreibung Italiens abzugeben, würde ich sagen, es ist ein knorriges Land.« »Ach, Sie werden noch viele höchst unterschiedliche Landstriche kennenlernen, ehe wir Italien den Rücken kehren«, sagte Florian. »Baumwollfelder wie in Alabama, Steinbrüche wie in Vermont, Bergwerke wie in Minnesota, Reisfelder wie in Louisiana, Wälder wie in Virginia, schneebedeckte Adirondacks ...« Sie fanden den CIRCO ORFEI. Er hatte sich auf einem Campo Sportivo breitgemacht, der dem pisanischen fast aufs Haar glich und zwischen zwei vorspringenden Bastionen in die alte Stadtmauer Luccas eingebettet war. Die Nachmittagsvorstellung sollte in wenigen Augenblicken beginnen, und Florian trieb Edge und Fitz die Zugangsstraße zum Haupteingang entlang, die von einer Reihe von Bretterbuden gebildet wurde, über denen schamlos übertrieben und mit dichterischer Freiheit die Attraktion en aufgezählt wurde, welche die Zuschauer im Inneren erwarteten: La Dama Obesissima, Ercole il Potente, Il Ragazzo Pinguino ... -591-
»Extrem dicke Dame, Herkules, der Pinguinjunge«, übersetzte Florian, als sie daran vorüberkamen. »Vermutlich eines von diesen bedauernswerten Geschöpfen, die mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern auf die Welt gekommen sind.« Das Zelt des ORFEI war nicht größer als das des FLORILEGIUMS. Im Unterschied zu diesem war es jedoch mit farbenprächtigen Sternen bemalt und nicht nur an den Hauptmasten mit langen schwalbenschwänzigen Doppelstandern geschmückt, sondern zusätzlich an sämtlichen Rondellstangen mit lustigen Dreieckswimpeln. Außer dem Chapiteau gab es noch andere, kleinere Zelte, von denen die beiden auffallendsten mit prächtigen Bannern geschmückt waren: auf ihm stand das Wort »Serraglio« – ›Serail‹ oder ›Harem‹ – umgeben von einer Reihe von Tierbildern; das andere zeigte eine von wehenden Schleiern kaum verhüllte Tänzerin sowie die Worte Ballo del Tamburello – ›die TamburinTänzerin‹. »Menagerie und Variete«, sagte Florian. »Und beim Variete handelt es sich bestimmt um ein Ballett leichtgeschürzter Mädchen nur für Männeraugen.« Die kleineren Zelte trugen alle nur gleichlautende kleine Schilder: E vietato l’ingresso. »Eintritt verboten«, übersetzte Florian. »Das Garderobenzelt der Truppe, Kochzelt, Schmiede und was es sonst noch so gibt. Und da drüben sogar Aborte fürs Publikum.« Er zeigte auf zwei neben dem Zirkuszelt stehende, unauffällige Bretterverschläge mit der Aufschrift Donne und Uomini. Hinter dem Großzelt und noch hinter den kleineren Zelten mit der Aufschrift ›Eintritt verboten‹ standen Zigeunerwagen, ähnlich dem von Autumn, bunt durcheinander; aus ihren kleinen Blechschornsteinen kräuselten sich Rauchwölkchen. »Nicht gerade klein!« murmelte Edge. »Nur nicht einschüchtern lassen, Jungs!« sagte Florian. -592-
»Eines Tages werden wir auch so groß sein. Größer sogar noch.« Am Eingang nahm ihnen ein hochmütiger Harlekin die Eintrittskarten ab, und eine nicht minder hochmütige Colombine reichte jedem von ihnen ein mehrere Seiten langes, schön gedrucktes Programm. Fitzfarris sah sich dieses aus verständlicher Neugier genau an; ihm fiel auf, daß es Anzeigen einer ganzen Reihe von Läden und Dienstleistungsbetrieben aus Lucca enthielt. Wie in ihrem eigenen Zelt betraten Florian, Fitz und Edge dieses durch den unter dem Musikpodium gelegenen Eingang, wobei die Kapelle des ORFEI dreimal so groß war wie die, über die Beck gebot; die Musiker waren uniformiert wie die Schweizer Garde. Für den Einzug des Circus spielten sie ein Potpourri flotter Märsche. »Nun seht euch das an!« sagte Fitzfarris bewundernd, als sie ihre numerierten Klappstühle fanden. »Der Sattelplatz ist mit Samtvorhängen verschlossen wie beim Theater.« Die Parade, die ihnen daraus entgegenkam, war womöglich noch prachtvoller als alles andere. An der Spitze kam der Sprechstallmeister, freilich nicht bunt herausgeputzt, sondern mit einem korrektem Reitdreß angetan: Glänzender Zylinder, rosa abgefütterter Frack, gut geschnittene Reithosen und blitzblank gewienerte Reitstiefel. Neben den vielen Artisten, die im Zug mitmarschierten – und mit Paillettenflitter, üppigen Straußenfedern oder viel zu weiten Kleidungsstücken ausstaffiert waren, die ihnen um die Glieder schlotterten –, gab es vier Elefanten, zwei Kamele, zwanzig oder noch mehr schabrackengeschmückte und federbuschtragende Dressurpferde, einen Löwen, einen Tiger und einen Leoparden, wobei jede Raubkatze einen eigenen Käfigwagen hatte. Es gab aber auch einen keinem besonderen Zweck dienenden Schauwagen, reich geschnitzt und vergoldet, mit gemalten Panoramaszenen und Kulissen, auf denen Ereignisse wie ›Kolumbus entdeckt die Neue Welt‹, ›Marco Polo entdeckt -593-
China‹ ebenso dargestellt waren wie insbesondere für Italien interessante Höhepunkte der Geschichte bis zurück zu Cäsar, wie er Britannien ›entdeckt‹. Den Schautafeln zufolge waren Kolumbus, Marco Polo und Cäsar in jedem neuen Land von Scharen nur spärlich in Gaze gekleideter eingeborener Frauen begrüßt worden. Edge stand auf, um gerade auf diese Wagen einen bessern Blick werfen zu können, als sie die entferntere Biegung der Manege umrundeten. Die Innenseiten bestanden aus nichts weiter denn aus Maschendraht und Leisten sowie fünf mal zehn Zentimeter starken Eckpfosten. »Das ist allgemein üblich«, sagte Florian. »Die Truppe eines jeden Circus bewegt sich bei der Parade entgegen dem Uhrzeigersinn außen um die Manege herum. Wozu deshalb Arbeit und Geld verschwenden, auch noch die linke Wagenseite zu verschönern?« Die letzte Gruppe verschwand gerade durch den Auftritt, als – seitlich von ihnen – die ersten Artisten hervorsprangen und eine Wirbelnummer ohnegleichen vorführten. »I Saltimbanchi Turchi«, sagte der Sprechstallmeister sie mit dröhnender Stimme an, ›Die türkischen Seiltänzer‹ – ehe die Kapelle womöglich noch lauter dröhnend die Ouvertüre zu Rossinis ›Il Turco in Italia‹ herunterblies. Signor Orfei hatte den ›gut organisiertem Programmablauf‹ beim FLORILEGIUM gelobt, doch dieser hier war das in weit größerem Maße. Allerdings, bei soviel Gebotenem mußte es einfach wie geschmiert laufen und erforderte eine entsprechend straffe Organisation. Während die Artisten einer Nummer sich zum Applaus verneigten, waren ein anderer Akrobat oder eine andere Gruppe bereits dabei, sich zu produzieren. Neidisch, doch deswegen nicht weniger genau, sah Edge zu, und nahm sich vor, sich etliches zu merken, während der Sprechstallmeister kühl und immer verbindlich diese Fülle von Menschen und Tieren dirigierte und auch noch dafür sorgte, daß Versatzstücke und Geräte von den Requisiteuren hereinund wieder hinausgeschafft wurden, die alle ebenso -594-
zweckdienlich wie unaufdringlich in schwarze Overalls gekleidet waren. In der gesamten ersten Hälfte des Programms gab es keine geschluderte und keine langsame Nummer. Sogar die vier Elefanten kamen im Trott und ohne Dompteur in die Manege und führten munter ihre Kunststücke vor, in denen Kraft sich mit Harmonie paarte, und das alles ohne jeden Befehl außer dem gelegentlichen Knallen der Peitsche des Sprechstallmeisters. Dem Anschein nach aus eigenem Antrieb schlossen sie mit der dramatischen Kette, bei der der Anführer sich auf die Hinterbeine stellte, während die hinter ihm kommenden dem vor ihm gehenden die Vorderbeine über den Rumpf legten, ein jeder von ihnen den Rüssel ringelte und alle zugleich durchdringend trompeteten. Während dies geschah, lockerten die Manegenarbeiter die Seile, von denen an der höchsten Stelle der Zeltkuppel das glänzende vernickelte Trapez des »Signor Maurice, l’intrepido acrobato aerobatico Francese«, also des unerschrockenen französischen Trapezakrobaten Maurice, herunterbaumelte und ein kleiner brünetter Mann in die Manege sprang. Er war in einen scharlachroten Umhang gehüllt, den er schwungvoll abnahm und in der Luft herumwirbeln ließ. Der Mann war überschlank, fast schon dürr zu nennen, und sein Trikot war über und über mit blauem Flitter bedeckt. Glitzernd hangelte er sich die Strickleiter hinauf und tat das nicht minder behende und hurtig als Autumn. Zu Florian gewandt, sagte Edge: »Er hat ja zwei Trapeze da oben! Wie will er sie denn beide nutzen?« »Wann haben Sie das letztemal eine Trapeznummer gesehen, Zachary?« »Wenn ich das wüßte! Irgendwann vorm Krieg muß das gewesen sein.« »Ah, dann steht Ihnen was bevor! Seither hat Monsieur -595-
Leotard in Frankreich die Kunst revolutioniert, und jeder andere Trapezkünstler in der Welt versucht, ihm nachzueifern.« Das, was Maurice LeVie an diesem Abend zeigte, war für Edge in der Tat etwas unerhört Neues, und für Fitzfarris nicht minder. Beide hatten sie zuvor die Artisten am Trapez nichts weiter vorführen sehen als Schwünge, Flanken und Überschläge, wie sie an jedem Barren möglich sind – nur, daß der Barren eben hoch oben in der Zirkuskuppel angebracht war. Zuerst zeigte auch Maurice nichts wesentlich anderes, doch dann – die Kapelle spielte Strauß’ ›Wiener Blut‹ – hängte er sich mit den Knien über die Schaukelstange, setzte diese in schwingende Bewegung, brachte sie mit jedem Schwung höher und immer höher und wurde schneller und schneller; jetzt fuhr der mit Flittern geschmückte Maurice buchstäblich wie ein Blitz hin und her. Plötzlich ließ er mit den Beinen los, flog durch die Luft – das Publikum hielt vor Überraschung die Luft an und packte mit den Händen die Trapezstange. Der Schwung brachte jetzt auch dieses Trapez zum Schwingen, und so fuhr der flitterblitzende Maurice in der Tat wie ein blauer Blitz zwischen den beiden in der Höhe hin- und herschwingenden Schaukelrecks hin und her, hielt sich manchmal mit den Händen fest, dann wieder mit den durchgebogenen Knien und manchmal sogar nur mit den Zehen. Darüber hinaus führte er im leeren Raum zwischen den beiden Schaukeln waghalsige Rollen, Schwenks und Überschläge vor, als kenne er keine Schwerkraft. Ganz am Schluß stand Maurice aufrecht, die Zehen nach außen gekehrt, so daß die Fersen sich berührten, auf einem der immer noch gefährlich hin- und herschwingenden Trapeze, hielt die Arme V-förmig über den Kopf gereckt und fuhr fort, hin- und herzuschwingen, von nichts anderem gehalten als von der Fliehkraft – und das Publikum brach in einen Sturm der Begeisterung aus. Fitzfarris rief aus: »Den müssen wir haben, Florian!« »Das werden wir auch – sofern er einwilligt. Aber gehen wir hinaus, ehe das Gedrängel einsetzt.« -596-
Während Fitzfarris sich die Attraktionen der Pausenschau ansah, suchten Florian und Edge den roten Wagen auf und trafen dort denselben Signor Orfei, den sie bereits kennengelernt hatten. Er forderte sie auf einzutreten, stellte Stühle für sie neben seinen Schreibtisch, bot ihnen Zigarren und ein Glas guten Barolowein an und sagte: »Nun? Möchten Sie Monsieur LeVie jetzt gern sprechen, Signor Florian?« »Das halte ich für überflüssig. Sein Können spricht für sich. Und er muß jetzt völlig abgespannt sein; ich möchte ihn beim Ausruhen nicht stören. Wenn Sie gestatten, würde ich nur gern einen Blick in sein Konuitenbuch werfen.« »Certo«, sagte Orfei und zog eine Schublade auf, in die Dutzende solcher Büchlein hineingestopft waren. Eines davon zog er heraus und reichte es Florian. »Nichts als Lobendes und Empfehlendes. Nicht die geringste Bemerkung, die den Mann diskreditieren könnte. Außer natürlich dies hier.« Und damit deutete er auf eine der Seiten. »Ja, selbstverständlich, das«, sagte Florian, schien dem jedoch weiter keine Beachtung zu schenken, durchblätterte rasch die Seiten und reichte das Buch dann Orfei zurück. »Haben Sie ihm gegenüber erwähnt, daß wir interessiert wären, ihn für uns zu gewinnen?« »Das habe ich, Signore – und er war begeistert. Eine Herausforderung und etwas Beglückendes würde es für ihn sein, sagte er – und dies nun sind seine eigenen Worte –, sein Trapez zu benutzen, um beizutragen, ein kleines neues Unternehmen zur Größe zu führen. Und das war weder herablassend noch egoistisch gemeint. Maurice ist wirklich ein Gentiluomo – wie würden Sie sagen? – ein jolly good fellow.« »Abgemacht, dann«, sagte Florian. »Ich gehe davon aus, daß das FLORILEGIUM in sechs oder sieben Tagen in Florenz sein wird, wo ich mir eine Gastspieldauer von mindestens drei Wochen erhoffe. Sollte Maurice es sich in der Zwischenzeit -597-
nicht noch anders überlegen, gehen wir davon aus, daß er sich dort zu einem ihm genehmen Zeitpunkt bei uns einfindet.« »Maurice wird Sie nicht enttäuschen, Signore.« »Und der CIRCO ORFEI? Wohin soll’s von hier aus weitergehen?« »Unsere nächste Station heißt Siena, dann ziehen wir für den Winter weiter nach Süden, vielleicht sogar bis nach Ägypten.« »Und nach Siena kommt Rom, wie ich annehme?« »Dio guardi, no! Zumindest werden wir erst dann wieder Rom besuchen, wenn die Stadt mit dem Rest des Königreichs Italien vereint ist. Die Provinz Rom ist der Rest des Kirchenstaates. Vielleicht aus Rachsucht oder aus Strafe sind die Behörden dort engherzig geworden und üben eine strenge Zensur aus. Sie sind regelrecht puritanisch, wenn man diesen Begriff auf die Heilige Kirche anwenden darf. Die römischen Carabinieri haben mich und meine Brüder fast ins Gefängnis geworfen, bloß weil unsere Musiker eine Uniform wie die der Schweizer Garde tragen. Glauben Sie mir, sie würden alle Ihre weiblichen Mitglieder in ganz abscheulich formlose Säcke hüllen und jeden Scherz und jeden Witz genauestens überwachen. No, no, ich kann Ihnen nur raten, Freund Florian, sich der Heiligen Stadt und ihrer Umgebung fernzuhalten.« »Vielen Dank. An diesen Rat werden wir uns halten. Obwohl das ein Jammer ist. Kaum einer von unserer Truppe ist jemals in Rom gewesen.« »Ach, gehen Sie hin. Niemand sollte es versäumen, Rom zu sehen, und Leuten, die nur die Stadt sehen wollen, tut man dort nichts. Außerdem sollte man hinzufügen, daß die Römer selbst längst nicht so scheinheilig sind wie ihre Oberen. Wenn Sie Ihr Zelt in Forano aufschlagen, eben nördlich der Staatsgrenze, und sofern Rom hört, daß Ihr Circus dort gastiert – eppur si muove – , werden die Einwohner Roms die fünfzig Kilometer Bahnfahrt auf sich nehmen, um Sie zu sehen.« -598-
»Nochmals vielen Dank, Signor Orfei«, sagte Florian und erhob sich. »Sie sind überaus hilfreich, großzügig und gastfreundlich zu uns gewesen. Ich hoffe, ich kann Ihnen das eines Tages vergelten.« »Machen Sie nur weiterhin guten Circus, Signore. Sorgen Sie dafür, daß der Circus als Institution einen guten Ruf behält. Wenn wir alle das tun, helfen wir uns alle gegenseitig.« Als Florian und Edge aus dem Kontorwagen hinaustraten, war das Publikum bereits wieder im Großzelt verschwunden, um sich die zweite Hälfte der Vorstellung anzusehen. Vorm Eingang gab es keine Gaffer mehr, nur Fitzfarris wartete dort auf sie und sagte geringschätzig: »Die Mißgeburten, die sie haben, sind wirklich nichts Besonderes. Und der Schleiertanz ist auch zahm wie sonstwas. Wir haben Mädchen, die weiß Gott hübscher anzuschauen sind.« Auf dem Rückweg nach Pisa schwiegen die drei Männer zumeist. Jeder war in Gedanken bei den Dingen, die ihm beim CIRCO ORFEI am meisten gefallen hatten, und sann nach Mitteln und Wegen, sie in die Organisation und das Programm des FLORILEGIUMS einzuarbeiten. Erst nach Einbruch der Dunkelheit waren sie wieder zurück, und da sie Goesles malerisches Werk nicht vor Tagesanbruch bewundern konnten, fuhr Florian direkt ins Hotel. Die anderen Artisten, von denen die meisten den Tag mit Einkaufen verbracht hatten, aßen zur Abwechslung einmal zu Abend und nahmen nicht, wie sonst, eine mitternächtliche Mahlzeit zu sich. Die Zurückgekehrten gesellten sich im Speisesaal zu ihnen und ließen die Programmhefte des ORFEI – Florian nannte sie ›Bibeln‹ –, herumgehen, damit die anderen sie gleichfalls bewunderten. Dann erfreuten sie sie mit Berichten über die Wunder, die sie gesehen hatten, sowie mit ihrer erklärten Absicht, in allernächster Zukunft bereits »sogar noch größer und besser als der CIRCO ORFEI« zu werden. Am nächsten Morgen zogen sie aus dem Hotel aus und fuhren -599-
mit ihrem Gepäck zum Circusplatz, wo die riesige Fläche der Zeltbahn ausgebreitet lag. Jetzt war es keine langweilige Leinwand mehr, sondern sah aus wie etwas frisch aus einem Spielzeugladen – breite grüne Streifen führten von der Höhe der Zirkuskuppel bis nach unten, wobei die Streifen oben schlanker werdend zusammenliefen, und als Abschluß über dem zum Eingang führenden Sonnensegel prangte eine schwungvolle Volute, in die der chinesische Kalligraph in lebhaft schwarzumrandeten orangefarbenen Buchstaben mit kunstvollen Schnörkeln den Schriftzug FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM gemalt hatte. Da versäumte es keiner, Goesle überschwenglich zu gratulieren – bis auf Magpie Maggie Hag. Die warf einen Blick darauf und sagte nur ein Wort: »Rot.« »Rot?« wiederholte Dai Goesle. »Bist du vielleicht farbenblind, Magpie Maggie Hag. Das da hinten ist Grün und Weiß, und dies hier Schwarz und Orange.« »Ich sehe das nur allzu gut«, sagte sie. »Es ist Rot darin.« Womit sie kehrt machte und in einem der Wohnwagen verschwand. Kopfschüttelnd wandte Goesle sich an Banat und sagte: »Gib deinen Männern Anweisung, das Zelt zusammenzurollen! Damit wir bald aufbrechen können.« »Wenn Maggie irgend’ne Vorahnung hat«, meinte Edge in murmelndem Ton zu Florian gewandt, »sollten wir dann nicht sichergehen, daß auch keiner auf der Zeltbahn liegt und schläft?« »Pst!« war alles, was Florian dazu sagte. Packen und andere letzte Vorbereitungen für die Weiterfahrt wurden rasch und mit viel Schwung erledigt. Doch als die kleine Karawane auf der Strada Máre Firenze dahinzog, schlug Florian mit dem Pferd vor seiner Kutsche eine gemächlichere, würdevollere Gangart an. Florenz lag rund hundert Kilometer entfernt, also eine Fahrt von drei Tagen, wenn man nichts -600-
überstürzte. Zwar gab es unterwegs andere kleine Orte, doch Florian meinte, daß sich der Aufbau hier nicht lohne. »Die Nacht verbringen wir in Pontedera«, sagte er zu dem neben ihm sitzenden Rouleau. »Sofern vorhanden, in einem Hotel oder einer Pension. Falls nicht, kampieren wir im Freien, wie wir es früher auch getan haben. Der nächste Tag sollte uns bis Empoli bringen. Dort kreuzen sich zwei wichtige Eisenbahnstrecken, deshalb werden wir dort aufbauen und Vorstellungen geben. Nach der Einwohnerzahl zu urteilen, dürften wir zwei oder drei Tage lang Arbeit haben. Vielleicht machen auch einige von den Bahnreisenden halt, um uns zu sehen.« Als es anfing zu dämmern, traf der Circus in Pontedera ein. Das Städtchen war stolz auf seine beiden Gasthäuser, die zusammen genug Essen auf den Tisch bringen konnten und ausreichend Zimmer hatten, alle jene unterzubringen, die nicht in den Wagen oder im Stallhof übernachten wollten. Magpie Maggie Hag gehörte zu denen, die es vorzogen, nicht im Hotel zu übernachten; nicht einmal zum Abendessen ließ sie sich blicken. Auch Autumn und Edge beschlossen, nachdem sie in einem der Gasthäuser gespeist hatten, in ihrem kleinen ›Landhaus auf Rädern‹ zu übernachten – das erstemal, seit sie sich zusammengetan hatten. »Eng, aber gemütlich und auch noch hübsch«, sagte Edge und nahm die Einrichtung, von der das meiste sonnengelb gestrichen war, lange in Augenschein. »Wie ich finde, allzu gemütlich«, sagte Autumn, »selbst für mich allein, als ich mein ganzes Gerät noch hier drinnen unterbringen mußte. Bin ich froh, daß Florian mir dafür jetzt Raum im Gerätewagen zur Verfügung gestellt hat.« In einer Ecke stand ein kleiner Ofen zum Heizen oder Kochen, dessen Blechschornstein durch das tonnengewölbte Dach nach draußen führte. Da waren Schränke und Schubladen -601-
für Vorräte, Garderobe und Bettwäsche. Außerdem waren hier Autumns Koffer und ihr Handgepäck verstaut, Edges Tornister, Waffen und Notausrüstung. Das einzige Bett war an der linken Seite des Wagens sinnreich zusammengeklappt und an die Wand gerückt, so daß die Unterlage jetzt eine Tischplatte bildete, vor der zwei Stühle standen. Wurde die Tischplatte wieder runtergeklappt, entstand ein mit Matratzen und Wolldecken ausgestattetes Bett, in dem zwei durchaus Platz fanden. An den beiden Wänden sowie in der Eingangstür gab es nach außen zu öffnende Fenster mit gelben Chintzvorhängen. Davor hingen Blumenkästen – um diese Jahreszeit allerdings ohne Blumen –, deren Haken es erlaubten, die Kästen nach innen zu hängen, wenn man unterwegs war, und nach außen, wenn man irgendwo für längere Zeit Station machte. An der Wand hingen noch zwei weitere Dinge: ein ovaler Spiegel in Stuckrahmen, der allerdings nur ein ziemlich verschwommenes und ungenaues Spiegelbild widergab, sowie an der gegenüberliegenden Wand eine viel besser gerahmte Daguerrotypie der französischen Seiltänzerin, Mme Saqui mit einer eigenhändigen Widmung »für Mlle. Auburn« – in englischer Sprache in etwas kindlicher Handschrift mit großen Ober- und Unterlängen: »Wenn dies du liest vergiß mich nicht!« Edge hatte aus dem Gasthaus eine Flasche Capriwein mitgebracht, um »auf die schöne Gelegenheit« anzustoßen. Autumn holte zwei geschliffene Römer aus einem Schrank, sie setzten sich an den Tisch und stießen mit klirrenden Gläsern fröhlich an. Als sie den Wein getrunken hatten, klappten sie die Tischplatte herunter, so daß nun tatsächlich ein Bett entstand, und feierten die Gelegenheit auf womöglich noch berauschendere Weise. Sie lagen einander noch in den Armen, als sie in den frühen Morgenstunden durch einen schrecklichen Schrei geweckt wurden. Edge war mit einem Satz am Fenster, stieß es auf und steckte den Kopf hinaus. Nicht weit von ihrem Wagen entfernt stand der -602-
Garderobenwagen, durch dessen geöffnete Tür Pfeffer Mayo stürzte und dabei wie ein Klageweib kreischte. Auch Clover Lee war zu sehen, wie sie stocksteif und langsam die kleine Treppe herunterkam wie eine Schlafwandlerin. »Clover Lee!« rief Edge besorgt. »Was ist los?« Autumn stand jetzt neben ihm am Fenster. Aus Fenstern und Türen der anderen Wagen schauten erschrocken schwarze, gelbe und weiße Gesichter heraus. Clover Lee ging wie in Trance weiter, bis sie so nahe herangekommen war, daß sie Edge mit einer Stimme, die keinerlei Gefühlsregung und keinerlei Höhen und Tiefen erkennen ließ, antworten konnte: »Mutter hat heute nacht wieder nicht in unserem Zimmer geschlafen. Als keiner von den anderen, die zum Frühstück herunterkamen, wußte, wo sie sein könnte, sagte ich, ich würde in den Wagen nachsehen. Und Pfeffer erklärte sich bereit mitzukommen ...« »Und?« »Wir haben sie da drin gefunden.« Mit wedelnder Handbewegung deutete sie vage auf den Garderobenwagen. »Stimmt irgendwas nicht mir ihr? Ist sie krank? Oder verletzt?« Clover Lee schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihr in die Augen. Es kostete sie Mühe, eine weniger deutliche Sprache zu finden, doch schließlich brachte sie heraus: »Wir haben sie gefunden ... avec Paprika ... les deux toutes nues ... dorment ... en posture de soixanteneuf ...« Edge verstand die Wörter, nicht jedoch, was sie wirklich zu bedeuten hatten. Als Autumn den Ausdruck des Nichtbegreifens auf seinem Gesicht sah, flüsterte sie ihm etwas ins Ohr. Leichte Röte stieg Edge ins Gesicht, doch hatte er sich rasch wieder gefaßt und sagte zu Clover Lee: »Du würdest dir unangenehme Überraschungen und Schocks ersparen, Mädchen, wenn du dich nicht immer in die Privatangelegenheiten deiner Mutter -603-
mischtest und hinter ihr herschnüffeltest.« »Nenn sie nie wieder meine Mutter!« sagte Clover Lee, die plötzlich wieder ganz präsent war. »Ich will nicht die Tochter irgendeines verfluchten kessen Vaters sein!« Jetzt machte auch sie, daß sie das Albergo erreichte. So kam es, daß, als die Circuskarawane weiterzog, vier Frauen – Sarah, Pfeffer, Clover Lee und Paprika – in Gefährten mitfuhren, die möglichst weit auseinanderlagen – und daß diese Frauen den anderen nicht in die Augen sehen mochten. Alle anderen waren peinlich berührt und redeten möglichst wenig, weil sie fürchteten, es könnte so aussehen, als verbreiteten sie Gerüchte oder rissen schlüpfrige Witze über das am Morgen Vorgefallene. Als sie Empoli erreichten und Florian, der zuvor auf dem Rathaus gewesen war, die Wagenkolonne zu dem ihnen angewiesenen Circusplatz hinterm Rangierbahnhof führte und die Böhmen mit dem Zeltaufbau begannen, beschränkten sich alle mehr oder minder auf das Notwendigste an Bemerkungen, Fragen und Antworten. Nicht einmal Rufe des Erstaunens und der Bewunderung wurden laut, als das Zelt in die Höhe ging und in seinem neuen Farbkleid unglaublich schön und eindrucksvoll aussah. Die gedrückte Stimmung hielt sich noch bis zum Beginn der Nachmittagsvorstellung am nächsten Tag. Erst als das Zelt sich bis auf den letzten Platz mit den Einwohnern von Empoli füllte, von denen die meisten rußgeschwärzte Eisenbahnarbeiter mit ihren Familien waren, zwangen sich die Circusleute dazu, für die Parade ein Lächeln aufzusetzen – und alle Vorführungen hinterher liefen für die Zuschauer mit viel Elan ab, sogar Pfeffers und Paprikas Nummer an der Perche. Doch als Sarah ihren Pete Jenkins absolvierte, schnappte sich Pfeffer Obie Yount und stellte ihn im Schlepptau – Paprika zur Rede. »Ich möchte, daß der Quakemaker hier dir einmal etwas sagt«, erklärte Pfeffer ingrimmig. »Obie, sind wir beide jemals zusammen ins Bett gegangen?« -604-
Yount traten schier die Augen aus dem Kopf; es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. »Haben wir beide Kerkuffle irgendeiner Art getrieben. Irgend etwas anderes, außer spazierenzugehen und vielleicht ein- oder zweimal Händchen zu halten?« »Stimmt das, Obie?« sagte Paprika. »Bei meinem großen Ehrenwort, Miss Paprika. Nach dem, was Sie mir gesagt hab’n, möcht ich wirklich nix zu tun hab’n mit einer ... hm ... ich würd’ mir nicht herausnehm’n, mich in Ihren allerprivatesten Bereich reinzudrängeln.« Paprika brach in Tränen aus. »Ach, Pfeffer, warum hast du mir nur etwas vorgemacht ...?« »Weil ich hoffte, die Eifersucht würde dich zu mir zurückbringen und dich an mich fesseln. Hat aber offensichtlich nicht geklappt, nicht? Komm! Und jetzt wollen wir mal ein Wort mit deiner neuen Bettgenossin reden.« Nachdem Sarah sich nach ihrem Auftritt das letztemal verbeugt hatte, erwarteten Pfeffer und Paprika sie hinterm Ausgang. »Pap hab’ ich’s bereits gesagt, und so will ich’s denn jetzt auch dir Schlampe sagen«, erklärte Pfeffer fast fauchend. »Meine neue Nummer wird euch beide in den Schatten stellen. Daran könnt ihr niemals klingeln. Paßt nur auf! Ihr werdet bekommen, wonach die Connaught-Männer schießen!« Damit tanzte sie hinaus in die Manege, wo Florian »l’audace Signorina Pepe« ansagte. Als erstes zeigte sie am Haar hängend ihre Routineübungen: schlitzäugig grinste sie zu den Klängen der ›Irish Jaunting Car‹. Nachdem sie den Beifall dafür abgewartet hatte, hielt sie eine Hand in die Höhe, so als wollte sie sagen: »Wartet, was ich euch jetzt zu zeigen habe!« Abdullah spielte auf seiner Trommel einen langsamen, die Spannung erhöhenden dumpf grollenden Wirbel, während die Böhmen Pfeffer fast bis zum Erdboden -605-
herunterließen. Dort wartete Quincy. Mit beiden Händen packte Pfeffer das Seilende, knotete es sich um die Hüfte, und die Böhmen hievten sie wieder in die Höhe. »Nicht, Pep!« rief Paprika aus einem der Gänge heraus so laut, daß es selbst über den langgezogenen Trommelwirbel zu hören war. »Das Gewicht ist viel zu groß.« Doch nichts Unvorhergesehenes geschah, während Pfeffer und ihre kleine schwarze Last fast bis zu dem Lungia-Baum hinaufgezogen wurden. Als dann aber Quincy anfing, sich zu winden und seine Übungen auszuführen, zerrte das dermaßen an Pfeffer, daß ihr breites Grinsen breiter wurde als gewöhnlich und ihr Gesicht sich immer stärker verzerrte; als sie plötzlich das Seil mit dem daran hängenden Quincy zur Seite schwenkte und ihn gegen den Mittelmast prallen ließ – an dem er sich verwundert und benommen festklammerte –, wurde Pfeffer jedoch die gesamte Kopfhaut vom Schädel gerissen und sie schlug mit dumpfem Laut unten in der Manege auf, daß das Sägemehl nur so staubte. Das Publikum schrie entsetzt auf; und während Pfeffers Körper leblos in der Manege lag, hing ihr leuchtender Haarschopf immer noch am Lungia-Ausleger und rotes Blut tropfte herunter. Abdullahs Trommelwirbel ging unter, als Beck geistesgegenwärtig sofort die Kapelle den blechernen ›Hochzeitsmarsch‹ spielen ließ und Edge und Florian in die Manege sprangen. Während Florian den Zuschauern durch Armeschwenken zu verstehen gab, sie sollten ruhig sein und sich still verhalten, hob Edge den schlaffen Körper auf und trug ihn so unauffällig wie irgend möglich zur Hintertür hinaus. Die Kapelle wurde etwas leiser, so daß Florian sich Gehör verschaffen konnte: »Das gehört alles zu der Nummer, Signore e Signori. Niente paura, die Dame wird gleich wieder erscheinen, siano persuasi, amici ...« Edge wurde samt seiner Bürde – der wackelnde Kopf immer noch mit dem Grinsen im Gesicht, wohingegen die Augen nicht -606-
mehr bis zur Schlitzäugigkeit verzerrt waren, sondern starr hervorquollen – draußen von Paprika und Sarah abgefangen, die beide in Tränen aufgelöst die Hände rangen. »Ach, Pep, Liebste!« schluchzte Paprika. »Das habe ich doch nicht gewollt ...« »Halt den Mund!« fuhr Edge sie an. »Sie kann dich nicht mehr hören. Und sieh sie dir nicht an!« Aus dem Zelt drangen die Klänge von Mozarts ›Zauberflöte‹ herüber, was bedeutete, daß Monday auf Thunder die Schritte der Hohen Schule vorführte. Florian kam aus dem Auftritt hervorgeschossen und rief: »Zachary! Wie schlimm sieht es aus?« »Es könnte nicht schlimmer sein. Sie hat sich das Rückgrat und den Hals gebrochen. Und wahrscheinlich noch manches andere.« Paprika brach in noch lauteres Wehklagen aus. Florian ging um sie herum, stellte sich vor sie und erklärte barsch: »Geh in den Garderobenwagen und zieh dein Trikot aus – und zwar ein bißchen dalli. Und du, Zachary, zieh Pfeffer das ihre aus!« »Wag das ja nicht!« sagte Paprika unter Schluchzen und fiel Edge in den Arm. »Rühr sie nicht an! Und überlaß sie mir!« »Nein, Miss!« erklärte Florian streng, während Edge unschlüssig dastand und den Leichnam immer noch in den Armen hielt. »Du wirst jetzt zurückkehren in die Manege, Paprika, und Pfeffers Beifall entgegennehmen! Diese Bauerntrampel von Itakern werden den Unterschied nicht merken.« »Was?« rief sie entsetzt. »Verzöpo. Ein Leichenschänder bist du, ein Vampir!« »Nein, Miss!« wiederholte er. »Das ist doch wohl das wenigste – und das letzte, was du überhaupt noch für sie tun kannst! Zieh dich aus, hab’ ich gesagt!« -607-
Edge brachte Pfeffer in den Garderobenwagen und bettete sie dort sanft auf den Boden. Sarah und Paprika, die beide immer noch weinten, wenn auch leiser jetzt, stiegen nach ihm ein. Sarah half Paprika, das orangefarbene Trikot auszuziehen, während Edge Pfeffer unbeholfen das grüne auszog. Keine der beiden Frauen trug etwas darunter, nur das kleine Cachesexe. Wie unbeteiligt nahm Edge wahr, daß Pfeffer überaus schön war – solange er den grausig zugerichteten Kopf nicht sah. Paprika hingegen war von Kopf bis Fuß wunderschön, was er nicht umhin konnte zu bemerken, denn sie schleuderte ihr Cachesexe von sich und stand vollständig nackt da. »Pfeffer hätte das bestimmt so gewollt«, schniefte sie, als sie spürte, wie Edge und Sarah sie ansahen. Dann versuchte sie zu lächeln und fügte noch hinzu: »Ich werde den Gaffern das vertikale Grinsen zeigen, und ob ich das tu’!« Sagte es und stieg in das grüne Trikot. Edge klopfte das Sägemehl aus dem Kostüm, während Sarah Paprika das tränenverschmierte Makeup richtete. Nervös von einem Fuß auf den anderen tretend stand Florian draußen. Sobald Paprika herauskam, trieb er sie wieder durch die Hintertür des Chapiteaus. Gleich nachdem sie die Leinwandvorhänge des Auftritts durcheilt hatte, hörten Sarah und Edge Applaus aufbranden, als Florian die wiedererstandene Artistin präsentierte: »Ancora una volta, l’audace Signorina Pepe!« – wie durch ein Wunder heil und gesund. »Mein Gott, wie grauenhaft!« murmelte Sarah immer wieder aufschluchzend. »The show must go on.« Sie wandte den Kopf und betrachtete Pfeffers nackten Körper, erschauerte und wandte sich wieder Edge zu. »Und all das nur meinetwegen, Zachary. Es ist einzig und allein meine Schuld! Ausschließlich meine Schuld!« »Jetzt reiß dich zusammen, Sarah«, sagte Edge in schroffem Ton. »Ich würd’ja bleiben und dich trösten, aber ich habe gleich meinen Auftritt.« -608-
Verloren weinte sie weiter, während er zum Zelt hinüberlief. Florian sagte bereits »l’infallabile tiratore scelto, Colonello Calcatoio« an, und alles wirkte wieder ganz normal hier drinnen – nur, daß unter der Tribüne und vom Publikum ungesehen Rouleau zärtlich Paprika im Arm hielt und diese an seiner Schulter weinte. Außerdem und gleichfalls unter der Tribüne versuchte Sunday einen am ganzen Leib zitternden Quincy zu trösten, der immer und immer wieder »Hoy ...« sagte. Monday stand in der Nähe, doch sie schaute nur verträumt zur Lungia hinauf und rieb die Schenkel aneinander. Edge folgte ihrem Blick, doch zu sehen war dort oben nichts mehr; die Böhmen hatten alles verschwinden lassen. Colonel Ramrod schaffte seine Kunstschützennummer ohne einen Fehlschuß und ohne daß jemand zu Tode kam. Es folgte die Pause, und als Magpie Maggie Hag nicht kam, sich als Handleserin zu betätigen, gingen Florian und Edge nach ihr suchen. Sie gingen zum Auftritt hinaus, mußten dabei an den Böhmen vorbei, die den Käfig mit Maximus in die Manege rollten, und fanden die alte Zigeunerin im Garderobenwagen. Sie hatte Pfeffer für das Begräbnis hergerichtet, ihr das Blut abgewaschen und die Augen zugedrückt und es auf irgendeine Weise fertiggebracht, das grausige Grinsen aus ihrem Gesicht zu vertreiben, so daß die Tote jetzt ruhig aussah. Sie hatte Pfeffer eines ihrer Straßenkleider angezogen und es sogar geschafft, ihr den abgerissenen Skalp wieder aufzusetzen und ihr das Haar zu kämmen, so daß sie jetzt ganz natürlich aussah. »Gut gemacht, Mag«, sagte Florian. »Jetzt wollen Zachary und ich sie in einen der anderen Wagen bringen, damit die Artisten wieder ihre Garderoben benutzen können. Und dann werde ich Stitches bitten, ein Leichentuch für sie zu nähen. Nach der Vorstellung bringen wir sie unter die Erde.« Edge hob den schlaffen Leichnam auf und Florian half, den Kopf zu halten, doch hatte die Totenstarre bereits eingesetzt, sodaß der Kopf nicht mehr lose hin- und herschaukelte. -609-
»Meinst du, wir sollten heute abend überhaupt eine Vorstellung geben?« fragte Edge, während er die Leiche zu einem der Zeltwagen hinübertrug. »Ich weiß nicht, ob jeder das heute noch einmal schafft.« »Doch, alle werden es schaffen«, erklärte Florian. »Genauso, wie sie nach Captain Hotspurs Tod weitergemacht haben.« »Aber Ignatz ist auch nicht vor aller Augen umgekommen. Und auch nicht auf so grauenhafte Weise. Außerdem war er ein Mann in mittleren Jahren – und keine schöne junge Frau.« »Wir hätten auch jemand noch Jüngeres verlieren können – wenn auch nicht so hübsch. Wäre Pfeffer auf Ali Baba hinuntergefallen, wäre sie vermutlich noch am Leben, er hingegen nicht mehr. Sie hat den kleinen Quincy Simms doch praktisch noch im Abstürzen an den Mast gestoßen und ihm damit das Leben gerettet.« »Richtig, und ich frage mich, ob das nur die Folge einer Zuckung war oder eine bewußte Heldentat. Aber ob so oder so, wohl ist deswegen niemandem in seiner Haut.« »Trotzdem – Circusartisten sind nicht unterzukriegen. Gut möglich, daß Paprika im Moment zu sehr mit den Nerven herunter ist, um auftreten zu können, aber sie kann sowieso nichts machen, jetzt, wo ihre Pfeffer nicht mehr ist. Deshalb werde ich Clover Lee mit ihrer Dressurnummer im ersten Teil des Programms unterbringen ... wenn du nichts dagegen hast, Monsieur Sprechstallmeister.« »Direktor bist du. Und ich bin genausowenig unterzukriegen wie jeder andere.« »Gut! Dann wollen wir mal sehen ... Nehmen wir also Clover Lee gleich nach den Ikariern dran, dann leitet sie unmittelbar zum Pete Jenkins ihrer Mutter über. Vielleicht sollte auch der Quakemaker früher drankommen, um die Lücke zu füllen, die Pfeffers Zopfhang reißt.« Weiter vor sich hinmurmelnd sagte er: »Darf nicht vergessen, ihr Konuitenbüchlein zu zerreißen ... und -610-
ihr Zimmer im Hotel kündigen ...« Als sie Rosalie Brigid Mayo in dieser Nacht unter der Arena begruben, nahm wieder der Gelegenheitsprediger Dai Goesle die Aussegnung vor. Er hatte irgendwo in Empoli ein römischkatholisches Meßbuch aufgetrieben und hielt sich an die Ordnung für die Bestattung der Toten. Sogar das Latein sprach er einigermaßen korrekt aus, so daß selbst die Katholiken unter den Anwesenden – Paprika, Rouleau, die vier Smodlakas und die meisten der Böhmen – zufrieden waren und sich immer an den richtigen Stellen gemeinsam bekreuzigten. Als jeder von den Trauernden eine Handvoll Erde auf Pfeffers Leichentuch warf und Florian an die Reihe kam, murmelte er abermals das römische Epitaph: »Saltavit. Placuit. Mortua est.« Nur eines störte die Begräbnisfeierlichkeit. Sarah, Paprika und Clover Lee standen etwa gleichweit vom Grab entfernt – das heißt, so weit auseinander, wie nur irgend möglich. Sarah weinte still vor sich hin, doch die beiden anderen vergossen keine Träne. Sie ließen Sarah keinen Moment aus den tränenlosen kalten Augen und senkten den Blick nicht einmal, als es Zeit war, den Kopf zu beugen und zu beten. Voller Abscheu und anklagend sahen sie sie an.
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6 Am nächsten Morgen kam Clover Lee im Hotel mit einem Zettel in der Hand zum Frühstück und reichte ihn Florian. »Mutter hat wieder nicht in unserem Zimmer geschlafen«, sagte sie ruhig. »Und natürlich habe ich mich heute gehütet, nach ihr zu suchen. Aber eben erst ist mir aufgefallen, daß auch einiges von unserem Gepäck fehlt. Und dann fand ich dies unter ihrem Kopfkissen.« Florian faltete den Zettel auseinander, schürzte die Lippen und machte ein unglückliches Gesicht, zupfte an seinem spärlichen Bart und las den anderen laut vor: »Es tut mir alles furchtbar leid. Lebe wohl, liebes Kind, und viel Glück! Sag das auch allen anderen von mir. Deine Dich liebende Mutter.« »Muß ich jetzt nach ihr suchen?« fragte Clover Lee ohne erkennbare Gemütsregung. Florian schüttelte den Kopf. »Bei ihr muß sich eine Menge Kummer und Groll angestaut haben. Und da Empoli ein Eisenbahnknotenpunkt ist, kann sie nach Norden, Osten, Westen oder Süden gefahren sein. Nein, sie hat getan, was sie für richtig gehalten hat, und wir werden ihren Entschluß respektieren. Doch was ist mit dir, Clover Lee? Willst du bei uns bleiben?« »Selbstverständlich. Wenn sie mich auch im Stich gelassen hat, laß’ ich doch deshalb nicht den Rest meiner Familie sitzen.« Als die Nachmittagsvorstellung dieses Tages begann, zogen alle Darsteller – Peggy eingeschlossen – ihre Nummer ein paar Minuten in die Länge, um die Magerkeit der gesamten Vorstellung etwas auszugleichen. Fitzfarris – der sein Sprüchlein jetzt in verständlichem Italienisch aufsagen konnte – erging sich diesmal um einiges ausführlicher als sonst über seine paar menschlichen Mißgeburten, zog auch sein bauchrednerisches Geplänkel mit der Kleinen Miss Handschuh in die Länge und verkaufte hinterher eine beträchtliche Anzahl -612-
von seinen ›Pfeifen‹, während Magpie Maggie Hag während der Pause keinen Mangel an neugierigen Schwangeren hatte, die ihre Zukunft aus der Hand gelesen haben wollten. Doch als Florian bei der Abendvorstellung sah, daß das Chapiteau nicht bis auf den letzten Platz gefüllt war, sagte er zu Edge und Goesle: »Baut morgen das Zelt ab, aber laßt euch Zeit dabei. Ich fahre in aller Frühe los, damit wir in Firenze einen guten Platz bekommen. Die kleinen Simms und die kleinen Smodlakas nehme ich mit; die können gleich mit dem Plakatekleben anfangen. Irgendwo unterwegs werde ich wieder zu euch stoßen, und dann übernachten wir.« »Bis nach Florenz sind es nur vierzig Kilometer«, sagte Edge. »Das müßten wir eigentlich spielend schaffen.« »Nein. Diesmal ...« – Florian machte eine dramatische Pause –, »diesmal ziehen wir mit Parade ein. In die Stadt und die Hauptstraßen auf und ab. Erst danach geht’s zum Zeltplatz. Weder der ORFEI noch irgendeiner der anderen großen europäischen Circusse folgt dieser amerikanischen Tradition. Die Fiorentini werden Augen machen.« Edge stellte am nächsten Tag fest, daß die knappen vierzig Kilometer bis Florenz alles andere als schnell zu bewältigen waren, denn die Straße verlief in unendlichen Schlangenwindungen, folgte sie doch am Fuß des Monte Albano dem gewundenen Flußlauf des Arno. »Merkwürdiges Klima, das die hier in Italien haben«, sagte er zu Autumn. »Unten in den Niederungen bildete sich in den Morgenstunden Nebel, der sich im Laufe des Vormittags auflöste. Jetzt, wo wir durch hügeliges Gelände kommen, bildet sich schon am Nachmittag Nebel.« Die Wagenkolonne war immer noch sieben bis acht Kilometer von Florenz entfernt, als Edge im dunstigen Zwielicht Florians Kutsche am Wegesrand stehen sah. »Hier werden wir übernachten«, sagte Florian, »denn wir -613-
haben hier leichten Zugang zum Fluß, können also die Tiere tränken. Und das Dorf, durch das ihr eben gekommen seid, sollte Mag mit allem versorgen können, was sie braucht, um uns ein Essen zu bereiten.« »Irgendwelche Schwierigkeiten bei der Zuweisung des Circusplatzes?« fragte Edge. »Und was hast du mit den Kindern gemacht?« wollte Autumn wissen. »Überhaupt kein Problem«, sagte Florian. »Wir haben Erlaubnis, im neuesten und schönsten Park der Stadt zu zelten. Die Kinder sind immer noch beim Plakatkleben – und das ist in dieser Stadt auch keine Kleinigkeit. Schließlich ist Firenze fast doppelt so groß wie Pisa. Für die Nacht habe ich den Kindern Zimmer in einer Pension gebucht.« In aller Herrgottsfrühe bereitete sich die Kolonne darauf vor, eine »Parade zu machen«. Florian bürstete Gehrock und Zylinder aus und gab dabei seine Anweisungen. Hannibal wurde ausgeschickt, Peggy im seichten Flußwasser abzubürsten; dann salbte er sie von oben bis unten mit Klauenfett, rieb ihre Zehennägel blank und warf ihr eine rote Decke über. Sämtliche Pferde wurden gestriegelt, bis das Fell glänzte, und die Dressurpferde bekamen ihre Schabracken und glitzernden Paradehalfter mit dem Federbusch übergezogen. Die Holzplanken von Maximus’ Käfigwagen wurden abgenommen und die Terrier Smodlakas bekamen die schönen Halskrausen umgelegt. Sämtliche Artisten – Rouleau Inbegriffen legten ihr bestes Manegenkostüm an, doch da ein kalter Wind das Flußtal heruntergefegt kam, zogen diejenigen, die nichts weiter als ein Trikot anhatten, noch einen Mantel darüber. Beck und seine Musikanten putzten die Instrumente blank und zogen die Musikeruniform an, während Banal seine Südstaaten-Uniform mit den vielen Medaillen an der Brust trug. Fitzfarris nahm die Kosmetik zu Hilfe, um jenes körperliche Attribut zu vertuschen, das sich sonst zu Geld machen ließ; er sowie Goesle und die -614-
Böhmen übernahmen die Aufgabe, die elf Wagen, die Florians Kutsche folgten, zu lenken. Als der Circus in die Außenbezirke von Florenz einfuhr – ein Viertel, das aus Hütten und Buden bestand –, kamen die Bewohner dieser Behausungen an die Tür und sperrten Mund und Augen weit auf. Florian hielt und rief: »Alle Mann auf ihren Posten!« Edge bestieg eines der gesattelten Pferde und zog den Mantel von den Schultern, um sich in der ganzen Pracht der Colonel-Ramrod-Uniform zu zeigen. Dann ritt er voran und stellte sich noch vor der Kutsche an die Spitze des Zuges. Beck und seine Musikanten nahmen oben auf der Persenning über dem Ballonwagen Platz. Hannibal kletterte samt Trommel Peggy auf den Rücken. Die anderen Darsteller gruppierten sich malerisch auf den Dächern der verschiedenen Wohnwagen und nahmen gleichfalls die Mäntel ab. Die Beine gespreizt und die Hände in die Hüften gestützt, stand Barnacle Bill auf dem Käfig von Maximus. Terry, Terrier und Terriest durften vom Wagen herunter und wetzten sofort, wirbelnde Kapriolen und Purzelbäume schießend und radschlagend, am Rand des Zuges dahin. Genauso machten es die drei Chinesen. Beck und seine Kapelle spielten die Ouvertüre zu ›Wilhelm Tell‹, die Wagenkolonne setzte sich in Bewegung und zog durch die Via Pisana, eine Straße, die durch eine wesentlich bessere Wohngegend führte. Aus jedem Fenster schauten die Köpfe der Erwachsenen heraus, um sich dieses ungewöhnliche und neue Spektakel nicht entgehen zu lassen, und unter jeder Tür drängten sich Kinder, kamen herausgelaufen, hüpften, brachen in Freudenrufe aus, zeigten mit ausgestrecktem Finger auf Dinge, die ihnen besonders gefielen, und bildeten schließlich zwei Gruppen: eine, die rückwärts vor Colonel Ramrods Pferd einhertanzte, und eine zweite, die hinter dem Elefanten herlief. Während Beck und seine Kapelle ihr gesamtes Repertoire durchspielten, hielt Edge nach Laternenpfählen und Flächen Ausschau, an welche die Plakate des FLORILEGIUMS geklebt -615-
waren, und die gleichsam als Wegweiser hinüberführten auf das südliche Arnoufer, wo eine breite, gepflasterte Straße ein gutes Stück über dem grünen, trüben und ziemlich schnell dahinfließenden Fluß entlangführte. »Da drüben, auf der anderen Seite«, rief Florian ihm zu, »liegt der Cascine-Park. Dort bauen wir unser Zelt auf. Jetzt aber ziehen wir erst mal den Lungarno Soderini entlang.« Die am Fluß entlangführenden Lungarni dienten einem doppelten Zweck, wie Florian später erklärte. Es handelte sich um böschungsartige Uferbefestigungen, die erst in letzter Zeit aus Erdmassen aufgetürmt und mit Steinquadern befestigt worden waren, vornehmlich, um das häufige Hochwasser des Arno einzudämmen. Der gepflasterte Kamm der Lungarni war zu einer bevorzugten Promenade für Spaziergänger, Reiter und Pferdefuhrwerke geworden, insbesondere für jene Leute, die im Sommer kamen, um unter den eleganten Brücken die spektakulären Sonnenuntergänge mitzuerleben. Zumindest die Mehrzahl der Brücken wies in der Tat elegante Proportionen auf. Doch die erstaunlichste war der Ponte Vecchio. Der Fluß strömte darunter hinweg, so daß er tatsächlich eine Brücke war – allerdings eine, die völlig anders war als alles, was Edge bisher gesehen hatte. Die Brücke hätte genausogut das in der Luft hängende Dorf einer Fata Morgana sein können, denn sie bildete von einem Ende bis zum anderen eine Reihe von zwei-, drei- und vierstöckigen Gebäuden mit Bogengängen, Ziegeldächern, Schornsteinrohren und verwinkelten Ecken, Wäscheleinen und Männern mit Angelruten, die sich an einigen Stellen zum Fenster hinauslehnten. Die meisten der Häuser kragten von der Brücke über den Fluß vor, so als klammerten sie sich gerade eben über dem Wasser an der Brücke fest. Erst als Edge das Südende der Brücke passierte, konnte er sie der ganzen Länge nach überblicken und sah, daß der Ponte Vecchio links und rechts dicht gedrängt von markisenbesetzten Läden und -616-
Verkaufsständen gesäumt war, gleichwohl jedoch von einem Ufer des Arno zum anderen hinüberführte und selbst keinerlei Dach aufwies, sondern über die gesamte Länge den freien Himmel sehen ließ. Jetzt bahnte sich das FLORILEGIUM den Weg einigermaßen mit Gewalt die Südseite des Flusses entlang. Die ständig größer werdende Kinderschar, die vor dem Circus herlief, veranlaßte Fußgänger wie Gefährte dazu, in die Seitenstraßen auszuweichen, um die Wagenparade vorüberziehen zu lassen. Wo immer die Karawane auch vorüberkam, überall spähten die Leute zu Fenstern und Türen der hohen und reich geschmückten Häuser heraus. Auch auf der anderen Flußseite blieben Fußgänger und Reiter auf dem dort entlangführenden Lungarno stehen und gafften. Die Artisten des FLORILEGIUMS lächelten unermüdlich und winkten von ihren Wagen oder Wagendächern herunter. Etliche Stadtbewohner, die der Parade am nächsten standen, lüpften den Hut und vollführten eine halbe Verbeugung, während ein paar Frauen einen Knicks andeuteten, gleichsam als wüßten sie nicht recht, ob sie eine neue Art von Hofstaat zu sehen bekämen, die dem Besuch irgendeiner Fürstlichkeit oder eines Königs voranzog. Einige der Frauen, wenn auch nicht viele, wandten sich ab oder drückten das Gesicht ihrer Kinder in ihre üppigen Rockfalten, damit die lieben Kleinen nicht den Anblick spärlich bekleideter weiblicher Circusangehöriger zu sehen bekämen. Jules Rouleau, der zusammen mit Paprika auf dem Dach des Garderobenwagens saß, lachte, als er sie hinter dem aufgesetzten Lächeln knurren hörte: »Recht hast du, Signora Butterfaß da drüben. Ich posiere hier oben, obwohl mir die Kälte bis ins Mark frißt, ich vor lauter Libabór eine Gänsehaut habe und riskiere, mir eine Lungenentzündung zu holen, bloß um dich in deiner matronenhaften Wohlanständigkeit vor den Kopf zu stoßen!« Die Kapelle hatte jedes Stück, das sie konnte, mindestens -617-
zwei- oder dreimal wiederholt, als Edge an der Balustrade einer vor ihnen liegenden Brücke ein Circusplakat erspähte. Zwar mußte er acht geben, keine Kinder über den Haufen zu reiten, doch gelang es ihm, sein Pferd auf den breiten Ponte San Niccoló zu lenken, und die Kapelle machte eine Pause, solange das FLORILEGIUM über die Brücke hinüberfuhr. Als die festlich herausgeputzte Kolonne die Brücke verließ und in den unmittelbar vor ihnen liegenden Viale Amendola einbog, auf dem weitere Schaulustige auf dem Bürgersteig, aus Fenstern lehnend und von haltenden Fahrzeugen aus staunend die Parade an sich vorüberziehen ließen, hoben die Musikanten wieder ihre Instrumente und ließen abermals die Ouvertüre zu ›Wilhelm Tell‹ erklingen. Als der Viale in eine große runde Piazza mündete, führten die Plakate Edge halblinks in eine Allee hinein, die wieder nach Westen, also mehr oder weniger parallel zu der Straße führte, die sie auf der anderen Arnoseite gekommen waren. Die Karawane mußte sich etliche Male durch Gassen hindurchzwängen, die so eng waren, daß die Neugierigen in den Fenstern den Kopf zurücknehmen mußten, um die Wagen vorbeizulassen. Dann führte Florians durch die Plakate gekennzeichnete Route die Prozession zwischen zwei ziemlich zerfallenen altertümlichen Steinsäulen hindurch, die Reste dessen, was einstmals in der Stadtmauer die Porta di Prato gewesen war. Dahinter wurden junge Bäume, Grasflächen und die kiesbestreuten Straßen und Wege des Pratone delle Cascine sichtbar. »Das heißt soviel wie Milchfarm«, sagte Florian, als die Kolonne ein Stück in den Park hineingefahren war und auf dem grasbestandenen Oval eines Rennplatzes haltmachte. »Eine Milchfarm war das hier früher einmal, bis die Stadt sich immer weiter ausbreitete und sie zu einem öffentlichen Park machte.« »Ich würde gern den Mann kennenlernen, der die Laternen dafür entworfen hat«, sagte Edge und zeigte auf einen der -618-
zahlreichen Laternenpfähle, der sich auf einer gußeisernen Basis erhob, die aus drei im Boden sich festkrallenden Löwenklauen bestand. »Ja«, sagte Florian und lachte vergnügt. »Wenn dieser Mann jemals irgendwo einem dreibeinigen Tier begegnet ist, würde ich ihn gern fragen, wo man ein solches Monstrum kaufen kann.« Die Artisten kletterten von ihren Sitzen herunter, die sie für die Parade eingenommen hatten – wobei Rouleau auf die Hilfe anderer angewiesen war – und die drei Terrier sowie die drei Chinesen brachen auf einer grasbewachsenen Böschung zusammen und krümmten sich hechelnd, weil sie den ganzen Weg Purzelbaum schießend und radschlagend zurückgelegt hatten. Die Bläser der Kapelle spürten ihre Lippen, weil sie mit den Mundstücken dagegengestoßen waren, sobald der Wagen, auf dem sie saßen, ins Rumpeln gekommen war, und etliche von ihnen beschwerten sich, daß sich ein paar Zähne gelockert hätten. »Nun, für ihre Aufbauarbeit brauchen sie weder Lippen noch Zähne«, sagte Florian. »Goesle, Banat, sorgt dafür, daß die Leute anfangen auszuladen und das Zelt aufzurichten. Abdullah, nimm dem Elefanten die Decke ab und mach ihn fertig, daß er bei schweren Lasten helfen kann. Und sorgt zusammen mit den Chinesen dafür, daß sich keine Gassenkinder hier herumdrücken. Ich fahre zurück in die Stadt, hole unsere Kleinen und buche Hotelzimmer für uns. Die anderen, die nichts zu tun haben, können sich umziehen und die Stadt ansehen, solange es noch hell ist.« Eine ganze Reihe von Artisten, unter ihnen Edge und Autumn, tat eben dies. Arm in Arm wandten sich die beiden nach Verlassen des Parks nach rechts und mischten sich unter die Menschen, die den Lungarno Amerigo Vespucci entlang promenierten. -619-
»Ich weiß, wer dieser Vespucci war«, sagte Edge. »Amerika verdankt ihm seinen Namen, aber alles andere mußt du mir erklären, meine Liebe. Was mir besonderen Eindruck gemacht hat, ist diese merkwürdige Brücke dort drüben.« Über die dazwischenliegenden Brücken hinweg deutete er auf den anderthalb Kilometer entfernten, aber doch deutlich erkennbaren Ponte Vecchio, der sich massig über die anderen Brücken erhob und rotgolden überhaucht in der Nachmittagssonne schimmerte. »Der ist für die Läden und Werkstätten von Gold- und Silberschmieden reserviert«, sagte Autumn. »Das Obergeschoß auf der flußaufwärtsgelegenen Seite war einmal ein Privatgang für Fürsten und Adlige, um von den Uffizien, in denen damals die Regierungsbehörden saßen, über den Fluß hinüberzugelangen. So konnten sie den Königspalast, den Palazzo Pitti, erreichen, ohne sich ihren Weg durch die Menge des gemeinen Volkes auf der Straße und der Brücke bahnen zu müssen.« Da sie selbst keinerlei Vorurteile hatten und sich gern unters Volk mischten, schlenderten Autumn und Edge über die Brücke hinüber, drängten sich durch die Menschenmenge und bewunderten die Gold-, Silber- und Emaillearbeiten, die in den Schaufenstern zu sehen waren oder aber laut von den Handwerkern angepriesen wurden. Zurück gingen sie an der gegenüberliegenden Reihe der Läden und Schaufenster und schluckten oder seufzten beim Anblick dieses oder jenes Schmuckstücks, und Edge wünschte, er könnte es sich leisten, jedes einzelne davon zu kaufen, um es Autumn zu schenken. Als sie nach der Brücke in die Piazza della Signoria einbogen, sagte Autumn: »Dort drüben, in der hintersten Ecke des Platzes, liegt die Stelle, an der zwei berühmte Feuer entzündet wurden.« »Berühmte Feuer?« »Vor vierhundert Jahren bekam ein gewisser Savonarola von seiner Liebsten aus der Kinderzeit den Laufpaß und zog sich in -620-
ein Kloster zurück. Doch das verstärkte nur noch die Bitterkeit in ihm. Er kam als Bußprediger hierher nach Florenz und wetterte gegen Wollust und Eitelkeit, gegen Vergnügungssucht und übermäßigen Weingenuß und überhaupt gegen alle guten Dinge. Er überzeugte die Florentiner, sie wären verdammt, es sei denn, sie gingen in sich und besserten sich. So türmten sie an einem Karnevalstag auf diesem Platz ein gewaltiges Feuer auf und ließen alle ihre weltlicheren Besitztümer in Flammen aufgehen – Spiegel und Duftwässer, Perücken, Würfel, und die Bildnisse der schönsten Kurtisanen –, alles, was auf Zerstreuung hindeutete. Nach dieser Orgie muß Florenz eine wahrhaft freudlose Stadt gewesen sein. Doch rund zehn Jahre später hatten die Florentiner genug von diesem Savonarola und seiner ständigen Miesmacherei. Sie errichteten abermals hier auf dem Platz einen Scheiterhaufen, und diesmal verbrannten sie ihn. Laß dir das zur Lehre gereichen, Zachary Edge. Versuche nie, die Florentiner zu läutern und zu reformieren.« »Ich würde im Traum nicht daran denken, einen anderen Menschen umkrempeln zu wollen und zu läutern. Ein geläuterter Wüstling ist für meine Begriffe das verabscheuungswürdigste Wesen unter der Sonne.« »Wie schön, daß wir da einer Meinung sind. Ehe Savonarola hier eintraf, herrschte ein Mann über Florenz, den sie liebevoll Piero den Gichtigen nannten. Gicht bekommt man nur von ausschweifendem Lebenswandel. Deshalb gefalle ich mir in der Vorstellung, daß Florenz immer ein Ort ausschweifender Sinnlichkeit und des reinen Genusses gewesen ist und immer bleiben wird.« Da war ein ganz bestimmter erinnerungswürdiger Zug, der Edge bereits am ersten Tag auffiel, den er an jedem Tag neu erleben und an den er sich stets als den nachhaltigsten Eindruck erinnern sollte, den Florenz auf ihn ausübte: und zwar die Art, wie das Sonnenlicht selbst um die Mittagsstunde niemals direkt und grell auf die Stadt fiel, sondern stets schräg und zärtlich, -621-
was jede verwitterte alte Steinmauer so lebendig und einmalig machte wie die beabsichtigten Unregelmäßigkeiten in den Quadern der Palastfassaden, die engeren Gassen zu etwas Geheimnisumwittertem, zu dunklen Spalten, durch die man in Höfe oder Piazze oder Gärten eintrat, die von so warmen Farbtönen erfüllt waren, daß es aussah, als wären sie für alle Ewigkeit in lebendigen Bernstein eingeschlossen. Als Edge und Autumn kurz nach Dunkelwerden auf die Rennbahn der Cascine zurückkehrten, war der Aufbau des Zeltes so gut wie abgeschlossen. Die Böhmen legten im Schein der Funken verspritzenden und versprühenden Korbfackeln letzte Hand an das Zelt, gingen von einer Absegelung zur anderen, es richtig anzuziehen und hier und da noch einen Zeltanker tiefer in den Boden zu treiben und dabei knurrten sie bei jedem Schlag und jeder Bewegung. Edge fragte: »Stitches, warum knurren deine Leute eigentlich so? Tun ihnen die Zähne immer noch weh?« »Nein, das machen sie, weil ich es ihnen befohlen hab’. Ich versuch’ nichts anderes, als sie zu erziehen. Selbst dem Direktor hab ich das gesagt und sag’ es jetzt auch euch: Wann immer einem von uns danach ist, in aller Öffentlichkeit zu fluchen, soll er statt dessen knurren.« »Na schön. Aber warum?« »Sieh doch mal!« Goesle zeigte auf zwei Nonnen, die mit einer Schar in Zweierreihen aufgestellter kleiner Kinder in Schuluniform den Arbeiten zusahen. »Davon werden wir noch mehr zu sehen kriegen – Nonnen, Kindermädchen und Schulmeister, die ihre Schützlinge herführen, damit sie beim Auf- oder Abbau zusehen. Pädagogisch gesehen etwas ausgefallen, versteht ihr? Und wenn dann zum Beispiel unser Elefant Peggy plötzlich stehenbleibt und partout nicht weiter will und jemand überhäuft ihn in was weiß ich für einer Sprache mit einer Flut von Flüchen wie etwa: ›Du gottverdammtes -622-
zweischwänziges Aas‹, finden der Schulmeister oder die Lehrerin das ein bißchen zu erbaulich für ihre Kinder und schicken uns eine Abordnung auf den Hals, die sich über unsere Moral und so beschwert.« Den Staub von den Händen streifend, kam Florian aus dem Chapiteau und sagte zu Goesle: »Sobald deine Leute hier fertig sind, schick sie los, damit sie die Stadt mit weiteren Plakaten vollkleistern – wenn’s sein muß, die ganze Nacht.« Zu Edge und Autumn gewandt, sagte er: »Die meisten sind bereits ins Hotel gegangen, um sich zum Abendessen umzuziehen. Wenn ihr beiden euer Gepäck dort haben wollt, ladet es in meine Droschke und folgt mir. Das Hotel ist von hier aus leicht zu Fuß zu erreichen. Das Hotel Kraft in der Via Solferino.« »Oh, gut«, sagte Autumn. Edge fragte: »Ein Hotel unter englischem Management? Oder deutschem?« »Nein«, sagte Florian, »obwohl es hier viele von Ausländern geleitete Hotels gibt. Nur ein Drittel der Fiorentini sind Italiener. Das andere Drittel wird aus im Ausland lebenden Engländern gebildet, und ein weiteres Drittel stellen die anderen Nationalitäten – Amerikaner, Russen, Deutsche und Franzosen. Das Kraft hat italienische Besitzer und wird auch von Italienern geleitet. Aber die Klientel besteht zur Hauptsache aus fahrendem Volk – Theaterleute, Opernsänger, Artisten, Pantomimen ...« Nachdem Edge und Autumn sich in ihrem Zimmer gewaschen und frisch gemacht hatten, trafen sie Florian und Carl Beck in der Halle, und die vier setzten sich im Speisesaal an einen Tisch, an dem bereits ihre Kollegen saßen. Edge schaute in die Runde, um festzustellen, ob er noch andere Leute aus dem Schaugewerbe sehen könnte, doch keiner sprang umher oder nahm irgendwelche besonders auffälligen Posen ein – alle im Raum speisten gesittet und unterhielten sich gedämpft –, doch -623-
etliche gehörten offensichtlich irgendeinem Beruf an, der mit dem Theater zu tun hatte, denn ihre Gesichter waren lederig und fast orangefarben getönt von der jahrelangen Gewohnheit, sich ständig für den Auftritt zu schminken. »Ich hab’ euch ja gesagt, das hier ist eine wirklich kosmopolitische Stadt«, sagte Florian und zog eine zusammengefaltete Zeitung aus der Rocktasche. »Heute nachmittag habe ich von einem Zeitungsverkäufer an einer Straßenecke die letzte Ausgabe von The Era gekauft, stellt euch vor! Nach dem Essen werde ich die Anzeigen mit den Stellengesuchen durchsehen. Mal sehen, ob hier nicht jemand in Firenze herumsitzt, der uns nützlich sein könnte.« »Darf ich mal einen Blick reinwerfen, Direktor?« fragte Autumn. »Mich interessiert immer, ob ich die Namen von Leuten finde, die ich kenne.« Florian reichte ihr das Blatt hinüber, und Autumn durchblätterte die Seiten. Carl Beck sagte gerade: »... morgen früh in die Stadt, um die Säure und anderen Chemikalien zu besorgen.« »Du solltest deinem Ballongas nicht absoluten Vorrang einräumen«, sagte Florian. »Wenn dieser Trapezkünstler kommt, wirst du dir überlegen müssen, wie du sein Gerät anbringst, damit es nicht mit Autumns kollidiert. Ich wünschte, er wäre bereits hier, damit wir ihn gleich von unserer Eröffnungsvorstellung an im Programm haben.« »Er ist da, Monsieur Florian«, sagte ein stutzerhaft gekleideter Herr, der mit einer Tasse Cappuccino allein an einem Nebentisch saß. Jetzt erhob er sich und verneigte sich. »Maurice LeVie, á vos ordres. Ich bin heute morgen angekommen und habe zugesehen, wie Sie auf amerikanische Art Ihre Parade gemacht haben. Hat mich durchaus beeindruckt.« »Es ist uns eine sehr sehr große Freude, Sie kennenzulernen«, sagte Florian strahlend, als er sowie Beck und Edge sich -624-
gleichfalls erhoben. »Da Sie nicht Ihr Manegenkostüm tragen, Monsieur, habe ich Sie nicht erkannt. Gestatten Sie!« Mit diesen Worten machte er die Herren miteinander bekannt. LeVie schüttelte den neuen Kollegen die Hand, doch auf die von Autumn drückte er galant einen Kuß. Der Trapezkünstler war klein und drahtig und schien nicht aus Quecksilber zu bestehen, auch wenn er bei der Vorstellung diesen Eindruck erweckt hatte. Hervorstechendes Merkmal an ihm waren vielleicht die spitzen Züge: spitze Nase, spitz zulaufendes Kinn und in der Mitte der Stirn spitz zulaufender Haaransatz sowie außerordentlich stechende Augen. »Setzen Sie sich zu uns!« forderte Florian ihn auf. »Ein Glas Wein vielleicht?« »Merci, kein Wein, bitte«, sagte LeVie und zog seinen Stuhl an ihren Tisch. »Mein Beruf, comprenez, verbietet mir jeden Alkohol und vor allem den Kater am nächsten Morgen.« »Selbstverständlich.« »Ich hatte die Gelegenheit«, fuhr LeVie fort, »Sie allesamt zu bewundern, insbesondere Ihre bezaubernden Damen, als Sie Ihren Einzug in die Stadt hielten. Hier im Hotel habe ich – inkognito – die Gelegenheit wahrgenommen, Ihre Konföderierte Amerikanische Truppe mehr aus der Nähe in Augenschein zu nehmen.« »Aha«, sagte Florian und bewegte gutmütig drohend den Finger vor ihm hin und her. »Und wenn Sie bemerkt hätten, daß wir, sagen wir, unsere petits fours mit Messer und Gabel verspeisten oder andere amerikanische Unsitten zeigten, hätten Sie Ihr Inkognito auch nicht gelüftet, sondern sich aus dem Staube gemacht.« LeVie lächelte – sein Mund bildete dabei ein spitz zulaufendes V – und zuckte die spitzen Achseln. »Ich sage nur, daß ich zufrieden und beruhigt war. Ja, es ist mir ausgesprochen eine Freude, mich Ihnen anzuschließen. Ich werde mich mit -625-
meiner Ausrüstung morgen früh auf dem Circusplatz einfinden und Ihnen beim Aufhängen behilflich sein. Außerdem werden Sie, Monsieur le Chef de Musique, wissen wollen, welche Motive ich für die Musikbegleitung wünsche.« »Ja. Gewiß doch«, sagte Beck, offenbar bis zur Selbstaufgabe beeindruckt von dem selbstsicheren Professionalismus des Mannes. »Eines möchte ich Sie gern fragen, Monsieur Maurice«, sagte Florian fast schüchtern. »Verstehen Sie, ich habe nicht die Absicht, die Reinheit Ihrer Solonummer anzutasten. Doch wir haben eine junge Dame in unserer Truppe – eine schöne Frau, die sehr viel kann –, die im Augenblick keine Nummer hat. Ihre Partnerin an der Perche ist durch einen Unfall verhindert. Aber die junge Dame kann auch am Trapez arbeiten.« »Im alten Stil oder Leotard?« fragte LeVie sofort. »Nur im alten Stil. Sie ist einige Jahre in den Vereinigten Staaten gewesen, und die Amerikaner hinken der Zeit in dieser Hinsicht bedauerlich hinterher. Ich habe nur überlegt, ob Sie vielleicht ...« »Ob ich ihr auf die Sprünge helfen könnte? Un jeu duel mit ihr erarbeiten?« »Nur, wenn Sie meinen, daß Sie Ihrer eigenen Nummer dadurch zusätzlichen Glanz verleihen könnten. Sonst ...« »Befindet sich die junge Dame im Moment im Speisesaal? Bitte, rufen Sie sie nicht, zeigen Sie sie mir nur ...« »Das da drüben ist sie«, sagte Florian und wies mit dem Kopf auf einen anderen Tisch. »Elle des cheveux roux. Cecile Makkai.« »Ah, oui. Une demoiselle charmante. Und das fuchsrote Haar ergänzt vermutlich auf wunderbare Weise mein blaues Trikot. Ich trage immer Blau, Messieurs.« Edge sagte: »Paprika trägt mit Vorliebe ein orangefarbenes -626-
Trikot, das zu ihrem Haar paßt.« »Splendide! Und Paprika – das ist der perfekte nom de theatre für sie.« »Sie ist Ungarin«, steuerte Autumn bei. »Ein bezauberndes Volk, insbesondere die Frauen. Ich kann Ihrem Vorschlag nur beipflichten, Monsieur le Gouverneur. Falls la Paprica einverstanden ist, mache ich sie zu meiner Partnerin.« »Schön«, sagte Florian. »Ich werde Sie ihr vor ...« »Morgen früh, s’il vous plait. Dann können Sie mich allen Kollegen vorstellen.« Maurice stand wieder auf. »Jetzt jedoch, avec permission, ich gehe immer früh zu Bett, auch wenn es – haha – eine Solonummer ist.« Nachdem er sich verabschiedet hatte, murmelte Florian: »Ein putziges kleines Bürschchen, was?« »Er scheint ein Auge für die Damen zu haben«, sagte Edge. »In seinem Konuitenbuch steht nichts Schimpfliches.« »Ich meine nur – wenn er wirklich ein Frauenheld ist –, hättest du dann nicht fairerweise Paprikas – hm – besondere Vorlieben erwähnen müssen?« »Wozu ihn voreingenommen machen?« sagte Florian sorglos. »Entweder, er kommt bald hinter ihre Natur oder – wer weiß, vielleicht entwickelt Paprika mit einem ansehnlichen männlichen Partner vielleicht doch andere Neigungen?« »Per piacere, signori, signorina ...« ließ sich eine neue, heiser belegte Stimme vernehmen. Es war wieder ein kleiner, überschlanker, jedoch sehr viel blasserer Mann, der sie ansprach. »Sie gehören zum FLORILEGIUM, no? Ich sah, wie Sie mit Monsieur Maurice sprachen. Er und ich, wir haben zeitweilig beide beim Circus RINGFEDEL gearbeitet. Ich dachte ... falls Sie jemand gebrauchen könnten ... ich bin im Augenblick gerade frei. Ich bin Zanni Bonvecino.« -627-
»Sie sind Clown, nicht wahr?« sagte Florian und musterte ihn von oben bis unten. »Einer mit Trauermiene, Governatore«, sagte der Clown. – Und einer mit genau der richtigen traurigen Stimme, dachte Edge. »Ein Dummer August, also«, sagte Autumn. »Si, signorina. Wie ich sehe, haben Sie The Era in der Hand. Darin werden Sie meine inserzione finden, mit der ich nach Arbeit suche.« Während er sprach, hatte der Clown zwei leere Teller und zwei Messer vom Tisch genommen. Jetzt ließ er in jeder Hand ein Messer je einen Teller auf der Messerspitze kreisen, wobei die Teller genau in der Waagerechten blieben. Dabei wirkte er völlig unbefangen, tat es, wie ein anderer Mann vielleicht bei der Unterhaltung Däumchen dreht. »Ich spiele außerdem den Spaßmacher Harlekin, die kleine Dickmamsell, den Possenreißer, den Frechen Ferdinand, und trage lustige Lieder vor. Sogar das Spiegel-Entree kann ich.« »Nicht, bevor wir nicht einen zweiten Clown haben«, sagte Florian. »Im Moment haben wir nämlich überhaupt keinen.« Jetzt ließ der Clown einen der Teller hinter seinem Rücken kreisen, während er den anderen, der sich immer noch unbeirrbar drehte, unter einem seiner Beine hindurchführte und wieder zurückholte. »Und als Frecher Ferdinand – was tragen Sie da vor, Signor Bonvecino?« »Ich mach’s improwiso, zumindest richte ich es so ein, daß es improvo wirkt. Sobald wir in eine neue Stadt kommen, gehe ich zum halbiere. So ein Barbier kennt sich stets bestens im lokalen Klatsch aus und erzählt liebend gern davon. Deshalb ziehe ich als Frecher Ferdinand die Lokalgrößen und MöchtegernHonoratioren durch den Kakao, gieße Hohn und Spott über Skandale und peinlichen Protz aus, nehme aber auch peccatuccie aufs Korn, das sind kleine, liebenswerte Verfehlungen – was sich so anbietet –, und, versteht sich, immer in der Sprache, die -628-
in der betreffenden Stadt gesprochen wird.« »Meraviglioso«, sagte Florian. »Ganz schön einfallsreich«, sagte Beck. »Und wie oft wird auf Sie geschossen, Freund?« fragte Edge. »Signore«, ließ Autumn sich unvermittelt vernehmen und lehnte sich vor. »Sind Sie vielleicht mit Giorgio Bonvecino verwandt?« »No, Signorina.« Er ließ die Teller von den Messern rutschen und stellte sie zurück auf den Tisch. »Sind Sie sicher? Er war ein ...« »Ganz sicher, Signorina. Ich bin Giorgio Bonvecino.« Autumn riß die Augen auf. In geradezu ehrfürchtigem Ton sagte sie: »Im Covent Garden habe ich Sie mit der Patti singen hören. In der Sonnambula.« »Ich hatte die Ehre, si, und andere auch. Leider habe ich meine Stimme verloren, als eine Geliebte die Beherrschung verlor. Sie hat mir einen Tritt gegen den Kehlkopf versetzt. Zum Glück gingen mir nicht gleichzeitig die vielen Sprachen verloren, in denen zu singen ich gelernt hatte. Wie ich Ihnen sagte, singe ich jetzt lustige Lieder. Das sind Zanni Bonvecinos Parodien – ich brauche nicht zu übertreiben, um sie zu parodieren –, denn es sind die Arien, für die Giorgio Bonvecino einst berühmt war.« »Grundgütiger Himmel!« murmelte Florian. »Ach, ist schon gut«, sagte der Clown. »Hätte sie mich woanders hin getreten, das hätte womöglich noch schlimmere Folgen für mich gehabt. Hier haben Sie mein Konuitenbuch, Governatore. Wollen Sie hineinschauen?« »Das hat keine Eile«, sagte Florian und steckte es ungeöffnet in die Tasche. »Sie wohnen gleichfalls hier in diesem Hotel?« »No, Signore. Ich bin in einer billigen Pension abgestiegen.« -629-
»Ich werde ein Zimmer für Sie buchen, damit Sie mit uns anderen zusammen sind. Willkommen bei unserer Truppe, Signor Bonvecino.« Zur Freude aller waren die beiden Vorstellungen am nächsten Tag nicht nur ausverkauft, sie mußten auch Leute wieder nach Hause schicken und das, obwohl sie jetzt ein viel größeres Zelt hatten. Der Circus legte die beste Vorstellung hin, die Edge bis jetzt geleitet oder erlebt hatte. Allerdings gehörte das Fiorentiner Publikum auch zu dem besten, vor dem zu spielen das FLORILEGIUM bislang die Ehre hatte. Beim Großen Einzug und Umzug machten die Zuschauer auf Anhieb mit, und beim zweiten Umzug sangen sie ›Circoo e allegro‹ mit, und die Begeisterung ließ von da an keinen Moment nach. Nach Colonel Ramrods Dressurnummer trat der neue Clown Zanni auf und lieferte sich mit Florian ein schlagfertiges Rededuell. Obwohl in italienischer Sprache dargeboten, erkannte Edge einige Wörter – »Roben Browning« zum Beispiel, »Daniel Dunglas Home« sowie »Medium« und »Humbug«. Genau an diesen Stellen jedoch kam es zu den größten Heiterkeitsausbrüchen, und so nahm Edge an, daß Zanni hier Lokalklatsch aufs Korn nahm. Die ganze Zeit über, da der Clown Florian antwortete, jonglierte er mit seinen Tellern, diesmal freilich nicht auf Messern, sondern auf langen, gertengleichen Bambusstäben, so daß das ganze noch weit kunstvoller wirkte als am Tisch im Speisesaal. In der Manege sah Zanni völlig anders aus als der stellungslose Dumme August, der gestern abend in aller Bescheidenheit an Florian herangetreten war. Er trug ein hautenges Harlekinkostüm und ein winziges spitz zulaufendes Hütchen. Wenige Tupfer Bühnenschminke hatten sein Gesicht vollständig verändert – mit dunkler Farbe betonte er die Lider, die Brauen hatte er unregelmäßig nachgezogen und den Mund mit Lippenrot etwas verbreitert. Außerdem hatte er sich das Haar nach allen Seiten heruntergekämmt wie der Knappe eines -630-
Ritters aus dem Mittelalter. Nach seinem zungenfertigen Schlagabtausch mit Florian lief er nach anderen Nummern wiederholt in die Manege, um der Akrobatin Sunday und dem Schlangenmenschen Ali Baba zu helfen, während der kleinen Pausen das Publikum zu unterhalten. Während Zanni seine Bocksprünge machte, unruhig hin und her lief und seine Pirouetten drehte, hielt er die Ellbogen hoch und schien schwerelos auf den Zehenspitzen zu tanzen. Auch schien er eine gewisse widernatürliche Lust aus seinen Possen zu gewinnen: sein Gesicht und die anmutigen Bewegungen verbanden Heiterkeit und Durchtriebenheit so miteinander, daß er etwas von einem Faun oder Satyr hatte. Dann brachte er es unvermutet fertig, über irgend etwas zu stolpern und wirkte plötzlich tolpatschig und alles andere als behende, er sank in sich zusammen, ging auf die Knie, barg das gebeugte Haupt in den Armen und bot das Bild abgrundtiefer Verzweiflung und unsäglicher Schwermut. Gab es zwischen zwei Nummern eine längere Pause, wie zum Beispiel, wenn der Käfigwagen hereingeschoben wurde, kam Zanni radschlagend in die Manege, drückte sich das Hütchen an die Brust und verkündete mit lauter Stimme: »Il grande tenore Giorgio Bonvecino singt ›M’appari‹« oder irgendeine andere bekannte Arie. Dann trug er sie vor und rang dabei genauso wenig die Hände oder gestikulierte nicht mehr als jeder Tenor es getan haben würde, doch kannte das Florentiner Publikum sich in Opern aus und erinnerte sich an den einst gefeierten Sänger, ohne ihn indessen zu erkennen. Sang Zanni dann mit seiner rauhen, gebrochenen und häufig giksenden Stimme, hielten die Zuschauer das für eine hinreißende echte Burleske. Sie wollten sich schier ausschütten vor Lachen und wären fast von den Bänken gefallen, und zum Schluß applaudierten sie seiner Darbietung und riefen ihr bravo genauso, wie sie es einst für den richtigen Giorgio Bonvecino getan hatten. Alle anderen Nummern liefen genauso glänzend. Maximus -631-
sprang zum erstenmal vor Publikum durch seinen Feuerreifen – trotz der Bedenken von Edge, denn Barnacle Bill hatte eine solche Schnapsfahne, daß er selbst hätte in Flammen aufgehen können, wenn er den Reifen entzündete Maurice LeVie war wie ein blauer Blitz, der hoch in der Circuskuppel durch die Luft flog, und wenn die Zuschauer dann zur Pause das Zelt verließen, lächelten sie beseligt und plauderten angeregt miteinander. Sir John nutzte die Gunst der Stunde – nachdem er ihnen seine ›Tätowierung‹, das Museum, die Nacht-Kinder und die Weißen Pygmäen gezeigt hatte –, ihnen dutzendweise seine ›Pfeifen‹ anzudrehen, seine Bauchrednerei damit nachzumachen, und ihnen sein lange nicht zum Tragen gekommenes Mäusespiel aufzunötigen. Seine Mäuse bekam Fitz jetzt aus einer Drahtfalle, die das Albergo Kraft ihn zuvorkommenderweise in der Hotelküche hatte aufstellen lassen. Zudem hatte er sich inzwischen genug Italienisch eingeprägt, um lockend zum Weiterspielen aufzufordern und den Gewinnern zu gratulieren. Der ›konföderierte‹ Türsteher, Banat, hatte ein neues Kontrollsystem eingeführt. Die Gaffer brauchten ihm die Eintrittskarten beim ersten Betreten des Zeltes nur vorzuzeigen. Erst nach der Pause, wenn sie wieder hineindrängten, nahm Banat sie ihnen tatsächlich ab – um zu gewährleisten, daß keine Spaziergänger, die von Fitzfarris’ Rufen angelockt worden waren, sich zusammen mit denen einschlichen, die auch Eintritt bezahlt hatten. In der zweiten Programmhälfte führten die Simms-Mädchen jetzt ihren Aufstieg am Schrägseil vor. Die lange, federnde Balancierstange in der Hand, betrat Monday zaghaft, wenn nicht gar ängstlich, das vom Mast leicht geneigt bis zu einem Anker unter der ersten Sitzreihe heruntergezogene, straff gespannte Seil. Dann – immer noch Unbeholfenheit und Kleinmut vortäuschend – machte sie sich Fuß über Fuß an ihren Aufstieg, während Abdullah einen spannungsuntermalenden langgezogenen Trommelwirbel ertönen ließ, bis sie die ganze -632-
Strecke bis hinauf zur Spannvorrichtung geschafft hatte. Vorsichtig machte sie dort oben kehrt und begann ihren Abstieg genau in dem Augenblick, da Sunday, gleichfalls mit einer Balancierstange, unten das Seil betrat und ihr entgegenkam. Flüstern und Getuschel unter dem Publikum: was würde geschehen, wenn die beiden Mädchen in der Mitte des Seils aufeinanderstießen? Als es dazu tatsächlich kam, hatte das ein rasches Zucken von Füßen und Stangen zur Folge – einen Moment stand beim Aneinandervorbeigehen jedes Mädchen nur mit einem Fuß auf dem Seil und sie tauschten ihre Stangen miteinander –, dann waren sie aneinander vorbei, und Monday kam trippelnd das Seil heruntergehuscht, während Sunday weiter ganz bis nach oben stieg. Dann ließ sich Florian laut vernehmen: »Allora ... lo scivolo di salvezza. Das Abrutschen am Seil – rette sich, wer kann.« (Unter sich sprachen die Mädchen einfach vom Abstieg.) Sunday machte kehrt, um herunterzukommen, ließ mit der einen Hand die Balancierstange fahren und sich vom Seil herunterplumpsen – was natürlich ein allgemeines Luftanhalten beim Publikum sowie ein lautes Bummmm von Abdullahs Trommel zur Folge hatte, mit dem dieser den »Sturz« aufnahm. Doch irgendwie es ihr gelungen, mit der freien Hand die Balancierstange wieder zu packen, und zwar unter dem Seil hängend, so daß diese zur Tragestange wurde. Unterm Seil rutschte sie nun – zu einem lauten Glissando der Kapelle – hinunter, um unten am Fuß von Edge aufgefangen zu werden. Er drückte sie anerkennend an sich, während sie ihm ein glühend bewunderndes Lächeln schenkte. Die Schlußnummer kam zu einer neuen Melodie. Autumn hatte es verzweifelt aufgegeben, jemals den Text von ›Lorena‹ so ins Italienische zu übersetzen, daß es zum Takt paßte, wiewohl die Musik selbst anrührte der Text lohnte sich nicht. Deshalb hatte Florian angeordnet, daß man fürderhin immer mit dem Abspielen der Nationalhymne des Landes enden sollte, in -633-
dem man sich gerade aufhielt. An diesem Abend kam es zum Finale, und alle Artisten winkten und lächelten und viele von ihnen vollführten irgendwelche Bocksprünge zur Musik von ›La Marcia Reale‹. Die Artisten traten jetzt zweimal täglich vor ausverkauftem Haus auf, und das tagelang hintereinander. Trotz dieser anstrengenden Abende waren die meisten von ihnen Morgen für Morgen auf dem Circusplatz, um an ihren alten Nummern zu feilen, neue auszuprobieren und die Lehrlinge anzulernen. Clover Lee versuchte jede Pose auf dem galoppierenden Pferd, jede Drehung und jeden Sprung von einem der nebeneinander herlaufenden Pferde zum anderen und zurück, die ihre Mutter und Captain Hotspur jemals vorgeführt hatten. Und wenn Hannibal Tyree nicht gerade mit allem und jedem jonglierte, was ihm in die Finger kam und auch nicht mit der Kapelle übte, so arbeitete er mit Obie Yount, um Brutus dahingehend abzurichten, daß er ein Tauziehen mit dem Quakemaker verlor. Die Smodlakas hatten Goesle überredet, ihnen einen römischen Streitwagen im Kleinformat zu zimmern und brachten ihren Hunden jetzt bei, beim Einzug in die Manege eines der AlbinoKinder in diesem Streitwagen sitzend hinter sich herzuziehen. Edge mühte sich damit ab, den getüpfelten Pinzgauern beizubringen, bei seinem Dressurakt mitzumachen, und half Monday, Übungen immer größeren Schwierigkeitsgrades der Hohen Schule wie Schenkelweichen und Schulterherein, Courbette und Kapriole mit Thunder einzustudieren. Rouleau, der bis jetzt noch nichts Eigenes zu tun hatte, brachte Sunday immer neue akrobatische Tricks und Quincy immer unglaublichere Gliederverschlingungen bei. Zwischen diesen Stunden arbeiteten Monday und Quincy zusammen mit den drei Chinesen, dem Elefanten und dem Schleuderbrett an neuen Routineübungen, und Sunday nahm zäh weiterhin Sprachunterricht. Sie war offensichtlich entschlossen, Florian in seiner Vielsprachigkeit den Rang abzulaufen; denn sie lernte -634-
unter der Leitung von Rouleau nicht nur Französisch (und gutes Englisch), sondern ließ sich von Zanni Bonvecino in die Anfangsgründe des Italienischen und von Paprika in die des Deutschen einführen – sofern Paprika selbst nicht gerade von Maurice LeVie in die Geheimnisse der Trapezkunst nach Leotard eingewiesen wurde. Abgesehen davon, daß er es für die Pflicht eines Sprechstallmeisters hielt, eine Ahnung von all den Nummern zu haben, die unter seiner Leitung abliefen, war Edge fasziniert von den Trapezübungen und suchte morgens oft das Großzelt auf, wenn er Maurice und Paprika bei der Arbeit sah. »Aber die Stange ist so verdammt schwer, kedvesem«, beschwerte Paprika sich während einer der ersten Übungsstunden. »Meine war niemals so schwer, als ich noch mein eigenes Trapez hatte.« »Aber deine Stange brauchte nur dich zu tragen, Mam’selle«, sagte Maurice geduldig. »Und dein Gewicht hat sie natürlich immer gerade gehalten. Diese beiden Stangen sind aus gutem Grund schwer. Ein Leichtgewichtstrapez würde im unbemannten Zustand schwanken und wackeln. Steht die Stange nicht immer vollkommen gerade, horizontal und parallel zum Boden, wenn du oder ich danach springen, könnten wir beide sie verfehlen, das heißt, vorbeigreifen, und das würde unseren Tod bedeuten. Daher die Schwere.« Edge wußte bereits, seitdem er das Hochhieven und Anbringen des Trapezes unter der Circuskuppel überwacht hatte, daß jede der Trapezstangen – die über die ganze Länge mit einer Binde umwickelt war, die wiederum mit Heftpflaster am Verrutschen gehindert wurde – an den beiden Enden jenseits des Seils einen fünf Pfund schweren, vernickelten Knauf aufwies. Außerdem hatte er Goesle dabei zugesehen, wie er Manschetten für Paprika genäht hatte, daß sowohl sie als auch Maurice feste Handgelenkschützer trugen, die ihnen zusätzlich Halt geben sollten, und außerdem an beiden Händen eine Art -635-
Segelmacherhandschuh aus Wildleder mit Löchern für die Finger daran überzogen. »Nein, nein, nein!« rief Maurice, als Edge einmal zusah. Maurice stand auf der einen Plattform und Paprika auf der gegenüber. »Du darfst dich nicht vorlehnen, um der Stange entgegenzukommen, wenn sie auf dich zugeflogen kommt. Zurücklehnen sollst du dich, wenn du sie packst, und zurückgelehnt bleiben, wenn du die Brücke verläßt. Dadurch beschwerst du die Stange vom ersten Augenblick an mit deinem Gewicht und spürst den Sog der Schwerkraft nicht so sehr – kommst dir also nicht so schwer vor, sobald du unten auf der Talsohle deines Bogens angekommen bist.« Auch die wichtigsten Handwerker des FLORILEGIUM, Goesle und Beck, fanden sich jeden Morgen auf dem Circusplatz im Cascine ein und arbeiteten schwer. Carl Beck hatte von Chemikalienhändlern in der Stadt die verschiedenen Stoffe bekommen, die er für seinen Gasentwickler brauchte. Jetzt verbrachte er den größten Teil seiner Freizeit damit, empirisch festzustellen, in welchem Mischungsverhältnis die verschiedenen Bestandteile zueinander stehen mußten – und Rouleau mußte seine Ungeduld zügeln, denn Beck erklärte mit großer Bestimmtheit: »Erst wenn ich weiß, was ich tue, lasse ich Sie ausprobieren, was Sie als Luftschiffer tun können.« Außerdem ließ Beck sich von einigen Böhmen der Kapelle etwas für sich ganz persönlich bauen, doch worum es sich handelte, wollte er nicht verraten, ehe es nicht fertig wäre. Dai Goesle und ein paar von den anderen Circusarbeitern fügten dieweil einige Planken und Eisenteile zu einem Gegenstand zusammen, den Fitzfarris erbeten hatte; doch wozu er dies Ding brauchte, wollte er nicht einmal denen sagen, die daran mitbauten. Magpie Maggie Hag war wie immer beim Kostümnähen – und zwar jetzt für die Simms- und Smodlakavon unten die Hochrufe, der Applaus, bewundernde Pfiffe und Bravorufe heraufbrandeten. -636-
Bei der Eröffnung einer Nachmittagsvorstellung erklangen die ›Greensleeves‹ -Klänge noch lauter, schmissiger und schmetternder als sonst. Doch jedesmal, wenn die überraschten Artisten am Musikpodium vorbeikamen und hochspähten, konnten sie nichts weiter erkennen, als daß ein uniformierter Slowake mehr als sonst dort oben war. Keiner vermochte über das vorspringende Sims des Podiums zu erkennen, welches Instrument dieser Bläser spielte, und Kapellmeister Beck lächelte nur selbstgefällig auf sie herab. Was immer es auch war, das er der Kapelle hinzugefügt hatte, es fuhr fort, zu allen folgenden Nummern die Musik zu verstärken, und das mit Klirren, Rattern, dumpfen hohlen Lauten, Messinggeschepper und sonderbaren, unirdischen Klangfetzen. Erst als die Zuschauer in der Pause das Zelt verließen, konnten Florian und Edge auf die Sitze neben dem Musikpodium hinaufklettern und der Sache auf den Grund gehen. »Das ist ein altes bayerisches Instrument«, sagte Beck stolz, als sie es anstarrten. »Teufelsgeige heißt es. Ich habe meinen Böhmen gezeigt, wie sie sie machen sollten.« Die Teufelsgeige bestand aus einem vertikal aufgerichteten Stab von etwa anderthalb Meter Länge, an dessen unterem Ende eine Sprungfeder angebracht war, deren Basis auf dem Boden des Musikpodiums aufsaß. Dort und am Stab angebracht waren Kuhglocken und Schlittenglöckchen der unterschiedlichsten Größen, ein Tambourin, ein paar ausgehöhlte Holzklötze und ein Messingbecken. »Das kann jeder spielen, man braucht nicht einmal einen ausgebildeten Musiker«, sagte Beck. »Mit einem einzelnen Trommelschlegel schlägt man gegen dieses oder jenes Teil der Teufelsgeige. Die Sprungfeder unten verleiht dem ganzen zusätzliche Resonanz und Nachhall. Beim Fortissimo oder Crescendo braucht der Spieler nur mit der ganzen Teufelsgeige aufzustampfen. Auf der Sprungfeder wippt der Apparat, und alles, was daran festgemacht ist, scheppert und wummert und -637-
klingelt und rammst.« »Genial, ihr Bayern!« murmelte Florian. »Eigentlich schade, daß nur noch wenige Florentiner Gelegenheit bekommen werden, dies zu genießen.« »Wenige nur noch?« sagte Beck. »Heißt das, daß wir hier in Florenz Schluß machen?« »Es wird Zeit. Wir haben über drei gute Wochen hier gehabt, in den letzten Tagen allerdings niemand mehr nach Hause schicken müssen. Und heute hat es sogar ein paar leere Plätze gegeben. Außerdem wird es verdammt kalt. Wir werden es dem ORFEI nachmachen und uns nach Süden aufmachen.« »Dann sollten wir mit einem Paukenschlag unseren Auszug halten«, sagte Beck. »Laß bitte Plakate drucken, Direktor, auf denen für den letzten Tag der Ballonaufstieg angekündigt wird – und zwar zwischen der Nachmittags- und der Abendvorstellung. Und nicht den Hinweis vergessen: ›Wenn das Wetter es erlaubt‹.« »Glaubst du, du bist soweit, Carl? Und Monsieur Roulette? Nun, sehr gut. Ich werde die Plakate über Nacht drucken und morgen ankleben lassen. Übermorgen soll unser letzter Tag in Florenz sein.« Der Himmelfahrtstag, wie Rouleau ihn erwartungsfreudig und respektlos zugleich nannte, zog klar und wolkenlos herauf. Früh am Morgen luden Beck und fünf von seinen Böhmen die Saratoga aus ihrem Wagen und breiteten die seidene Ballonhülle, das dazugehörige Haltenetz und die Seile auf dem Grasoval in der Mitte der Rennbahn aus. Während vier der Männer den Gasentwickler holten, befestigten die anderen Sandsäcke am oberen Rand der aufrecht stehenden korbgeflochtenen Gondel. Trotz der frühen Morgenstunde und obwohl Beck gewünscht hatte, die Füllung des Ballons unbeobachtet vornehmen zu können, falls es zu peinlichen Zwischenfällen kommen oder die Sache überhaupt nicht klappen -638-
sollte, hatte sich bereits eine ganze Menge schaulustiger Florentiner versammelt, darunter einige Nonnen mit ihren Schulklassen. Folglich knurrten die Böhmen und ächzten unterdrückt, statt bei der Arbeit gotteslästerlich zu fluchen. »So einen Ballonaufstieg kann man nur in den wichtigsten Städten machen«, warnte Beck Rouleau, der auf seinen Stock gestützt neben der mit dem eigentlichen Ballon durch Seile verbundenen Gondel stand. »Und auch das nur als besondere Attraktion vielleicht zur Eröffnung oder zum Abschluß unseres Aufenthalts. Bis ich anfing zu experimentieren, war mir nicht klargewesen, was für eine Menge Chemikalien man für jede Füllung braucht. Die Menge ist so groß, daß wir die Sachen nicht mit den anderen Dingen transportieren können; sie müssen jeweils an Ort und Stelle neu gekauft werden. Schauen Sie mal.« Der Gasentwickler bestand aus zwei sehr großen, mit Metall ausgekleideten Kisten, die jede auf vier Räder aufmontiert war. Verbunden wurden sie im Augenblick durch einen fünfzehn Zentimeter starken Gummischlauch. Bumbum schraubte einen oben an der Kiste angebrachten, an einem Scharnier befestigten Eisendeckel los, hob ihn hoch und forderte Rouleau auf, einen Blick hineinzuwerfen. »Das hier ist der eigentliche Generator. Gegen die Säurekorrosion ist er mit Blei ausgekleidet. Was Sie sonst noch sehen, das sind unregelmäßig angebrachte Bretter, die für die gleichmäßigere Verteilung der Eisenspäne sorgen sollen.« Die fünf Böhmen kamen gebeugt unter der Last je eines schweren Beutels heran. Einer nach dem anderen hob den seinen bis zum Deckelstutzen hoch und leerte den Inhalt in den Tank, wobei er die Sacköffnung hin- und herschüttelte, um die Späne über die hochkant stehenden Bretter darin zu verteilen. Die Männer mußten mehrere Male hingehen und Beutel holen – es mußten an die zwanzig Säckchen Eisenspäne sein, die im Kasten verschwanden. Danach trugen die Männer Eimer mit Wasser heran und füllten damit die Tanks bis auf etwa -639-
Armeslänge unter dem Rand. Beck machte den Deckel zu, schraubte ihn fest, während die Männer mit gewaltigen korbumflochtenen Ballonflaschen zurückkehrten, die mit einer wie Wasser aussehenden Flüssigkeit gefüllt waren. »Vitriolöl – Schwefelsäure«, sagte Bumbum. »Um die exakte Menge und die genaue Vorgehensweise zu bestimmen, hat es vieler Experimente bedurft.« Langsam leerten die Männer jetzt fünf Korbflaschen der Säure durch einen Kupferstutzen in den Generatortank. Dann hieß es, abwarten; Beck bestimmte die Zeit anhand einer Uhr, die er sich zu diesem Zweck von Florian ausgeliehen hatte. Endlich nickte er, und die Arbeiter gossen noch mehr Vitriol hinein. »Jetzt entwickelt sich der Wasserstoff«, sagte Beck. »Wenn man das Vitriolöl nach und nach dazugibt, verhindert man eine allzu rasche Gasentwicklung, die die Tankwände zum Bersten bringen könnte. Jetzt strömt das Gas durch diesen dicken Schlauch hinüber in den anderen Kasten. Fühlen Sie nur!« Rouleau legte die Hand auf den die beiden Apparate verbindenden Schlauch und nahm sie mit einem Ruck wieder fort; das Gummi war ganz heiß. »Das ist der Grund, warum wir den zweiten Apparat brauchen: er ist Kühl- und Raffiniergerät in einem. In seinem Inneren zirkuliert das heiße Gas um ein wassergefülltes Röhrennetz. Ist es genügend abgekühlt, durchläuft es blubbernd eine zweite, mit Kalkwasser gefüllte Kammer und verliert dabei alle Unreinheiten und überflüssigen Gasbestandteile. Passen Sie auf: Jetzt stelle ich die Verbindung zwischen dem Endschlauch und dem Ballonventil her. Dazwischen haben wir noch eine Pumpe eingebaut, um den Transport vom Gasentwickler zum Luftballon zu beschleunigen.« Er winkte einem Böhmen, der sofort energisch die Pumpe betätigte. Inzwischen hatte sich die gesamte Belegschaft des -640-
FLORILEGIUM neugierig um den Ballon versammelt. Freilich dauerte es ziemlich lange, ehe man erkennen konnte, daß sich im Inneren der Saratoga etwas tat; man mußte sich auch auf Becks Aussage verlassen, um zu glauben, daß sich im Inneren des Gasentwicklers etwas abspielte. Doch dann regte sich etwas unter der scharlachroten Seide. Hier glättete sich eine Falte, dort zog sich ein Gekrumpel zurecht. Es dauerte rund zwanzig Minuten – während deren sich die Arbeiter an der Pumpe ablösten –, bis deutlich erkennbar war, wie die obere Lage der Ballonseide ein paar Handspannen über dem Boden schwebte. Nach einer Stunde hatte sich eine Art inzwischen übermannsgroßer Kuppel gebildet, die allerdings noch plump auf der Erde ruhte. Nach weiteren zwei Stunden jedoch war der Ballon der Saratoga vollständig gefüllt, schwebte ausladend und stolz und von seinem Netz gehalten über seiner Gondel in der Luft und wurde nur von den Halteseilen daran gehindert davonzufliegen. Beck löste das Anschlußstück des Schlauches vom Ballonventil, trieb dann seine Leute an, die beiden Generatorkisten mit vielen, vielen Eimern Wasser zu löschen, ehe die Apparate zum Fuhrpark des Circus zurückgeschoben wurden, so daß niemand sie mehr sah. Edge bemerkte, daß Luftschiffer Rouleau, Fitzfarris, Monday und Sunday Simms sich aufgeregt miteinander unterhielten. Fitz redete und zeigte – auf den Ballon, auf die Mädchen, auf sich selbst und auf Rouleau, der sichtlich mit Interesse lauschte. Nur die letzten zwischen ihnen gewechselten Worte waren für den vorübergehenden Edge zu verstehen. »... macht ihr, nicht wahr Mädchen?« fragte Fitzfarris. »Mais oui«, sagte Sunday. »Il commence á faire une grande aventure.« »Bien«, sagte Rouleau. »Dann wollen wir mal!« Zur angekündigten Zeit des Aufstiegs, kurz vor -641-
Sonnenuntergang, drängten sich nicht nur im gesamten CascinePark, sondern auch am gegenüberliegenden Arnoufer die Menschen, Fenster und Dächer der Häuser zu beiden Seiten des Flusses waren von Neugierigen besetzt. Diejenigen, die dem Roten Wagen des FLORILEGIUM am nächsten standen, winkten mit Lirescheinen und verlangten Eintrittskarten für die letzte Vorstellung. Edge meinte zu Florian gewandt, das Interesse der Stadt am Circus scheine wieder erwacht zu sein, vielleicht würde es sich doch lohnen, noch ein paar Tage länger zu bleiben. »Nein«, erklärte Florian. »Es ist immer besser weiterzuziehen, solange man noch den Reiz des Neuen besitzt; läßt das Interesse erst nach, ist man bereits etwas Altbekanntes, und das langweilt. Außerdem würden die Fiorentiner von nun an erwarten, täglich einen Ballonaufstieg zu erleben, und das können wir uns einfach nicht leisten.« Jetzt drangen schmetternde Fanfarenklänge aus dem Zelt. Beck und seine Kapelle kamen samt Trommler Hannibal und dem Mann mit der Teufelsgeige herausmarschiert und spielten dabei die rasante Melodie von ›Camptown Races‹. Hinter der Kapelle schritt Jules Rouleau am Stock, bemüht, sein Humpeln zu unterdrücken. Über dem grüngelben Trikot trug er den gelbgefütterten schwarzen Mantel Colonel Ramrods, dessen Schleppe Autumn und Paprika trugen, welche gleichfalls ihre Manegenkostüme anhatten. Als sie die Gondel der Saratoga erreichten, warf Edge zufällig einen Blick auf das Sonnensegel vorm Haupteingang des Großzelts. Fitzfarris – das blaue Mal im Gesicht überpudert – wies ein paar Böhmen an, jenen Gegenstand herauszuziehen, den Goesle nach seinen Angaben für ihn gebastelt hatte. Es war ein großer Holzwürfel, der nach nichts weiter aussah als nach einer schwarz angestrichenen und mit goldenen Sternen, Mondsicheln und anderen kabbalistischen Zeichen verzierten Umzugskiste. Als die Böhmen den Würfel ein kleines Stück vom Sonnensegel entfernt niedersetzten, -642-
konnte Edge erkennen, daß an den äußeren vier Ecken der Oberseite des Würfels schmale flache Blechrinnen angebracht waren. Florian schloß seine einleitenden Worte ab, die Kapelle spielte blechern ein Thema aus Corettes ›Le Phenix‹, die Arbeiter ließen die Halteseile los und die Menschenmenge stieß ein »Ooooh!« aus, das noch bis nach Fiesole zu hören gewesen sein muß. Der Ballon stieg nur langsam, denn die Böhmen gaben das Seil nur stückweise frei, so daß Rouleau, als er etwa neunzig Meter über der Erde schwebte, die Menschen nochmals zum Luftanhalten brachte, als er einen aberwitzigen Satz aus der Gondel hinaus machte. Auf der seitlich an der Gondel festgezurrten Strickleiter stehend, vollführte er in dieser luftigen Höhe seine akrobatischen Kunststücke, doch zog er diese Vorführung mit Rücksicht auf sein empfindliches Bein nicht besonders in die Länge. Als er wieder in den Korb zurückgeklettert war, ließen die Arbeiter – diesmal nicht er – das Seil zum Einholen los, Rouleau holte es herauf, ringelte es auf dem Gondelboden auf, und die Saratoga stieg – endlich unbehindert – rasch empor. Immer noch ziemlich langsam – so jedenfalls sah es von unten aus gewann der Ballon an Höhe und trieb nach Norden davon. Die Zuschauer unten konnten den fernen Rouleau kaum erkennen, der sich am Gondelrand zu schaffen machte und einen von mehreren Sandsäcken ausleerte, woraufhin der Ballon nun noch rascher stieg, bis ihn ein Wind aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung erfaßte, ihn zurück über den Cascine-Park trieb, wo er in südlicher Richtung über dem Arno zu entschwinden drohte. Rouleau wollte offensichtlich herausfinden, wie weit er das Luftgefährt beherrschen könne, denn er ging noch höher damit, dann tiefer, dann wieder höher, und das alles, indem er abwechselnd Sand ausschüttete oder das Klappenventil öffnete, um in unterschiedlichen Höhen in verschiedene Richtungen dahinzufliegen. -643-
Schließlich brachte Rouleau die Saratoga wieder herunter und versuchte, den Circusplatz von der Seite her anzusteuern. Zwar stand kaum zu erwarten, daß er genau auf derselben Stelle wieder landete, von der er ursprünglich aufgestiegen war, doch schaffte er es nahe genug bis zu einer Tiefe, daß er das freie Ende des Einholseils hinunterwerfen konnte, woraufhin die Böhmen sich darauf stürzten und den Ballon bis zur Landungsstelle ziehen konnten. Die Zuschauermenge rief Hurra und klatschte Beifall, als die Saratoga langsam zu Boden gezogen wurde. Die Kapelle stieß noch einen Fanfarenruf aus, um die Aufmerksamkeit der Leute auf sich zu ziehen, und Fitzfarris rief laut durch einen rasch aus Papier gedrehten Trichter: »Ebbene, signore e signori! Attenti! ... Un pezzo dell’arte magica! ... Osservate!« Die Gaffer richteten den Blick vom Ballon auf Fitzfarris, der lässig eine riesige Zigarre paffte und dann großartig damit auf seine goldschwarze Plattform deutete. Auf dieser wiederum stand in anmutiger Pose Monday Simms und trug ein stolzes Lächeln zur Schau; außer ihrem kitzfarbenen Trikot samt den an strategisch wichtigen Stellen aufgenähten Pailletten schien sie nichts anzuhaben. »Osservate!« fuhr Fitz fort. »La fanciulla ehe sparisce.« »Das Mädchen, das verschwindet«, übersetzte Florian für diejenigen, die kein Italienisch konnten. »Was hat Sir John denn vor?« Den Ballon, der jetzt Hand über Hand von den Böhmen heruntergeholt wurde, nicht aus dem Auge verlierend, bellte Fitzfarris weiterhin sein gebrochenes Italienisch hinaus, um die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu lenken. »Osservate vigilantemente, signore e signori! ... In un istante, la fanciulla ... sparirá!« Die Gondel der Saratoga schwebte nur wenige Fuß über dem Erdboden, als Fitzfarris noch lauter rief: -644-
»Signorina ... sparisca!« und mit der Zigarre auf Monday zeigte. Es gab keinen lauten, wohl aber einen nachhallenden Knall – wummm -, helle Flammen zuckten kurz auf, weißer Rauch wölkte von den vier Seiten der Plattform empor und verbarg für kurze Zeit das Mädchen, während die ersten Reihen der Zuschauer erschrocken vor der kleinen Explosion zurückwichen. Der Rauch stieg empor, von der Plattform fort in die Luft ... und es stand keine Monday Simms mehr da. Ungläubiges Murmeln stieg aus der Menge auf, doch gab Fitz ihr keine Zeit, sich über das Phänomen zu unterhalten; denn er rief bereits: »Ecco!« und zeigte gleichzeitig auf die Ballongondel, die gerade in diesem Augenblick auf dem Erdboden aufsetzte. »Ecco! La fanciulla magica!« Die Zuschauer blinzelten und rieben sich die Augen, denn dort in der Korbgondel, die just in diesem Augenblick vom Himmel herniedergeschwebt war, erblickten sie in anmutiger Pose neben Monsieur Roulette eben das Mädchen, das sie vor Sekunden von der auf festem Boden stehenden Plattform hatten verschwinden sehen. »Das muß man Sir John lassen«, sagte Florian anerkennend. »Er findet doch immer eine neue Verwendung für hübsche Zwillinge.« »Mich wundert nur«, sagte Edge, als die Menge neuerlich in Applaus ausbrach, »daß er nicht daran gedacht hat, Geld aus diesem Trick herauszuschlagen.« In gewisser Weise hatte Fitz das durchaus getan, denn die nächststehenden Gaffer verlangten jetzt womöglich noch lautstarker als zuvor nach Eintrittskarten für einen Circus, der gratis das Wunder vorgeführt hatte, dessen Zeugen sie soeben gewesen waren. Als Goesle und seine Männer einen Abschnitt der Seilabsperrung lösten, um sie durchzulassen, wurde der Rote Wagen, in dem Magpie Maggie Hag die Karten verkaufte, regelrecht von ihnen gestürmt. Fitzfarris schlug sich seitlich durch die Menschenmasse und kam triumphierend auf Florian und Edge zu. -645-
»Ich hab’ was von dem Zeugs gefunden, das die Bühnenzauberer Lakapodum-Pulver nennen«, sagte er. »Und da dachte ich mir, warum nicht was Gutes draus machen?« »Lycopodium«, korrigierte Florian ihn. »Und was ist das?« fragte Edge. »Eine Art Pilz«, sagte Florian. »In getrocknetem und pulverisiertem Zustand benutzt man ihn für Feuerwerkskörper – oder um solche Wirkungen zu erzielen, wie wir sie soeben gesehen haben.« »Ich hab meine Zigarre drangehalten«, sagte Fitz, »und gleichzeitig einen Hebel betätigt, der dafür sorgte, daß Monday durch die Falltür fiel. Diesen Trick möchte ich jedoch nicht allzuoft vorführen, weil ich sonst die Weißen Afrikanischen Pygmäen nicht zeigen kann, ohne das ganze zu verraten.« »Egal wie«, sagte Florian. »So hast du in der Pause mehr Zeit für dein Mäusespiel; ich nehme an, du wirst das Geld nur so scheffeln. Heute jedenfalls müssen wir bestimmt Leute nach Hause schicken.« Selbst diejenigen, die keine Karten mehr bekommen hatten, drückten sich weiterhin auf dem Circusplatz herum und sahen zu, wie Monsieur Roulette die Reißleine der Saratoga betätigte und der Ballon in sich zusammenfiel. Sie blieben sogar noch, um zuzusehen, wie er zusammen mit den Böhmen die Seide, das Netz, den Reif und den Korb zusammenlegte und den gesamten Apparat in seinem Wagen verstaute. Sie blieben, um während der Pause beim Mäusespiel ihr Glück zu versuchen. Sie blieben sogar noch, als die Vorstellung längst vorüber war – das herauskommende Publikum wollte auch nicht gleich nach Hause gehen – und sahen sehnsüchtig zu, wie die Arbeiter und der Elefant das Chapiteau abbauten, während die Artisten einzeln oder zu zweit im Garderobenwagen verschwanden, um in Straßenkleidern wieder aufzutauchen und sich auf den Weg zum Hotel Kraft zu machen, wo sie ein letztes Abendessen -646-
einnahmen und die letzte Nacht in Florenz verbrachten.
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7 Die Fahrt von Florenz Richtung Süden könnte man auf einer Karte mit Strich, Pünktchen, Strich, Pünktchen, Strich markieren, wobei die Striche jeweils Strecken von rund dreißig Kilometern Landstraße entsprachen und die Punkte die Dörfer, Ortschaften und Städte, zu denen eine solche Tagesfahrt den Circus brachte. Die Route hatte Florian so festgelegt, daß man den Flußtälern westlich der Apeninnkette folgte, welche die ganze Halbinsel durchzieht. Das hatte wohl zeitweiliges Zickzack zur Folge, was jedoch immer noch besser war als winterliche Kälte und Nebel in den Bergen und das steile Auf und Ab der Gebirgsstraßen zusätzlich zu dem Mangel an Gras oder Heu für die Tiere dort oben. Alle bedauerten es, die Schönheiten und Annehmlichkeiten von Florenz hinter sich zu lassen, doch am Ende der ersten Tagesreise, als sie die Außenbezirke von San Giovanni Valdarno erreichten, schien das Städtchen auf eine merkwürdige Weise vielversprechend. Die Straße vor ihnen wurde gesäumt von hohen Hügeln, die im spätnachmittäglichen Sonnenlicht rubinrot, smaragdgrün und saphirblau blitzten. »Schau dir das an, verdammt noch mal«, meinte Edge zu Autumn. »Dieser Ort ist von Edelsteinbergen umringt.« Als sie jedoch näherkamen, erwiesen sich die glitzernden Berge als nichts weiter denn Haufen bunter Flaschenscherben – den Abfällen der Grappabrennereien. Der Rest von San Giovanni erwies sich als genauso trist industriell und häßlich und bestand aus den Werkstätten von Sattlern, Töpfern und Steinmetzen, die vornehmlich Grabsteine herstellten. Auf der Weiterfahrt wechselten farbenfroh hübsche und eintönig häßlich graue Orte einander ab. Beeindruckend war für die Circusleute ihr nächster Spielort, Arezzo. Die Stadt erhob sich auf einem das umliegende Flachland überragenden Hügel, der von Kornfeldern, Obsthainen und Weinbergen umgeben -648-
war. Wer sich Arezzo näherte, hatte zunächst den Eindruck, als wäre der von einer mittelalterlichen Stadtmauer umschlossenen Stadt gar nichts anderes übrig geblieben, als in die Höhe zu wachsen; eine Terrasse erhob sich über die andere und das größte Gebäude der Stadt, die Zitadelle, war auf der obersten Spitze angesiedelt. Der nächste Aufenthaltsort, Cortona, war wieder eine Enttäuschung – eine abweisende, schweigsame Stadt, die nur aus Festungswällen und Forts bestand. Die darauf folgende Station war jedoch wieder ein Labsal für Augen und Gemüt, ein kleiner Weiler am Ufer des bezaubernden, in allen Silbertönen schimmernden Trasimenischen Sees. »Aber so silbrig ist der See nicht immer gewesen«, sagte Florian und wandte sich dabei vor allem an Hannibal Tyree. »Hier hat dein Namensgeber, der Karthager Hannibal, eine Schlacht gegen den römischen Konsul Flaminius geschlagen. Hunderttausend Mann haben hier den Tod gefunden, und es heißt, der See sei hinterher jahrelang blutrot gefärbt gewesen.« Als sich die Wagenkolonne eines Spätnachmittags den hohen Mauern von Perugia näherte, erwartete Florian sie bereits – wie gewöhnlich war er vorausgefahren, um mit den Behörden der Stadt alles zu regeln. Er rief die Truppe zusammen und sagte: »Wir werden das Zelt wieder einmal auf der Rennbahn aufschlagen, die etwas außerhalb der Stadtwälle liegt. Diesmal allerdings müssen wir sie mit einer Kirmes teilen, die dort bereits stattfindet.« »Ach, verflucht«, sagte Fitzfarris. »Wäre es da nicht besser, wir ließen die Stadt einfach aus und zögen gleich weiter?« »Ganz im Gegenteil«, sagte Florian. »Die Kirmes ist keine Konkurrenz für uns, eher ein zusätzlicher Anziehungspunkt – ein erweitertes Pausenprogramm, wenn du so willst, Sir John. Circus und Kirmes zusammengenommen ziehen große Menschenmengen an. Allerdings sollten wir klarmachen, daß wir etwas Selteneres und Erleseneres sind als eine gewöhnliche Provinzkirmes. Deshalb machen wir diesmal wieder eine Parade -649-
durch die Stadt, ehe wir mit dem Aufbau beginnen.« So zog das FLORILEGIUM in Perugia mit dem gleichen Pomp ein wie in Florenz. Die Kapelle spielte mehrere Male ihr ganzes Repertoire durch, die Frauen winkten und lächelten und ließen gelegentlich ihr Trikot oder gar etwas von ihren Blößen sehen, obwohl der Abend bereits so kühl war, daß sie Mäntel und Umhänge tragen mußten. Der Wagenzug folgte einer breiten, großen Straße, die sich manchmal außerhalb, manchmal innerhalb der Stadtmauern entlangzog; laut rufend und grüßend lehnten die Einwohner von Perugia aus den Fenstern, versammelten sich am Straßenrand und bevölkerten die Festungswälle. Da die Parade durch die Stadt über rund dreieinhalb Kilometer führte, dunkelte es bereits, als der Circus seinen Ausgangspunkt wieder erreichte und Florians Kutsche auf dem Weg zum Ippodromo voranfahren konnte. Das war nicht schwer zu finden, denn gut die Hälfte des ovalen Innenfelds war strahlend hell von den Lampen und Fackeln erleuchtet, die um Zelte, Stände und ein riesiges Gerüst aufgebaut waren, das zu groß war, als daß es unter ein Dach gepaßt hätte. Die Kirmes war von Lärm erfüllt mehrere Kapellen spielten gleichzeitig, aus allen Ecken tönte Gesang. Die Circuswagen rollten auf die freie Hälfte des Binnenfeldes, die Musikanten zogen die Uniform aus und Arbeitskleidung an und gesellten sich dann zu den anderen Arbeitern, die schon mit dem Aufbau begonnen hatten, während Florian in die Stadt zurückkehrte, um ein bequemes und passendes Gasthaus zu suchen. Die Artisten schlenderten über die Kirmes, denn viele von ihnen kannten solche Rummelplätze nur aus Amerika, wo die Leute aus der Gegend stolz ihr bestes Zuchtvieh, handgearbeitete Steppdecken und Gartenerzeugnisse wie etwa riesige Kürbisse vorführten. Die italienische Kirmes dagegen glich mehr einem gigantischen Pausenprogramm, in dem jeder Aussteller irgend etwas zur allgemeinen Unterhaltung beitrug, -650-
Erfrischungen feilbot, Karten- und Würfelspiele veranstaltete und manches Abstruse verhökert wurde. Edge und Autumn interessierten sich zuerst für das gewaltige Holzgerüst, das ihnen bei ihrer Ankunft aufgefallen war. Es entpuppte sich als haushohes Rad – oder vielmehr zwei durch Querbalken miteinander verbundene, nebeneinander laufende Riesenräder, von deren Querbalken ein Dutzend zweisitziger Gondeln waagerecht herunterhing. Gedreht wurde das Ganze von einem auf einer Plattform an der Radnabe stehenden Menschen, dem selbst in der Nachtkühle der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief, während er eine aus der Nabe herausragende Kurbel drehte. Ein Akkordeonspieler unten auf dem Boden spielte eine schaurig schrille Begleitmusik dazu. »Das sind die neuen Schaukelboote«, sagte Autumn. »Zum erstenmal habe ich in Paris einen von diesen Apparaten gesehen. Jetzt aber erfreuen sie sich überall großer Beliebtheit.« Sie gingen weiter durch die Reihen fackelerhellter Zelte, Stände und Buden, die sich durch eine Fülle kunstvoll beschrifteter oder nur handschriftlich gekennzeichneter Schilder auszeichneten: Museo di Figure di Cera, Sala dei Misteri, Tomba della Mummia. »Wachsfigurenkabinett, Gruselkabinett und Mumiengrab«, übersetzte Autumn. »So was nennen Schausteller ganz allgemein entresorts – Unterhaltungen, bei denen die Leute einfach fürs Durchgehen bezahlen. Und die Besitzer heißen voyageurs forains, was bedeutet, daß sie nicht viel besser als Zigeuner sind.« Sie blieben stehen, um eine Bratwurst zu essen. Der Holzkohlenrost wurde von einer alten Frau bedient, die zwar auf einem Schemel saß, die Füße der Bodenkälte wegen aber in einem Korb stehen hatte. Für wenige Centesimi reichte sie jedem von ihnen eine zischende, auf ein Holzstäbchen aufgespießte, fetttriefende Wurst. Im Weitergehen -651-
hineinbeißend, sahen sie, daß manche ihrer Kollegen gleichfalls auskundschafteten, was die Kirmes alles zu bieten hatte. Fitzfarris sah sich besonders eingehend die entresorts an und bezahlte, um eine nach der anderen in Augenschein zu nehmen. »Was um alles in der Welt ist das nun wieder?« fragte Edge, als sie an eine Bude kamen, in der es nichts weiter gab als ein über und über mit Haaren vollgestopftes Holzregal. Da gab es Haare jeder denkbaren Farbe. Altersgrau, Silbergrau und Schlohweiß eingeschlossen, hingen sie gebündelt da wie Pferdeschwänze, einige länger, andere kürzer, manche strähnig glatt und andere gelockt. »Es ist genau das, was man sieht«, sagte Autumn. »Falsche Haare, die man kaufen kann. Da probiert eine Kundin gerade etwas an.« Sie zeigte auf eine Frau, die neben dem Verkaufsstand versuchte, ihrem etwas schütteren eigenen Schöpf Haar von rostroter Farbe anzupassen, dabei den Kopf zur Seite hielt, einen Pferdeschwanz nach dem anderen probierte und in einen zersprungenen kleinen, an einem Nagel hängenden Spiegel spähte. »Sie flicht es unter ihr eigenes Haar – falschen Zopf oder Haarteil nennen wir Frauen so was – und bezahlt wird nach Gewicht.« »Gott sei Dank, daß du so was nicht brauchst«, sagte Edge. Die falschen Zöpfe erinnerten ihn zu sehr an den Skalp, den Pfeffer Mayo am Lungia-Balken in der Manege hatte hängen lassen. »Und woher haben sie die Haare?« »Von armen Frauen – oder toten. Von Straßenmädchen, aus Arbeitshäusern und Armenhäusern, aus Hospitälern, Irrenanstalten und sogar dem Leichenschauhaus.« »Mein Gott, jetzt bin ich aber wirklich froh, daß du so etwas nicht nötig hast. Aber vielleicht sollten wir Bumbum-Beck zu diesem Stand schicken.« »Du bist mir ein ganz Schlimmer!« Sie lachte. »Aber jetzt gehe ich wohl besser zurück zu unserem Wohnwagen, Zachary. -652-
Ich glaube, die Wurst ist mir nicht bekommen.« Erschrocken sah Edge sie an. »Vielleicht sollte ich dich da besser begleiten ...« »Nein, nicht doch. Ich bin nicht krank, Liebling, nur ein bißchen unwohl ist mir. Außerdem habe ich Kopfweh. Geh du nur weiter und sieh dir an, was es zu sehen gibt.« Edge hatte in einem der Stände etwas gesehen, das ihn interessierte. Die Bude quoll über von allerlei ›Krimskrams‹: billige Kinkerlitzchen und Souvenirs, Gipsmadonnen, Brieföffner, Farbdrucke von Leonardos Abendmahl. Etwas abgesondert und ganz für sich allein stand inmitten all dieses Plunders eine echte Cloisonne-Dose, deren runden Deckel der alte Mann in der Bude jedesmal in die Höhe hob, wenn jemand vorüberkam. Machte er sie auf, spielte sie auf piepsige und abgehackte Weise die Melodie ›Greensleeves‹. Edge trat näher, woraufhin der alte Mann den Deckel hochhob und die Klänge herausgeklimpert und geplärrt kamen. »Bella, no, la scatola armonica? Un oggetto di mia nonna ...« Nachdem er dieses mehrere Male wiederholt hatte, begriff Edge, daß die Dose sowohl als Schnupftabaksdose als auch als Schmuckkästchen gedient hatte, ein Erbstück von der Großmutter des alten Mannes darstellte und der Musikmechanismus im Boden der Dose vor undenklich langer Zeit von einem englischen Meister solcher Instrumente hergestellt worden sei. Als die Melodie von ›Greensleeves‹ immer schleppender wurde und ein kummervoll klirrendes Klagelied daraus wurde, zeigte der alte Mann Edge den Schlüssel zum Aufziehen im Boden der Dose. Dann nannte er einen Preis, nicht ohne noch einmal daraufhinzuweisen, daß er sowohl das kleine Kunstwerk als auch die Erinnerung an seine geliebte Großmutter überaus hoch schätzte, woraufhin Edge einen Preis nannte, der für beide beleidigend gering war. Sie feilschten und schacherten, bis Edge – der bei einem Geschenk -653-
für Autumn nicht knausern wollte – bei einer bestimmten Summe einschlug. Auf dem Rückweg zum Circusplatz holte Edge Fitzfarris ein, der erklärte, er habe möglicherweise ungeheures ›Schwein‹ gehabt; als Florian alle jene zusammentrommelte, die gern in das Hotel ziehen wollten, das er gefunden hatte, rückte Fitzfarris mit seiner Neuigkeit heraus. »Ich hab’ ein Zelt für meine Nacktschau gefunden«, verkündete er. »Ein Dach für deinen Anbau«, korrigierte Florian ihn automatisch. »Auf der Kirmes gibt es einen Burschen, der ein wenig Englisch spricht, und mit dem bißchen Italienisch, das ich kann, hat es einigermaßen mit der Unterhaltung geklappt. Er stellt eine erbärmliche alte Mumie aus und möchte am liebsten verkaufen und seine Sachen packen. Das Zelt ist nicht größer als ein Hospitalzelt bei der Army, aber für mich mehr als groß genug, eine Burleskenschau darin zu zeigen. Und ziemlich verkommen, aber das kann Stitches bestimmt aufmöbeln, so daß es hinterher aussieht wie unser Chapiteau. Aber wie dem auch sei – für einen vernünftigen Preis kann ich es haben – und die Mumie obendrein. Was sagst du, Direktor?« »Was willst du mit einer Mumie, wenn sie kein Kassenmagnet ist?« »Ach, Himmel, dieser Itaker hat keine Ahnung, wie man so was aufzieht. Er läßt das verdammte Ding einfach daliegen. Ich laß’ ihr von Mag ein paar reizvolle halbdurchsichtige Fummel nähen und denk’ mir eine Geschichte für sie aus ...« »Sie? Handelt es sich um eine weibliche Mumie?« »Wer kann das schon genau sagen? Sie ist völlig verschrumpelt – ich meine, auch dort. Warum keinen Morphoditen draus machen, wenn ich möchte? Aber in erster Linie geht es mir um das Zelt.« -654-
»Dann bin ich einverstanden, Sir John. Kaufs.« So erwarb Fitzfarris das Zelt, und Goesle und seine Leute flickten die Zeltbahnen, wechselten die alten mürben Seile gegen haltbare neue aus, und in der in der Ebene gelegenen Stadt Foligno und dem Bergnest Spoleto, in denen das FLORILEGIUM jeweils an zwei Tagen nacheinander spielte, zeigte Fitz neben den anderen Sehenswürdigkeiten seines Pausenprogramms auch noch die Mumie. Magpie Maggie Hag hatte mit ihren eigenen Clownsfarben, der Schminke und dem Puder, die sie von ihren Kolleginnen ausborgte, dem arg zerfurchten Gesicht der Mumie fast so etwas wie Pausbäckchen verliehen, und wenn diese jetzt auch nicht gerade verführerisch weiblich aussah, so doch zumindest etwas menschlicher als Baumrinde. Den haarlosen Schädel hatte sie unter einer Kopfbedeckung versteckt, die von ferne an eine Pharaonenkrone erinnerte, und die Leiche in ein Tüllgewand gehüllt, das mit Ornamenten bestickt war, die sie für ägyptisch hielt. Das Gewand ließ Arme und Beine frei, damit jeder sich überzeugen konnte, daß es sich wirklich um eine Mumie handelte, doch der Busen wurde ausgestopft, damit es zumindest so aussah, als handelte es sich um die Mumie einer Frau. Von Zanni Bonvecino ließ Fitz sich einen italienischen Satz beibringen, den er dann auswendig lernte. »La principessa egiziana, signore e signori!« sagte er auf, um dann zu beteuern, sie sei sechstausend Jahre alt, »von königlichem Geblüt, wie man an dem luxuriösen Tüllgewand erkennen kann, das ihren ansehnlichen Leib noch heute bedeckt.« Das war in diesen beiden Städten alles, was er zu seinen Exponaten sagte, wobei es ihm gleichgültig war, ob die Gaffer angesichts der ausgestellten Mumie in Entzücken gerieten oder nicht. Als jedoch das FLORILEGIUM die wesentlich größere Stadt Terni erreichte, war Fitz’ neues Zelt frisch gestrichen und wurde am Hauptzugang zum Chapiteau aufgestellt. So stellte -655-
Fitz »die ägyptische Prinzessin« während der ersten Pause in Terni mit zusätzlichem Wortgeklingel vor, das Zanni ersonnen hatte; mit zuversichtlich tiefer Stimme sagte er: »Jeder gebildete Herr im Publikum, der sich als Arzt oder Chirurg ausweisen kann und die physiologischen Einzelheiten dieser erstaunlich gut erhaltenen jungen Frau genauer in Augenschein nehmen möchte, kann sich in dem nur besonderen Besuchern vorbehaltenen kleinen Pavillon melden – und zwar nach Schluß unserer Hauptvorstellung. Und bei Zahlung eines bescheidenen zusätzlichen Entgelts ...« Ein erstaunlich großer Anteil der erwachsenen Männer im Publikum erwies sich als Angehöriger des Medizinerstandes und war bereit, fünf Extra-Lire zu zahlen, um einem beruflichen Interesse an altägyptischer Anatomie nachzukommen. In der nächsten Stadt, Rieti, gab es wiederum eine Fülle von Ärzten, die ins Mumienzelt Einlaß begehrte. Doch ließen sie sich – samt ihren Frauen und Kindern – auch von einer weiteren Attraktion der Schau fast genausosehr hinters Licht führen. Zum erstenmal nahm Colonel Ramrod seine acht getüpfelten Pinzgauer in seine Dressurnummer auf. Das heißt, er hatte die stattliche Anzahl von vierzehn Pferden zugleich in der Manege, die allesamt von Magpie Maggie Hag mit blauen Schabracken, Federbüschen und glitzerndem Kopfgeschirr herausgeputzt waren. Dabei gab es jetzt nur einen Unterschied zu ihrer bisherigen Aufmachung; die Schabracken trugen auf der rechten Seite eine Nummer von 1 bis 14 aufgestickt. Nachdem Colonel Ramrod seine Pferde einzeln, zu zweit oder grüppchenweise durch verschiedene Figuren, Gangarten und Tänzelschritte hindurchgeführt hatte, bestand der Schluß der Nummer darin, daß die Tiere in gemessenem Galopp durcheinander und entgegen dem Uhrzeigersinn in einem Glied die Innenseite der Piste entlangzogen. Sodann, auf ein Zeichen hin, das nur dem Sprechstallmeister und den Pferden bekannt war, bildeten die Tiere eine hintereinander hertrabende Reihe. -656-
Das Pferd mit der Nummer 1 zog vor, Nummer 2 folgte und so weiter bis alle Pferde von 1 bis 14 einen vollständigen Kreis bildeten, immer wieder um ihren Herrn herumgaloppierten und dabei aussahen, als wären sie zu Recht stolz auf sich. Die Zuschauer zollten dieser Darbietung das höchste denkbare Kompliment und verharrten wie benommen vor Bewunderung schweigend eine Minute auf den Sitzen, ehe sie in tosenden Beifall ausbrachen. Dann brach der karussellartige Kreis auseinander, und die Pferde trabten – offenbar aus eigenem Antrieb – durch die Öffnung in der Piste und verschwanden, immer noch in numerischer Ordnung, eines nach dem anderen durch die Gardine. Für die nächste Etappe das Salto-Tal hinauf brauchte das FLORILEGIUM drei Tage und Nächte. Es gab unterwegs keine Ortschaften, die groß genug gewesen wären, daß sich ein Zeltaufbau gelohnt hätte, und die Alberghi und Locande, an denen sie vorüberkamen, hatten zwar genug Vorräte und auch Küchen, die groß genug waren, sie zu verköstigen, aber bei weitem zuwenig Betten. So nahmen die Artisten und älteren Böhmen ihre Mahlzeiten im Gasthaus ein, zogen sich aber hinterher in ihre Wohnwagen oder auf ihre Strohsäcke zurück. In einer dieser Nächte machte Fitzfarris Paprika einen überzeugenden Vorschlag, der aber offensichtlich doch nicht überzeugend genug war, denn Zeugen hörten, wie sie ihn anfauchte: »Du willst, daß ich mich nackt zur Schau stelle? Csünya! Ich hab’ mir schon überlegt, was ich mit meiner Perche anfange. Jetzt hätte ich größte Lust, sie dir den vegbel hochzuschieben!« Woraufhin Fitzfarris sich an die Jüngeren unter den Frauen wandte: Clover Lee, Sunday und Monday. »Es geht nur um Scharaden, um lebende Bilder«, bat er eindringlich. »Ihr braucht nur zu posieren. Mehr oder weniger, jedenfalls. Und dazu noch ›Bilder aus der Bibel‹. Was könnte lobenswerter sein als das?« »Nun ...«, meinte Sunday vorsichtig. -657-
»Fabelhaft! Du und Monday, ihr stellt die Töchter dar. Und jetzt zu dir, Clover Lee – was hältst du von der Erwachsenenrolle einer hethitischen Matrone?« In diesen Tagen, da keine Vorstellungen gegeben wurden und es auch sonst keinerlei Ablenkung gab, nähte Magpie Maggie Hag die Kostüme für die biblischen Scharaden, die Fitzfarris plante, während er mit den drei Mädchen und zwei Böhmen probte, die er zum Mitmachen hatte gewinnen können. Mit Zannis Hilfe skizzierte er auch die Inschrift für ein Schild, das der Chinese dann ›künstlerisch‹ ausführte. Als der Circus in der von einer Burg überragten Stadt Avezzano haltmachte, stellte Fitz dieses Schild nicht sofort zur Schau und forderte diesmal während seines Pausenprogramms keine Ärzte auf, sich mit der Anatomie der Mumie zu beschäftigen. Statt dessen trat er nach der Pausenvorstellung mit der von Zannini formulierten Aufforderung vor das Publikum: »Nach der Hauptvorstellung wird in dem kleinen Pavillon, den Sie dort drüben sehen, gegen ein bescheidenes Entgelt von zehn Lire eine besonders erstaunliche Darbietung nur für Herren gegeben. Sie werden überrascht sein, ein geradewegs aus der Bibel übernommenes Bild lebendig dargestellt zu sehen. Den Damen und den Kindern können wir dies Bild leider nicht zeigen. (Sie, meine Herren, kennen gewiß die grob freimütige Sprache bestimmter Passagen der Heiligen Schrift.) Diese erbauliche Darstellung ist ausschließlich jenen erwachsenen Bibelkennern vorbehalten, die es nicht schockiert und die auch nicht gleich Zeter und Mordio schreien, die Heilige Schrift ... hmhm ... gleichsam unverhüllt dargeboten zu sehen.« Unmittelbar nach der Schlußnummer liefen Clover Lee, Sunday und Monday in den Garderobenwagen, um sich umzukleiden – die beiden Böhmen brauchten bloß ihre Overalls auszuziehen, denn sie trugen nur das Allernotwendigste ihres Kostüms darunter – und eilten sodann in Fitz’ Anbau, wo sie zwischen zwei freihängenden Zeltbahnen ins Zeltinnere -658-
schlüpften. Florian und Edge kamen federnden Schritts aus dem Chapiteau und Edge sagte: »Grundgütiger Himmel, hast du das da gesehen?« Er zeigte auf die Traube von Männern, die sich vor dem Zeltanbau drängelten, wo Fitzfarris fieberhaft Eintrittskarten verkaufte. Offenbar gab es in Avezzano genausoviele an der Bibel Interessierte wie anderswo Ärzte und Chirurgen. Alle drängten sich durch den Vordereingang des Zeltes, über dem jetzt gut sichtbar ein Schild angebracht war, dessen Aufschrift folgendermaßen lautete: BILDER AUS BIBEL UND MYTHOS DIE WOLLUST – David und Bathseba DER ERTAPPTE – Lot und seine Töchter. Als Edge und Florian sich ebenfalls in das Zelt hineinquetschten, wies Fitzfarris gerade alle anderen Männer ab, die mit Geldscheinen wedelnd und laut durcheinanderschimpfend gleichfalls Einlaß begehrten – wobei er ihnen versicherte, die Eintrittskarten für die zweite Scharade würden verkauft, sobald die erste Sitzung der Bibelstudien vorüber sei. Das kleine Zelt war bereits gedrängt voll, bis auf den Hintergrund, wo ein Stück Zeltleinwand einen Vorhang bildete. Jetzt zog Fitzfarris an der Schnur, der Vorhang ging auf, und sichtbar wurde eine kleine hölzerne Plattform. Dahinter, auf die Innenseite des Zeltes selbst, hatte der chinesische Künstler seiner asiatischen Vorstellung vom Aussehen des Heiligen Landes freien Ausdruck verliehen. Im selben Augenblick begann einer der zum Mitmachen gewonnenen Böhmen, der neben der Bühne Aufstellung genommen hatte, aber offensichtlich nicht zum ›Bild‹ gehörte, auf dem Akkordeon Zeugnis abzulegen, wie König David auf der Harfe gespielt haben würde. Die erste Scharade war jedoch nicht eigentlich nur ein lebendes Bild, denn es gehörte auch eine gewisse Handlung dazu. Es kletterte nämlich der zweite Böhme auf die Plattform, gekleidet in einen silberfarben gestrichenen Brustharnisch aus -659-
Pappmache und einen gefältelten kurzen Rock, unter dem seine behaarten Beine hervorschauten. Dann tauchte Clover Lee in einem kurzen Kleid aus nahezu durchsichtigem Batist auf. Während diese beiden miteinander schmusten und sich betatschten, was so aussehen sollte, als nähmen zwei Liebende schmerzlich Abschied voneinander, hob Fitzfarris unterhalb der Plattform auf italienisch an und sprach: »Und als das Jahr um war, zur Zeit, da die Könige ins Feld zu ziehen pflegen, sandte David Joab und seine Männer mit ihm und ganz Israel, damit sie das Land der Ammoniter verheerten.« Der in seiner Rüstung steckende Böhme zog sich von der Plattform zurück und ließ seine Frau schmerzgebeugt zurück, doch war dieser Schmerz übertrieben. Die Musik erfuhr eine kurze Unterbrechung, denn der Musiker übergab das Akkordeon jetzt an den scheidenden Krieger, um seinerseits, angetan mit kurzem Chiton, behaarten Beinen und einer vergoldeten Krone aus Pappmache die Plattform zu erklimmen. Als die Musik wieder anhob, faßte Clover Lee sich wieder und tat so, als kratze sie sich die blondbuschigen Achseln. »Und es begab sich«, intonierte Fitzfarris, »daß David vom Dach seines Hauses eine Frau sich waschen sah; und die Frau war von sehr schöner Gestalt.« Der böhmische David sah Bathseba mit Glubschaugen an. »Und David sandte hin und ließ nach der Frau fragen und man sagte: Das ist doch Bathseba, die Tochter Eliams, die Frau Urias, des Hethiters. Und David sandte Boten hin und ließ sie holen. Und als sie zu ihm kam, wohnte er ihr bei.« David und Bathseba flogen aufeinander zu, umarmten sich und schlabberten sich gegenseitig ab, während Fitz behutsam an seiner Schnur zog und der Vorhang aus Zeltbahn die Szene langsam verschwinden ließ. »Aber dem HERRN mißfiel die Tat, die David getan hatte.« Der Menge der Bibelinteressierten freilich gefiel die Tat mitnichten übel. Sie forderte die beiden unerlaubt Liebenden lüstern und mit saftigen Vorschlägen zum Weitermachen auf. -660-
Florian und Edge, die in der hintersten Reihe der Zuschauer standen, schlugen die Zeltbahn zurück und waren als erste draußen. Die Zurückbleibenden beruhigten sich erst wieder, als Fitz wieder auftauchte und sie ihm zehn weitere Lire hinwerfen konnten, um in den Genuß des zweiten Bildes zu kommen. Das führte zu heftigen Wortwechseln mit denen, die zuvor keine Karte bekommen hatten und nun voller Ungeduld draußen warteten. Doch damit fertigzuwerden, überließen Florian und Edge Fitzfarris. Sie gingen um das Zelt herum, um Clover Lee abzufangen, als diese unter der Zeltbahn hinausschlüpfte. »Hm ... Clover Lee, meine Liebe«, sagte Florian. »Seit dem Fortgang deiner lieben Mutter betrachte ich mich gewissermaßen als in loco parentis befindlich. Und ich würde auf meine Pflicht vergessen, wenn ich dir gegenüber nicht zum Ausdruck brächte, mit welch gemischten Gefühlen ich sehe, wie du in einer derart nackten Nacktschau auftrittst.« Clover Lee kicherte. »Ich hab’ nichts dagegen, mich zu zeigen. Irgendwie ist es sogar aufregend zu sehen, wie alle im Zelt schwer schnaufen, und gleichzeitig zu wissen, daß keiner an mich rankann. Bis auf diesen haarigen Böhmen. Du kannst Sir John ruhig sagen ... nein, ich sag’s ihm lieber selbst –, er soll dafür sorgen, daß dieser verdammte David aufhört, über meinen Lollos zu sabbern.« Munter entwischte sie in Richtung Garderobenwagen, und Florian und Edge sahen sich achselzuckend an. »Hm«, meinte Florian. »Es ist ja wohl hoffnungslos, sich noch mal reinzuquetschen, um zu sehen, was Sir John mit den Simms-Gören vorhat. Da müssen wir uns wohl bis heute abend gedulden.« »Vielleicht sogar noch länger«, sagte Edge mit einem Blick hinauf zu den grauen Wolken, aus denen sanft Schnee herabrieselte, »Meinst du, Fitzfarris hat den Zorn des Allmächtigen herausgefordert?« -661-
Den Rest des Tages über fiel der Schnee nur in launischen Wirbeln und hielt die Bewohner von Avezzano nicht davon ab, die Abendvorstellung wieder zu einem ausverkauften Haus zu machen. Doch Florian steckte während der ersten Hälfte des Programms immer wieder den Kopf zum Zelt hinaus und stellte fest, daß es jedesmal dichter schneite. Edge hatte auf der Trapezbrücke einen Böhmen postiert, der ihm Bescheid geben, sobald Schnee hereinstieben und sich auf ihr festsetzen sollte. Das jedoch geschah nicht, und so konnten Maurice und Paprika ihre Nummer ohne Zwischenfall hinter sich bringen. Sie waren die letzte Nummer vor der Pause, doch wandte Florian sich an das Publikum und sagte, da draußen bereits eine ziemlich dicke Schneeschicht liege, schlage er vor, sie sollten ihre Plätze nicht verlassen. Während also Magpie Maggie Hag zwischen den Sitzreihen hin und herging und schwangeren Frauen ihre Voraussagen machte, mußte der ziemlich verärgerte Fitzfarris seinen Tätowierten Mann, seine Weißen Afrikanischen Pygmäen, seine Kinder der Nacht und die Ägyptische Prinzessin mitten in der Manege vorführen, wo er weder seine ›Pfeifen‹ verkaufen noch sein Mäusespiel anbieten konnte. Auch die zweite Hälfte des Programms verlief ohne Zwischenfall. Doch ehe die gesamte Circustruppe zum Schluß auch nur ein einziges Mal um die Manege herumgezogen war, drängten bereits viele Gaffer dem Ausgang zu; der Rest folgte ihnen rasch, und alles rannte nach Hause oder suchte eine Droschke für die Heimfahrt. Niemand blieb, um sich im Zeltanbau die ›Bilder aus Bibel und Mythos‹ zu Gemüte zu führen. »Scheiße!« fluchte Fitzfarris unter dem schneebedeckten Sonnensegel hervor. »Keine Scheiße – Schnee ist das!« sagte Edge humorvoll und wandte sich Dai Goesle zu: »Die Körperwärme der Zuschauer hat verhindert, daß der Schnee auf dem Zeltdach liegen bleibt, Zeltmeister. Was aber jetzt, wo sie alle fort sind?« »Kein Problem«, sagte Stitches. »Ich laß’ einfach ein paar von -662-
Peggys Heubündeln hier drinnen langsam verbrennen – und zwar unter der Aufsicht einiger meiner Männer, die halt die Nacht über wachbleiben müssen. Das hält das Zelt sauber und trocken.« Am nächsten Tag schneite es nicht mehr, aber die Straßen der Stadt und die Wege auf dem Zeltplatz waren dermaßen verschlammt, daß Florian anordnete, das Zelt sofort abzubauen. Doch auch in der nächsten Stadt, Sora, hatte das FLORILEGIUM, insbesondere aber Fitzfarris ebensowenig Glück. Es war schon schlimm genug, daß Sora, eine Stadt der Papiermühlen, genauso übelkeiterregend stank wie Baltimore – kaum hatte die Nachmittagsvorstellung begonnen, setzte lang anhaltender Regen ein. Der Wind frischte auf. Regen und Wind wurden heftiger. Zwischen dem Toben der Elemente und dem schaurigen Geklatsch und Aufgeblähtwerden der Zeltbahnen gingen selbst Florians hinausgebrüllten Einführungen der einzelnen Nummern unter. Edge hatte wieder einen Böhmen auf der Brücke postiert, der lange, bevor Maurice und Paprika an die Reihe kommen sollten, aus luftiger Höhe heruntergeklettert kam und berichtete, die Trapezseile hätten sich mit Feuchtigkeit vollgesogen, und auch er selbst sei bis auf die Haut naß. Edge verkündete unter der Truppe, sowohl der Trapez- als auch der Hochseilakt müßten gestrichen werden; deshalb sollten alle anderen ihre Nummer ein wenig in die Länge ziehen, damit die Zeit ausgefüllt werde. Florian scheuchte gleichzeitig ein Dutzend Böhmen hinaus in den heulenden Sturm und wies sie an, die schwersten Circuswagen auf die dem Wind zugekehrte Seite des Zeltes zu schieben und das Zelt mit Stricken an diesen Wagen zusätzlich zu sichern. »Zumindest brauchen wir nicht zu fürchten, daß das Zelt weggerissen wird«, informierte er Edge, nachdem er bis auf die Haut naß und triefend ins Zelt zurückkehrte. »Es sei denn, der Sturm verstärkt sich noch.« -663-
»Das dürfte kaum etwas ausmachen«, sagte Edge. »Die Leute sind von dem Wasser, das durch die Mastöffnungen und unter der Traufe hereinkommt, auch so schon ziemlich feucht.« Ob durchnäßt oder nicht, die Zuschauer folgten Florians Empfehlung und blieben während der Pause im Zelt. Infolgedessen mußten Magpie Maggie Hag und Fitzfarris ihr Pensum wiederum im Zeltinneren absolvieren. Später, nach der Schlußnummer, wandte Florian sich nochmals an das Publikum: Der Sturm scheine sich zu legen, und alle, die wollten, könnten im Zelt bleiben und sich durch zusätzliche Unterhaltung die Wartezeit abkürzen – und das ohne zusätzlichen Eintritt, und zwar durch canti spirituali oder ›Spirituals‹, wie die Echten Amerikanischen Neger ihre Gesänge nennen. »Die Heiteren Hottentotten, Signore e Signori – Gli Ottentotti Felici.« Und Einzug hielten Sunday, Monday, Ali Baba und Abdullah, die sich in Zivilkleidung geworfen hatten, und jetzt zur dezenten Begleitung der Kapelle ein langes Potpourri von sich gaben, in dem ›Sometimes I Feel Like a Motherless Child‹, ›Joshua Fit de Battle of Jericho‹ und dergleichen vertreten waren – dezent begleitet von der Kapelle, weil Bumbum-Beck und seine Bläser bisher kaum Gelegenheit gehabt hatten, sich in dieser Musik zu üben. Erst als das FLORILEGIUM sein Zelt in Cassino aufbaute – einer Stadt, die sich unter der massigen und majestätischen Benediktinerabtei duckte, die sich auf dem die Stadt überragenden Berg erhob –, konnte Fitzfarris seine Sideshow wieder aufnehmen. Florian und Edge hatten zuviel mit anderen Dingen zu tun, als sich die lebenden Bilder anzusehen, die nach der ersten Vorstellung gezeigt wurden. Doch nach der Spätvorstellung, als fast das gesamte Publikum in das kleinere Zelt hinüber wollte, sorgten Florian und Edge dafür, daß auch sie einen Stehplatz erhielten, von dem aus sie ›Lots Töchter treiben Schande mit ihrem Vater‹ mitansehen konnten. -664-
»Und es begab sich«, erzählte Fitz, »da Gott, als er die Städte Sodom und Gomorrha verderbete, Lot hinausschickte, sich vor dem Verderben in Sicherheit zu bringen.« Der böhmische Akkordeonspieler entlockte seinem Instrument eine kummervolle Vorstellung jener orgiastischen Klänge, wie sie in Sodom und Gomorrha gang und gäbe gewesen sein mögen. Der Vorhang aus Zeltbahnen ging auf und gab den Blick auf den zweiten Böhmen frei, angetan mit einem formlosen Gewand aus Rupfen und über der Schulter einen Beutel aus Sackleinwand. »Und Lot blieb auf dem Gebirge mit seinen beiden Töchtern.« In durchsichtigen, kaum etwas verhüllenden Kleidern traten Sunday und Monday auf und steckten verschwörerisch die Köpfe zusammen. »Da sprach die ältere zu der jüngeren: So komm, laß uns unserm Vater Wein zu trinken geben.« Lot holte eine Flasche Grappa aus seinem Beutel nahm einen tüchtigen Schluck, torkelte über die Plattform und fiel krachend auf den Rücken. »Und die erste ging hinein und legte sich zu ihrem Vater.« Sunday streckte sich nur keusch neben Lot aus, doch die Tatsache, daß Monday sich an dem Anblick zu weiden schien und vielsagend die Schenkel aneinander rieb, vermittelte den Zuschauern den Eindruck, sie wohnten einer monströsen Paarung auf der Bühne bei. Nach einer Weile schlich Sunday sich davon, Lot erwachte, stand auf und taumelte auf der Bühne umher. Wieder war Fitzfarris’ Stimme zu hören: »Laß uns ihm auch diese Nacht Wein zu trinken geben, daß du hineingehst und dich zu ihm legst, damit wir Nachkommen schaffen von unserm Vater.« Wieder holte Lot seine Flasche Grappa hervor, trank tüchtig und fiel nieder. »Und die jüngere machte sich auch auf und legte sich zu ihm.« Behutsam nötigte Sunday ihre Schwester, sich neben Lot niederzulegen, doch Monday lag nicht so keusch da wie zuvor ihre Schwester, sondern wälzte sich sichtbarlich hin -665-
und her und rieb die Schenkel aneinander. Die Sodom-undGomorrha-Akkordeonmusik wurde lauter und immer lauter, der Vorhang schob sich vor die Szene, während Fitzfarris sich ein letztesmal vernehmen ließ: »So wurden die beiden Töchter Lots schwanger von ihrem Vater!« Die versammelten Bibelinteressierten brachen in lautes Hurra und aufmunterndes: »Ha i coglioni duri, questo padre!« und »Lui si e rizzato!« aus. Doch diese Rufe wurden übertönt von einem lauten Gezeter: »Desistiate! Infedelü«. Verblüfft drehten sich die Gaffer um und als sie sahen, von wem diese Verwünschungen kamen, liefen sie angstvoll auseinander. Zwei Männer, die trotz des milden Wetters in schwere Paletots gehüllt waren, schlugen diese jetzt auf, ließen eine Kutte darunter sehen und brüllten entrüstet: »Scandalo! Dileggio! Putriditä!« »Verdammt!« knurrte Florian. »Auf so was hätte ich gefaßt sein sollen ausgerechnet hier in der Hochburg des Heiligen Benedikt.« Das Zelt hatte sich blitzschnell geleert, nur die beiden zornbebenden Priester, Florian, Edge und der erschrocken dreinblickende Fitzfarris blieben zurück. »Was haben diese Vögel denn?« fragte Fitz, während selbige fortfuhren, drohend die Fäuste zu schütteln und ihn mit Verwünschungen zu überschütten. »Ich fürchte, wir sitzen bös in der Tinte, Sir John«, sagte Florian. Auf italienisch redete er auf die beiden Mönche ein und stellte sich selbst mutig als Zirkusbesitzer vor; er also sei es, den die Schuld für das Vorgefallene treffe. Das jedoch schien die Patres nicht zu beschwichtigen, die immer noch zischten und schäumten. »Die gute Mär von deinen lebenden Bildern scheint schnell die Runde gemacht zu haben«, übersetzte Florian für Fitzfarris. »Der Erzabt hat daher diese beiden Ordensbrüder hergeschickt, sich mit eigenen Augen zu überzeugen. Und was sie gefunden haben, hat ihnen nicht geschmeckt. Sie -666-
prophezeien, daß es dem hochwürdigen Herrn Erzabt noch weniger gefallen wird.« »Himmel«, sagte Fitz. »Was können ein paar hergelaufene Mönche uns schon anhaben?« »Hier in Italien besitzt die Inquisition noch immer ein bißchen Macht«, sagte Florian. »Ich könnte auch noch von einer einzigartigen Hinrichtungsart berichten, die hier einst ausgeübt wurde. Einem für schuldig Befundenen wurde der Bauch aufgeschlitzt, die Gedärme wurden rausgezogen und langsam um ein Rad gedreht – und bei lebendigem Leibe mußte er dabei zusehen.« Fitzfarris schluckte und sagte: »Nun mach mal einen Punkt, Florian ... Sag ihnen, ich hätte nur aus der Bibel vorgelesen. Das hab’ ich schließlich getan, oder? Oder sollte dieser Zanni mir ein paar Sauereien in der Übersetzung untergejubelt haben?« »Nein, das war alles ganz richtig«, sagte Florian und hatte eine kurze Unterredung mit den beiden immer noch schäumenden Klerikern. »Und jetzt zitieren sie ihrerseits Shakespeare – daß der Teufel die Heilige Schrift zu seinen eigenen Zwecken mißbrauchen kann.« »Das ist doch alles Unsinn«, sagte Edge. »Diese beiden Nichtsnutze haben abgewartet, bis es nichts mehr zu sehen gab – erst da haben sie Zeter und Mordio geschrien.« »Ruhig, Zachary«, sagte Florian. »Ihr beiden verzieht euch jetzt erst einmal. Ich hab’ die Verantwortung übernommen, und so will ich auch die Strafe auf mich nehmen. Macht schon, raus mit euch!« Sie gingen, trieben sich jedoch in der Nähe herum, falls Florian Hilfe brauchte – oder ihm die Gedärme ersetzt werden müßten. Nach einiger Zeit sahen sie die beiden Priester aus dem Zeltanbau in die fackelerhellte Dunkelheit hinaustreten. Sie zogen sich die härenen Kapuzen über die Stirn und verließen mit flatternder Kutte und Paletot den Circusplatz. Kurz darauf kam -667-
auch Florian aus dem Anbau heraus – offenbar hatte er alles unbeschadet überstanden. »Nun, was ist passiert?« wollte Fitzfarris wissen. »Ach, ich habe nur dem Wohlfahrtsfonds einen kleinen Beitrag entrichtet.« »Weiter nichts?« fragte Edge. »Damit sind wir von der Angel? Vom Vorwurf der Ketzerei oder Gotteslästerung oder was es sonst alles war?« »Nun ja«, sagte Florian, »sie haben eine gewisse dunkle Färbung in der Haut der Simms-Mädchen entdeckt und daraus den zutreffenden Schluß gezogen, daß sie Mulattinnen sind.« Fitz konnte sich nicht fassen. »Soll das heißen, diese ItakerHengste von Mönchen hätten sich über Rassenschande beschwert – daß zwei hübsche Farbige es mit einem Böhmen trieben?« »O nein, die guten Patres haben nichts weiter dagegen gehabt mitanzusehen, wie ein Weißer mit zwei Mulattinnen schäkerte. Ihre Einwände waren mehr theologischer als moralischer Art.« »Wie bitte?« »Ach, wißt ihr, die beiden Söhne, die Lot mit seinen Töchtern zeugte, waren Ammon und Moab. Viel später gab es unter den Frauen König Salomons Ammoniterinnen und Moabiterinnen, also Früchte besagter Bibelstelle; außerdem gilt es als sicher, daß der heilige Joseph von Salomon abstammt. Den Theologen der katholischen Kirche macht es genug Schwierigkeiten, mit der Möglichkeit fertigzuwerden, daß der Mann von Jesus Mutter möglicherweise ein Produkt dieser inzestuösen Paarung vor vielen Jahrhunderten war. Und jetzt kommst du mit einem Paar schokoladenbrauner Mädchen, läßt die Episode neu aufleben und besudelst die Heilige Familie auch noch mit einem Teerquast.« »Was du nicht sagst!« -668-
»Vielleicht wird aber alles nicht so schlimm. Wenn du versprichst, das Tableau mit Lot und seinen Töchtern während unseres Aufenthaltes hier in Cassino nicht noch einmal zu zeigen, wollen die guten Patres für dich beten.« »Eines würde ich den frommen Vätern gern mal flüstern«, erklärte Fitz säuerlich. »Sollen sie doch in eine Hand beten und in die andere pissen – mal sehen, welche schneller voll ist.« Während das FLORILEGIUM von einer kleinen Stadt zur anderen zog, verbesserten Stitches Goesle und Bumbum-Beck in ihrer Freizeit die Abteilungen des Circus ständig, für die sie verantwortlich waren. Beck trieb irgendwo eine Trommel mit Schnarrsaiten sowie eine Tenortrommel auf, gewann einen weiteren Böhmen für die Kapelle, der diese beiden spielen sollte, denn sie waren geeigneter als Hannibals Baßtrommeln, während einer Sensationsnummer für den erwartungsvollen Wirbel zu sorgen oder bei irgendwelchen Clownerien für flotte Trommeluntermalung. Goesle wiederum baute in doppelter Ausführung etwas, was Leute, die schon lange beim Circus waren, Donnerbalken nannten – und zwar einen transportablen Donnerbalken. Das ganze bestand aus drei Wänden mit einer sich in Angeln drehenden Tür davor, die ein Brett mit einem einzelnen Loch darin umgaben, was sich alles zusammenlegen und mithin mühelos transportieren ließ. Von dem chinesischen Kalligraphen ließ Goesle auf die eine Tür Uomini und auf die andere Donne malen. Sobald die Zelte auf einem neuen Zeltplatz aufgebaut waren, ließ er von ein paar Böhmen in angemessener Entfernung davon Gruben ausheben und die beiden Aborte darüber aufstellen. Das FLORILEGIUM hatte unter dem milden Winter in Mittelitalien nur kurz und nicht ernstlich gelitten, und während der Circus von diesen winterlichen Breiten fort weiter den Stiefel hinunter zog, kroch vom mittelmeerischen Süden der Frühling gen Norden. In Caserta stießen die beiden aufeinander; hier knospte es bereits in jedem Blumentopf und die Platanen, -669-
welche die lange, breite Allee, die zum alten Königspalast führte säumten, prangte bereits in frischem Grün. An dieser Allee stieß Florian, der wie stets vorausgefahren war, wieder mit dem Circus zusammen und berichtete: »Die Behörden von Caserta wollen uns nicht. Sie weigern sich, uns einen Platz in der Stadt zuzuweisen.« Edge sagte: »Soll das heißen, sie hätten bereits von Fitz’ Schmuddelschau Wind bekommen? Heißt das, daß wir fürderhin nirgends mehr auftreten können?« »Wenn das so ist, wieso grinst du dann, Florian?« sagte Autumn. »Weil zufällig König Vittorio Emmanuele für ein paar Wochen in La Reggia weilt« – mit einer umfassenden Handbewegung wies er auf den riesigen, kolonnadengeschmückten Palast am Ende der Allee – »statt in Florenz oder in seinem Palast in San Rossore. Und die Autorität des Königs übersteigt die der örtlichen Behörden. Als ich im Municipio vorsprach, wurde ich an einen Kammerherrn vom Hof verwiesen.« »Mein Gott«, sagte Edge. »Hat denn sogar der König schon von unserer Nacktschau gehört?« »Wenn ja, will er sie jedenfalls sehen«, sagte Florian. »Ich will euch nicht länger an der Nase herumführen. Ich lächle, weil wir in der Welt vorankommen.« Damit alle ihn hören könnten, erhob er die Stimme und erklärte dann: »König Vittorio Emmanuele hat offenbar eine Leidenschaft für den Circus, aber noch nie einen aus Amerika gesehen. Seine Majestät lädt uns daher ein, unser Zelt im Park von La Reggia aufzuschlagen und eine Gala für ihn und seinen Hof zu geben.« Unterschiedliche Rufe wurden laut. Clover Lee war diejenige, die am lautesten schrie: »Endlich! Grafen und Herzöge!« »Sogar einen Kronprinzen, mein Kind!« sagte Florian. »Der König wird von seinem Sohn Umberto begleitet. Und deshalb: -670-
Tun wir Seiner Majestät zunächst einmal die Ehre einer ›Parade‹ an. Also los: Die Allee hinauf!« Gesagt, getan; es war im übrigen warm genug, daß sie ihre Kostüme anlegen konnten; alle taten ihr Möglichstes, anmutige Posen einzunehmen und sich graziös zu bewegen; nie hatte die Kapelle mit mehr Schwung gespielt. Als sie in Palastnähe kamen, gingen im ersten Stock ein paar bis auf den Boden reichende Fenster auf, und eine Reihe uniformierter, goldbetreßter und ordensgeschmückter Gestalten trat auf den Balkon heraus, ihnen zuzusehen. Als das geschah, brach Beck das Stück, das seine Leute gerade spielten, ab, und rief mit lauter Stimme: »La Marcia Reale« – den ›Königsmarsch‹ –, und die Herren auf dem Balkon zogen den kokardenbesetzten Hut. Aus den Türen des Erdgeschosses traten gemessenen Schrittes zwei Lakaien in altmodischen Perücken und Kniehosen und geleiteten den Zug in den drei Kilometer langen Park. Die Hofbediensteten liefen voraus und blieben schließlich stehen, um dem Circus zu bedeuten, wo er zwischen Springbrunnen, Fischteichen, Tempeln und Statuen auf einer Rasenfläche das Zelt aufschlagen sollte. Als die Böhmen mit dem Entladen der Wagen und mit dem Aufbau begannen, sagte Florian zu Beck: »Die Hofgala geben wir morgen, wann immer es Seiner Majestät beliebt, uns die Ehre zu geben. Von übermorgen an gestatten Seine Majestät huldvoll, daß die Einwohner von Caserta und des umliegenden Landes den Schloßpark betreten, um sich unsere Vorstellung anzusehen. Kapellmeister, ich weiß nicht, ob es möglich sein wird, in einer Stadt dieser Größe die Chemikalien aufzutreiben, die du für den Gasentwickler brauchst. Aber warum machst du nicht, daß du nach Caserta kommst, und siehst, was sich machen läßt?« »Jawohl«, sagte Beck und bellte seine Anweisungen für die Böhmen hinaus. »Offenbar möchte jetzt schon irgendein vornehmer Herr uns -671-
einen Besuch abstatten«, sagte Autumn und machte Florian auf die reichgeschnitzte Kutsche ganz in Gold und Weiß aufmerksam, die gerade am Rand des Circusplatzes haltgemacht hatte. Vom Kutschbock sprangen zwei Gardisten und holten dann einen kleinen, dicken Mann in eleganter Uniform mit offenem Gesicht aus dem Wagen, der über den Reihen blinkender Ordensschnallen die große Rosette vom Orden der Annunziata trug. Er war von den Brauen bis zum Scheitel kahlköpfig, was er jedoch durch einen gebieterischen Kinnbart und dichten, hochgezwirbelten Schnurrbart wettzumachen suchte, der weit über sein Gesicht hinausragte und es links und rechts einrahmte. »Meiner Treu, Seine Majestät persönlich!« sagte Florian. »Fort, alle miteinander. Nur du nicht, Colonel Ramrod. Du bleibst und heißt ihn zusammen mit mir willkommen. Und du auch, Miss Auburn, um für Zachary zu dolmetschen.« Die anderen Circusangehörigen gingen ihren Geschäften nach – alle, bis auf Clover Lee, die sich nur bis in eine respektvolle Entfernung zurückzog, dort hüpfte und Radschlagen übte, um auf diese Weise ihre Beine und das, was sie unter dem Rock hatte, möglichst vorteilhaft zur Schau zu stellen. Seine Majestät schienen das durchaus zu würdigen, denn ihre kleinen Schweinsäuglein ließen auch dann nicht von ihr ab, als Florian und Edge sich verneigten, Autumn in einem Knicks versank und Florian murmelte: »Benvenuto, Maestá.« Seine Majestät wandte ihren Kennerblick nunmehr Autumn zu, woraufhin Florian sie und Edge vorstellte. Dann schlenderten die vier gemeinsam, dicht und aufmerksam gefolgt von den Gardisten, dorthin, wo die Böhmen die Masten aufrichteten. »Der König sagt«, übersetzte Autumn für Edge mit vielsagendem Unterton, »er interessiere sich für die Mechanik unserer Kunst. Weil, wie er sagt, der König von Preußen -672-
persönlich die Methoden beobachtet habe, nach denen ein Circus von einem Ort zum anderen zieht – und einige dieser Methoden später bei seinem preußischen Heer durchgesetzt habe. Der König meint, seine eigene Armee könnte manches lernen, wie zum Beispiel ein Circus seine Sachen für den Transport verstaut und überhaupt, wie er so trefflich funktioniere.« Als Hannibal dem Elefanten befahl, den ersten Mast aufzurichten, erklärte Florian Vittorio Emmanuele schelmisch: »Sehen Sie, Majestät den nennen wir den Königsmast. Was Euer Majestät für Euer Königreich sind, ist der Königsmast für unser Chapiteau. Denn ist er erst einmal aufgerichtet, wird er zum Hebel, mit dessen Hilfe sich auch der zweite Mast aufrichten läßt ...« Der König lächelte, was bewirkte, daß die Spitzen seiner Schnurrbartenden sich fast zwischen den Augen trafen. Er sprach ziemlich lange. »Er bewundert Peggys Gehorsam und ihr Können«, wandte Autumn sich an Edge. »Er sagt, er liebe Tiere. Deshalb richte er den ersten zoologischen Garten ein, den Italien je gehabt habe. Besonders stolz ist er darauf, eine ganze Herde australischer Känguruhs erworben zu haben.« Als das Zeltdach an den Bügelringen bis an die Spitze der beiden Masten hochgezogen wurde – wobei die Böhmen sich mit einem Lied gegenseitig anfeuerten –, wandte der König sich mit einer Frage an Florian, der mit einem Zimmermannsbleistift sofort etwas auf ein Stück Papier schrieb. »Seine Majestät baten um den Text dieses Liedes«, wandte Autumn sich an Edge und lachte still. »Vielleicht meint er, darin das Geheimnis von Circus und preußischer Tüchtigkeit zu sehen. Köstlich, sich vorzustellen, wie die gesamte italienische Armee im Takt von ›Heebyweeby-Maggioemoolong‹ in den Kampf zieht.« -673-
Zumindest schien die Neugier des Königs befriedigt. Er nahm den Zettel an sich und zog sich nach vielen gegenseitigen Verbeugungen und Komplimenten zurück, stieg in seine Kutsche, ordnete an, daß zwei livrierte Diener zurückblieben, und rollte davon. »Seine Majestät ersucht uns, die Gala für ihn morgen um drei Uhr nachmittags zu geben«, sagte Florian mit stolzgeschwellter Brust und vor Freude gerötetem Gesicht. »Diese beiden Hofbeamten haben Anweisung, uns mit allem zu versorgen, was wir brauchen. Während unseres Aufenthalts werden wir im Schloß essen; Böhmen, Chinamänner und Schwarze in der Küche.« Beide Hofbeamte blieben in der Nähe, bis die Zirkusarbeiter die Sitzreihen im Chapiteau aufgebaut hatten. Dann besprachen sie sich, und einer von ihnen strebte im Laufschritt dem Palast zu. Bald darauf kam Dienerschaft mit Wagen durch den Park und brachten angemessenere Sitzgelegenheiten. Florian sagte: »Ich hätte mir denken sollen, daß ein königlicher Hofstaat nicht auf harten Bänken sitzen kann. Zeltmeister Goesle: Weg mit den vordersten Bankreihen.« Die Bänke wurden wieder fortgetragen, und die Diener stellten einen gewaltigen, thronähnlichen Lehnsessel mit hoher Rückenlehne auf und zu beiden Seiten und dahinter ein paar Dutzend herrlich vergoldeter, damastbezogener Polsterstühle. Böhmen und Artisten schlossen ihre Arbeit ab, kümmerten sich um die Tiere, stellten Requisiten für den nächsten Tag bereit, wuschen sich dann und legten ihren besten zivilen Staat an. Mit Ausnahme von Aleksandr Banal, der sich nicht davon abbringen ließ, daß selbst in einem königlichen Park ein Circus bewacht werden müsse, zog der Rest der Truppe zum Palast, wo man sie, je nach ihrer Stellung, entweder in einen Speisesaal oder in die Küche wies. Der für die Artisten bereitgestellte Speisesaal wurde von -674-
Kronleuchtern und Kerzenständern erleuchtet. Es schimmerte und blitzte nur so von Porzellan und Kristall, Silber und Damast. Hinter jedem Stuhl stand ein Lakai, und ein ständiger Zug von anderen Bediensteten trug – unter der Anweisung eines Maggiordomo – Terrinen mit verschiedenen Suppen auf und anschließend unzählige Platten mit den verschiedensten Sorten Fleisch, Schüsseln mit Nudeln und Gemüse sowie eisgefüllte Eimer mit Weinflaschen. Zanni Bonvecino plauderte angeregt mit den Dienstboten – denen der vertrauliche Ton offensichtlich ein gewisses Unbehagen bereitete –, doch tat er das nur solange, bis er sich überzeugt hatte, daß keiner von ihnen bis vielleicht auf den Maggiordomo die englischen Brocken verstand, die er ihnen ab und zu hinwarf. Als der Maggiordomo für kurze Zeit aus dem Raum verschwand, lehnte Zanni sich über den Tisch und sagte zu Clover Lee: »Ich möchte Ihnen dringlichst ans Herz legen, sich genau zu überlegen, wie Sie sich aufführen, wenn unser königlicher Gastgeber zugegen ist, Signorina.« »Wie bitte?« sagte sie steif. »Er ist ein notorischer Schürzenjäger, und kennt in der Beziehung weder Diskretion noch Delikatesse.« »Papperlapapp«, ließ sich Paprika vernehmen. »Das ist doch nur Gerede. Das behauptet man doch von jedem Mann königlichen Geblüts.« »Nun«, gab Zanni zu bedenken, »vor zehn Jahren oder so, als er noch nichts weiter war als König von Sardinien und zu Besuch nach Paris kam, war ich dabei – nur als Sänger, versteht sich –, als der Kaiser und die Kaiserin ihm zu Ehren eine Galavorstellung gaben. Dabei bin ich persönlich Zeuge gewesen, wie er sich zweier unverzeihlicher Verstöße gegen die Etikette schuldig machte. Als er einer gewissen Dame aus dem französischen Hochadel vorgestellt wurde, verkündete er völlig -675-
ungeniert, er kenne sie bereits gut, denn er habe einst in Turin eine Nacht mit ihr verbracht. Später, als die Künstler bereit waren aufzutreten, fragte er die Kaiserin Eugenie – auch diesmal, ohne die Stimme im geringsten zu senken –, ob es stimme, was er gehört habe, daß nämlich die französischen Tänzerinnen niemals – errrr – irgendwelche Dessous trügen. Wenn das stimme, so sagte er, würde Frankreich der Gipfel des Glücks für ihn sein. Erübrigt sich zu sagen, daß er nie wieder nach Paris eingeladen wurde.« Nach dem Diner fanden die Circusleute nur schwer den Weg hinaus aus dem Schloß. Einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen schlenderten sie umher und versuchten, soviele Räume wie möglich von den vorgeblich zwölfhundert im Schloß zu bewundern. Bis in den ersten Stock hinauf wagten sie sich nicht, doch selbst im Erdgeschoß war jeder Raum ebenso elegant wie opulent eingerichtet: nichts als Gold und Marmor und Samt, ausladende Treppenaufgänge und kostbare alte Möbel sowie gewaltige Gobelins und Decken mit Stuckputti und Rankenornamenten. Verträumt murmelte Clover Lee: »Ich hätt’ nichts dagegen, hier zu leben ...« Wieder auf dem Circusplatz, entdeckten sie, daß Beck aus der Stadt zurück war – wie durch Zauberhand, vielleicht aber auch bloß aufgrund bayerischer Hartnäckigkeit hatte er genug Korbflaschen mit Säure und Fässer mit Eisenspänen für die Ballonfüllung aufgetrieben. Noch bevor es drei Uhr schlug, schwebte die Saratoga eindrucksvoll über den höchsten Bäumen des Reggia-Parks, standen die Artisten bereit, und sogar die Musiker waren mit dem sonst ewig dauernden Stimmen ihrer Instrumente fertig. Der König und sein Hofstaat jedoch übten das königliche Vorrecht des Zuspätkommens aus und erschienen erst viertel vor vier. Banat wies seine böhmischen Landsleute an, den Gästen aus ihren Equipagen herauszuhelfen und sie – nachdem der unerwartete Anblick der Saratoga ihnen freudige Rufe der -676-
Überraschung entlockt hatte – zum Eingang zu bitten. Von dort aus geleiteten Florian und Colonel Ramrod sie feierlich zu ihren Plätzen – den König auf den thronähnlichen Sessel, und zu den anderen Sitzgelegenheiten den Kronprinzen Umberto, verschiedene ältere oder zumindest in mittleren Jahren stehende Duche, Conti und Marchesi samt Offizieren von der Armee und aus dem königlichen Haushalt nebst vielen ihrer Töchter und Gemahlinnen, wobei Damen wie Herren herausgeputzt waren, als ginge es zu einem Hofball. Alles in allem waren es an die vierzig Personen und damit das kleinste Publikum, vor dem das FLORILEGIUM je aufgetreten war. Wie überall paßte Zanni, der Hanswurst und Clown, seinen Wortwitz an den Ort und die Gegebenheiten an – indem er gerade nicht auf irgendeinen der hochmögenden Anwesenden anspielte, sondern ganz allgemein auf »Sophies Jungen«. Vittorio Emmanuele lachte lange und laut, und sein Gefolge tat es ihm nach, denn was Zanni tat, war, sich über Kaiser Franz Joseph von Österreich und die unleidliche Kaiserinmutter Sophie lustig zu machen, beide ein rotes Tuch für den König von Italien. Der Kraftakrobat Quakemaker riskierte praktisch einen Bauchmuskelriß, so sehr zeigte er seine Kraftakte mit den Kanonenkugeln und seine Fähigkeit, etwas auszuhalten, als sein Kaltblut-Percheron mehrere Male über ihn hinwegstieg und er hinterher immer noch imstande war, das Tauziehen mit Brutus zu ›gewinnen‹. Sogar die chinesischen Ikarier schienen zu ahnen, wie wichtig diese besondere Vorstellung war, glänzten – auf dem Rücken liegend – mit ihrer unnachahmlichen Fußarbeit und ließen ihre Mitspieler toller und wirbeliger sich drehen und fliegen denn je. Clover Lee führte ihre Nummer auf der Kruppe der Pferde hinreißend anmutig vor und zeigte ihre spektakulärsten Kunststücke direkt vor dem Sessel des jungen, schlanken und lächelnden Prinzen Umberto. Monday und Thunder absolvierten ihre phantastische Hohe Schule wie im -677-
Bilderbuch. Pete Jenkins verblüffte das erlauchte Publikum genauso wie anderswo die Bauerntölpel, und nachdem aus dem zudringlichen Betrunkenen Maurice LeVie geworden war, wurde er zusammen mit Paprika zu einem die Sinne verwirrenden, betörenden orangefarbenen und blauen Blitz am Himmel. Es grenzt ans Wunderbare, dachte Edge im Verlauf der Galavorstellung, daß kein einziges von den Tieren – weder Hunde noch Pferde, weder Löwe noch Elefant – die Unhöflichkeit besaß, in die Manege zu koten. Freilich war es beim FLORILEGIUM zur Gewohnheit geworden, das zu tun, was Florian das »einmal tüchtig durchpusten« nannte, das heißt, man verabreichte den Tieren ein mildes Abführmittel und gab ihnen Gelegenheit, vor Vorstellungsbeginn den Darm zu entleeren, was jedoch nicht immer ausreichte. Bei der Gala vor Vittorio Emmanuele ließ nicht einmal eines Wasser. In der Pause las Magpie Maggie Hag mehreren Hofdamen aus der Hand, was diese dazu brachte, köstlich amüsiert zu kichern, denn selbstverständlich beschränkte die Zigeunerin sich auf die verlockendsten Voraussagen. Sir John bot seine Mißgeburten dicht vor der Sitzreihe der hohen Herrschaften dar, unterhielt die Gäste dann mit seinen Bauchrednerkünsten und dem Kleinen Fräulein Handschuh und ließ die Herren sein Mäusespiel spielen, zahlte gewissenhaft die Gewinner aus, versäumte aber auch nicht, den Verlierern hinterher großmütig ihr Geld zurückzugeben. In der zweiten Programmhälfte war Barnacle Bill, was ihm sonst so gar nicht ähnlich sah, stocknüchtern, Maximus schien zu ahnen, was auf dem Spiel stand und knurrte und kratzte blutrünstig wie noch nie, führte jedoch seine Sprünge durch den Feuerreifen zahm und folgsam aus wie ein Hündchen. Als jedoch die echten Hunde in die Manege stürmten, zeigte Pavlo Smodlaka zum erstenmal etwas völlig Neues. Von der Kapelle lieh er sich eine Quetschkommode aus und spielte ein schlichtes -678-
Lied, während die hechelnde Meute einzeln, zu zweit oder alle drei zusammen eine ganze Reihe von Tönen beisteuerten, so daß man das ganze mit einigem guten Willen als ›Singen‹ bezeichnen konnte. Colonel Ramrod verfehlte als Kunstschütze kein einziges Mal sein Ziel, und beim letzten Schuß – mitten hinein in Mondays Zähne – zuckte diese auf herrlich wirklichkeitsgetreue Weise angstvoll zurück. Abdullah der Hindu jonglierte mit einer unglaublichen Vielzahl von Eiern, brennenden Fackeln, einer Weinflasche und einigen Hufeisen zugleich. Völlig gelöst warf er dann all diese Dinge mit nur einer Hand in die Höhe, fing sie mit dieser wieder auf, streckte derweilen die andere den Zuschauern hin, und erbot sich, jeden Gegenstand in der Luft kreisen zu lassen, den man ihm gab. Der König in höchsteigener Person zog seinen Degen aus der Scheide und reichte Abdullah den juwelenstrotzenden Griff. Abdullah ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, sondern reihte den Degen in die verwirrende Fülle der durch die Luft wirbelnden Gegenstände ein, ließ den Degen im Flug herumwirbeln und aufblitzen und fing ihn am Schluß mit den Zähnen auf wie ein Pirat. Buckskin Billy ritt eine halsbrecherische Jagd durch die Manege, vollführte dabei die unwahrscheinlichsten Sprünge und schloß mit der ›Ungarischen Post‹, bei der er hochgereckt und breitbeinig mit je einem Fuß auf zwei keineswegs dicht nebeneinander hergaloppierenden Pferden stand, während die anderen Rosse eines nach dem anderen im Galopp zwischen den zwei Pferden und unter ihm hindurchzogen. Zum Schluß führte Autumn Auburn auf dem schmalen Hochseil die Pirouetten, Spagate und Salti vorwärts und rückwärts vor, die andere Artisten höchstens auf dem festen Boden oder auf breitem Pferderücken gewagt hätten. Dann kam das Finale mit nicht weniger Glanz und Gloria als der Einzug der Artisten am Anfang – und das ganze mit genausoviel Schwung und Begeisterung, als wäre das Chapiteau gesteckt voll gewesen. -679-
Nach dem höflichen, nicht sonderlich stürmischen, aber durchaus anerkennenden Applaus erhoben der König und seine Höflinge sich von den Sitzen und stiegen in die Arena, um sich unter die Artisten zu mischen, ihre Leistungen zu preisen und sie nach ihrer Kunst und ihrer Lebensweise auszufragen, wobei dort, wo es nötig war, Florian und Zanni oder Autumn den Dolmetscher spielten. Florian offerierte dann den Besuch des Zeltanbaus mit Sir Johns lebenden Bildern aus der Bibel – nicht ohne hinzuzufügen, daß nur Herren sie voll auszukosten imstande wären. König Vittorio Emmanuele bekam einen lüsternen Gesichtsausdruck und meinte, zwar hätten die Damen seines Hofstaates den großen Teil der Bibel seit dem Katechismusunterricht wieder vergessen, doch wette er, daß sie wohl imstande wären, Wort für Wort aus schmuddeligen Hintertreppenromanen wie Eveline und Schwester Monika zu zitieren. Die Damen junge wie alte – kicherten und hielten sich kokett verschämt den Fächer vors Gesicht, doch keine widersprach. So begab sich der gesamte Hof hinaus und hinein in das kleinere Zelt, wo Fitz mutig und unverdrossen sein Sprüchlein aufsagte. Einige Zeit später, nachdem beide lebenden Bilder vorgeführt worden und die Zuschauer wieder aus dem Anbau herausgekommen waren, lächelten Herren wie Damen gleichermaßen wollüstig. Fitzfarris kam als letzter wieder zum Vorschein, und Florian wartete draußen auf ihn, um ihn zu fragen: »Nun?« »Naja, die fette alte Schreckschraube mit dem schlohweißen Haar hat mich eingeladen, heute abend allein mir ihr zu speisen.« »Besagte alte Schreckschraube ist die Duchessa di Brisighella.« »Und Clover Lee ist eingeladen worden, mit dem Prinzen -680-
Umberto das gleiche zu tun. Falls du nichts dagegen hast, du bist schließlich der Direktor.« Florian verzog das Gesicht. »Clover Lee hat mir unmißverständlich erklärt, weder brauche sie eine Anstandsdame, noch wünsche sie eine. Aber bei dir ist das vielleicht etwas anderes, Sir John.« »Schon, schon – aber gerade neulich habe ich dir gesagt, ich freute mich darauf, Angehörige des europäischen Hochadels kennenzulernen. Und da kann ich einer Herzogin ja wohl kaum einen Korb geben, auch wenn sie noch so häßlich ist. Besudele ich auf diese Weise vielleicht auch meine Keuschheit, gewinne ich andererseits verflucht noch mal meinen guten künstlerischen Ruf wieder zurück. Ich werde unseren chinesischen Kalligraphen bitten, meinem Circusschild noch etwas hinzuzufügen: ›Vorgeführt am Hofe seiner Majestät, König Vittorio Emmanuele II.‹ Da soll nochmal jemand kommen, und etwas gegen meine Bibelstudien sagen – zumindest, solange wir im Königreich Italien spielen.« Mit dem Ballonaufstieg endete der Nachmittag. Die königlichen Hoheiten und ihr Gefolge konnten sich gar nicht genug tun, das Bild zu loben und in bewundernde Hochrufe auszubrechen. Als Rouleau die Saratoga wieder zur Erde hinunterbrachte – auch diesmal wieder mit erstaunlicher Genauigkeit, so daß die Bodenmannschaft nicht weit zu laufen hatte, um das Halteseil zu fangen –, die Gondel und der Ballon heruntergezogen wurden und der Luftschiffer sich verneigte, klopften viele der Herren aus dem Hofstaat des Königs ihm auf den Rücken, und so manche der Damen strich ihm gefühlvoller darüber hin. Die Höflinge verabschiedeten sich einer nach dem anderen ganz persönlich, und zwar von jedem Artisten wie von den Böhmen, die zufällig in der Nähe waren. Diener kamen vollbeladen aus den Equipagen, und der König persönlich überreichte jedem der weiblichen Mitglieder der Truppe einen -681-
riesigen Strauß Treibhausnelken sowie einen feinen, fransenbesetzten Schal mit eingestickter Krone darauf. Die Männer – Hannibal und die drei Chinesen nicht ausgenommen – erhielten ein silbernes Zigarettenetui mit dem darauf eingravierten königlichen Wappen zum Geschenk. Alle Kinder – Sava, Velja und Quincy – bekamen ein ausgestopftes Stoffkänguruh. Sodann wünschte er dem FLORILEGIUM volle Häuser für alle ihre Vorstellungen in Caserta und kehrte samt Gefolge zurück in sein Schloß. Als die Circustruppe sich am Abend zum Essen ins Schloß begab, saßen Fitzfarris und Clover Lee nicht mit am Tisch – und Monday Simms blickte stumm und mit finsterer Miene auf ihren Teller. Alle anderen plapperten munter durcheinander, lobten den gütigen Spender, scherzten und lachten. Als dann die Diener Platten mit butterbraun gesottenen Gartenammern in Kapernsauce auftrugen und alle stumm bewundernd das Gericht bestaunten, hob Autumn plötzlich den Kopf, legte ihn auf die Seite, als lausche sie auf ein sehr fernes Geräusch, und erklärte: »Irgendwo ist gerade eine Uhr stehengeblieben.« Alle, die Diener eingeschlossen, richteten den Blick auf sie – einige verständnislos, andere überrascht; Magpie Maggie Hag sah sie mit eindringlich forschendem Blick an. Der Maggiordomo des Speisesaals sah Autumn lächelnd an und sagte: »Signorina, sie tickt und tackt aber immer noch«, und zeigte auf die kostbare Stutzuhr aus Goldbronze auf dem Kaminsims, deren kleines Pendel unbeirrt weiter hin- und herschwang. »Nein«, erklärte Autumn, »nicht hier. Irgendwo anders.« »Signorina«, meinte der Bedienstete geduldig, »in diesem Palazzo gibt es zwei- bis dreihundert Uhren.« »Wenn auch«, sagte Autumn. »eine ist gerade eben stehengeblieben. Ich weiß das. Als das Ticken aufhörte, haben meine Ohren wehgetan.« -682-
Magpie Maggie Hag starrte Autumn an, während der Maggiordomo, um der Schrulle dieses besonderen Gastes Achtung zu bezeugen, den hinter den Stühlen stehenden Lakaien mit einem Fingerschnippen einen Wink gab und auf Italienisch eine Anweisung herunterratterte, woraufhin sämtliche Lakaien im Geschwindschritt den Saal verließen. Autumn bedankte sich mit einem Lächeln bei dem Majordomus und machte sich dann genauso wie die anderen über das Essen her. Als sie die Gartenammern vertilgt hatten und die Finger in Erwartung des folgenden Ganges in den Fingerschalen badeten, neigte Florian sich vor und sagte vertraulich zu Edge: »Ich muß dir etwas sagen, was Seine Majestät mir anvertraut hat: Er bereitet sich auf ein Militärbündnis mit Preußen vor. Deshalb denke ich, es wäre angeraten, wenn wir kehrtmachten und wieder nach Norden zögen – das heißt, wenn wir Wert darauf legen, Rom zu sehen, und ich gehe doch davon aus, daß wir das alle möchten.« »Ganz bestimmt«, sagte Edge. »Aber wozu die Eile? Ich sehe die Verbindung nicht.« »Das ist schwer zu erklären«, sagte Florian. »Die gesamte italienische Halbinsel ist jetzt zu einem Königreich vereinigt – mit Ausnahme des Kirchenstaates um Rom. Im Nordosten fehlt außerdem noch die italienisch sprechende Region Venetien, die seit fünfzig Jahren in österreichischer Hand ist. Vittorio Emmanuele – und die Venezianer selbst – wollen, daß dieses Gebiet sich dem Königreich anschließt. Der König von Preußen wiederum erstrebt eine ähnliche Föderation aller deutschsprechenden Völker. Der soll aber auch Österreich angehören. Ein preußischitalienisches Bündnis läßt aber mit Sicherheit auf einen Krieg gegen Österreich schließen, wobei die Preußen von Norden, die Italiener über Venedig zuschlagen.« -683-
»Ja und? Hast du Angst, sie requirieren Hannibal und Brutus?« »Nicht doch. Aber wenn wir nicht jahrelang in Italien bleiben wollen, gibt es für uns nur zwei Möglichkeiten, den Rest Europas zu erreichen. Bei der einen wären wir wieder auf ein Schiff angewiesen, und da sei Gott vor! Die andere führt über die Alpenpässe, und die in Venetien gelegenen sind am leichtesten zu überqueren. Ich möchte aber, daß wir diese Pässe hinter uns haben, ehe die Tür zugesperrt wird oder wir zwischen die Fronten geraten. Wenden wir uns, wenn wir hier in Caserta abbauen, nach Norden, bliebe genug Zeit, noch ein paar Tage vor den Toren Roms zu spielen, ehe wir vor Ausbruch der Feindseligkeiten weiter nach Venedig und durch Venetien ziehen.« Edge sagte: »Nun, Direktor, ich nehme an, du weißt es am besten.« »Und du solltest besser als irgend jemand sonst wissen, daß ein Schlachtfeld nichts für Leute ist, die mit dem Krieg nichts zu tun haben.« Er seufzte tief auf. »Schade! Ich hatte gehofft, ich könnte der Truppe noch Neapel zeigen. Und noch mehr wollte ich, daß wir alle einen Eindruck von dem sybaritischen Leben an der Küste Amalfis mitbekommen.« Wieder seufzte er. »Doch ein altes Sprichwort lautet: ›Vedi Napoli, e poi mori.‹ Da wär’s mir schon lieber, Neapel nicht zu sehen und nicht zu sterben. So bleibt uns nichts anderes übrig, als zu sehen, wie wir unterwegs zurechtkommen. Jetzt, wo es Frühling wird, können wir auf einer anderen Straße zurück in den Norden – durch die Berge –, dann bekommen wir unterwegs jedenfalls etwas anderes zu sehen.« Nach dem Abendessen streiften die Artisten nochmals durch die herrlichen Räume und Korridore. Als Gavrila Smodlaka zufällig einen fahnengeschmückten Saal betrat, erblickte sie zu ihrer Überraschung Clover Lee, die etwas aufgelöst und ziemlich niedergeschlagen auf der untersten Stufe einer -684-
gewaltigen Treppe saß. Auf ihre übliche zurückhaltende Art wünschte Gavrila ihr einen guten Abend und erkundigte sich dann schüchtern, ob irgend etwas nicht stimme. Clover Lee sah sie an, schniefte und sagte dann leise: »Und das soll alles gewesen sein?« »Verzeih. Mein Englisch ist nicht gut. Was soll alles sein?« »Miteinander zu schlafen. Zuzusehen, wie Prinz Umberto eilends Essen in sich hineinschlingt und seinen Wein herunterstürzt, mich dann aufs Kreuz legt und rumschiebt und hüpft und sticht und schwitzt und mir weh tut. Das soll alles sein? Ich dachte, die Liebe wäre etwas Genußvolles.« »Hm ... der Prinz ist noch jung und unerfahren. Vielleicht auch noch zu selbstsüchtig. Hat er es denn wenigstens genossen?« Clover Lee machte eine Schnute. »Er sagte: ›Grazie mille‹, und zündete sich eine Sigaretta an. Dann hat er mir dies hier gegeben.« Sie hielt ein kleines besticktes seidenes Abendtäschchen in die Höhe, und während sie das tat, klirrte es darin. »Zwanzig kleine Goldstücke.« »Scudi sind das. Zwanzig Scudi – einhundert Lire – um die zwanzig amerikanische Dollar. Es gibt Männer, die hätten nicht mal Dankeschön gesagt.« »Zwanzig Dollar! Zwanzig Minuten! Mehr hat es nicht gebraucht«, fügte Clover Lee sinnend hinzu. »Möchte mal wissen, was meine Mutter an Männern so gefunden hat.« »Aber die hatte ältere Männer«, sagte Gavrila. »Gospodin Zachary, Gospodin Florian. Vielleicht solltest du dir auch ältere suchen. Es klappt besser, wenn der Mann alt ist und du selbst neu.« »Jung, meinst du wohl. Aber wenn ein junger Mann allzu gieperig ist, heißt das ja, daß ein alter Mann überhaupt nicht mehr giepert.« -685-
»Wenn du so darüber denkst, Gospodjica, dann wirst du nie was von der Liebe verstehen. Ein älterer Mann, der weniger auf seine eigene Lust erpicht ist, schenkt der Frau die höchsten Wonnen. Ob du mir glaubst oder nicht, aber ein Mann, der so alt ist, daß er nicht mal mehr sein Hüy benutzen kann – entschuldige den Ausdruck –, kann eine Frau soweit bringen, daß sie Onevesti verliert. Wie sagt man? Bis sie die Sinne verliert, bis zur Ekstase.« »Zum Teufel damit«, sagte Clover Lee. »Sollen die Männer doch die Sinne verlieren, und sollen sie dafür bezahlen. Von jetzt an soll all das, was weiblich ist an mir, nur noch gegen Geld oder anderes Entgelt zu haben sein – und zwar zu meinen Bedingungen. Diesmal habe ich für nicht mehr als zwanzig Minuten Kronprinzessin Clover Lee spielen müssen ...« »Tikh, Kleines. Eines Tages wirst du jemandem begegnen, dem du dich aus freien Stücken hingeben möchtest. Komm jetzt, kehren wir zurück zum Circus.« Langsam stand Clover Lee auf. »Es tut ein bißchen weh – das Gehen.« »Das ist leider so«, sagte Gavrila, als wisse sie, wovon sie sprach, »ein Großteil der Liebe besteht im Wehtun.« »Dann kannst du Gift drauf nehmen, daß ich meine Liebe für mehr als zwanzig Scudi pro Wehtun verkaufen werde«, sagte Clover Lee und stieß ein freudloses Lachen aus. »Wenn ich mich von mir aus hingebe, dann für einen Titel, der länger gültig bleibt als zwanzig Minuten.« Der Maggiordomo war inzwischen hinter der Hauptgruppe der noch das Schloß besichtigenden Zirkusleute hergelaufen. Er machte ein Gesicht, so fassungslos, wie seine Berufswürde es zuließ, trat dann auf Autumn zu und sagte zu ihr: »Die Signorina ist mit einem ungewöhnlich feinen Gehör begabt. Einer der Lakaien, die ich ausgeschickt habe, ist gerade zurückgekehrt, um mir zu sagen, daß in der Tat eine von den -686-
vielen Uhren stehengeblieben ist, si, und zwar genau zu dem von der Signorina angegebenen Zeitpunkt. Es war eine Girandole-Uhr im westlichen Gobelinsaal. Das Ganze hat nichts Geheimnisvolles; offensichtlich hat der Palast-Orologiaio einfach vergessen, sie aufzuziehen.« Er machte eine Pause. »Was jedoch in der Tat bemerkenswert ist – die Uhr steht zwei Stockwerke höher und gut hundert Schritt westlich von dem Speisesaal, in dem die Signorina gesessen hat.« Autumn lachte ein wenig unsicher und sagte: »Ach, ja. Hoffentlich habe ich nicht dazu beigetragen, daß der Uhrenmann sich einen Rüffel geholt hat.« »Wir sollten vorsichtig sein«, sagte Yount jovial, »wenn wir uns in der Nähe dieser jungen Dame irgendwelche Geheimnisse zuflüstern.« Damit war die Angelegenheit abgetan. Nur Magpie Maggie Hag warf Autumn immer wieder nachdenkliche Blicke zu.
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8 Von Caserta aus zog das FLORILEGIUM zwei Tage lang weiter nach Osten und erreichte Benevento. Als sie in die Außenbezirke der Stadt kamen, hielten Edge und Autumn, die sich an die Spitze des Zugs gesetzt hatten, nach Florian Ausschau. Vor sich hatten sie eine weniger zügig vorankommende Prozession. »Ein Trauerzug«, sagte Autumn. »Versuch nicht, ihn zu überholen. Der Anstand gebietet, daß wir hinterherfahren. Nach der Anzahl der Kutschen und den schwarzen Federbüschen der Pferde zu urteilen, muß es sich wohl um eine bedeutende Persönlichkeit gehandelt haben. Wenn wir dem Dahingeschiedenen unsere Achtung erweisen, betrachtet man uns in Benevento vielleicht mit wohlwollenderen Blicken.« So zog die Wagenkolonne des Circus hinter dem Trauerzug her; und wenn es auch noch so wunderlich wirkte, er fuhr sogar hinterher, als dieser in die zum Friedhof führende Straße einbog. Edge brachte seine Pferde ein Stück von der Stelle entfernt zum Stehen, wo der schwarze Wagen mit dem Sarg, die Karren mit den Kränzen und Blumengebinden und die Kutschen der Trauergäste vor einem eindrucksvollen, mit Steinengeln geschmückten Mausoleum hielten. Edge und Autumn sowie der ganze Rest der Truppe stiegen aus und standen mit gebeugtem Haupt da, während Priester und Meßdiener die lange Aussegnung vornahmen. Dann hoben Sargträger einen bronzenen Sarkophag von der Bahre und trugen ihn in das Mausoleum hinein. Nach einer Weile kamen sie wieder heraus, doch der Obersargträger drehte sich noch einmal um und rief eine Frage durch die offene Tür hinein: »Vostra Altezza non commanda niente?« Wie nicht anders zu erwarten, erhielt er aus der Krypta keine Antwort, und so wandte er sich den Priestern und den Trauernden zu und rief: »Tomate a casa. Sua Altezza non commanda niente.« -688-
»Er sagt, alle können heimkehren«, übersetzte Autumn. »Seine Hoheit – wer immer es gewesen sein mag – haben keine weiteren Befehle.« So beeilten sich die Circusleute, in ihre Gefährte zu klettern, Edge führte sie – diesmal vor dem Trauerzug – wieder zum Friedhof hinaus, und fuhr auf der Straße in flotter Gangart weiter. Sie stießen bald auf den wartenden Florian, der seine große zinnerne Uhr in der Hand hielt. »Ich hab’ mir schon Sorgen gemacht«, sagte er. »Ich bin schließlich keine Maggie Hag – und die hat, soweit ich weiß, in letzter Zeit keine schlimmen Ahnungen gehabt –, allerdings könnte man sagen, daß es in dieser Stadt Zeichen mit schlimmer Vorbedeutung im Überfluß gibt.« »Ausgerechnet eine Stadt mit dem Namen Benevento?« sagte Edge. »Mein Italienisch ist zwar dürftig, aber für meine Begriffe heißt das soviel wie ›guter Wind‹.« »So hat sie aber nicht immer geheißen. Lange vor Christus wurde sie von einem Stamm gegründet, der sich hierher flüchtete, nachdem er von den Römern tüchtige Prügel bezogen hatte – deshalb nannten sie das Nest zutreffend Maleventum, und zwar nach den widrigen Winden, die hier wehten. Erst ein paar Jahrhunderte später übernahmen die Römer die Stadt und nannten sie aus Gründen des Aberglaubens genau andersherum.« Dabei widerfuhr dem FLORILEGIUM überhaupt nichts Böses in Benevento. Und bei dem nun folgenden Aufstieg in die Montidel-Matese-Bergzüge des Apennin passierte auch nichts weiter, als daß gelegentlich ein Rad brach oder ein Pferdegeschirr riß. Man hielt sich ein, zwei Tage in kleineren Städten auf, die einigermaßen erfolgversprechend aussahen, und es kam zu keinerlei ernstlichen Zwischenfällen, bis sie sich auf der hochgelegenen, stark gewundenen und schlecht -689-
geschotterten Straße zwischen zwei Bergstädten befanden, Castel di Sangro hinter ihnen und Roccaraso irgendwo vor ihnen. »Diese Namen sind für mich ein böses Omen, Mr. Florian«, sagte Sunday Simms, die an diesem Tag in der Kutsche neben ihm saß. »Blutburg, Rasierfelsen.« »Dein Italienisch wird durch dein Französisch leicht verhunzt, meine Liebe«, sagte er. »Sangro ist einfach der Name des Flusses unten in der Schlucht neben uns. Und so heißt Castel di Sangro nichts weiter als ›Burg am Sangro-Fluß‹. Roccaraso dagegen heißt eigentlich nur ›Kahler Fels‹. Vermutlich nichts weiter als ein Steilhang oder eine Felsspalte – oh, verflucht!« Er zog ruckartig am Zügel, so daß Snowball unvermittelt stehenblieb. Die hinter ihm Fahrenden mußten ebenso abrupt halten, so daß die Pferde auf die Hinterhand stiegen. Unmittelbar vor der Wagenkolonne führte die Straße in einer engen Schleife um eine Bergschulter herum. Drei Männer waren aus dem Gebüsch hervorgetreten und hielten Gewehre im Anschlag. Der größte der Männer hielt eine Hand in die Höhe, die Handfläche nach außen gewendet. »Alto là!« rief er. »Siamo briganti!« Es waren breitschultrige, muskulöse Männer von dunkler Hautfarbe, bärtig, abgerissen und verschmutzt und ganz allgemein nicht gerade vertrauenerweckend. Ihre total veralteten Steinschloßflinten allerdings machten einen weit gepflegteren Eindruck als die Besitzer. »Ruhig sitzen bleiben!« wies Florian Sunday an. »Es sind Banditen.« »Niente affatto«, berichtigte ihn einer der Männer und sah beleidigt aus. »Siamo briganti.« »Na, schön, sie nennen sich lieber Briganten«, erklärte Florian Sunday. »Jetzt nur nichts Unerwartetes oder Unüberlegtes tun!« -690-
»State e recate!« befahl der größte der Männer. »Aufstehen und Geld her!« übersetzte Autumn für Edge auf dem Wagen dahinter. »Sie sehen zwar nicht besonders gebildet aus, aber irgendwann müssen sie einen Roman von Walter Scott gelesen haben.« »Die Sache ist doch nicht komisch, verdammt noch mal!« sagte Edge. »Ich hab’ meine Waffen im Wagen.« Jetzt schrien die drei: »Abbassate! Tutti! E mani in alto!« Florian wandte sich Sunday zu, gehorsam kletterten sie vom Kutschbock hinunter und hielten, wie befohlen die Hände in die Höhe. Einzeln oder zu zweit kletterten auch die anderen von ihrem Gefährt und stellten sich mit erhobenen Händen am Wegrand auf. Die Briganten fuchtelten mit ihren Flinten in der Luft herum und schrien weitere Befehle hinaus. »Wir sollen uns so aufstellen, daß sie unsere Hände sehen können«, sagte Florian. »Banat, bitte, sag das deinen Böhmen.« Den drei Chinesen jedoch vermochte keiner das zu übersetzen. Wiewohl auch sie die Hände in die Luft streckten, babbelten sie heftig miteinander. »Che portate?« knurrte ein Brigant. »Togliamo tutto – denaro, beni, cavalli, vagoni ...« »Gottverflucht noch mal!« entfuhr es Edge, der schon alle ihre Felle davonschwimmen sah. Dann hörte er plötzlich ein Schwirren und Pfeifen, und alle drei Banditen fielen steif und wie auf Kommando auf den Rücken, so als führten sie eine Art Circusnummer vor. Genauso wie ihre Schießprügel, fielen drei faustgroße Steine auf den Boden, die sie am Kopf getroffen hatten. Die Banditen lagen immer noch ausgestreckt da, während alle anderen sich vor Überraschung nicht rühren konnten und die Hände immer noch in die Luft reckten. Dann sahen sie sich um und brachen in einen Chor des Jubels aus, als sie sahen, daß alle drei Chinesen mit nacktem Fuß noch einen Stein gepackt hielten, falls ein zweites -691-
Trommelfeuer vonnöten wäre. »Jetzt brat mir einer einen Storch!« sagte Edge. Schnell stieß er mit dem Fuß die zu Boden gefallenen Flinten aus der Reichweite der auf dem Rücken liegenden Banditen; dann kniete er zusammen mit Yount nieder, um die Männer zu untersuchen. »Einer von ihnen ist schon ganz schwarz im Gesicht«, berichtete Yount Florian. »Vermutlich ist der Schädel zertrümmert. Die beiden anderen könnten durchkommen. Sollen sie das?« »Erst, wenn wir ein gutes Stück weiter sind«, sagte Florian. »Werft sie alle in die Schlucht zum Fluß hinunter. Sollte einer von ihnen das überleben und wieder heraufklettern – wer weiß, ob er dann nicht in sich geht und sich bessert.« Die Frauen überlief ein Zittern, als sie das hörten und blickten weg, als die Banditen in die Schlucht geworfen wurden. Florian ging währenddessen zu den Chinesen und schüttelte jedem einzelnen dankbar die Hand, obwohl Sunday ihm murmelnd zu verstehen gab: »Eigentlich solltest du ihnen den Fuß schütteln.« »Ich wünschte, ich könnte mich ihnen verständlich machen. Eines jedoch verspreche ich. Von jetzt an bekommen auch sie in jedem Hotel, in dem wir absteigen, ein Zimmer und speisen mit an unserer Tafel.« Fitzfarris sagte: »Könnte sein, daß sie sich Schuhe anziehen müssen, um eingelassen zu werden.« »Das werden wir ja sehen«, erklärte Florian eigensinnig. »Jedes Hotel das sie zurückweist, macht mit uns kein Geschäft. Und wo ich gerade dabei bin: Von jetzt an fordere ich auch für Abdullah und Ali Baba ein Zimmer und einen Platz an der Tafel im Speisesaal.« war die nächste Stadt, die interessant und groß genug war, das FLORILEGIUM mehr als ein paar Tage festzuhalten. Als die Circusleute am Stadttor den riesigen Springbrunnen aus weißem und rosa Marmor mit den -692-
neunundneunzig Gesichtern daran sahen, die Wasser in das gewaltige Becken spien und sich von Florian die dazugehörende Legende erzählen ließen – »Es heißt, wie durch ein Wunder sei die Stadt auf einen Schlag mit neunundneunzig piazze, neunundneunzig Burgen, neunundneunzig Kirchen und neunundneunzig Brunnen dagewesen. Und bei jedem Sonnenuntergang werdet ihr die Glocke vom Turm des Justizpalastes neunundneunzigmal schlagen hören« –, da redeten sie plötzlich alle durcheinander und verlangten, so lange in L’Aquila bleiben zu dürfen, um all diese Wunder in Augenschein nehmen zu können. Sobald der Circus auf dem ihm zugewiesenen Platz aufgebaut worden war, kamen Beck und Goesle mit der letzten Neuerung zu Florian, die sie ausgeheckt hatten. »Nun sag mal, Herr Direktor«, sagte Beck und hielt ihm eine Handvoll kieselig krümeligen, weißlichgrauen Materials hin, »was ist das deiner Meinung nach?« »Doch wohl ganz einfacher Kalk, oder? Dasselbe Zeugs, das du in der Kühlkiste deines Generators verwendest, nicht wahr, Carl? Und was du in deine Donnerbalkengruben schüttest, Dai, oder?« »Kalk, stimmt«, sagte Beck. »Kalzium. Aber eine Art, die ich bisher nicht gekannt habe. Die hat man mir in einer Fabrik in der letzten Stadt gegeben, in der wir Station gemacht haben. Genauer gesagt, handelt es sich um eine Kalkkohlenstoffverbindung, die man Karbid nennt.« »Und warum zeigt ihr mir das?« »Weil – übergießt man diesen Karbid mit Wasser – ein Gas entsteht: Azetylen.« »Bumbum hat diesen Kanisterapparat gebaut«, sagte Goesle und zeigte auf einen rechteckigen Kasten. »Man füllt etwas Kalk hinein, übergießt das ganze mit Wasser, dreht ein Ventil auf, und mit Hilfe dieses Schlauches speist das Gas einen Brenner. -693-
Zündet man das Gas an, ergibt das ein Licht, das dem einer Petroleumlampe in nichts nachsteht.« »Aber Stitches hat das ganze System noch verbessert«, sagte Beck. »Er hat eine Lampe gebaut, in der die Gasflamme einen ganz gewöhnlichen Kalkstab zum Leuchten bringt.« »Limelight – Kalk- oder Rampenlicht!« rief Florian aus. »Mein Gott, das habt ihr beiden euch doch schon seit langem gewünscht, und jetzt habt ihr es! Ich dachte, es gehörten alle möglichen verzwickten Apparaturen dazu, um es zu erzeugen. Das ist wunderbar! Meine Herren, ich kann euch nicht genug danken für euren Wagemut und euren Erfindergeist.« »Erst wollten wir dich damit überraschen«, sagte Beck stolz. »Nichts sagen, sondern es heute abend einfach vorführen. Aber dann dachten wir, das Licht ist so hell – vielleicht erschreckt es die Tiere oder sogar die Artisten.« »Ja«, sagte Florian, »ich werde allen vorher Bescheid sagen.« »Außerdem werde ich mit nicht ganz so grellem Licht beginnen«, sagte Beck. »Kanister und Ventil werden vom Musikpodium aus bedient. Und während des Einzugs der Artisten drehe ich dann immer weiter auf, bis es strahlend hell ist.« »Fabelhaft. Und du, Dai – stelle unbedingt weitere von diesen Lampen her – soviele, wie wir deiner Meinung nach brauchen. Und vergiß auch Sir Johns kleines Zelt nicht – er braucht mindestens eine.« Und noch ehe der Circus von L’Aquila aus weiterzog, liefen die Spätvorstellungen im gleißenden Licht von Mast- und Bodenscheinwerfern ab. Die strahlende Helligkeit im Zeltinneren schimmerte durch die grünweiß gestreiften Zeltbahnen hindurch und vermischte ihr blaßgrünes Leuchten mit dem orangefarbenen Licht, das die Fackeln draußen verstrahlten; auf diese Weise wurde der gesamte Zeltplatz zu einem leuchtenden Fanal, das die Aquilani anzog wie die -694-
Motten. An einem der neunundneunzig Plätze der Stadt fand Goesle einen Brillenschleifer; in Begleitung von Autumn, die als Dolmetscherin fungierte, bat er den Optiker um eine Linse, die viel größer war als alles, was jemals in irgendeiner Vorführung Verwendung gefunden hat. Den Linsenmacher schreckte das nicht, er sagte nur: »Ach, für eine Laterna magica?« und suchte das gewünschte aus seinem Vorrat hervor. Während das FLORILEGIUM in westlicher Richtung weiterzog, bastelte Goesle an seiner Beleuchtung ständig weiter. Als der Circus Cantalupo erreichte, hatte er seine Scheinwerferanlage soweit vervollkommnet, daß er die Bewohner dieses Städtchens damit blenden konnte. Er hatte einen beweglichen Scheinwerfer konstruiert, der statt nur diffuse Helligkeit zu verbreiten, einen Lichtstrahl ausschickte, der sich bis zur Kuppel des Chapiteaus hinaufschicken ließ. Während der Vorstellung konnte Goesle – der der Hitze wegen Handschuhe trug – diesen Spot auf jeden Artisten richten, der gerade arbeitete. Dadurch rückten Circusarbeiter oder Assistenten, die sich gleichzeitig mit ihm in der Manege aufhalten mußten, in den Hintergrund und fielen weniger auf. Goesle konnte mit diesem gebündelten Licht jeder Bewegung der galoppierenden Pferde und Reiter und sogar denen der durch die Luft fliegenden Trapezkünstler folgen. Das nächste Ziel des FLORILEGIUMS war Rom, besser gesagt, der erste günstig gelegene Ort außerhalb des Kirchenstaates, Forano. Dieser Ort bestand aus einem an zwei Gleissträngen gelegenen Bahnhof, einigen Lagerhäusern und Werkzeugschuppen sowie etlichen Unterkünften für die Bahnarbeiter und natürlich einer Bettola, in der diese ihre Freizeit und ihre Lire vertranken. Der Bahnhofsvorsteher erklärte, Florian könne das Zelt aufschlagen, wo er wolle – ringsum war viel freies Feld –, und so gab Florian Anweisung, es ein gehöriges Stück von dem Lärm, dem Rauch und den Funken der vorüberfahrenden Züge entfernt zu errichten. »Aber -695-
diesmal brauchen wir mit dem Aufbau nichts zu überstürzen«, sagte er. »Wir alle haben uns eine Verschnaufpause verdient.« Er rief die gesamte Truppe zusammen: »In einer halben Stunde, also um sechs Uhr, kommt ein Zug, der weiterfährt nach Rom. Wer Lust hat das gilt auch für Ali Baba und Abdullah –, nimmt sein Handgepäck und begleitet mich dorthin. Wir werden uns ein Hotel nehmen und in der nächsten Woche faul sein und uns die Stadt ansehen. Zeltmeister Goesle, Oberingenieur Beck und Banat als Anführer der Circusarbeiter – ihr könnt nachkommen, sobald ihr mit eurer Arbeit fertig seid. Auch die Böhmen können nach Rom fahren – doch sie sollen sich so ablösen, daß immer einige hier sind, um aufzupassen. Jeder von ihnen soll Plakate mitbringen, möglichst viele – ich möchte sie auf allen sieben Hügeln Roms sehen. Und gebt auf den Plakaten an, daß die erste Vorstellung morgen in einer Woche stattfindet.« Als der Zug aus dem Norden fauchend und prustend, ratternd und Ruß wie auch Dampf ausstoßend einlief, wichen einige der Wartenden – zum Beispiel die Simms-Kinder und die Chinesen, die ein solches Monster zuvor noch nie aus so großer Nähe gesehen hatten – ängstlich zurück. Die blassen kleinen Sava und Velja Smodlaka hingegen blieben mutig an der Bahnsteigkante stehen wie alle anderen, für die ein Zug nichts Neues war. Als die Türen aufschwangen, kletterten die Circusleute in die Abteile; der Zug setzte sich ratternd wieder in Bewegung und auch diejenigen, die eine solche Fahrt zum erstenmal mitmachten, verloren ihre Nervosität. Ja, sie genossen es, mit so schwindelerregender Schnelligkeit dahinzusausen. Der Zug erreichte fast eine Geschwindigkeit von fünfzig Kilometern in der Stunde – und das bedeutete, in nur einer halben Stunde legte er eine längere Strecke zurück als die Circus-Kolonne an einem ganzen Tag. Jules Rouleau hatte sich zum Kinderaufseher ernannt und sie alle in ein Abteil zusammengetrieben. Voller Mitgefühl, aber -696-
auch amüsiert bemerkte er, daß Monday Simms die Fahrt offenbar noch mehr genoß als die anderen, wiewohl sie kein Auge für die draußen vorüberziehende Landschaft hatte, für die Bauernhäuser, Scheunen und die ochsengezogenen Pflüge; dann und wann sah man sogar den schlammigen Tiberuß. Den Blick ins Leere gerichtet, saß Monday mit zagem Lächeln auf den Lippen da; die plüschbezogene gepolsterte Sitzbank vibrierte offensichtlich lustvoller als alles, was je zuvor im Kontakt mit ihren phänomenal erregbaren unteren Regionen gewesen war. Nach Forano kamen keine weiteren Bahnhöfe mehr, und der Zug hielt sein atemberaubendes Tempo bis zum Erreichen des Ziels durch. Allmählich jedoch wurden die draußen vorüberhuschenden Häuser zahlreicher und hatten immer kleiner werdende Gärten. Später wurden daraus Häuseransammlungen, die durch Straßenzüge voneinander getrennt wurden, und schließlich eng aneinandergebaute Mietskasernen aus rußgeschwärztem Stein oder Ziegeln, die immer näher an die Gleise heranrückten. Nach noch nicht einmal eineinviertel Stunden verlangsamte er seine Geschwindigkeit, während der Lärm, den er verursachte, größer wurde, und lief schließlich unter einem jedes Geräusch verstärkt zurückwerfenden Glasund Eisendach ein und kam an einem Bahnsteig zum Halt, auf dem es von Reisenden, Eisenbahnbeamten, Handkarren schiebenden Gepäckträgern und fliegenden Händlern nur so wimmelte. Florian ging auf dem Bahnsteig von einem Abteil zum anderen und verkündete: »Wir sind da! Roma, la Cittá Eterna! Alle aussteigen!« Sie bahnten sich den Weg durch das lärmige Menschengewimmel des Hauptbahnhofs und traten hinaus auf eine Piazza, die im Gegensatz dazu bis auf das leichte Säuseln einer Sonnenuntergangsbrise ganz still und leer dalag. Florian organisierte eine ausreichende Anzahl von Mietkutschen, so daß alle Circusangehörigen samt ihrem Gepäck darin Platz fanden, bestieg die erste Droschke und gab Anweisungen, zum Hotel -697-
Eden in der Nähe des Parks der Villa Borghese zu fahren. Rom hatte ungefähr soviel Einwohner wie Florenz, doch die Stadt selbst war soviel offener und breiter hingelagert als Florenz, daß denjenigen, die die Ewige Stadt zum erstenmal besuchten, die wenigen Menschen und der spärliche Wagenverkehr regelrecht auffiel. Während die Hausburschen des Eden das Gepäck hinauftrugen und der Mann an der Rezeption die Führungsbücher durchblätterte, kaufte Florian an einem Zeitungsstand in der Halle eine Zeitung, warf einen Blick darauf und sagte nur: »Oh, verflucht!« »Ist was passiert, Direktor?« fragte Edge. »Nun, eigentlich genau das, was ich schon erwartet hatte. König Vittorio Emmanuele hat das Bündnis mit Preußen in der Woche nach Ostern abgeschlossen.« »Bedeutet das, daß wir jetzt alles stehen und liegen lassen müssen, um fortzukommen? Dann ruf ich die anderen gleich zusammen, bevor sie ausgepackt haben.« »Nein, nein. Krieg wird es zwar geben, da bin ich mir sicher, aber ich bezweifle, daß es gleich zu Kampfhandlungen kommen wird. Ich habe jedenfalls nicht die Absicht, uns um die Chance zu bringen, Rom kennenzulernen. Allerdings werden wir unseren Aufenthalt in Forano abkürzen, obwohl wir hier mindestens drei Wochen lang ein ausverkauftes Haus gehabt hätten. Aber nach unserer Woche Urlaub werden wir nur eine Woche spielen und dann zur Grenze hinaufziehen. Jetzt laß uns aus der verdreckten Reisekleidung rauskommen und uns zum Abendessen umkleiden. Das Eden ist berühmt für seine gute Küche.« Als sich alle ausgehungert zum Essen niederließen, saß an einem der Nebentische ein schlanker, in mittleren Jahren stehender Herr mit einem hübschen weiblichen Wesen, das seine Tochter hätte sein können. Er wartete höflich, bis die Artisten bei Liqueur und Kaffee angelangt waren, dann erhob er sich und -698-
wandte sich auf englisch an Florian: »Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, Sir. Aber ich habe vorhin in der Halle gehört, wie Sie einen Circus erwähnt haben. Und kurz vorm Abendessen sah ich dann ein Plakat an einem Laternenpfahl draußen.« »Dann müssen einige von meinen Arbeitern bereits in der Stadt sein. Gut.« »Darf ich davon ausgehen, daß Sie der Mr. Florian vom FLORILEGIUM sind? Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Gaetano Ricci, Ballettmeister, Choreograph und Tanzlehrer.« »Es ist mir ein Vergnügen, Signor Ricci. Gestatten Sie, daß ich Sie mit den Artisten meiner Truppe bekanntmache.« Er führte Ricci von einem Tisch zum anderen, und der Ballettmeister schüttelte den Männern und Knaben – sogar den Chinesen und den Schwarzen – freundlich die Hand, doch die Frauen und Mädchen bekamen einen Handkuß. Als Florian ihm »La Signorina Autunno Auburn, funambola staordinaria« vorstellte, sah Ricci sich veranlaßt, einen tiefen Seufzer auszustoßen und zu sagen: »Signorina, ich wünschte, meine Bühne wäre so schmal wie Ihr Seil.« »Um Gottes willen. Warum sollten Sie sich das wünschen, Signore?« »Weil dann nicht so viele Menschen glauben würden, Tanzen und Schauspielen wäre so leicht. Und ich brauchte nicht so viele von diesen entsetzlichen Gesprächen mit abgrundtief unbegabten, aber hoffnungsvollen Menschen zu führen. Aber hier ... erlauben Sie, daß ich Ihnen eine wirkliche Begabung vorstelle?« Er ließ das junge Mädchen nähertreten. »La Signorina Giuseppina Bozzacchi. Sie ist zwar erst zwölf Jahre alt, hat aber seit ihrem fünften Geburtstag eine Ausbildung genossen und tanzt jetzt in meinem corps de ballet. Es wird nicht mehr lange dauern, und sie wird una prima di tutto sein.« -699-
Das Mädchen versank lächelnd in einem Knicks, und ein paar der männlichen Circusangehörigen wagten es, ihr die Hand zu küssen. Signor Ricci fuhr fort: »Ich lade Sie alle ein, jederzeit eine Probe bei mir zu besuchen. Dann können Sie Giuseppina tanzen sehen. Meine Schule liegt an der Via Palermo, hinter dem Teatro Eliseo.« »Sehr freundlich von Ihnen, Signore«, sagte Florian. »Für unsere jungen Damen kann ein solcher Besuch nur von Vorteil sein; sie könnten etwas davon lernen, einmal zu sehen, wie ein richtiges Ballett arbeitet. Ich meinerseits möchte Sie und die Signorina sowie auch andere von Ihren Schülern und Schülerinnen einladen, in der nächsten Woche Gäste unseres Circus zu sein.« Nach dem Frühstück am nächsten Tag erklärte Florian seinen Leuten: »Eines möchte ich euch allen zeigen, auch wenn einige von euch es bereits kennen. Aber kommt mir zuliebe mit. Danach könnt ihr die Stadt auf eigene Faust erkunden.« Wieder ließ er einen ganzen Troß von Mietkutschen kommen und fuhr sie alle zum Kolosseum. »Ich wollte, daß ihr alle einmal die Geburtsstätte des Circus kennenlernt«, sagte er, als sie sich zurücklehnten und ehrfürchtig die drei übereinander laufenden Bogenreihen des gewaltigen Bauwerks betrachteten. Die Würde, die davon ausging, wurde nur wenig von den vielen Wäscheleinen beeinträchtigt, die Hausfrauen aus der unmittelbaren Nachbarschaft zwischen den Säulen aufgespannt hatten. »Die ersten einschlägigen Vorstellungen haben übrigens nicht hier stattgefunden, sondern im Circus Maximus unten im Tal« – mit wedelnder Handbewegung wies er vage nach Südwesten –, »doch von dem ist kaum noch etwas zu sehen. Der CIRCO MASSIMO wurde nach Errichtung des Kolosseums einfach nicht mehr benutzt. Dessen richtiger Name lautet übrigens Anfiteatro Flaviano.« -700-
Dann führete er sie in das atemberaubend große Bauwerk hinein und fuhr fort: »Leider ist es in den letzten achtzehn Jahrhunderten ziemlich verfallen. Früher gab es hier Logen- und Sitzreihen, die sich rings um diese riesige Ellipse übereinander staffelten – vierzig- bis fünfzigtausend Zuschauer konnten hier Platz finden. Da oben, an dem, was vom oberen Kranz noch übriggeblieben ist, könnt ihr die Löcher für die langen Stangen erkennen, an denen Sonnensegel angebracht waren – und der Stoff hätte gereicht, mehr als hundert Saratogas daraus zu machen. Jedenfalls haben diese Stoffbahnen die Zuschauer vor Sonne und Regen geschützt.« »Übrigens«, fügte Autumn hinzu, »nur während der Circusvorstellungen brauchten Römer und Römerinnen nicht getrennt voneinander zu sitzen. Sonst gab es getrennte Abteilungen für Männer und Frauen.« »Stellt euch einmal die Wagenrennen vor«, fuhr Florian fort, »die Kämpfe zwischen wilden Tieren, die Zweikämpfe der Gladiatoren, die Kämpfe zwischen Christen und Löwen, die Akrobaten und Jongleure, die zu Hunderten hier ihre Künste vorführten. Damals bestand der Boden der Arena nicht nur aus gestampfter Erde, wie ihr sie heute seht, sondern aus poliertem Marmor – der manchmal mit Sand bestreut wurde, um das vergossene Blut aufzusaugen. Und unter dem Fußboden – jetzt nicht zu sehen – befanden sich die Umkleideräume für die Künstler, Ställe und Rampen für die Tiere und die Waffenkammern der Gladiatoren. Vielleicht werden sie später einmal ausgegraben und kommen ans Licht.« Er ließ den Blick schweifen, als spiele sich all das, was sich früher hier getan, vor seinem geistigen Auge noch einmal ab, als sähe er das Kolosseum gedrängt voll mit jubelnden Menschenmassen. »Ach, sind das Zeiten gewesen!« sagte er aufseufzend. »Und jetzt, wo ihr mir und meiner Sehnsucht nach dem Vergangenen genug Respekt bezeugt habt, geht eurer Wege, meine Freunde. Ich empfehle, daß ihr euch zunächst -701-
einmal in westliche Richtung wendet und euch anseht, was vom Forum übrig geblieben ist, dem Mittelpunkt des Römischen Reiches, dem Herzen Roms, zu dem einst alle Wege führten.« So ergingen sie sich an diesem Tag noch zwischen den unkrautumwucherten Ruinen des Forums und des Palatin. Im Laufe der nächsten Tage suchten sie die berühmtesten Wahrzeichen der Stadt auf. Sie warfen die traditionellen zwei Kupferlinge in die Fontana di Tran, während sie in den eleganten Geschäften der Via Condotti wesentlich mehr Geld zurückließen. Einige fuhren auch zum Gianicolo hinauf, von wo aus man ganz Rom unter sich liegen sah. »Das hier ist einer meiner Lieblingsbauten in der ganzen Stadt«, sagte Autumn, als sie Edge stolz in das Pantheon hineinführte, als hätte sie es gerade eben gekauft. Sie standen in der Mitte der Rotunde von erhabener Leere, unmittelbar unter der kassettierten Kuppel, die sich rund sechzig Meter über ihnen auftat und durch die eine staubtanzende Lichtsäule herunterfiel und ein gewaltiges goldenes Oval auf die Wölbung der Seitenkapellen unten warf. »Die Kuppel da oben«, sagte Autumn, »ist genauso hoch wie ihr Durchmesser – genau vierundvierzig Meter. Das Pantheon wurde vor über siebzehn Jahrhunderten erbaut und besitzt immer noch die größte freitragende, durch keinerlei Schwibbogen, Ketten oder Streben gehaltene Kuppel in der Welt.« Liebevoll fragte Edge: »Und ist das der Grund, warum es dein Lieblingsgebäude ist?« »Ich mag Dinge, die dauern«, sagte sie schlicht. Da das Ederi ganz in der Nähe der Spanischen Treppe lag, stiegen die Circusleute für gewöhnlich über diese zur Piazza di Spagna hinunter, um von dort aus die anderen Stadtviertel zu erreichen. Häufig besuchten sie aber auch eine der volkstümlichen Trattorie, um einen Happen zu essen oder einen Cappuccino oder ein Glas Grappa, Wein oder von dem -702-
unvergleichlichen toskanischen Mineralwasser zu trinken. »Eigentlich heißt die Treppe Scala della Trinifa«, erklärte Florian. »Wie ihr seht, weist sie drei Absätze auf und landet oben vor der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit. Die Piazza hier unten aber hat ihren Namen von der Spanischen Botschaft erhalten, die früher hier stand; daher auch der volkstümliche Name Spanische Treppe. Im übrigen hat der Platz auch noch einen anderen Namen. Von den Römern wird er höhnisch il ghetio degli Inglesi genannt, weil es hier ständig von Ausländern wimmelt.« Eines Nachmittags rief Florian die weiblichen Circusangehörigen mit Ausnahme Magpie Maggie Hags sowie alle Männer zusammen, die Interesse hatten, und führte sie in Signor Riccis Übungssaal. Der Ballettmeister schien ehrlich erfreut über ihren Besuch und stellte sie den Tänzern im Saal vor jungen Männern und Frauen, Knaben und Mädchen –, die samt und sonders hübsch, gertenschlank und geschmeidig waren und alle Probenanzüge trugen. »Wir sind gerade dabei, eine neue kleine Geschichte einzuüben, ›Lo Stregone‹ «, sagte Ricci. »Ich habe sie nach der Musik von Monteverdi eingerichtet; und beteiligt sind alle Tänzer meiner Truppe. Hauptdarsteller sind der Zauberer, das Opfer, die Prinzessin, die böse Stiefmutter als Königin und der tapfere Prinz, der kommt, um sie zu retten. Das Mädchen, das Sie neulich kennengelernt haben, Signorina Giuseppina, werden Sie unter dem Corps der Sommerblumen im Schloßpark sehen. Den Park oder Garten müssen Sie sich natürlich ebenso dazudenken wie die Kostüme. Aber ich glaube, die Musik und der Tanz selbst wird Ihnen die Szene deutlich machen.« Er ließ rings um den großen Raum Stühle für seine Gäste aufstellen, nahm dann am Flügel Platz und begann zu spielen. Die vielen Ballerini und Ballerine wirbelten über den blankgebohnerten riesigen Fußboden pas seul, pas de deux, de trois und so weiter. -703-
Obie Yount lehnte sich zurück und flüsterte Florian zu: »Ehrlich – ich kann mir keinen Vers auf das ganze Getanze machen. Du etwa?« »Eigentlich schon. Der Bursche, der da mit seinen Armen so flattert, das ist der böse Zauberer, der die Prinzessin verzaubert, so daß ...« »Warum?« »Warum? Warum was?« »Warum sollte er das tun? Sie verzaubern?« »Nun ja ... Zauberer tun so was eben.« »Ach so.« »Jedenfalls wird sie anfällig für seinen Zauber, verstehst du, und ...« »Daheim in Chattanooga hab’ ich mal einen gekannt, der hatte auch Anfälle.« »Verflucht, Obie, doch nicht solche Anfälle!« Nachdem die Vorführung beendet war, die Besucher geklatscht und die Tänzer sich den Schweiß mit dem Handtuch abgetupft hatten, sagte Florian zu Signor Ricci: »Ich bin sicher, alle unsere Damen beneiden die Ihren um ihre Anmut und um ihre wunderbare Schwerelosigkeit. Wobei man sagen muß, daß unsere – die ja auf dem Pferderücken oder auf Sägemehl arbeiten – nicht soviel Gelegenheit haben, derlei Qualitäten zu beweisen.« »Frauen sollten aber immer graziös sein. Mal sehen. Die Damen vom Circus, bitte, wenn Sie sich einmal erheben würden?« Ein wenig überrascht von dem Nachdruck, mit dem er das vorbrachte, taten sie ihm ausnahmslos den Gefallen. »Stellen Sie sich hier vor mich hin und sehen Sie weiblich aus.« Autumn und Paprika nickte Ricci beifällig zu, doch die anderen fuhr er an: »Schauen Sie doch! Die Signorine Auburn und Makkai – wie -704-
diese beiden Frauen dastehen! Habt ihr anderen euch eigentlich nie die Mühe gemacht, euch das einmal anzusehen? Und nie versucht, ihnen diese Haltung nachzumachen?« Clover Lee, Gavrila, Sava, Sunday und Monday machten ein schuldbewußtes Gesicht. »Macht es jetzt jedenfalls!« befahl er. »Stellt den einen Fuß unmittelbar hinter den anderen, so daß beide immer voneinander wegzeigen. Das bringt Ihre Beine am vorteilhaftesten zur Geltung. Jetzt noch Schultern rein und Pietzen raus! Tut, was ich euch sage!« »Bitte, Sir«, sagte die kleine Sava weinerlich. »Ich habe keine Pietzen.« »Bis du welche bekommst, tu so, als hättest du welche! So, das sieht schon viel besser aus. Vergeßt diese Haltung nicht, übt sie, nehmt sie stets ein, wo immer ihr auch steht.« Und zu Florian gewandt, erklärte er bissig: »Diejenigen, die nur unten am Boden arbeiten, sollten Sie in sehr kurze Röcke stecken – und in wadenhohe Stiefel. Darin sieht jedes Mädchen größer und gertenschlank aus; es läßt ihre Beine länger erscheinen, schlanker und wohlgeformter.« »Er ... si, Signore!« »Und jetzt, alle – gehen!« befahl Ricci den Frauen. »Geht im Kreis um mich herum.« Sie taten, wie ihnen geheißen, und versuchten immer noch, die Schultern zurückzunehmen und die Brüste rauszudrücken. »Grauenhaft!« fauchte er. »Mit Ausnahme der Hochseilartistin gehen alle anderen wie ganz gewöhnliche Frauentrampel – stampfen mit der Ferse auf. Gräßlich! Signorina Auburn, warum haben Sie diesen Schlampen nie beigebracht, wie man geht?« Autumn wollte etwas antworten, doch er ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Führen Sie sie fort und bringen Sie ihnen das Gehen bei, sonst färbt dies Gestakse noch auf meine Mädchen ab.« »Bitte, Sir«, sagte Sunday zaghaft. »Wenn wir das gelernt haben dürfen wir dann wiederkommen und noch mehr lernen?« -705-
»Aha! Jedenfalls eine von euch hat den Ehrgeiz, an ihrer Anmut und ihrer Erscheinung zu arbeiten. Noch jemand?« Bis auf Monday hoben alle die Hand. »Signorina Auburn, Sie brauchen keine Nachbesserung. Aber ihr anderen, wenn es euch ernst ist, dann seid morgen früh um zehn hier. Entlassen!« Hinterher stand der ganze Circus draußen auf der Via Palermo und hatte das Gefühl, als wäre ein Wirbelwind über sie hergefallen. In den wenigen Tagen, die ihnen in Rom noch blieben, kamen diejenigen Frauen, die aufgefordert worden waren, an Signor Riccis Unterricht teilzunehmen, dieser Aufforderung gewissenhaft nach. Als die Ferien zu Ende waren und die Truppe per Bahn nach Forano zurückkehrte, nahm das FLORILEGIUM seine Vorstellungen wieder auf. Signor Ricci kam zu jeder Abendvorstellung. Beim erstenmal brachte er alle seine Tänzer mit – und Florian gab ihnen allen seinem Versprechen gemäß Freikarten. Hinterher kam Ricci noch öfter, allerdings nur in Begleitung der kleinen Giuseppina, die er auf zahlreiche Besonderheiten der künstlerischen Leistungen der Artisten hinwies – denn, wie er Florian erklärte, eine Ballerina könne selbst von Clover Lees Nummern auf dem Rücken zweier Pferde und von Zannis extravaganten Sprüngen etwas lernen. Nach jeder Vorstellung hielt Ricci sich für eine Stunde oder noch länger auf dem Circusplatz auf und unterwies eine ganze Reihe von Circusdamen weiterhin in der Kunst, sich graziös zu bewegen. Sunday Simms folgte diesem Unterricht am aufmerksamsten. Rom aber sorgte dafür, daß jede Vorstellung in dieser einen Woche zu einem vollen Haus wurde. Täglich kam um die Mittagszeit ein Zug aus der Stadt, ein weiterer traf um fünf Uhr nachmittags ein – und jeder Zug brachte eine große Fracht Menschen aus Rom. Bis zum Beginn der Vorstellung besichtigten sie das Museum, bestaunten den Löwen und die Mumie, verloren ihr Geld bei Fitzfarris’ Mäusespiel oder ließen -706-
sich von Magpie Maggie Hag aus der Hand lesen. Und nach der Vorstellung warteten sie bereitwillig – zumindest die Frauen; die Männer verbrachten mehr Zeit bei Fitz’ erbaulichen Lebenden Bildern aus der Bibel – bis sie alle mit dem SechsUhr-Zug nach Rom zurückkehrten. Schließlich schickte Florian eine Handvoll Böhmen nach Rom, um die Stadt mit Plakaten zu bepflastern, auf denen für den nächsten Tag bei Sonnenuntergang ein Ballonaufstieg angekündigt wurde. Außerdem zeigte er dem Bahnhofsvorsteher von Forano ein solches Plakat und nahm ihn derart für sich ein, daß der Mann sich sofort an seinen Telegraphenapparat hockte. Die nächsten beiden Züge aus Rom waren infolgedessen mit zwei Lokomotiven hintereinander ausgestattet, welche eine doppelte Anzahl von Passagierwagen zogen, die samt und sonders mit Circusbesuchern vollgestopft waren. Die beiden Vorstellungen an diesem Tag waren mehr als Sfondone; schließlich konnte Florian Menschen, die von so weit her gekommen waren, kaum die Tür weisen. Deshalb hatte er von den Böhmen die Seitenwände des Zeltes abnehmen lassen, so daß die viel zu vielen Zuschauer wenigstens unter den Tribünen hindurchlugen konnten. Obwohl sie die Vorführungen nur von ferne und leicht behindert verfolgen konnten, zahlten sie den vollen Preis. Auf die Saratoga jedoch hatten alle einen guten Blick, als sie aufstieg, über dem Tiber hin und her schwebte und schließlich wieder landete. Es sah so aus, als könnte sich das FLORILEGIUM auf unbestimmte Zeit hinaus ausverkaufter Häuser erfreuen, doch schrieb man die erste Maiwoche, und Florian hatte es eilig, das Land zu verlassen. So wurde das Chapiteau abgebaut, die Wagen beladen, und der Troß setzte sich nach Norden in Marsch. Vorstellungen sollten nur noch in den größeren Städten gegeben werden und auch dort im Höchstfall drei Tage hintereinander. Die nächste größere Stadt war Viterbo, doch weil sie noch innerhalb der Grenzen des zensurgeplagten -707-
Kirchenstaates lag, machten sie einen Bogen um die Stadt. So dauerte die erste Reiseetappe drei Tage und zwei Nächte, ehe der Circus Orvieto erreichte. Man konnte die Stadt bereits einen halben Tag vor der Ankunft sehen, denn Orvieto drängte sich auf einer Felsplatte, die etwa zwanzig Meter über der Ebene aufragte. Vom Fuß des Tafelberges führte eine brandneue, dampfgetriebene Seilbahn zur Stadt hinauf, mit der der tägliche Bedarf Orvietos transportiert wurde. Die Circuskarawane jedoch mußte sich mühsam eine sich lang hinziehende Wegstrecke hinaufquälen, um die Porte Romana oben zu erreichen, an der Florian sie erwartete. Während die Böhmen das Chapiteau auf dem ihnen zugewiesenen Platz aufbauten, forderte Florian alle, die gerade nicht arbeiteten, auf, ihn auf einem Spaziergang zu begleiten, um diese einzigartige Stadt kennenzulernen. Er führte sie nahe heran bis an die steilabfallende Felswand, machte eine weitausladende Geste und sagte: »Der Pozzo di San Patrizio.« Der Brunnen des Heiligen Patricius stellte in der Tat etwas Einmaliges dar: eine runde Grube, so groß wie eine Circusmanege war in den Fels hineingegraben worden. Der Rand war gesäumt von Männern und Frauen, die Esel mit Fässern oder enormen Flaschen am Zaumzeug hinauf- und hinunterführten. Als die Circusleute sich ihren Weg durch die wartende Menge bahnten und über den Brunnenrand hinunterspähten, wurde ihnen fast schwindelig. Der Wasserspiegel lag erschreckende sechzig Meter unter ihnen und war nur über eine spiralförmig in die Felswand hineingeschlagene Treppe zu erreichen – oder vielmehr auf zwei konzentrisch spiralförmig angelegten Treppen, so daß der Zug derer, die hinunterwollten, und derer, die wieder nach oben stiegen, dieses gleichzeitig tun konnten. Überdies waren zweiundsiebzig ›Fenster‹ von der Brunnenwand durch den Felsen bis an die Steilwand draußen geschlagen worden, um für -708-
die auf- und absteigenden Wasserträger das Tageslicht hereinzuholen. »Gegraben wurde er vor mehr als dreihundert Jahren«, sagte Florian, »um zu gewährleisten, daß die Stadt bei Belagerungen immer frisches Wasser hatte. Seither gibt es bei den Italienern das Sprichwort, ein ›Verschwender habe Taschen, so tief wie der Brunnen des heiligen Patricius‹.« Als sie zurückkehrten zum Zeltplatz, sagte Florian noch: »Apropos, Verschwender: Ich habe einen Vorschlag zu machen. Ich selbst werde zu alt und habe das Gefühl zu wohlhabend zu sein, um unterwegs weiterhin ein Zigeunerleben zu führen: Womit ich meine, auf schmuddelige Gasthäuser an der Landstraße oder noch unbequemere Circuswagen angewiesen zu sein. Inzwischen haben wir ja alle etwas Geld auf die hohe Kante gelegt, und so möchte ich vorschlagen, daß wir einen Teil davon für den Erwerb von Reisewagen ausgeben, wie sie zum Beispiel Miss Auburn und Monsieur LeVie besitzen. Das heißt nicht, daß jeder einzelne von uns einen solchen Wohnwagen kaufen müßte – das würde viel zu teuer werden und unseren Troß unerträglich verlängern –, aber ein Haus auf Rädern kann mehrere Personen aufnehmen und von ihnen gemeinsam gekauft werden. Ich persönlich habe vor, zusammen mit Mr. Goesle und Herrn Beck sowie Signor Bonvecino einen zu kaufen. Die anderen sollten es sich überlegen, ob sie es nicht genauso machen wollen. Und noch etwas. Entweder gebt all eure Lire aus, ehe wir an die Grenze kommen, oder ihr tauscht sie gegen gutes Gold oder Schmuck ein. In Österreich sind italienisches Papiergeld und italienische Münzen nichts wert.« Es wurde viel über die Idee mit dem Wohnwagen diskutiert; auch zwischen Maurice und Paprika fand eine solche Unterhaltung statt. Er sagte zu ihr: »Mein Wagen ist nicht groß, aber noch jemand könnte bequem darin Platz finden. Ich würde das sogar begrüßen.« »Merci, mais non«, sagte sie. -709-
»Et pourquois non? Wir sind Partner in der Luft. Warum nicht auch unten auf der Erde? Ich habe mir schon lange den Kopf darüber zerbrochen, warum du mich auf Distanz hältst. Ich weiß, du hast keinen anderen Mann.« »Ich will auch keinen haben. Du bist ein Mann von Welt, Maurice, infolgedessen wirst du Verständnis für mich haben; deshalb werde ich es dir sagen. Tatsache ist, daß ich – hm ja, Befriedigung – nur von einer Frau erfahren kann. So bin ich seit der Zeit, da ich ... nun, da war etwas, das mir in meiner Kindheit zugestoßen ist.« »Ah, pauvre petite. Irgendein netter alter Onkel, zweifellos.« Paprika schüttelte den Kopf. »Ein älterer Bruder, peutetre? So was kommt vor.« Sie schwieg weiterhin. »Dein Vater, etwa! Mon dieu! Que de merdeux ...!« »Nein, nein. Mein Vater war ein anständiger Mann. Das einzige, was er mir angetan hat, war, zu früh zu sterben.« Sie wandte den Blick ab. »Meine Mutter war es. Meine istenverte Mutter!« »Queestce qui?« schnappte Maurice fassungslos. »C’est impossible!« »Nein, keineswegs ausgeschlossen«, erklärte Paprika schmollend. »Vielleicht ist es zum Teil sogar meine Schuld gewesen. Ich war ja noch ein Kind, und so willfährig. Als mein lieber Vater starb, war ich erst elf, aber ich war entschlossen, die Erinnerung an ihn wach zu halten. Deshalb bestand ich darauf, daß meine Mutter sich keinen neuen Mann suchte. Und da sagte sie: ›Dann mußt du die Stelle deines Vaters einnehmen.‹« »Das war doch aber bestimmt anders gemeint ...« »Im Bett hat sie gemeint. Und genau das hat sie mich tun lassen. Natürlich konnte ich nicht alles tun, aber wir ... wir dachten uns was zum Ersatz aus. Und in mancher Beziehung, sagte meine Mutter, war ich sogar besser, als mein Vater es gewesen war. Besser als irgendein Mann sein konnte. Sie hat nie -710-
wieder geheiratet. Ich war ihr Liebhaber – nein, ihr Werkzeug –, bis ich alt genug war, mein Elternhaus zu verlassen und eigenes Leben zu führen.« »Und das ...« Maurice schluckte. »Und das hat dich dahin geführt, nur Frauen zu lieben?« »Sie zu lieben?« Paprika lachte, so wie ein Fuchs bellt. »Hassen tue ich sie. Ich kann sie nicht ausstehen und verabscheue sie, genauso, wie ich meine Mutter verachtet habe. Aber ich bin leider so verquer geblieben, wie sie mich gemacht hat. Bis heute kann ich sexuelle Lust nur so empfinden. Einmal habe ich es mit einem Mann probiert. Aber das war eine so rührende Farce, daß ich es nie wieder versuchen möchte.« »Aber Cherie, überlege doch mal Une hirondelle ne fait pas le printemps. Es gibt solche und solche Männer.« »Nein, Maurice, ich habe keine Lust, uns beide so zu entwürdigen, daß wir uns gegenseitig anekeln. Ich kenne mich gut genug. Ich kann nur mit einer anderen Frau schlafen, auch wenn ich keinerlei Zuneigung für sie empfinde, sondern nur Abscheu. Und wenn, um dieses Verlangen zu befriedigen, ich dazu greifen muß, irgendein unschuldiges Mädchen oder eine Frau zu verführen – ach, das verschafft mir nur noch ein größeres Lustgefühl. Du hast mich gefragt. Jetzt habe ich es dir gesagt. Denk von mir, was du willst, aber ... können wir auch weiterhin Partner sein? In der Luft?« »In der Luft«, sagte er traurig. »Ainsi que les hirondelles.« Ehe der Circus Orvieto verließ, kauften Florian, Goesle, Beck und Zanni einen sehr schönen Circuswagen samt Zugpferd für sich. Die Reise bis zur nächsten Station, Siena, dauerte vier Tage und drei Nächte, und nach diesen Nächten auf der Landstraße – zwei in den Gerätewagen und eine in einer außerordentlich schmuddeligen Locanda – waren auch die anderen Circusangehörigen soweit, sich einen Wohnwagen anzuschaffen. -711-
In Siena standen zwei weitere Wagen zum Verkauf. Pavlo Smodlaka murrte zwar verbittert, daß er niemand hatte, die Kaufsumme mit ihm zu teilen, erstand aber den besseren Wagen, um sich und seine Familie darin unterzubringen. Das andere Gefährt war ziemlich heruntergekommen und roch nicht gut – er gehörte einer verwahrlosten Zigeunersippe –, bot aber zumindest reichlich Platz. Hannibal Tyree und Quincy Simms überlegten hin und her – »Wir haben Taschen wie der Brunnen des heiligen Patricius« –, schafften es dann aber irgendwie, den Ikariern einen entsprechenden Vorschlag zu machen. Die Chinesen stellten nicht nur voller Freuden den gesamten Lohn zur Verfügung, der sich für sie angesammelt hatte, sondern fingen auch sofort an, den Wagen zu fegen und das Innere auszuscheuern. Diejenigen, die noch immer kein Dach überm Kopf hatten, mußten sich in der nächsten, vier Tage dauernden Reiseetappe bis Pistoia damit abfinden unterzukriechen, wo sich eine Gelegenheit bot. In Pistoia aber standen keinerlei Wohnwagen zum Verkauf. Als Yount und Mullenax sich laut darüber beschwerten, sie wären die Benachteiligten, während alle anderen es mehr als gut hätten, meinte Zanni scherzhaft: »Nun, dann seid ihr jedenfalls an einen Ort gelangt, der besonders gut geeignet ist, euch von eurem Elend zu befreien. Hier in Pistoia hat man die Pistole erfunden – die Stadt ist gleichsam der Namensgeber für diese Waffe.« Doch nach einem Aufenthalt von zwei Tagen hier brachte eine Vier-Tage-Etappe den Circus nach Bologna, und in dieser großen Stadt war so gut wie alles zu haben, was das Herz begehrte. »Eine wunderschöne Stadt, und äußerst gastfreundlich dazu«, sagte Florian. »Stellt euch vor, der Palazzo Comunale, wo ich um Erlaubnis nachkam, unser Zelt aufzubauen, hat eine Treppe, die eigens gebaut wurde, damit in der alten Zeit die Pferde bis zur Ratskammer hinaufreiten konnten und die Ratsherren nicht zu Fuß gehen mußten.« -712-
»Und die Universität von Bologna«, sagte Autumn, »hat von Zeit zu Zeit sogar weiblichen Professoren zu lehren erlaubt. Eine dieser Professorinnen soll so schön gewesen sein, daß sie ihre Vorlesungen hinter einem Vorhang verborgen halten mußte, damit die Studenten nicht allzusehr abgelenkt wurden.« »Das erinnert mich daran, bezaubernde Dame«, sagte Maurice, »eine deiner eigenen Schülerinnen hat mich gebeten, bei mir in die Lehre gehen zu dürfen. Deine kleine angehende Seiltänzerin, Sunday Simms. Zwar ist sie sich selbst wohl nicht darüber im klaren, aber sie folgt der klassischen Entwicklung – vom Bodenakrobaten übers Seil zum Trapez. Ich habe ihr gesagt, ich würde dich um deine Erlaubnis bitten.« »Die hast du selbstverständlich. Sunday ist begierig, alles zu lernen, was sie kann. Die wenigen Anweisungen von Maestro Ricci haben genügt, ihre Haltung gewaltig zu verbessern; sie ist unvergleichlich viel graziöser und sicherer geworden. Sie ist unermüdlich. Wenn sie nicht gerade in der Manege probiert, hockt sie hinter ihren Büchern. Wir sollten alles tun, sie in ihrem Ehrgeiz zu bestärken.« Während ihres Aufenthalts in Bologna fanden sich die noch fehlenden beiden Häuser auf Rädern. Eines wurde von dem Quartett Yount, Mullenax, Fitzfarris und Rouleau gekauft. Das andere erwarben gemeinschaftlich Paprika, Clover Lee, Sunday und Monday Simms. Florian setzte eine zweifelnde Miene auf, als er von diesem Arrangement erfuhr, doch Clover Lee versicherte ihm unter vier Augen: »Ich habe mich einverstanden erklärt, mich an den Kosten zu beteiligen, nachdem ich Paprika beiseite genommen und ein sehr freimütiges Gespräch mit ihr geführt habe. Dabei habe ich auf einigen strengen Verhaltensregeln bestanden. Was immer sie außerhalb des Wohnwagens treibt, kann ich nicht kontrollieren. Aber im Wageninneren darf sie nicht mal lüsterne Blicke auf jemand werfen.« Damit war von den Artisten und den Managern des Circus nur -713-
Magpie Maggie Hag ohne Reisehaus, doch die wollte keines. »Ich habe den ganzen Garderobenwagen mit der Küche für mich allein, mehr brauche ich nicht. Ich bin sowieso eine Zigeunerin. Zuviel Bequemlichkeit ist nichts für Zigeuner.« Genauso wie die anderen brachte sie ihre freie Zeit in Bologna damit zu, Einkäufe zu machen, denn Florian hatte ihnen eingeschärft: »Deckt euch für die vor uns liegende Fahrt mit allem Nötigen ein. Sobald der Krieg ausbricht, wird alles knapp und teuer werden, in Österreich genauso wie hier.« So wurden die Wagen, in denen die Artisten nicht mehr fahren oder schlafen mußten, mit Hafer und Heu für die Pferde sowie den Elefanten vollgestopft, mit Geräuchertem für den Löwen, Lebensmitteln für die Menschen, Kanistern mit Karbid für die Scheinwerfer, Rollen Tau, Kanistern mit Farbe und Teer, Petroleum und Wagenschmiere, Pferdegeschirr und Hufeisen und Werkzeug, Stoffen, Faden und Pailletten für die Kostüme. Carl Beck kaufte Säure, Eisenspäne und Kalk, um seinen Gasentwickler noch einmal füllen zu können, denn Bologna war die letzte Großstadt, die der Circus in Italien besuchen sollte. Deshalb, so meinten er und Rouleau, sei ein Ballonaufstieg angebracht; im übrigen könne es auf lange Zeit das letztemal sein, daß die Saratoga sich in die Lüfte erhob. Keiner von den Bewohnern Bolognas schien Florians Befürchtungen wegen eines bevorstehenden Kriegsausbruchs zu teilen. Falls aber doch, verdarb ihnen das jedenfalls nicht ihren Appetit auf Vergnügungen. Das Chapiteau war bei jeder Vorstellung bis auf den letzten Platz besetzt; die Bologneserinnen schlugen sich beinahe um die Vorhersagen von Magpie Maggie Hag, während die Bologneser von Fitzfarris’ Mäusespiel nicht genug bekommen konnten. Nach jeder Vorstellung drängten die Männer in das Zelt, in dem die Szenen aus der biblischen Geschichte dargestellt wurden. Zum Aufstieg der Saratoga am letzten Tag fand sich eine riesige Menschenmenge ein, die vor Begeisterung schier aus dem -714-
Häuschen war, als zusätzlich wie durch Magie ein schönes Mädchen vor ihren Augen in einer Rauchwolke verschwand, während der Ballon noch über ihnen schwebte – um dann bei der Landung wieder aufzutauchen. Ja, die Bologneser füllten die Truhen des Roten Wagens so sehr mit italienischem Geld in Scheinen wie in Münzen, daß die Abfahrt des Circus am Tag nach dem Abbau des Chapiteaus hinausgeschoben werden mußte, weil Florian, Zanni und Maurice – jeder ein Ränzel prallgefüllt mit Lire und Centesimi in der Hand – sich beeilten, jede Wechselstube in der Stadt aufzusuchen. Im Gegensatz zu den unbekümmerten Einwohnern der Stadt hatten die sauertöpfischen alten Juden mit den traurigen Augen entweder persönliche Erfahrungen oder weit zurückreichende Stammeserinnerungen an Kriege, Pogrome, Revolutionen oder Finanzkrisen. Jeder einzelne von ihnen verlangte einen gepfefferten (aber überall gleichen) Preis für seine Alchemistenkunst, Papier und Kupfer in Gold zu verwandeln. Florian und seine Helfer nahmen, was sie bekommen konnten, und zwar schnell bekommen konnten. Obwohl sie beim Umtausch verloren, kehrten sie mit einer ansehnlichen Menge Gold zurück, Gold, das überall in der Welt als legales Zahlungsmittel galt. Die Circuskarawane, die Bologna schließlich verließ, bildete einen Zug, dessen Schwanzende – und zwar buchstäblich der Schwanz des Elefanten – sich rund eine halbe Stunde nach dem Zeitpunkt in Bewegung setzte, da Florian in seiner Kutsche den Anfang gemacht hatte. Neben dem Elefanten und der Kutsche sowie den miteinander gekoppelten Apparaten des Gasenentwicklers, bestand der Zug aus sieben Wohnwagen sowie sechs weiteren Wagen, die jeweils nur von einem Pferd allein gezogen wurden; hinzu kamen vier schwerere Wagen mit je einem Doppelgespann der getüpfelten Pinzgauer davor. Es waren so viele Gefährte, daß fast jeder männliche Circusangehörige – Artisten wie Böhmen gleichermaßen – eines -715-
lenken mußte. Die Wagen durften nicht allzu dicht hintereinander herfahren, um nicht in den vom Vordermann aufgewirbelten Staub hineinzugeraten, so daß die Gesamtkolonne – von Snowballs weißer Schnauze bis zu Peggys borstenstarrendem Schwanzende sich über dreihundert Meter auseinanderzog. In Modena sagte Florian: »Mal alle herhören! Den Hauptteil unseres Schatzes habe ich bereits in ungemünztes Gold umgetauscht. Jetzt laßt uns auch das letzte bißchen Geld loswerden, das wir in der Tasche tragen.« Er und seine drei Wohnwagengenossen legten das ihre in einem Weinvorrat an – sie kauften guten hiesigen Lambrusco, wohingegen die meisten Frauen die ihnen noch verbliebenen Lire in etlichen Flaschen des unvergleichlichen Nocino aus Modena anlegten, eines klebrigsüßen Walnuß-Liqueurs. Obwohl die Circusleute sich beeilten, den Wettlauf mit dem Kriegsausbruch zu gewinnen, aber unterwegs auch immer wieder Vorstellungen gaben, vernachlässigten sie doch nicht ihre Freizeitaufgaben. Goesle und Beck ließen ihre Böhmen die neuerworbenen Wohnwagen genauso anstreichen, wie die anderen Circuswagen – blauer Korpus mit weißen Rädern, Fensterläden und Verzierungen. Den Schriftzug FLORILEGIUM freilich ließen sie bei diesen Gefährten weg, falls der eine oder andere Besitzer einmal abspringen und sich einem anderen Circus anschließen wollte. Magpie Maggie Hag war es mittlerweile leid geworden, Monday Simms ihre Dressurnummer der Hohen Schule nur in einem einfachen Trikot absolvieren zu sehen und staffierte sie jetzt als spanische Reiterin aus: schwarze Samthosen mit silbrigen Muschelapplikationen an den Säumen, weiche Stiefel, eine weiße, weitärmelige Bluse und mit einem leuchtendroten Bolerojäckchen darüber. Auf Mondays Kopf kam ein flacher breitrandiger Cordobeser-Hut, der eigentlich für Männer gedacht war, doch von jeher eine der schmeichelndsten -716-
Kopfbedeckungen der Damenwelt gewesen ist. Maurice und Paprika wiesen Sunday in die Anfangsgründe der Trapezkunst ein, wobei sie aus Sicherheitsgründen immer an der Longe blieb. »Nein, nein, nein, kedvesem«, schalt Paprika sie. »Niemals die Beine strecken, wenn du dich anschickst, auf der Brücke zu landen. Immer die Hüften nach vorn – wumm! – damit die Landung anmutig vonstatten geht.« »Wenn du mit den Füßen voran landest«, sagte Maurice ihr, »zieht das Trapez dich rückwärts von der Brücke runter. Das wirkt nicht nur unbeholfen, sondern ist auch gefährlich. Erst wenn du frei schaukelst und Aufschwünge machst, um schneller zu werden und höher zu kommen, erst dann und keinen Augenblick vorher knickst du in der Mitte ein und bringst die Beine nach vorn.« Der kleine Quincy Simms war ähnlich bemüht, sein Können in der Manege zu erweitern. Er folgte Zanni Bonvecino überallhin, nur nicht aufs Klo, und versuchte, ihm jede seiner komischen Bewegungen und Tricks nachzumachen. Zanni brachte dem Jungen ein paar Grundregeln bei, von denen Quincy vielleicht die Hälfte verstand. »Die Clowns-Kunst beruht auf sechs Grundelementen: Dummheit, Trickbeherrschung, Mimikry, Kaskaden, Schlägen und Überraschungen. Das erste solltest du aus deinem Repertoire streichen, weil du ein Neger bist. Als Dummkopf stempelst du dich nur selbst als trägen und beschränkten Nigger ab – das überlaß den amerikanischen Circussen. Hier in Europa – nun ja, zum Beispiel gab es da in Paris einen Clown namens Chocolat. Keiner, der ihm zusah, ist jemals auf die Idee gekommen, sich zu sagen: ›Das da ist ein schwarzer Clown‹. Alle dachten nur: ›Das ist ein großer Clown‹. Wenn du daher in der Kunst der Clownerie etwas leisten willst, mußt du aufhören, du zu sein. Ein Clown ist kein Mensch, sondern ein Objekt – er -717-
ist, was geschieht.« »Yassuh.« »Und hör, verflucht noch mal, auf, den Mund aufzumachen. Für meine Begriffe bist du ein Genie, aber reden tust du nichts als Blech. Bene, das erste, was du brauchst, ist, das, was wir avoir l’oeil nennen – das Auge haben. Probier die grundlegenden Tricks eines Clowns aus und paß auf. Finde heraus, womit du dein Publikum am besten amüsierst: als Lästermaul oder als Tumber Tor, mit zwerchfellerschütterndem Lachen oder zagem Lächeln, als Schlitzohr oder als Einfaltspinsel, mit reiner Pantomime oder mit einer Manege voller Requisiten, als Draufgänger oder als Trauerkloß. Damit kommst du deiner besonderen Begabung auf die Spur, findest dein metier, deine Magie. Und dann nimmst du dich selbst auf die Schippe.« »Yassuh.« Die Karawane hatte Modena verlassen, war aber noch nicht lange nach Norden unterwegs, als sie sich abermals einem ebenso auffälligen wie widersinnigen Teil einer Prozession gegenübersah. Sie waren zwischen zwei die Straße der ganzen Breite nach ausfüllende Kolonnen der Königlich Italienischen Armee geraten – Infanteriesoldaten mit vollem Marschgepäck und geschultertem Gewehr sowie farbenfroh uniformierter Kavallerie auf Streitrössern, die mit allen möglichen überflüssigen Ausrüstungsgegenständen beladen waren, pferdegezogenen Lafetten und Munitionswagen, Verpflegungswagen, Ambulanzwagen. Florian ließ nach hinten durchgeben, die Frauen sollten ihre kronenbestickten Schals umlegen, die der König ihnen geschenkt hatte, um so deutlich zu machen, auf wessen Seite das FLORILEGIUM stehe. Da ihnen nichts anderes übrig blieb, als mit der Armee zu ziehen, war den Circusleuten leicht unbehaglich zumute, und es war ihnen peinlich, als etliche Soldaten ihnen Anzüglichkeiten zuriefen, während andere sich fluchend beschwerten, weil Peggy völlig -718-
ungerührt ihre Kotballen auf die Straße kullern ließ und die Soldaten nicht nur aus dem Gleichschritt kamen, sondern auch noch ihre Formation aufbrechen mußten, um nicht durch den Kot hindurchzustiefeln. Doch als es dämmerte, bog die Circuskolonne auf eine Weide neben der Straße ab, um hier die Nacht zu verbringen. Am nächsten Morgen war von der Armee nichts mehr zu sehen. Der Wagentroß konnte ungestört den ganzen Tag reisen. »Die Truppen werden nach Ost und West weitermarschiert sein«, mutmaßte Florian. »Etwa dreißig Kilometer weiter nördlich fließt der Po, der die Grenze zu Venetien bildet. Auf der anderen Seite werden österreichische Truppen stehen. Folglich befinden wir uns momentan im potentiellen Kampfgebiet. Das Land, durch das wir ziehen, kann sich also ohne weiteres bald in ein Schlachtfeld verwandeln. Beeilen wir uns also – und, meine Damen, heute keine Schals, bitte!« Ohne irgendwelche Zwischenfälle erreichte die Karawane in der nächsten Abenddämmerung den Po und fand eine Brücke mit einer Schranke nebst Wachtposten an den beiden Enden. Diesseits war das Schilderhaus leuchtend rotweißgrün gestrichen, trug die italienische Flagge mit denselben Farben und war mit einem Trupp Gebirgsjägern bemannt. Nur sahen sie nicht gerade so aus, als wollten sie irgendwelche Berge besteigen, denn sie trugen langschäftige Stiefel, hohe Tschakos und goldbetreßte, mit Verschnürungen und Epauletten besetzte Joppen. Florian lehnte sich hinunter und redete auf italienisch mit ihnen, woraufhin sie ohne Umstände die Schranke hochgehen ließen und nur ein paar Bemerkungen darüber machten, wie töricht es sei, das sonnige Italien zu verlassen, um ins trübe Österreich hinüberzuwechseln. Flagge und Schildwache am anderen Ende der Brücke waren von düstererem österreichisch-ungarischen Schwarzgelb, und die Wachen – Tiroler Schützen – trugen knapper sitzende silbergrüne Uniformen ohne überflüssiges Lametta. Auch sie -719-
schienen nichts weiter dabei zu finden, daß das FLORILEGIUM die Grenze passieren wollte. Ihre teutonische Tüchtigkeit beschränkte sich darauf, die Konuitenbücher der Truppe sehen zu wollen, die sie dann jedoch nur flüchtig durchblätterten, als Florian sie ihnen reichte. Dann ließen auch sie die Schranke hochgehen, und der Circustroß rollte schwerfällig hindurch. Das Wort »Jetzt sind wir in Venetien« machte die Runde unter den Circusleuten, doch irgendwelche Unterschiede in der Umgebung konnte zunächst niemand feststellen. Die Landschaft sah genauso italienisch aus wie auf dem hinter ihnen liegenden Ufer; das galt auch für die Menschen, die Bauernhäuser, die Weingärten und Olivenhaine; als sie an diesem Abend am Straßenrand übernachteten, sprach die Bäuerin, die ihnen einen Eimer Milch verkaufte, italienisch mit ihnen. Zwei Tage später baute der Circus unmittelbar vor der Stadtmauer von Verona sein Zelt auf, und Autumn führte die weiblichen Mitglieder der Truppe in die Altstadt hinein. Alle zwitscherten aufgeregt durcheinander, selbst Magpie Maggie Hag, als Autumn versprach, ihnen das Haus der Capelletti zu zeigen, von dessen Balkon aus Giulia Komplimente und heiße Schwüre mit Romeo Mantecchi getauscht hatte. Florian lachte glucksend in sich hinein, als sie davongingen, und erklärte den Männern: »Ich fürchte, sie werden ein wenig enttäuscht sein von diesem Haus, aber den Rest Veronas werden sie genießen. Es ist eine wunderschöne Stadt.« Dem stimmten die Männer später zu, als sie durch die Porte Nuova schlenderten und den breiten blumenbeetgesäumten Corso hinuntergingen. Die Stadt prangte in Rot, Gold und Rosa, nur dort nicht, wo ab und zu eine Hauswand mit einem riesigen Wandgemälde bedeckt war – David bezwingt den Goliath oder der heilige Georg tötet den Drachen oder ähnliche Szenen. »Ich bedauere nur, daß wir weder weiter nach Osten noch nach Westen können«, sagte Florian. »Östlich von hier liegt natürlich Venedig, und jeder sollte zumindest einmal im Leben -720-
Venedig gesehen haben. Aber westlich von hier, auf der anderen Seite des Garda-Sees, liegen zwei hübsche Ortschaften, von denen nicht einmal viele Italiener gehört haben. Sie liegen nebeneinander auf einem kleinen Hügel und heißen beide Botticino. Das eine jedoch ist Bottecino Mattina und das andere Bottecino Sera – Morgen- und Abend-Bottecino je nachdem, wann die zugehörigen Weinberge von der Sonne beschienen werden.« Die weiblichen Circusangehörigen machten in der Tat ein etwas enttäuschtes Gesicht, als sie von ihrer Exkursion zurückkamen. Das Haus der Capelletti hatte nämlich nicht nur einen, sondern zwei Balkons, und Autumn mußte zugeben, keine Ahnung zu haben, welchen die Besucher nun bewundern sollten. Und als die Frauen sich nach dem Haus von Romeos Familie erkundigten, gestand Autumn, daß es in Verona mehrere Häuser gab, die Anspruch auf diese Ehre erhoben – und überhaupt gehöre die ganze Romeo-und-Julia-Geschichte laut Shakespeares Landsleuten ins Reich der bittersüßen Legende. Doch hatte niemand viel Zeit oder Muße, unter dieser Enttäuschung zu leiden. In Verona fand der jährliche Markt für landwirtschaftliche Produkte sowie ein Viehmarkt statt, und so wimmelte es in der Stadt von Fremden. Die Tatsache, daß viele der Besucher österreichische Uniform trugen, beeinträchtigte die Feststimmung der Leute nicht sonderlich. Vom Marktplatz liefen sie hinüber zum Circusplatz, und so war das Großzelt während aller Vorstellungen an den drei Tagen, die sie blieben, gesteckt voll. »Warum können wir denn nicht länger bleiben?« fragte Fitzfarris nach der Schlußvorstellung. »Wir machen doch Geld wie Heu, gute österreichische Kronen. Und schließlich sind wir auch schon auf österreichischem Gebiet, oder?« »Genau in dem Gebiet, um das Italien kämpfen will – und auf dem es kämpfen wird«, sagte Florian. »Nein, wir machen, daß wir weiterkommen.« -721-
Daß seine Vorsicht nicht übertrieben war, zeigte sich, als die Circuskarawane zwei Tage nach Verona wieder zwischen zwei marschierende Regimenter geriet. Diesmal konnte das FLORILEGIUM freilich nicht mitfahren, denn die Truppen kamen ihnen aus dem Norden entgegen, und bestanden aus österreichischer Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Dem Circus blieb nichts anderes übrig, als die Straße völlig zu räumen und abzuwarten, bis die Armee vorüber war. »Hier irgendwo verlassen wir jetzt Venetien«, erklärte Florian, »und kommen nach Trentino-Südtirol. Neunundneunzig Prozent der Bevölkerung hier sind Italiener, aber alle Ortsnamen gibt es in beiden Sprachen. Der Fluß hier neben der Straße ist dieselbe Adige, die wir schon von Verona her kennen; hier oben jedoch heißt sie Etsch. Und unseren nächsten Halt werden wir in einer Stadt machen, die auf italienisch Trento heißt und auf deutsch Trient.« Als die Straße frei war von Soldaten und die Circuskarawane ihre Reise fortsetzen konnte, wobei es die ganze Zeit über bergan ging, fiel auf, daß die Bauernhäuser hier anders aussahen als bisher. Sie waren zwar noch in den leuchtenden mediterranen Farben angestrichen, wiesen jedoch schwere, weit überstehende Dächer auf. Endlich – nach vier Tagen Aufstieg von Verona – erblickten sie Trento/Trient – und es war ein beeindruckender Anblick, denn die Stadt füllte die ganze Breite des Etschtals. Über der Stadt ragte der große einzelne Felsen auf, der Dosso Trento hieß. Wiewohl es in Trento Palazzi und Loggien venezianischen Stils gab, wiesen die meisten Gebäude doch breite Dachüberstände, Balkone und Schornsteinabdeckungen auf. Florian wartete auf sie, um sie zum Circusplatz zu geleiten, und begrüßte die Truppe mit Neuigkeiten: »Es geht los. Am sechzehnten Juni sind die Preußen in die österreichischungarische Provinz Böhmen einmarschiert.« -722-
Die überwiegend italienische Bevölkerung von Trento konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie Österreich hochleben lassen sollten, an das sie durch einen Friedensvertrag gefallen waren, oder die andere Seite, die preußischen Verbündeten Italiens. Was sie jedoch einmütig hochleben lassen konnten, das war ein Circus, und so strömten sie ins FLORILEGIUM und vergaßen die Politik. Abermals gab es für den Circus einen wohlbesuchten, profitablen Aufenthalt – jedoch nur für zwei Tage, denn dann zogen sie weiter. Es ging noch höher hinauf in die Berge, bis nach Bolzano – oder Bozen –, und in den beiden Tagen, da sie hier spielten, erreichte sie die Nachricht, daß Italien sich wie erwartet an die Seite Preußens gestellt und Österreich den Krieg erklärt harte. Als Florian diesmal zum Abbau rief, machte er allen Wagenlenkern klar, daß sie die Hauptstraße verlassen würden, der sie bisher gefolgt waren. Statt dessen würden sie auf einer Straße zweiter Ordnung weiterziehen, die parallel zur Etsch entlang über eine Stadt namens Meran nach Norden führte. »Wozu das?« fragte Edge. »Die ganze Zeit über habe ich angenommen, daß wir die Alpen über den Brenner hinter uns bringen würden. Der Paß liegt direkt nördlich vor uns, und die Straße ist gut und der Paß nicht unmöglich hoch – verflucht –, das ist doch die klassische Alpenüberquerung seit den Ostgoten.« »Die klassische Einfallsstraße in den Süden, eben. Und deshalb genau die Route, die die Österreicher einschlagen werden, um ihre Reiterschwadronen hinüberzuschicken – worauf ein ehemaliger Kavallerieoffizier wie du eigentlich von selbst kommen sollte. Ich hab’ keine Lust, oben in den Bergen zu sitzen und zu warten, bis eine ganze Armee an mir vorübergezogen ist. Wir werden statt dessen über den Passo di Resia fahren. Der liegt nur wenig höher als der Brenner, ist allerdings ein paar Tage weiter von hier entfernt.« Noch bevor es dunkel wurde, erreichte der Zug Meran, eine -723-
Stadt, die aus nichts weiter denn Gasthäusern zu bestehen schien. Florian verkündete: »Hier werden wir nicht auftreten. Meran ist ein Kurort für Schwindsüchtige. Sie kommen der Liege-, der Frischluft-, Molken- und Traubenkuren wegen. Wahrscheinlich schafften sie es nicht einmal, zu den Sitzen unserer Tribünen hinaufzusteigen. Suchen wir lieber nach Gasthäusern, die uns alle aufnehmen können. Dann sollten wir alle tüchtig essen und uns ordentlich ausschlafen. Die Straße vor uns wird hart sein – und irgendwelche Bequemlichkeiten haben wir dort nicht zu erwarten.« Nach dem Abendessen traten Autumn und Edge, ehe sie sich dem Luxus der großen, warmen, aber schwerelosen Federbetten hingaben, auf den Balkon vor ihrem Zimmer hinaus. Es war Vollmond, und der Mondschein wirkte auf den schneebedeckten schartigen Gipfeln, die Meran umrahmten, besonders eindrucksvoll. Der Saum der Berge – schimmerndes Blauweiß mit kraß schwarzen Talschatten – sah so scharf konturiert aus wie ein gezacktes Stück Blech vor einem dunkelblauen Himmel. »Bezaubernd«, murmelte Autumn. Sie ließ den Blick über den Horizont schweifen, und als er zu Edge zurückkehrte, erkannte er, daß der blütenblattähnliche Goldflitter in ihren Augen selbst im Mondlicht zu erkennen war. Sie sagte: »Weißt du, recht bedacht, ist der Mond ja immer ein Vollmond. Nur, daß wir ihn nicht immer so sehen können.« Bewundernd sagte er: »Ich glaube, mit deinen Augen könntest du ihn die ganze Zeit über erkennen. Ich hingegen nicht, ich bin nicht so scharfsichtig. Nur ist mir gerade in diesem Augenblick etwas anderes aufgefallen. Mein Schatten ist schwarz. Jedermanns Schatten ist schwarz. Nur deiner ist rosenfarbig.« Sie senkte unwillkürlich den Blick und lachte dann. »Du Spinner!« »Nun, für mich jedenfalls ist er rosenfarben. Alles an dir hat etwas Blumiges für mich, meine Liebe.« -724-
Für die nächste Etappe brauchten sie fünf Tage und Nächte. Die Straße wurde immer steiler und gewundener, so daß die Pferde es schwer hatten und die Circusleute häufig gezwungen waren, abzusteigen und nebenherzugehen. Auch waren die Nächte hier empfindlich kalt, selbst in den Wohnwagen spürte man das. Dabei war Hochsommer, aber sie näherten sich der 1600-Metergrenze über dem Meeresspiegel. Immerhin blieb die Straße unterhalb der Schneegrenze. Weder Mensch noch Tier wurde überanstrengt, und keiner der Wagen hatte einen Radoder Achsenbruch. Und ob nun Armeen über den Brennerpaß herüberkamen – auf dieser Straße versperrten keine marschierenden Regimenter ihnen den Weg. Am Vormittag des sechsten Tages stellten die Circusleute fest, daß sie nicht mehr stiegen, sondern ein Stück Straße waagerecht verlief. Sie langten vor einer kleinen, in den österreichischen Farben Schwarz und Gelb gestrichenen Hütte an, auf der die österreichische Flagge wehte, und ein paar Tiroler Schützen kamen heraus – jedoch nur, um ihnen grüßend zuzuwinken. Florian ließ den Troß halten, wechselte ein paar Worte mit den Wachen und wandte sich dann wieder seinen Leuten zu: »Meine Damen und Herren, Sie befinden sich auf dem Kamm der Lechtaler Alpen. Hinter uns heißt der Paß Passo di Resia – vor uns nennt man ihn den Reschenpaß. Wir verlassen jetzt die zisalpinen Länder und betreten die transalpinen. Und nach dem, was diese guten Burschen mir sagen, gerade noch rechtzeitig. Österreicher und Italiener sind in heftige Kämpfe verstrickt, irgendwo in der Nähe von Verona tobt eine blutige Schlacht.«
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ÖSTERREICH
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1 Den Rest des Tages über ging es Täler hinab, durch die rauschend der Inn floß, der hier oben von blasser, jadegrüner Färbung war. Es bestand ein merklicher Unterschied zwischen der Nordseite der Alpen, auf der sie sich jetzt befanden, und der Südseite, die sie gerade heraufgekommen waren. Waren sie zuvor durch Buchen-, Eichenund Eschenwälder emporgestiegen, bestanden die Wälder hier jetzt vornehmlich aus immergrünen Nadelbäumen: Fichten, Kiefern und Föhren. Waren die Wildblumen auf der Südseite überwiegend Oleander und Verbenen gewesen, herrschten auf der Nordseite jetzt Enziane und Steinbrechwurze vor. Am Oberlauf des Inns gab es nur wenige kleine Dörfer, die viel zu klein waren, als daß man Unterkünfte für Fremde darin gefunden hätte. Als die Karawane außerhalb eines Weilers namens Pfunds anhielt, um zu übernachten, sagte Florian: »Maggie sagt mir gerade, daß wir in den letzten paar Tagen unsere Vorräte so gut wie aufgebraucht haben. Ich werde deshalb mal ins Dorf gehen und anklopfen und fragen, ob ich irgendeiner guten Hausfrau Brot, Milch und Käse abkaufen kann. Komm, Banat, und hilf mir tragen, was ich bekommen kann.« Schwer beladen kehrten die beiden später zurück. Magpie Maggie Hag hatte ein Lagerfeuer entzündet, die Böhmen auch eines, um das die Artisten und Circusarbeiter herumsaßen und Brot und Käse verzehrten. Plötzlich setzten sich alle kerzengerade auf, denn ein sehr lautes, ganz und gar ungewöhnliches Geräusch ließ sich vernehmen – ein Laut, der eine Mischung aus Knarren, Schluchzen und Kreischen war und irgendwo aus der Schwärze der Tannen auf der anderen Straßenseite kam. »Jesus in der Springprozession!« sagte Yount. Abermals ertönte der unheimliche Laut. Der Elefant trat voller -727-
Unbehagen von einem Fuß auf den anderen, Maximus stieß ein dumpfes Knurren aus, und die Terrier in Smodlakas Wohnwagen kläfften. »Was immer es ist«, sagte Mullenax. »Ich glaub’, wenn das so weitergeht, drücke ich heut nacht kein Auge zu. Zack, hast du deinen Stutzen mit Schrot geladen? Bitte, leihe ihn mir.« »Du willst ihm eins aufbrennen? Wo du doch nur ein Auge hast? Und dann noch in der Dunkelheit?« »Ich bin Dompteur, oder etwa nicht? Bei Dunkelheit sieht man mit zwei Augen auch nicht besser als mit einem.« Edge zuckte mit den Achseln, holte die Flinte für ihn, und Mullenax verschwand zwischen den Bäumen. »Ich glaube, Abner hat selbst einiges geladen«, sagte Fitzfarris. »Und wenn er unachtsam mit der Waffe umgeht und irgendwo in die Gegend lauert, können wir alle was von dem Schrot abkriegen.« Doch das Geschöpf, was immer es sein mochte, stieß wieder diesen knarrenden Schluchzlaut aus, und von einem Schuß war nichts zu hören. Wenige Minuten später ging es wieder los, doch dann, mitten im Schreien, hörte das Geräusch auf. Alle, die ums Feuer herum saßen, sahen einander fragend an. Nach langem Schweigen trat Mullenax in den Lichtschein des Feuers und trug ein großes, struppiges schwarzes Bündel auf dem Rücken. »Brauchte nicht auf ihn zu schießen. Hab’ ihn mit dem Kolben einfach vom Ast gestoßen. Er ist noch am Leben, und deshalb hab’ ich ihm mit dem Gürtel die Beine zusammengebunden. So einen Vogel hab’ ich noch nie zu Gesicht bekommen. Und ich weiß nicht, ob ich möchte, daß er seine Fänge gebrauchen kann, wenn er aufwacht und es etwa auf mich abgesehen hat.« Er ließ sein Bündel auf den Boden fallen, das alle neugierig anstarrten. »Groß wie ein Truthahn – aber ich habe noch keinen Truthahn derart kollern hören und auch keinen mit einem so bösartigen Schnabel gesehen.« -728-
Der Vogel war bräunlichschwarz mit etwas Blautönung und Violett darin; sonst glich er schon einem Truthahn. Nur der Kopf, der Schnabel und die Krallen waren die eines Raubvogels. Als er sich wieder rührte, blickte er aus wilden Falkenaugen, die von leuchtendroten fiedrigen »Augenbrauen« gesäumt waren, machte klappernd einen tückisch gebogenen gelben Schnabel auf und stieß wieder den unheimlich knarrenden Ruf aus, so daß alle zurückwichen. »Weder etwas Übernatürliches noch Bedrohliches«, sagte Florian. »Es ist eine Art Rauhfußhuhn und hat einen Namen, der in wohl jeder europäischen Sprache soviel bedeutet wie Wildoder Berghahn. In Italien wäre es der gallo alpestre, und hier nennt man ihn Auerhahn.« »Und in Schottland einen capercaillie«, sagte Autumn. »Das ist gälisch für Waldhahn.« »Schmeckt er denn?« fragte Yount. »Doch, das tut er, sehr gut sogar«, erklärte Florian. »Zumindest in dieser Jahreszeit, solange er sich von Beeren und so ernährt. Im Winter jedoch frißt er Fichtennadeln und schmeckt deshalb wie Terpentin.« »Hey«, sagte Mullenax. »Daß mir keiner auf die Idee kommt, diesen Vogel zu verspeisen. Ich hab’ ihn schließlich mit Absicht lebend gefangen. Er soll gezeigt werden.« »Den wirst du niemals zähmen, geschweige denn, ihm was beibringen«, sagte Fitzfarris. »Aber wir könnten ihn ja zwischen die ausgestopften Museumsvögel stellen.« »Ja«, sagte Florian. »Hierzulande ist so ein Auerhahn zwar kein Exote wie etwa ein Kolibri oder ein Papagei. Aber die meisten Städter werden ihn wohl bloß tot und ausgestopft gesehen haben. Und daher werden wir ihn lebendig ausstellen.« Während der Circus weiter das Inntal hinunterzog, zogen sich die Berghänge zu beiden Seiten sanft ansteigend in die Höhe und waren dicht mit schwarzgrünen Fichten bewaldet, von -729-
denen sich gelegentlich Fetzen und Bäusche grauen Dunstes lösten wie Gespenster, die sich aufrichteten, um der vorüberziehenden Prozession nachzuschauen. Hier und da wichen die Fichten Tannenwaldungen, deren Wipfel wogten, als wären es Meereswellen, welche die Bergflanken hinaufliefen. Gelegentlich auftauchende Laubbäume wie Linde oder Kastanie wirkten im Dunkelgrün der Nadelwälder wie eine hellgrüne Explosion. Da das Wetter auch weiterhin gut blieb, kampierte der Circuszug jeden Abend am Straßenrand, hielt aber auch häufig vor einer Schenke oder einem Gasthaus, um eine warme Mahlzeit einzunehmen. Einige dieser Gasthäuser waren ziemlich ärmliche Etablissements und hatten nur Gerichte für die Landbevölkerung zu bieten, die ausschließlich aus dem Sterz zu bestehen schienen, einem Gericht aus Buchweizengrütze mit Specktunke. In einem dieser Gasthäuser machten die Neuankömmlinge den Fehler, das Rhum genannte Bauerngetränk zu bestellen – mußten jedoch entdecken, daß dieses nicht im entferntesten etwas mit seinem Namensvetter, dem karibischen Rum zu tun hatte, sondern ein fürchterlicher Kartoffelschnaps war, der mit braunem Zucker vermischt wurde und so schrecklich schmeckte, daß nicht einmal Mullenax ihn herunterbekam. Manche Häuser jedoch waren auch auf die Wohlhabenderen eingestellt, und dort gab es exzellentes Essen: geschmorten Hasen, Wildschweinbraten und frische Fische aus dem Inn, gewaltige Knödel, kräftiges Bier und einen Enzianliqueur. Die erfahreneren unter den Reisenden erklärten den Neulingen so manches Wissenswerte über Österreich: »Die Habsburger, die dieses Land regieren«, sagte Florian, »müssen das älteste, ununterbrochen regierende Herrscherhaus der Geschichte sein. Ich denke, daß sie – als Herzöge, Grafen, Könige oder Kaiser – länger auf dem einen oder anderen Thron gesessen haben, als irgendeine ägyptische Dynastie es je getan -730-
hat. Ihr Stammbaum geht zurück auf einen Grafen Guntram den Reichen, um das Jahr neunhundert, der seine Familie nach seiner Habichtsburg benannte. Im Laufe der Geschichte haben die Habsburger alles regiert, von kleinen Herzogtümern bis zum gesamten Heiligen Römischen Reich. Im Augenblick bemüht sich ein Habsburger gerade, das ziemlich unbotmäßige Mexiko zu regieren.« »Das wird nicht lange dauern«, sagte Edge. »Maximilian hat sich nur deshalb einschleichen können, weil die Vereinigten Staaten mit ihrem Bürgerkrieg beschäftigt waren.« »Und selbstverständlich ist er nur hingegangen, weil Franz Joseph ihm das befohlen hat«, sagte Florian. »Was fängt so ein Kaiser schließlich mit einem jüngeren Bruder an? Er muß sich ja darum bemühen, irgendwo im Ausland einen einigermaßen annehmbaren Job für ihn zu finden. Maximilian hatte schon in Venetien die Regierungsgeschäfte durcheinandergebracht. Der Mann ist ein Einfaltspinsel.« »Ich habe mal zu den Sängern gehört, die an Maximilians Hof auftreten mußten, als er in Venedig war«, sagte Zanni Bonvecino. »Verheiratet ist er mit einer Charlotte von Coburg, einer völlig unausgeglichenen Frau. Sie ist mit Leib und Seele Hausfrau und wischt ständig Staub, wie eine verrückte Kammerzofe.« Carl Beck sagte: »Und Franz Joseph ist mit Elisabeth verheiratet, einer Wittelsbacherin aus Bayern, und verrückt waren die Wittelsbacher von jeher.« »Nun, Franz Joseph hat zumindest einen sehr triftigen Grund gehabt, Elisabeth zu ehelichen«, sagte Florian. »Sie soll seit Nofretete die schönste Frau sein, die je eine Krone getragen hat.« »Trotzdem«, sagte Paprika. »Elisabeth ist und bleibt eine Wittelsbacherin – und eine Exzentrikerin, um es vorsichtig auszudrücken. Ihre Schönheit und ihre Gesundheit – davon ist -731-
sie bis zur Besessenheit erfüllt. Dauernd Gymnastik treiben, in seltenen Ölen baden und merkwürdige Dinge essen. Außerdem haßt sie die Förmlichkeiten bei Hof und ihre Repräsentationspflichten – und verabscheut ihren Mann. Soviel ich gehört habe, ist sie jetzt ständig auf Reisen, und selbst wenn sie in ihre Stammlande zurückkehrt, verbringt sie die meiste Zeit in Budapest und überläßt Wien und ihre Kinder Franz Joseph und seiner eisernen Mutter, Sophia.« »Eines allerdings muß man ihr lassen«, ließ Autumn sich vernehmen. »Die Kaiserin Elisabeth ist vernarrt in den Circus und selbst eine fabelhafte Reiterin. Sie versteht sich sogar auf Reiterkunststücke und nimmt jede Gelegenheit wahr, ihrer Circusleidenschaft zu frönen. Mischt sich inkognito unters Volk wie dieser Sultan – wie hieß er doch noch gleich, Florian? Der, der ständig in Verkleidung unter seinen Untertanen rumlief?« »Das war ein persischer Kalif, Harunal-Raschid.« »Ja, davon habe ich gehört«, sagte Paprika. »Außerdem soll sie neben den vielen anderen Sprachen auch noch perfekt magyarisch sprechen.« Paprika hielt inne und kicherte. »Wißt ihr, daß Elisabeth einen Kosenamen für ihren Mann hat? Sie nennt ihn Megaliotis – und das nicht nur hinter seinem Rücken, sondern ihm ins Gesicht. Und dem Trottel gefällt das auch noch, denn in klassischem Griechisch hieße das Majestät. Doch im Magyarischen bedeutet es soviel wie: ›Nichts geht mehr‹.« »Das sollten wir aber nicht zu unserer Devise machen«, sagte Florian. »Legen wir uns schlafen und brechen wir morgen früh zeitig auf.« Er selbst war der erste, der wieder auf den Beinen war, denn am Nachmittag sollte das FLORILEGIUM in der ersten größeren österreichischen Stadt, Landeck, eintreffen, und Florian mußte vorauseilen, um bei den Behörden rechtzeitig für einen Platz zu sorgen. So führten Edge und Autumn den Zug an, obwohl keinerlei Gefahr bestand, sich zu verfahren, denn es gab -732-
nur eine einzige Straße, die dem Inn das Tal hinunter folgte. Edge wußte, daß der Inn schließlich zu einer der größten Wasserstraßen Österreichs wurde, doch bis jetzt war er kaum mehr als das, was man daheim in Virginia einen creek, einen Bach oder kleinen Wasserlauf genannt hätte. Immerhin kreuzten jetzt ab und zu andere Straßen die Landstraße, und diese Seitenstraßen überquerten den Inn auf hohen gedeckten Buckelbrücken, die genauso solide Seitenwände und ein festes Dach aufwiesen wie die Häuser im Gebirge. Plötzlich erhielt der Inn Zufluß durch einen Nebenfluß, so daß jetzt ein respektabler Strom daraus wurde, und wo die beiden Wasserwege ineinander mündeten, lag Landeck, und am Wegesrand wartete Florian auf sie. »Wir schlagen das Zelt auf dem Eislaufplatz auf. Zumindest im Winter wird dort Schlittschuh gelaufen. Da ich ohnehin auf euch warten mußte, habe ich ein bißchen an den italienischsprachigen Plakaten verändert. Alle, die keinen Wagen lenken, sollen schon anfangen, sie anzukleben, während wir anderen zum Circusplatz fahren.« Landeck war eine ungewöhnlich saubere Stadt, insbesondere verglichen mit den italienischen Städten. Nirgends lagen Abfälle herum, es gab kein verwahrlostes Haus oder Garten, und die Menschen waren alle gepflegt. Am auffälligsten war es hier wie auch schon zuvor in den Dörfern, durch die sie hindurchgekommen waren, daß man keine Bettler sah. Autumn jedoch versicherte, auch Österreich sei nicht ganz frei von ihnen, nur wären sie alle nach Wien gezogen, wo die Arbeit einträglicher sei als anderswo. Landeck schien aufs Geratewohl um eine gewaltige, von einem quadratischen Turm überragte, trutzige Burg herum gebaut worden zu sein; dort hatte man offenbar die ersten Häuser gebaut, die sich dann jedoch über das ganze Tal und über die Berghänge ausgebreitet zu haben schienen. Die Circuskarawane mußte sich langsam durch die engen und -733-
gewundenen Straßen bis auf die andere Seite der Stadt vorarbeiten. So konnten die Plakatkleber dem Circus selbst immer ein kleines Stück voraus sein; mit seinem Zimmermannsbleistift hatte Florian oben drüber hinzugesetzt: VERGESST EURE SORGEN! Als die Wagen endlich auf dem Eislaufplatz halt machten und alle ausstiegen, fragte Edge, warum Florian diese Worte dazugefügt hätte. »Statt herumzusitzen und Trübsal zu blasen, sollen die Leute lieber in den Circus kommen«, erklärte Florian. »Sollten wir lange genug in deutschsprachigen Landen bleiben, laß’ ich ganz neue Plakate drucken. Aber das Wort ›Circus‹ ist durchaus erkennbar.« »Hat diese Stadt denn irgendeinen besonderen Grund zum Trübsalblasen?« »Den hat ganz Österreich. Ich habe die letzten Meldungen vom Kriegsschauplatz gehört. Wie erwartet, haben die österreichischen Truppen unten im Süden den Italienern tüchtig den Marsch geblasen. Doch in Böhmen sind sie vor den Preußen nur auf dem Rückzug und haben schwere Verluste erlitten. Und das wiederum hat keiner erwartet. Die österreichischen Soldaten gelten als besser ausgebildet und als disziplinierter als die preußischen; außerdem hatten sie vor knapp sieben Jahren Kampferfahrung im Krieg gegen die Franzosen gesammelt. Die Preußen hingegen haben seit fünfzig Jahren keinen Krieg mehr geführt. Doch wie man mir sagte, verfügen die Preußen über ein paar furchtbare neue Waffen – moderne Hinterlader und Repetiergewehre gegen die alten Vorderlader der Österreicher. Und Kanonen aus Kruppstahl statt aus Gußeisen. Das heißt, sie können schneller und genauer feuern als die alten. Ich nehme an, daß Mut und Erfahrung gegen solch überlegene Feuerkraft nichts mehr ausrichten.« »Da kannst du Gift drauf nehmen!« sagte Edge sarkastisch. Doch mochten die Landecker sich auch Sorgen ums Vaterland -734-
machen – sie ließen es sich nicht anmerken, sondern liefen herbei, um zuzusehen, wie der Elefant im Verein mit den Böhmen das Chapiteau und das kleinere Zelt aufbaute, und eine ganze Anzahl von ihnen stellte sich vor Maggie Hags Rotem Wagen an, um Eintrittskarten für den nächsten Tag zu kaufen. Auch Fitzfarris saß im Roten Wagen, allerdings weiter im Hintergrund – dort, wo das Museum untergebracht war – und rief Florian herbei. »Hoffentlich lohnt es die Mühe, Abners verdammten Putenvogel zu zeigen«, sagte Fitz wütend. »Es ist das erstemal, daß wir die Rundleinwand abgenommen haben, seit wir das Federvieh darin eingesperrt haben. Und jetzt sieh dir mal an, was er aus dem Museum gemacht hat!« Der Rest des Museums existierte praktisch nicht mehr – es war nur ein Haufen Fetzen von Fell und Leder, Füllmaterial und drei Glasaugen übriggeblieben, die Überreste des Kalbs mit zwei Köpfen. Der tückische Schnabel des Auerhahns und seine Krallen hatten jedes einzelne Ausstellungsstück zerfetzt – die Vögel, die Tiere, sogar die Milchschlange. Der Bösewicht schlug ein Rad mit den Schwanzfedern und funkelte sie trotzig an. »Verflucht!« sagte Florian. »Das hätte ich mir denken sollen. Als wir den Vogel mitten in der Nacht und das noch im Hochsommer schreien hörten, hätte mir klar sein müssen, daß das keine Balzschreie waren. Er forderte vielmehr andere Vögel heraus, in sein Territorium einzudringen.« »Dieses Territorium jedenfalls hat er ganz für sich allein. Wir können noch von Glück sagen, daß die Chinamänner nicht mehr darin lebten. Eigentlich sollte Abner das verflixte Tier auffressen – roh und mit Federn, Krallen und allem.« »Immerhin haben wir den Auerhahn ohne jede Nahrung eingesperrt. Wahrscheinlich hat er Hunger bekommen.« »Schön, soll er sich doch an Abner halten. Ein Tier, das sich -735-
an einem dreiäugigen einbalsamierten Kalb gütlich tut, sollte eigentlich seine helle Freude an einem einäugigen, alkoholgetränkten Klumpfuß haben!« »Jetzt komm mal wieder auf den Boden, Sir John. Du mußt zugeben, daß das Museum ein rechtes Provisorium war. Ich werde einen der Böhmen beauftragen, den ganzen Dreck rauszukehren, und mir selbst ein Schauermärchen aus den Fingern saugen, das von einem Mördervogel aus unzugänglichen Hochgebirgsschroffen handelt, mit dem wir dem Publikum Appetit machen. Wer weiß, ob wir nicht im Verlauf unserer Fahrt ein richtiges lebendiges Museum zustandebringen. Hallo ... was ist denn das?« Ein offiziell aussehender uniformierter Herr kam federnden Schritts auf den Circusplatz, bedachte die Zelte mit einem verächtlichen Blick, steuerte dann auf Florian zu und sprach ihn hochmütig auf deutsch an. Die beiden redeten einen Augenblick miteinander, dann betrat der Fremde das Chapiteau. »Wer ist denn das?« fragte Fitzfarris. Florian verzog das Gesicht. »Die personifizierte teutonische Tüchtigkeit, genau, wie ich befürchtet habe. Bestimmt trägt er einen ellenlangen Titel, der etwa folgendermaßen geht: ›Der Herr Oberinspektor der winzigsten Nebensächlichkeiten von der Verhinderungsabteilung im Ministerium für öffentliche Einmischung‹. Auf Leute wie ihn müssen wir in jeder Stadt gefaßt sein, die groß genug ist, sich einen aus lauter Tagedieben bestehenden Behördenapparat leisten zu können.« Er betrat das Zelt, in dem Stitches Goesle die mit dem Aufstellen der Sitze beschäftigten Böhmen beaufsichtigte. Der Landecker Inspektor tastete eine Falte der Rundleinwand ab und betrachtete sie äußerst mißtrauisch. Als Florian eintrat, schnippte er unverschämt mit den Fingern und verlangte die Konuitenbücher. Florian ging wieder hinaus zu seinem Wohnwagen und holte das Gewünschte. Der Inspektor blätterte -736-
jedes einzelne durch und studierte ausgiebig jede Eintragung in jeder Sprache oder tat wenigstens so. Schließlich erkannte er wohl eines der Worte, denn er sah vom Büchlein auf und sagte: »Kanuasmeister?« Florian erklärte ihm, der ›canvasmaster‹ sei für das Chapiteau verantwortlich. Er zeigte auf Goesle, und der Inspektor bat, ihn herbeizurufen. Als Dai kam, sagte der Mann: »Herr Goosely?« »Mein Name spricht sich Gwell aus«, knurrte Goesle, um sich dann an Florian zu wenden und zu fragen: »Wer ist denn dieser Wichtigtuer?« »Der Stadtinspektor«, sagte Florian und lauschte den umständlichen Ausführungen des Beamten. Für Goesle übersetzte er: »Der Inspektor sagt, deine Zeltbahn wäre hochentzündlich, und es stünden weder Wasser- noch Sandeimer bereit, ein eventuelles Feuer zu bekämpfen.« »Wart mal, Direktor«, sagte Goesle verschnupft, »warum erzählst du mir diese Dinge. Das weißt du doch genausogut wie ich.« »Natürlich. Aber laß uns dafür sorgen, daß es sich anhört, als diskutierten wir darüber.« »Was gibt es da zu diskutieren? Ich kenne nichts, das verhindern könnte, daß Leinwand Feuer fängt. Wenn du möchtest, daß ich Eimer hinstelle – nun, das läßt sich machen, vorausgesetzt, ich habe Zeit und Gelegenheit dazu.« »Aber dieser Knilch kann uns verbieten, die Vorstellung zu eröffnen, wenn er unbedingt will. Natürlich ist er erst aufgekreuzt, nachdem ich die Platzgebühr bezahlt hatte und das Zelt steht. Folglich würden wir Zeit, Aufwand und Geld verlieren, wenn wir jetzt alles wieder einpacken müßten. Aber so gehen solche Subalternbeamten nun mal vor. Und jetzt sag irgendwas anderes, damit ich es für ihn übersetzen kann, Dai.« »Was soll ich sagen, Direktor? Von mir aus kannst du ihm sagen, er soll verschwinden, bevor ich mich an ihm vergreife -737-
und ihn mit einem Vorschlaghammer in den Boden stampfe.« »Vielen Dank, Dai.« Florian wandte sich wieder dem Beamten zu, ließ eine lange Rede auf deutsch vom Stapel und unterstrich das Gesagte mit ausladenden Handbewegungen. Der Inspektor rieb sich das Kinn und machte ein argwöhnisches Gesicht. »Was hast du ihm denn gesagt?« wollte Goesle wissen. »Daß der Wagen mit den Löscheimern noch nicht da, sondern unterwegs ist. Daß aber die Eimer hier sein werden – und zwar gefüllt –, ehe wir morgen eröffnen.« »Er scheint dir aber nicht zu glauben.« »Doch, das wird er.« Florian zog einen Stapel Eintrittskarten aus der Tasche, unter die er eine Anzahl Geldscheine gesteckt hatte. Dieses Paket reichte er dem Inspektor mit einer Suada honigsüßer deutscher Komplimente. Der Beamte nahm Freikarten wie Geld, doch betrachtete er beides mit jetzt womöglich noch größerem Argwohn. »Jetzt mußt du dich darauf gefaßt machen«, sagte Goesle, »eine Anklage wegen Bestechung an den Hals zu kriegen.« Just in diesem Augenblick trat Autumn in ihrem Straßenkostüm in das Chapiteau. »Dai, eine von den Spannschrauben an meinem Gerüst scheint sich gelockert zu haben, seit ich das letztemal ... O Entschuldigung. Ich habe nicht gesehen, daß du beschäftigt bist.« Der Inspektor faßte sie ins Auge, zwinkerte und sah sie sich genauer an. Dann riß er den Hut vom Kopf, verneigte sich tief und zog sich rückwärtsgehend aus dem Zelt zurück, wobei er vor Florian und Goesle abwechselnd katzbuckelte und ebenso rasch wie untertänig sagte: »Gut gemacht! Alles ist in bester Ordnung! Verzeihen Sie, meine Herren! Küß die Hand, gnä’ Frau ...« und war verschwunden. »Wieso denn das so plötzlich?« fragte Goesle erschrocken. -738-
Florian sagte: »Wir haben ihn endgültig überzeugt, daß er morgen die Löscheimer hier stehen sehen wird.« »Aber das wird er nicht, Direktor.« »Doch wird er das, und wenn er dazu beide Augen zumachen muß. Allerdings muß ich einräumen, daß das Erscheinen einer bezaubernden Dame genau im richtigen Moment sehr geholfen hat, ihn zu überzeugen. Miß Auburn, er muß dich für seine Kaiserin in Verkleidung gehalten haben. Erinnere mich daran, daß du immer in meiner Nähe bist, wenn ich mit Behörden zu tun habe.« Bis zum Beginn der ersten Vorstellung am nächsten Tag hatte Zanni sich wie üblich über die Lokalpolitik und die gesellschaftlichen Verhältnisse in Landeck informiert. Als dann Florian und er in der Nachmittagsvorstellung ihren witzigen Wortwechsel hatten, gingen die meisten Seitenhiebe auf Kosten irgendwelcher Lokalgrößen. Er erntete zwerchfellerschütterndes Gelächter, als er sich über die »Sechsundsechzig Starken« lustig machte, die Sechsundsechzig in Landeck ansässigen Kaufleute, die allesamt im Förderverein der Stadt saßen. Doch dabei ließ Zanni es nicht bewenden; er führte auch noch ein neues Element ein: einen Clownsassistenten in der Person des kleinen Quincy-Ali Baba Simms. Dabei erntete Ali Baba den ersten Lacher seines Lebens, und das einfach dadurch, wie er in die Manege hereinkam, denn das Schminken hatte Zanni persönlich übernommen und ihn hergerichtet wie die Karikatur eines Negers. Das Gesicht hatte er dem kleinen Ali Baba bis auf den Mund, der aussah wie eine Scheibe Wassermelone, mit Hilfe von verbranntem Kork noch tiefer geschwärzt, als es ohnehin schon war; er trug einen korrekten Anzug und weiße Handschuhe dazu. Was dabei herauskam, war ein Negerjunge, der durch groteske Übertreibung versuchte, einen weißen Jungen nachzumachen, der seinerseits versuchte, durch groteske Übertreibung einen Neger nachzumachen, und darüber konnten sich die Zuschauer ausschütten vor Lachen. -739-
Während des witzigen verbalen Schlagabtauschs hatte Ali Baba nicht viel zu tun. Erst als Florian so tat, als packe ihn die Wut über Zannis Antworten und Beleidigungen und versuchte, dem Clown hinterherzulaufen, schaffte Ali Baba es irgendwie, sich an Florians Frackschöße zu hängen oder sich so zu bücken, um sein Schuhband zuzubinden, daß Florian ständig über ihn stolperte. Ali Babas eigentliches Debüt als Clown kam erst gegen Ende der Nummer, als Florian schließlich wütend auf ihn wurde und ihn durch die Manege scheuchte. Daraufhin brachte Zanni von irgendwoher einen Zylinderhut zum Vorschein und setzte ihn auf, allerdings verkehrt herum, mit der Krempe nach oben. Der vor Florian fliehende Ali Baba machte einen hohen Satz, so daß er über Zanni hinwegwirbelte, über ihm in der Luft einen Salto vollführte, so daß Zanni und er für einen Augenblick Kopf an Kopf standen – um dann hinter ihm auf dem Boden zu landen, den Zylinderhut richtig auf dem Kopf. Da er und Zanni diesen Trick unter strikter Geheimhaltung geübt und vervollkommnet hatten, brachen sogar diejenigen Circusangehörigen gemeinsam mit den Zuschauern in Applaus aus, die gerade zusahen. Dabei übertraf sich das Publikum und klatschte so stürmisch, wie Ali Baba und die anderen Amerikaner es bisher noch nie erlebt hatten. Die Leute klatschten wie sonst, verstärkten jedoch den Applaus noch, indem sie laut mit den Füßen auf die Bohlen stampften und nach einer Weile anfingen, gemeinsam im Takt so zu trampeln, daß der Lärm etwas von einem anschwellenden Donnergrollen hatte. Auch nahm der Applaus nicht ab, ehe Florian, Zanni und Ali Baba – insbesondere aber Ali Baba, dem sein Grinsen das Gesicht fast in zwei Hälften auseinanderriß mehrere Male zurückgekehrt waren, um sich zu verbeugen. Dieses gleichzeitige Händeklatschen und Füßestampfen boten die Landecker nun nach jeder Nummer, am lautesten jedoch für eine ganz bestimmte. Die Circusangehörigen konnten den Grund nicht ahnen, doch jede Vorführung in Landeck füllte das Haus -740-
mit offensichtlich fanatischen Hundeliebhabern. Die Terrier der Smodlakas ernteten einen so ohrenbetäubenden Applaus und Da capo-Rufe, daß Pavlo, Gavrila und die Kinder manches wiederholen mußten und dafür auch viele Male zur Verbeugung hinter dem Vorhang des Auftritts hervorgerufen wurden. Als die Terrier bei der Spätvorstellung ihre Kapriolen in Goesles Spotlight vollführten, erhielt diese Nummer wieder brausenden Beifall, und die Smodlakas vergalten den Landeckern dies mit noch mehr da capos. Als bei jeder nachfolgenden Vorstellung das gleiche geschah, wurden Gavrila die endlos wiederholten Verbeugungen geradezu peinlich, doch bedachte Pavlo sie jedesmal mit einem vernichtenden Blick, der sie, die Hunde und die Kinder weitermachen ließ, bis die blassen Velja und Sava ins Schwitzen gerieten und bleich aussahen wie ein Leichentuch. Bei der allerletzten Vorstellung in Landeck spielten die Smodlakas weiter und immer weiter, bis sogar die Hunde vor Erschöpfung hechelten, Colonel Ramrod seine Trillerpfeife ertönen ließ und mit der Peitsche knallte, ehe Pavlo zuließ, daß seine Familie und seine Tiere sich zurückzogen; er selbst blieb und sonnte sich im Applaus, verneigte sich und strahlte, bis der Sprechstallmeister ihn nahezu mit Gewalt fortschleppte. »Himmelherrgott noch mal!« fuhr Edge ihn an. »Ich muß noch fünf andere Nummern abziehen, ehe wir zum Schlußakt kommen. Und dann muß abgebaut werden; du hast die Manege jetzt fast für eine halbe Stunde für dich gehabt.« »Dann kürze die prljav anderen Nummern doch!« erklärte Pavlo fauchend. »Aber nicht meine, die die guten Leute offensichtlich am liebsten mögen!« Edge hatte einen Einfall, den er für sehr gescheit hielt. »Bist du jemals auf die Idee gekommen«, sagte er, »daß das ganze Hurrageschrei von einem Hundedompteur angeführt worden sein kann, der dir Konkurrenz machen will? Und der sich alles eingehend ansehen wollte, um dir alle deine Zeichen und Tricks -741-
für seine eigene Nummer zu stehlen?« Pavlo fuhr auf, schnappte nach Luft. »Svetog Vlaha!« fluchte er und wurde fast so weiß im Gesicht wie seine Kinder. Er bückte sich, hob Terry, Terrier und Terriest auf, als wären sie unmittelbar in Gefahr, entführt zu werden, und suchte eilends mit ihnen seinen Wohnwagen auf. Es kam noch zu einem weiteren unvorhergesehenen Zwischenfall an diesem Abend, der allerdings nichts weiter zur Folge hatte, als daß Edge das Herz ein paarmal aussetzte. Autumn näherte sich dem Schluß ihrer Nummer und schob sich langsam aus dem Spagat auf dem Seil wieder in die Höhe. Aller Augen waren auf die gelbgewandete Erscheinung hoch oben gerichtet – und Goesles Scheinwerfer desgleichen. Im Chapiteau herrschte Totenstille – nur das gleichmäßige Zischen der Gasbeleuchtung war zu hören. Dann fiel Autumn ohne jeden erkennbaren Grund der kleine gelbe Sonnenschirm aus der Hand und fiel taumelnd aus dem Lichtkreis des Scheinwerfers heraus, verschwand gewissermaßen im Nichts, doch das interessierte Edge nicht. Gebannt hielt er den Blick auf Autumn gerichtet; er war sich sicher, daß ihm für den Bruchteil einer Sekunde Atem wie Pulsschlag aussetzte, als sie durch den Verlust ihres Requisits aus dem Gleichgewicht geraten war. Autumn wankte unmerklich – im Publikum merkte es vermutlich kein Mensch –, dann schoben sich ihre Füße weiter aus dem Spagat zusammen, bis sie wieder auf dem Seil stand und dieses bis zur Plattform entlangrutschte, um sich dort zu verneigen und den Applaus entgegenzunehmen. »Er ist mir einfach aus der Hand gerutscht, Zachary«, sagte sie, als sie wieder unten war. »Vielleicht habe ich mich immer noch nicht an das Scheinwerferlicht gewöhnt. Es macht mir ein bißchen Kopfschmerzen ...« Edge sagte nur, er sei froh, daß es nichts Ernstes gewesen wäre. Diszipliniert enthielt er sich jeden kritischen oder warnenden Kommentars. Gleichwohl merkte er, daß Autumns -742-
Selbstvertrauen nicht mehr unerschütterlich war. Ihre Blütenblattaugen hatten plötzlich einen ganz anderen Ausdruck. Nicht Angst oder Sorgen oder irgendwelche Befürchtungen spiegelten sich darin, sondern eher so etwas wie Fassungslosigkeit. Autumn Auburn hatte einen Fehler gemacht, den sie noch nie zuvor gemacht hatte, und jetzt fragte sie sich, warum. Doch als die Vorstellung zu Ende ging, die Kapelle ›Gott erhalte Franz den Kaiser‹ spielte und die Truppe ihren Schlußumzug machte, strahlte sie schon wieder. Neben Edge einhergehend, der seine Freiheitspferde anführte, sagte sie zu ihm: »Hör dir diese Schnulze an. Bei uns zulande ...« »Bei uns zulande?« »Ach, Unsinn ... Ich wollt’ nur sagen, daheim, in Stepney, haben wir das auch gesungen. Allerdings mit anderem Text: ›She Was Poor But She Was Honest ...‹«, und beide lachten sie wieder. Am nächsten Tag zog der Circus gemächlich weiter das Inntal hinab. Es gab weder Dörfer noch Städte, die groß genug gewesen wären, daß sich ein Zeltaufbau gelohnt hätte; die nächste Station sollte Innsbruck sein, doch hatte Florian es nicht eilig, dorthin zu kommen. Er erklärte: »Lassen wir uns doch Zeit! Innsbruck ist so groß, daß wir dort ziemlich lange bleiben können. Und dann lassen wir uns wieder Zeit, dorthin zu kommen, wo wir hinwollen. Wenn es Winter wird, möchte ich allerdings in der Donauebene sein; dort sind die Winter milder, und wir wollen dort bis zum Frühjahr bleiben.« Die Circusleute hatten nichts dagegen, im Schneckentempo weiterzuziehen, zumal das sich immer mehr öffnende Tal wunderschön anzusehen war. Jeder Dorfplatz und jeder Bauerngarten prangte in der Glut der Blumenblüte, und die Felder dazwischen waren voll von Mohn und Kornblumen. -743-
»›Blumenmeer‹ nennen die Österreicher das«, sagte Beck. »Besonders im Frühjahr trifft das zu, wenn alle Obstbäume in Blüte stehen: Kirschen, Pfirsiche, Aprikosen, Mandeln. Jetzt blühen nur die Pappeln.« Diese schlanken Bäume säumten die meisten Landstraßen und ließen in dieser Jahreszeit eine Fülle von Wattebäuschen herniedersegeln, die die Straße wie mit einem Teppich bedeckten und von den Hufschlägen der Pferde kaum etwas zu hören war. Die Wagen hinterließen eine hohe, lange in der Luft sich haltende weiße Spur wie Rauch und aus der Ferne hätte man den Circustroß durchaus für einen von einer Dampflokomotive gezogenen Eisenbahnzug halten können. Als der Circus endlich Innsbruck erreichte, mußten sie feststellen, daß die Leute keinen rechten Patriotismus mehr aufbrachten und so gut wie aufgehört hatten, noch an Wunder zu glauben. »Die Kriegsnachrichten sind nur langsam das Tal heraufgekommen«, sagte Florian, als er an den am Fluß sich langziehenden Außenbezirken der Stadt mit dem Circuszug zusammentraf. »Die Österreicher haben in Böhmen eine schmähliche Niederlage einstecken müssen – an einem Ort namens Königgrätz. Sie mußten sich fast bis Wien zurückziehen, und Franz Joseph bittet Preußen um einen Waffenstillstand. Österreich hat den Krieg verloren.« »Und was bedeutet das für uns?« fragte Edge. »Im Moment vermutlich nicht gerade ausverkaufte Häuser und kein sonderlich freudig gestimmtes Publikum. Zwar habe ich uns einen guten Circusplatz beschafft – den Hofgarten –, aber ich glaube, in dieser schweren Zeit wäre es taktlos, Plakate mit dem ›Vergeßt eure Sorgen‹-Slogan anzukleben.« Er führte die Karawane über den Innrain durch das Gelände der Universität, umrundete die von der Stadtmauer umfaßte Altstadt, über der das Goldene Dachl der Fürstenburg schimmerte, und hinein in den hinter dem Hoftheater liegenden -744-
Park. Während die Böhmen die Wagen entluden und alles für den Aufbau vorbereiteten, knüpfte Florian an die Unterhaltung mit Edge wieder an: »Was unsere unmittelbare Zukunft betrifft, wird die Niederlage Österreichs vermutlich eine Wirtschaftsflaute zur Folge haben, was sich auch auf uns auswirken dürfte. Soweit ich höre, hat Franz Joseph sich bereiterklärt, Venetien abzutreten, ein großer Verlust, der sich auch finanziell bemerkbar machen wird. Außerdem wird der preußische Kanzler, Bismarck, noch weitere Zugeständnisse fordern.« Edge meinte: »Dann bedeutet Österreich also schlechte Geschäfte für uns.« »Zumindest vorläufig. Aber nicht lange. Die Österreicher besitzen die Fähigkeit, sich rasch von Rückschlägen zu erholen oder sie einfach wegzustecken. Aber ich denke schon voraus, und was ich auf uns zukommen sehe, sind große politische Umwälzungen.« »Die sich auch auf uns auswirken können?« »Nicht nur auf uns, sondern auf ganz Europa. Bismarck hat sich lange Zeit bemüht, die unabhängigen deutschen Kleinstaaten zu einigen und zu einem einheitlichen und unbesieglichen Deutschen Reich zusammenzuschmieden. Bis jetzt haben zwei Großmächte – Frankreich und Österreich – ein annehmbares Gleichgewicht zwischen sich halten können. Und Louis Napoleon und Franz Joseph ist es bis jetzt gelungen, das Schicksal des übrigen Europas zu bestimmen. Jetzt hat Österreich viel an Macht und Einfluß verloren. Louis Napoleon wird nicht vor Kummer weinen. Aber er wird auch nicht gerade lächeln, daß das deutsche Volk zur Einheit findet und an Macht gewinnt. Früher oder später muß Frankreich handeln und wird versuchen, Bismarcks Ehrgeiz zu stutzen.« »Aber das bedeutet doch abermals Krieg«, sagte Edge. »Wo, meinst du, wird sich der abspielen?« -745-
»Wenn ich das nur klar voraussehen könnte, Zachary! Dann würden wir einen großen Bogen um das Gebiet machen.« »Per piacere ... governatore ... direttore ...« sagte Zanni Bonvecino höflich und trat auf sie zu. »Ich hörte euch über Pläne sprechen. Hoffentlich bleiben wir flexibel genug, um einige neue Artisten bei uns aufzunehmen.« »Leider, Signore«, sagte Florian, »haben wir über Pläne gesprochen, die schiefgelaufen sind.« »Ohime. Dann verzeihen Sie meine Zudringlichkeit. Dürfte ich trotzdem ein paar alte Freunde von mir vorstellen? Sie sahen uns in die Stadt einziehen.« »Aber selbstverständlich, nur zu. Es ist mir immer ein Vergnügen, Kollegen zu begrüßen, selbst wenn ich nicht ... nun ...« »Das hier sind Kyrios und Kyria Vasilakis, mit anderen Worten also Signor und Signora Vasilakis.« Ein schönes, brünettes Paar, etwa um die dreißig herum. »Spyros und Meli ... ursprünglich aus Griechenland.« »Kalispera«, sagte Florian. Die beiden bleckten die Zähne zu einem strahlenden Elfenbeinlächeln und redeten gleichzeitig drauflos. »Nein, nein, bitte!« sagte Florian lachend mit einer abwehrenden Handbewegung. »Kalispera ist eines von den vielleicht acht griechischen Wörtern, die ich kenne, und die anderen sieben sind unanständig.« »Parakalö«, sagte der männliche Vasilakis achselzuckend. »Wir sprechen etwas anglikä. Auch andere Sprachen. Franks. Talian.« »Und dies hier ist ein echter Österreicher, Herr Jörg Pfeifer. Wir haben alle irgendwann einmal beim CIRCUS CORTYALTHOFF zusammengearbeitet. Meine Freunde, darf ich euch den Direktor des FLORILEGIUM, Florian, und seinen Sprechstallmeister Edge, vorstellen?« Sie schüttelten sich die Hand, und Zanni fuhr fort: »Jörg und Spyros und Meli sollten -746-
während der jährlichen Handels- und Handwerksmesse hier in Innsbruck auftreten. Die Messe hat aber gerade ihre Pforten geschlossen, früher als geplant und völlig unvermutet – wegen der schlechten Nachrichten von der Front. Sie sind also frei.« »Ah ... ja ...«, sagte Florian voller Unbehagen. »Und bitte, erzählen Sie, was machen Sie so?« »Ich bin ein Weißclown!« sagte Pfeifer stolz. Er war untersetzt, vierschrötig fast, grauhaarig und um die sechzig. »In der Manege heiße ich Fünffünf.«. »Er und ich«, sagte Zanni, »haben zusammen das Spiegelentree gemacht.« »Ist das die Möglichkeit?« rief Florian, und sein Gesicht hellte sich merklich auf. »Und ich«, sagte Spyros, »ich essen Feuer, schlucken Schwerter. Gattin Meli Schlangenbeschwörerin.« Zanni half mit weiteren Informationen aus. »Sie haben ihre eigenen Requisiten und Schlangen und besitzen einen Wohnwagen. Auch Jörg hat einen Wagen, und dazu in seiner Garderobe alles, was der traditionelle Weißclown braucht.« »Hm ...«, machte Florian. »Wie Sie alle vermutlich einsehen, verheißen die Kriegsnachrichten auch für uns nichts Gutes. Zwar erwarte ich nicht unbedingt, daß wir dichtmachen müssen wie die Handels- und Handwerksmesse, doch ...« »Ich persönlich«, fiel ihm Pfeifer ins Wort, »würde jedes einigermaßen annehmbare Angebot ernst nehmen, egal, um wieviel niedriger die Gage unter den üblichen fünfhundert Francs pro Woche liegt, die ich sonst bekomme.« Florian rechnete und murmelte, so daß Edge ihn verstehen konnte: »Hundert amerikanische Dollar. Ich bin sicher, Sie sind jeden einzelnen Centime wert, mein Herr. Deshalb möchte ich Ihnen gar nicht erst das entwürdigende Angebot unterbreiten, das ich Ihnen vielleicht machen könnte.« -747-
»Sagen Sie es nur! Ich bin Komödiant. Schlimmeres als Lachen kann ich nicht.« »Einhundertfünfzig Francs, Herr Fünffünf.« »Angenommen.« Er wandte sich Zanni zu. »Gleich in der ersten Vorstellung werden wir versuchen, das Spiegelentree zu machen. Mal sehen, ob wir schon völlig eingerostet sind.« »Moment«, beschied Zanni ihn, um sich dann an Florian zu wenden: »Und was ist mit Spyros und Meli, Direttore?« »Wir können sie ja wohl kaum einfach dem Schicksal überlassen, an den Straßenecken Innsbrucks auftreten zu müssen, nicht wahr? Allerdings muß ich, was ihre Gage betrifft, zunächst mit dem Direktor der Sideshow sprechen. Würdest du sie mitnehmen, Signor Bonvecino, und sie Sir John vorstellen?« Als die vier gegangen waren, sagte Edge: »Kaum sehen wir mal schlechten Zeiten entgegen, mußt du gleich den großen Wohltäter spielen. Mußt du einem Clown denn unbedingt genausoviel bezahlen wie Maurice LeVie?« »Das ist kein einfacher Clown, sondern ein Weißclown, und der stellt das älteste traditionelle Element in einem europäischen Circus überhaupt dar. Aber es wäre doch herzlos gewesen, ihn einzustellen und den beiden anderen die Tür zu weisen. Im übrigen habe ich Fünffünf so billig bekommen, daß wir uns die Griechen auch noch für die Sideshow leisten können.« »Was für ein seltsamer Name, Fünffünf. Was bedeutet das?« »Das ist nichts weiter als ein Nonsenswort. In der Manege wird er wirken so hoch wie breit – nämlich fünf Fuß. Du wirst sehen, was ich ... Gott bewahr uns! Da kommt wieder so ein Stadtinspektor, um überall herumzuschnüffeln, irgendwo einen Fehler zu entdecken und zu verlangen, daß man ihn schmiert. Geh und hol rasch Autumn her, Zachary.« »Das geht nicht. Sie fühlt sich nicht gut. So was würde sie selbstverständlich nie zugeben, aber ich habe gesehen, daß sie -748-
längst nicht so munter ist wie sonst. Ich hab’ ihr gesagt, sie soll das Bett hüten, bis Maggie Hag sich um sie kümmern kann.« »Das tut mir leid zu hören. Und dann muß ich mich jetzt auch noch ganz allein mit diesem Amtsesel herumschlagen. Ich hoffe, das Leiden deiner Herzensdame ist nur vorübergehender Natur.« Florian ging dem Inspektor entgegen und schlenderte mit ihm einher, während dieser sich genau ansah, wie das Zelt aufgerichtet wurde. Außerdem interessierte er sich für tausend andere Dinge und kritzelte ab und zu etwas in sein Notizbuch. Florian blieb bemüht, auf deutsch liebenswürdig mit ihm zu plaudern, doch erhielt er von dem Inspektor nur ein Grunzen zur Antwort – bis Florian ein rettender Gedanke kam und er sagte, daß »dieser Zirkus völlig im Lot« sei. Woraufhin der Inspektor ihn blitzenden Auges ansah und fragte, ob er auch »in der Waage« sei. »Nach dem Richtscheit genau«, erwiderte Florian. »Dann ist der Baumeister geschlagen«, sagte der Inspektor und klappte sein Notizbüchlein zu. Nachdem die beiden gewisse Geheimzeichen getauscht hatten, stellte er noch eine Frage: »Und wenn keine Steine für den Baumeister vorhanden sind?« »Dann laben Sie ihn«, sagte Florian, »mit Geld, das ihn zur nächsten Loge bringt.« Noch etwas anderes wechselte den Besitzer, und der Inspektor empfahl sich. Edge saß auf den heruntergeklappten Treppenstufen des Wohnwagens, als Magpie Maggie Hag aus der Tür trat. Er stand auf, um sie die Treppe hinuntersteigen zu lassen, und sagte: »Nun?« Sie winkte ihm, sich ein kleines Stück vom Wagen mit ihr zu entfernen. »Hat schlimmes Kopfweh, sagt deine romeri. Manchmal auch eine gewisse Schwäche in den Händen. Das kommt und geht, mal die eine Hand, mal die andere. Ist aber gar keine Schwäche, ist Taubheit. Da kenn’ ich mich aus. Als sie nicht hinsah, hab’ ich sie mit Nadel gepikst – hat nichts -749-
gemerkt.« »Und woher kommt sowas, Mag?« »Kann viele Ursachen haben. Manche unwichtig, manche wichtig, sehr wichtig. Aber sag mir. Du hast keine Veränderung an ihr gemerkt?« »Nun ja ... doch. Sie hat nicht den rechten Schwung, ist niedergeschlagen – und zwar seit dem Abend, als sie während der Vorstellung in Landeck den Sonnenschirm hat fallen lassen.« »Nichts anderes als das? Nicht schon früher?« »Was meinst du? Ist dir etwa was aufgefallen? Wann denn?« »Ist schon lange her. In Palazzo in Italien. Als sie hörte, wie Uhr stehenblieb.« »Ach, mach keine Witze, Mag. Gewiß, das war merkwürdig, aber fang jetzt nicht damit an, mir irgendwas weismachen zu wollen wie einem ahnungslosen Gaffer. Wenn Autumn kränkelt, möchte ich wissen, was das für eine Krankheit ist, und mir nicht irgendwelches Zigeunergeschwätz anhören.« »Aber die Uhr, die sie hörte, ist tatsächlich stehengeblieben. Im Kopf der Menschen geschehen seltsame Dinge. Und wenn Kopf anfängt, seltsame Dinge zu tun, sollte man sich fragen, warum.« »Verdammt noch mal, Mag! Willst du mir damit sagen, sie ist nicht ganz richtig im Kopf?« »Ist dir im Gesicht keine Veränderung aufgefallen ... wie sie aussieht?« »Nun ... schon. Ihre Augen glänzen nicht mehr so. Aber ist das denn nicht natürlich, wo sie sich so schwach fühlt?« »Wenn du ihr nächstesmal in die Augen schaust, sieh genau hin. Fürs erste aber laß sie ruhen. Sie soll morgen nicht arbeiten. Hab’ ihr Hände mit scharfer Pfeffersalbe eingerieben. Jetzt setze ich Trank an, der Kraft gibt. Werden sehen.« -750-
Eine Weile stand Edge ganz in sich zusammengesunken da und überlegte; dann straffte er die Schultern und betrat den Wohnwagen. Autumn lag auf dem Bett, hatte sich ein Kissen in den Rücken gestopft und hielt Papier und Bleistift in der Hand; gleichzeitig lauschte sie der hellen Melodie von ›Greensleeves‹, aus der kleinen Spieldose, die Edge ihr in Perugia geschenkt hatte. »Statt hier einfach rumzuliegen«, sagte sie, »dachte ich, ich sollte anfangen, mir einen französischen Text für den Einmarsch einfallen zu lassen – für die Zeit, wenn wir nach Paris kommen. Jemand anders sollte einen ungarischen und einen russischen Text verfassen, denn wenn wir ...« »Um den Circus mach dir keine Sorgen«, sagte Edge. »Konzentriere dich darauf, selbst wieder auf die Beine zu kommen, mein Mädchen.« Er zog einen der beiden Stühle heran und ließ sich neben ihr nieder. »Ach, Zachary, du weißt doch, daß wir Frauen von Zeit zu Zeit einen Rappel kriegen und vor uns hinleiden. Wenn wir da jedesmal aufhören würden zu arbeiten und die Hände in den Schoß legten ...« »Ich lasse nicht zu, daß dir hundert Meter über der Erde damenhaft die Sinne schwinden! Morgen kletterst du jedenfalls nicht hoch. Nicht, bis nicht Mag dir ein paar Löffel von ihrem Zaubertrank eingeflößt hat und du wieder zu Kräften gekommen bist.« »Aber ich habe die Schlußnummer! Florian wird sich die Haare raufen.« »Nein, das wird er nicht. Monday und Sunday können den Aufstieg auf dem Schrägseil machen; damit sind die Gaffer zufriedengestellt – sie glauben dann, einen Hochseilakt gesehen zu haben. Außerdem hat Florian gerade einen neuen Clown eingestellt, den er für was ganz Besonderes hält. Wir werden also ein volles Programm haben, und das Publikum wird sich -751-
nicht betrogen fühlen.« »Du meinst, ich werde überhaupt nicht vermißt«, sagte sie in gespieltem Entsetzen. »Das sind ja noch schlimmere Aussichten als ein Absturz.« »Doch, dich wird jemand vermissen – ich. Alle anderen können uns gestohlen bleiben – Hauptsache, es gibt dich und mich. Ich möchte, daß es dir wieder gut geht. Wenn’s sein muß, binde ich dich hier am Bett fest.« Sie erhob weitere Einwände, doch Edge hörte gar nicht hin. Er sah sich Autumn, wie Magpie Maggie Hag ihm geraten hatte, sehr genau an. Sie hatte in der Tat etwas Befremdliches – irgend etwas in ihrem Gesicht –, doch bemerkte man es nur, wenn man richtig danach suchte. Es sah aus, als ob ... doch das war unmöglich, sagte er sich. Zu so etwas war ein Gesicht nicht imstande. Noch das schönste Antlitz konnte erkranken, erschlaffen, alt und faltig werden und sogar verrunen, doch die Veränderung, die er jetzt wahrzunehmen schien ... nein, das konnte nicht sein, das war für ein Gesicht ein Ding der Unmöglichkeit. Himmelherrgott, dachte er, diese alte Zigeunerin hat meine Augen verhext. »Bleib einfach liegen«, sagte er, »und genieße die Ruhe. Ich komme bald wieder, und sobald ich eine Gelegenheit habe, in die Stadt zu gehen, bringe ich dir ein paar Bücher mit. Wenn Maggie mit ihrem Hexentrunk kommt, sei brav und würg ihn runter, verstanden?« Wieder draußen, suchte er Florian auf, der sich mit einigen Männern und Frauen unterschiedlichsten Alters unterhielt, die Männer in staubgrünen Lederhosen, die Frauen zumeist in bunten Dirndln. Die Besprechung endete damit, daß etliche von ihnen Florian Geld aushändigten; dann zogen sie sich zurück. Florian winkte Edge herbei und sagte fröhlich: »Sir John wird überglücklich sein. Nicht nur bekommt er zwei neue Attraktionen für seine Sideshow – den Schwertschlucker -752-
und die Schlangenbeschwörerin –, sondern zum erstenmal auch einen vollen, florierenden Zugangsweg. Die Leute, die du eben gesehen hast, haben um das gebeten, was wir ›Vorrechte einräumen, die wir gar nicht haben‹ nennen, mit anderen Worten die Erlaubnis, vorm Zelteingang ihre Buden aufzubauen und so einen richtigen Zugangsweg zu bilden. Manche wollen hinterher sogar mit uns ziehen. Alle möglichen Stände und Bauchläden.« »Stände und Bauchläden?« »Verkaufsstände und Bauchläden für Andenken, Erfrischungsgetränke, Naschwerk, Brezeln und Gebäck. Wie die Stände, die du auf der Kirmes in Italien gesehen hast. All diese Leute haben hier auf der Handels- und Handwerksmesse in Innsbruck Eß- und Trinkbares verkauft, kleine Handarbeiten, irgendwelches süßes Gesöff, alles mögliche – und als die Messe dichtmachte, standen sie plötzlich ohne Arbeit da. Jetzt würden sie nichts lieber tun, als sich uns anzuschließen. Für uns ist da natürlich nicht viel drin, rein finanziell gesehen, meine ich; denn ich habe nur einen kleinen nominellen Betrag von ihnen für ein Vorrecht verlangt, das ich eigentlich gar nicht zu vergeben habe. Und ich hab’ auch keinen Anteil von ihren Einnahmen verlangt. Dafür verbreiten sie zusätzlich Farbe, Leben und Stimmung vor unserem Haupteingang.« »Wenn du das sagst, Direktor.« »Nun du hast ja wohl gesehen, daß viele von diesen Marketenderinnen jung und knusprig sind. Ganz besonders haben mir ihre Dirndlkleider gefallen – die ihren Busen so besonders schön zur Geltung bringen.« Er lächelte anerkennend. »Früher haben nur die kleinen Mädchen diese Dirndl getragen, bis ihre älteren Schwestern entdeckten, wie schmuck Rock und Bluse mit der Schürze davor aussehen: jungfräulich und verführerisch zugleich. Für meine Begriffe gibt es keine schmeichelhaftere Kleidung für eine schöne Frau.« »Nana, Direktor, du wirst ja ganz überschwenglich. Und der -753-
Herr Inspektor, der war offensichtlich nicht allzu unhöflich, oder?« »Ach, den habe ich mir ziemlich mühelos vom Hals geschafft. Wie sich herausstellte, hatten wir gewisse Gemeinsamkeiten. Außerdem gibt es in Österreich eine eingefleischte Sitte, die man ›Freunderlwirtschaft‹ nennt. So etwas wie eine Hand wäscht die andere. Aber du, Zachary klingst nicht gerade überschwenglich. Was ist los?« »Ich muß dir leider sagen, daß wir das Hauptprogramm ändern müssen. Autumn kann morgen nicht arbeiten. Vielleicht eine ganze Zeitlang nicht.« »Tut mir leid, das zu hören, lieber Freund. Ihr beide habt mein ganzes Mitgefühl; ich kann nur hoffen, daß es ihr bald wieder besser geht.« »Vielen Dank. Und was ist mit dem Programm?« Florian brauchte nicht lange zu überlegen. »Statt Autumn im Anschluß an die Simms-Mädchen den Schlußakt zu überlassen, sollen Zanni und Fünffünf das Spiegelentree machen. Das ist von jeher ein Publikumserfolg gewesen.« »Und ich dachte, du würdest jetzt den Trapezakt an den Schluß nehmen.« »Nein. Herr Pfeifer hat edelmütig auf einen Großteil seiner üblichen Gage verzichtet. Vielleicht entschädigt es ihn ein wenig, wenn er jetzt den krönenden Schlußakt übernehmen darf. Sollen Zanni und er die Show mit ihrem umwerfenden Scheinkampf abschließen.« »Aber wenn Maurice und Paprika das erfahren, wird es nicht bei einem Scheinkampf bleiben. Du hast gesagt, du sähest so etwas wie einen Krieg voraus. Ich vermute, der ist näher, als du denkst.« »Dann gibt es nur eins: ihn so schnell wie möglich hinter uns zu bringen. Wahrscheinlich sind alle Hauptdarsteller im -754-
Moment im Zelt, oder?« Florian und Edge gingen hinein und sahen, wie Beck und seine Bohlen die Aufhängung der Geräte oben im Zelt auf ihre Sicherheit hin überprüften. Maurice und Paprika ließen die Männer, die ihr Trapez dicht unter der Zirkuskuppel festzurrten, keinen Moment aus den Augen, und Sunday und Monday Simms verfolgten genauso aufmerksam, wie andere Arbeiter die Spannvorrichtung ihres Schrägseils zwischen der Aufhängung ganz oben und dem Boden betätigten. In der Mitte der Manege mit dem Sägemehl zeigten Zanni und Fünffünf ungeachtet all des geschäftigen Treibens um sie herum dem kleinen Quincy Simms einen schön geschnitzten Holzrahmen, so groß, daß er das lebensgroße Bildnis eines ausgewachsenen Mannes hätte enthalten können; der Rahmen war zwar rechteckig, aber leer. Florian mußte schreien, um sich bei all dem Lärm unter den Clowns, Luftakrobaten und Hochseilartisten Gehör zu verschaffen. Sie ließen alles stehen und liegen, und kamen zu ihm. Edge hätte das, was es anzukündigen galt, vermutlich mit allerlei Drumherum verbrämt, doch Florian nahm kein Blatt vor den Mund und erklärte: »Die Dame, die den Schlußakt unserer Schau macht, Miß Auburn, ist krank und wird morgen nicht arbeiten. Sunday und Monday, ihr kommt wie immer an vorletzter Stelle. Und wenn Sie, Herr Fünffünf, und Signor Zanni glauben, daß Sie das Spiegelentree noch können, kommen Sie im Anschluß an die Simms-Mädchen und schließen die Show ab.« Wie aus einem Mund sagten die beiden Clowns: »Ja« und »Si«. Maurice erhob nur gelinden Einspruch: »Aber die Show sollte doch mit einer Spannungsnummer schließen, monsieur le gouverneur. Und das wären doch wohl meine Partnerin und ich am Trapez.« Florian sagte: »Im allgemeinen habe ich gute Gründe für -755-
meine Entscheidungen, Monsieur. Ich bitte dich, das auch diesmal zu respektieren.« Maurice zuckte in gallischer Resignation mit den Schultern, doch Paprika ließ ihrem ungarischen Temperament freien Lauf: »Ich aber nicht, kedvesem!« begehrte sie auf. »Nachdem wir nun jahrelang zusammen Sägemehl aufgewirbelt haben, versagst du mir den Schlußakt und überläßt ihn diesem ... diesem unbeschriebenen Blatt! Oijaij!« Sie betrachtete den neuen Kollegen von oben bis unten und ließ den Blick von seinem schütteren Haar über die schäbige Kleidung bis zu den ausgetretenen Schuhen hinunterwandern. »Erwartest du wirklich von mir, daß ich mich mit dem zweiten Platz zufriedengebe – hinter diesem abgetakelten alten Wrack?« Ehe irgend jemand etwas sagen konnte, war Pfeifer niedergekniet, hatte seine schweren Schuhe ausgezogen und war dann – ohne sich irgendeines anderen beengenden Kleidungsstücks zu entledigen oder auch nur den Schlips zu lockern – mit bestrumpften Füßen auf das straff gespannte Schrägseil der Simms-Mädchen gesprungen. Ohne Balancierstange oder irgendein anderes Hilfsrequisit lief er sicheren Fußes die ganze Länge des Seils hinauf bis ganz nach oben, wo es in der Nähe einer der Trapezbrücken befestigt war. Gewandt sprang er mit einem Satz auf die Brücke, hakte das festgestellte Trapez los, schwang damit hinaus und vollführte eine Reihe von Überschlägen, Kniewellen und Handständen wobei ihm die völlig unpassende Straßenkleidung herunterhing, sich um ihn ringelte, zusammenknüllte und bauschte –, schwang dann zurück, landete behende wieder auf der Brücke, sprang von dort zurück aufs Schrägseil und kam radschlagend wieder herunter. Wieder auf dem Boden, wo nicht einmal sein Atem besonders schnell ging, bedachte er Paprika mit einem mindestens ebenso hochmütigen Blick wie zuvor sie ihn, ließ sich dann auf der Piste nieder und zog die Schuhe wieder an. Alle im Chapiteau – von Florian bis zum letzten der Böhmen – -756-
starrten ihn sprach- und fassungslos an. Paprika brach das allgemeine Schweigen, und als sie es tat, geschah das mit ebensoviel Anstand wie Anmut: »Ich bitte um Verzeihung, Meister! Was ich gesagt habe, ist unentschuldbar. An welcher Stelle auch immer es würde mich mit Stolz erfüllen, im Programm einer Truppe aufzutreten, der auch Sie angehören. Ich bin zerknirscht und beuge in Demut das Haupt vor Ihnen.« »So was sollten Sie nie tun, mein Fräulein«, sagte der alte Bursche mit heiserer Stimme. Zanni sagte: »Jörg hat früher auch am Trapez gearbeitet.« »Doch dann bin ich abgestürzt und habe mir ein paar Knochen gebrochen. Seither habe ich nicht mehr den Nerv dafür.« »Ma foi«, sagte Maurice ehrfürchtig. »Ich möchte nicht mit Ihnen konkurrieren müssen, sollten Sie ihn jemals wiederfinden.« »Aber Herr Fünffünf«, sagte Sunday schüchtern. »Aber ... warum dann Clown werden?« »Ich bin kein Clown geworden«, sagte er, »sondern ein Weißclown. Und zum Weißclown muß man womöglich noch mehr berufen sein als zum Trapezkünstler.«
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2 Am nächsten Tag sollten sie noch viel mehr zu sehen bekommen. Bis Mittag waren auf dem Zugangsweg zum Eingang zwei Reihen Buden aufgebaut worden. Einige der Verkaufsstände hatten über dem Dach leuchtende Banner aufgezogen, um ihre Waren anzupreisen; alle hatten ihre Spezialitäten so ausgestellt, daß man sie gut sehen oder riechen konnte. Chinesische Sonnenschirme aus Lackpapier, Bratwürstchen mit dampfendem Sauerkraut, Steckenpferdchen aus Holz, frischgebackene heiße Waffeln, Schildpattkämme, Bier vom Faß, Ziegenmilch direkt von Eise, Blechtrompeten, Schichttorten, kleine Lampen, Zuckerstangen, Spielzeugtrommeln und Kuckucksuhren. Am Ende der Verkaufsstände, vor dem Sonnensegel, das den Zelteingang schützte, lag in seinem Käfig Maximus, starrte ungerührt und würdevoll durch die Stäbe, es sei denn, der Duft der Würstchen stieg ihm in die große Nase, worauf er sie krauste und sehnsuchtsvoll schnaubte. Genau gegenüber war das »Verschwindenspodest« von Fitzfarris aufgebaut und diente jetzt Spyros Vasilakis als Bühne. Aus einer Flasche nahm er immer wieder einen Mundvoll Kerosin und sprühte ein wenig davon in die Luft, um diese Sprühfontäne mit einem brennenden Kienspan zu entzünden, den er in der Hand hielt; auf diese Weise entstand ein leuchtendes Fanal, eine Werbung für den Circus, die man von jedem Punkt des Hofgartens aus sehen konnte. Gleichzeitig konnte man aus dem Zeltinneren Kapellmeister Becks Kapelle hören – Horn, Tuba, Waldhorn, Akkordeon, die Teufelsgeige mit der Schnarrsaite, Tenor- und Baßtrommel wie sie mit typisch tirolerischem Umtata sämtliche Melodien des Circus durchspielte, von ›Greensleeves‹ bis zu ›Bal de Vienne‹. Ein Stück vor Spyros’ Bühne stand der Rote Wagen mit Magpie Maggie Hag an der Kasse und wartete auf die Leute, die -758-
Eintrittskarten kaufen wollten. Im Museumsteil am Ende des Wagens standen Sir John in seinem Makeup, das sämtliche Tätowierungen verbarg, und Jörg Pfeifer in Straßenkleidung, die »Immer hereinspaziert, meine Damen und Herren!« und ähnliche Aufforderungen von sich gaben. Die von dem Feuerfresser angelockten und von den Sprüchen der Museumswärter zum Kartenkauf verleiteten Innsbrucker sahen sich dann Spyros ganz aus der Nähe an, betrachteten den Löwen in seinem Käfig und spähten zum Auerhahn hinterm Maschendraht hinüber, der die Leute mit irrem Blick anfunkelte. In einer Ecke des Museums und mit einem Netz festgehalten, um die Zweige vor der Zerstörungswut des Vogels zu schützen, lag sein aus kunstvoll verflochtenen Zweigen bestehendes »Nest«. Jedesmal, wenn sich genügend Neugierige versammelt hatten, unterbrach Sir John sein »Immer hereinspaziert, meine Herrschaften!« und fing an, sich langatmig über das Ei auszulassen, das der Auerhahn häufig und wunderbarerweise immer wieder lege, holte eines hervor, und zeigte es herum. Das Ei trug jetzt in erhabener Schrift den vaterländischen Spruch: »Für Gott und den Kaiser!« Gelegentlich deutete ein kundiger Zuschauer sarkastisch darauf hin, daß das Wunder einen insofern noch größeren Tribut an Gott und Kaiser darstelle, als das Ei von einem männlichen Vogel gelegt worden sei. Doch ab und zu ließ sich auch ein frommer oder von patriotischen Gefühlen überwältigter Zuschauer herbei, lange genug darum zu bitten, und Sir John konnte sich nur nach langem Zaudern und vielerlei bedenklichen Grimassen zu einem solchen Opfer herbeilassen und verkaufte ihm das Ei zu einem horrenden Preis. »Ein Jammer, daß du nicht alles sehen kannst«, sagte Edge zu Autumn. »Das FLORILEGIUM bietet jetzt kein minder prächtiges Bild als der CIRCUS ORFEI.« »Das ist vielleicht ebenso gut«, sagte Autumn mit schwacher Stimme von ihrem Krankenlager aus. »Obwohl ich ein ganzes Stück davon entfernt bin, verstärkt der Lärm meine -759-
Kopfschmerzen noch. Aber den Weißclown würde ich wirklich gern sehen.« »Gut, daß du davon sprichst«, sagte Edge übertrieben beiläufig. »Kann ich mir deinen Wandspiegel ausborgen? Fünffünf und Zanni wollen etwas vorführen, was sich Spiegelentree nennt, also irgendein Hokuspokus. Aber um anzufangen, brauchen sie einen richtigen Spiegel.« Mit einer Hand gab Autumn ihre Zustimmung zu verstehen, und Edge nahm den Spiegel vom Haken. Autumn fuhr fort, ihre Hand zu bewegen, ballte sie zur Faust, öffnete sie, ließ die Finger vorspringen. Dabei murmelte sie: »Sie ist wieder schwach. Was für eine Beziehung könnte zwischen Kopfschmerzen und Handschwäche bestehen?« »Mach dir darüber keine Gedanken. Maggie sorgt schon dafür, daß du bald wieder ganz auf dem Damm bist und vor Gesundheit strotzt.« Lachend sagte Autumn: »Ach du liebe Güte, ich glaube, sie flößt mir dasselbe Zeugs ein, das sie Bumbum auf den Kopf geschmiert hat.« An diesem Nachmittag lockte das FLORILEGIUM nur ein mittleres Publikum an; das Zelt war keine bianca, also gähnend leer, aber auch kein Sfondone, ein ausverkauftes Haus. Doch in der Pause sagte Florian einsichtig: »Nun, jedenfalls kommen wir bei der Sideshow auf unsere Kosten«, denn den Zuschauern, die aus dem Chapiteau herauskamen und auf die Straße mit den Verkaufsständen traten, saß das Geld ziemlich locker. Sie kauften alles und jedes, von Sir Johns ›Pfeifen‹ angefangen und den Eiern des Auerhahns bis zu den Visitenkarten der ›Weißen afrikanischen Pygmäen‹; Magpie Maggie Hag las schwangeren Frauen aus der Hand und deutete ihre Träume. Außerdem langten die Menschen bei den Verkaufsständen zu, aßen und tranken und kauften kleine Souvenirs. Bei der Sideshow zeigte Sir John – dem Florian, wo es sich als nötig erwies, beim -760-
Übersetzen half – sein eigenes verunstaltetes Gesicht und stellte seine alten Attraktionen wie ›Kinder der Nacht‹, die Pygmäen, seine ägyptische Mumie sowie die kleine Miß Handschuh zur Schau und stellte als dramatischen Schluß seine neueste Attraktion vor: »Der gefräßige Grieche!« kündigte er Spyros an, der in katastrophenschwarzem Trikot auf seine Plattform hinaufsprang. Beck nahm das im Inneren des Chapiteaus als Zeichen dafür, seiner Kapelle das Zeichen zu geben, Wagners ›Feuerzauber‹ zum besten zu geben. Sir John fuhr fort: »Der hier ist der Mann, der alles ißt, meine Damen und Herren, Dinge, die unsereinen umbringen würden – fauchendes Feuer und rasiermesserscharfen Stahl eingeschlossen.« Spyros nahm dem Anschein nach einen tüchtigen Schluck Wasser; in Wirklichkeit handelte es sich um Olivenöl, um seinen Schlund geschmeidig zu machen. Dann entrollte er ein Bündel Ziegenleder und wies vor: einen Dolch, ein Kurzschwert und einen echten Kavalleriesäbel. Sodann schleuderte er eine Waffe nach der anderen mit der Spitze voran in ein Holzbrett, um zu beweisen, daß es sich um echte und nicht etwa um Teleskopklingen handelte. Als erstes zog er den Dolch heraus, wischte ihn mit dem Ziegenleder sorgfältig ab, warf den Kopf in den Nacken, sperrte weit den Mund auf und ließ den Dolch bis ans Heft hinuntergleiten. Danach kam – langsamer freilich – das Kurzschwert an die Reihe und danach der Säbel, den er allerdings mit verzerrtem Gesicht, rollenden Augen und unter Ausstoßen kurzer Grunzlaute hinuntergleiten ließ, um die schier übermenschliche Anstrengung anzudeuten, die es ihn koste, die Klinge den Schlund hinunterzubringen. Sir John hatte von Spyros erfahren, daß mit dem ganzen kein Trick verbunden war – bis auf eine kleine, unmerkliche Täuschung: Der Kavalleriesäbel war von seiner Ori-Sinallänge, die genau sechsundsiebzig Zentimeter betraf, auf dreiundsechzig Zentimeter verkürzt – genau das war die Länge vom Mund bis -761-
zu seinem Mageneingang, wie Spyros durch lange Erfahrung herausgefunden hatte. »Und jetzt«, verkündete Sir John, und Florian sagte es dann auf deutsch an, »vollbringt der gefräßige Grieche das Unmögliche! Er schluckt alle drei Klingen auf einmal. Sehen Sie genau hin. Sie werden sehen, wie sein Adamsapfel sich bläht und wie er zuckt, wenn der Stahl an ihm vorbeigezwängt wird.« In der Tat blähte sich der Adamsapfel des Griechen und zuckte, und ein paar Frauen unter den Zuschauern mußten von ihren Begleitern weggebracht werden. Nachdem Spyros seine Hiebund Stichwaffen eine nach der anderen herausgezogen hatte, wischte er sämtliche Klingen wieder sorgfältig ab, und Sir John erklärte: »Der gefräßige Grieche muß den Stahl vorher reinigen, denn noch das kleinste Staubkorn könnte ihn zum Würgen bringen, und dann würde die rasiermesserscharfe Schneide in seine Luftröhre hineinschneiden. Aber auch hinterher wischt er sie ab, diesmal allerdings, um die Waffen zu schützen. Denn seiner alles andere als normalen Ernährung wegen sind seine Magensäfte so ätzend geworden, daß sie selbst besten Solinger Stahl angreifen.« Jetzt nahm Spyros einen Schluck aus der Ziegenmilchflasche, einmal, um das Olivenöl hinunterzuspülen, das anfangen konnte zu brennen, zum anderen aber auch, um die Mundschleimhäute anzufeuchten. Sodann setzte er auf kurzen Stäbchen steckende ölgetränkte Wattebäusche in Brand, steckte eines in den Mund, schloß die Lippen um das Stäbchen und brachte den gelöschten, aber noch rauchenden Bausch wieder zum Vorschein. Danach steckte er sich einen zweiten brennenden Bausch in den Mund, stopfte den gelöschten hinterher und zündete ihn an dem im Mund brennenden an. Nachdem er das mit den brennenden Wattebäuschen auf die eine oder andere Weise mehrmals wiederholt hatte, tat er das, was er auch schon vorher getan – er unterzog sich der weniger unbequemen, dafür aber spektakuläreren Übung, den Mund mit Kerosin zu füllen, dieses -762-
zu versprühen und dabei anzuzünden, so daß der große Feuerpilz wummernd über den Köpfen der Leute aufloderte, so daß diese zusammenfuhren und versuchten, unter der unleugbaren Hitze der Flammen zurückzuweichen. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder der kleinen erhöhten Bühne zuwandten, war Spyros verschwunden, und an seiner Stelle stand Meli da. Sie trug ein über und über mit schuppengleich silbrigen Pailletten besticktes Trikot, das eine höchst einnehmende, kurvenreiche und zugleich geschmeidige Schlangenfrau aus ihr machte. Das dunkle Haar trug sie in zwei lange Zöpfe geflochten; zu ihren Füßen hatte sie zwei deckelbewehrte Körbe stehen. »Medusen-Meli«, rief Sir John. »Die einzige Frau in der Weltgeschichte seit unserer Urmutter Eva, so schön und so verführerisch, daß die Schlangen aus freien Stücken zu ihr kommen. Giftschlangen, Würgschlangen, was auch immer. Sie weiß sie dergestalt zu bezaubern, daß sie ihr nichts antun. Zumindest« – er machte eine eindrucksvolle Pause – »bis jetzt noch nicht.« Aus dem Chapiteauinneren ließ sich ein einzelnes Kornett vernehmen, dem in zittrigen Dudeltönen eine orientalisch gefärbte Interpretation von Rameaus ›Zephire‹ entlockt wurde. Sir John und Florian fuhren fort: »Sehen Sie die schön gezeichneten, aber offensichtlich bösartigen Reptile, die Medusen-Meli jetzt einem der Körbe entnimmt. Diejenigen von Ihnen, die auf dem Lande leben, werden in ihnen Exemplare der Gemeinen Kreuzotter erkennen, der tödlichsten Schlangenart, die es in Europa gibt.« Kreuzottern aber waren es mitnichten. Hätte Meli Sir John und Florian nicht schon vorher die Wahrheit anvertraut, sie hätten sich vermutlich nicht zusammen mit ihr und ihren Lieblingen auf die Plattform gewagt. Es handelte sich, für den Laien freilich kaum zu unterscheiden, nicht um die giftige Kreuzotter, sondern um harmlose Glattnattern von den Britischen Inseln. Meli wurde jetzt an Hals, Armen und -763-
Schultern von einem halben Dutzend dieser Reptilien umschlängelt, wobei sie selbst zum zittrigen Gedudel des Kornetts verführerisch gewundene Schlangenbewegungen ausführte. Schließlich fanden die Schlangen ihre Zöpfe, glitten an ihnen hinauf, und der Tanz endete damit, daß Melis Haupt wie das der Medusa von ineinander und spiralförmig verschlungenen Schlangenleibern starrte. Die Reptilien seien nicht darauf abgerichtet, dies zu tun, hatte sie erklärt, sondern täten das von Natur aus. Es handele sich um Baumschlangen, die stets danach strebten, Höhe zu gewinnen. Während sie sich um ihre Arme und um den Hals ringelten und sie sich im Tanz wiege, bemühe sie sich, die Schlangen am Sichhöher-Schieben zu hindern; höre sie aber auf, das zu tun, glitten sie einfach zu ihrem höchsten Punkt ihrem Kopf – empor. Jetzt griff sie nach oben und nahm eine nach der anderen, um sie voneinander zu lösen, sie behutsam wieder in ihrem Korb zu verstauen und den Deckel wieder draufzulegen. Dem anderen Korb entglitt eine andere Schlange – oder hob vielmehr ihr Vorderteil, denn es handelte sich um eine Felsenpython von drei bis vier Metern Länge, die in der Leibesmitte so dick und schwer war, wie der Schenkel eines ausgewachsenen Mannes. Deshalb zog Meli nur den Vorderteil der Schlange heraus und ließ ihn sich um eines ihrer Beine ringeln und den Rest ihrer Leibeslänge aus dem Korb heraus- und an ihr und um sie herum emporgleiten, während sie selbst wieder in ihre wallenden Tanzbewegungen verfiel. Beim Sichhochschlängeln schob die Schlange den großen Kopf sowie ihre phallische Fülle zwischen Melis Beinen nach vorn, ehe sie sich ihr um die Taille ringelte und dann spiralförmig um den Oberkörper herum in die Höhe schob. Als Meli das volle Gewicht der Python zu tragen gezwungen war, wurden ihre Tanzbewegungen notwendigerweise langsamer. Als sie gänzlich damit aufhörte, die Arme in Siegerpose in die Höhe reckte und das Publikum Beifall klatschte, trug Meli den größten Teil der Schlange als -764-
breiten Gürtel um die Hüfte geringelt; der Vorderteil des Reptils hatte sich über den Rücken vorgeschoben und schaute ihr über die Schulter die Augen kalt und ohne Lidschlag, und die Spaltzunge züngelte vor und zurück. Der Kniff, der Schlange zu gestatten, einen in den Würgegriff zu nehmen, hatte Meli Sir John und Florian erklärt, bestehe darin, daß Würgeschlangen nicht ernsthaft anfingen zu würgen, solange sie weiches Fleisch umschlängen; ernst werde es erst dann, wenn sie sich um einen knochigen Körperteil winden wie etwa den Brustkorb. Während Meli dafür sorgte, daß die Python in ihren Korb zurückglitt, brachte Sir John sein Holzgestell und eine Feldmaus zum Vorschein und verkündete mit heiserer Stimme, wer Lust habe, solle kommen, und sich am »Mäuserennen« beteiligen. Florian ließ dieses Spiel genauso weitergehen wie Magpie Maggie Hags Wahrsagerei, bis die Leute, die nicht daran teilnahmen, anfingen, unruhig zu werden. Da ließ er Beck wissen, er solle wieder Musik machen, woraufhin die Zuschauer ins Chapiteau zurückeilten. Die zweite Hälfte des Programms lief gut ab, und Pavlo Smodlaka zog seine quirlige Hundenummer diesmal nicht in die Länge – obwohl den Zuschauern die Kunststücke der aufgeweckten Terrier sehr zu gefallen schienen und sie diese mit ungewöhnlich lang anhaltendem Applaus bedachten. Es war sogar so, daß Pavlo seine Hunde ziemlich hetzte und dabei die Reihen der Zuschauer verstohlen immer wieder nach möglichen Spionen absuchte. Mehrere Male war er auch nicht bei der Sache, so daß Gavrila oder eines der Kinder den Hunden den nächsten Befehl geben mußten. Und als die Nummer in Rekordzeit zu Ende ging, gestattete Pavlo sich selbst und seiner Familie nur die Andeutung einer Verbeugung, ehe er fluchtartig das Zelt verließ. Schließlich, als Sunday und Monday für ihren Schrägseilakt beklatscht wurden, huschte Zanni in die Manege und brachte diesmal Fünffünf mit. Edge bekam einen ersten Eindruck von -765-
dem, was Florian »die ältesten, angesehensten und immer gleichbleibenden Charaktere des europäischen Circus« genannt hatte. Zanni war gekleidet wie immer in der Manege; er trug sein Harlekinkostüm und hatte gerade genug Schminke aufgetragen, seinem Gesicht die unterschiedlichsten Ausdrücke von himmelhochjauchzend über boshaft und schadenfreudig bis zu Tode betrübt zu gestatten. Fünffünf jedoch war ein völlig anderer als der Mensch Jörg Pfeifer – ja, grundverschieden von jedem anderen Sterblichen, dachte Edge. Er trug ein aus einem einzigen Stück bestehendes leuchtendrotes Satinkostüm, das reich mit Silberzechinen bestickt war. Es hatte enge, bis zum Handgelenk reichende Ärmel, die an den Schultern eckig ansetzten. Von diesen eckigen Schultern hing das Gewand gerade und taillenlos herunter wie ein Sack, bis es in zwei kurze, ausladende Beinlinge auslief, die eben über den nackten Knien endeten. Das Kostüm ließ den Oberkörper geradezu quadratisch wirken, wie schon der Namen Fünffünf besagte. Darunter, an den Füßen trug er weiße Pantoffeln und knöchellange weiße Strümpfe, und darüber das wie mit Zinksalbe weiß geschminkte Gesicht; auf dieser totenblassen Haut waren Brauen und Wimpern schwarz gefärbt, der Mund und beide Ohren leuchtendrot. Er trug einen randlosen, spitz zulaufenden weiße Hut, der mit dem Weiß seiner Stirn verschmolz und ihm das Aussehen eines kahlen Nadelkopfs verliehen haben würde, hätte nicht die Kappe keck ein wenig schief auf dem Kopf gesessen. Das weiß, schwarz und rot geschminkte Gesicht wirkte komisch und dämonisch zugleich. Fünffünf hätte in jedem Alter stehen können – er war alterslos. Die ganze Nummer über brachte sein Antlitz, wenn es nicht gerade genüßlich boshafte Ungerührtheit ausdrückte, nur zwei andere Regungen zum Ausdruck: Mit hochgezogenen Brauen verächtlich Hochmut und mit dem breitgezogenen Mund grinsenden Hohn. Das seltsame Makeup und das ungewöhnliche Kostüm, das über Generationen -766-
von Weißclowns nie eine Änderung erfahren hatte, schien – selbst für Edge erfüllt von der tyrannischen Autorität von etwas Uraltem. Das gleiche ging von Fünffünfs überlegenem und dominierenden Gehabe aus, mit dem er Zanni hin- und herscheuchte, ihn auslachte und demütigte und ihn sich erniedrigen ließ, so daß das Publikum immer wieder in schallendes Gelächter ausbrach. Genauso wie die Gaffer, mußte auch Edge immer wieder über den Weißclown lachen, doch war ihm dabei immer ein wenig mulmig zumute, und er nahm an, daß es den anderen genauso erging. Wiewohl er nie zuvor einen Weißclown erlebt hatte, kam ihm die komischernste Figur auf unheimliche Weise vertraut vor – wie die Kindheitserinnerungen an einen lustigen und doch angstmachenden Wichtelmann, Spukgeist, oder Schwarzen Mann, den man zwar nie wirklich zu sehen bekommen hatte, der aber überall im Verborgenen lauerte. Edge verstand nur ab und zu ein Wort von dem Deutsch, das die beiden Spaßmacher redeten, doch um was es ging, war aus dem Geschehen deutlich zu erkennen – wie zum Beispiel jetzt, da Fünffünf Zanni die Augen verband und ihm pfeifend Anweisungen gab zu gehen, stehenzubleiben und nach links oder rechts abzubiegen. Mit einem kaum wahrnehmbaren kurzen Pfiff hob der Weißclown an, die unterschiedlichsten Folgen von Zwitschertönen von sich zu geben, und Zanni gehorchte was jedoch nur zur Folge hatte, daß der boshafte Fünffünf ihn gegen den Mittelmast anrempeln ließ, so daß er zurückprallte und auf dem Hinterteil landete (bummmm von der Baßtrommel). Als Zanni sich hochgerappelt hatte, kratzte er sich am Kopf und überlegte offensichtlich hin und her; dann verzog er das Gesicht zu einem scheuen Lächeln. Inzwischen hatte Fünffünf den kleinen Ali Baba herangewinkt, der mit einem Eimer Wasser in die Manege gelaufen kam und diesen dort abstellte. Als der Weißclown diesmal pfiff, setzte Zanni eine selbstgefällig überlegene Miene auf und tat immer das Gegenteil von dem, was ihm von den Pfiffen befohlen wurde, ging nach -767-
links, wenn er nach rechts gehen sollte und so weiter – und trat prompt in den Eimer Wasser hinein, daß es spritzte (rrrummms vom Becken). Als das Publikum vor Lachen brüllte, riß Zanni erbost die Binde von den Augen, stapfte – den Fuß im Eimer eingeklemmt – zu Fünffünf hinüber und wollte ihm einen Tritt versetzen. Doch der Eimer löste sich nicht vom Fuß, Zanni landete abermals auf dem Allerwertesten, (bummm!), hielt den Eimer in die Höhe und leerte den Rest des Wasser auf sich (rrrummms!). Fünffünf schickte Ali Baba fort und half dann Zanni auf, wobei er so tat, als sei er sehr besorgt um ihn, klopfte ihn ab und hielt – nachdem Ali Baba mit Autumns Wandspiegel wieder herzugelaufen war – Zanni den Spiegel hin, so daß dieser seinen kleinen Hut zurechtrücken, sich das nasse Haar wieder hinschieben und die Augenbrauen glätten konnte. Dann beugte Zanni sich vor, näher an den Spiegel heran, schloß die Augen und stand einfach da. »Was gibt’s?« fragte der Weißclown. Zanni antwortete mit Gesten – die Edge übrigens verstehen konnte –, er wolle sehen, wie er in schlafendem Zustand aussehe. »Kretin!« fauchte Fünffünf, riß sich die eigene Kappe vom Kopf und schlug damit auf Zanni ein. Als der Weißclown sich die Kopfbedeckung wieder aufsetzte, hatte er offenbar an ihrem Sitz etwas auszusetzen und bat Zanni, ihm den Spiegel hinzuhalten. Fünffünf blickte hinein, beugte sich vor, drehte und wandte sich, machte deutlich, daß er mit dem Spiegel unzufrieden sei, und verlangte einen größeren. Folgsam verschwanden Zanni und Ali hinter der Gardine. Gleich darauf hörte man es von dort her laut scheppern und klirren. (Zu diesem Behuf hatte Goesle sich ein paar Stücke Blech besorgt.) In freudiger Erwartung der Wut, die Fünffünf bestimmt darüber empfand, daß der Spiegel entzweigegangen war, fingen die Zuschauer an zu lachen, doch schien der Clown nichts gehört zu haben. Er wartete einfach, rückte geziert an -768-
seinem Hut herum, stellte sich in Positur und summte leise vor sich hin. Jetzt kam Ali Baba wieder zum Vorschein und schleppte schuldbewußt und mit angstverzerrtem Gesicht den großen, leeren, rechteckigen Holzrahmen hinter sich her. Der Weißclown merkte nichts, bis Ali Baba nahe bei ihm war, den Rahmen aufrecht hinstellte und sich danebenstellte, um ihn festzuhalten. »Ah«, machte Fünffünf und trat vor den ›Spiegel‹. Im selben Augenblick tauchte auf der anderen Seite hinterm Spiegel Zanni auf. »Eh?« sagte Fünffünf, schob die Augenbrauen hoch und trat erschrocken einen Schritt zurück. Genau im selben Augenblick machte Zanni den Mund auf, schob die Brauen in die Höhe und machte seinerseits einen Schritt rückwärts. Fünffünf schüttelte das Haupt, als gälte es, einen klaren Kopf zu bekommen – Zanni tat desgleichen –, trat vor –, was auch Zanni tat – und beugte sich vor, sein Spiegelbild zu betrachten – was auch wieder Zanni tat. Langsam, ganz langsam hob Fünffünf/Zanni die Hand und schob seinen/seinen Hut zurecht, indem er/er ihn um einen Millimeter nach rechts/links rückte, um die Hand unvermittelt wieder fallen zu lassen. Schon jetzt kugelten sich die Zuschauer und erstickten förmlich an ihrem Lachen; nicht anders erging es den Zirkusleuten, die zusahen. Die Spiegelwirkung war gelungen und reizte zum Lachen, gleichgültig, von welcher Seite der Manege man hinsah. Da beide Clowns sich in vollkommenem Einklang bewegten und beider gleichermaßen für alle zu sehen waren, lag es am Zuschauer, sich zu entscheiden: Was war hier Original, was Spiegelbild und wer machte wen nach? Nachdem dies eine ganze Weile weitergegangen war, wandte Fünffünf dem Spiegel voll den Rücken zu. Zanni tat desgleichen. Ein Signal konnte unmöglich zwischen ihnen hin und her gegangen sein, doch als der Weißclown verstohlen den Kopf drehte, um sich über die Schulter nach dem Spiegel umzusehen, sah auch Zanni voller -769-
Argwohn dorthin zurück. Fünffünfs Bewegungen und Ausweichmanöver wurden immer verkrampfter und verzwickter – zwischendurch verharrte er in Regungslosigkeit – und doch wurde noch die kleinste Bewegung makellos von Zanni nachgemacht. Endlich, als die Clowns offenbar zu dem Schluß kamen, die Zuschauer weiter zum Lachen zu bringen, wäre gleichbedeutend damit, sie massenweise einem Schlaganfall auszuliefern – und als Ali Baba sich vor Lachen nicht mehr halten konnte, so daß der Spiegel zitterte -, faßten die beiden irgendwie gemeinsam den Entschluß, die Nummer zu beenden. Fünffünf sprang unvermittelt nach rechts über den Spiegelrand hinaus, Zanni nach links, und so standen sie sich gegenüber, ohne so zu tun, als stünde der Spiegel zwischen ihnen. Wütend schlug der Weißclown wieder mit seinem Hut auf Zanni ein, doch das genügte ihm nicht; er riß Ali Baba den Spiegelrahmen aus der Hand und schlug ihn Zanni über den Kopf – wobei Publikum und Zirkusangehörige das Geräusch verblüffte, als ob richtiges Glas zerklirrte. (Einer der Böhmen auf dem Podium erzeugte das wieder mit einem Stück Blech.) Zanni führte sich auf, als wäre ein richtiger Spiegel zerbrochen, er taumelte und brach über dem Rahmen zusammen. Da der Weißclown diesen jedoch beim Verlassen der Manege mitschleifte, zog er auch den völlig erschlafften, aber mit den Armen um sich schlagenden Zanni zum Chapiteau hinaus. Die beiden mußten sich immer wieder zeigen und sich vorm Publikum verneigen, das begeistert Beifall klatschte und mit den Füßen stampfte, auch wenn ihnen die Tränen über das lachende Gesicht liefen. Jede zweite ›Gardine‹ brachten Fünffünf und Zanni Ali Baba mit, damit dieser teilhabe an dem Beifall. »Wirklich ein Wunder!« rief Edge laut dem neben ihm stehenden Florian ins Ohr. »Der Clown Lupino soll das Spiegelentree ja erfunden haben. War das ein Landsmann von Zanni?« -770-
»Nein, George Lupino war Engländer«, schrie Florian zurück. »Aber jetzt schnell! Das Finale, solange die Leute noch rasen vor Begeisterung.« Edges Trillerpfeife übertönte den allgemeinen Lärm, der sich noch beträchtlich steigerte, als die Kapelle ›Gott erhalte Franz den Kaiser‹ spielte. Edge nahm auf Thunder am Finale teil und grüßte mit gezücktem Säbel das Publikum. Doch kaum war das Finale vorbei, warf er einem Böhmen die Zügel zu und eilte in seinen Wohnwagen hinüber, um nach Autumn zu sehen. Es gehe ihr gut, sagte sie; ja, sie fühle sich wesentlich wohler. Sie lag auch nicht mehr im Bett, sondern war angezogen, pütscherte im Wagen herum und verrichtete kleine Hausarbeiten. »Du hattest recht, Zachary. Das bißchen Ruhe war alles, was ich brauchte.« Sie kam auf ihn zugeflogen und küßte ihn. »Du bist ein guter Arzt. Die Schwäche ist vorbei, und auch Kopfschmerzen habe ich kaum noch.« »Aber jetzt nichts überstürzen«, warnte er. »Sonst gibt es womöglich einen Rückfall.« »Nein, ehrlich, Liebling. Ich denke, in der Spätvorstellung kann ich wieder arbeiten. Auf jeden Fall aber morgen wieder.« »Dann laß es uns einfach mal probieren«, sagte er aufseufzend. Das würde zwar grausam werden, aber es mußte sein. »Komm mit nach draußen, meine Liebe.« Er führte sie zum Wohnwagen hinaus und um diesen herum. Dort nahm er eine Wäscheleine ab und legte sie schnurgerade auf dem Boden aus. »So, und jetzt gehen!« »Wirklich, Zachary. Du kränkst mich. Ein Seil, das nicht mal eine Handbreit überm Boden hängt?« »Hab Vertrauen zu mir. Es ist ja nur ein Test.« Sie setzte eine Miene gutmütiger Nachsicht auf, betrat das eine Ende des Seils, tat ein paar Schritte, schwankte und trat daneben. »Huch! Siehst du, wie ein einziger Ausfaller einen aus -771-
der Übung bringt?« Sie kehrte zum Anfang zurück, fing noch einmal an, verengte die Augen, um genau hinzusehen, wankte und war wieder vom Seil. Erschrocken und verärgert sah sie zu Edge auf. »Ach, Zachary, was ist denn bloß los mit mir? Ich sehe zwei Seile ... ich kann nicht richtig fokussieren ... sie verschwimmen, kommen und gehen ...« »Wir werden’s noch mal probieren, wenn deine Kopfschmerzen ganz vorbei sind«, erklärte er fürsorglich und rollte die Wäscheleine auf. »Würdest du mir jetzt noch mal vertrauen und dich wieder hinlegen? Ich gehe hin und werde meine Kollegin, Dr. Hag, konsultieren. Und wenn die nicht einen Trank zusammenbraut, der deine Kopfschmerzen für immer vertreibt ... nun ... dann, meine ich, sollten wir dich zu einem richtigen Arzt bringen.« »Zachary, ich habe mein Lebtag noch keinen Arzt gebraucht.« Gleichwohl ließ sie sich von ihm stützen und die Treppe zum Wohnwagen hinauf geleiten, als wäre sie eine gebrechliche alte Frau. »Ich habe immer eine Pferdenatur gehabt.« »Dann werde ich dafür sorgen, daß du einen Pferdedoktor bekommst«, sagte er in der Hoffnung, sie zum Lachen zu bringen. Sie lachte auch, doch war es nicht ihr altes Lachen. Die meisten Männer aus der Schar der Zuschauer, die das Chapiteau verlassen harten, gingen stracks in das kleine Zelt hinüber, wo Sir John lauthals zum Anschauen seiner ›biblischen Bilder‹ aufrief. Einer von ihnen jedoch tat das nicht, ein sehr junger Mann, der auf Florian zutrat, der sich gerade mit dem Kapellmeister unterhielt. »Verzeihung, Herr Florian«, sagte er und stellte sich als Heinrich Mehrmann vor. »Ihrer Aussprache nach«, sagte Beck gleichfalls auf deutsch, »nehme ich an, Sie sind Norddeutscher. Stammen Sie vielleicht aus Hamburg?« »Richtig, aus Hamburg. Ich bin Assistent der Herren Hagenbeck.« -772-
»Du meine Güte!« entfuhr es Florian. »Es sind Jahre her, daß ich den Senior gesehen oder von ihm gehört habe. Wie geht es meinem alten Freund.« »Gut geht es ihm, Herr Florian. Ich habe Herrn Hagenbeck sen. häufig von Ihnen sprechen hören. Und als ich Ihre Parade sah, habe ich gleich ein Telegramm an ihn geschickt. Er läßt viele Grüße bestellen und wünscht Ihnen viel Erfolg für Ihre Tour.« »Das finde ich aber ganz reizend von Ihnen, Herr Mehrmann. Sind Sie geschäftlich für ihn unterwegs?« »Das war ich«, sagte der junge Mann ziemlich bedrückt. »Die Stadtväter von Innsbruck hatten beschlossen, einen zoologischen Garten einzurichten, baten Herrn Hagenbeck um Rat. Deshalb hat er seinen Sohn Carl hergeschickt, ihnen bei der Planung zu helfen und ihnen zu empfehlen, mit was für Tieren sie anfangen sollten.« Florian wandte sich an Beck und sagte: »Falls du es nicht weißt, aber die Hagenbecks gehören zu den besten Tierhändlern, die es in Europa gibt, und Sie sind nicht nur Händler, sondern verstehen auch eine Menge davon, wie man die Tiere halten sollte.« »Es schien auch alles abgemacht«, sagte der junge Mehrmann, »und ich habe aus unseren Beständen die von den Innsbruckern ausgesuchten Exoten hergebracht. Doch jetzt ist man in Innsbruck wegen dieses verdammten Krieges zu dem Schluß gekommen, dies sei nicht die richtige Zeit, öffentliche Gelder für etwas auszugeben, was nicht gerade lebensnotwendig ist.« »Verstehe«, sagte Florian. »Das tut mir leid für Sie.« Rasch fragte Mehrmann: »Tut es Ihnen auch leid genug, Herr Florian, daß Sie es über sich bringen könnten, die Tiere für Ihren Circus zu kaufen?« »Wie bitte? Mein lieber Mann, der Krieg macht ja auch uns -773-
zu schaffen. Selbstverständlich will ich unsere Menagerie vergrößern. Sie haben ja gesehen, daß wir nur sehr wenige Tiere haben. Aber die leeren Plätze im Chapiteau dürften Ihnen gleichfalls nicht entgangen sein. Genauso wie die Innsbrucker Stadtväter bin ich der Meinung, daß Vorsicht und Zurückhaltung angebracht sind.« »Aber ... wenn Sie diese Tiere nun zu einem Spottpreis bekämen, Herr Florian? Herr Hagenbeck sen. hat mir das in seinem Telegramm selbst vorgeschlagen. Er kennt Sie persönlich, weiß, was es gekostet hat, diese Exoten herzubringen, weiß aber auch, daß es noch mehr kostet, sie wieder zurückzuschaffen nach Hamburg, und deshalb meint er, es wäre das beste für alle Beteiligten, wenn wir Ihnen die Tiere anböten – und sie Ihnen zu jedem vernünftigen Preis, den Sie zahlen könnten, zu überlassen.« »Nun«, sagte Florian, »nun, das ist natürlich ein höchst verführerisches Angebot. Aber dabei geht es ja um mehr als nur darum, die Tiere zu kaufen. Ich müßte zusätzlich Wärter oder Kutscher einstellen, wie wir beim Circus sagen, müßte zusätzliche Käfigwagen kaufen, Zugpferde ...« »Ich bin ermächtigt, Ihnen auch die zugehörigen Käfigwagen samt sehr guten Pferden zu verkaufen, die die Exoten hierhergeschafft haben«, erklärte Mehrmann. »Und das wiederum zu einem überaus günstigen Preis. Außerdem sind sie von böhmischen Kutschern hergebracht worden, die ja nur böhmische Löhne gewohnt sind; man hat mich daher angewiesen, es Ihnen freizustellen, auch sie gleich mitzuübernehmen.« »Du meine Güte!« sagte Florian noch einmal, und diesmal war es nichts weiter als ein Ausruf seiner Fassungslosigkeit. »Ihr Angebot ist unglaublich großzügig, junger Herr; so günstig, daß ich gestehen muß, es nahezu unwiderstehlich zu finden ...« »Trotzdem, Herr Direktor«, sagte der praktisch denkende -774-
Beck, »gestatte, daß ich dich auf folgendes hinweise: Ein Spottpreis hört auf, ein Spottpreis zu sein, sobald der Handel abgeschlossen ist. Denn von Stund an müßten zusätzliche Gagen gezahlt werden. Wahrscheinlich brauchen die Tiere auch ein eigenes Zelt. Und die Fleisch- und Futterhändler werden von jetzt an bis in alle Ewigkeit keine Spottpreise für ihre Waren verlangen.« Mehrmann sagte: »Was kann ich mehr anbieten als das, was ich wirklich habe? Manche Sachen liegen außerhalb meiner Möglichkeiten.« »Gewiß, gewiß, junger Mann«, sagte Florian. »Wir versuchen ja nur, unsere Lage darzustellen. Aber das wenigste, was ich tun könnte, wäre, mir einmal anzusehen, was Sie haben – und wünschen, daß die Tiere mir gehörten. Wo sind sie denn jetzt?« »Auf der anderen Seite des Flusses, im Mariahilf-Viertel. Den Innsbrucker Ratsherren war es schon sehr peinlich, uns soviel Ungelegenheiten bereitet zu haben, und um das ein bißchen wiedergutzumachen, haben sie mir gestattet, die stadteigenen Stallungen auf der anderen Innseite zu benutzen.« »Schön. Ich hätte allerdings gern, daß ein paar von unseren Mitarbeitern uns begleiten. Würden Sie hier solange warten, bis ich sie zusammengetrommelt habe?« Auf englisch sagte Beck, während er mit Florian hinausging: »Verarmt sind wir nicht. Wir müssen nur unsere Grütze ein wenig anstrengen.« »Unsere Grütze nicht anstrengen, sondern sie verdienen, habe ich gesagt. Und das heißt, zumindest die täglichen Ausgaben wieder einzuspielen.« »Ja, und vorher, in Italien, ist es uns blendend gegangen. Natürlich, wo es ums Handeln geht, können wir Krokodilstränen über unsere Armut vergießen. Ich hoffe nur, daß du die Notlage des jungen Mannes nicht über Gebühr ausnutzst.« »Ich kenne Hagenbeck sen. seit der Geburt seines Sohnes, und -775-
ich habe schon mehr als ein Geschäft mit ihm gemacht – jetzt übernimmt der Sohn das Familienunternehmen. Es würde mir nicht im Traum einfallen, einen von ihnen übers Ohr zu hauen. Aber erst müssen wir mal sehen, ob sie überhaupt etwas haben, das uns interessieren könnte.« Hinter dem Chapiteau waren die Circusleute dabei, aufzuräumen und sich nach der Vorstellung auszuruhen. Magpie Maggie Hag stopfte einen Triangel, den jemand sich ins Kostüm gerissen hatte. Pavlo Smodlaka kräuselte sich mit einem Brenneisen sein Barthaar und half seiner Frau, Haarwickel aus Papier einzurollen. Meli Vasilakis schob ihre kleineren Schlangen in einem kleinen, mit lauwarmem Wasser gefüllten Zuber hin und her, holte dann eine nach der anderen heraus, trocknete sie einzeln ab und salbte sie mit warmem Olivenöl. Jules Rouleau hielt Autumns Spiegel für Jörg Pfeifer, der mit Schmalz versuchte, seine Schminke loszuwerden. Abner Mullenax, der ihm dabei zusah, erkundigte sich: »Jules, aus was besteht diese Schminke überhaupt?« »Sag doch Schmiere dazu«, sagte Rouleau. »So nennen alle Clowns ihre Schminke. Die weiße Schminke wird aus geschmolzenem Schmalz, Zinkoxid und Benzoetinktur gemacht.« »Für das Gesicht ist das gar nicht gut«, murmelte der Weißclown. »Gott sei Dank, daß ich jetzt alt genug bin, diese Falten im Gesicht redlich verdient zu haben. Aber bekommen habe ich sie erst, seitdem ich die Schmiere aufgetragen habe.« »Du hast ja wenigstens noch Haare«, sagte Carl Beck sehnsüchtig. »Solange man noch Haare hat, sieht man nicht so alt aus.« »Ach, Zachary«, sagte Florian, als Edge zu ihnen trat. »Sobald Fünffünf mit Autumns Spiegel fertig ist, bring ihn ihr zurück. Wir gehen in die Stadt, da können wir gleich einen für die Requisiten kaufen.« -776-
Magpie Maggie Hag sah von ihrer Näherei auf, und Edge und sie tauschten einen Blick. Er sagte: »Sollen die Jungs ihn benutzen, solange sie wollen. Ich ... ich werde Autumn einen wirklich guten Spiegel kaufen ... sobald sie wieder gesund und auf den Beinen ist.« »Wie du willst. Kannst du übrigens die Dame deines Herzens etwas länger allein lassen, um uns zu begleiten? Bumbum und ich wollen uns ein paar Exoten ansehen, die zum Verkauf stehen. Und du solltest auch mitkommen, Barnacle Bill, und ...« »Was zum Teufel sind denn Exoten?« wollte Mullenax wissen. »Barnacle«, sagte Florian geduldig, »dein Löwe Maximus zum Beispiel. Exoten, das sind Circustiere, die hier nicht heimisch sind – wie zum Beispiel der Auerhahn – und den die Gaffer daher nur vom Hörensagen kennen. Komm du auch mit, Abdullah. Und Zeltmeister, begleitest du uns auch? Vielleicht müssen wir uns über ein neues Zelt unterhalten.« Florian ließ den jungen Mehrmann auf dem Bock seiner Kutsche Platz nehmen, damit er ihm den Weg zeigen konnte. Edge, Beck, Mullenax und Goesle fuhren mit einem der leeren Leinwandwagen, und Hannibal führte die Zügel. Nachdem sie die Innbrücke hinter sich hatten, ging es durch immer ländlicher wirkende Vororte und schließlich gelangten sie auf ein Feld mit Stallungen, Scheunen und eingezäunten Koppeln. Zwei ungemein unösterreichische Tiere kamen an den Zaun, um darüber hinwegzulugen: ein baktrisches Kamel oder Trampeltier und ein indischer Elefant, der ein Zwilling von Peggy hätte sein können, nur, daß er mit zwei gewaltigen Stoßzähnen ausgerüstet war. Doch als Edge sah, was in einem der anderen Pferche umherlief, entfuhr ihm ein ehrfürchtiges: »Himmelherrgott!« Und Florian sagte gleichzeitig zu Mehrmann in der Kutsche: »Mein Gott, sind das etwa Ihre Zugtiere, Heinrich? Selbst die sind ja so prächtig, daß sie unter Exoten rangieren könnten.« -777-
»Jawohl, Ostfriesen! Begreifen Sie jetzt allmählich, was ich Ihnen alles anzubieten habe, Herr Florian? Rassepferde für den Preis von gewöhnlichen Ackergäulen, für den Circus wie geschaffen.« Und das waren sie in der Tat. Die sieben Pferde waren so kräftig wie Obie Younts Percherons, nur nicht ganz so massig und wesentlich anmutiger. Sie hatten ein tiefschwarz schimmerndes Fell, doch am auffälligsten und vielleicht am einnehmendsten war die herrlich gewellte Mähne und der bis auf den Boden reichende Schweif sowie die kleinen Haarbüschel an den Fesseln wie Flügel an den Füßen des Pegasus. Als Edge aus der Kutsche gestiegen war, ging er geradenwegs zu den Ostfriesen, bewunderte und streichelte sie, redete mit ihnen und mußte fast fortgezerrt werden, sich auch noch die anderen Tiere anzusehen, die die eleganten kräftigen schwarzen Rosse hierher gezogen hatten. Der junge Mehrmann zeigte mit weitausholender Geste auf zwei Tiere, die die Besucher anstarrten, und sagte: »Elefant, Trampeltier.« Dann führte er sie durch eine Scheune, wo seine Käfigwagen abgestellt Waren. Diese Käfige waren weit geräumiger als der von Maximus, der auf einer Fläche von 120 x 300 Zentimeter nicht nur untergebracht war, sondern dort auch seine Kunststücke vorführte. Mehrmann zeigte auf einen der Käfige und sagte: »Tiger und zwei Tigerinnen – aus Bengalen«, dann wies er auf den nächsten, in dem zwei Bären von ungewöhnlich silbergeflecktem Braun saßen: »Syrischer Bär und syrische Bärin.« »Syrische Bären«, erklärte Florian den anderen, »eignen sich am besten für die Dressur.« Mit einer Frage wandte er sich an Mehrmann und übersetzte dann die Antwort für die anderen. »Sie sind drei Jahre alt, was bedeutet, daß wir von ihnen fünf bis sechs Abkömmlinge erwarten dürfen, ehe sie – was bei Bären durchaus üblich ist – erblinden. Dann läßt sich nur noch schwer mit ihnen arbeiten.« -778-
»Zwei Hyänen«, sagte Mehrmann vor einem Käfig mit zwei Tieren, die so schön waren, wie Hyänen eben sein können, mit anderen Worten also häßlich und struppig. »Von denen hab’ ich schon mal was gehört«, sagte Mullenax. »Wie kommt es, daß sie nicht lachen?« »Nur die gefleckten Hyänen lachen, Barnacle Bill. Das hier sind Streifenhyänen. Aber sei froh, denn wenn wir gefleckte bekämen, hätten wir keine Nacht Ruhe.« Vor dem nächsten Käfig sagte Mehrmann: »Zwei Zebras und ein südamerikanisches Zwergpferd.« Bei dem Tier, das nicht gestreift war, handelte es sich offensichtlich um ein Pferd, falbfarben, aber nicht größer als ein großer Hund. »Colonel Ramrod, kennst du so was?« fragte Florian. »Nein, das nicht, aber ich bin sicher, daß es den Clowns für ihre Nummer sehr zupaß kommen würde.« »Schimpansen«, verkündete Mehrmann vor einem Käfig, der zum Teil von einem Kletterbaum ausgefüllt wurde; an den Ästen hingen fünf oder sechs Schimpansen, die beim Anblick der Besucher anfingen zu kreischen und zu keckem. »Zwei Strauße«, sagte Mehrmann vorm nächsten Käfig, der kein festes Dach aufwies, so daß die beiden fast zweieinhalb Meter großen Vögel bequem darin stehen und den Hals zu den Löchern hinausstecken konnten. Der nächste Käfig enthielt nur zur Hälfte einen Fußboden; die andere Hälfte wurde von einem unter dem Wagen befestigten Wasserbecken eingenommen, in dem sich vier schlanke Geschöpfe tummelten: »Seelöwen«, sagte Mehrmann, doch Florian sagte ziemlich verächtlich: »Wasserhunde«, und Edge sagte: »Ich würde sagen, richtige Robben.« »Es sind Seelöwen«, sagte Florian. »Wasserhund nennt man sie im Circusjargon. Genauso wie ein Kamel ein Höcker ist, ein Zebra ein Knastbruder, eine Hyäne eine Zicke und Affen Jockei. Mir fallen nicht alle Spitznamen für die Tiere ein. Nun, meine -779-
Herren, irgendein Kommentar?« »Ach, Sahib!« ließ sich Hannibal eifrig und in erlesener Hinduuntertänigkeit vernehmen, »Peg – ich mein’, Brutus – die würd’ sich riesig über’n Bullen zur Gesellschaft freuen. Und ich auch, Sahib.« Besorgt fragte Mullenax: »Direktor, hast du eigentlich vor, die Tiere bloß auszustellen? Oder – Himmel! – soll ich etwa diese Bären und Tiger zähmen?« Florian sagte zu Mehrmann: »Der Tiger hat diese borstige löwenartige Mähne, wie sie oft bösartige Raubkatzen haben?« Kopfschüttelnd sagte Mehrmann: »Er und seine Schwestern sind gutmütige Tiere. Schon jetzt sind sie daran gewöhnt, daß ein Mensch ihren Käfig betritt. Bald werden sie soweit sein, daß ein Dompteur was mit ihnen anfangen kann. Ich würde sie niemals betrügen, Herr Florian. Es sind Königstiger, keine dummen sibirischen, denen man nie ganz trauen kann. Außerdem sind sie in Freiheit geboren und erst später eingefangen worden; deshalb haben sie einen heilsamen Respekt vorm Menschen nicht so wie die in Gefangenschaft geborenen Tiger, die nur Verachtung für ihre Wärter haben.« »Sehr wohl. Die Tiger ließen sich also verwenden. Und mein Elefantenkutscher wäre begeistert, wenn er den Elefantenbullen dazubekäme. Und unser Sprechstallmeister ist, wie Sie vermutlich schon bemerkt haben, in die Ostfriesen verliebt. Ich persönlich liebe zwar Kamele nicht gerade und habe auch nichts dagegen, wenn es seinen böhmischen Kutscher ab und zu anspuckt, aber es kommt häufig zu Beschwerden, wenn es das zahlende Publikum trifft. Immerhin hat es den Vorteil, daß es auf eigenen vier Beinen reisen kann, und bei einer Parade macht sich so ein Trampeltier immer gut.« Mehrmann hatte ein Notizbuch gezogen und schrieb sich die genannten Tiere auf. »Großkatzen, Elefant, Ostfriesen, Trampeltier ...« -780-
»Was ich aber auf keinen Fall will, das sind die Seelöwen«, sagte Florian. »Unterwegs ist es häufig schwierig, Fische zum Füttern zu bekommen. Außerdem stinkt der Fisch, und der Geruch durchdringt die gesamte Karawane – alles, von der Leinwand bis zu den Kostümen – und man wird ihn überhaupt nicht wieder los.« »Scheiße!« fluchte der junge Mann halblaut. »Jetzt muß ich den Wagen mit dem Becken wieder bis nach Hamburg zurückbringen.« »Ebensowenig wie die Schimpansen«, sagte Florian. »Aber Herr Direktor, was ist eine Menagerie ohne Jockel? Leute, die in den Circus kommen, geraten über ihre Possen immer in helles Entzücken.« »Das stimmt schon, mein Junge, aber ich weiß wirklich nicht, warum. Wenn die Biester sich nicht gegenseitig lausen, spielen sie obszön mit ihren Dingdong rum. Affen gelten zwar als von Natur aus spaßig und komisch, süß und liebenswert – aber warum das so ist, kann ich einfach nicht begreifen. Dafür habe ich einmal mit eigenen Augen gesehen, wie ein kleines Mädchen einem Affen im Käfig eine Erdnuß hinhielt – ihr wurden sämtliche Finger abgebissen. So wie die Zähne von Affen in der Kinnlade verankert sind, ist es unmöglich, den gefährlichen Reißzahn zu ziehen, ohne daß das Tier dabei auch alle anderen Zähne verliert, und dann muß das arme Vieh verhungern. Nein, Affen will ich nicht!« Mehrmann fluchte immer noch, denn jetzt hatte er ausgerechnet die beiden Käfigwagen am Hals, mit denen am schwersten umzugehen war, doch sagte er in philosophischer Ergebenheit: »Nun, es hätte schlimmer kommen können. Auf meiner nächsten Reise sollte ich ein Nashorn mitbringen, ein Nilpferd und Giraffen ...« »Vielleicht nehmen Ihnen die Innsbrucker doch noch die Jockei und die Wasserhunde ab – wenn der Preis stimmt, meine -781-
ich –, dann haben sie jedenfalls schon mal einen Anfang für ihren Zoo gemacht, egal, wann sie einmal dazu kommen, ihn wirklich zu bauen. Heinrich, bitte, nennen Sie mir den niedrigsten, Ihnen noch möglichen Preis für alle anderen Tiere und die fünf Wagen, für fünf der Ostfriesen als Zugpferde, und die Anzahl der Böhmen, die wir als Kutscher brauchen. Wir selber werden noch einmal das Für und Wider der Transaktion in so heiklen Zeiten diskutieren – und was wir uns leisten können, dafür auszugeben. Kommen Sie morgen wieder auf den Circusplatz. Dann sehen wir weiter.«
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3 Florian bat Edge, in der Kutsche mit ihm zurückzufahren. Nach ein paar unverfänglichen Bemerkungen über die Exoten sagte Florian vorsichtig: »Ich möchte mich ja nicht einmischen, Zachary, aber ich und der gesamte Circus vermissen deine Autumn. Dabei geht es mir nicht einmal um das Programm – ich meine, was uns fehlt, das ist ihre Fröhlichkeit. Gibt es irgend etwas, das wir tun könnten? Was ist eigentlich mit ihr los?« »Bei Gott, ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Edge bedrückt. »Ich weiß nur, wie es sich auswirkt. Ihr selbst dämmert allmählich, daß da was nicht stimmt – sie fängt gerade an, sich selbst einzugestehen, daß es keine Kleinigkeit ist.« Er beschrieb den Test mit der Wäscheleine, dem sie sich unterworfen und den sie nicht bestanden hatte. »Nun, Gleichgewichtsstörungen, die Unfähigkeit zu fokussieren«, sagte Florian. »So was kann manchmal schon durch eine leichte Grippe kommen.« »Aber es ist etwas verdammt viel Schlimmeres als eine Grippe. Florian, würdest du das bitte für dich behalten, wenn ich es dir sage? Magpie Maggie Hag ist die einzige, die sonst davon weiß. Nicht mal Autumn selbst weiß, wie schlimm es um sie steht.« »Selbstverständlich verspreche ich dir das. Aber was könnte denn so schlimm sein ...?« »Es sind ihre Augen. Autumns Augen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es klingt lächerlich, ist aber Tatsache, und furchtbar. Ihre Augen, die ... die verschieben sich.« »Verschieben sich?« Einen Moment sann Florian darüber nach. »Ist das der Grund, warum du nicht wild drauf bist, ihr den Spiegel zurückzugeben? Willst du damit sagen, ihre Augen schwimmen?« »Nein. Die Lage der Augen stimmt nicht mehr. Mag ist das -783-
als erster aufgefallen. Aber jetzt sehe auch ich das; und es wird von Mal zu Mal offenkundiger, wenn ich sie ansehe.« Wieder versank Florian in Nachdenken, doch dann sagte er: »Zachary, ich nehme das keinesfalls auf die leichte Schulter. Aber so wie du das beschreibst, hört es sich an, als ob sie plötzlich schielte. Kannst du nicht ein bißchen genauer sein?« »Doch, das kann ich, verdammt noch mal!« sagte Edge bedrückt und mit großer Heftigkeit zugleich. »Das Auge auf der einen Seite ist tiefer gerutscht als das andere. Deshalb konnte sie auch den Blick nicht auf die Wäscheleine fokussieren. Und deshalb habe ich ihr den Spiegel weggenommen. Ich kann nicht zulassen, daß sie merkt, wie sie aussieht. Irgendwie geht mit ihrem ganzen Kopf eine Veränderung vor. Als ob er Schlagseite hätte. Vermutlich ist das auch der Grund für ihre Kopfschmerzen, aber woran das liegt – die ganze Entstellung –, ich habe keine Ahnung. Natürlich klingt das verrückt und unmöglich, aber das ist es, was passiert.« »Heilige Jesus und Maria!« sagte Florian. »Dieses hinreißende Mädchen! Zachary, ich kann dir gar nicht sagen, wie traurig mich das ... aber hör zu, Mann. Das geht offensichtlich über Maggies Hexenkünste hinaus. Wir müssen Autumn zu einem richtigen Arzt bringen.« »Ich hatte vor, sie morgen früh hinzubringen und wollte dich schon um Hilfe bitten. Daß wir einen guten Arzt finden und du dann für uns sprichst. Und um der Liebe Christi willen – schärf ihm vorher ein, er soll kein entsetztes Gesicht machen und Autumn nicht merken lassen, daß sie ... daß ihre Schönheit zum Teufel geht.« »Da drüben ist eine Apotheke«, sagte Florian, denn sie waren inzwischen wieder in der Innenstadt angelangt. »Laß die anderen Wagen weiterfahren. Wir halten hier, und ich erkundige mich nach den Ärzten, nach ihrem Spezialgebiet, und was für einen Ruf sie genießen. Sie soll den besten Arzt haben, den wir -784-
finden.« Edge wartete in der Kutsche, während Florian hineinging. Er blieb ziemlich lange fort, und als er zurückkam, sagte er: »Der Apotheker empfiehlt einen Doktor Köhn, der nicht weit von hier seine Praxis hat. Gehen wir gleich hin und machen wir einen Termin für morgen ab.« Wieder mußte Edge warten. Nervös spielte er vor einem alten Fachwerkhaus mit Snowballs Zügeln. Florian blieb womöglich noch länger fort als zuvor in der Apotheke, doch als er schließlich wieder auftauchte, machte er ein etwas fröhlicheres Gesicht als vorher. »Wir haben einen Termin für morgen früh, zehn Uhr. Außerdem hatte ich das Glück, ein paar Worte mit dem Herrn Doktor persönlich zu sprechen, nicht nur mit einer Hilfe. Er sieht aus, als wäre er ungefähr so alt wie dies Haus hier – jedenfalls alt genug, um erfahren und weise zu sein, nehme ich an.« »Hast du ihn gewarnt ...?« »Ja, doch, ich habe ihm genau gesagt, was du mir erzählt hast. Ob er mir geglaubt hat, weiß ich nicht. Immerhin hat er eine optimistische Vermutung geäußert: daß es sich um einen leichten Schlaganfall handeln könnte; und der, so sagt er, verursacht hartnäckige Kopfschmerzen und kann auch eine partielle Gesichtslähmung zur Folge haben, die aber nur vorübergehend ist.« »Hoffen wir das beste«, sagte Edge, doch es klang nicht sonderlich hoffnungsvoll. Als sie beim Hofgarten eintrafen, war Becks Kapelle schon dabei, die Instrumente zu stimmen, und die Fackeln draußen wurden entzündet. Die Buden und Stände vorm Eingang dekorierten ihre Auslagen, und die Garköche bauten Kohlenbecken und Roste auf. Fitzfarris stand an einem Bierstand, trank ein Seidel helles Bier und gab sich größte -785-
Mühe, mutig mit dem Schankmädchen zu schäkern. Die hübsche Maid – noch hübscher als sonst, da sie in die sommerliche Frische eines rosaweißen Dirndls, rosa Strümpfe und Schuhe gekleidet war – lachte über Fitz’ unbeholfene Versuche, auf deutsch Süßholz zu raspeln, auch wenn ihr das eigentlich zu gefallen schien. Monday Simms stand etwas abseits, verfolgte Gesten und Mimik dessen, was sich abspielte, und machte selbst ein giftiges Gesicht. Als Florian den Gang zwischen den Buden herunterkam, fing sie ihn ab. »Direktor, Sunday und ich hätt’n dich gern kurz gesprochen.« »Aber gewiß doch, mein Kind. Nur, können wir es schnell abmachen? Die Vorstellung muß gleich anfangen.« Monday winkte Sunday von irgendwoher und fuhr fort: »Wir sin’ ja gern mit dir rumgezogen un’ haben es genossen, was zu lernen un’ selbst Geld zu verdien’. Aber wir mein’, wir haben’s uns redlich verdient un’ sind es satt, wie dreckige Nigger behandelt zu werd’n.« Florian war erstaunt, mit welcher Heftigkeit sie das vorbrachte, doch ehe er etwas sagen konnte, erklärte Sunday: »‘schuldigung, Direktor, Monday hat durchaus gelernt, sich zu benehm’n, aber wenn sie sich aufregt, vergißt sie alles. Was sie sagen will, is’ ...« »Ich weiß selbst, was ich sagen will, Schwester! Uns is’ aufgefall’n, daß diese Europäer uns als Ausländer betracht’n. Das geht aber diese Chinamänner eb’nso – selbst Clover Lee, un’ sogar dir, Sir. Sie seh’n einfach Ausländer – keine schwarz’n oder gelb’n oder weiß’n Fremd’n.« »Das läßt sich nicht von der Hand weisen«, sagte Florian. »Aber wenn wir von den Einheimischen hier alle als Ausländer betrachtet werden wieso hat man euch denn einen besonderen Tort angetan?« »Von euch all’n! Besonders von ... von dies’m hochgestoch’nen Sir John.« Damit schoß sie Fitzfarris und dem -786-
Schankmädchen einen Blick zu, der ihr Haar hätte in Brand setzen können. »Ah«, sagte Florian, bemüht, sich seine Belustigung nicht anmerken zu lassen. »Une fille jalouse.« »Oui«, sagte Sunday. »Trotzdem hat sie recht, Direktor. Manchmal sin’ wir Hottentotten, Afrikanische Pygmäen immer, un’ das is’ schon demütigend genug. Aber Sir John, der läßt uns in seiner Nacktschau auftret’n, un’ das wird immer unerträglicher. Die Männer, die bezahl’n, die sabbern uns an un’ keuch’n, un’ der Böhme, der den Lot darstellt, der tatscht immer an uns rum.« »Wir ha’m alles getan, um was Besser’s zu sein als dreckige Nigger«, sagte Monday. »Wir arbeit’n am Schrägseil, und ich reit’ die Hohe Schule, Sunday machte ihre Gliederverrenkungen, macht sich jetzt schon gut auf der Brücke, un’ ich hab’ Mr. Pfeifer bekniet, daß er mich richtig aufm Seil ausbildet, un’ er hat ja gesagt un’ ...« »Woow! Aspettat. Haltelä!« sagte Florian und hob resigniert die Hände. »Ihr habt völlig recht, das geb’ ich zu, und ich entschuldige mich für meine Gedankenlosigkeit. Daß ich zugelassen habe, euch solange auszubeuten! Ihr seid keine Lämmchen mehr, sondern geachtete und achtenswerte junge Damen; ihr habt es wahrhaftig verdient, mit etwas mehr Würde behandelt zu werden. Ich werde Sir John eine Auflage machen, an die er sich zu halten hat. Keine Sideshow mehr für euch, keine Nacktschau mehr. Würde euch das zufriedenstellen und beschwichtigen, Mam’selles? Und nehmt ihr meine Zerknirschung an?« Sie sagten, sie würden es tun, und sie taten es. Hand in Hand gingen sie davon, den hübschen Kopf stolz gereckt – nur Monday konnte sich nicht enthalten, sich noch einmal umzudrehen, um Fitzfarris und seinem rosaweißen Mädchen, das er umgarnen wollte, einen blitzenden Blick zuzuwerfen. -787-
Doch das war gerade der Augenblick, da Florian in das teteátete einbrach und Sir John unterbreitete, woran er sich fürderhin zu halten hätte. Nach Schluß der Vorstellung setzten sich Florian, Fitz und die meisten anderen Abteilungsleiter des FLORILEGIUM zusammen, um ihre unmittelbare Zukunft zu beraten. »Ich darf noch mal wiederholen, Sir John«, sagte Florian, »daß es mir leid tut, Sunday und Monday von einer Stunde auf die andere aus deiner Schau rausgerissen zu haben. Aber das war längst überfällig.« »Das ist weiter nicht so schlimm«, sagte Fitz. »Die Sideshow ist ja immer noch ziemlich umfangreich, und die Leute, die sich für die Bibelstudien interessieren, waren es ganz zufrieden, nur David und Bathseba zu sehen. Nur vermute ich, daß auch Clover Lee nicht mehr mitmachen will. Zwar glaube ich, daß sie es genießt, sich zu produzieren, während den Gaffern hechelnd die Zunge aus dem Hals hängt, doch bezweifle ich, daß sie weiter eine Nummer arbeitet, die zwei Mulattenmädchen für unter ihrer Würde erachten.« »Richtig«, sagte Florian. »Und da möchte ich einen Vorschlag machen. Wie wär’s, Sir John, wenn du die ganze Sideshow von jetzt an auf den Anbau beschränkst und wir für die Pause zusätzliche Eintrittskarten dafür verkaufen? Mehr noch: Nachdem du den Tätowierten Mann, die Kinder der Nacht, die Mumie und deine Miss Handschuh und den Gefräßigen Griechen gezeigt hast, überlaß Madame Vasilakis Höhepunkt und Abschluß der Schau – für die noch einmal extra bezahlt werden muß, und die überhaupt nur für Erwachsene zugänglich ist.« »Meli eine Szene aus der Bibel darstellen lassen? Eva und die Schlange, etwa?« »Das überlaß ich euch beiden. Und deinem fruchtbaren Einfallsreichtum. Allerdings möchte ich bemerken, daß der -788-
Anblick einer üppigen Frau, die eine Schlange streichelt ... nun, das ruft gewiß andere Bilder hervor, selbst bei einem betagten Zuschauer, der die Blüte seiner Jahre bereits hinter sich hat.« Alle am Tisch Versammelten lächelten und nickten. Fitzfarris machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte: »Hm ... naja. Und du meinst nicht, daß Spyros etwas dagegen hat, daß seine Frau – nun ja – vor einem kleinen Kreis von Männern auftritt?« »Da hab’ ich so meine Zweifel. Schließlich ist er Grieche.« Dafür erhob Stitches Goesle einen allerdings nicht weiter ins Gewicht fallenden Einwand. »Nur etwas. Seit den schlechten Kriegsnachrichten sind wir bestenfalls vor zwei Drittel vollem Haus aufgetreten. Und trotzdem sollen die Leute jetzt extra für die Sideshow zahlen, die es früher gratis gab?« »Das scheint mir nur vernünftig, Dai«, sagte Florian. »Je weniger Zuschauer, desto mehr gilt es aus ihnen herauszuholen, solange sie sich auf dem Circusgelände aufhalten. Aber ich bin ja nicht einfach geldgierig. Sie werden bald mehr für ihr Geld bekommen, selbst, wenn sie nur für die Hauptvorstellung im Chapiteau bezahlen. Wenn wir mit Herrn Mehrmann ins Geschäft kommen – und daran zweifle ich nicht –, können wir bald unser Hauptprogramm erweitern. Und außerdem, Gentlemen«, fuhr Florian fort, »sofern wir uns nicht entschließen, etwas anderes mit ihnen anzufangen, werden diese Tiere zumindest das Finale mit uns bestreiten. Der neue Elefantenbulle, das Trampeltier, die prachtvollen Rappen und das Zwergpferd. Was die Knastbrüder betrifft, so bin ich mir nicht ganz sicher: Zebras sind ziemlich widerspenstige Geschöpfe. Wir werden sehen. Jedenfalls, sobald wir die Tiere hier haben, Zeltmeister, wirst du mit Maggie anfangen, Geschirr und Putz für die Paraden zu fertigen?« »Ay, Direktor. Und wenn sie nicht in der Manege sind oder unterwegs? Ich nehme an, sie brauchen einen eigenen Stall.« »Ja. Kannst du dich nicht mal daranmachen, ein Zelt für -789-
unsere Tierschau zu entwerfen, das auch als Stall dient? Ein Zelt mit Mittelgang sollte es sein: die Tiere links und rechts angebunden oder im eigenen Pferch. Dann können die Gaffer gemächlich hindurchgehen und sich sattsehen. Einer von uns, der deutsch kann – Fünffünf vielleicht –, soll sich dann über Lebensweise und Lebensraum der Tiere auslassen.« Goesle zeichnete mit dem Finger auf dem Tischtuch bereits das nach, was er im Geiste vor sich sah, und brummelte dabei: »Keinen Mast, würde ich meinen ... vielmehr ein Rechteck aus Viertelmasten und Seitenleinwand ... zum Hochrollen, damit man gut lüften kann ...« »Um für den Bären Musik zu machen, braucht man mich vermutlich nicht«, sagte Beck etwas verdrießlich. »Das könnte auch jeder von meinen Männern machen. Nicht mal zu dirigieren brauche ich mehr – sie können alles allein spielen, für die ganze Schau. Ich brauche nicht mal mehr da zu sein.« »Nicht mehr da zu sein?« wiederholte Florian einigermaßen erschrocken. »Hier in Österreich spielen wir doch vor ziemlich spärlichem Publikum. Der Krieg hat die Leute völlig durcheinandergebracht. Aber nur dreißig Kilometer weiter nördlich von hier ist meine Heimat, Bayern, und Bayern ist vom Krieg nicht so mitgenommen worden. Bestimmt machen wir bessere Geschäfte, wenn wir dorthin gehen.« »Ja, ich hatte auch schon daran gedacht, nach Bayern weiterzuziehen.« »Und ich werde schon mal vorausgehen – allein. Direkt zum Haus meiner Familie in München. Dort stelle ich meine Dampforgel auf Räder ...« »Gott, du allmächtiger!« entfuhr es Florian. »Ich hatte ja ganz vergessen. Du besitzt eine Dampfpfeifenorgel!« »Jawohl, eine Dampforgel. Ich habe sie eigenhändig gebaut, und sie spielt gut, nur, daß nicht alle ein Ohr dafür haben. Die -790-
Nachbarn daheim waren immer ganz verzweifelt, wenn ich von meinen Reisen heimkam. Diesmal aber nehme ich die Dampforgel mit; werden die sich freuen! Du ziehst mit dem Circus nach Norden, und ich bringe die Dampforgel mit nach Süden. Irgendwo in der Mitte treffen wir uns dann.« »Eine großartige Idee, Carl; ein fabelhafter Beitrag wird das sein. Mal sehen – welchen Wagen könnten wir entbehren?« »Nein, nein, ich brauche von dir nur ein Reitpferd. Dann komme ich schneller voran. In München kaufe ich mir dann einen richtigen Wagen.« »Schön. Dann nimm den Gaul, der immer Miß Auburns Wohnwagen zieht. Ich hatte ohnehin vor, ihr einen besseren zu kaufen. Wenn du nach Hause kommst, kannst du ihnen das Pferd schenken, es verkaufen, auf die Weide schicken, ganz wie du willst. Dann kaufe dir ein gutes Zugpferd für den Dampforgelwagen. Wann willst du abreisen, Carl?« »Wann immer du es für richtig hältst, Direktor.« »Nun ... ob schlecht besucht oder nicht, wo wir nun mal in Innsbruck sind, denke ich, wir bleiben wie geplant zumindest drei Wochen. Damit die neuen Tiere sich an uns gewöhnen und so. Und wenn du sicher bist, daß die Kapelle auch ohne dich zurechtkommt ...« »Tenez!« sagte Rouleau plötzlich. »Ich verdiene mir doch wohl mein Geld in diesem Laden, Messieurs, als Lehrer für die Artisten und Lehrer für die Jugend. Doch um als Artist mitzumachen, habe ich nur wenig Gelegenheit. Bumbum, mon ami, vor deiner Abreise mußt du mir unbedingt helfen, hier in Innsbruck zumindest einmal die Saratoga aufsteigen zu lassen.« Fragend sah Beck Florian an. »Warum nicht?« sagte dieser. »Weder der Aerostat noch der unerschrockene Aeronaut sollten brach liegen und verkümmern. Leider können wir vom Publikum keinen Extraeintritt verlangen, denn das Bild, das du bietest, ist ja für alle sichtbar – -791-
nur zu, Carl, tu Monsieur Roulette den Gefallen.« »Merci, messieurs«, sagte Rouleau. »Danach«, fuhr Florian fort, »und wenn du meinst, deine Kapelle schafft es auch ohne dich, Carl, kannst du abreisen. Autumns alter Klepper bringt dich bestimmt noch über den Scharnitzpaß. Aber wenn wir hier abbauen, dann folgen wir dem Inn und halten uns an die leichtere Route durch die Flußtäler. Und werden erst dann wieder aufbauen, wenn wir die bayerische Grenze hinter uns haben. In Rosenheim. Jawohl. Dort werden wir Station machen und bleiben, bis du dort eintriffst.« Am nächsten Morgen fuhr Goesle mit einer Reihe von Zirkusarbeitern sowie Jörg Pfeifer als Dolmetscher in die Stadt und suchte die einschlägigen Geschäfte auf, um zu erkunden, welche Materialien er für ein völlig neues Zelt bekommen könne – und außerdem hübsche Riemen und Leder für das Paradegeschirr der Pferde. Florian und Edge halfen Autumn obwohl sie sich dagegen verwahrte und erklärte, sie brauche keine Hilfe –, in der Kutsche Platz zu nehmen, und fuhren mit ihr zum Arzt. Wenn Florian die Veränderung in Autumns Aussehen bemerkt hatte, so hatte er sich doch fest vorgenommen, sich ihr gegenüber nichts anmerken zu lassen. Zwei Stunden später, die Florian und Edge zumeist kettenrauchend im Wartezimmer der Praxis von Dr. Köhn verbracht hatten, öffnete sich die Tür des Ordinationszimmers, und der Arzt trat zu ihnen. Die beiden standen höflich auf, und der Arzt wandte sich an Florian, welcher wiederum für Edge übersetzte: »Während Autumn sich anzieht, Zachary, möchte der Herr Doktor dir ein paar Fragen stellen.« Ängstlich fragte Edge: »Im Umkleidezimmer ist sie?« »Keine Angst. Der Doktor sagt, er hätte vorsorglich den Spiegel fortnehmen lassen.« Eindringlich sah der Arzt Edge an, das Wort jedoch richtete er an Florian. -792-
»Die verschiedenen Untersuchungsverfahren«, sagte Florian, »wie Spiegelung, Abtasten, Perkussion und Abhorchen haben keinerlei organische Störungen ergeben. Auch einen Schlaganfall hat sie nicht gehabt. Von einer Lähmung ist nichts zu erkennen. Autumn hat leicht erhöhte Temperatur und weist in der einen Hand eine neuralgische Empfindlichkeit auf. Wichtigster Anhaltspunkt für die Diagnose ist zugleich der, der am meisten ins Auge fällt – die Asymmetrie in Autumns Gesicht. Außerdem hat der Herr Doktor ein paar kaffeebraune Hautverfärbungen am Brustkorb entdeckt. Hat sie die immer gehabt, Zachary? Könnte es sich schlicht um kleine Muttermale handeln?« Edge schüttelte den Kopf. »Ich habe davon nie etwas bemerkt. Ihre Haut ist immer milchweiß gewesen. Und zwar überall. Aber in letzter Zeit ... nun ja, in letzter Zeit hat sie sich immer im Dunkeln ausgezogen ...« Florian teilte dies dem Arzt mit, der seine buschigen Brauen zusammenzog, nachdachte und dann wieder sprach. »Weißt du«, sagte Florian, »ob Autumn jemals in Asien gewesen ist? Irgendwo zwischen, sagen wir Ägypten und Japan?« »Nein. Wer ist das schon! Autumn hat mir nur gesagt, daß sie sich auf Rußland freut, weil sie nie weiter östlich gekommen ist als bis nach Wien.« Weitere Unterhaltung zwischen Arzt und Florian. »Weißt du zufällig, ob dort, wo Autumn gearbeitet hat, irgendwelche Asiaten aufgetreten sind?« »Sie hat das nie erwähnt. Aber Himmel, Florian, wir haben schließlich drei.« »Richtig, richtig. Das hatte ich völlig vergessen.« Er wandte sich an den Arzt, der sofort noch eine Frage stellte, die nach einem kurzen Zögern – wodurch es erst auffiel – mit -793-
dem Wort Aussatz endete. Florian fuhr zurück und fragte zurück: »Lepra, meinen Sie?!« Das konnte sogar Edge verstehen, und folglich schrak auch er entsetzt zurück. Der Arzt sah Florian erschrocken an und beeilte sich dann, noch irgend etwas zu sagen, woraufhin Florian erleichtert aufatmete und Edge erklärte: »Er sagt, er versucht bloß, bestimmte Möglichkeiten auszuschließen. So wollte er wissen, ob die Chinesen irgendwelche Anzeichen dieser gefürchteten Krankheit zeigten. Er sagt, Autumns Zustand weise einige oberflächliche Ähnlichkeiten auf, doch Lepra kann es gottlob unmöglich sein, denn es gibt ein sicheres und untrügliches Symptom für dieses Leiden – das, was der Herr Doktor Schlenkerfuß nennt, und woran sie nicht leidet.« Der Arzt führte das anschaulich vor. Er hob einen Fuß und ließ ihn mit den Zehen nach unten einfach baumeln, um dann tröstend zu Edge zu sagen: »Nein, nein. Das nicht.« »Danke«, sagte Edge mit heiserer Stimme. »Es ist immerhin gut zu wissen, daß sie so etwas Grauenhaftes nun doch nicht hat. Aber was fehlt ihr dann?« Jetzt entspann sich ein ziemlich langes Gespräch zwischen Florian und Köhn, nach dem Florian Edge berichtete: »Er gibt offen zu, daß er es nicht weiß. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Zum Beispiel die Leontiasis ossea, offenbar eine Art Knochenerkrankung. Oder die Heteroplasie, von der er sagt, es sei eine abnorme Gewebeveränderung. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, zumeist nervlicher Natur.« »Himmel! Kann er ihr denn überhaupt helfen?« Nach einem weiteren Wortwechsel zwischen Arzt und Florian machte Dr. Köhn kehrt und ging zurück in seine Praxisräume. »Er will irgendeine Medizin holen«, sagte Florian. »Die soll Autumn einnehmen, dabei drinnen bleiben und das Bett hüten. Keine Anstrengungen irgendwelcher Art, und keine Kälte. Er -794-
sagt, der Zustand wird länger anhalten, aber eine unmittelbare Gefahr besteht nicht.« »Keine unmittelbare Gefahr?« »Er möchte, daß sie, wenn wir nach Wien kommen, einen Spezialisten aufsucht, erklärt aber, damit habe es keine Eile. Was immer sie hat, ist chronisch, jedenfalls nicht akut und keinesfalls kritisch.« »Verdammt!« stöhnte Edge. »Wenn sie nicht stirbt oder ihr Zustand sich nicht verschlechtert, möchte ich, daß sie zumindest von ihren ständigen Kopfschmerzen befreit wird ... und der Unsicherheit und ihren Sorgen.« Der Arzt kam wieder ins Zimmer; Autumn begleitete ihn. Sie machte viel Gewese um ihr kastanienrotes Haar und sagte ein wenig keck zu Florian: »Sag dem guten Doktor, er läuft Gefahr, alle seine weiblichen Patienten zu verlieren, wenn er keinen Spiegel in seinem Umkleideraum aufstellt.« Florian tat, wie ihm geheißen, oder zumindest tat er so. Nach den nächsten Worten, die er mit Köhn wechselte, reichte der Arzt Autumn mehrere Briefchen sowie einen Zettel. »Dies Pulver«, sagte Florian, »ist ein ganz neues Medikament, noch im Stadium der Erprobung; jedenfalls steht die endgültige Bewertung noch aus. Trotzdem hält der Arzt es für ein wahres Wundermittel. Davon sollst du immer nehmen, wenn du Kopfweh oder Fieber oder irgendwelche Schwierigkeiten mit deiner Hand hast. Er garantiert Erleichterung.« Autumn sagte: »Naja, meine Lieben, das garantiert Mag mir auch mit ihren Pülverchen.« »Nun, dieses kommt jedenfalls aus dem Laboratorium eines Wissenschaftlers und nicht aus einem Hexenkessel.« »Frag ihn bitte, ob ich es gleich einmal probieren darf. Mein Kopf fühlt sich an wie ein Hexenkessel.« Der Arzt ging ein Glas Wasser holen. Autumn schüttete sich -795-
den Inhalt eines der Briefchen in den Mund und spülte mit dem Wasser nach. »Und auf dem Zettel«, fuhr Florian fort, »steht die Adresse von Herrn Doktor von Monakow, den du in Wien aufsuchen sollst. Er spricht fließend englisch und ist ein angesehener Myopathie-Spezialist und Neurologe. Was diese hochtrabenden Ausdrücke bedeuten, hat er mir nicht gesagt.« Sie dankten Dr. Köhn, und Edge bezahlte ihn. Dann kehrten die drei zurück in den Hofgarten. Auf der Rückfahrt bemühte Florian sich abermals um gute Stimmung und versuchte, Autumn aufzuheitern. »Nur eine Frau bringt es fertig, sich eine Krankheit zuzulegen, die selbst den angesehendsten Arzt in ganz Innsbruck in Verlegenheit bringt. Wärest du ein Mann, würdest du mit einem anständigen Tripper zu ihm kommen, den er auch gleich als solchen erkennt. Wirkt eigentlich das Pülverchen schon?« »Ja, weißt du«, sagte sie einigermaßen erstaunt, »es wirkt tatsächlich. Jedenfalls ist der Kopfschmerz fast weg.« Edge sagte: »Nun, das ist zumindest etwas!« Autumn klopfte ihm begütigend auf die Hand und sagte munter, doch unter Seufzen: »Nun, nun, mein Lieber. Wenn der Himmel einstürzt ... nun ... sind alle Spatzen tot« Als sie auf dem Circusplatz eintrafen, wartete dort bereits der junge Herr Mehrmann mit einem Stoß Papier unterm Arm. »Der Alltag hat uns wieder«, sagte Florian. »Zachary, würdest du bitte in meinem Wohnwagen zu uns stoßen, sobald du Miss Auburn abgeliefert hast?« Doch als Edge zu ihnen stieß, hatten Florian und Mehrmann ihre Transaktion offensichtlich bereits abgeschlossen. Florian unterzeichnete mit dem Stummel seines alten Zimmermannsbleistifts ein Papier nach dem anderen und schob es über den Tisch, wo der junge Mann gewissenhaft einen Haufen Goldstücke zählte. Nachdem das Ergebnis des Zählens -796-
offenbar zufriedenstellend war, sagte er: »Abgemacht«, nahm die unterzeichneten Papiere und überreichte Florian eine Handvoll Hefte. »Die Konuitenbüchlein der neu eingestellten Böhmen«, erklärte Florian Edge. »Wir bekommen für jeden der fünf neuen Wagen einen, der für ihren Inhalt auch gleich verantwortlich ist, und einen sechsten, der Abdullah helfen soll, die Elefanten und das baktrische Kamel zu treiben.« Nachdem der junge Mann allen die Hand geschüttelt hatte und gegangen war, gluckste Florian vergnügt und sagte: »Wir bekommen die ganzen Exoten für, wie ich annehme, nicht mehr, als die Hagenbecks den Wildhütern und Wilderern gezahlt haben, die ihnen die Jungtiere angeschleppt haben.« »Es sah aber trotzdem nach ziemlich viel Geld aus«, sagte Edge. »Können wir uns das denn überhaupt leisten?« »Wir sind ein Circus. Und als Circus müssen wir uns bemühen, besser zu sein als andere Circusse. Es gibt ein altes österreichisches Sprichwort, das du kennen solltest, Zachary, denn es wird den österreichischen Kavalleristen in den Mund gelegt, die berüchtigte Spieler sind. ›Man kann ohne Geld Karten spielen, aber ohne Karten nicht.‹ So, und würdest du bitte Dai Goesle informieren, daß er während der Nachmittagsvorstellung soviele Arbeiter nehmen kann, wie er will, um unsere neuen Kollegen und die Tiere herzubringen? Sag ihm, er soll Farbe für die neuen Wagen besorgen, damit sie genauso angestrichen werden können wie die anderen. Und sag Banat, daß er jetzt Herr über weitere sechs seiner Landsleute sein wird. Ob er sie in den Schlaf- und Transportwagen der anderen Böhmen unterbringen will oder nicht, ist seine Sache. Ich hingegen werde mit Abdullah und Ali Baba darüber reden, wie wir zusätzlich Heu, Hafer und Fleisch für die Raubkatzen bekommen können.« »Mach’ ich, Direktor.« -797-
»Und noch etwas, Zachary. Nein, zwei Dinge. Das Pferd, das euren Wagen zieht, ist schon ziemlich alt. Und Bumbum braucht ein nicht allzu stürmisches Reitpferd, das ihn bis nach München bringt. Gib ihm doch Autumns alten Klepper. Ich besorge dir Ersatz. Dir gefallen doch die Ostfriesen so gut – warum spannst du nicht einfach einen vor deinen Wagen?« »Danke, Direktor. Die Geste weiß ich zu schätzen. Und auch Autumn wird sich freuen.« Edge wartete. »Du sprachst von zwei Dingen ...?« »Hm, ja ...« Florian zwirbelte den Bleistiftstummel zwischen den Fingern. »Zachary, ich denke, du bist dir darüber im klaren, daß du Autumn nicht ewig über die Veränderungen im unklaren lassen kannst, die mit ihr vorgehen. Wenn der Zufall es will, steht sie früher oder später vor einem Spiegel. Und wenn sie dann ihr Gesicht sieht ...«
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4 Als die Nachmittagsvorstellung zu Ende war, hatten Goesle und seine Leute die Hagenbeckschen Tiere und die Böhmen in den Hofgarten geholt. Wie sich herausstellte, kannten die neuen Böhmen ihre Kollegen vom FLORILEGIUM bereits; irgendwann hatten sie alle schon mal bei ein und demselben Circus gearbeitet; sie brauchten sich also nicht erst lange aneinander zu gewöhnen. Als die neuen Leute die Käfigwagen und die am Halfter geführten Tiere hinter das Chapiteau brachten, watschelte Aleksandr Banat geschäftig hin und her und gab eine Flut trivialer und völlig überflüssiger Anweisungen von sich; er sonnte sich darin, jetzt über insgesamt siebzehn Untergebene zu herrschen. Nachdem die letzten Zuschauer den Circusplatz verlassen hatten und die Artisten aus ihren Kostümen geschlüpft waren, versammelten sich alle – auch die Betreiber der Buden und Stände –, um die neu erworbenen Tiere zu begutachten. Nur Carl Beck und seine Musikanten fehlten, denn Carl übte mit ihnen, wie sie ohne Kapellmeister spielen sollten. »Hab’ dir ja schon gesagt, Sahib Florian, öle Peggy wird sich freu’n, ’n Elefant zu seh’n«, sagte Hannibal und freute sich breit grinsend darüber, wie zart die beiden Dickhäuter sich ganz aufgeregt und leise schnaubend mit den Rüsseln erforschten und diese gelegentlich umeinander schlangen, als schüttelten sie sich freundschaftlich die Hand. »Öle Peggy muß gedacht ha’m, der einzigste und einsamste Elefant auf der ganzen Welt zu sein. Übr’gens, Mas’Sahib, was hat der neue eig’lich fürn Namen?« Florian sah auf der Liste nach, die Mehrmann ihm gegeben hatte. »Mitzi. Auf diesen Namen wird sie jedenfalls hören, Abdullah. Aber in der Manege – naja, das ist doch selbstverständlich, Brutus und Caesar, natürlich. Aber jetzt zu diesem Kamel – mal sehen, ach ja, das heißt Mustafa, und das geht auch für die Manege. Maggie soll es mit Fransentüchern, -799-
Kopfhalfter und vielleicht Kamelglocken ausstatten. Vielleicht macht sich auch eine Quaste hinten am Schwanz gut.« Verächtlich kräuselte Mustafa die lederigen Lippen. »He, Direktor«, rief Mullenax, der neben einem der Käfigwagen stand. »Wo du schon dabei bist, ihnen Namen zu geben, sag mir, wie ich diese beiden Viecher nennen soll. Du hast gesagt, der, der das Horn bläst, ist Kewwydee. Welcher aber ist es?« Hilflos sah Florian von einem der syrischen Bären im Käfig zum anderen. »Das mußt du einfach ausprobieren, Barnacle Bill. Und der, der’s besser kann, ist Kewwydee.« »Dann nenn’ ich den anderen eben Kewwydah, bloß damit ich sie auseinanderhalten kann. Einverstanden, Direktor?« »Selbstverständlich, Barnacle«, sagte Florian amüsiert. »Schließlich sind sie dein Eigentum.« Hannibal fragte: »Und was kriegen diese Bären zu fress’n, Sahib?« »Grade das hat bei den Bären was für sich, Abdullah: Bären fressen fast alles. Nur frisch muß es sein – jedenfalls nichts Getrocknetes wie zum Beispiel Heu. Wie früher mit deinen Schweinen, Barnacle Bill, mußt du in ihnen vor allem Resteverwerter sehen. Aber wo immer möglich, sollten wir ihnen auch frisches Obst und Gemüse besorgen; und du solltest ihnen gelegentlich auch mal einen Fisch vorwerfen. Bei der Ausbildung solltest du sie bei jedem Erfolg mit einem Stück Honigbrot belohnen. Bären lieben Honig.« Florian ging zwischen den Käfigwagen hin und her, sah in seiner Liste nach; die meisten Circusangehörigen folgten ihm. »Der Tiger heißt Radscha«, sagte Florian. »Die weiblichen Tiere Rani und Schiva. Alles gute bengalische Namen, nehme ich an. Die Strauße hingegen heißen Hänsel und Gretel.« Clover Lee fragte: »Und was ist mit diesen gräßlich aussehenden Hyänen?« -800-
Wieder sah Florian in seiner Liste nach, doch diesmal mußte er lächeln. »Anwalt und Notar. Nichts könnte für Aasfresser passender sein. Aber du brauchst dir die Namen nicht zu merken. Auf so etwas reagieren nicht mal Hyänen.« Vorm nächsten Käfig stehenbleibend, sagte er: »Tja, und was diese beiden Zebras betrifft ...« »Die würd’ ich gern Stars and Bars nennen – nach der hübschen alten Südstaatenflagge. Das heißt, falls du nichts dagegen hast, Direktor. Denn sieh mal, das eine hat so was wie ’ne Sternblesse auf der Stirn – und Streifen haben sie ja beide weiß Gott genug.« »Einverstanden. Und das kleine Zwergpferd wird hier als Rumpelstilzchen geführt.« »Das ist ein guter Name«, erklärte Jörg Pfeifer. »Den sollten wir behalten. Daraus läßt sich für Zanni und mich eine umwerfend komische Suada machen, wenn wir das Pferdchen in unsere Nummer einarbeiten.« »Übrigens, Fünffünf, dürfte ich dich bitten, dir auch eine gute Ansage für die Gaffer in der Tierschau auszudenken?« bat Florian. »Du weißt schon, was ich meine.« »Jaja. Bei diesen Tigern handelt es sich um Maneater, also um gefährliche Tiere, die Menschen anfallen. Ehe sie in Gefangenschaft gerieten, haben sie zwanzig afrikanische Schwarze gerissen und ...« »Schwarze Hindus, wenn ich bitten darf. Die Tiger kommen aus Indien. Und Caesar hat mit seinen Stoßzähnen ein Dutzend Elefantenjäger aufgespießt. Und Rumpelstilzchen ist das einzig überlebende Exemplar eines vorgeblichen Koboldspferdchens aus der Mythologie.« »Ach ja. Und ein Kamel ist natürlich ein Wüstenschiff aus der Sahara.« »Dies hier ist ein zweihöckriges Kamel aus Baktrien. Es stammt also nicht aus der Sahara, sondern aus der Wüste Gobi. -801-
Aber was soll’s, die Gaffer wissen’s ohnehin nicht besser. Und würdest du dafür sorgen, daß du ein passendes Kostüm trägst, Fünffünf? Maggie wird dir schon eines besorgen – mit Tropenhelm, Buschjacke und Reitstiefeln. Am besten hängst du dir bei der Ansage noch einen von Colonel Ramrods Karabinern um.« »Schon gut«, sagte Pfeifer gleichmütig. »Im Moment ist es aber an der Zeit, Monday ihren Unterricht im Seiltanz zu geben.« Er verschwand in Richtung Chapiteau, und Florian wandte sich an Mullenax. »Wo wir gerade bei der Wildheit der Tiere sind, Barnacle Bill. Bitte, laß dir gesagt sein, daß das nicht alles Unsinn ist, keineswegs. Solange diese Tiere dich und sich gegenseitig erst kennenlernen, solltest du sie mit der äußersten Vorsicht behandeln. Vor allem bei den Tigern sei auf der Hut, selbst wenn du meinst, daß sie schlafen. Wegen der Streifenzeichnung um die Augen herum kannst du nie ganz sicher sein, ob sie die wirklich geschlossen haben oder aber einen winzigen Spalt offenhalten und alles genau verfolgen. Die Bären dürfen den Käfigwagen nie ohne Maulkorb verlassen – und du darfst nie hineingehen, wenn sie keinen umhaben. Ein Maulkorb aus Riemen braucht sie am Tuten nicht zu hindern. Und hüte dich auch vor den Krallen ihrer Tatzen, selbst wenn die gekappt oder stumpf sind. Maggie soll dir einen besonderen Schutz aus Metall für deinen Schwanz machen. Wenn ein Bär nach einem Mann ausholt, versucht er, ihn zuerst bei den Hoden zu erwischen.« »Himmel!« sagte Mullenax. »O ja. Vor einem Bären sollte man sich weit mehr in acht nehmen als vor irgendeiner anderen Großkatze. Ein Bär kann dich zertrampeln, und zwar sogar unabsichtlich, denn so ein Bär sieht nicht besonders gut, was sich vor seiner Nase abspielt. Wenn du mit ihm arbeitest, halte dich immer gerade außerhalb seines Blickfelds.« -802-
»Huh?« »Halt dich immer rechts oder links von ihm – tritt ihm nie frontal gegenüber«, erklärte Florian geduldig. »Aber jetzt entschuldige mich, bitte. Ich muß mit Stitches reden.« Als er den Zeltmeister fand, war dieser gerade dabei, eine Reihe von Böhmen beim Zuschneiden der Leinwand für das Menageriezelt zu überwachen. Florian bedankte sich zunächst, daß Goesle die neuen Tiere so reibungslos hergeschafft hatte, und dann fragte er ihn: »Dai, wo du gerade dabei bist, die Zeltbahnen zuzuschneiden – wäre es dir wohl möglich, mir einen Gefallen zu tun und auch noch eine Wimpelleine zu machen?« »Warum nicht, Direktor – nur mußt du mir vorher sagen, was das ist.« »Eine Reihe von bunten Wimpeln, nebeneinander an einer Leine aufgezogen. Jeder Wimpel ein Dreieck, sagen wir: einsachtzig bis zwei Meter lang, die Längsseiten gesäumt und die Schmalseite als Hohlnaht gearbeitet, damit man eine Leine durchziehen kann. Unser chinesischer Künstler soll dann jeden Wimpel mit einem der Wunder unserer Schau bemalen.« »Kein Problem, Direktor. Hier bleiben viele Reste übrig. Aber jetzt noch mal was anderes. Um mir und meinen Leuten eine Menge Zeit und Mühsal zu ersparen, habe ich ein Sägewerk in der Stadt die Masten und Rondellstangen für dieses neue Zelt zuschneiden lassen. Ich weiß, wir sind in der letzten Zeit ziemlich verschwenderisch mit Geld umgegangen, und es kommt nicht viel rein, doch haben die Leute hier einen so geringen Preis verlangt, daß es töricht gewesen wäre, es sie nicht machen zu lassen. Dabei ist mir noch ein anderer Gedanke gekommen. Holz gibt es hier in den Alpen reichlich, und es ist entsprechend billig; wer weiß, ob das anderswo auch so ist. Warum lassen wir, solange wir hier sind, nicht auch gleich die Teile für die Klappstühle zuschneiden?« -803-
»Aha! Unsere Prominentenstühle. Endlich!« »Wenn Rücken, Sitze und Beine roh zugeschnitten werden, können meine Leute hinterher die Feinarbeit machen und sie zusammensetzen. Das geht auch unterwegs, wann immer wir ein bißchen Zeit haben.« »Das nenne ich eine lobenswerte Initiative, Dai. Durch den Preisaufschlag, den wir für die besten Plätze nehmen, amortisiert sich früher oder später der Anschaffungspreis. Nur zu!« Florian überließ Goesle seiner Arbeit und trat durch den Hintereingang in das Chapiteau, um zu sehen, wie hier das Repertoire durchgenommen und neue Nummern gearbeitet wurden. Dach und Seitenwände wogten förmlich, so viel Aktivität herrschte hier. Der Kapellmeister übte mit der Kapelle, hoch oben am Trapez wurde die mit der Longe gesicherte Sunday von Maurice und Paprika in den verschiedensten Stellungen hin- und hergeschwungen, während unten in der Manege Jules Rouleau Ali Baba verschiedene neue Möglichkeiten beibrachte, seinen schlangenhaft geschmeidigen Körper zu Knoten zu schlingen. Außerhalb der Piste grunzte und ächzte der Quakemaker über irgendwelchen neuen Geräten für Kraftakrobaten, die er in seine Nummer einarbeiten wollte. Yount hatte vier weitere Kanonenkugeln aufgetrieben – massive, nicht hohl, zwei davon mit einem Durchmesser von zwanzig bzw. fünfundzwanzig Zentimetern. Außerdem hatte er sich zwei kräftige Eisenstangen mit Gewinde am Ende besorgt, die er in zwei der weichen Bleikugeln hineinschraubte. So verfügte Quakemaker jetzt über zwei Paar in keiner Weise frisierte Hanteln, die in der Tat über hundertachtundzwanzig Pfund bzw. zweihundertsechsundfünfzig Pfund wogen. Jetzt probierte er verschiedene Möglichkeiten aus, diese schweren Gewichte zu heben – aus der reinen Rückenlage heraus, dann aus sitzender Position und schließlich aus der Hocke heraus –, indem er zunächst die leichtere, dann die schwerere und zuletzt -804-
beide Hanteln stemmte. »Con permesso, signor governatore«, sagte der Clown Zanni, der mit irgend etwas Schlaffem überm Arm an Florian vorbei ins Zelt gekommen war. Er ging zu dem mit Ali Baba arbeitenden Rouleau hinüber und borgte sich den Jungen von ihm aus. Was Zanni überm Arm trug, stellte sich als zwei armlange Gummischläuche heraus, die jeweils in einen weißen Handschuh endeten wie jene, die Ali Baba zu seinem Kostüm als extrem schwarz geschminkter Clown trug. Zanni zeigte ihm, wie man Handschuhe und Schläuche anlegte und zog dann seine Hemdsärmel herunter, so daß nur seine behandschuhten Hände hervorschauten. Dann gingen sie zum Quakemaker hinüber, der sich gerade von seinen Anstrengungen ausruhte. Sie wechselten ein paar Worte, und der Kraftjongleur nickte zustimmend. Ali Baba beugte den Rumpf, packte mit beiden Händen eine Hantel, markierte übermenschliche Anstrengung, verzog das Gesicht und richtete sich dann ganz ganz langsam auf. Der Kraftmensch brach in schallendes Gelächter aus, von dem im allgemeinen Lärm freilich nichts zu hören war. Ali Babas Handschuhe wiesen drinnen Drahtklammern auf, so daß sie sich an den Hanteln verhakten, während Ali Baba sich langsam aufrichtete, die Hände aus den Handschuhen herausrutschten und die schwarzen Gummischläuche aus seinen Ärmeln herauskamen, was wirkte, als ob seine dünnen schwarzen Arme in die Länge gezogen würden. Zanni hob den Jungen sogar in die Höhe und immer höher, über den eigenen Kopf, so daß die schwarzen Arme dünner und immer länger wurden. »Wirkt doch umwerfend komisch, oder?« fragte Zanni. »Yassuh«, sagte Ali Baba kichernd, um sich dann an Yount zu wenden und zu fragen: »Kann ich das machen, Mr. Quakemaker – bei jeder Vorstellung, wenn du mit’n Hanteln fertig bist?« »Das will ich wohl meinen«, sagte Yount immer noch lachend. »Da brech’ ich mir einen ab, um den Leuten zu zeigen, -805-
was ein richtiger Kraftakt ist, und da kommst du und machst dich über mich lustig und heimst vermutlich doppelt soviel Applaus ein wie ich. Aber trotzdem – es ist urkomisch. Mach dir nichts aus meiner beruflichen Eifersucht. Nur zu, Quincy.« Zwischen den beiden Masten, jedoch nur einen halben Meter über dem Boden war das Seil aufgespannt, auf dem sich Monday entlangschob, und Fünffünf mußte, obwohl er dicht neben ihr stand, schreien, um sich beim allgemeinen Lärm Gehör zu verschaffen. »Da Fräulein Auburn eine klassische Nummer auf dem Seil bringt und du nicht mit ihr konkurrieren willst, mußt du dir auf dem Seil was Komisch-Groteskes einfallen lassen.« Monday schrie zurück: »Ich möcht’ aber viel lieber klassisch und anmutig und schön sein. Komisch sein, das kann jede.« »Ha! Denkst du! Ich hab’ die Seiltänzerei binnen weniger Wochen erlernt, und jetzt strenge ich mich schon über dreißig Jahre an, wirklich komisch zu sein. Mein wertes Fräulein, Sie werden sich bis auf die Knochen schinden und alle Ihre Anmut und Schönheit einsetzen müssen, um wirklich komisch zu sein.« »Wenn du meinst«, sagte Monday, freilich ohne große Begeisterung. »Auf dem Boden wirst du den Grotesktanz üben, wie wir das nennen. Du wirst lernen zu stolzieren wie der Storch im Salat, das Hühnertaumeln, den Krebsgang, den Schlurf-Hupf, den Schleppgang und all die anderen Bewegungsarten. Und dann wirst du sie aufs Seil übertragen. Jetzt komm runter. Mach mir nach! Das hier ist der Storchenschritt. Komm! Geh so, wie ich es tue.« Monday tat es, beschwerte sich jedoch: »All die weiß’n Mädchen dürf’n ihre hübsche Gestalt rumschwenk’n; nur ich soll rumkrauch’n wie ’ne krumme Gurke.« »Still! Du bist ein Storch. Den Schwanz mehr raus! Das ist schon besser. Und jetzt rauf aufs Seil und das gleiche noch mal.« -806-
Dreimal versuchte Monday das Storchenstelzen auf dem Seil, und jedesmal rutschte sie ab. »Das liegt nur daran, daß ich meine Füße nicht seh’n kann«, protestierte sie, »wenn ich so verrückt rumlauf’.« »Deine Füße hast du überhaupt nie anzusehen; das ist für dich tabu. Richte den Blick auf den weißen Markierungsfleck auf dem Mast da drüben.« Monday seufzte tief auf, versuchte es aber noch mal und war nicht wenig überrascht, als ihr der Storchenschritt – ohne herunterzufallen – gelang. »Viel besser«, sagte ihr Lehrer. »Wesentlich besser sogar. Nur den Schwanz mußt du mehr rausdrücken. Vergiß nicht, du bist ein Storch! Mehr Schwanz!« »Mister Meister«, ließ Monday sich bei konzentriert zusammengepreßten Zähnen vernehmen, »könntest du zumindest aufhören, das meinen Schwanz zu nennen.« »Deine Schwester«, sagte Paprika von der Brücke des Trapezes herab, »macht sich beim Seiltanzen sehr gut.« Sunday senkte den Blick und sagte: »Ja, ich weiß.« »Sie hat jetzt auch die Figur einer Frau – und zwar eine sehr gute. Sag mal, ist sie eigentlich immer noch dabei, sich selbst zu befriedigen?« Sunday machte ein verwirrtes Gesicht und sagte aufrichtig: »Ich weiß nicht.« »Ein hübsches Mädchen sollte es nicht nötig haben, es sich selbst zu machen. Was sie braucht, ist ein Liebhaber.« Lachend sagte da Sunday: »Derjenige, den sie haben möchte, das ist Foursquare John Fitzfarris.« »Und du, Liebling, du möchtest Zachary Edge. Zu schade, daß er bereits vergeben ist.« »Er hat ein festes Verhältnis, aber er ist nicht verheiratet.« »Aha. Du wartest also ab. Jawohl, du bist jung und kannst es dir leisten zu warten. Aber wenn der richtige Zeitpunkt da ist, -807-
stehen deine Chancen vielleicht besser, wenn du dich auf mehr verstündest als auf die Kunst des Trapezes. In Liebeskunst und Liebeslisten zum Beispiel. Ich könnte dir auch noch anderswo als in der Luft eine gute Lehrerin sein.« »Davon habe ich gehört«, erwiderte Sunday kühl. »Nein, vielen Dank.« »Brr!« machte Paprika und tat so, als schüttelte es sie. »So was nennt man eine kalte Schulter gezeigt bekommen. Aber ich verstehe mich darauf, noch die kälteste Schulter zu erwärmen. Und andere Dinge auch.« Doch Sunday schwang hinüber zur anderen Brücke, wo Maurice ungeduldig mit dem Fuß klopfte. Er sprach ein paar Worte zu Sunday, nahm ihr die Trapezstange ab, schwang hinüber zu Paprika und sagte ihr vermutlich das gleiche: »Bitte, macht euer Mädchengeschwätz unten am Boden ab. Hier oben wird gearbeitet.« »Schwer gearbeitet, ja«, murmelte Paprika. Dann löste sie den Blick von Sunday, sah Maurice an und sagte: »Du hast mir angeboten, deinen Wohnwagen mit dir zu teilen. Doch dann hast du nie wieder davon gesprochen. Du strengst dich nicht besonders an, um zu bekommen, was du willst.« »Nun, du hast ja wohl nicht vergessen, wie überaus wirksam du in dieser Beziehung jeden Ehrgeiz in mir erstickt hast, cherie.« »Aber wie du gesagt hast, une hirondelle ne fait pas ... Hast du jemals an deux hirondelles en meme temps gedacht?« Bei diesen Worten sah sie über den Abgrund hinweg Sunday an. »Auf magyarisch nennen wir das rakott kenyer, und in deiner Muttersprache, glaube ich, sagte man: un homme en Sandwich.« Er sah dorthin, wohin auch sie sah, dann wandte er den Blick wieder ihr zu. »Ich bin Franzose, Paprika, und daher tolerant den unterschiedlichsten Neigungen anderer gegenüber. Aber träume nicht davon, deine Partnerin zu umwerben. Damit beschwörst du -808-
nur Unheil herauf.« »Du hast auch mich umworben, Maurice.« »Aber da ging es nur um uns allein. Worauf du jetzt hinauswillst, das ist ein Dreiecksverhältnis, und selbst in französischen Lustspielen ist das ein Clichee für Unheil und Schwierigkeiten. Kannst du deinen Ehrgeiz nicht auf etwas außerhalb des Chapiteau richten? Warum nicht auf eines dieser drallen Mädchen, die in den Verkaufsbuden arbeiten?« »Utälatos! Diese Bauerntrampel?« sagte sie und verzog verächtlich den Mund. »Nein, Maurice, manchmal denke ich, ich werde nachgerade alt und böse – wie die alten Männer, die um Schulhöfe herumstreichen. Ich scheine neuerdings Lust auf ... auf Neues, Frisches und Unerwecktes zu haben.« »Alt bist du nicht. Böse vielleicht. Und pervers ohne Zweifel. Wenn du liebtest – wenn du lieben könntest – mais non. Da ich weiß, wie du bist, ist es dir ausdrücklich verboten, diesen Kurs weiter zu verfolgen. Wenn wir drei hier oben überleben sollen, müssen wir einander lieben, oui, aber nicht so lieben, wie du meinst, hast du mich verstanden? Hier oben bestimme ich, wie die Luft ist, und ich will, daß sie sauber bleibt.« Die Augen immer noch nicht von Sunday lassend, murmelte Paprika. »Verboten, eh?« – und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. »Jetzt kein Wort mehr. Nimm die Stange in die Hand. Zeig mir den Passe ventre. Der hat heute nachmittag alles andere als gut geklappt.« Jeden Abend, wenn Edge nach der Vorstellung in den Wohnwagen zurückkehrte, um Autumn bei der Bereitung des gemeinsamen Abendessens zur Hand zu gehen – sie waren jetzt schon seit langer Zeit nicht mehr mit den anderen in ein Hotel oder ein Gasthaus gegangen –, fragte sie ihn wißbegierig nach allen Einzelheiten dessen aus, was sich unter der Circuskuppel getan hatte, und er erstattete pflichtschuldigst Bericht: -809-
»Naja, dieser Hohlkopf von Pavlo scheucht seine Hunde und seine Familie nach wie vor nach jeder Vorstellung schneller zur Manege hinaus; würd’ mich nicht wundern, wenn er auf eine echte Verschwindensnummer hinarbeitete ... Das war ein großer Fehler von mir, ihn auf mögliche Rivalen hinzuweisen.« An einem anderen Tag berichtete er wohl: »Fitz hat einen fabelhaften Ersatz für Clover Lee und die Simms-Mädchen gefunden. Die gutaussehende Griechin posiert jetzt als jungfräuliche Amazone in den Klauen des Drachens Fafnir. Dabei tritt sie so nackt auf, daß ihre – naja – ihr Duweißtschon nur durch die geringelte Python verdeckt wird; dabei bewegt die sich auch noch die ganze Zeit über. Ich hab’ keine Ahnung, wie sie und die Schlange das fertigbringen. Aber eines weiß ich. Wenn sie das außerhalb des Zeltes täte, würde sie überall wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses oder wegen unzüchtigen Verhaltens eingesperrt werden. Sie bewegt sich, als würde sie von einem Mannsbild hergenommen. Trotzdem ist sie hübsch anzusehen. Die Schlange tanzt praktisch zur Melodie der Quetschkommode an ihr rauf und runter und um sie herum.« An einem anderen Tag wußte er zu berichten: »Die neuen Tiere marschieren bei der Parade großartig mit, und beim Finale auch. Selbst die Zebras, solange ich sie fest am Halfter führe. Und neulich abend hat Abner im Menagerie-Zelt gesehen, wie Peggy Mitzi unter den Bauch gekrochen ist – bloß um sich den Rücken zu scheuern. Jetzt hat Abner eine eigene Nummer daraus gemacht. Er kündigt ›London-Bridge‹ an und läßt die Elefanten das in der Manege tun – den Rücken am Bauch der anderen scheuern. Abner kann wirklich gut mit den Tieren umgehen; so allmählich hat er auch das Vertrauen der Tiger und Bären gewonnen. Wenn er doch bloß nicht immer eine ganze Flasche leerte, bevor er zu ihnen in den Käfig muß – aber er sagt: Was wäre wohl, wenn ich ohne das reinginge?« »Könnte ich die Vorstellung doch bloß sehen«, sagte Autumn. »Es ist soviel dazugekommen, seit ich krank geworden bin. Ich -810-
weiß eigentlich nicht, warum ich nicht rein soll. Die Medizin hat mir die Kopfschmerzen völlig genommen. Selbstverständlich weiß ich, daß ich noch nicht wieder auftreten kann, weil ich das Seil noch immer nicht richtig in den Fokus bekomme. Aber weiter entfernt sehe ich wieder völlig normal.« »Und was ist ... mit diesen Verfärbungen auf der Brust?« »Die sind zwar immer noch da, aber es sind nicht mehr geworden, und größer auch nicht. Tut mir leid, daß der Arzt dir davon was gesagt hat.« »Ach, hör auf, Autumn; wir beide haben doch wirklich alles miteinander geteilt, seit wir zusammen sind. Und es gefällt mir überhaupt nicht, von dritter Seite etwas über dich zu erfahren. Es fuchst mich eigentlich immer noch, daß du angefangen hast, die Lichter zu löschen, nur damit ich es nicht merke.« »Ich hatte aber Angst, du würdest meinen, es wären solche bläulichbraunen Flecken, wie alte Frauen sie bekommen. Und mich, weil ich allmählich alt werde, fallen läßt.« Das war als Lüge so durchsichtig und für jemand von Autumns Intelligenz so einfallslos, daß Edge sich nicht einmal die Mühe machte, darauf hinzuweisen, daß sie damit schließlich auch seine Intelligenz, seine Liebe und seine Treue beleidigte. Er sagte nur: »Der Arzt hat gesagt, du sollst dich vorsehen, daß du dich nicht erkältest. Aber im Moment wird es doch erst nach dem Dunkelwerden kalt. Wenn du dich warm anziehst, könntest du dir gefahrlos die Nachmittagsvorstellung ansehen. Und dich zwischen das Publikum setzen, wenn du sowieso aus der Ferne besser siehst.« »Ach, könnte ich das!« sagte sie inbrünstig. »Darf ich wirklich, Zachary?« »Warum eigentlich nicht? Nur, tu mir den Gefallen und setz den Hut mit dem Schleier auf. Wenn dieser irre Pavlo Smodlaka dich unter den Zuschauern auf dem Gradin entdeckt, wäre er -811-
überzeugt, ausspioniert zu werden – und daß ich dahinter stecke. Treiben wir ihn nicht vollends in den Wahnsinn!« »Alles, was du willst, Liebster«, sagte Autumn und küßte ihn. Doch auch an diesem Abend löschte sie, wie es in letzter Zeit ihre Gewohnheit geworden war, die Lampen, ehe sie sich zum Schlafengehen entkleidete. Edge enthielt sich jeder Beschwerde und jeden Kommentars. Er empfand das nachgerade sogar als angenehm. Autumn im Dunkeln zu lieben, setzte ihn instand, sich einzubilden, er liebe die strahlend schöne und makellose Autumn jener anderen Nächte, die jetzt so lange her zu sein schienen. »Ooooh, aber das ist ja großartig!« Autumn schnappte nach Luft, als sie am nächsten Nachmittag am Zugang zu dem von Buden und Verkaufsständen gesäumten Weg stand, der zum Zelteingang führte. »Aber Zachary, so prächtig habe ich den Zugang noch bei keinem Circus gesehen!« Autumn war warm in Mantel, Shawl, Handschuhe und hohe Stiefel gekleidet. Vom Rand ihres breitrandigen Panamahutes hing ein Reitschleier herunter, dessen unteren Teil sie sich in den Kragen gestopft hatte; das Gesicht dahinter war nur ein schwaches Glühen. Auf Edges Bitte hin war Florian zuvor die Reihe der Buden abgegangen und hatte die Betreiber – sehr zu deren Verwunderung – aufgefordert, alle Spiegel wegzunehmen, die sie in ihren Auslagen stehen hatten. Dabei hätte Autumn sie vermutlich überhaupt nicht bemerkt; dazu war sie viel zu sehr gefesselt von all dem Neuen, das es sonst auf dem Circusplatz zu sehen gab. Neben den Wimpeln und Plakaten, auf denen die Waren der Stände angepriesen wurden – heiße Würstchen und Bier, Kuckucksuhren und dergleichen –, ließ das FLORILEGIUM jetzt seine eigene Wimpelleine flattern, die von der Vorderseite des Chapiteau bis zum Anfang des Sonnensegels gespannt war. Der chinesische Maler hatte bewiesen, daß er sich zwar auf die -812-
Anatomie von Mensch und Tier gleichermaßen schlecht verstand, doch das hatte seiner Phantasie und seiner Palette keinen Abbruch getan. In ebenso leuchtenden wie unirdischen Farben wurde auf dem einen Wimpel ein furchterregend mit Reißzähnen, krallenbewehrter und mit zerzauster Mähne ausgestatteter Löwe dargestellt, der den Urwald mit den blutigen Resten schwarzer Afrikaner sprenkelte; auf einem anderen feuerte Colonel Ramrod – schlitzäugig dargestellt – ganze Vulkane aus Flammen und Rauch aus den Pistolen ab, die er in der Linken wie der Rechten hielt, wobei er eine Spur von in ihrem Blut liegenden und von Kugeln durchsiebten Indianern in der Wüste hinterließ; auf einem dritten jonglierte ein juwelenstrotzender Hindu mit brennenden Fackeln, während er selbst auf den craquelierten Stoßzähnen zweier Elefanten getragen wurde; auf noch einem anderen Wimpel waren die drei Chinesen selbst zu sehen, wie sie an ihrer leuchtendgelben Hautfarbe erkennbar – im Schulterstand, schräg auf einer Schulter stehend und überquer Verrenkungen machten, an die selbst sie sich noch nicht gewagt hatten ... und so weiter: alles in allem acht Wimpel, die auf schrille und lautstarke Weise um Aufmerksamkeit buhlten. Sir Johns Zeltanbau, der sich seitlich an das Chapiteau lehnte, warb mit einem eigenen Banner, auf dem eine äußerst voluminöse und unbekleidete, mit unsäglich strotzenden Brüsten ausgestattete Frau sich darbot die ausgeprägten Brüste weißer Frauen hatten den asiatischen Künstler offensichtlich in Angst und Schrecken versetzt –, der die Augen aus den Höhlen quollen und die den Mund im Schrei aufgerissen hatte, da ihr von einem reptil- und vogelartigen, löwenähnlichen geflügelten und lüstern dreinblickenden Drachen die Luft abgedrückt wurde, während er sie gleichzeitig mit seinem feurigen Atem bestrich. Der feuerspeiende Drache war die weitaus gelungenste Tierwiedergabe auf allen Wimpeln. Auf der anderen Seite des Chapiteau stand das neue, wie die -813-
anderen Zelte grün und weiß gestreifte Menageriezelt, zu dem Edge Autumn jetzt führte. Beglückt nahm sie das vielerlei Erinnerungen wachrufende Duftgemisch von Elefanten, Raubkatzen, Pferden, warmem Heu, Futtereimern, Sägemehl und neuer Leinwand auf. »Die Gaffer, die schon eine Eintrittskarte haben, aber sich nicht an den Buden und Verkaufsständen aufhalten wollen, können vor jeder Vorstellung hier hereinkommen und sich umsehen«, berichtete Edge. »Sind genügend Zuschauer beisammen, gibt Jörg Pfeifer seine Suada von sich hauptsächlich läßt er sich darüber aus, was die Tierschau insgesamt gekostet hat, wieviel Mühe und Arbeit damit verbunden ist und wieviele Menschenleben sie bereits gekostet hat.« »Und was hat der ganze Spaß gekostet?« »Das will Florian mir nicht verraten. Ich nehme an, daß er einen Teil bezahlt und für den Rest einen Schuldschein ausgestellt hat. Die Hagenbecks kennen ihn und vertrauen ihm.« Er führte Autumn ins Zelt hinein und machte sie mit den in Käfigen gehaltenen oder angehalfterten Neuankömmlingen auf der anderen Seite der Seilbegrenzung des Mittelgangs bekannt: Mitzi-Caesar, Kewwydie und Kewwyda – diese Namen mußte er erläutern –, Hänsel und Gretel, die Rechtsverdreher-Hyänen und Radscha, Rani und Schiva. »Sind diese Tiger nicht hinreißend!« ließ Autumn sich begeistert vernehmen. »Wir Menschen bilden uns ein, wir wären die Krone der Schöpfung, dabei sind sie es. Die Raubkatze im Dschungel, die Hauskatze, jede Art Katze ist allen anderen Tieren überlegen.« »Nun mal langsam«, sagte Edge schneidend. »Wir Menschen sind schließlich nach dem Bilde Gottes geschaffen.« Doch dann tat es ihm leid, das gesagt zu haben; ihm fiel ein, wie Autumn einmal ausgesehen hatte. Doch sagte er nur: »Den Katzen ist Gott schnuppe. Sie verehren nichts und -814-
niemand und sind auch auf niemand neidisch. Wenn das keine Überlegenheit ist, möchte ich mal wissen, was dann?« Die Pferde standen am anderen Ende des Zelts; Clover Lee war dabei, ihren alten Apfelschimmel Bubbles zu striegeln. Ein wenig verlegen begrüßte sie Autumn; offenbar brachte es sie durcheinander, Autumn so vermummt zu sehen, daß man sie kaum noch erkannte. Doch als Autumn mit ihrer gewohnten klaren Aussprache antwortete, erkundigte Clover Lee sich freimütig nach ihrer Gesundheit und brachte die Hoffnung aller Kollegen zum Ausdruck, der Star ihrer Show möge bald wieder unter ihnen weilen. »Danke. Das hoffe ich selbst auch«, sagte Autumn. »Die Menagerie ist großartig, findest du nicht auch, Clover Lee? Allerdings wird es wohl lange dauern, ehe sie sich bezahlt macht, oder?« »Nun«, meinte das Mädchen grinsend, »du kennst ja Florian. Wenn er mit seinen Finanzen nicht irgendwo zwischen Himmel und Erde hängt, hat er das Gefühl, nicht richtig lebendig zu sein.« Edge sagte: »Ja; und jetzt kauft er noch einen großen Wagen und schwere Zugpferde. Wie sich herausgestellt hat, brauchen wir die, um die Futtervorräte zu transportieren – und die neuen Klappstühle, falls wir die bekommen.« »Und unsere europäischen Kollegen liegen ihm ständig in den Ohren, daß wir unbedingt einen aufrollbaren Lattenzaun brauchten, wie die anderen europäischen Circusse ihn haben«, sagte Clover Lee, »um den gesamten Zeltplatz damit abzuzäunen. Es stimmt schon, daß viele sich reinschleichen, ohne zu bezahlen, und das fuchst vor allem Banat. Aber Horian sagt, so ein Zaun ist einfach zuviel, ihn dauernd mit sich rumzuschleppen.« Edge und Autumn verließen die Menagerie und betraten das Chapiteau durch den Vordereingang. Oben auf dem Podium war -815-
Bumbum-Beck mit seiner Kapelle gerade beim Instrumentestimmen; als er sie sah, griff er spontan nach einem Horn und spielte zur Begrüßung ein paar Takte von ›Greensleeves‹ ; Autumn winkte grüßend hinauf. Wo sie schon mal dabei war, hielt sie den Kopf weiter in den Nacken gelegt und schaute sehnsüchtig hinauf in die Circuskuppel, bis Edge sie sanft zum Weitergehen drängte. Goesle und seine Männer hatten bis jetzt noch keine Klappstühle zusammengebaut, und so dienten als Prominentensitze vorläufig weiterhin die Bänke unmittelbar vor der Piste. Edge ließ Autumn auf einer dieser Bänke Platz nehmen und blieb bei ihr, bis es für ihn an der Zeit war, sich zu überzeugen, daß die gesamte Truppe zur Parade angetreten war und die Vorstellung beginnen konnte. Während der Vorstellung schaute er häufig und angstvoll immer wieder dorthin, wo Autumn unter dicken Bürgern mit ihren dicken Ehefrauen und pausbäckigen Kindern saß. Doch offensichtlich fühlte sie sich wohl. Sie klatschte genauso begeistert wie die Gaffer, und wiewohl Edge ihr Gesicht nicht sehen konnte, wußte er, daß sie lächelnd die vielen neuen Nummern und die raffinierten Verbesserungen bei den alten Nummern registrierte. Abdullah jonglierte und tanzte auf Zehenspitzen zwischen einem Dutzend aufgestellter Bierflaschen, wobei er absichtlich immer wieder eine umstieß, bis er schließlich mit einer Zehe auf einer einzigen Flasche balancierte und gleichwohl weiterhin ungerührt mit zerbrechlichen Eiern und schweren Hufeisen gleichzeitig jonglierte. Zanni hatte eine Balancierleiter in seine Nummer eingeführt, wie Monsieur Roulette sie früher gehabt hatte, nur, daß es sich hier um eine Leiter mit losen Sprossen handelte. Zanni stellte sie ohne Stütze aufrecht hin und hielt sie trotz allen Schwankens gerade, obwohl er gleichzeitig verschiedene akrobatische Kunststücke daran vorführte. Dann fiel eine Sprosse nach der anderen bei dem Versuch, sie zu betreten, herunter, so daß er auf der immer klapperiger und -816-
gefährlicher schwankenden Leiter in immer schwindelndere Höhen hinaufgetrieben wurde, bis er schließlich auf der allerletzten Sprosse balancierte und herumsprang. Als auch diese herausbrach, stürzte er mit ihr in die Tiefe, freilich nur, um sich mitten im Sturz die aufrechten Holme der Leiter unter die Arme zu klemmen und mit Riesenschritten wie auf Stelzen um die Manege zu stolzieren. Clover Lee führte ihre Nummer ohne Sattel auf der bloßen Pferdekruppe jetzt mit einem Schwarm weißer Tauben vor. Sie hatte ein Dutzend von ihnen auf einem Markt erstanden und dann eine ganze Woche lang mit einem Umhang geprobt, in dessen Falten sie Weizenkörner versteckt hatte. Die Tauben hatten im Laufe dieser Woche gelernt, flügelschlagend hinter der Reiterin herzufliegen, um an die Körner heranzukommen, und als sie den Umhang am achten Tag fortließ, waren die Tauben ihr aus lauter Gewohnheit gefolgt. Jetzt, da Clover Lee auf Bubbles um die Manege sprengte, dabei Balletthaltungen einnahm und Jetes und Entrechats vorführte, wurde sie von den weißen Tauben umflattert wie von einem Umhang; sie folgten ihr dichtauf und landeten, wenn sie stehenblieb, flügelflatternd auf Armen und Schultern. Brutus führte unter Abdullahs Kommando ihre alte Nummer vor, dann brachte Barnacle Bill Caesar herein, und Florian sagte auf deutsch »Die Brücke über den Inn« an – welchselbige Brutus und Caesar bildeten, indem sie ihren Rüssel umeinanderschlangen, und Sunday Simms auf diesem Brückenbogen zu den Klängen der Kapelle einen kleinen Walzer tanzte. Als nächstes kam von Florian die Ansage: »Die Tower Bridge stürzt ein.« Woraufhin die Walzerklänge von einem Tusch unterbrochen wurden, die Elefanten plötzlich auseinander gingen, Sunday einen Hüpfer machte und anmutig auf Caesars Kopf posierte, während Brutus unter dessen mächtigem Bauch hin- und herkroch. Sunday war jetzt auch an der Trapeznummer beteiligt, was -817-
sich jedoch hauptsächlich darauf beschränkte, daß sie auf einer Brücke hoch oben künstlerische Stellungen einnahm und der Trapezstange einen Schubs in Richtung auf Maurice und Paprika versetzte, sobald diese laut danach verlangten und »Houp läl« riefen. Alle drei Trapezartisten waren jetzt, wie Maurice vor kurzem vorgeschlagen, in glitzernde Trikots von unterschiedlichen Blautönen gekleidet – Maurice nach wie vor in Elektrischblau wie ein Blitz, Paprika in Dunkelblau, damit ihr orangefarbenes Haar besonders zur Geltung kam, und Sunday ganz in Hellblau, um die Fülle ihres jettschwarzen Haars zu betonen. Kurz vor dem Ende der Trapeznummer durfte Sunday etwas vorführen, das alle drei Blautöne zusammenbrachte. Maurice und Paprika schlossen eine Folge von akrobatischen Übungen mit einem Kniehang ab. Paprika schwang nahe an Sundays Brücke heran, streckte Sunday die Arme entgegen, die diese ergriff, so daß die Mädchen sich gegenseitig an den Handgelenken gepackt hielten und Sunday in einem schwungvollen Bogen Maurice entgegenflog. Das Publikum hielt den Atem an, als sie mitten in der Luft plötzlich den Griff wechselte und nicht mehr an Paprikas, sondern an Maurice’ Gelenken hing, dieser sie in einem weiteren Bogen in die Höhe schwang und sie scheinbar mühelos auf der gegenüberliegenden Brücke landete. »Ach, wenn ich doch bloß«, vertraute Sunday Autumn verlegen an, als diese in der Pause ging, ihr zu gratulieren, »beim Umklammern der Handgelenke nicht auch die von Miss Paprika berühren müßte.« »Ach, du liebe Güte«, sagte Autumn. »Hat sie es jetzt auf dich abgesehen? Nun, darüber sollte man sich wohl nicht wundern. Du bist fast noch ein Backfisch – dabei bist du von einem hübschen Kind längst zu einem schönen jungen Mädchen herangewachsen. Ich nehme an, du hast – hm keinerlei Neigung in Richtung Paprika, oder?« Sundays zimtfarbene Wangen färbten sich leicht rosig, doch -818-
bemühte sie sich, höchst weltgewandt zu erscheinen. »Was sie mir angetragen hat ... ich meine, die Einzelheiten ... sie behauptet, ich würd’ sie genießen. Vielleicht stimmt das ja. Sie muß es schließlich wissen.« »Aber?« sagte Autumn. »Aber ich würde mir ... nun ja, diese Dinge ... lieber für einen Mann aufsparen, wenn ich groß genug bin, einen zu haben. Miss Paprika sagt, bis es soweit ist, sollte ich mich ruhig amüsieren, das würde später überhaupt nichts ausmachen. Weder was mich betrifft, noch ... noch einem Mann. Stimmt das wirklich, Miss Autumn?« »Ich kann zwar nicht aus Erfahrung sprechen, weiß allerdings, daß es in den besten Internaten gang und gäbe ist, selbst in Klosterschulen die Mädchen hinterher trotzdem gute Ehen führen. Warum fragst du? Überlegst du, ob du ihr den Gefallen tun sollst?« »Sie sagt, wenn ich’s nicht tue, sorgt sie dafür, daß ich am Trapez nie weiterkomme.« »Oh, diese läufige Hündin! Das ist wirklich ungeheuerlicher als alles, als alles, wozu du und ich vielleicht bereit wären. Was Menschen privat tun, geht niemand was an, aber Erpressung – das ist ein Verbrechen. Soll ich mal mit Zachary reden?« »O nein, bitte nicht«, sagte Sunday plötzlich erschrocken. »Bitte, tu nichts, was sie dazu bringt, böse auf mich zu sein. Ich ... ich werde weiter drüber nachdenken. Aber bitte, Miss Autumn, sag keinem Menschen etwas davon.« Mit diesen Worten lief sie in den Garderobenwagen. Autumn kehrte zu Edge zurück, ließ aber von dem Gespräch mit Sunday kein Sterbenswörtchen verlauten. Den Rest der Pause verbrachten sie bei der Sideshow, von der sie nicht weniger entzückt war als die Innsbrucker. Später, nach Schluß der Vorstellung im Chapiteau, bestand sie darauf, auch die jungfräuliche Amazone in den Klauen des Drachen Fafnir zu -819-
sehen. Als Fitz’ Leinwandvorhang nach den letzten Zuckungen dieser Darstellung herunterging, sagte Autumn lachend zu Edge: »Mein Gott, so wie ich dich verstanden habe, hat sie nur so getan, als ob sie es genösse, daß ihr Gewalt angetan wird.« »Laß uns nach hinten gehen, damit du sie kennenlernst. Frag sie doch, ob sie es ernst nimmt.« Hinterm Vorhang hatte sich Meli Vasilakis einen Morgenrock angezogen und stülpte den Deckel über den Korb mit der großen Schlange darin. Nachdem Edge die beiden Frauen einander vorgestellt hatte, sagte Autumn: »Ich kann nur hoffen, daß Fitz nie auf die Idee kommt, mich zur Teilnahme an einem solchen Lebenden Bild beschwatzen zu wollen. Mir wäre das schrecklich.« »Ist nicht kinthynos. Keine Gefahr. Python hat mir nie was getan. Ist auch schon alt.« »Ich dachte nicht an die Python. Aber vielleicht hast du gar nicht bemerkt, mit was für Stielaugen die Männer dich angesehen haben!« »Vlepo«, erklärte Meli fröhlich. »Ich hab’ guten Ehemann deswegen.« »Wieso das?« »Spyros sieht immer zu, wenn ich arbeite.« Meli winkte ihm, und er trat vor, um Autumn vorgestellt zu werden. »Wenn ein Mann mich allzu gierig anglubscht, werden ihm Augen ausgebrannt. Ehemann Spyros echter Drache!« Den Korb mit der Pythonschlange zwischen sich, entfernten die beiden Griechen sich, und Autumn sagte: »Im Vergleich zu Pavlo und Gavrila geben die beiden doch ein erfreuliches Paar ab.« »Die Vasilakis brauchten nicht das einzige glückliche Ehepaar hier zu sein«, erklärte Edge. »Ich habe dir gleich, als wir uns kennenlernten, einen Antrag gemacht und den seither -820-
mindestens ein dutzendmal wiederholt.« Mutwillig drückte Autumn eine Fingerspitze auf seine Nase und sagte: »Wir sind jetzt in deutschen Landen, und ich bitte dich, einmal darüber nachzudenken. ›Heiraten‹ heißt auf deutsch auch ›trauen‹ – und ›trauern‹ klingt sehr ähnlich. Ich glaube einfach nicht, daß das Zufall ist.« »Verdammt noch mal, jetzt sei doch mal ernst.« »Im Ernst: nein. Der Arzt hat mir jede Aufregung verboten, vergiß das nicht. Überübermorgen bist du wieder frei. An dem Tag läßt Jules die Saratoga steigen.« Das FLORILEGIUM hatte die ganze Zeit seines Aufenthaltes in Innsbruck über weniger Menschen angelockt, als das Chapiteau fassen konnte, doch nachdem Rouleau mit der Saratoga aufgestiegen und das Inntal hinabgesegelt war, stieg die Zahl der verkauften Eintrittskarten sprunghaft an. Fitzfarris trug mit dem Verschwinden von Sunday und ihrem unerklärlichen Wiederauftauchen zum Erfolg des Unternehmens bei. Dagegen, daß ihre Person hier ausgebeutet wurde, hatten die Simms-Mädchen nichts einzuwenden, denn sie genossen die Ballonfahrt und wechselten sich in der Rolle der Verschwindenden ab. Diesmal war es Monday, die nach der Landung der Saratoga triumphierend aus der Gondel stieg. Nachdem sie sich zusammen mit Monsieur Rouleau wohl ein dutzendmal zum Applaus der sich im Hofgarten drängenden Zuschauer verneigt hatten, nahm er sie beiseite und sagte mürrisch: »Mußt du dir eigentlich die ganze Zeit über, da wir oben sind, die Schenkel reiben? Deine Schwester tut das nicht. Du bringst die Gondel so sehr zum Wackeln, daß es für mich tres difficile ist, zielgenau zu landen.« Sunday war in der Nähe und bekam das zufällig mit, woraufhin sie ihre Schwester lange ansah und etwas zu überlegen schien. Da Florian auf den Plakaten den Ballonaufstieg angekündigt -821-
hatte, drängten sich die Städter an diesem Tag im Hofgarten. Doch der vermehrte Besuch der Vorstellungen in den darauffolgenden Tagen war auf Menschen zurückzuführen, die keine Ahnung von dem Spektakel gehabt hatten. Das unerwartete Auftauchen am Himmel von etwas so Wunderschönem wie der Saratoga, die meilenweit im Umkreis zu sehen war, stachelte die Neugier all der vielen Leute auf dem Lande an, die das Inntal bevölkerten. Die Ernte war eingebracht, und der Schnee hatte sie noch nicht so eingeschlossen, daß sie überwintern mußten, und so kam es, daß alle nach Innsbruck führenden Straßen von diesem Tag an von ganzen Wagenladungen von Neugierigen bevölkert waren, die nach Erreichen der Stadt alle schnurstracks den Circusplatz aufsuchten. »Na, ich bin froh, daß wir durchgehalten haben«, sagte Florian voller Genugtuung. »Außerdem freue ich mich, daß du bei uns geblieben bist, Carl, und geholfen hast, diese Fülle einzubringen. Deshalb werden wir hierbleiben, bis die Zuschauerzahlen wieder zurückgehen. Oder bis es anfängt zu schneien, was ja einen Rückgang bewirken dürfte. Du brauchst also mit München nichts zu überstürzen, kannst aber natürlich fort, sobald du willst. Ich bleibe bei unserem ursprünglichen Plan und werde dich in Rosenheim erwarten.« So ritt Beck nach zahllosen Proben mit der Kapelle und unter Hinterlassung unzähliger Anweisungen, die während seiner Abwesenheit alle strikt zu befolgen wären, davon. Seine Kollegen mußten sich das Lachen verkneifen. Ein Seemann zu Pferde wäre schon an sich komisch gewesen doch dieser – die alte Mähre mit dem Senkrücken unter sich, mit den seitlich herausstehenden stämmigen Beinen und der Glatze auf dem Kopf, die schimmerte, solange man ihn noch sah – nahm sich aus wie der leibhaftige Sancho Pansa. Das FLORILEGIUM erfreute sich wochenlang größten Zuspruchs und entsprechender Einnahmen, ehe der erste Schnee -822-
fiel. Der allerdings kam in solchen Massen, daß im Chapiteau und im Zeltanbau Heuballen verbrannt werden mußten. Im Menageriezelt konnte man es nicht wagen, Feuer zu machen, doch hielten die Leiber der Tiere mit ihrer Körperwärme den Schnee davon ab, sich auf dem Dach zu sammeln. Florian befahl am nächsten Tag den Abbau und so bereitete man sich darauf vor, weiterzuziehen nach Bayern. Gemeinsam mit Edge eilte Florian noch einmal in die Stadt, um von Doktor Köhn einen reichlichen Vorrat von dem hilfreichen Pulver für Autumns Kopfschmerzen zu erbitten. Der Arzt erkundigte sich eingehend nach Autumns Zustand, und Edges Antworten auf seine Fragen selbst als er berichtete, daß »ihr Gesicht immer schiefer wird« – schienen den Arzt in seiner ursprünglichen Meinung nur zu bestärken. Florian übersetzte: »Er sieht keine Möglichkeit zu einer genauen Diagnose, ehe Autumn sich nicht von dem Spezialisten in Wien hat untersuchen lassen; er behauptet aber nach wie vor, eilig wäre es nicht damit.« »Ich weiß nicht, ob ich das als hoffnungsfroh oder hoffnungslos ansehen soll«, sagte Edge. »Aber da wir uns ja noch ein ganzes Stück weiter von Wien entfernen, frage ihn bitte, ob er in der Nähe von Rosenheim einen guten Arzt kennt. Es könnte ja sein, daß wir einen brauchen. Möglichst übrigens einen Arzt, der englisch spricht.« Dr. Köhn holte freundlicherweise ein dickes Ärzteverzeichnis vom Regal, blätterte darin herum und schrieb einen Namen und eine Münchner Adresse auf ein Stück Papier. Dann füllte er viele, viele kleine Briefchen mit dem schmerzlindernden Mittel gegen Kopfweh und wünschte Edge und seiner Dame viel Glück. Als das FLORILEGIUM den unter einer dicken Schneedecke daliegenden Hofgarten verließ, war der Troß so lang wie ein ganzes Bataillon. Die schwarze Kutsche führte eine blauweiße Prozession von zehn Ausrüstungs- und Vorratswagen an, sechs -823-
Käfigwagen, neun Wohnwagen und außerdem noch den Gasentwickler auf Rädern, zwei Elefanten und ein Kamel – den Schluß bildete ein kunterbunter Haufen von Planwagen und rollenden Verkaufsständen der Budenbesitzer. Ein Drittel der Karawane hatte die Innbrücke bereits hinter sich, ein zweites Drittel war auf der Brücke und ein letztes Drittel befand sich noch immer auf dem anderen Ufer und wartete darauf, den Fluß überqueren zu können.
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BAYERN
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1 Rechts von der nach Rosenheim führenden Straße floß der hier sehr breite Inn, und linkerhand dehnten sich die flachen, öden, scheinbar endlosen Moore, die von den Einheimischen das Große Moos genannt wurden – allerdings nicht geringschätzig, denn aus diesen salzigen und schwefligen Schlammböden bestritten sie ihren Lebensunterhalt. Daß eine Stadt, deren Hauptwirtschaftsfaktoren einmal der Export des aus diesen Filzen gewonnenen Salzes war sowie zum anderen die Attraktion, die die zahlreichen Schlamm- und Schwefelbäder auf Heilungsuchende ausübte, besonders gut roch, stand nicht zu erwarten. Immerhin versprach dieses einigen Wohlstand, denn nicht einmal der erst vor kurzem zu Ende gegangene Krieg hatte der Nachfrage nach Salz und Heilkuren viel anhaben können. Wie gewöhnlich kam Florian ihnen auf der Straße entgegen, um sie in die Stadt zu geleiten, und verkündete: »Die Stadtväter haben uns einen guten Platz im Kaiserbadpark angewiesen, und ich habe gestern abend eine Horde Kinder zum Plakatekleben ausgeschickt.« Doch als sie über die glattgefahrenen Pflastersteine der Rosenheimer Straße rollten, entfuhr es Florian empört: »Was haben diese kleinen Gauner gemacht?« Zwar klebten überall Plakate, doch nicht die des FLORILEGIUMS. Er stieg aus, um sich eines genau anzusehen. Edge folgte ihm, konnte jedoch nur erkennen, daß auf dem Plakat ein CIRCUS RINGFEDEL Reklame für sich machte. »Hat man da noch Töne?« fluchte Florian. »Da müssen diese Ringfedel-Leute genau in der kurzen Spanne, die es mich kostete, euch entgegenzufahren, alle unsere Plakate überkleistert haben.« »Wie der fistelige Ladenschwengel daheim in Maryland?« wollte Edge wissen. »Treten sie am selben Tag und zur selben Stunde gegen uns an?« -826-
»Nicht mal das!« sagte Florian empört. »Es heißt hier nur: ›Warten Sie auf den wirklich großen! Der Größte Circus ganz Europas wird in Bälde hier Einzug halten! Sparen Sie Ihr Geld für das Allerbeste auf.‹« »Offenbar bist du nicht der einzige, der was vom Schaugeschäft versteht.« »Aber sieh dir das Datum an!« fauchte Florian. »Bis der Ringfedel hierher kommt, dauert es noch über sechs Wochen! Meine Herren, diese Ringfedels sind wirklich mit allen Wassern gewaschen und bekannt dafür, daß sie mit üblen Tricks wie diesem arbeiten. Deshalb sind sie auch in der ganzen Branche verhaßt. Orfei hat mich vor ihnen gewarnt. Dabei passte das noch nicht mal ein richtiger Zeltcircus. Sie besitzen einen eigenen Eisenbahnzug und können deshalb innerhalb kürzester Zeit jeden Ort erreichen, von dem anzunehmen ist, daß er reif ist für einen Circus – und so der Konkurrenz wegschnappen. Nicht einmal ein Chapiteau brauchen sie, denn sie treten in Festhallen und dergleichen auf. Hier sieh mal, was da steht: ›Sehr verehrtes Publikum, warum sich über einen aufgeweichten oder verschneiten Festplatz in ein zugiges Zelt begeben und dort auf harten Bänken sitzen? Warten Sie und genießen Sie den GROSSEN RINGFEDEL in Wärme und Behaglichkeit.‹« »Woher die wohl wissen, daß wir hierher wollten?« »Ach, die Ringfedels beschäftigen mehr Vorausmänner als Artisten und bezahlen sie auch noch besser. Die spionieren immer und überall herum. Du kannst sicher sein, daß bei unserer ersten Vorstellung einer der Gaffer ein Ringfedel-Mann ist. Wie ein Spürhund treibt er sich überall herum und wird alles registrieren, damit er über jede Nummer und jede Neuerung berichten kann wie auch über Tricks und technische Einzelheiten des Zeltaufbaus. Deshalb wissen die RingfedelLeute immer genau, woran man sie messen wird. Als nächstes wird dann irgendeiner ihrer Agenten unsere Wagenburg umschleichen und versuchen, uns unsere besten Artisten -827-
abzuwerben.« »Hört sich an, als ob sie Yankees wären. Und was machen wir jetzt?« »Ständig auf dem Quivive sein und die Augen offenhalten. Erst einmal sollten wir jetzt zum Festplatz fahren. Wer Lust hat, kann ins Kaiserbad-Hotel gehen und dort zu Abend essen. Und noch vorm Aufbau werde ich Stitches bitten, jeden Racklo, den er entbehren kann, in die Stadt zu schicken, alle diese Plakate abzureißen und unsere drüberzukleben. Und treffen sie einen von Ringfedels Klebekolonne – nun, sie werden ja wohl wissen, wie man mit denen fertig wird. Notfalls wird täglich neu geklebt.« Doch nachdem die Plakate des FLORILEGIUM wieder an den Hauswänden prangten, blieben sie dort kleben, und das kurze Auftauchen der Ringfedel-Plakate schien nicht viele Rosenheimer davon abzuhalten, das FLORILEGIUM zu besuchen. Wiewohl am Tag der Eröffnung kaltes Wetter herrschte – und der Festplatz tatsächlich bald durchweicht war und es im Zelt zog –, hatten sie an beiden Vorstellungen des ersten Tages ein volles Haus. Zur Hauptsache setzte sich das Publikum aus den Betreibern und Angestellten der örtlichen Saline und der vielen kleinen privaten Heilbäder sowie aus den weniger hinfälligen Benutzern eben dieser Etablissements nebst allfälligen Frauen und Kindern zusammen. Niemand beklagte sich über die mangelnde Behaglichkeit, die mit dem Besuch eines richtigen Circus unter einem richtigen Chapiteau verbunden war, und alle applaudierten nach jeder Nummer ausdauernd – und trampelten vor Begeisterung mit den Füßen. Die Rosenheimer rissen sich sogar aufgeregt darum, in Sir Johns Sideshow insbesondere die ägyptische Mumie zu bestaunen. Zumal um diese drängten sie sich und ergingen sich in den wildesten Mutmaßungen darüber, was für Salze und Laugen man für die Einbalsamierung benutzt haben mochte. »Das bringt mich auf was«, sagte Fitzfarris zu Florian und -828-
Edge, als sie beobachteten, wie die Leute sich während der Pause um die Mumie drängten. »Prinzipal, du hast doch seinerzeit das, was du die Bibel vom CIRCUS ORFEI nanntest, so hochgelobt. Weißt du noch? Warum drucken wir jetzt nicht ein hübsches eigenes Programm? Zur Aufzählung all unserer Nummern und Attraktionen bedarf es nur weniger Seiten. Und den Rest füllen wir mit Anzeigen – die wir allerdings erst noch akquirieren müssen.« »Anzeigen für Einbalsamierungssalze?« wollte Edge wissen. »Nein, für die gesundheitsfördernden Rosenheimer Badeeinrichtungen. Fürs Kaiserbad hier in diesem Park, das Marienbad, das Dianabad und all die anderen. Wir könnten ihnen sogar mit Formulierungshilfe zur Seite stehen: ›Das Wasser der Marienbad-Quelle macht Kranke und Sieche putzmunter wie den Clown Zanni‹ – oder ›Genauso stark wie den Bebenmacher‹ – was immer sie am liebsten gedruckt sehen. Und verlangen von den Besitzern der Bäder einen gepfefferten Preis, weil wir die deutschsprachigen Programme in ganz Bayern und Österreich weiter verwenden wollen.« »Das ist ein trefflicher Einfall, Sir John«, sagte Florian anerkennend. »Gleich morgen früh werde ich die Badeunternehmer bearbeiten, und ...« Er sprach nicht weiter, weil sich jemand näherte, der irgend jemand aus dem Publikum hätte sein können, sich jedoch auf deutsch als stellungsloser Pferdekutscher vorstellte, was Florian an die anderen weitervermittelte. »Er sagt, bis vor kurzem habe er für den CIRCUS RINGFEDEL gearbeitet, dort jedoch gekündigt, weil er die Truppe nicht ausstehen könne. Colonel Ramrod – könnten Sie noch einen Stallknecht gebrauchen?« »Der Mann ist kein Böhme«, sagte Edge. »Warum will er denn solche Drecksarbeit machen?« »Das habe ich mich auch gefragt«, erklärte Florian. »Aber ich möchte ihn versuchsweise einstellen und sehen, wie er sich -829-
macht.« Er und der Fremde wechselten einige Worte, und dann zog Florian ein Stück Papier hervor und zückte seinen Zimmermannsbleistift. Während er sich über einen der Verkaufswagen der Sideshow lehnte, um zu schreiben, sagte er auf englisch: »Ich habe ihn gefragt, ob er wisse, wo das Telegraphenamt ist, und er behauptet, er weiß es.« »Wen kennst du denn in Bayern, dem du ein Telegramm schicken möchtest?« Florian blieb ihm die Antwort schuldig, bis er mit dem Verfassen des Telegrammtexts fertig war. Dann reichte er das Papier dem Fremden und wies ihn an, damit zum Telegraphenamt zu laufen – und zu den anderen gewandt sagte er wieder auf englisch: »Ich habe unserem Vorausmann telegraphiert, daß wir in München nicht auftreten werden, weil ich von einigen Typhusfällen dort gehört habe. Statt dessen habe ich ihn angewiesen, andere Städte aufzusuchen und dort einen guten Festplatz für uns reservieren zu lassen – und zwar in Fürstenfeldbruck, Landsberg und noch drei oder vier anderen Städten.« »Welchen Vorausmann?« fragte Fitzfarris. »Einen anderen als mich haben wir doch nie gehabt, und ich habe diesen Job seit Verlassen der Vereinigten Staaten nicht mehr ausgeübt.« »Wir haben noch immer keinen«, sagte Florian. »Aber egal. Ich wette meine Brieftasche gegen dein Mausespiel, daß dieses Telegramm nie abgeschickt wird. Ich bin sicher, daß der Bursche einer von Ringfedels Spitzeln ist. Den kriegen wir nie wieder zu sehen.« »Himmel, dann hätten wir ihn rauswerfen sollen!« erboste sich Edge. Und Fitz fragte: »Hat Bum-Bum dir was vom Typhus gesagt?« »Natürlich nicht«, erklärte Florian mit Bedacht. »Und wir -830-
werden auch in München auftreten, denn ich bin sicher, daß RINGFEDEL dort nicht versuchen wird, gegen uns anzutreten. Seht ihr, Leute – es gibt immer einige, die halten sich für ach so schlau, wenn sie die Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken und rumspionieren. Dazu gehört allerdings, daß man die Dinge glaubt, die man zu hören bekommt, und wenn sie noch so unwahrscheinlich klingen; was hätte es sonst für einen Sinn, sich diese große Mühe zu machen? Die Ringfedels werden jetzt glauben, daß ich über Informationen verfüge, die sie nicht haben – daß nämlich in München Typhus herrscht und man daher in den anderen Städten absahnen muß. Was aberwitzig ist, wenn man bedenkt, daß man bloß einen Blick in die Zeitung und auf eine Landkarte zu werfen braucht. Typhus in München – das würde doch in jeder Zeitung stehen. Und die von mir angegebenen Städte sind auf der Landkarte nur kleine Punkte, die aufzusuchen sich nicht lohnt. Eines stimmt allerdings. Diese Städte liegen alle an der Eisenbahn. Wenn also die Ringfedels so schlau sind, wie sie sich einbilden, dann fallen sie in die Grube, die sie uns haben graben wollen ...« Lächelnd spreizte Florian die Hände, doch dann sagte er mit großem Ernst: »Tatsache bleibt allerdings, daß wir einen Kontinent bereisen, in dem es viele Circusse und viel Konkurrenz gibt und ich wirklich gern einen guten Vorausmann hätte.« Die nächsten Tage erwiesen sich als genauso geschäftig und profitabel für das FLORILEGIUM wie der erste. Die guten Rosenheimer besuchten allerdings nicht nur in Scharen die Vorstellung, sondern bewiesen auch die berühmte bayerische Gastfreundschaft und Gemütlichkeit. Viele von ihnen baten, ihren Lieblingsartisten vorgestellt zu werden und luden diesen und jenen oder auch mehrere zusammen zu kleinen Feiern und Tanzveranstaltungen oder ins Restaurant, ja, sogar zu einem Essen bei sich daheim ein. Florian war zwar, was Spitzel und Abwerber betrifft, stets vorsichtig, verbot aber die Verbrüderung nicht. Seine einzige Bedingung war, daß die jüngeren -831-
Artistinnen nicht ohne Anstandsdame ausgingen. So nahmen die Circusangehörigen mit Freuden so manche Einladung an, obwohl sie sich nach dem unbekümmerten und recht regellosen Circusleben von der Strenge und dem Ordnungssinn, denen sie in den Häusern begegneten, in die sie eingeladen wurden, eingeschüchtert fühlten. Gleich hinter jeder Haustür lag ein Fußabstreifer, den zu benützen jeder Gast aufgefordert wurde, um ja nicht die auf Hochglanz gebohnerten Fußböden zu beschmutzen. Viele der Gegenstände in den Häusern waren feinsäuberlich beschriftet, ungeachtet der Tatsache, daß Gebrauch und Zweck dieser Dinge für jeden auf der Hand lagen. So waren die Handtücher in den Badezimmern mit der Aufschrift ›Handtuch‹ bestickt; unter den Bordbrettern in der Küche hieß es: ›Töpfe‹ und ›Pfannen‹. Servietten trugen die feingestickte Aufforderung ›Guten Appetit‹, und Fitzfarris schwor, in einem Hause sogar eine Kuckucksuhr gesehen zu haben, die ein Etikett mit der Beschriftung ›Kuckucksuhr‹ getragen habe. Selbstverständlich waren es die jungen und unverheirateten Frauen, die die meisten Einladungen erhielten. Paprika lehnte solche Ansinnen jedesmal mit dem Hinweis ab, sie habe Anstandsdame und Dolmetscherin für die Simms-Schwestern zu spielen; jedenfalls war deren Hautfarbe kein Grund für die bayerischen Verehrer, sich nicht um sie zu bemühen. Monday beschwerte sich, Paprika begleite sie nur, um ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sunday nahm Paprika beiseite und machte sie, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, darauf aufmerksam, daß es in Rosenheim genausoviele reizvolle junge Frauen wie unverehelichte Männer gebe, doch bedachte Paprika sie mit einem mütterlich nachsichtigen Lächeln und ließ die Mädchen auch weiterhin keinen Moment aus den Augen, wenn diese – insbesondere Sunday – zum Essen ausgingen oder zu einer Schlittenfahrt den Inn entlang eingeladen wurden. Es gab in der Tat viele Frauen in Rosenheim, und die -832-
Unverehelichten unter ihnen kannten keinerlei Hemmungen, den Kontakt zu Junggesellen wie Florian, Maurice, den beiden Clowns und – gleich massenweise zum Bebenmacher zu suchen. Nur die Neger, Chinesen und der einäugige Mullenax waren nicht gefragt, wogegen zumindest Mullenax nichts zu haben schien. Der verbrachte seine freien Stunden am liebsten in einer Weinstube oder einer Beizen und ließ sich dort mit Schnaps vollaufen. Als Obie Yount sein erstes parfümiertes Billetdoux erhielt, es sich von Florian übersetzen ließ und erfuhr, daß seine Bewunderin eine Witwe war, zuckte er zurück. Für ihn waren Witwen ältere, im allgemeinen dicke Frauen, die formlose Kleider trugen und ständig fromme Lieder sangen. Florian jedoch wußte es besser und kurierte ihn rasch von dieser falschen Vorstellung. Deshalb nahm Yount diese Einladung an – wie viele andere später auch – und stellte fest, daß europäische Witwen – zumindest diejenigen, die kühn genug waren, an ihn heranzutreten – wirklich etwas ganz anderes waren und Weisen sangen, die weit süßer waren als Kirchenlieder. »Eines jedoch liegt mir schwer im Magen, wenn ich zu diesen heißblütigen Witwen unter die Federn krieche«, vertraute er den Mauerblümchen der Truppe an – den verheirateten Männern und den Unbegehrten. »Eine wie die andere hat eine Stickerei überm Bett hängen, auf dem eine Trauerweide über einem Grab die Zweige hängen läßt. Und dann steht was darunter – Florian sagt, es heißt ›Unser teurer Verschiedene‹ oder ›Ewig Geliebte‹ oder ähnlich Gefühlsseliges – und die Weidenzweige sind aus dem echten Haupthaar des Dahingeschiedenen gestickt. Da kann einem manchmal die Lust vergehen und selbst der strammste Max läßt den Kopf hängen.« Eines Tages kam Rouleau in Begleitung eines etwas pummeligen, bleich aussehenden und auffallend gut gekleideten jungen Mannes mit gewachstem Schnurrbart aus der Stadt zurück. Er stellte ihn Edge als Wilhelm Lothar vor. »Ich habe Willi in einem Restaurant kennengelernt«, sagte -833-
Rouleau. »Florian sucht doch einen Vorausmann, und Monsieur Lothar sucht eine Arbeit, die sich mit seiner Reiselust verbinden läßt. Würdest du so liebenswürdig sein, und ihn im Circus herumführen, Zachary? Ich suche inzwischen den Prinzipal.« Edge tat ihm den Gefallen, obwohl er den dicken jungen Wilhelm -»Ach, nennen Sie mich doch Willi!« – etwas zu pomadig und zu parfümiert fand. Während sie den Festplatz durchstreiften und Edge ihm alles zeigte und ihn mit den anderen Circusleuten bekanntmachte, berichtete Rouleau Florian überschwenglich: »... einen besseren Mann für diesen Posten bekommen wir nie. Spricht genausoviele Sprachen wie du und hat überall Entree. Ich wollte dir unter vier Augen sagen, ehe du ihn kennenlernst, daß Wilhelm und Lothar nur zwei seiner Namen sind. Deren hat er eine ganze Latte, aber der letzte lautet Wittelsbach.« »Nein! Aus der bayerischen Königsfamilie?« »Hm ... mon ami, ich habe das zwar vorher nicht gesagt, aber das war nur für dich bestimmt. Willi hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, wer er wirklich ist. Die Familie hat ihm verboten, in der Öffentlichkeit zu sagen, wer er ist.« »Verboten! Ich weiß, diese Familie ist berühmt für ihre exzentrische Art. Aber jemandem zu verbieten ...« »Auch Exzentriker können einen der ihren ausstoßen. Willi ist ein Müßiggänger und auf die Zuwendungen der Familie angewiesen; solange er seine Herkunft nicht preisgibt, geht es ihm gut. Er wird aber – que disje? – ausgestoßen, seiner Titel beraubt oder was immer Familien mit einem Mitglied machen, das ihnen peinlich ist.« »Dann muß er bis zum Schwachsinn exzentrisch sein. Und mir wäre es keineswegs recht, daß ein nachweislich Schwachsinniger FLORIANS FLORILEGIUM vertritt.« -834-
Aufseufzend sagte Rouleau. »Die anderen Wittelsbacher mögen verrückt sein; Willi aber ist bloß schwul. Pas plus qu’est un encule, wenn ich mich denn einer so vulgären Ausdrucksweise befleißigen muß, um dir klarzumachen, was für einer er ist. Bist du denn mit Absicht so begriffsstutzig, mon vieux?« »Nein, aber ich bin erleichtert, die nackte Wahrheit zu erfahren. Ein harmloser Ganymed zu sein, disqualifiziert jemanden nicht unbedingt für unsere Dienste. Seine – ahem – Neigungen brauchen ja nicht mit den Pflichten eines Vorausmannes zu kollidieren.« »Au contraire«, sagte Rouleau. »Wenn ich, was den Prozentsatz von Männern seiner und meiner Couleur in der europäischen Oberschicht betrifft, richtig informiert bin, könnte Willi Lothar geradezu unser Sesam-öffne-Dich für die höhere Gesellschaft sein und uns Aussicht auf Schlösser und Aufführungen vor gekrönten Häuptern eröffnen ...« »Bring mich zu ihm. Erst einmal werde ich sehen, wie fließend sein Ungarisch ist.« Florian und Willi plauderten alsbald so redselig und zungenfertig und für alle anderen unverständlich – miteinander wie zwei echte Ungarn. Dann gingen sie zu anderen Sprachen über, von Italienisch und Französisch zu etlichen anderen, von denen Edge nicht einmal wußte, welche es wären. Schließlich beendete Florian die Unterhaltung, um zu verkünden, daß Willi sich ihnen in der Tat anschließen werde; über die Gage sei man sich einig geworden, und Willis erste Aufgabe werde es sein, ein gedrucktes Programm für das FLORILEGIUM zu entwerfen und in den Rosenheimer Badehäusern Anzeigenraum dafür zu verkaufen. Danach werde er als ihr Vorausmann in seiner eigenen Kalesche reisen, die von seinem eigenen Leibdiener gelenkt werde – und sein erstes Ziel werde München sein. »Solange Bumbum noch nicht wieder bei uns ist, bin ich ja -835-
gewissermaßen ein Vogel, der nicht fliegen kann«, sagte Rouleau leicht errötend. »Vielleicht könnte ich Herrn Lothar begleiten – um ihn gleichsam einzuweisen.« »Ja, tu das, Monsieur Roulette«, sagte Florian. »Der junge Mann scheint im Umgang mit Behörden und dergleichen wohl erfahren; aber mit einem Futtermittel- oder Fleischverkäufer hat er vermutlich noch nie um den Preis gefeilscht.« Keine Woche später präsentierte Willi Lothar Florian stolz das erste Exemplar eines exquisiten, in etwas dickeren Karton eingehefteten, schwarz und blau auf mehreren Seiten guten weißen Papiers gedruckten Programms. Auf den beiden mittleren Seiten wurden mit flammenden Worten, unter denen die Superlative vorherrschten, sämtliche Nummern und Attraktionen des Circus aufgeführt. Die Seiten davor und dahinter enthielten kaum minder glutvolle Anpreisungen der Vorzüge von Kaiserbad, Ludwigsbad, Marienbad, Johannisbad und von etlichen anderen Etablissements dieser Art, die einander zu übertrumpfen versuchten mit Behauptungen von Wunderheilungen in ihren Schlamm-, Schwefelund Eisenwasserbädern, durch ausgefallenste Massagemethoden, Heilwässer, galvanische und diätetische Kuren etc. Außerdem überreichte Willi Florian eine prall mit dem Geld gefüllte Börse, das er bei diesem Unternehmen verdient hatte. »Prachtvoll! Ein vielversprechender Anfang Ihrer neuen Karriere!« sagte Florian. »Sagen Sie dem Drucker, er soll zweitausend Exemplare dieser schönen Bibel drucken. Und schärfen Sie Banat ein, er solle diese Programme behandeln, als wäre es die Heilige Schrift – sie den Gaffern aushändigen, wenn sie das Chapiteau betreten, und ihnen beim Verlassen wieder abnehmen, damit wir sie immer wieder verwenden können. Danach können Sie und Jules nach München abreisen, wann immer es Ihnen genehm ist.« Etwa eine Woche später wurde jeder, der sich auf dem Festplatz aufhielt, aus dem Schlaf gerissen, daß er aufrecht -836-
dasaß – und zwar durch einen Kreischlaut ohnegleichen. Selbst die Tiere hoben zu Gebrüll, Gequieke, Gewieher, Gebell und Trompetentönen an. »Ach y fi!« entfuhr es Dai Goesle, als er in seinen langen Unterhosen aus seiner Wohnwagenkoje hochfuhr und dabei mit Zanni Bonvecino zusammenstieß, der gleichfalls in die Höhe fuhr und jammerte: »Chepeto forte!« Doch der dritte Mann in dieser Maringotte setzte sich in seiner Koje nur auf, lächelte beseligt und sagte: »Carl Beck hat mir meine Kallio-pe gebracht!« »Jules und unserem neuen Mann bin ich auf der Landstraße begegnet«, sagte Bumbum zu Florian und allen anderen, die – in Morgenröcke, Wolldecken und anderes gehüllt – in den frostigen Morgen hinaustraten. »Wir haben Holz gehackt, um den Boiler der Dampforgel die letzten zwei Kilometer ausreichend zu erhitzen, um euch allen eine hübsche Überraschung zu bereiten.« Die meisten machten gute Miene zu dieser hübschen Überraschung – »Himmel, wenn die beiden Elefanten singen könnten«, sagte Mullenax, »würde sich das so anhören« – und kehrten zurück in die Wärme ihres Wohnwagens. Florian, Edge, Fitzfarris und ein paar andere hingegen blieben draußen. Als sie ihrer Bewunderung Luft machten, dampfte ihr Atem nicht minder als die Dampforgel selbst. Nicht, daß selbige schön anzusehen gewesen wäre, Beck hatte sie ausschließlich ihrem Zweck entsprechend gebaut, und so stellte sie nur eine massige, verzwickte und hochkomplizierte Apparatur dar, die über beide Seiten des Pferdewagens hinausragte, mit dem er sie hergeschafft hatte. Wie bei einer Lokomotive wies auch sie unter einem Kessel eine Feuerungstelle auf, doch damit endete ihre Ähnlichkeit mit einer Lokomotive auch schon. Vom Kessel ringelten sich überall Kupferrohre in die Höhe und endeten in einer Reihe unterschiedlich großer, wie die Grenadiere aufrecht stehender Orgelpfeifen mit lippigen Öffnungen ähnlich denen -837-
einer großen Kirchenorgel, doch da wiederum endete auch schon die Ähnlichkeit. Das Tastenwerk bei einer Dampforgel war etwas ganz Einzigartiges; es handelte sich nämlich nicht um eine Klaviatur zierlicher, elfenbeinüberzogener Tasten, sondern um ein Manual wuchtiger Holztasten, eine jede rund zehn Zentimeter breit, die mit Faustschlägen niedergedrückt werden mußten. Der Dampfdruck innerhalb der Orgelpfeifen war so groß, daß ihre Ventile von starken Sprungfedern gehalten werden mußten. Folglich bedurfte die Verbindung von den Tasten zu den Ventilen einer kräftigen Hand. Da stand das Ungetüm, spie Wolken aus, die halb blauer Rauch und halb weißer Dampf waren, während Beck sich über das Manual beugte, mit den Fäusten auf die Tasten einhämmerte und dadurch seinen Pfeifen schnarrend und klagend die Anfangstakte von ›Les Patineurs‹ entlockte. Das gesamte Stallzelt antwortete neuerlich mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll aus vielerlei Tierstimmen, das es mit der Stimmgewalt der Dampforgel durchaus aufnehmen konnte. Aus Richtung Kaiserbad kamen mehrere Hotelangestellte sowie drei Rosenheimer Gendarmen gelaufen. Alle blieben in gehöriger Entfernung vom Rauch und vom Dampf stehen und fragten lautschreiend an, ob sie die Feuerwehr rufen sollten. Florian rief ein paar Worte zurück, die sie beruhigten, so daß sie wieder abzogen, aber immer wieder vor sich hinbrummelnd den Kopf drehten und über die Schulter zurücksahen. »Ich denke«, sagte Florian, »jede weitere Vorführung sollten wir auf eine anständigere Zeit verschieben. Carl, ob denn dein böhmischer Akkordeonspieler lernen kann, hierauf zu spielen?« »Jeder mit einem kräftigen Arm kann das.« »Nun gut. Dann bring es ihm bei! Ich werde Stitches und seine Zimmerleute anweisen, eine dekorative Laube über dem Apparat zu errichten Und sobald die fertig ist, meine Herren« – und damit hob er die Stimme, wie es der Sprechstallmeister bei seinen Ansagen in der Manege zu tun pflegte –, »werden wir -838-
hier die Anker lichten und en grand cortege weiterziehen, um mit großer Parade in München Einzug zu halten.«
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2 Edge kehrte in die Maringotte zurück, die zu verlassen er Autumn verboten hatte, selbst als sie von diesem Krach geweckt worden waren. Sie hatte einen Morgenrock übergeworfen und den kleinen Petroleumbrenner angezündet, um das Frühstück zu bereiten. »Ich habe die Dampforgel vom Fenster aus sehen können«, sagte sie, »würde sie mir aber gern aus der Nähe und genauer ansehen.« »Draußen ist es bitterkalt, meine Liebe. Der Wind fegt nur so über den zugefrorenen Fluß.« »Aber es ist schon eine ganze Woche her, daß ich mir das letztemal eine Vorstellung habe ansehen dürfen, Zachary, Lieber. Wie soll ich dir begreiflich machen, wie schrecklich langweilig diese Gefangenschaft nachgerade wird. Ich komme mir vor wie Rapunzel in ihrem Turm. Selbst das Lesen fällt mir schwer; mich mit den Augen auf die Schrift einzustellen, meine ich. Ich kann überhaupt nur dann noch lesen, wenn ich ein Auge zumache, und das ist schon sehr anstrengend.« Edge nagte an der Unterlippe, sagte aber dann so unbekümmert, wie es ihm möglich war: »Ich sag’ dir was, Rapunzel. Beim nächsten sonnigen Tag – auch wenn es noch kalt ist – gebe ich dir wieder frei. Goesle hat Klappstühle aufgestellt und da werden wir einen für dich freihalten. Warte, bis die Gaffer drin sind und das Chapiteau ein bißchen angewärmt ist. Unmittelbar vor der Parade nimmst du Platz. Bis dahin sollte auch die Dampforgel schon bei der Vorstellung mitmachen, und dann kannst du dir sie genau ansehen. Einverstanden?« »Mit Freuden einverstanden«, sagte sie glücklich. »Rapunzel dankt ihrem gütigen Gefängniswärter.« Sie wandte den Kopf, um ihn anzulächeln, und ihr trübeschlieriges tiefersitzendes -840-
Auge zwinkerte ihm zu, daß es ihn eiskalt überlief. Goesle und seine Helfer verwandten jetzt jede freie Minute auf das Schreinern des Gehäuses, in das Florian die Dampforgel stecken wollte. Sie fertigten ein so reichlich dimensioniertes Gebilde, daß die Dampforgel – samt lederbezogener Bank für den Organisten – sich schließlich wie in einer blumenumrankten Laube verbarg. Nachdem sie den Wagen und das Gehäuse weißblau angestrichen hatten, damit es auch zu den anderen Fahrzeugen des Circus paßte, setzten sie dem Ganzen noch Glanzlichter aus Goldbronze auf. Während sie die Laube noch in Arbeit hatten und ihm daher die Dampforgel nicht zur Verfügung stand, ergab Carl Beck sich im Kaiserbad dem Müßiggang und verbrachte Stunden im heißen Solebad. Das jedoch führte zu einer Nackenversteifung bei ihm, denn er balancierte auf dem Kopf eine gewaltige, angeblich haarwuchsfördernde schwefelhaltige Fangopackung. So kam es, daß Beck seine Dampforgel erst an ihrem letzten Tag in Rosenheim wieder anfeuern und bei einer Nachmittagsvorstellung vorführen konnte. Der Tag war kalt, aber strahlend sonnig, und Edge half Autumn, sich in viele Schichten warmer Kleider zu hüllen und einen Schleier überzunehmen; dann bat er sie, bis zur letzten Minute vor der Parade in ihrer Maringotte zu bleiben. Die Vorstellungen waren die ganze Zeit über immer ausverkauft gewesen, und das änderte sich auch zu dieser Abschiedsvorstellung nicht. Das Chapiteau war daher gesteckt voll und, als Edge Autumn zu ihrem Klappstuhl direkt vor der Piste geleitete, war es bereits angenehm warm geworden. Die Kapelle spielte zur Ouvertüre auf – wieder einmal ohne Kapellmeister, weil Beck darauf bestanden hatte, sich beim Debüt der Dampforgel ans Manual zu setzen. Wenige Minuten später war vom Wumtata der Kapelle nichts mehr zu hören. Vor dem Zelt ließ sich völlig unvermittelt ein weltendeverkündendes Gekreische vernehmen. Nach dem ersten -841-
Ansturm dieses Geräusches war so etwas wie die Melodie von ›Wein, Weib und Gesang‹ zu erkennen, doch die Lautstärke blieb ohrenbetäubend. Ein Pferd kam durch die Tür hereingetrottet und zog den hohen und glitzernden neuen Wagen hinter sich her, von welchem sowohl der ohrenbetäubende Lärm als auch der feuchtverbrannt riechende Geruch einer gewaltigen Dampfwäscherei ausging. Becks Zugpferd hatte immerhin schon früher mit dem Lärm Bekanntschaft machen und sich folglich daran gewöhnen können. Die scheuen Zebras hatte man wohlweislich von dieser Parade ausgeschlossen. Doch die anderen Pferde, die beiden Elefanten und das Kamel stemmten sich gleichsam nach hinten ab, so als treibe man sie dazu an, einen steilen Hang hinunterzugehen, und die Raubtiere in den Käfigwagen führten sich wie toll auf. Nicht nur die Fahrer und Kutscher der Tiere, sondern nahezu alle anderen Circusartisten, die bei diesem Einzug mitmachten, wurden – bis auf Beck und den strahlenden Florian – von diesem tosenden Sturm genauso gebeutelt wie die Besucher auch. Gleichviel, Circusleute wie -tiere erwiesen sich als erstaunlich anpassungsfähig und hatten sich beim dritten Umzug um die Piste offenbar darauf geeinigt, den Lärm als außerordentlich lautstarken Applaus zu nehmen und hatten jede Nervosität abgelegt. Die Artisten winkten und verneigten sich, warfen der Menge Kußhände zu – und das Publikum applaudierte wirklich, nur, daß niemand es hörte –, die Pferde, Elefanten und anderen Vierbeiner gingen im stolzen Stechschritt einher, und sogar die Raubtiere in ihren Käfigwagen entspannten sich und genossen die Fahrt. Als Beck ›Wein, Weib und Gesang‹ schließlich ausklingen ließ, lenkte sein böhmischer Kutscher die Dampforgel auf die Seite, und der Rest der Truppe marschierte zum Chapiteau hinaus. Als die Dampforgel endlich verstummte, nahm die Kapelle die Melodie auf, was sich allerdings vergleichsweise liliputanerhaft anhörte; doch konnte der Herr Kapellmeister nun aus seinem verschnörkelten Gehäuse -842-
heraustreten und sich stolz zu den nunmehr wieder hörbaren Ovationen verneigen. »Leider kein Applaus von allen«, sagte Florian zu Autumn, als er und Edge sich während der Pause zu ihr setzten. »Bei der heutigen Abendvorstellung müssen wir die Dampforgel auslassen, und es ist wohl ganz gut, daß wir morgen weiterwollen. Draußen vorm Hinterausgang wartete eine Abordnung – aufgebrachte Badbesitzer, ihre Hausärzte, Masseure und was weiß ich sonst noch –, um mir klarzumachen, daß eine erstaunliche Anzahl ihrer Patienten mit Gehirnfieber aus den Schlammbädern herausgesprungen sei und sich beim ersten Ton von Bumbums Apparat auf die Äste der nächsten Bäume geflüchtet hätte.« Autumn fing an zu lachen, und Florian desgleichen. »Für uns mag das komisch sein – aber nicht für Carl Beck. Er hat zornig wissen wollen, wann er denn seinen Akkordeonspieler vor München als Organisten einweisen soll. Ich habe ihm gesagt, sie könnten ja unterwegs üben, immer dann, wenn wir eine Strecke ohne Häuser links und rechts vor uns haben; wenn aber irgendwelche Kühe über den Mond sprängen, müsse er sich schon darum bemühen, die Besitzer zu beschwichtigen.« Nach der Pause kam Barnacle Bill – nicht mehr betrunken als gewöhnlich – an die Reihe, Maximus, die Bären und die Elefanten durch ihre Nummern zu führen. Nachdem die ganze Gruppe sich verneigt hatte, führten Sunday, Zanni und Ali Baba während des Umbaus zum Ergötzen des Publikums ihre possierlich grotesken Sprünge vor. Dann spielte die Kapelle eine Polka, um die Hunddressur der Smodlakas anzukündigen, und der blonde Mann, seine blonde Frau, die Albinos und die Terrier kamen radschlagend, letztere auf den Vorderpfoten gehend in die Manege gewirbelt. Doch als Pavlo die gebieterische Stellung für den ersten Trick eingenommen hatte, gab er nicht wie sonst seinen Einsatzbefehl, sondern lief puterrot im Gesicht an, zeigte -843-
anklagend mit dem Finger auf einen Teil des Publikums und belferte: »Ist da wieder der Spitzel?« Seine Familie und der Sprechstallmeister waren wie vom Donner gerührt, als er zu den Prominentenstühlen eilte, sich durch die erschrockenen Zuschauer hindurchdrängte, dabei nicht wenige unsanft anrempelte und geiferte: »Ich sehe dich, prljav, Schnüffler! Ich hab’ dich noch jedesmal gesehen! Mit Frauenkleidern und Schleier kannst du einen Pavlo nicht zum Narren halten!« Ärgerlich knallte Edge mit der Peitsche und stieß schrille Pfiffe mit der Trillerpfeife aus, doch Pavlo ließ sich nicht aufhalten, sondern drängte weiter voran, bis er bedrohlich über dem Stuhl aufragte, auf dem Autumn saß; wutschnaubend riß er ihr Hut und Schleier vom Kopf. Dann jedoch zuckte er zurück, wurde totenblaß, ließ Autumns Hut fahren, winselte: »Svetog Vlaha ...«, und schlug mit fahriger Hand das Kreuzeszeichen. Etliche von den Gaffern in der Nähe hatten den Wahnsinnigen beobachtet, doch jetzt wurden ihre Blicke von Autumn angezogen. Halblaut wurden Rufe laut wie: »Himmel!«, »Entsetzlich!« und »Mein Gott!«, und auch von ihnen bekreuzigten sich einige. Die weiter weg Sitzenden, die meinten, diese Unterbrechung gehöre zur Nummer, standen auf und renkten sich den Hals aus, um mitzubekommen, was geschah. Inzwischen war Edge an Autumns Seite, half ihr auf und fauchte Pavlo durch die zusammengebissenen Zähne an: »Zurück in die Manege, Elender. Sorg dafür, daß die Vorstellung weitergeht!« Pavlo schüttelte fassungslos den Kopf. Dann wankte er zurück in die Manege, wo seine Familie ihn ängstlich erwartete. Als Edge Autumn durch die Sitzreihen hindurch zur Tür führte, nahm die Kapelle wieder die Musik auf, und statt Pavlo war es diesmal Gavrila, die den Hunden das Stichwort gab: »Gospodjica Terriest ... igram!« Die in den Grundfesten erschütterte und fassungslose Autumn sagte immer wieder: »Was ...? Was ...?«, als Edge sie so schnell -844-
wie möglich durch das Durcheinander des Sattelgangs und an den Blicken der neugierigen Racklos vorüber mehr trug als geleitete. In ihrer eigenen Maringotte half er ihr aus der Straßenkleidung heraus und ließ sie dann zärtlich auf das Bett niedergleiten. »Was ...?« fragte sie immer noch. »Was hatte das alles ...?« »Fasse dich, meine Kleine. Ich habe dir doch schon gesagt, der Mann ist vor lauter beruflicher Eifersucht völlig verrückt geworden. Und das wird er noch bedauern, dafür werde ich sorgen. Allerdings muß ich jetzt wieder rüber ... ich muß meine Kunstschützennummer hinter mich bringen. Dann werde ich Florian bitten, als Sprechstallmeister zu übernehmen und meine Voltigenummer ausfallen zu lassen.« »Ja, ja«, sagte sie nicht ganz bei der Sache. »Vernachlässige deine Pflichten nur nicht. Aber ... was hatte das alles zu bedeuten?« Als Edge wenige Minuten später als Colonel Ramrod die Manege betrat, stellte er fest, daß zum erstenmal, seit er als Soldat oder als Kunstschütze Waffen getragen hatte, ihm diese heute unsicher in der Hand lagen und es ihn ungeheure Anstrengung kostete, genau zu zielen. Als er sich jedoch selbst einredete, das Ziel sei Pavlo Smodlaka, schaffte er die Nummer, ohne auch nur ein einziges Mal danebenzuschießen. Nachdem seine Assistentinnen, Sunday und Monday, sich verneigt hatten, bat er die Mädchen, auf Karabiner und Pistolen aufzupassen. Dann übergab er an Florian Peitsche und Trillerpfeife und erklärte ihm, Buckskin Billy werde heute abend seine Nummer ausfallen lassen, verließ das Chapiteau und ging zunächst zum Wohnwagen der Smodlakas. Als er dann wenige Minuten darauf seine eigene Maringotte wieder betrat, lag Autumn zwar immer noch auf dem Bett, hatte das Gesicht jedoch jetzt in den Kissen vergraben. Immerhin hatte sie einen Topf mit Wasser aufgesetzt. Edges Knöchel -845-
waren aufgeschürft und blutig, und so wollte er sich als erstes die Hände waschen, ehe er sie berührte. Vor dem kleinen Petroleumofen blieb er jedoch stehen, warf einen Blick in den Topf – und erbleichte. Die Vorhänge vor den kleinen Fenstern waren aufgezogen und im Wageninneren war es hell. Edge konnte sein Spiegelbild im Wasser deutlich erkennen. »Du hast mir Bücher und alle möglichen Dinge gebracht, die mich ablenken sollten«, sagte Autumn verzagt; ihre Stimme kam gedämpft aus den Kissen. »Ich hatte mich schon gefragt, warum du mir nicht einmal wieder einen Spiegel mitgebracht hast. Und so kam mir die Idee, mein Spiegelbild bei Tageslicht einmal im Wasser zu betrachten.« Edge hatte einen Kloß im Hals und schluckte, wusch sich die Hände und setzte sich dann auf den Bettrand zu ihr. Sie vergrub das Gesicht noch tiefer im Kopfkissen und sagte noch etwas. »Dreh den Kopf, Autumn. So kann ich dich nicht verstehen.« Sie veränderte leicht die Lage. »Zuhören sollst du, aber sieh mich nicht mehr an. Bitte! Lieber Gott, was geht mit mir vor, Zachary? Ich hatte ja keine Ahnung ... du hast es mir nie gesagt ... wie grauenhaft das ist. Wie hast du es nur ertragen können ... bei mir zu sein, meine ich?« »Kein Mensch weiß, was es ist, Autumn. Weder Dr. Köhn, noch Maggie Hag – niemand. Aber rede nicht so, als wärest du etwas, das man ertragen müßte. Verdammt noch mal, Weib, ich liebe dich.« »Das ist unmöglich! Das kannst du nicht. Hier liegen ... seit ich so aussehe ... ich habe nachgedacht. Ich bin schon in der richtigen Assiette. Beim Circus. Ich kann vielleicht nicht mehr als Artistin auftreten, aber ich brauche doch nur zur Sideshow rüberzugehen und mich dort ...« »Ich habe dich gebeten, nicht so zu reden.« Er streichelte ihr die Wange, jenen Bruchteil der ›guten Seite‹, die sie ihm zugewandt hatte. -846-
»Aber ich bin eine Groteskfigur! Eine Fratze wie ein Wasserspeier!« Plötzlich vergaß sie den eigenen Kummer und rief aus: »Was hast du mit deinen Händen gemacht?« »Ich habe Pavlo Smodlaka windelweich geprügelt.« »Ach, das war doch kindisch. Du hast selbst gesagt, er ist nicht ganz bei Trost. Schließlich hat er es nicht absichtlich getan ...« »Ich weiß. Aber er hat die Tracht Prügel verdient, und sei es nur, weil er fast die Vorstellung hätte platzen lassen. Aber egal, ich mußte mich einfach an jemand abreagieren, und da hat es jemand getroffen, der geradezu frevelhaft bösartig ist, und an Gott komme ich nun mal nicht ran. Du machst dir Sorgen und hast Angst, aber ich mach’ mir Sorgen und bin wütend!« »Weder mit dem einen noch mit dem anderen ist was getan. Aber was können wir nur tun?« Das eine, sichtbare blütenblättrige Auge füllte sich mit Tränen. »Es muß etwas geben, und wir werden es finden. Notfalls werden wir jeden Arzt in Europa konsultieren. Ich habe den Namen von noch einem in München. Den werden wir sofort nach unserem Eintreffen aufsuchen.« Er hielt sie an sich gedrückt, bis sich das Auge schloß und sie einschlief. Die Fahrt von Rosenheim nach München dauerte zwei Tage. Endlich verließ das FLORILEGIUM den Verlauf des Inn und folgte der nach Nordwest führenden Straße. Als gegen Mittag des nächsten Tages die türmereiche Silhouette der Stadt München vor ihnen auftauchte, ließ Florian die Wagenkolonne halten. »Seht dort drüben – München. Bereiten wir uns vor, in angemessener Parade in die Stadt einzuziehen.« Der Ballonwagen sollte als erstes Gefährt nach seiner Kutsche kommen. Alle Musikanten der Kapelle kletterten hinauf, damit ihre Musik sich, wenn auch vielleicht nur für kurze Zeit, Gehör verschaffte, ehe dann am Ende des Zuges die tosende Dampforgel kam. Die Seitenverschalung der Käfigwagen wurde -847-
abgenommen, und Elefanten und Kamel bekamen ihre fransenund troddelbewehrten Decken übergeworfen. Magpie Hag hatte sogar große flauschige blaue Pompoms gefertigt, welche die Spitzen von Mitzis Stoßzähnen zieren sollten. Die Artisten verteilten sich auf die verschiedenen Wagen und setzten sich sogar auf dem Dach der Maringotten in Positur, hüllten sich jedoch solange in Umhänge und Mäntel, bis sie die windgeschützte Seite der Gebäude erreichten, die die Straßen säumten. Florian ließ seine Trillerpfeife ertönen, Beck gab das Zeichen zum Einsatz, und die Kapelle spielte einen Marsch, woraufhin ganz hinten am Schluß die Dampforgel das gleiche tat. Man zog über die Ludwigsbrücke und gelangte über eine Thal genannte Straße in die eigentliche Innenstadt. Hier gab es Straßenbahnschienen, und die Kutscher mußten aufpassen, daß sie mit den Rädern ihrer Wagen nicht in diese hineingerieten. Als sie den Circus kommen hörten, mußten die Kutscher der Schienendroschken ihre Gäule antreiben, um Straßenkreuzungen zu erreichen und ihre an den Seiten offenen Wagen in Seitenstraßen hineinmanövrieren, wo sie wütend mit der Faust drohten, weil die Parade ihren ganzen Fahrplan durcheinander brachte. Doch auf den Bürgersteigen drängten sich die Leute, winkten, brachen in Hochrufe aus und klatschten in die Hände. Jules Rouleau und Willi Lothar hatten offensichtlich gleichfalls gehört, daß der Circus die Stadt erreicht hatte; jedenfalls stießen sie am großen Isartor zu ihnen und sprangen aus der Menge der Zuschauer geradewegs in Florians Kutschwagen hinein. »Willi hat uns einen Festplatz im Englischen Garten verschafft«, rief Rouleau zu dem auf dem Kutschbock thronenden Florian hinauf. »Das hätte außer ihm niemand fertiggebracht.« Florian winkte anerkennend, lenkte aber die Kutsche nicht sofort zum angegebenen Ziel, sondern fuhr das Thal hinunter -848-
unter dem großen Bogen hindurch, der unter dem alten Rathaus hindurchführte – und als die Dampforgel hinterherrollte, hallte es darin gewaltig wider, ehe die Circuskarawane auf dem Marienplatz landete. Von dort an ging es einige Straßen hinauf und einige andere hinunter, manche davon breite Prachtstraßen, andere enge Gassen, alle jedoch tadellos sauber. Auch hier wurde dem Circus von den Münchnern ein herzlicher Empfang bereitet. Die Parade führte an Theatern und Museen vorüber, vorbei an einem kleinen Palais, ehe sich die weiten Flächen des eigentlichen Englischen Gartens vor ihnen öffneten. Im Park selbst ergingen sich um diese Winterzeit nur wenige Spaziergänger, und so konnten sich die Artisten wieder in ihre warmen Mäntel und Umhänge hüllen. Beck gestattete seiner Kapelle, mit dem Spielen aufzuhören, um den wundgescheuerten Lippen und schmerzenden Zähnen Ruhe zu gönnen, und auch der Spieler der Dampforgel durfte seine wunden Fäuste ausruhen. Als alle Mitwirkenden von ihrem Hochsitz heruntergeklettert waren und die böhmischen Racklos Wagen und Maringottes so etwas wie eine Wagenburg bilden ließen, berichtete Rouleau Florian: »Willi und ich haben bis jetzt noch keine Plakate kleben lassen; wir wußten ja nicht genau, wann ihr eintreffen würdet.« »Nun, dann beeilt euch, das nachzuholen. Wir anderen haben ja mit dem Aufbau alle Hände voll zu tun. Deswegen heuere ein paar streunende Kinder als Klebekolonne an. Hast du Hotelzimmer reservieren lassen?« »Unter Vorbehalt«, sagte Willi. »Aber das Hotel Vier Jahreszeiten dürfte Ihren Ansprüchen genügen, oder?« »In jeder Beziehung«, erklärte Florian. »Das Vier Jahreszeiten ist, wenn ich mich recht erinnere, ein ausgezeichnetes Luxushotel. Es könnte unseren Appetit auf Champagner gefährlich steigern; dabei reicht es im Moment eigentlich nur für Bier.« -849-
Willi verzog das Gesicht. »Man sollte mit seinem Geschmack nie auf das Niveau des Klimpergeldes hinuntergehen, das man in der Tasche hat. Jemandem, der keinen Champagnergaumen hat, wird auch selten Champagner geboten.« »Dann gehen Sie hin und machen Sie das mit den Zimmern fest. Ich lade inzwischen die Kollegen zu einem exquisiten Mahl im Chinesischen Turm hier im Park ein. Das dürfte dem Champagnerniveau entsprechen.« Als Florian die Truppe einlud und die meisten der Artisten sich beeilten, aus ihren Kostümen herauszukommen und Zivil anzuziehen, lehnte Edge für sich und Autumn dankend ab. »Wir essen schnell einen Happen in unserer Maringotte und brauchen auch kein Hotelzimmer. Gleich nach dem Essen möchte ich, daß sie diesen Arzt aufsucht« – er holte einen Zettel hervor –, »Dr. Renate Krauss, Prinzregentenstraße. Wie finde ich den?« »Nicht ihn, sondern sie. Eine Ärztin, höchst ungewöhnlich. Aber wie dem auch sei, die Prinzregentenstraße ist jene Straße, von der aus wir in den Park abgebogen sind. Ihr werdet keine Mühe haben, sie zu finden.« Nach dem Essen wartete Aleksandr Banat auf Florian: »Sie haben Besuch.« Mit diesen Worten reichte er ihm eine in mehreren Farben gedruckte Visitenkarte. »S. Schmied«, las Florian laut. »Chefpublizist, CIRCUS RINGFEDEL. Ha! Was für ein hochtrabender Titel für einen Vorausmann. Schick ihn zu mir in meine Maringotte.« »Es ist kein Mann sondern eine Frau«, sagte Banat. »Na, das nenne ich zweimal was Ausgefallenes an einem Tag«, sann Florian, und als er sie begrüßte, sagte er auf deutsch: »Eine vorausreisende Frau ist mir bisher noch nie untergekommen, gnädige Frau. Oder sollte ich gnädiges Fräulein sagen?« »Schmied genügt«, sagte sie bissig und sah ziemlich verkniffen drein. Florian sah sie sich eingehender an und kam zu -850-
dem Schluß, daß S. Schmied vor Erreichen der mittleren Jahre und der damit verbundenen Selbstüberschätzung eine gutaussehende Frau gewesen sein mußte. Etwas weniger aggressiv fuhr sie fort: »Ich bin gekommen, Sie zu der fabelhaften Lüge zu beglückwünschen, die Sie uns aufgetischt haben.« »Wie bitte? Ich habe Ihrem Unternehmen nichts mitgeteilt, weder Zutreffendes noch Unzutreffendes.« »Ach, hören Sie schon auf, Florian. Aufgrund Ihrer listigen Anregung hat RINGFEDEL für die kommenden zwei Monate in einer Reihe bezaubernder, aber für einen Circus völlig uninteressanter Ortschaften feste Termine abgemacht. Wir würden sie gern links liegen lassen, nur müssen wir Ihre Verschlagenheit ehrlich bewundern. Uns in die tiefste Provinz zu schicken, damit Sie hier in München in aller Ruhe absahnen können. Aber wir werden gute Miene zum bösen Spiel machen und nicht nur unsere Verpflichtungen erfüllen – die Herren Ringfedel möchten sich einem so gerissenen Kollegen gern erkenntlich zeigen.« »Nun hören Sie mal auf, Schmied! Ich komme von einem Mittagessen, bei dem ich des Guten viel zuviel getan habe, und wenn ich jetzt noch mehr schlucken müßte, könnte ich das Kotzen bekommen. Reden wir doch mal offen miteinander. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, fange ich an. Ich gebe unumwunden zu, davon ausgegangen zu sein, daß mein Telegramm abgefangen werden würde. Außerdem habe ich zu Gott gehofft, jemand würde den Inhalt schlucken und dran ersticken. Ich entschuldige mich nicht. Rache ist süß.« »Sehr wohl. Sie haben also Ihre Rache gehabt. Jetzt möchten die Herren Ringfedel das anerkennen und Ihnen in Freundschaft die Hand entgegenstrecken – ja, Ihnen sogar ein Geschenk antragen, damit es in Zukunft nicht zu irgendwelchen Streitereien zwischen uns kommt.« -851-
»Ich warne Sie, Schmied. Könnte sein, daß mein schönes Essen doch in Ihrem Schoß landet. Ich bin mir durchaus darüber im klaren, wie die Fedels es mit der guten Miene und mit allfälligen Versprechen halten. Ihr Übereifer war es, Chefpublizistin Schmied, der zu diesen Engagements in der finstersten Provinz geführt hat – aus denen die Fedels im übrigen überhaupt nicht heraus können. Denn gleichzeitig mit den Engagements mußten Sie sich auch mit der Bayerischen Staatsbahn einigen, die ihre Fahrpläne so einrichtete, daß jeweils ein Gleis von Stadt zu Stadt frei ist und man einige Beweglichkeit hat und so weiter, nicht wahr? Und natürlich würde die Bayerische Staatsbahn sich diesen einmal aufgestellten Fahrplan nicht gern durcheinanderbringen lassen. Soweit ich von den Fedels weiß, sind sie stinkwütend darüber, was Sie ihnen da eingebrockt haben, und haben Ihnen vermutlich mit Kündigung gedroht. Was für ein Geschenk wollen Sie mir also jetzt machen? Einen Dolch zwischen die Rippen?« Sie bedachte ihn mit einem Blick, der eben dies hätte sein können, doch sie zügelte sich und schaffte es, nur ätzend zu sagen: »Wir bieten Ihnen den Vertrag mit einem unserer Stars an. Wimper, wie wir ihn nennen.« »Eyelash?« sagte Florian auf englisch, um dann auf deutsch fortzufahren: »Ein Liliputaner, wie ich annehme? Ein Gnom oder Zwerg?« »Keineswegs ein mißgebildeter noue, sondern ein richtiger nain, völlig normal proportioniert, das allerdings en miniature. Er ist in den Vierzigern und nur einen Meter groß.« »Hm. Das entspricht etwa der Größe eines Fünf- oder Sechsjährigen. Das ist nicht unbedingt ein Phänomen unter den Zwergen, Schmied.« »Aber Ihr FLORILEGIUM hat überhaupt keinen Liliputaner, wie wir alle wissen. Ein schnurrbärtiger und zigaretterauchender -852-
Fünfjähriger – nun, ist das nicht besser als überhaupt keiner?« »Und Sie wollen ihn mir einfach überschreiben?« »Ja, als Zeichen der Freundschaft.« »Papperlapapp! Dieser Wimper ist für euch ein Klotz am Bein, den ihr gern los wäret. Um welche Schwierigkeiten genau geht es denn? Klaut er? Oder schleicht er sich in die Garderoben der Damen?« »Nein.« Aufseufzend zuckte sie mit den Schultern. »Ihn zeichnet nichts anderes aus als alle Zwergwüchsigen – er ist ein unausstehlicher Kotzbrocken« »Hm. Könnte sein, daß wir ein neues Scheusal gebrauchen können. Unseres hat sich in letzter Zeit außerordentlich geläutert und sich höchst tugendhaft aufgeführt. Beschreiben Sie dieses Luder mal!« »Er behauptet, Deutscher zu sein, und in seinem Konuitenbuch steht der deutsche Name Samuel Reindorf. In Wirklichkeit ist er aber Pole und heißt Hujek oder so ähnlich. Das allein spricht schon Bände. Aber in der Manege oder bei der Sideshow tanzt er, stolziert umher wie ein richtiger Mensch, fordert eine größere Frau aus dem Publikum auf, seine Partnerin zu sein und so weiter. Der Kontrast zur Wirklichkeit ist umwerfend komisch. Und auch, wenn er bei uns mit der Bahn reist – er hat eine eigene Maringotte und ein eigenes Pferd.« »Na gut, ich werd’s mir überlegen, Schmied ... und auch darüber nachdenken, ob ich mich mit einem Waffenstillstand zwischen unseren Unternehmen einverstanden erklären kann ... doch das nur, wenn Sie noch ein bißchen was dazulegen.« »Lieber Himmel! Was denn jetzt noch alles? Der RINGFEDEL verfügt nicht über einen unbegrenzten Vorrat an Artisten, auf die er verzichten kann.« »Kommen Sie, ich bin sicher, Ihnen fällt noch was ein.« »Sie sind ein harter Verhandlungspartner, Florian – jedenfalls -853-
für jemand, dem Gratisgeschenke angeboten werden. Aber ... nun ja ... wir hätten da noch den Furchtbaren Türken ...« »Das ist zweifellos ein Kraftakrobat. Und einen Herkules hab’ ich bereits.« »Was anderes habe ich aber nicht zu bieten. Meine Arbeitgeber werden nicht gerade jubeln. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß auch der Türke seine eigene Maringotte nebst Pferd, Kostümen und Requisiten besitzt ...« »Dann lassen Sie mir etwas Zeit. Ich muß mir das überlegen und mich mit meinem Sprechstallmeister beraten und so weiter.« »Lassen Sie mich Ihre Entscheidung wissen. Ich wohne in der Pension Finkh.« »Verwöhnen tun die Fedels Sie nicht gerade, was? Sie bleiben noch einen oder zwei Tage länger? Ich werde Sie meine Entscheidung wissen lassen.« »Und Sie bekommen Wimper und den Türken, so bald Sie es wünschen«, sagte Schmied und gestattete sich zum erstenmal ein Lächeln. Mit einem sehr ähnlichen Lächeln sagte Paprika verträumt: »Nach einem so guten Essen wie dem, das wir eben zu uns genommen haben, ist mir immer nach Liebe zumute. Geht es dir eigentlich nie so, kleine kedvesein?« »Ach doch, manchmal schon«, gab Sunday zu, beeilte sich dann jedoch hinzuzusetzen: »Allerdings nie bei vollem Magen.« Die beiden waren nach dem Schlemmermahl im Chinesischen Turm auf ihren Lagerstätten in der Maringotte niedergesunken. Clover Lee und Monday waren zu einer Kostümanprobe bei Magpie Maggie Hag. Jetzt lagen Paprika und Sunday rücklings fast bewegungslos nur durch den Mittelgang ihres Wohnwagens getrennt da und starrten matt und müde zur gewölbten Decke hinauf. -854-
»Wann ist dir denn danach?» drang Paprika weiter in sie. »Wenn die Burschen aus dem Publikum dich ausführen?« »Nein. Von denen hat bis jetzt keiner großen Eindruck auf mich gemacht.« Sunday zögerte und sah aus den Augenwinkeln heraus zu Paprika hinüber. »Wahrscheinlich ist das komisch. Aber – naja – richtig erregt – so erregt, meine ich – fühle ich mich eigentlich nur, wenn ich nach einer Ballonfahrt wieder unten lande.« »Daran ist überhaupt nichts Komisches, angyal. Es ist durchaus üblich, daß man sich nach einem Abenteuer oder einem großen Risiko besonders angeregt fühlt.« »Ach, wirklich?« tat Sunday betont uninteressiert. Es folgte Schweigen, doch nach einer Weile fragte Paprika: »Wird Jules die Saratoga denn hier in München aufsteigen lassen?« »Er hofft das zumindest – falls das Wetter es erlaubt.« »Und diesmal bist du wieder an der Reihe, nicht wahr?« Nach einem weiteren ausgedehnten Schweigen sagte Sunday: »Ja.« »Ziehen Sie sich jetzt wieder an, Fräulein Auburn«, sagte Frau Dr. Krauss, nachdem sie ihre ebenso gründliche wie lange dauernde Untersuchung abgeschlossen hatte. »Und kommen Sie zurück zu dem jungen Mann in meinem Sprechzimmer, damit ich mit Ihnen beiden gleichzeitig reden kann.« Autumn sagte: »Wenn ... wenn es schlechte Nachrichten sind, möchte ich lieber, daß er nichts davon erfährt.« »Und ich möchte, daß Sie meinen Anweisungen folgen«, sagte Dr. Krauss. Als die Ärztin hinter und die beiden vor ihrem Schreibtisch saßen, vertiefte sie sich noch einmal in die Notizen, die sie sich gemacht hatte, und wandte sich dann an Autumn: »Nach dem, was ich von britischer Geschichte weiß, haben die Engländer auch Sachsenblut in den Adern.« -855-
»Ist es das, was mir fehlt?« sagte Autumn und lächelte zag. »Wenn Sie Angelsächsin sind, hoffe ich, daß Sie auch etwas von der teutonischen Tugend der Gelassenheit besitzen – Gelassenheit auch unter widrigen Umständen.« »Wir Engländer nennen das Phlegma«, sagte Autumn, und ihr Lächeln kam und ging. »Wie immer das um ihre Tugenden bestellt ist«, ließ Edge sich ungeduldig vernehmen, »sagen Sie uns, wie das mit den Widrigkeiten aussieht.« Die Ärztin nickte ihm zu, wandte sich jedoch weiterhin insbesondere an Autumn. »Das, was ich Ihnen zu sagen habe, erfordert von Ihnen diese Gelassenheit. Ich muß Ihnen nämlich sagen, daß Sie bald sterben werden.« Autumn wie Edge fuhren merklich zusammen, und Edge sagte erschrocken: »Aber verdammt noch mal, Lady, Ihnen kann man Gelassenheit wohl nicht absprechen.« Autumn gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle schweigen, und sagte: »Frau Doktor, wer von uns stirbt nicht?« »Manche aber früher als andere. Ich hätte meine Worte in Watte packen können, Fräulein, doch das hätte ich als grausam empfunden. Jetzt, wo Sie das Schlimmste wissen, kann das, was ich sonst noch zu sagen habe, Ihnen nur noch als trivial vorkommen. Hätte ich dagegen sanft angefangen und mich langsam zu dieser schlimmsten aller Prognosen vorgearbeitet, hätten Sie bei jedem Wort gelitten.« »Dann lassen Sie mich jetzt bitte jedes Wort hören.« »Die medizinische Bezeichnung, fiebrige Phthisis, wird Ihnen nicht viel sagen. Sie haben Tuberkeln in den Knochen, die sich dort bilden und vermehren und diese auf unnatürliche Weise erweitern – im Moment sind das Ihre Schädelknochen – und leider muß ich Ihnen sagen, daß es für diese Art der Phthisis bis -856-
jetzt keinerlei Heilung gibt.« »Sie sagen, ›bis jetzt‹, Frau Doktor. Wird sich diese Krankheit weiter in mir ausbreiten? Ich biete schon jetzt ein abstoßendes Bild. Werde ich womöglich noch häßlicher?« Die Ärztin senkte den Blick und räusperte sich. »Sie werden es für einen schlechten Witz halten, wenn ich Ihnen sage, daß diese Krankheit nur der Tod heilt. Und Sie werden glauben, ich wäre hartherzig, wenn ich hinzusetze: ›zum Glück‹; trotzdem sage ich das. Hätte die Krankheit zuerst anderswo zugeschlagen, hätte sie mit Sicherheit eine Knochenstruktur nach der anderen befallen und hätte Ihnen das Leben zu einer Hölle des Schmerzes und der Hilflosigkeit gemacht. In Ihrem Falle hat sie jedoch – und da muß man eben vergleichsweise doch von Glück sprechen – frühzeitig Ihren Schädel befallen. Die Schädelerweiterung wird weitergehen, aber nicht besonders lange; denn die Krankheit zieht nicht nur Ihr Gesicht und den Kopf überhaupt in Mitleidenschaft, sondern breitet sich auch innerlich weiter aus. Ehe weitere Deformationen merklich in Erscheinung treten, werden die Knochen sich um ein lebenswichtiges Blutgefäß oder um Ihre Hirnlappen verengt haben. Sie werden sterben, und es wird Ihnen vieles erspart bleiben. Verstehen Sie jetzt, warum ich es gewagt habe, von ›Glück‹ zu sprechen?« »Grundgütiger Himmel!« murmelte Edge und sackte auf seinem Stuhl zusammen. Autumn jedoch saß kerzengerade da; Ruhe war in ihr verwüstetes Gesicht eingekehrt. »Jawohl, ich werde für diese Gnade dankbar sein, Mindestens. Ich danke Ihnen, Frau Doktor. Können Sie abschätzen, wann? Und werden die Kopfschmerzen unerträglich werden?« »Nicht viel schlimmer. Das Medikament, das Ihnen der Arzt in Innsbruck gegeben hat, wird die Schmerzen lindern. Ich werde Ihnen einen Vorrat mitgeben, der ... ausreichen wird. -857-
Aber wie lange das genau sein wird, kann ich nicht vorhersagen, ohne Sie ständig weiter unter Beobachtung zu halten, um feststellen zu können, wie rasch die Tuberkeln sich vermehren. Und eine tapfere Angelsächsin wird ja wohl keine Lust haben, ihre letzten Monate – oder Wochen, wie auch immer – in einer Klinik dahinzusiechen. Gehen Sie und genießen Sie, was Ihnen an Welt und Zeit noch bleibt. Und Kopf hoch, wie wir Deutschen sagen – oder keep a stiff upper lip, wie man bei Ihnen wohl sagt.« Als Edge Autumn wie benommen auf die Straße hinausführte, murmelte sie: »Ich möcht’ mal wissen ... warum wir das sagen.« »Eij?« murmelte Edge aus der Tiefe seiner Benommenheit heraus. Autumn zog den Schleier vor ihr Gesicht, um die erst jetzt kommenden Tränen zu verbergen, und sie sagte: »Es ist nämlich die Unterlippe, die zittert.«
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3 »Himmel ja, ein Zwerg in der Sideshow käme mir gerade recht«, sagte Fitzfarris. »Und wenn er noch so ein Aas ist. Ich hab’ grade die Hälfte meiner Schlangenbeschwörungsnummer verloren.« »Stimmt was nicht mit Meli?« fragte Florian. »Nein, bei ihr ist alles in Ordnung. Bloß bei ihrer Python nicht. Ausgerechnet jetzt – wo wir in der größten Stadt sind, die wir überhaupt bisher besucht haben – muß die sich häuten!« »Und das macht sie arbeitsunfähig oder nicht verwendungsfähig?« »Das kann man wohl sagen. Sie stinkt bis zum Himmel. Meli sagt, das sei ganz normal bei Pythons, besonders bei älteren. Jedenfalls dauert es mindestens eine Woche, ehe man sie wieder vorführen kann; ich bin heilfroh, daß ich nicht im Wagen der Vasilakises schlafen muß. Jedenfalls kann Meli bis dahin nur als Medusa auftreten – mit ihren kleinen Schlangen. Und deshalb nehme ich jedes neue Schaustück mit Freuden an.« »Und du, Quakemaker – wie stehst du dazu, daß wir auch den Türken anheuern?« wandte Florian sich an Yount. »Du brauchst nur Nein zu sagen, und ich lehne ihn ab.« »Naja, Prinzipal, mein erster Gedanke war ja auch: Auf keinen Fall. Aber ich möchte nichts tun, was unserer Schau insgesamt schadet. Und ich meine, eine Doppelnummer mit Kraftmenschen könnte sie sogar noch attraktiver machen. Wir beiden könnten in der Manege ja so tun, als würden wir unsere Kräfte messen – mal sehen, wer stärker ist als der andere. Vielleicht ergibt sich daraus ein Schaukampf im Ringen. Und wenn er empfindlich ist, können wir uns ja abwechseln mit dem Gewinnen.« »Nein, tu das nicht!« sagte Fitzfarris und strahlte förmlich. »Damit erschließt sich für mich vielleicht eine zweite -859-
Geldquelle neben dem Mausespiel. Ich nehme Wetten über den Ausgang der Ringkämpfe an. Nur ein Narr würde auf so was wetten, aber Gott sei Dank sterben die Narren nie aus. Sobald die Wetten abgeschlossen sind, geb’ ich dir und dem neuen Herkules heimlich ein Zeichen, und ihr wißt, wer von euch diesmal gewinnen soll.« »Da kommt unser Sprechstallmeister«, sagte Florian. »Und dessen Einverständnis brauchen wir auch.« Doch erst fragte Florian Edge, wie denn der Arztbesuch ausgegangen sei, und erkundigte sich nach Autumns Gesundheitszustand. »Immer das gleiche«, log Edge. »Sie muß weiterhin diese Pülverchen nehmen. Keine Aussichten, daß sie in nächster Zeit wieder auftritt. Allerdings sagt diese Dr. Krauss, sie braucht nicht das Bett zu hüten. Sie darf jedenfalls rauskommen und sich die Vorstellung ansehen, wann immer sie Lust dazu hat.« »Na, immerhin etwas. Wir freuen uns, sie wieder in unserer Mitte zu haben – und sei es nur als Zuschauerin.« Florian erzählte Edge von dem Besuch der Vorausfrau und Pressechefin des RINGFEDEL und der Möglichkeit, zwei neue Artisten für den Circus zu verpflichten. Edge sagte, wenn niemand sonst was dagegen hätte, habe auch er keine Einwände. Dann meinte er nur: »Obie, eigentlich bist du immer noch kein richtiger Circusmann, wenn du so was wie berufliche Eifersucht noch nicht kennst.« »Ich werde nur auf eines eifersüchtig sein«, sagte Yount, »wenn nämlich dieser Türke mehr Witwen von den Stühlen reißt als ich.« »Dann werde ich einen Boten an die Schmied schicken«, sagte Florian. »Allerdings erst morgen. Hoffentlich bereitet ihr die Ungewißheit noch eine schlaflose Nacht.« Edge sah sich rasch auf dem Festplatz um, merkte, daß er eigentlich nur störte und kehrte zurück zu Autumn in ihrer Maringotte, wo er allerdings feststellte, daß bereits Magpie -860-
Maggie Hag ihr Gesellschaft leistete. »Ich hab’ Maggie erzählt, was herausgekommen ist«, sagte Autumn. »Warum hast du mir dann verboten, es Florian oder irgend einem anderen zu sagen?« »Weil kein Grund vorhanden ist, daß auch noch alle anderen sich schlecht fühlen. Ich wünschte, auch du tätest das nicht. Es mag Mag gegenüber nicht ganz fair sein, aber ich mußte es ihr sagen, weil ... wenn es zu Ende geht, weißt du ... vielleicht brauche ich sie dann. Bis dahin, mach bitte ein tapferes Gesicht und ich ...« Sie machte absichtlich einen Witz daraus. »Da niemand mir sagen könnte, ob meine Phthisis tapfer ist oder nicht, werde ich sie verschleiert halten.« Die Zigeunerin knurrte: »Nicht alles Schöne muß auch hübsch sein.« »Es ist lieb von dir, das zu sagen, Mag.« »Ich, ich bin ja nie hübsch gewesen. Deshalb bin ich auch nicht darüber verbittert, es im Alter auch nicht zu sein. Nur Frauen, die früher mal schön waren, werden verbiestert, wenn die Schönheit schwindet. Da bist du mehr vom Glück begünstigt als sie. Du stirbst jung und lieb, und nicht alt und verbittert.« Da entfuhr es Edge: »Na, ich jedenfalls kann nicht sehen, was gut und glücklich an alledem sein soll. Mich kriegt auch die hergesuchteste Circusphilosophie nicht dazu ...« »Du solltest dich was schämen, Zachary!« sagte Autumn. »Und dich bei Mag entschuldigen. Du weißt, daß sie nie jemand von uns was vorgemacht hat. Und wenn du wieder klar denken kannst, mußt du zugeben daß wir beide viel Glück miteinander gehabt haben. Wir sind über ein Jahr zusammengewesen, und alles, was geschah, war erfreulich. Was zum Teil daran lag, daß wir diese Dinge zum erstenmal gemeinsam erlebten. Und da hat es keine Wiederholungen und keine Eintönigkeit gegeben. Und jetzt ...jetzt können wir immer noch alles genießen, vielleicht -861-
sogar noch mehr als zuvor, denn jetzt wissen wir, daß es das letztemal sein kann.« Edge mußte an sich halten, um nicht um sich zu schlagen, Fußtritte zu verteilen und Teller zu zerschmeißen. Statt dessen murmelte er: »Ja, schon recht. Und ich entschuldige mich, Madame Hag.« Vom Tag der Eröffnung an war das FLORILEGIUM in München genauso gut besucht wie zuvor in Rosenheim; der Sideshow und den Verkaufsbuden vorm Eingang erging es nicht anders. Florian und Beck waren geneigt, ein Gutteil des Erfolges der Dampforgel zuzuschreiben, die bereits eine Stunde vor Beginn jeder Vorstellung lustige Weisen schnaufte. Hier draußen, auf dem weitläufigen Gelände des Englischen Gartens konnte man sie spielen, ohne irgendwelche Nachbarn oder Anrainer mit dem ohrenbetäubenden Lärm zum Wahnsinn zu treiben. Wenn auch die Amazonenund Fafnir-Nummer vorübergehend aus dem Programm genommen wurde, nahm der Rote Wagen Silber, Kupfer und Papiergeld und bisweilen sogar einen Gold-Maximilian ein, und das in so reichem Maße, daß Florians Mund ständig ein Lächeln umspielte der sich freilich an Zahltagen, wenn die Artisten ihre Gage erhielten, zu einem breiten Grinsen verzog. Dabei wußten alle, daß die neuen Tiere und andere Neuerwerbungen schon so gut wie bezahlt waren. Florian trat in den Wochen in München sogar für weitere Ausgaben ein. Goesle und Beck tauschten, wo es nötig war, die alten Räder der Circuswagen gegen neue aus, verschönerten sämtliche Wagenräder mit Laubsägearbeiten und statteten die Käfigwagen mit Seitenwänden aus, die strahlende Sonnenaufgänge zeigten; außerdem wurde die Zahl der Karbidlampen für die Spätvorstellung vergrößert bzw. die Lampen als solche verbessert. Eines Tages – das FLORILEGIUM hatte inzwischen drei Wochen lang täglich zwei Vorstellungen gegeben – bogen von -862-
der Straße neben dem Englischen Garten zwei weitgereiste und mitgenommene Maringottes auf den Festplatz ein. Wenige Minuten darauf geleitete Banat ihre Besitzer in den Kontorwagen, wo Florian mit Willi Lothar dabei war, weitere Routen zu besprechen, und stellte die beiden Neuangekommenen so förmlich wie ein Türsteher bei einem Hofball vor: »Shadid Sarkioglu, der Furchtbare Türke! Samuel Reindorf, die Wimper!« »Ah, willkommen, meine Herren, willkommen!« begrüßte Florian sie herzlich. »Sie bilden ein eindrucksvolles Paar.« Das taten sie wahrhaftig, denn der Türke war mindestens so groß und massig wie der Quakemaker, was zur Folge hatte, daß sich die Wimper in der Tat sich wie ein Wicht daneben ausnahm. Doch beide protestierten augenblicklich laut und wie aus einem Mund: »Efendi, ein Paar sind wir nicht. Wir haben nur dieselbe Straße genommen, das ist alles.« »Bringen Sie mich nicht mit diesem Riesenkerl von stinkendem Türken in Verbindung!« »Na, zumindest sprechen Sie beide englisch«, sagte Florian. »Und das ist natürlich durchaus ein Pluspunkt, den Sie für sich verbuchen können.« »Ich mußte viele Sprachen lernen«, sagte Sarkioglu und fuhr sich mit den Fingerknöcheln über den gewaltigen schwarzen Schnauzbart. »Außerhalb Türkiye spricht kein Mensch türkce.« »Und ich habe von meinen Hauslehrern während meiner Knabenzeit viele Sprachen gelernt«, sagte Reindorf und fuhr sich über den winzigen braunen Schnurrbart. »Ich bin nämlich von Natur aus ein Gelehrter.« »Ein etwas größerer Gelehrter, als mir versprochen wurde«, sagte Florian und betrachtete ihn eingehend. »Das hätte ich mir -863-
bei dieser Schmied denken sollen – daß sie mich anlügen würde, einen Meter, hat sie gesagt. Und meiner Schätzung nach sind Sie mindestens einssieben. Außerdem ist der Schnurrbart, den Sie tragen, nicht echt. Würde Ihr Haar sich nicht bereits lichten, könnte man Sie für eine rotzfreche Kindergartengöre halten.« »Sonst noch was, das Ihnen an mir mißfällt?« fauchte der Gnom. »Ja«, mischte Willi Lothar sich ein. »Ihr Künstlername. Da steckt kein Mumm dahinter, Herr Florian. Das fetzt nicht und da springt kein Funke über.« »Sie haben recht«, sagte Florian und überlegte. »Wir werden ihn Little Major Minim nennen. Das versteht man in den meisten Sprachen.« »Bloß Major? Scheiße! Der Kleine Däumling ist jedenfalls General.« »Seien Sie es zufrieden, Minim. Nach Zwergennorm würde man Sie vermutlich nicht einmal als Corporal einstufen.« »Und jetzt werde ich Ihnen mal sagen, was mir mißfällt!« erklärte Minim zähneknirschend. »Dieser Laden hier nennt sich Konföderierter Circus – und das heißt doch wohl Rebellencircus, oder? Wie dem auch sei, jedenfalls wäre ich in meiner Heimat bis auf den heutigen Tag immer noch ein reicher Großgrundbesitzer« – er erdreistete sich nicht, den Namen des Landes zu nennen –, »wäre nicht der Aufstand Anno ’63 gewesen, bei dem die natürliche Gesellschaftsordnung auf den Kopf gestellt und ich gezwungen wurde, ins Exil zu gehen. Deshalb mag ich keine Rebellen.« »Sie sind kein Feldsklave auf der Plantage, sondern nur ein Lohnknecht«, sagte Florian und machte seinen neuen Aktenschrank auf. »Hier ist Ihr Vertrag. Nehmen Sie ihn! Es steht Ihnen frei zu gehen.« »Nein«, sagte der Wicht schmollend. »Ich bin auf die Gage angewiesen und ganz Ihrer Gnade ausgeliefert. Doch erwarten -864-
Sie nicht, daß mir das auch noch gefällt.« »Chef der Racklos, Banat«, sagte Florian, »zeigen Sie unseren neuen Kollegen, wo sie ihre Maringottes abstellen können. Sobald sie sich eingerichtet haben, stellen Sie sie dem Sprechstallmeister vor. Und dann kommen Sie und holen Sie mich. Ich möchte mir gern Ihre Nummern ansehen.« Nachdem die beiden gegangen waren, brummelte Florian: »Bei Gott, dieser Knirps ist ein würdiger Nachfolger unseres letzten Zwergs. Wenn nicht gar seine Reinkarnation.« »Der Große macht aber einen ganz anständigen Eindruck«, sagte Will; »Große Männer sind meistens gut zu haben.« »Wie es aussieht, ja. Nur hätten die Fedels ihn niemals laufen lassen, wenn da nicht irgend was faul wäre. Wir müssen nur abwarten. Dann werden wir es schon erfahren.« »Alle Wetter!« rief Yount im Chapiteau, als Edge ihn holte, seinen neuen Kollegen als Kraftjongleur kennenzulernen. »Sieh dir bloß mal diese Hanteln und Granaten an, die er hat, und sein Schleuderbrett – alles vernickelt!« Jetzt besah er sich auch den Türken selbst, der ihn insofern noch überragte, als er noch über seine gesamte schwarze Lockenpracht verfügte. Der Türke erwiderte den Blick aus sanften braunen Augen und schickte sich zu einem Lächeln an. »Himmel, Zack, ich glaube, du fragst ihn besser, ob er sich überhaupt dazu herablassen will, mein Kraftmenschkollege zu sein.« »Frag ihn selbst, Obie. Er spricht genausogut englisch wie du.« »Ach, wirklich?« »Ja, das stimmt«, sagte Shadid. »Man hat mir gesagt, dir schwebte vor, daß wir unsere Kräfte messen könnten. Wollen wir uns darüber unterhalten?« Sie schlenderten auf die andere Seite der Manege hinüber und plauderten dabei wie alte Freunde. Edge wandte sich dem -865-
anderen neuen Kollegen zu und sagte liebenswürdig: »Nun, wie sieht denn das aus, was Sie so vorführen, Herr Reindorf?« »Es ist beleidigend, mein Können beweisen zu sollen – und zweimal werde ich es gewiß nicht tun. Florian sagte, er wünsche mich arbeiten zu sehen.« »Wie Sie wollen«, sagte Edge, jetzt jedoch nicht mehr liebenswürdig. »Banal holt ihn. Ich kann warten.« Er sah zu, wie Yount seine selbstgemachten Hanteln und Stonewalls Kanonenkugeln in die Manege rollte – die sich neben der glitzernden Ausrüstung des Türken wie Relikte aus der Steinzeit ausnahmen. Der kleine Quincy Simms gesellte sich zu den beiden Kraftmenschen. »Wer ist denn das?« fragte der Gnom und starrte Quincy entgeistert an. »Der junge Ali Baba«, sagte Edge. »Schlangenmensch, Akrobat und angehender Clown. Er arbeitet als komischer Assistent in der Quakemakernummer. Er versucht, eine von diesen unsäglich schweren ...« »Das ist kein Ali Baba«, sagte der Gnom verächtlich. »Das ist ein Neger.« Damit wandte er sich boshaft grinsend Edge zu. »Ich dachte, ihr Rebellen hättet alle eure Neger gelyncht.« »Fertig, Major Minim?« sagte Florian, der mit Fitzfarris im Gefolge herankam. »Das hier ist Sir John, der Leiter unserer ebenso bildenden wie erbaulichen Ausstellungsstücke im Museumswagen. Also, was werden Sie uns zeigen?« »Hier in der Manege? Nichts. Ich bin Tänzer. Ich muß die Hacken zusammenknallen und mit den Füßen stampfen. Und das kann ich hier im Sägemehl und in der ausgelaugten Lohe nicht.« »Dann gehen wir rüber zum Anbau, wo Sie auf dem Podium auftreten wollen. Was für einen Tanz tanzen Sie denn, Major?« »Jeden Schautanz, den man solo vorführen kann: Jig, -866-
Hornpipe, Flamenco, Mazurka. Nach meinem Soloauftritt bitte ich die größte anwesende Frau im Publikum zu mir heraufzukommen. Dann tanzen wir zusammen, und ich sorge dafür, daß sie einen erbärmlich fetten, grobschlächtigen Eindruck macht. Derb.« »Ja, das kann ich mir vorstellen. Sir John, das beste ist, nicht nur Meli begleitet ihn, Sondern auch noch der Akkordeonspieler. Banat, hol ihn; er soll sich für eine erste Probe im Anbau melden.« Fitz sagte: »Major, Sie bringen einen zwar auch schon so leicht zum Lachen, aber ...« »Zum Lachen? Was ich mache, ist Kunst.« »Aber gewiß doch, natürlich! Trotzdem denke ich, es ließe sich noch etwas daran verbessern. Stellen Sie sich vor, nachdem Sie die Frau lächerlich gemacht haben, kommen Sie und legen eine richtig künstlerische Sohle aufs Parkett – mit einer ausgebildeten Partnerin. Vielleicht sollte ich ein Tanzmädchen besorgen.« Minim machte ein finsteres Gesicht, brummelte etwas in seinen Bart und sagte: »Ich mach’ mir nicht viel draus, eine hübsche Frau in den Arm zu nehmen.« »Ach, wirklich?« sagte Florian. »Hätten Sie denn lieber einen männlichen Tanzpartner?« »Quatsch, nein!« sagte Minim heftig. »Ich bin kein gottverdammter Schwuler. Ihr großen Menschen seid im Hirn genauso grobschlächtig wie im Körper. Was ich meine, ist folgendes: Im Vergleich mit einem hübschen voll ausgewachsenen Mädchen, das auch noch gut tanzt, könnte ich schlecht wegkommen. Und das würde mir gar nicht gefallen.« »Verstehe«, sagte Florian. »Nun, gehen wir und sehen wir uns an, wie Sie tanzen. Danach können wir weitersehen. Sprechstallmeister, hätten Sie was dagegen, wenn wir den Major für ein paar Minuten entführen?« -867-
»Im Gegenteil«, sagte Edge, und das war ehrlich gemeint. Er brachte die nächste halbe Stunde damit zu, den beiden Kraftmenschen zuzusehen, wie einer des anderen Requisiten ausprobierte und wie sie sich darüber unterhielten, wie sie ihre Kraftakte abwechseln könnten, wobei Edge ab und zu auch einen Vorschlag machte. Als Florian allein ins Chapiteau zurückkehrte, meinte Edge: »Unsere beiden Herkulesse haben sich geeinigt. Sieh es dir an und sag mir, was du davon hältst. Obie spielt mit seinem rostigen alten Gerät den muskelbepackten Höhlenmenschen, Shadid mit seinen glänzenden Requisiten dagegen den eleganten Stutzer. Obie trommelt sich auf die Brust ein Gorilla und spielt den hartgesottenen Wilden. Und Shadid – und hat mich nun doch verwundert – hat nicht das mindeste gegen die die geziert rumzustolzieren und schüchtern, ja sogar weibisch dreinzuschauen. Zum Beispiel: nachdem Obie seinen Kaltblüter, Lightning, über seine Brust hat hinweggehen lassen, legt auch der Türke sich unter die Planke, um es ihm nachzutun – ruft aber statt Lightning das kleine Rumpelstilzchen, das über ihn hinwegtrippelt.« Florian sagte: »Siehst du, das ist verfeinertes europäisches Künstlertum – hier kennt man nicht den heiligen amerikanischen Schrecken, als unmännlich zu gelten. Hört sich an, als ob sie ein gutes Duo abgäben.« »Zuletzt erweist sich Shadid selbstverständlich als genauso kräftig wie der Höhlenmensch. Lightning trottet auch über ihn hinweg, und beide Männer heben die Schwergewichte und so weiter. Zum Schluß aber will einer den anderen übertrumpfen. Jeder belädt sich mit allen Gewichten, die er überhaupt heben kann. Woraufhin einer die seinen wegwirft und der andere ihn hochstemmt – samt Gewichten. Immer der, den Fitz heimlich als Gewinner angegeben hat.« »Trefflich! Trefflich!« -868-
»Und was ist mit der kleinen Made Minim? Wie sieht dessen Nummer aus?« Florian lachte. »Er ist urkomisch, und zwar, ohne es zu wollen. Und vor allem, ohne es zu merken. Da stellt er sich in der Pose des Flamencotänzers hin – und setzt dabei die gequälte Miene auf, die wohl jeder Flamencotänzer als unverzichtbar betrachtet. Und wenn er dann anfängt, mit seinen winzigen Füßchen aufzustampfen und mit den winzigen Fingerchen zu schnippen, haut das sogar einen alten Knacker wie mich um.« »Und was ist mit einer Partnerin?« »Er ließ sich herab, dem zuzustimmen, allerdings erst, nachdem Sir John ein Mädchen vorschlug, das genauso klein ist wie er. Unser Kind der Nacht, Sava Smodlaka. Die ist ganz froh, in der Sideshow was zu tun zu haben, statt einfach nur herumstehen zu müssen. Sir John probiert jetzt mit ihnen.« »Das klingt ja auch ganz vielversprechend. Wenn wir alle uns zurückhalten können, diese kleine Made zu zertreten, würde ich sagen, wir machen eine ganze Menge aus Ringfedels Abfall.« »Minim reizt gewiß genausowenig zum Mord wie Timm Trim. Ich möchte bloß wissen, warum die Fedels den Türken haben ziehen lassen. Du hast bis jetzt nichts Abstoßendes an ihm bemerkt?« »Noch nicht. Er macht seine Arbeit gut und scheint eher von der verbindlichen Art. Bis jetzt habe ich überhaupt nichts Negatives an ihm entdecken können.« Die Kehrseite der Medaille zeigte sich bei Shadid Sarkioglu auch erst, als er zwischen den Circuswagen hinter dem Chapiteau umherging und sich liebenswürdig jedem Artisten und Racklo vorstellte, dem er in den Weg lief. Und dann zeigte er die Kehrseite auch nur den Vasilakises. Meli war beim Wäschewaschen und Spyros wrang die Sachen aus und hängte sie zum Trocknen auf. Beide hatten nichts weiter als ziemlich fadenscheinige Morgenmäntel an, weil alle anderen Kleider im -869-
Waschzuber waren. Mit einem Lächeln im Gesicht, so daß nicht nur die Lippen, sondern auch der ungeheure Schnauzbart sich nach oben bogen, streckte er den beiden die mächtige haarige Pranke entgegen und nannte seinen Namen. Spyros sagte: »Kalispera«, wischte sich die Hand am Morgenmantel ab und schüttelte dem neu Dazugestoßenen die Hand. Doch plötzlich war Shadids Lächeln wie weggewischt, er riß die Hand ruckartig zurück, und sein Gesicht verdüsterte sich, daß es vom Schnurrbart fast nicht mehr zu unterscheiden war. »Helleni?« rief er. »Jawohl, wir Grik«, sagte Spyros, die Hand immer noch ausgestreckt. »Feinde! Ausrotter!« Da Spyros sich einer Art Englisch bedient hatte, redete Shadid in derselben Sprache. »Wisse denn, daß ich ein moslemischer Türke aus Morea bin. Ein Türke, den ihr ungläubigen Revolutionäre nicht massakriert habt.« »Ai, Christos!« ächzte Meli. Beschwichtigend sagte Spyros: »No, no. Stimmt schon – Turkia und Hellas alte Feinde. Aber wir nicht – wir Freunde.« »Freunde? Wie kannst du es wagen, chiti!« Shadids Augen waren blutunterlaufen und quollen ihm fast aus den Höhlen. Eine seiner Pranken fuhr vor, packte Spyros am Revers seines Morgenrocks und hob ihn vom Boden hoch. »Hellene ist nur eines – ein Feind, den es durch die jihad zu vernichten gilt!« Damit schleuderte er Spyros gegen die Wand seines Wohnwagens, wo er auf den Boden sackte und nicht mehr japsen konnte. Meli duckte sich hinter den Waschzuber, als der zornentflammte Türke sie aus seinen blutunterlaufenen Augen anfunkelte. »Auch Hellenin ist nur eines – sie gehört dem Sieger in der jihad, falls der Sieger gnädig ist.« Abermals fuhr er herum und stieß mit seinem dicken Finger auf Spyros zu, der sich an das Wagenrad klammerte und versuchte hochzukommen. »Du -870-
da! Bleib, wo du bist! In Gegenwart eines Türken hast du nie aufrecht zu stehen! Vergiß das nicht!« Und damit stapfte er davon. Als er nicht mehr zu sehen war, half Meli Spyros auf und sagte drängend auf griechisch: »Wir müssen uns beeilen und Kyvernitis Florian davon unterrichten, ihn um seinen Schutz bitten.« Doch Spyros schüttelte den Kopf, rang nach Atem und sagte mit belegter Stimme: »Nein ... nein ...« Und nach einem Augenblick: »Es hat niemand gesehen. Wir dürfen keine Zwietracht aufkommen lassen.« »Wir?« »Wenn der Kyvernitis den Türken engagiert hat, muß er den Türken haben wollen. Vielleicht mehr als er uns haben will. Vergiß nicht, Weib, uns hat er nur angeheuert, weil wir gestrandet waren. Sollen wir jetzt von ihm verlangen, daß er sich zwischen dem Türken und uns entscheidet? Wir können es uns nicht leisten, dieses Engagement zu verlieren.« »Aber was sollen wir sonst tun?« »Wir müssen alles daransetzen, dem Türken aus dem Weg zu gehen. Wenn unser Anblick ihn nicht reizt ...« er seufzte auf –, »vielleicht läßt er uns dann in Ruhe.« »Vielleicht«, sagte Meli und stieß gleich ihm einen tiefen Seufzer aus. »Vielleicht ...«, wagte Edge Autumn zuzuflüstern, als sie an diesem Abend im Bett lagen. »Vielleicht, daß diese Dr. Krauss sich geirrt hat? Als Laie gesprochen, würde ich sagen, daß die letzte halbe Stunde oder so eigentlich bewiesen hat, daß du so gesund bist wie nur je eine Frau gesund sein kann.« Autumn lachte. »Du bist wirklich ein Laie.« Um dann nüchtern hinzuzusetzen: »Nun, zumindest bin ich froh, daß jedenfalls das noch bei mir funktioniert.« -871-
In der Maringotte waren die Vorhänge vorgezogen und es war so dunkel, wie jetzt immer zur Schlafenszeit, damit sie einander nicht sehen konnten. Wenn sie sich liebten, hielt Edge sich an eine unausgesprochene Regel: ihr nie das Gesicht zu streicheln oder ihr übers Haar zu fahren. Sonst wurden sie in keiner Weise behindert oder eingeengt. Was Edge von Autumns Körper anfaßte, fühlte sich so vollkommen und bezaubernd und erregend an wie immer; auch reagierte sie so leidenschaftlich und glücklich wie eh und je. Sie sagte: »Vielleicht bringt der Gedanke, daß es das letztemal sein könnte, uns dazu, noch mehr als sonst zu versuchen, es zum schönstenmal für uns beide zu machen.« »Aber wenn die Ärztin sich geirrt haben sollte ... überleg doch mal ... dann könnten wir so was Herrliches bis in alle Ewigkeit erleben. Du weißt doch, eine Frau als Arzt, das gibt es selten. Vermutlich hat es sie besonders viel Mühe und Schweiß gekostet, das Studium durchzuhalten, und vielleicht hat sie sogar nicht mal alles mitbekommen. Kann doch also sein, daß sie sich wirklich geirrt hat.« »Vielleicht«, sagte Autumn seufzend. Gleich am nächsten Morgen, zu sehr früher Stunde, wurde die Maringotte der Vasilakises so heftig durchgeschüttelt, als übte ein Elefant seine Kräfte daran. Mit einem kleinen Schrei setzte Meli sich auf, und Spyros, der an der Gangseite der Koje lag, wurde tatsächlich hinausgeworfen. Vor Angst und Verwirrung fluchend, wankte er über den bockenden Boden, stieß die Tür auf und steckte den Kopf mit dem völlig zerzausten Haar hinaus. Der Türke ließ die Ecke des Wohnwagens, den er zum Schaukeln gebracht hatte, fahren, und sagte: »Hey, Grieche. Ich muß in die Stadt und mir ein paar Sachen kaufen, die ich brauche.« »Ugh?« machte Spyros und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Dann geh doch! Warum uns wecken und es uns -872-
sagen?« »Ich hab’ kein Geld. Meine Gage wird ja noch zurückgehalten. Gib mir Geld.« »Ugh? Was? Wir sind keine reichen Leute, Freund. Geh doch und bitte ...« »Ein freund«., sagte Shadid drohend, »würde einem Freund das nicht abschlagen.« Sein Mund samt Schnurrbart grinste, und er fing wieder an, die Maringotte zum Schaukeln zu bringen. »Um Gottes willen, Spyros«, flüsterte Meli von ihrer Koje her. »Gib es ihm!« Der Wohnwagen tanzte weiter und machte es Spyros schwer, den Koffer zu finden, in dem sie ihren Michele-Beutel versteckt hatten, und zwei Gold-Carolins aus dem nicht gerade üppigen Inhalt herauszusuchen. »Hier«, sagte er und verkeilte sich in der hin- und herschwankenden Türöffnung. »Das ist alles, was wir erübrigen können.« Shadid ließ den Wagen fahren und riß Spyros ungestüm das Geld aus der Hand. »Wieviel du erübrigen kannst, wirst du noch lernen, Grieche!« sagte er und trollte sich. Am neunten oder zehnten Tag nach Weihnachten, kehrte Vorausmann und Pressechef Willi von einer Erkundungsfahrt zurück, um zu berichten, er habe in jeder annehmbaren Ortschaft in nordöstlicher Richtung bis nach Regensburg Festplätze angemietet und eine Klebekolonne engagiert, die in der ersten kleinen Stadt nach der ersten Etappe Plakate kleben sollte. Infolgedessen gab Carl Beck, obwohl er einen Ballonaufstieg vor Frühlingsbeginn für unwahrscheinlich hielt, Rouleaus inständigen Bitten zumindest insofern nach, als er in München die Materialien für den Gasgenerator einkaufte, von denen er annahm, daß sie in kleineren Städten nicht ohne weiteres zu haben sein würden. Das Land lag unter einer dicken Schneedecke, als die Circuskolonne München verließ, doch die tüchtigen Bayern -873-
hatten die größeren Straßen vom Schnee freigeräumt. Diejenigen Circusangehörigen, die Kutscherdienste versehen mußten, schützten sich mit Mänteln und Decken und allen möglichen anderen Hüllen. Diejenigen, die in den Wagen bleiben konnten, hielten ihren kleinen Öfen am Brennen, und so hingen hinter der Circuskarawane tiefblaue Rauchwolken in der hellblauen Luft. Das Kamel stapfte klaglos den ganzen Weg über barfuß dahin, wie es das wohl auch in seiner kalten Heimat getan hätte. Barfuß gingen auch die drei Chinesen; wie immer, lehnten sie Schuhwerk ab, und das sogar dann, wenn sie aus irgendeinem Grunde über den gefrorenen Boden laufen mußten. Dafür hatten Hannibal und der böhmische Elefantenkutscher vorsorglich große Füßlinge aus Schafsfell für die Elefanten gefertigt; das Fell nach innen, ließen sie sich mit Hilfe fester Riemen um die großen Füße binden. Eine Artistin freilich, die sich Wind und Kälte nicht hätte aussetzen brauchen – Autumn –, ließ es sich nicht nehmen, sich neben Edge auf den Kutschbock zu setzen. Sie genoß es offensichtlich, dort zu fahren, als ob sogar die gesichtslose Schneewüste es wert wäre, daß jemand sie sah, der sie möglicherweise zum letztenmal zu sehen bekam. Selbstverständlich war das Land nicht ganz und gar gesichtslos. Des öfteren tauchte ein Rudel Rotwild auf, oder eine fröhlich angestrichene Kirche mit Zwiebelturm ragte aus dem weißen Schnee empor, die schartigen Reste einer weiträumigen Klosteranlage oder die gezackten Ruinen einer alten Burg. Die kleinen Städte, in denen der Circus hielt – zumeist nur für eine Nacht, doch manchmal auch, um das Chapiteau aufzubauen und zu spielen –, waren mittelalterlich und malerisch anzusehen. In diesen Städten konnte man nicht länger als eine Woche auftreten, doch in Freising klingelte die Kasse zwei Wochen hindurch und in Landshut sogar drei. Keine dieser Ortschaften hielt Beck für der Mühe wert, die Saratoga steigen zu lassen, doch Rouleau schlug das auch nicht vor. Nach außen gab es den Rest des Winters für das -874-
FLORILEGIUM kein größeres Mißgeschick. Im Verborgenen jedoch war das anders. Shadid Sarkioglu fuhr fort, die Griechen zu quälen; ein besonderes Vergnügen bereitete es ihm, sie in aller Herrgottsfrühe zu erschrecken und aus dem Schlaf zu reißen, indem er ihre Maringotte zum Schaukeln brachte wenn Spyros an die Tür kam, Geld verlangte. »Aber du kriegst inzwischen deine Gage ausbezahlt«, begehrte Spyros auf, als dies in Freising geschah. »Alles ausgegeben, und ich muß eine bezaubernde Dame aus dem Publikum ausführen. Gib mir Geld.« Spyros gab immer und immer wieder nach. Doch seine Willfährigkeit trug in keiner Weise dazu bei, die Feindseligkeit und Bösartigkeit des Türken zu vermindern. Auf der Straße oder auf dem Circusplatz, wo immer Shadid und die Vasilakises sich begegneten, pflegte er zu fauchen, wobei freilich nach einiger Zeit ein blitzender Blick bereits genügte, Spyros und Meli dazu zu bringen, sich irgendwo niederzulassen oder hinzuknien und so zu tun, als sei ihnen ein Schnürsenkel aufgegangen, bis er vorübergegangen war. Irgendwie schaffte der Türke es, diese Demütigungen so zu legen, daß kein anderer Circusangehöriger in der Nähe war. Die Griechen unternahmen auch nichts, Florian oder irgend jemand sonst gegenüber zu erwähnen, daß sie drangsaliert wurden. Ein Umstand ganz besonderer Art freilich wurde Sprechstallmeister Edge zugetragen, doch tat der ihn als völlig belanglos ab. Türsteher Aleksandr Banat kam sich beschweren – zumindest war es das, was Edge seinem aus vielerlei Sprachen zusammengesetzten Kauderwelsch entnahm –, der Circus werde von immer wiederkehrenden Zaungästen betrogen: Kindern, die sich in die Vorstellung einschlichen, ohne zuvor Karten gekauft zu haben. »Das hört sich aber gar nicht nach grundehrlichen Bayern an«, sagte Edge. »Selbst ihre Kinder sind von geradezu -875-
widernatürlicher Ehrlichkeit.« »Fast jede Stadt, auf jedem Festplatz, nach jeder Nachmittagsvorstellung sehe ich ihn, jage hinter ihm her, krieg’ ihn aber nie zu fassen.« »Sie, nehme ich an, meinst du. Und immer nur bei der Nachmittagsvorstellung.« »Nach Nachmittagsvorstellung, Pana Edge. Immer kleiner Junge.« »Kleine Jungen, Banat. Plural. Aber nach der Vorstellung? Willst du damit sagen, sie schleichen sich rein und verstecken sich irgendwo und warten auf den Beginn der Abendvorstellung?« Das überstieg Banats Fassungsvermögen. Er konnte nur achselzuckend wiederholen: »Immer kleiner Junge kommen, ich sehen, ich hinterher, ich nicht mehr sehen.« »Naja, im allgemeinen sind es wirklich kleine Jungen und eigentlich nie kleine Mädchen. Fang sie, wenn du kannst, Chef, aber niemand nimmt es dir übel, wenn du es nicht schaffst.« Banat zuckte nochmals hilflos mit den Achseln und ging brummend davon.
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4 Als das FLORILEGIUM sich schließlich der altehrwürdigen Stadt Regensburg näherte, war es Frühling geworden und für die Artisten nicht mehr zu kalt, sich bis auf ihre Kostüme auszuziehen. In diesem bunten Aufzug machten sie die Parade in die Stadt, wobei wieder die Kapelle vorneweg fuhr und die dröhnende Dampforgel den Schluß bildete. Die Straßen waren gewundene Gassen und so eng, daß die Häuser sich vorzuneigen und an den Giebelspitzen hoch überm Kopfsteinpflaster fast zu berühren schienen. Trotzdem ließ Florian keine einzige Gasse aus, selbst wenn sie so schmal war, daß kein Raum mehr für Zuschauer blieb außer in Toreinfahrten und Fenstern. Die Parade ging weiter über die Steinerne Brücke – auf deren Brüstung sich die Regensburger drängten, um zu winken und in Hochrufe auszubrechen –, hinüber zu den weniger dicht bebauten Vororten auf dem anderen Donauufer, und dann wieder zurück über die Brücke in die Innenstadt. »Hat man in dieser Stadt besonders viel für Hühner übrig?« fragte Edge Autumn und Magpie Maggie Hag, die neben ihnen saß. »In der Mitte der Brücke prangt ein Medaillon mit – wie ich meine – Hühnern, die darin eingemeißelt sind.« »Die sollen an eine alte Legende erinnern«, erklärte Autumn. »Siehst du vorn die Türme des Doms über die Dächer ragen? Nun, vor Jahrhunderten wetteiferten die beiden Baumeister, die den Dom und diese Brücke bauten, miteinander, wer sein Werk wohl als erster beenden könnte. Der Teufel trat an den Brückenbauer heran und bot ihm einen Handel. Wenn er ihm die Seele der ersten drei überließe, die diese Steinerne Brücke überquerten, werde er, der Teufel, dafür sorgen, daß er früher fertig würde als der Dombaumeister. Der Dombaumeister grämte sich dermaßen, daß er sich von einem der noch nicht fertiggestellten Kirchtürme stürzte. Wenn du genau hinsiehst, wirst du unter den Wasserspeiern dieses Turms das Bildnis eines -877-
kopfüber stürzenden Mannes entdecken. Doch als die Brücke geweiht wurde, überlistete der Brückenbaumeister den Teufel, indem er als erste drei Hähne über die Brücke schickte.« Magpie Maggie Hag fragte: »Handelte es sich dabei etwa um weiße und blaue Hähne?« »Himmel, woher soll ich das wissen?« fragte Autumn verwundert. »Gibt es so was überhaupt?« Die Zigeunerin sagte: »Geseh’n hab’ ich sie nie. Aber jetzt schau’ ich weiße und blaue Vögel. Und prophezei’ nichts Gutes daraus.« »Nun«, sagte Edge, »wir haben jetzt ja eine ganze Menge Vögel. Den Auerhahn, die Strauße, Clover Lees Tauben. Von denen allerdings keiner blau oder weiß gefiedert ist. Wir werden auf der Hut sein und aufpassen, aber ich muß sagen, besonders bedrohlich hört sich das mit den Vögeln nicht an.« Als der Circus den ihm zugewiesenen Festplatz im DörnbergGarten erreichte, beeilten die meisten Circusangehörigen sich, wärmeres Zivil anzuziehen und das nahegelegene Hotel Goldenes Kreuz aufzusuchen, in dem Willi Zimmer vorbestellt hatte. Wer nicht dorthin zog, war Jules Rouleau, der vielmehr Carl Beck bei der Beaufsichtigung der Racklos unterbrach, die dabei waren, die Wagen zu entladen. »Ich bin jetzt über viele Wasser dahingeflogen, ami, über große und kleine. Über den Hafen von Baltimore, über den Arno, den Volturno und den Inn. Du wirst mir jetzt doch wohl gestatten, auch über der mächtigen Donau aufzusteigen, oder?« »Ja, ja, ja«, sagte Beck. »Ich will’s nicht länger hinausschieben. Jetzt kannst du dich sogar auf das Einverständnis des großen Johann Strauß berufen. Der hat vor kurzem einen neuen Walzer komponiert, der genauso volkstümlich ist wie alle seine anderen Werke – und er hat ihn der Donau gewidmet. Sobald ich die Partitur bekomme und meine Kapelle das Stück einstudiert hat, soll der Ballonaufstieg -878-
vonstatten gehen. Sag Herrn Florian, er soll das beim Drucken der Plakate berücksichtigen.« So kam es, daß – wiewohl der Circus von Anfang an gut besucht wurde und eine besondere Werbung sich eigentlich erübrigte – Regensburg bald voll war von neugedruckten Plakaten, auf denen es hieß, am Ostersonntag, dem einundzwanzigsten April, werde es selbstverständlich keine Circusvorstellung geben, die Stadt jedoch (vorausgesetzt, das Wetter mache mit) ein Schauspiel erleben werde, wie die Bürger es noch nie gesehen hätten. Fitzfarris klapperte sogleich sämtliche Apotheken ab, bis er eine fand, die Lycopodiumpulver, Bärlapp- oder Hexenmehl vorrätig hatte, so daß auch der Trick mit dem ›Verschwindenden Mädchen‹ vonstatten gehen konnte. Zanni Bonvecino machte einen weiteren Vorschlag zu einer Nebenattraktion für diesen Tag. »Das einzige, was ich brauche, ist dieser Bottich«, sagte er zu Florian und Edge und zeigte auf den alten hölzernen Waschzuber, der dem Circus seit vielen Jahren für alles mögliche gedient hatte. Im Moment wurde gerade in seiner ursprünglichsten Funktion Gebrauch von ihm gemacht: Clover Lee spülte ihr Trikot darin aus. »Außerdem werde ich ein paar Gänse kaufen.« »Wie bitte?« fragte Florian. Auch Clover Lee sah verwirrt von ihrer Arbeit auf. Zanni sagte: »Im Dörnberg-Park werden nicht alle Regensburger Platz finden, um den Ballonaufstieg mitzuerleben. Die Steinerne Brücke ist der beste nächstgelegene Aussichtspunkt; folglich werden sich auch dort die Zuschauer drängen. Und wenn diese Menschen vom vielen in die Luft starren einen steifen Hals bekommen, können sie sich entspannen, indem sie hinabblicken auf die Donau. Und dort werden sie mich in meinem Waschbottich sehen – wie meine Gänse mich die Donau hinunterziehen.« -879-
Clover Lee lachte, und Florian sagte: »Was Komisches – mal was anderes, Signore. Aber die Donau ist ein schnellfließendes und recht turbulentes Gewässer und auch jetzt noch verdammt kalt.« »Keine Sorge, Governatore. Ich habe wirklich keine Lust, ein Bad zu nehmen. Deshalb werde ich mich an die seichten Uferstreifen halten.« »Nur zu, Zanni – aber denk dran, nur weiße Gänse zu kaufen«, sagte Clover Lee, um sich dann an Florian zu wenden und zu sagen: »Ich kann gleichzeitig meine Stehendreiterei absolvieren – die breite Straße hinunter, die neben dem Fluß herläuft – und meine weißen Tauben werden in einer Wolke hinter mir herflattern.« »Warum nicht?« sagte Zanni. »Che sará, sará maraviglioso. Wir alle zusammen – ich, Monsieur Roulette, Sir John, Clover Lee, die Mademoiselles Simms –, das wird ein großer Tag werden, Signor Florian, an den man sich in den Annalen des Circus erinnern wird.« »Und noch was, Zanni«, sagte Edge, dem plötzlich offenbar etwas einfiel. »Achten Sie unbedingt darauf, daß keine einzige dieser Gänse auch nur eine blaue Feder hat.« In den paar Wochen, die bis zu diesem epochalen Tag vergehen sollten, verbrachten die Circusleute ihre freie Zeit damit, durch Regensburgs enge Gassen zu schlendern, die von Menschen wimmelnden Märkte zu besuchen und über die Uferpromenade bis zur Steinernen Brücke zu flanieren und hinunterzuschauen zu den mitten im Strom gelegenen Donauinseln. Kaum einer von ihnen ließ es sich nehmen, hinterher Carl Beck aufzusuchen – der jeden Tag sowohl mit seiner Kapelle als auch mit dem Dampforgelspieler ›An der schönen blauen Donau‹ einübte –, um ihm zu sagen, daß die Donau in Wahrheit von schmutzigbrauner Farbe und keineswegs besonders schön sei, daß immer noch einige Eisschollen -880-
herunterschwömmen. Nachdem er sich dies sechs- oder siebenmal hatte anhören müssen, fing Beck an, seine Besucher anzufauchen: »Wartet, bis ihr in Wien seid – und dann erzählt das Meister Strauß persönlich!« Zanni erstand seine weißen Gänse, acht an der Zahl, und Stitches machte kleines Zuggeschirre für sie. Zanni nahm Gänse und Zuber mit zu einem Teich in der Mitte des DörnbergGartens und begann zu proben. Nachdem er eine schmerzliche Anzahl von Bissen und Knuffen über sich hatte ergehen lassen, schaffte er es, das Federvieh mit Riemen von unterschiedlicher Länge vor den Waschzuber zu schirren; mit Mullenax’ langer Nilpferdpeitsche bewaffnet, zwängte er sich sodann mit stark angewinkelten Beinen in den Zuber. Es kostete ihn viel Zeit und Mühe, bis er die Gänse an das Peitschenknallen gewöhnt und sie dazu gebracht hatte, alle in dieselbe Richtung zu streben. Selbst danach paddelten einige Gänse, wie es sich gehörte, mit den Beinen, während andere mit den Flügeln schlugen und versuchten, sich in die Lüfte zu erheben; doch das Ergebnis all dieser Bewegungen war, daß der Waschzuber zumindest langsam übers Wasser in eben jene Richtung gezogen wurde, die Zanni wollte. »Auf dem Fluß kommt noch die Strömung hinzu; dort wird es besser gehen«, sagte Zanni. »Und was das Durcheinander betrifft – daß einige Vögel schwimmen, während andere zu fliegen versuchen – nun, das erhöht nur noch die komische Wirkung, auf die es mir ankommt.« Karsamstag herrschte schönes, windstilles Wetter; es gab also gute Aussichten auf einen milden Ostersonntag. Paprikas Augen blitzten frisch wie der Tag, als sie leise zu Sunday sagte: »Morgen, gleich nach dem Aufstieg der Saratoga werden alle anderen sich ins Hotel zurückziehen, um den Tag festlich zu begehen. Wir können die Maringotte also ganz für uns allein haben.« »Ja«, sagte Sunday und erwiderte das Lächeln der Frau so -881-
beherzt, daß es Paprika vor Freude fast den Atem verschlug. Doch hinterher suchte Sunday ihre Schwester auf und sagte: »Was hieltest du davon, morgen statt meiner mit dem Ballon aufzusteigen?« Monday plinkerte und grinste, meinte dann jedoch ein ganz klein bißchen mißtrauisch: »Dies’n Aufstieg läßt du dir doch bestimmt nich’ aus schwesterlicher Liebe entgeh’n, oder? Was wird mich das kost’n?« »Nichts. Im Gegenteil, du kriegst was dafür«, sagte Sunday. »Und zwar eine ›andere Art schwesterlicher Liebe‹.« Und erklärte es ihr, so gut es ging, da sie diese ja auch nur vom Hörensagen kannte. Monday war erstaunt, schien aber nicht sonderlich schockiert. Nach kurzem Überlegen, was ihr das ganze wohl einbringen mochte, meinte sie achselzuckend: »Ich werd’s wohl überleb’n. Un’ vielleicht lern’ ich was dabei, das mir hilft, John Fitz zu ang’ln. Un’ außerdem lohnt sich’s wohl allein schon weg’n dem Extra-Ballonaufstieg.« »Und vergiß nicht: Auf keinen Fall den Mund aufmachen!« schärfte Sunday ihr ein. »Sag die ganze Zeit über kein Wort, egal, was passiert. Sie wird uns nie auseinanderhalten – höchstens durch die .. na ja ...« »Ich weiß, ich weiß. Ich kann nich’ so geziert red’n wie du. Aber macht nix. Ich werd’s Maul halt’n. Es sei denn, du lügst mich an un’ diese Art von Lustbarkeit tut weh!« Zeitig am Ostersonntagmorgen stellte Carl Beck seinen Gasentwickler auf, und als es Mittag schlug, hing die Saratoga leuchtend rot und weiß und riesengroß über ihren Halteseilen. Inzwischen schien auch die ganze Stadt – ungeachtet des Alters, Geschlechts oder Zustands, auf den Beinen. Die Frühaufsteher waren direkt zum Festplatz geeilt, drängten sich um das Chapiteau und im Dörnberg-Park und genossen, wie die Kapelle ›An der schönen blauen Donau‹ sowie andere muntere Weisen -882-
spielte. Die Vorbereitungen für den Ballonaufstieg gingen dieweil weiter. Der Rest der Bevölkerung drängte sich auf jedem freien Platz, der ungehinderte Sicht auf den Himmel erlaubte – also in mehreren anderen Grünanlagen der Stadt, den großen Plätzen, die gesamte Steinerne Brücke entlang sowie auf den flußauf- wie flußabwärts dieser Brücke gelegenen Donauinseln, dem Unteren und dem Oberen Wöhrd. Als die Kapelle plötzlich schwieg, wirkte dies geradezu wie eine dramatische Zäsur, als ob der Atem der Stadt selbst, ein langanhaltender Seufzer aus vierzigtausend Kehlen sozusagen, den Ballon hochsteigen ließ. Lauter denn je nahm die Kapelle nach einiger Zeit das Spiel wieder auf, und die Bevölkerung klatschte begeistert Beifall, als sie die Melodie der ›Schönen blauen Donau‹ erkannte. Dies war der Augenblick, da Zanni auf dem anderen Donauufer mit Hilfe der Fährleute seinen Waschzuber mit den davorgespannten Gänsen zu Wasser ließ und sich in den Zuber hineinzwängte, während die Gänse schrien und schnatterten, mit den Flügeln schlugen und die Schwimmhäute der großen Vögel aufschäumend mit der Strömung kämpften. Zanni entrollte die unverhältnismäßig lange Nilpferdpeitsche, ließ sie einmal laut knallen, die Fährleute ließen los – und die Gänse stoben, ob sie wollten oder nicht, flußabwärts; sie mußten sich beeilen, voranzukommen, damit sie nicht vom Zuber überrannt wurden. Mit viel Schwung ließ sich unvermittelt auch die Dampforgel hören, so laut, daß es halb Regensburg hören konnte. Zur selben Zeit ließ Clover Lee Bubbles antraben und dann in einen ruhigen Galopp fallen, gerade eben schnell genug, um nicht hinter Zanni zurückzufallen. Die hilfsbereiten Fährleute öffneten den Korb mit den Tauben, den sie bei ihnen zurückgelassen hatte. Die Vögel brachen in einer weißen Explosion daraus hervor und bildeten eine helle Wolke, die hinter Clover Lee hersegelte und flatterte. Von der Bootslände schwang sich die Uferböschung zur Promenade hinauf, so daß -883-
Clover Lee Zanni in der Tiefe bald aus den Augen verlor. Sie war aber auch viel zu sehr damit beschäftigt, sich aufzurichten und im Stehen weiterzureiten, ihre plastischen Bewegungen und ihr ›Ballett zu Pferde‹ vorzuführen und scheinbar mühelos ihre Salti zu schlagen. Als sich in der Ferne machtvoll die Dampforgel vernehmen ließ und alles andere übertönte, hörte auf dem Festplatz selbst die Kapelle dankbar zu spielen auf. Gleichzeitig rief Florian, der inzwischen eine richtige Flüstertüte aus Blech besaß: »Meine sehr verehrten Damen und Herren!« und lenkte die Aufmerksamkeit auf das Podest, auf dem liebreizend lächelnd ein kakaobraunes Mädchen stand. Während er die Ansage über Geheimnis, Zauberei und unerklärliches Verschwinden herunterratterte, lehnte Fitz sich gegen die Plattform und hielt lässig eine glimmende Zigarre in der Hand. Sunday mußte an sich halten, daß aus ihrem liebreizenden Lächeln kein breites Grinsen wurde, als sie erkannte, daß Paprika überhaupt kein Auge für sie hatte, sondern hingerissen zur Gondel der Saratoga hinaufstarrte. Florian schloß: »Schauen Sie nur!«, woraufhin Fitz sich träge bewegte, es mit einem Puffff aufblitzte, sich eine kräftige Rauchwolke entwickelte und die Falltür unter Sunday sich auftat und sie sich hinunterfallen ließ. Leichtfüßig landete sie auf dem Boden und duckte sich, damit der Boden sich wieder schließen konnte. Dann schlich sie sich zur offenstehenden Rückwand der Plattform hinaus und verschwand unter der Rundleinwand des Chapiteaus. Von dort eilte sie zur Maringotte, die sie mit den anderen Frauen teilte, und zog sich rasch Mondays leichtes Kattunkleid über. Erst danach mischte sie sich wieder unter die anderen Circusangehörigen draußen. Inzwischen hatte die Menschenmenge auf der Uferpromenade den Blick von dem rotweißen Ballon gelöst und folgte entzückt dem goldweißen Bild, das Clover Lee bot, als sie mit ihren eleganten Sprüngen auf Bubbles Rücken stehend ihrem schwirrenden Vogelschwarm vorangetragen wurde. Und die -884-
dicht an dicht auf der Brüstung der Steinernen Brücke stehenden Zuschauer schauten hinunter zu dem Heiterkeit erregenden Schauspiel, das der jetzt bereits von der Gischt völlig durchnäßte Zanni bot, wie er – die Nilpferdpeitsche schwingend – in dem hüpfenden und schlingernden Waschzuber dicht hinter den aufgeregt paddelnden Gänsen herkarriolte und sie alle miteinander auf die Brückenpfeiler zurauschten. Die Zuschauer auf Uferpromenade und Brücke rissen begeistert den Mund auf, doch ihre Hochrufe – oder was sie sonst ausstoßen mochten – waren beim Gebrause der Dampforgel nicht einmal für ihre nächsten Nachbarn zu hören. Zanni und seine Gänse rutschten wie Holzstücke zwischen zwei Brückenpfeilern hindurch. Die Leute auf der flußabwärts blickenden Brückenbalustrade lehnten sich vor und hinab, um sie zur anderen Seite wieder herausfahren zu sehen. Für Clover Lee, die sich jetzt gleichfalls auf Brückenhöhe befand, war das Geschehen unten deshalb erkennbar, weil die Zuschauer langsam die Köpfe hoben, da ihre Blicke Zanni in Richtung Unterer Wöhrd folgten, wo er vorhatte, an Land zu gehen. Deshalb wendete Clover Lee Bubbles jetzt, und die Tauben senkten sich herab, während das Pferd verlangsamte, und ließen sich flatternd dicht an dicht gedrängt auf ihrem Kopf, den Schultern und den Armen nieder. Dann galoppierte Clover Lee den Weg zurück, den sie gekommen war – schüttelte die Tauben ab, so daß sie wieder eine flirrende Wolke hinter ihr bildeten – und gab nochmals mit Varianten ihre Stehendreiterei zum besten. Sie ritt mehrmals die Promenade auf und ab, bis der Schatten des Ballons über sie hinwegglitt, als dieser sanft an Tiefe gewann und sich bebend zur endgültigen Landung auf dem Festplatz anschickte. Die Regensburger brachen in Hochrufe aus, als die Saratoga sich herniedersenkte und – gleichsam zwischen den Dächern der Stadt versinkend – den Augen der meisten Zuschauer entschwand. Die im Dörnberg-Garten Versammelten jedoch -885-
riefen weiter Hurra, als der Ballon zwischen ihnen niederging. Die Racklos waren sofort zur Stelle, das Seil zu packen, das Rouleau hinunterwarf, und auch Paprika war da und reichte Monday die Hand, die sich plötzlich in der Korbgondel aufrichtete – was wiederum Staunen und Entzücken bei den Zuschauern auslöste –, und Paprika half ihr sanft und fürsorglich beim Aussteigen. Begeistert klatschten die Leute weiter und stampften mit den Füßen auf, doch Paprika murmelte: »Jetzt mach Jules nicht seinen Applaus streitig, kedvesein. Gönne ihm seinen Triumph. Hier, ich habe dir einen Mantel gebracht. Du mußt halb erfroren sein.« Damit legte sie ihn dem Mädchen um die Schultern und schob sie fort in Richtung auf ihren Wohnwagen, während Jules Rouleau sich stolz im nicht nachlassenden lauten Beifall der Menge sonnte. »Oija! Du bist ja wirklich eiskalt!« sagte Paprika, als Monday in der Maringotte den Mantel von den Schultern gleiten ließ. »Deine Haut ist ganz libabör, dabei ist sie sonst so seidig! Aber ich werde dich massieren, daß dir wieder warm wird.« So plapperte sie unaufhörlich weiter, als wäre sie noch nervöser als das Mädchen und wüßte nicht genau, was als nächstes passieren würde. »Rasch, zieh das Trikot aus und leg dich hin. Auch ich werde mich freimachen. Nackte Leiber wärmen besser als alles andere ... Oijaj de szep!« Dieser Ausruf der Bewunderung kam mit angehaltenem Atem, als Monday das Trikot hinunterrollte und dann auch noch das einzige andere ablegte, das sie trug: das kleine Cachesexe. Paprika konnte sich nicht genug tun, »Oijaj de szep!« mit leuchtenden Augen immer aufs neue zu wiederholen. Monday stand einen Moment voller Unbehagen da, bedeckte sich mit den Händen, um sich gleich darauf wieder zu entblößen. Paprika schüttelte sich und sagte: »Oijaj de szep heißt nichts weiter als: Ach, wie wunderschön du bist! – aber ich sollte kein Magyarisch sprechen, das du nicht verstehst. Da du jetzt etwas deutsch kannst, sollte ich mich nur deutscher Koseworte bedienen – für das Intimste, ja? Aber leg dich nur -886-
hin, leg dich nur hin, ich bin gleich bei dir.« Langsam streckte Monday sich auf dem Bettzeug aus; immer noch nackt, ließ sie die Augen nicht von der Frau, ebensowenig wie Paprika die ihren nicht von ihr ließ. Als wäre sie völlig verwirrt, redete Paprika weiter, während sie mit den Fingern zitternd an den Verschlüssen ihrer eigenen Kleidung herumnestelte. »Ich weiß noch ganz genau, wie du vor langer Zeit meiner ehemaligen Partnerin erzählt hast, du schämtest dich deiner – deines Flaumhaars da unten zwischen den Beinen. Erinnerst du dich noch, Sunday? Du sagtest, es sähe aus, als wären Pfefferkörner dort unten verstreut. Und das stimmt ja auch, das stimmt ja auch, aber es ist bezaubernd! Es verbirgt nichts und läßt deine Schamlippen wunderbar frei. Wie verletzlich! Ach, Liebste, Süße, dessen solltest du dich nie wieder schämen!« Sie lachte unsicher und sagte dann: »Sieh dir im Gegensatz dazu nur meine an!« Monday tat eben dies, denn Paprika hatte inzwischen alle Kleidung von der Taille ab fallen lassen und trug nur noch die Bluse, an deren Knöpfen sie mit fahrigen Bewegungen herumfummelte. Monday sah mit ungespielter Neugier hin, denn eine von Clover Lees Verhaltensregeln in der Maringotte untersagte es jeder Bewohnerin, sich in Gegenwart einer anderen bis zur Gänze zu entblößen. »Siehst du? Mein rötliches Schamhaar ist alles, was du dort siehst. Es enthüllt so wenig, als wäre es ein Cachesexe. Ah, aber darunter ... fast geniere ich mich, es zu gestehen ... mein rubinroter Kitzler ist so hart geworden wie der Ständer eines Mannes, und das bloß, weil ich dich angesehen habe!« Abermals lachte sie unsicher auf, doch es klang jetzt fröhlich. »Und du auch, Liebchen – haha! – schau nur runter auf deine Brüste. Deine reizenden dunklen Brustwarzen haben sich auch steif vorgestülpt, und das kommt nur daher, daß du mich ansiehst, nicht wahr?« -887-
Monday zögerte, doch dann nickte sie und schluckte vernehmlich. »Wir sind uns eben doch sehr ähnlich, meinst du nicht auch? Warum hast du nur so eigensinnig lange damit gewartet, das herauszufinden? Ach, das verdammte Ding!« Ungeduldig riß Paprika sich die Bluse herunter, so daß die Knöpfe absprangen. Schwer atmend, als hätte sie einen langen Lauf hinter sich, streckte sie sich dicht neben Monday aus und drängte sich an sie. »Ach, Sunday, Süße, wie gut wir einander tun werden!« Sie nahm Mondays Gesicht in die zitternden Hände und öffnete Mondays bebende Lippen mit einem leidenschaftlich drängenden Kuß. Die mit dem Taubenkorb beladene Clover Lee wählte von der Bootslände mit Bedacht den langen Umweg um die Randgebiete der Stadt herum zurück zum Dörnberg-Garten. Allerdings kam sie nur langsam voran, denn selbst die Nebenstraßen waren voll von den Menschen, die nach dem ihnen gebotenen Schauspiel auseinandergingen, ihr Daheim oder die Kirche aufsuchten oder einfach müßig spazierengingen. Als sie den Festplatz erreichte und Bubbles der Obhut eines Racklos überließ, erkundigte sich Florian bei ihr, wie denn ihr Teil des Spektakels aufgenommen worden sei. »Es hätte nicht besser gehen können«, sagte sie. »Alle, die nicht Zanni zusahen, sahen mir zu. Mehr Applaus hätten wir uns nicht wünschen können, auch wenn wir ihn beim Lärm der Dampforgel nicht hören konnten.« »Ich nehme an, der Professor braucht noch eine Weile, den Apparat hierher zurückzubringen«, sagte Florian und ließ den Blick über die noch im Park zurückgebliebenen Gaffer schweifen. »Und was ist mit Signor Bonvecino?« »Der wird wohl noch länger brauchen, wo er doch mitten durch die Stadt zurück muß. Er sagte, nach der Vorführung würde er den Gänsen die Freiheit schenken, doch hoffe ich -888-
stark, daß er zumindest den Waschzuber wieder zurückbringt.« »Ach, wenn nicht, ist auch nicht viel verloren. Es ist ein toller Tag gewesen. Komm jetzt. Wir gehen alle rüber ins Hotel, um uns in unseren Festtagsstaat zu werfen und zu einem üppigen Ostermahl niederzulassen.« »Für gewöhnlich«, sagte Paprika, »bereitet Frauen eine der Brustwarzen lustvollere Gefühle als die andere.« Mit den Fingerspitzen zwickte sie zärtlich eine von Mondays Nippeln nach der anderen, und das Mädchen wand sich. »Ich werde sie jetzt abwechselnd küssen, lecken und daran saugen, damit wir herausfinden, welche dir mehr Lust macht als die andere.« Nach einer Weile, in deren Verlauf Monday wiederholt vernehmlich die Luft anhielt und sich wand wie eine Schlange, hob Paprika den Kopf, lächelte mütterlich und sagte: »Die linke. Köstlich empfindsam, ja?« Verlegen erwiderte Monday das Lächeln und nickte. »Na schön, und jetzt mach du bei mir das gleiche, liebste Sunday, und rate anhand meiner Reaktionen, welche es bei mir ist.« Als Florian im neuerstandenen Frack, Rüschenhemd und vorzüglich geschnittener Hose vom Hotelzimmer zu den Speisezimmern hinabschritt, die er hatte reservieren lassen, sah er sich suchend um und meinte dann zu Jörg Pfeifer gewandt: »Ich möcht’ mal wissen, wo dein Kollege bleibt. Wo die Straßen immer noch so voll sind, hätte ich gedacht, daß er direkt ins Hotel kommt.« »Wahrscheinlich hat er seine Requisiten zurückgebracht zum Festplatz«, sagte Pfeifer. »Mit so was nimmt er es sehr genau.« »Nun«, sagte Florian, »mit dem Essen hat es keine Eile. Wie ich sehe, sind auch andere noch nicht hier. Mademoiselle Paprika, Barnacle Bill, eines der Simms-Mädchen ...« »Das reicht«, sagte Paprika atemlos und löste sich aus dem letzten langen und wechselseitig tiefgründigen Kuß, den sie im Laufe des Vorspiels getauscht hatten. »Genug jetzt der -889-
Vorbereitungen, sonst werde ich noch verrückt. Fühl mal, wie mein Kitzler sich zu deiner Begrüßung aufgerichtet hat. Leg deine Hand hierhin, so! Ahh. Und jetzt öffne sie sanft mit den Fingern, wie die Flügel eines Schmetterlings. Und da drin ... ah, dort!« Paprika wand sich in höchstem Entzücken, spürte jedoch gleichwohl, daß auch Monday bebte. »Ach, es erregt dich, mich bloß dort zu berühren. Aber meine Liebe, du befriedigst dich dort ja wie dieser Trampel von Schwester, den du hast. Laß mich das für dich tun, während du es bei mir machst. Nimm die Beine auseinander, nur ein bißchen. Siehst du, deiner ist genauso keck und saftig wie meiner. Laß es uns zusammen tun ... jaja, so ist’s richtig ... Mein Gott ...!« Florian klopfte mit einem Löffel an die Weinkaraffe, bis sich ihm alle aufmerksam zuwandten, und verkündete: »Ein paar von uns fehlen noch, aber es hat keinen Sinn, die Speisen kalt werden zu lassen. Nehmt Platz, Ladies and Gentlemen. Und vielleicht würdest du, Dai, ein österliches Tischgebet sprechen.« Während Laienprediger Goesle eben dies tat, ging Florian hinüber in den angrenzenden Raum, in dem die Böhmen aßen, und rief Banal vom Tisch fort. »Es ist mir unangenehm zu stören, Chef der Racklos, aber ich brauche einen vertrauenswürdigen Boten.« Banat, der den Mund noch voll hatte und auf etwas herumkaute, nickte vertrauenswürdig. »Es fehlen immer noch etliche Artisten, aber am meisten Sorge mache ich mir um Zanni. Kein Mensch scheint ihn gesehen zu haben, seit er den Fluß hinuntergefahren ist. Würdest du wohl zum Festplatz rüberlaufen, Banat? Der Sprechstallmeister und seine Freundin sind in ihrer Maringotte zurückgeblieben. Frage bitte Zachary, ob Zanni zurückgekehrt ist. Wenn er nirgends zu finden ist, komm so schnell wie möglich hierher zurück und sage es mir.« »Du lieber Himmel!« entfuhr es Paprika. »Wir haben beide -890-
den Höhepunkt ein dutzendmal erreicht und liegen immer noch da wie vorher. Jetzt laß uns mundvögeln. Kennst du das: mundvögeln?« Monday schüttelte den Kopf, freilich nur langsam, denn ihr Haar war schwer von Schweiß. »Dann werde ich’s dir zeigen.« Paprika nahm auf der Lagerstatt eine andere Stellung ein. Beim ersten feuchtwarmen Gefühl zuckte Monday verkrampft zusammen und stieß einen Schrei aus. »Schling mir die Arme um die Hüften und halt dich fest!« Monday fuhr fort, krampfhaft zu zucken – und kleine Schreie auszustoßen –, bis sie schließlich das Gesicht in Paprikas rotem Flaum barg und zum erstenmal herausfand, wozu man den Mund auch gebrauchen konnte. Hinterher schlugen die beiden mit den Armen wie mit Windmühlenflügeln um sich und wälzten sich hin und her, leise diesmal jetzt freilich, da sie alle Laute in der anderen erstickten. Nachdem sie alles auf dem Festplatz, im Chapiteau und im Anbau und sogar in den Verkaufsständen der Schausteller abgesucht hatten, liefen Edge und Banat noch einmal zu den Circuswagen und rissen jede Tür auf. Bei den Maringottes klopften sie vorher laut, ehe sie sie aufmachten. Bei einer rief Edges Pochen eine erschrockene Reaktion hervor: »Pokol! Ki a csuda?« »Bist du das, Paprika?« rief Edge drängend. »Ist Zanni vielleicht bei dir?« Einen Moment herrschte betroffenes Schweigen, und dann ertönte etwas, was sich für Edges Ohren anhörte, als kicherten zwei Mädchen doch antworten tat auf höchst ungehaltene Weise nur Paprikas Stimme: »Bestimmt nicht! Was für eine Frage?« »Tut mir leid, dich gestört zu haben. Es ist nur so, daß Zanni nirgends aufzutreiben ist. Er ist auch zum Essen nicht erschienen.« Paprika rief noch etwas, doch Edge wandte sich bereits zum Gehen. Banat sagte: »Auch in den anderen Maringottes nicht, -891-
Pana Edge. Er ist nirgendwo.« »Dann geh rasch zu Florian. Er soll alle anderen Männer zum Suchen herausschicken. Ich selbst laufe sofort zum Fluß hinunter, denn bald ist es dunkel.« »Wir sollten uns wohl besser beim Essen blicken lassen«, sagte Paprika träge. »Und vermutlich besser getrennt dort eintreffen, damit sich niemand das Maul zerreißt. Aber noch nicht sofort. Laß uns noch ein bißchen liegenbleiben und uns ausruhen. Bis jetzt habe ich die ganze Zeit über geredet und dich mit Kosenamen überschüttet. Du hast überhaupt keine Gelegenheit gehabt, irgend etwas zu sagen. Und ich will dir offen sagen, warum. Das lag an der Nervosität; ich war wie ein behütetes Mädchen, als ob es für mich das erstemal wäre. Und in gewisser Weise war es das ja auch. Denn bis jetzt hat es für mich nie etwas anderes bedeutet als etwa einen Schluck Wasser zu trinken, wenn ich Durst hatte. Diesmal ist das erstemal gewesen, daß ich ... Naja, irgendwer hat neulich mal zu mir gesagt, falls ich jemals lieben sollte – und da habe ich nur gelacht und irgendeine flapsige Antwort gegeben. Ich habe geglaubt, lieben, das könnte ich nie! Aber jetzt, bei dir ... ach, Sunday, Sunday, Süße! – Doch gleichviel, ich sollte meine Liebe nicht allzu kühn beteuern. Vielleicht hat es dir gar nicht soviel bedeutet, oder bei dir braucht es seine Zeit, dir darüber klarzuwerden, ob ... Aber wie dem auch sei, zumindest haben wir die Schranken eingerissen. Es kann viele Male mehr so was geben wie heute, Sunday, Liebste – Gelegenheit für uns, noch die geheimsten Stellen in der anderen zu erforschen und festzustellen, was die andere wie am liebsten mag, damit wir einander das höchste Maß an Lust bereiten können.« Glücklich lachend und zärtlich drückte sie Monday an sich. »Aber jetzt...was wir schon miteinander gemacht haben ...können wir Schöneres voneinander empfangen?« Erschrocken hob Monday den Kopf, um wie benommen zu fragen: »Empfangen? Miss Paprika, Ma’am, Sie woll’n doch -892-
nich’ etwa sag’n, daß Sie mir’n Baby gemacht ha’m?« Wie von der Tarantel gestochen fuhr Paprika zurück. Entsetzt wich sie vor Monday zurück und sprang von der Lagerstatt herunter. Erstarrt und doch am ganzen Körper bebend stand sie daneben und starrte das Mädchen unter ihr an. »Du bist ... bist gar nicht ...« sagte sie mit einer fassungslos erstickten Stimme. »Bist nicht ...« »Sie sollt’n es ja nich’ merk’n«, sagte Monday zerknirscht. »Isten Jézus!« Paprika lief rot an, so daß ihr Gesicht jetzt in der Tat einer reifen Paprikaschote glich. »Ich hab mir dafür ’n Ballonaufstieg eingetauscht.« Das flammende Rot in Paprikas Gesicht wurde womöglich noch roter und breitete sich bis zu den Brüsten hinunter aus. Mit furchtbarer Stimme sagte sie: »Nie im Leben hat man mich so beleidigt und gedemütigt, mich dermaßen erniedrigt ...« »Un’ Sie haben’s nich’ gemerk’, Miss Paprika – wozu sich also so aufreg’n un’ wütend wer’n? Sunday un’ ich, wir sin’ Drillinge, un’ körperlich unterscheid’n wir uns kein bißchen. Hat’s nich’ trotzdem genausoviel Spaß gemacht, als ob Sie’s mit ...?« Wortlos fauchte Paprika sie an; als ob Monday plötzlich eine Fremde wäre, die sich eingeschlichen hätte, riß sie ein Kissen an sich und bedeckte sich den glattschimmernden Leib und den dichten roten Flaum. Mit der freien Hand gab sie Monday zu verstehen, sie sollte verschwinden. »Aber – Miss Paprika«, flehte das Mädchen. »Krieg’ ich’n nu wirklich’n Baby von dem, was wir getan ha’m?« »Du dummer Neger-Trampel! Geh mir ... aus den Augen!« Monday glitt von der Lagerstatt hinunter, drückte sich so weit wie möglich von Paprika entfernt an der Wand entlang und griff nach dem nächsten Straßenkleid, das sie fand – eines, das ihrer Schwester gehörte, und zog es sich hastig über den Kopf. Ohne -893-
erst Strümpfe anzuziehen, schlüpfte sie in die Schuhe und floh aus der Maringotte. Im Laufen knöpfte sie das Kleid zu.
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5 Kaum hatte Edge den Park verlassen, stieß er auf Mullenax, der auf schwankenden Beinen darauf zusteuerte. Edge fragte ihn: »Kommst du aus dem Hotel, Abner? Ist Zanni dort inzwischen aufgetaucht?« »Ah ... das Hotel. Das Essen. Ich hab’ gewußt, daß da was war ... ich hab’s ganz vergessen«, sagte Mullenax mit bereits schwerer Zunge. Die kleinen Kneipen hatten zu Ehren des Feiertags nicht geschlossen. »Nach Zanni hältst du Ausschau? Verdammt, der muß inzwischen schon in Wien gelandet sein oder wo immer dieser Fluß hinfließt.« »Du hast ihn gesehen? Wann?« »Als er den Fluß runnerschlidderte. Ich hab’ ihm vonner Brücke aus zugesehn, mitt’n unner den Gaffern. Wo immer dieser Spaßvogel auftaucht, er wird ganz schön gerupft ausseh’n. Als ich ihn zuletzt sah, kenterte der Zuber un drehte sich immer wieder um un’ um, un’ er is’ immer wieder mit’m Kopf unner Wasser gerat’n. Er wollte diese Leute zum Lachen bring’n, un’ das is’ ihm weiß Gott gelung’n. Sag mal, is’ da noch was vom Ess’n übrig?« Doch Edge lief bereits weiter. Als er bei der alten Wurstküche in der der Steinernen Brücke aus den engen Gassen herauskam, wandte er sich nach rechts, lief die Flußpromenade entlang und spähte immer wieder von Befürchtungen erfüllt übers Wasser. Doch Wasser war alles, was er sah; nur ein paar schmutzige Eisschollen trieben in dem braunen Gebrodel; auf der anderen Seite des Flusses erblickte er das verfilzte Ufergesträuch der Unteren Wöhrd. Er versuchte, ein paar Leute anzuhalten, die immer noch spazierengingen, doch seine wenigen deutschen Wörter und sein Gestikulieren hatten nur verständnisloses Schulterzucken und Entschuldigungen zur Folge. Deshalb trabte er weiter und ließ den Blick immer wieder suchend schweifen, -895-
bis er über das Ende der Insel hinaus war und das gegenüberliegende Ufer der Donau im schwindenden Licht nur mehr verschwommen auszumachen war. Falls Zanni jenes Ufer erreicht hatte, war Edge viel zu weit entfernt, ihn zu erkennen. Infolgedessen machte er kehrt und lief zurück; als er die Strecke bis zur Brücke halb geschafft hatte, stieß er auf Florian, der sagte: »Fast alle sind gekommen und helfen suchen, Männer wie Frauen. Im Hotel habe ich nur Sir John zurückgelassen, damit er uns benachrichtigt, falls Zanni dort auftaucht. Der Quakemaker und der Furchtbare Türke sind von der Brücke auf die Insel hinuntergeklettert, um sie von Anfang bis Ende zu durchkämmen.« »Ich habe mich umgehorcht«, sagte Edge, »aber nicht viel Erfolg damit gehabt.« »Das habe ich auch getan. Ein paar von denen, die Zannis Darbietung gefolgt sind, sagten, sie hätten gerufen und versucht, ihn zu warnen. Für sie war er tollkühn – oder lebensmüde.« »Das glaube ich jetzt auch – wo ich mir den Fluß mal etwas genauer angesehen habe. Probiert hat er nur auf einem ruhigen Teich. Wenn er es erst hier getan hätte, hätte er es sich bestimmt noch mal überlegt.« »Es ist vor allem meine Schuld«, sagte Florian trübsinnig. »Ich hätte wirklich besser aufpassen müssen. Zwar war mir etwas mulmig, als ich sah, wie er sich in den Zuber reinzwängen mußte ...« »Und Maggie hat Schlimmes vorhergesehen – mit Vögeln, weißen und blauen.« »Was?« »Ach, lassen wir das. Komm, wir gehen zurück zur Brücke und sehen nach, ob Obie und Shadid eine Spur von ihm entdeckt haben.« -896-
Sie kehrten zurück, und Florian sagte: »Fünffünf nimmt es am schwersten. Um ihm etwas zu tun zu geben, habe ich ihn losgeschickt, die Polizei zu informieren. Die haben ein Patrouillenboot auf dem Fluß – eine Dampfbarkasse – und gute Laternen, falls bei Dunkelheit gesucht werden muß.« Als sie die Brücke erreichten, liefen sie rasch bis zur Mitte, denn sie sahen Yount und den Türken mühevoll einen der mächtigen Mittelpfeiler hochklettern und etwas zur Brüstung hinaufreichen, wo einige ihrer Kollegen und eine Handvoll Regensburger sich drängten. »Das hier haben wir gefunden«, sagte Yount keuchend. Er und Shadid waren bis zur Hüfte völlig verschlammt und sonst mächtig zerkratzt. Was sie gefunden hatten, war der Holzzuber, dessen Dauben sich aus dem Reif gelockert hatten und klapperten. »Es sieht nicht gut aus für Zanni, Direktor. Es waren nur noch drei Gänse an dieses Ding geschirrt – tot natürlich. Wie gerupft haben sie ausgesehen. Und Wasser, das es fertigbringt, Gänse zum Untergehen zu bringen – naja, da schwimmt ein Mensch erst recht nicht oben.« Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Dann fragte Edge Florian: »Sollte ich bekanntgeben, daß wir morgen nicht spielen?« »Nein, nein«, sagte Florian. »Ob lebend, verletzt oder tot – das würde Zanni nicht wollen. Die Nachricht wird sich in der Stadt wie ein Lauffeuer ausbreiten, aber wir können nicht erwarten, daß die Leute uns bemitleiden. Nein, mach eher unsere Leute darauf aufmerksam, daß sie keine Trauermiene aufsetzen, sondern so fröhlich wie möglich aussehen sollen. Und sie müssen morgen besonders gut sein – und ihre Nummern in die Länge ziehen, um die Zeit von Zanni auszugleichen, falls er bis dahin immer noch nicht aufgetaucht ist.« »Hast du Zanni gesehen, sis?« fragte Fitzfarris, als er beim Anblick der durch die Vordertür hereinkommenden Monday in der Halle des Hotels aufsprang. Ihr Kleid war unordentlich und ihr Haar zerzaust wie die Mähne einer Stute. -897-
»Nein«, sagte sie wie benommen. »Jemand drauß’n hat vorhin auch nach ihm gesuch’. Wird er vermißt? Meine Schwester isses, die ich such’.« »Ja, er wird vermißt. Und Monday hat sich dem Suchtrupp der anderen angeschlossen ...« Sie schrie ihn förmlich an und sagte: »Ich bin Monday, verdammt, John Fitz!« Mehrere Gäste in der Halle drehten sich nach ihnen um. »Ja, entschuldige, entschuldige! Aber das ist doch Sundays Kleid, das du anhast, falls ich mich da nicht auch irre. Und besonders gut zugeknöpft hast du’s auch nicht, Kleines. Du siehst aus, als hätt’ man dich rückwärts durch ein Astloch gezogen. Was hast du denn gemacht?« Klagend rief sie: »Ach, John Fitz, ich hab’n Bammel, ich krieg’n Kind.« Wieder drehten sich die Köpfe einiger Gäste nach ihr um, und Hoteldiener richteten sich auf oder blickten hinter Säulen hervor, um besser sehen zu können. »Na, hör mal ...« sagte Fitzfarris peinlich berührt und sah sich seinerseits nach den Neugierigen um. »Versuch jedenfalls, es nicht hier zu kriegen. Geh nach oben.« »Dir isses ’türlich egal!« rief sie womöglich noch lauter, brach dann in Tränen aus, stürzte sich auf ihn und krallte ihre Hände in seine Hemdbrust. »Na, hör mal«, wiederholte Fitzfarris, klopfte ihr hilflos den Rücken und bedachte die Leute, die ihn anstarrten, mit einem schauerlichen Blick. »Sis, ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Hier in Regensburg bin ich jetzt als Schürzenjäger abgestempelt, das hast du geschafft. Komm jetzt. Laß mich dir hinaufhelfen in dein Zimmer.« Ihr Geheul ging in leises Schluchzen und dann in Schniefen über. Er half ihr die Treppe hinauf und fragte fürsorglich: »Wer – ich meine, wie kommst du darauf, daß du in anderen Umständen bist?« -898-
Monday bekam einen Schluckauf und sagte: »Wieso, weiß ich auch ’ genau. Aber is’ das nich’, was ›empfangen‹ bedeutet?« »Ja. Aber du bist dir nicht sicher, wieso! So was ist, wenn ich mich recht entsinne, bisher nur ein einziges Mal in der Weltgeschichte passiert. Ich kann nur hoffen, daß der Heilige Geist die Jungfrau Maria nicht ganz so völlig durcheinander gebracht hat, wie du es zu sein scheinst.« »Ich bin aber keine Jungfrau mehr!« rief sie im Klageton. Ein Zimmermädchen, das gerade vorüberkam, drückte sich gegen das Geländer, um sie vorbeizulassen, und sah Fitzfarris dabei vernichtend an. »Jesus!« knurrte er. Als sie das Obergeschoß erreichten, fragte er sie, wo ihr Zimmer liege, brachte sie dorthin und geleitete sie dann zum Bett. »Zieh die Schuhe aus und leg dich hin!« Rücklings warf sie sich aufs Bett, warf einen Unterarm über die Augen und lag still schluchzend da. »Wäre es bequemer für dich, wenn du das Kleid nicht ganz so verrückt zuknöpfen würdest?« Ohne hinzusehen, benutzte sie die freie Hand, die Knöpfe aufzumachen, und murmelte: »Was is’ passiert?« »Das wüßte ich gern von dir.« »Ich mein’, ihm. Was is’ Zanni zugestoß’n?« »Leider muß ich dir sagen, daß er von seiner Kahnpartie auf der Donau nicht zurückgekehrt ist. Wir befürchten, er könnte ertrunken sein. Doch darüber mach dir im Moment mal keine Gedanken. Vermutlich hast du selbst Sorgen genug. Ist dir jemand zu nahe getreten, Monday?« Schniefend sagte sie kaum hörbar: »Ja.« »Verdammt! Dann, glaube ich, muß ich wirklich erfahren, wer ...« Sie nahm den Arm ein Stück fort, so daß sie ihn sehen konnte, und sagte dann – diesmal allerdings nicht mehr mit versagender -899-
Stimme: »Du bist eifersüchtig?« »Nun, eher besorgt um dich als eifersü...« Wieder riß sie den Arm über die Augen und rief greinend: »Ach, dir isses wirklich egal!« und fing wieder an zu heulen. »Na schön, na schön, ich bin eifersüchtig. Und deshalb meine ich, du sagst mir besser, wer es war, damit ich – ich denke, irgendwas muß wohl unternommen werden.« Wieder linste sie hinter dem vorgehaltenen Unterarm hervor. »Allright, er war’s – er Zanni.« Eindringlich und lange sah er sie an. »Komm, sis. Die Wahrheit.« »Die war’s ja. Deshalb habbich dich ja gefragt, was aus ihm geword’n is’.« »Du kommst grade eben ins Hotel rein. Zanni hingegen fehlt seit Mittag.« »’s war ja, ehe er wegging. Hastu dir denn nie Gedanken darüber gemacht’, wieso Quincy dazu gekomm’ is’, in der Clownsnummer mit richtig’n Clowns mitzumach’n? Ich hab’ Zanni gebet’n, mein’ klein’ Bruder inner richtig’n Nummer mitmach’n zu lass’n. Un’ er sagte, allright, er würd’ dafür sorg’n, wenn ich, wenn ich ... un’ seither hatter es immer wieder mit mir gemach’.« »Dieser Hurensohn!« fluchte Fitz, allerdings immer noch nicht ganz überzeugt. »Zanni ist immer so ein höflicher Bursche gewesen. Bist du sicher, daß du dir das nicht alles eingebildet hast, sis?« »Ich kannas dir zeig’n«, sagte Monday einfach. Sie hatte das Kleid ’nzwischen bis ganz unten aufgeknöpft. Jetzt schlug sie die Vorderseite useinander, damit er sie ganz sehen konnte – ihr kakaobraunes Fleisch, die dunkelbraunen Brustwarzen, das Dreieck aus schwarzen Pfefferkörnern zwischen den Beinen und die getrockneten weißen Flocken, die daran hafteten. -900-
Unten sagte Florian zu mehreren Circusangehörigen, die gemeinsam mit ihm ins Hotel zurückgekehrt waren: »Ich weiß zwar nicht, wo Sir John steckt, aber beim Empfang hat man mir gesagt, Zanni sei noch nicht wieder aufgetaucht. Auf jeden Fall habe ich den Hotelportier gebeten, jeden von uns, wie er eintrudelt, in den Speisesaal zu schicken. Da das Essen auf so tragische Weise unterbrochen wurde, sollten wir jetzt alle einen Happen zu uns nehmen, um uns zu stärken.« »Ich habe keinen großen Hunger«, sagte Edge. »Und ich möchte auch zurück zu Autumn.« »Ich hab’ auch keinen Appetit«, sagte Yount. »Was ich allerdings gebrauchen könnte, wäre ein Schnaps – und furchtbar wohl auch, wie ich annehme. Wir sind beide ziemlich ausgekühlt und überall zerkratzt.« Edge zog also davon, und die anderen begaben sich in den Speisesaal, wo sich später nach ergebnislos verlaufener Suche noch andere zu ihnen gesellten. »Du kleine Lügnerin«, sagte Fitzfarris, wälzte sich von Monday herunter und zeigte ihr den roten Fleck auf dem Laken. »An dich herangemacht, was? Und Schiß gehabt, schwanger zu sein, eh? Naja, jetzt hast du allen Grund, das zu befürchten.« Sie jedoch sah alles andere als besorgt drein, sondern lächelte vielmehr hochbefriedigt und triumphierend. Gleichwohl war sie bemüht, ein feierliches Gesicht zu machen, als sie sagte: »So ha’m wir’s nie gemach’. Wir ha’m das gemach’, was Miss ... was Mr. Zanni ›Mummvögln‹ nannte. Kennstu das auch?« »Ich hab’ nie viel italienisch gelernt«, sagte er trocken. Unter einigem Zögern sagte sie: »Na, ich denk, das würd’ auch bei dir geh’n. Auf die Art, mein’ ich.« Skeptisch sagte Fitz: »War Zanni irgendwie anders gebaut als ich?« »Hm, no. No, Es is bloß ... hm, lasses mich versuch’n ...« -901-
Sie legte sich auf dem Bett zurecht, und nach einer Weile murmelte Fitz leicht fassungslos: »Jetzt versteh’ ich überhaupt nichts mehr!« Und noch etwas später, als er wieder normal atmete, sagte er: »Hast du wirklich gedacht, so könntest du schwanger werden? Hat deine Mutter euch Mädels denn nie erklärt, wie man schwanger wird?« »Huh huh, ich denk, Mammy hat uns alles erklärt, wassie wußte. Aber bestimmt hat noch nie eine Frau in ganz Virginnny jemals was von ›Mummvögln‹ gehört. Ich jed’nfalls nich’, bis ... naja, un’ wie sollt’ ich da den Unterschied kenn’? Ich wollt’ dir ja nix vormach’n un’ es mit dir mach’n, um dich rumzukrieg’n.« »Eins jedenfalls ist sicher. Ich kann jetzt nicht mehr Kleines zu dir sagen.« »No. Ich bin ‘ne Frau. Deine Frau binnich jetzt.« »Bist du sicher, daß du das auch wirklich sein willst? Offensichtlich bin ich kein besserer Mann als dieser Zanni. Zuzulassen, daß du ...« »Aber du bis’ mein Mann. Was ich auch mit dir mach’, ich tu’s nur deshalb, weil ich es möchte! Könnt’n wir vielleich’ von jetzt an ’n richtiges Paar sein, du un’ ich, mein’ ich? Ganz öffentlich, so wie Colonel Zack un’ Miss Autumn? Auch wennich ’n Nigger bin?« »Wenn du das noch ein Mal von dir sagst, dann setzt ’s Prügel wie bei einem richtigen Ehemann.« Er seufzte auf, doch klang das nicht gerade unglücklich. »Ich habe zwar nie daran gedacht, mir eine Kinderbraut zu nehmen. Aber ich würde es nie tun und geheimhalten, wie dieser Zanni. Jawohl, Monday, von jetzt an ...« Sie quietschte vor Vergnügen und schlang die Arme um ihn. »Und als erstes solltest du es wohl deiner Schwester sagen. Die anderen übernehme ich. Denn das bedeutet einige Veränderungen in der Platzverteilung beim Unterwegssein. Laß mich jetzt was anziehen und wieder nach unten gehen.« »Dann ist es jetzt Sache der Strompolizei«, sagte Florian -902-
resigniert. Nachdem sie sich mit Essen gestärkt hatten, ertränkte er jetzt zusammen mit den Männern des FLORILEGIUM seine Sorgen in Schnaps, Wein und Bier. Auch einige der Frauen hatten zur Stärkung ein Glas Schnaps getrunken, sich dann jedoch in ihr Hotelzimmer oder ihre Maringotte zurückgezogen, um sich in der Abgeschiedenheit ihrer Trauer hinzugeben. »Ah, da kommt ja Sir John. Mann, wir hatten schon Angst, auch du wärest verschütt gegangen.« »Nein, ich war – naja – ich habe das ›gute Werk des Tages‹ getan. Monday Simms kam völlig aufgelöst zu mir, und ich habe ihr ins Bett geholfen. Reich mir mal die Flasche, Maurice, ja?« »Falls the show must go on, wie du es nennst, Florian«, sagte Rouleau, »nun ja, die Saratoga ist noch zur Hälfte aufgeblasen; wir brauchten bloß ein bißchen nachzuhelfen. Jedenfalls könnten wir den Ballonaufstieg morgen wiederholen.« »Guter Gedanke. Sozusagen Flagge zeigen. Fünffünf, hast du jemand, der kurzfristig das Spiegelentree ersetzen könnte?« »Nichts, das so gut wäre, versteht sich. Aber Major Minim ...« Pfeifer wandte sich an den Gnom, dessen Kopf kaum über den Tisch hinausragte. »Du könntest beim komischen Wettkampf mit Ali Baba doch Zannis Stelle einnehmen.« Minim versetzte bissig: »Ich laß’ nicht zu, daß man sich über mich lustig macht.« »Du wirst genau das tun, was man dir sagt!« erklärte Florian nicht minder bissig. »In einer so schwierigen Situation werden wir keinerlei Rücksichten auf deine sogenannten künstlerischen Ambitionen nehmen. Wir haben alle zu tun, was notwendig ist – du machst darin keine Ausnahme.« Minim fauchte bösartig in sein Glas hinein, zierte sich aber nicht weiter. »Und noch was, Direktor«, sagte Yount. »Furchtbar und ich, wir können unsere Ringernummer mit einer Sache verlängern, an der wir geprobt haben. Laß einfach die Longe über den Mast -903-
hinaushängen, so daß wir ohne weiteres herankönnen. Wir machen folgendes: Wir schwingen uns abwechselnd durch die Manege wie die Affen im Urwald, und treten wie sonstwas nacheinander.« »Gut, gut. Jedes kleine Bißchen hilft. Nur wird das Seil auch dann noch dort hängen, wenn du mit deiner Trapeznummer anfängst, Maurice. Ist es dir dabei auch nicht im Weg?« »Das glaube ich nicht«, sagte LeVie. »Wo gerade davon gesprochen wird – ich könnte es sogar gebrauchen, um meiner Pete-Jenkins-Nummer damit noch einen besonderen Dreh zu geben. Wenn mein betrunkener Bursche sich mit den Racklos balgt, wird Paprika mißbilligend von oben runtersehen und sogar die Strickleiter hochziehen. Dann wird mein Lehrling auf komischunbeholfene Weise an diesem Extraseil hochklettern müssen, um zur Brücke hinaufzugelangen.« »Gut, gut.« »Falls du keine weiteren Anweisungen für mich hast, Efendi Florian«, sagte der Türke, »muß ich jetzt hoch und aufräumen. Ich habe heute abend ein Rendezvous mit einer Dame, die es bewunderungswürdig fand, wie ich zur Brücke geklettert bin.« Sein Gesicht samt Schnauzbart verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Und dafür muß ich mir noch Geld holen.« »Hör mal, Shadid«, sagte Fitzfarris. »Um so oft Damen zu bewirten, wie du das tust ... naja, das kostet doch ein Vermögen. Wenn du nicht jedesmal an deinen Michele-Beutel rangehen willst, möchtest du vielleicht mal auf richtig leichte Weise schnell etwas Geld verdienen. Wie wär’s, wenn du mir deine Maringotte und dein Pferd verkauftest?« Der Türke machte ein interessiertes Gesicht, und die anderen sahen neugierig Fitzfarris an. »Ich würde meinen Anteil von der Maringotte, die ich mit anderen teile, abziehen, und du könntest mit Obie, Abner und Jules zusammenziehen.« »Mach ein Angebot«, sagte der Türke. »Ich brauche nicht ein -904-
ganzes Haus für mich. Quakemaker? Roulette? Ihr hättet nichts dagegen?« Beide sagten »Nein, nicht im geringsten«, und meinten, auch Abner Mullenax, der gerade nicht da war, werde keine Einwände haben. Er sei ohnehin immer viel zu betrunken bei seiner Heimkehr, so daß er bestimmt nicht merken würde, wenn jemand anders im Wagen schlafe. So gab es nur ein kurzes Hin und Her zwischen Fitzfarris und Sarkioglu, Fitz bezahlte die vereinbarte Summe, und der Türke ging zu seinem Stelldichein. »Ich will euch sagen, Freunde, warum ich ausziehe«, sagte Fitz. »Das geht uns nichts an«, sagte Rouleau. »Du brauchst es nicht groß zu erklären.« »Aber dich geht es was an, Florian«, sagte Fitz. »Wo du doch so eine Art Vormund für die Simms-Kinder bist, brauche ich vermutlich sogar deinen Segen. Monday und ich ...« »Sprich nicht weiter. Das Mädchen schmachtet dich schon seit einer Ewigkeit an. Wenn es ihr endlich gelungen ist, dich an den Haken zu kriegen, kann ich nur sagen, daß ich gratuliere und diese Nachricht Licht in einen ansonsten dunklen Tag bringt.« Florian hob das Glas und sang das traditionelle deutsche ›Hoch soll’n sie leben!‹ Die anderen Männer schlossen sich ihm mit nicht ganz so würdevollen Worten an. »Kein Wunder, daß du so sehnsüchtig dreinschautest, als der Türke ging, Fitz«, sagte Yount. »Eine Frau für dich allein – dann wirst du ja jetzt wohl aufhören, dauernd wider den Stachel zu locken.« »Na, hoffen wir, daß sie es schafft, ihn zu zähmen«, sagte Pfeifer. »Ich würde darauf nicht wetten.« LeVie sagte: »Ach, die Liebe nimmt es, wie die Religion, mit jeder Art von Exzentrizität auf.« »Mumpitz«, sagte Beck. »Sir John schafft es mit seinen -905-
überspannten Reden schon, sie unter den Daumen zu kriegen.« »C’est vrai«, sagte Rouleau. »Ich habe Fitz neulich abend sein Nachtgebet sprechen hören. Und wißt ihr was? Er hat dabei gelogen!« Monday lag immer noch unbekleidet auf dem Rücken und lächelte verzückt vor sich hin – da trat Sunday ins Zimmer, setzte sich neben sie und sagte abgespannt: »Es ist soviel passiert, daß ich zwischendurch sogar dich und dein Abenteuer vergessen habe. Hast du das von Zanni gehört?« »Uh huh«, machte Monday verträumt und immer noch beseligt lächelnd. »Ich habe draußen die Straßen abgeklappert und mein Deutsch an jedem versucht, der mir begegnete, aber kein Mensch weiß etwas.« Sunday stieß langanhaltend den Atem aus. »Nun«, sagte sie dann, warf aus den Augenwinkeln heraus einen langen Blick auf ihre nackte Schwester und sagte: »Nun, so wie du aussiehst, scheint das Abenteuer nicht unerträglich gewesen zu sein.« »No, ma’am«, erklärte Monday mit Nachdruck. Sie setzte sich auf, umschlang die Knie mit den Armen und strahlte womöglich noch mehr als zuvor. »Jeder Augenblick heute is’ einfach toll gewes’n. Ich bin dir richtig dankbar dafür.« Mit einem Anflug von Unbehagen sagte Sunday: »Nun, ich bin bloß raufgekommen, um nachzusehen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Das scheint ja der Fall zu sein. Willst du nicht runterkommen und einen Happen essen?« Monday kicherte. »Sister, du würdst es nich’ glaub’n, wie voll ich bin! Un’ wassich heut’ nich’ alles gelernt hab’!« »Ach du meine Güte! Von ihr? Hoffentlich hat sie dich nicht zu so was gemacht, wie sie selbst ist.« »Nönö. Du hastes mir ja alles richtig gesag’, un’ dafür binnich dir dankbar. Jed’nfalls hab’ ich mir so John Fitz geang’lt. Was -906-
sagstu dazu?« »Wie hast du dir John Fitz geangelt?« fragte Sunday aufgeschreckt. »Mit alldem, wassich gelernt hab’. Sach’n, mit den’ du dir vielleich’ Mr. Zack ang’ln kannst. Hör mal zu!« Genüßlich und schwungvoll erzählte Monday alles, was sich ereignet hatte, seit sie aus der Gondel der Saratoga gestiegen war, und je weiter sie in ihrem Bericht vordrang, desto mehr gingen Sunday die Augen über. Nur einmal unterbrach sie ihre Schwester und fragte: »Du hast also alles verraten?« »Tut mir leid, sis. Ich hatt’ ehrlich vor, nix zu sag’n.« »Ach, macht nichts. Früher oder später wäre sie ja doch dahinter gekommen. Da hat sie wohl einen Tobsuchtsanfall bekommen, oder?« »Kannstu wohl sag’n! Naja, nachdem ich hierher entwisch’ war ...«, fuhr sie fort zu erzählen, und Sundays Augen weiteten sich womöglich noch mehr. Am nächsten Tag gab es noch immer keine Spur von Zanni Bonvecino und auch keine Nachricht von der Strompolizei. Die meisten Artisten waren vollauf damit beschäftigt, neue Tricks zu erlernen, um damit ihre Nummer zu verlängern, und Beck und seine Racklos pumpten zusätzlich Gas in den Ballon der Saratoga. Auf dem Festplatz wimmelte es von Neugierigen, die bereits vor Mittag warteten, Karten für die Zweiuhrvorstellung zu kaufen. Offensichtlich wußte die ganze Stadt von dem Unglück, und alle wollten wissen, wie der Circus damit fertig würde. Da aber die Artisten alle Hände voll zu tun hatten und im übrigen bemüht waren, den Gaffern nur ein lächelndes Gesicht zu zeigen, fiel die einzige unversöhnlich wütende Miene, die anscheinend nie wieder lächeln wollte, keinem Menschen auf. Selbstverständlich war die Vorstellung ausverkauft, und diejenigen, die Karten bekamen und sie sich ansehen konnten, -907-
fanden an den Leistungen der Truppe offensichtlich nichts auszusetzen. Vielleicht fiel ihr Beifall nach jeder Nummer aus Mitgefühl sogar noch kräftiger aus als sonst. Alles lief wie am Schnürchen bis zu der Nummer vor der Pause. Paprika hatte Sunday den ganzen Tag über weder angesprochen noch sie auch nur eines Blickes gewürdigt – beide hatten sie dafür gesorgt, daß sie nicht gleichzeitig zum Garderobenwagen gingen, um dort in ihr blaues Trikot zu schlüpfen –, und Sunday war es mehr als recht, daß Paprika schwieg, statt wütend auf ungarisch über sie herzufallen. So hatten die beiden immer noch nicht miteinander gesprochen, als sie oben auf der Brücke standen und Sunday das Trapez pflichtschuldigst hinausschwang oder festhielt, während Paprika zu den Klängen von ›There Is But One Girl‹ ihren Solopart absolvierte. Während Paprika den Applaus der Zuschauer entgegennahm und sich verneigte, ging die Kapelle zu den Melodien des ›Fliegenden Holländers‹ über, und aus der Menge trat mit allem Klamauk der betrunkene Pete Jenkins in die Manege, ehe er zum Trapez hinaufkam, dort oben zum blauen Blitz wurde und sich somit als der berühmte Maurice zu erkennen gab. Nach seinem blendenden Solo gingen er und Paprika zu schwungvollen Walzerklängen über, und Sunday fuhr fort, die Trapezstange entsprechend ihrem »Houp lä!« auf sie zuschwingen zu lassen. Unvermittelt wurde die Aufmerksamkeit des Publikums von der Nummer durch ein auffälliges Geschehen am Eingang des Chapiteaus abgelenkt. Ein paar Gendarmen wollten eintreten und wurden, da sie keine Eintrittskarten hatten, von Banat abgewiesen; infolgedessen eilte Florian hinüber, um nach dem Rechten zu sehen. Nach einiger Zeit winkte er Edge heran, seinen Posten in der Manege aufzugeben und zu ihm zu kommen. Die Zuschauer verfolgten dies Geschehen – das offensichtlich mit der gestrigen Tragödie zusammenhing – jetzt mit solcher Aufmerksamkeit, daß nur wenige mitbekamen, was sich hoch über ihnen am Trapez abspielte. -908-
Es war der Augenblick, da Sunday kurz an der Nummer teilnahm Paprika kam im Kniehang und mit ausgestreckten Armen auf die Brücke zugeschwungen. Sunday streckte ihrerseits die Arme aus und sprang, beider Hände packten sich an den Handgelenken jeweils der anderen, Sunday wurde im Bogen heruntergetragen, und gerade, als sie die Talsohle des Abschwungs erreichten, bleckte Paprika die Zähne, sah Sunday an und – ließ los. Die kleinere der beiden Frauen schaffte es zwar, sich noch für den Bruchteil einer Sekunde an ihrer Partnerin festzuhalten, doch nicht lange genug, um die erforderliche Höhe oder Schwungkraft zu gewinnen, den auf sie zuschwingenden Maurice zu erreichen. Sie mußte Paprika fahren lassen, und so flog Sunday dicht genug unter Maurice hindurch, um das Entsetzen auf seinem Gesicht wahrzunehmen. Florian sagte zu Edge: »Weit flußabwärts hat die Polizei eine Leiche gefunden und zurückgebracht nach Regensburg. Die Beamten sagen, sie sei aufgeschwemmt vom Wasser, gedunsen und außerdem von Fischen angenagt. Es könnte auch jemand anders sein. Sie möchten, daß wir hinkommen und sehen, ob wir ihn identifizieren können.« Höchstens die Hälfte der mehr als tausend Zuschauer im Chapiteau verfolgte, was oben geschah, und noch wesentlich weniger hielten die Luft an, als sie begriffen, daß Sundays freier Flug unbeabsichtigt war, daß sie jeden Augenblick in den fernsten Bankreihen landen und dort zerschmettern mußte. Kapellmeister Beck jedoch ließ wie immer die Augen nicht von dem Geschehen, weil er die Musik der Nummer anpassen mußte. Fast noch ehe Sundays kurzer Flug endete, hatte er die Kapelle abbrechen und in getragenem Tempo Mendelssohns ›Hochzeitsmarsch‹ anstimmen lassen. Edge sagte gerade zu Florian: »Wozu diese Eile? Sag doch der Polizei, sie sollen sich in ihrer Wahnsinnstüchtigkeit bremsen und warten. Sag ihnen, daß sowieso gleich Pause ist – Himmel!« -909-
Beim Klang der Katastrophenmelodie fuhren Florian und er herum. Das ganze Publikum brach fassungslos in betroffen klagendes Geschrei aus. Sunday hing immer noch in der Luft; ihr schlanker blauer Leib zuckte wie wild. Mitten im Flug hatte sie die Longe, die die Kraftmenschen nach ihrer Nummer hatten hängen lassen, zu fassen bekommen oder vielmehr war mit solcher Gewalt dagegengeschleudert worden, daß Seil und Ausleger heftig herumgeworfen wurden und das untere Seilende wenig über den Köpfen der nächstsitzenden Zuschauer knallte wie eine Chambriere – doch Sunday hielt sich fest daran. Maurice war auf der Brücke über ihr gelandet, ließ die Strickleiter fallen und kletterte rasch daran hinunter. Paprika schaukelte dem Anschein nach völlig gelassen immer noch im Kniehang an ihrem Trapez hin und her und verfolgte, was unter ihr geschah. Den Ausdruck auf ihrem Gesicht konnte kein Mensch erkennen. »... Vögel ...«, murmelte Edge wie im Selbstgespräch, als er und Florian hinzuliefen. Maurice gelangte zu einer Sprosse, die auf gleicher Höhe mit Sunday lag und obwohl sie immer noch zuckend hin- und herschwang, gelang es ihm das Seil zu packen und solange festzuhalten, bis es sich beruhigt hatte. Dann half er der zitternden Sunday erst einen Fuß und dann den anderen auf die Sprossen zu setzen und die Strickleiter schließlich mit beiden Händen zu packen. Maurice wich ihr nicht von der Seite; erschöpft stieg sie hinunter, und als sie den Manegenboden berührte, knickten ihr fast die Knie ein. Florian und Edge erwarteten sie – und die Polizei desgleichen. Sunday zeigte zu Paprika hinauf, mußte jedoch keuchen und nach Atem ringen und eine ganze Zeitlang schluchzen, ehe sie die Worte herausbekam: »Sie hat versucht, mich umzubringen. Sie hat mit Absicht losgelassen.« Die Menge hörte diese Worte nicht, und die Gendarmen verstanden sie nicht; trotzdem folgte jedes Gesicht im Chapiteau -910-
Sundays ausgestreckten Arm, und starrte vorwurfsvoll und anklagend zu Paprika hinauf. Ganz hoch oben gab diese jetzt mit ihrem Körper Schwung, so daß die Schaukelbahn immer länger wurde und immer höher ging – völlig widersinnig paßte die Kapelle das Tempo des ›Hochzeitsmarsches‹ diesen Schwüngen an. Dann, am höchsten Punkt einer Bahn angekommen, entspannte Paprika die angewinkelten Beine und flog schwanengleich im aufwärts gerichteten Flug ins Leere. Ihre Flugbahn trug sie nur noch einen ganz kurzen Augenblick durch die Luft, dann prallte sie gegen die geneigte Fläche der Zirkuskuppel und schlug mit einem Plopp dagegen, das noch über der Musik zu hören war. Der Schwan wurde zu einem. Stern, der blau glitzernd dort oben prangte, und dann in einer gleichfalls bogenförmigen Flugbahn hinab zur Manege stürzte, wo er – diesmal mit einem dumpfen Laut – aufschlug und mit grausiger Endgültigkeit liegenblieb. Florian war augenblicklich in der Manegenmitte, riß das Megaphon vor den Mund, und Beck trieb seine Kapelle hastig in den Marsch, mit dem für gewöhnlich das Finale schloß. Als Yount und der Türke hinstürzten, um sie aufzurichten und ihr zu helfen, zwischen ihnen zum Hinterausgang zu ›gehen‹, verkündete Florian den Zuschauern lautstark, sie wären soeben Zeuge eines besonders einstudierten Bravourstücks geworden, und es sei kein Unglück passiert, alles gehöre zur Vorstellung dazu. Dringlich gab er Sunday und LeVie ein Zeichen, und Edge stützte sie, so daß sie es irgendwie sogar schaffte, zu lächeln und die zitternden Arme in Siegerpose in die Höhe zu reißen. Jetzt, so verkündete Florian lautstark weiter, sei Pause; wer wolle, könne den Platz verlassen und sich draußen bei den Schaustellern amüsieren; die gesamte Truppe werde hinterher heil und gesund wieder auftreten und die zweite, höchst spannende Hälfte des Programms vorführen. nächsten Vormittag erlebte Regensburg ein Spektakel, das bisher genausowenig dagewesen war wie die beiden Ballonaufstiege: eine -911-
Circusbeerdigung, eine Doppelbestattung überdies. Angeführt von Florians schwarzer Kutsche und der dampfenden, gleichwohl stummen Dampforgel, bestand der Trauerzug aus mehreren schwarz ausgeschlagenen Circuswagen, auf denen sämtliche Circusangehörigen mitfuhren. Der Ballonwagen mit einer schwarzen Bahre darauf, trug die Särge von Zanni und Paprika. Die Musikanten der Kapelle spielten auf ihrem Wagen das Thema aus Chopins ›Sonata Funebre‹, und so rollte der Zug gemessen vom Dörnberg-Garten bis zum katholischen Friedhof. Wenn auch die Behörden hinsichtlich der ›Unregelmäßigkeiten‹, zu denen es im Laufe der beiden vorangegangenen Tage gekommen war, noch manche Fragen stellten – und ungezählte Formulare ausfüllten –, hatte es keinerlei Schwierigkeiten gegeben, die beiden Leichen anständig und in aller Öffentlichkeit unter die Erde zu bringen. Florian hatte nur ihre Konuitenbücher vorgezeigt, um zu beweisen, daß beide – Giorgio Bonvecino und Cecile Makkai – zu Lebzeiten katholisch gewesen waren, woraufhin die kirchlichen Behörden gnädig die Erlaubnis zur Bestattung in geweihter Erde erteilt hatten. Trotzdem schien dem Priester, der das Totenamt las, nicht sonderlich wohl in seiner Haut zu sein; er sah häufig vom Meßbuch auf und zu der buntgewürfelten Trauergemeinde hinüber, die um ihn und die Meßdiener herum stand. Neben den Musikanten in ihrer Uniform und den Artisten in Leinen- und Drillicharbeitskleidung konnte Pater Anselm drei Leute erkennen, die unverkennbar Asiaten waren, zwei Schwarze, zwei Albinos, einen Zwerg, eine in weiten Mantel und Schleier gehüllte Person unbestimmbaren Geschlechts, einen Riesen in Leopardenfell und noch einen in knappem Lendenschurz, einen Mann mit einem leichenblassen Gesicht und noch einen mit einem Gesicht, das zur Hälfte blau und zur anderen fleischfarben war, einen Mann in fransenbesetzter Hirschlederjacke. Einzig zwei Mann fanden Pater Anselms -912-
Billigung – Florian und Goesle –, die beide anständig gekleidet waren, und nur eine Frau – Autumn –, die ein richtiges bürgerliches Kleid trug. Nach dem Gottesdienst, den Gebeten und den zahlreich geschlagenen Kreuzen sowie etlichen Weihwasserbesprengungen und Beweihräucherungen sprach Florian die letzten Worte über sie – noch einmal, diesmal freilich im Plural, die gleichen lateinischen Wörter für: Sie tanzten, sie bereiteten Freude, sie sind tot. Auf Florians Zeichen hin wurde die feierliche Wohlanständigkeit durchbrochen, und Pater Anselm fuhr nahezu aus seinem Meßgewand, als die Dampforgel mit geradezu erderschütternder Lautstärke ›Auld Lang Syne‹ herauspustete.
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6 Das FLORILEGIUM und sein Rattenschwanz von Schaustellerwagen folgten der Donau wieder flußabwärts Richtung Österreich und machte unterwegs in jeder größeren Stadt halt, um ein oder zwei Wochen dort zu spielen. Sunday hatte nur kurze Zeit gebraucht, um Paprika als Partnerin von Maurice abzulösen und die Nummer mit hinreißender Präzision zu absolvieren. Jetzt, wo sie und Monday angehende Stars waren, gab Florian ihnen entsprechend Phantasienamen. Sunday am Trapez wurde zu Mademoiselle Butterfly und Monday auf dem Schrägseil als Schornsteinfegerin natürlich zu Aschenbrödel. (Privat ließ Monday sich außerdem gern als Mrs. Fitzfarris anreden, wiewohl diese Bande bislang jeder Heiratsurkunde entbehrten.) Major Minim blieb weiterhin in der Boxnummer mit Ali Baba, wiewohl er dagegen immer noch murrte und den Jungen während der Vorstellung sogar regelrecht zu vertrimmen versuchte. Das Publikum schien das Programm nicht dünn zu finden, Florian hingegen tat das und hoffte, neue Artisten zu entdecken. Ihre letzte Station auf dem Weg nach Österreich war Passau, eine rührige, am Zusammenfluß von Donau und Inn gelegene Handelsstadt, in der gleichzeitig mit dem Circus auch eine bedeutende Handelsmesse stattfand, die die normale Bevölkerung nahezu auf das Doppelte ansteigen ließ. In ihrer Freizeit genossen die Circusangehörigen es, durch die Ausstellungspavillons zu streifen, in denen die neuesten Errungenschaften auf dem Gebiet des Maschinenbaus, der Werkzeugherstellung und der Landwirtschaft zu sehen waren – und durch die Straßen zu spazieren, auf denen es gleichfalls viel zu sehen gab: Quacksalber und Bader boten ihre Dienste an, Kerzenzieher mit ihren Verkaufsständen ihre Waren, und Gaukler und Puppenspieler luden in ihr Zelt ein. Florian war besonders darauf erpicht, immer wieder diese -914-
Straßen zu durchwandern, und nahm Edge ins Schlepptau, weil er hoffte, gemeinsam würden sie neue Talente entdecken. Vor einem ziemlich verlotterten Zelt, dessen Besitzer seine Attraktion halbherzig auf deutsch anpries, obwohl der Wimpel mit dem Namen darauf irgendeine andere Nationalität vermuten ließ, sagte Florian: »Das hier könnte interessant sein.« Edge schaute zum Wimpel hinauf, dessen auffälligste Beschriftung FROREN AAL lautete. »Lustig. Die Dame heißt Fräulein Aal und ist offenbar Dänin. Eine weibliche Klischnigg – ein Schlangenmensch also. Gehen wir mal rein und sehen wir sie uns einmal an.« Sie war gut und gab sich unendlich viel Mühe, sehr gut zu sein, und das vor einem Publikum von kaum mehr als zehn oder zwölf gelangweilt dreinschauenden Müßiggängern. Sie war in der Tat biegsam und schmiegsam wie ein richtiger Aal, aber unvergleichlich hübscher anzusehen; außerdem besaß sie zarte Rundungen und wohlgeformte Gliedmaßen, über die ein Aal nicht verfügt – und was sie damit anstellte, war bewundernswert, erstaunlich und erotisch zugleich. Ihr Kostüm jedoch – falls man es überhaupt so nennen konnte, denn es war eigentlich nicht mehr als ein hautenger Leotard – war farblos und viel gestopft. Sie machte ihre Übungen auf einem blanken Podest ohne jede Begleitung außer dem schmachtenden Gedudel des Besitzers auf der Flöte. Nach Schluß der Nummer, als die anderen Leute das Zelt verließen, blieb Florian noch, um das Mädchen anzusprechen und zu sagen: »Jeg vil gerne vide, Froken Aal. De har noget bedre. Er De ledig?« Mit einem verächtlichen Seitenblick und auf englisch sagte Miß Eel: »Piss off, squire!« Edge lachte, was zur Folge hatte, daß sie ihn nunmehr doch eher verändert ansah als verächtlich. »Errr ... ahem ...«, meldete sich Florian noch einmal zu Wort. -915-
»Als ich was ›Besseres‹ vorschlug, habe ich mich vielleicht zweideutig ausgedrückt, aber ...« »Wenn ich jede bessere Position annähme, die mir von irgendwelchen Gaffern angetragen wird, müßte ich mich in verdammt viel mehr Verrenkungen auskennen, als das tatsächlich der Fall ist. In welcher Position möchten Sie mich denn sehen? Reden Sie mit meinem Manager dort drüben. Für genug Geld wird dieser Loddel mich wohl dazu bringen, mein Innerstes nach außen zu krempeln.« »Bitte, Miß Eel, hören Sie auf! Ich bin weder ein Gaffer noch ein Voyeur, und ich bin auch kein voyeur forain wie Ihr – naja – Manager. Ich bin der Prinzipal von FLORIANS FLORIERENDEM FLORILEGIUM, eines hochanständigen Wandercircus. Was ich Ihnen zu bieten habe, ist eine gutbezahlte Anstellung.« »Oh.« Sie schien beschämt und entschuldigte sich. »Det gor mig ondt. Ich hätte mir das gleich denken sollen, als ich Sie dänisch sprechen hörte, daß Sie nicht der übliche slet menneske mit einer dreckigen Phantasie sind.« »Stehen Sie unter Vertrag oder sind Sie frei zu verhandeln, Miß Eel?« »Bitte, nennen Sie mich Agnete, Herr Florian. Ich heiße Agnete Knudsdatter. Und wenn Sie die Nummer kaufen möchten, bin ich von einem Augenblick auf den anderen frei. Denn weitergehende Besitzansprüche hat dieser Loddel nicht auf mich.« »Bei uns werden Sie mit Ihrer Nummer Furore machen.« »Dann bis gleich. Ich habe nur wenig zu packen.« Als Fraken Knudsdatter in Straßenkleidung aus dem Zelt herauskam, folgte ihr der Besitzer, schlug sich an die Brust, blökte und flehte sie in allen möglichen Sprachen an zu bleiben. Sie jedoch beachtete ihn überhaupt nicht, tat, als wäre er Luft, und Florian und Edge kümmerten sich auch nicht weiter um ihn. -916-
Ihre magere Habe tragend – sie paßte in zwei abgewetzte Reisetaschen –, brachten sie sie zum Festplatz und in die Maringotte, die im Moment nur von Clover Lee und Sunday Simms bewohnt wurde. »Ich bin sicher, daß die anderen Mädchen nichts dagegen haben, diesen Wagen mit Ihnen zu teilen«, sagte Florian, »bis Sie es sich leisten können, sich was Eigenes anzuschaffen. Aber jetzt kommen Sie mit zu unserer Garderobiere. Ich denke, da Sie eine von den wenigen dunkelhaarigen Däninnen sind, werden wir den Künstlernamen Fräulein Aal beibehalten und Sie in ein dunkles, glänzendes, aalgleiches Trikot stecken. Wir selbst haben übrigens in unserer Mitte einen sehr jungen und kleinen schwarzen Jungen, der selber kein schlechter Schlangenmensch ist. Nicht so begabt wie Sie, versteht sich. Aber da er bereits aalfarben ist, macht es Ihnen vielleicht Spaß, ihn in Ihre Nummer einzufügen. Aal und Aalin, sozusagen.« »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Florian«, sagte Agnete und konnte sich vor Glück offensichtlich kaum fassen. Bei einem weiteren Erkundungsgang durch die Straßen stießen Florian und Edge auf drei Gaukler – zwei in mittleren Jahren stehende Männer und ein junges Mädchen –, die buchstäblich gasierten, das heißt, unter freiem Himmel auf dem Rasen arbeiteten und weder über Zelt, Stand, Ansager oder Wimpel verfügten. Alle drei waren – ziemlich abgerissen als Clowns gewandet: das Mädchen als italienische Dienstmagd, die Männer als ungehobelte bayerische und österreichische Bauernklötze. Im Moment traten sie vor einer beachtlichen Schar von Spaziergängern auf, die stehengeblieben waren, um sich eine Nummer anzusehen, die akrobatische und clowneske Elemente miteinander verband. Beide Männer hielten das Ende einer langen Bambusstange auf der Schulter, die sie schwirrend auf- und abwippen ließen, während das Mädchen diese Stange wie ein Drahtseil benutzte – und zwar kaum weniger gekonnt als Autumn Auburn oder Monday Simms. Sie ließ sich von der -917-
wippenden Stange in die Höhe schnellen, wo sie Sprünge und Salti vollführte, nach denen sie unweigerlich wieder auf der Stange landete. »Die Russische Stange«, erklärte Florian Edge. »Die beiden sind Spring- oder Akrobatik-Clowns, sind also von der halsbrecherischen, verwegenen Art.« Nach einiger Zeit ließen die drei von ihren akrobatischen Akten ab, und der ältere Mann und das Mädchen gingen zu einer laut vorgetragenen Sprechreprise über. Er war eine ziemlich verwahrloste Figur, trug knielange Lederbundhosen ohne Strümpfe, so daß seine bleichen und ausgemergelten Waden bis hinunter zu den arg mitgenommenen Schuhen zu sehen waren; was er spielte, war der impotente, neiderfüllt lüsterne Sabbergreis. Im Laufe des Dialogs lächelte das Mädchen einfältig und zierte sich, warf aber gleichzeitig den männlichen Zuschauern verführerische Blicke zu. Florian gab das Wesentliche des raschen Wortwechsels für Edge wieder: »Er zieht sie wegen ihrer vielen Beaus, Liebhaber und CourSchneider auf und fragt, wie sie denn mit dieser Vielzahl fertig wird. Sie sagt: ›Ach, mein Herr. Das ist wie beim Bieseln. Oben hinein, unten hinaus.‹ Er sieht sie lüstern an und fragt: ›Und du läßt sie alle beim selben Loch hinaus?‹« Die Zuschauer lachten herzlich über die Schlüpfrigkeiten und warfen Münzen in einen Hut, mit dem der dritte Mann herumging und sammelte. Dabei trug er eine Leichenbittermiene zur Schau, drängelte sich unbeholfen durch die Traube der Zuschauer und stolperte absichtlich über den Rinnstein auf die Fahrbahn, wo er um ein Haar von vorüberfahrenden Wagen überfahren worden wäre. »Diese Spaßmacher stammen bestimmt aus Wien«, sagte Florian. »Sobald wir dort hinkommen, Zachary, wirst du staunen, wie viele Völkerschaften in dieser Stadt wohnen. Deshalb bildet dieses Trio fast so etwas wie eine -918-
Standardmischung. Der lüsterne Alte ist der Hanswurst, ein traditioneller Spaßmacher der Wiener Folklore. Die Emeraldina, die Jungfrau aus der italienischen Komödie, spricht besonders die italienische Bevölkerungsgruppe an. Der andere ist deutlich erkennbar der Dumme August, Bauerntölpel oder Kesperle, eine Standardfigur bei den Tschechen.« Als sich die Menge auflöste, trat Florian an die Clowns heran und sprach sie Edges wegen zunächst auf englisch an. Das Mädchen – die aus der Nähe betrachtet sich als recht pummelig, aber dabei ausnehmend hübsch erwies – war offensichtlich die einzige von den dreien, die einigermaßen englisch sprach. »Jawohl, wir kommen aus Wien, yes, ja, si. Wir sind nur hergekommen um während der Messe hier zu arbeiten; danach kehren wir nach Wien zurück. Wir gasieren überall, wo wir mehr als ein paar Leute anziehen können. Ich bin Nella Cornelia. Der Hanswurst, das ist Bernhard Notkin und der Dumme August oder Dorfdepp heißt Ferdi Spenz.« »Freut mich, Sie alle kennenzulernen. Ich bin der Prinzipal von FLORIANS FLORILEGIUM, und mein Kollege hier ist unser Sprechstallmeister ...« »Was – von dem großen Circus, der hier gastiert?« rief sie aus. »Jawohl. Auch wir sind auf dem Weg nach Wien, und ich will unsere Clownsgruppe erweitern.« »Sie denken daran, uns zu engagieren?« fragte sie, wobei sich ihre Stimme ungläubig überschlug. »Vielleicht. Ihre Ensemblearbeit ist nicht übel, und einen weiblichen Clown habe ich noch nie gehabt. Besitzen Sie eigentlich ein eigenes Transportmittel?« »Wir reisen in einer Maringotte, zusammen. Das heißt, nicht zusammen, Sie verstehen. Ich bin weder das Gspusi des einen noch die amante des anderen.« -919-
»Das interessiert mich nicht im geringsten. Eines jedoch würde mir sehr gefallen. Kann einer von den Herren vielleicht das Spiegelentree?« Florian brauchte die Frage nicht zu wiederholen. Der Mann namens Ferdi Spenz bekam zumindest das eine Wort mit und rief aus: »Rozumim! Lupino zrcadlo! Ano! Vim! Dobry jsem!« »Er sagt, ja«, übersetzte das Mädchen. »Gott sei Dank, daß beim Spiegelentree nicht gesprochen wird«, sagte Edge zu Florian, als die beiden zum Festplatz zurückkehrten. Ihnen folgte der außerordentlich klapprige Wohnwagen, der von einem außerordentlich abgemagerten Gaul gezogen wurde. »Wenn wir noch mehr Nationalitäten mit noch mehr Sprachen engagieren, kämen wir nicht drum herum, auch noch ein Dutzend Dolmetscher zu engagieren. Mein Gott, ich muß mir wirklich ein kleines Notizbuch anlegen wie du, damit ich zumindest die Namen all unserer Leute behalte.« Die drei Frischengagierten waren vor Fassungslosigkeit genauso benommen wie zuvor Agnete, denn gleich nach ihrer Ankunft auf dem Festplatz wurde angefangen, sie zu ›verbessern‹. Ihre Schindmähre wurde Hannibals und Quincys Obhut übergeben, damit sie bald wieder zu Kräften kam. Die Clowns selbst wurden zunächst an Magpie Maggie Hag gewiesen, damit diese für die neuen Kostüme Maß nahm. Dann ging es weiter zu Jörg Pfeifer. Dieser begann mit dem Kesperle sofort das Spiegelentree zu probieren und wies gleichzeitig den Hanswurst ein, beim Boxkampf mit Ali Baba Major Minim zu ersetzen – und wenn er Zeit hatte, machte er Vorschläge, Emeraldinas Nummer auf der Russischen Stange zu verfeinern. »Ist ja alles schön und gut, Nella, ein tollkühner Clown zu sein, aber das kann auch jeder Mann. Mir wäre daran gelegen, daß du deine unleugbar strotzende Weiblichkeit ein bißchen mehr zur Geltung bringst. Versuch’s doch mal so ...« Er arbeitete die Neuankömmlinge mit der Strenge und Zucht -920-
eines Drillsergeanten ein, probierte nach jeder Abendvorstellung mit ihnen bis spät in die Nacht und Vorübergehende hörten ihn oft im Chapiteau schreien: »Ja, Nella, mach’s genau so, wie ich’s dir gezeigt hab’. – Nein, Nella, du solltest aufhören, meine Verbesserungsvorschläge verbessern zu wollen.« »Madonna puttana! All dies viele Geyesse und Genoe!« Nachdem das FLORILEGIUM, immer weiter der Donau folgend, wieder die österreichische Grenze passiert hatte, war auffallend, daß die Österreicher sich von der düsteren Nachkriegsstimmung und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Flaute erholt hatten. Sie waren wieder energisch bei der Arbeit, machten einen wohlhabenden und fröhlichen Eindruck und schienen ganz versessen auf Unterhaltung. Schon die erste Vorstellung in Linz fand vor ausverkauftem Haus statt. Abgesehen davon, daß Ferdi Spenz mit Fünffünf das Spiegelentree machte – und zwar fast so gut wie der ums Leben gekommene Zanni –, gaben die drei neuen Clowns noch eine rauflustige Bergkönignummer zum besten und balgten sich um den Besitz eines Podests, das Carl Beck für sie gebaut hatte. Erst stand Emeraldina oben, wurde dann vom Kesperle hinuntergeworfen, den wiederum Hans Wurst mit einer langen Wurst vertrieb, die er herumwirbelte wie Windmühlenflügel. Hans Wurst wurde wieder von der ziegelsteinbewaffneten Emeraldina verscheucht, und die komische Rauferei und die Waffen uferten aus: Erst kam ein Stecken hinzu, dann eine Keule sowie eine lächerlich überdimensionale Zwille und zum Schluß eine von Edges Reservepistolen und einer seiner Karabiner. Als das Ringen zu einem völlig undurchschaubaren Wirbel ausgeartet war – und das Publikum sich vor Lachen den Bauch hielt –, erwies sich plötzlich das Podest selbst als Sieger: auf seiner Standfläche wuchs plötzlich ein riesiger stachelbewehrter Kaktus in die Höhe. Dieser war eine von -921-
Becks Erfindungen und bestand aus Zeltleinwand, Kautschuk und Dornen aus Holz, und aufgeblasen wurde das ganze Gebilde von einem unterm Podest verborgenen Racklo mit der Druckpumpe der Saratoga. Nachdem der gewaltige Kaktus zum König auf seinem Berg geworden war, trollten sich Hans Wurst, Kesperle und Esmeraldina achselzuckend einträchtig Arm in Arm. Fräulein Aal in dem hautengen und sogar feuchtschlüpfrig wirkenden Trikot, das Magpie Maggie Hag für sie genäht hatte, wurde zum neuesten Ausstellungsstück in Fitzfarris’ Abnormitätenschau. Der Akkordeonspieler spielte auf, während sie sich auf der Plattform wand und rekelte wie eine Schlange, und Fitz machte die ganze Zeit über seine Ansage: »Jawohl, meine Damen und Herren, Fräulein Aal ist in Anbetracht der guten Form, in der sie steckt, ein gutes Mädchen, und sehen Sie nur genau hin, in welch guter Form sie ist. Und wißt ihr, Leute, daß sie an Zahltagen manchmal zwei- oder dreimal kommt, um sich ihren Lohn abzuholen? Sie kommt jedesmal in einer anderen Form und Gestalt ...« Viele der Kollegen hatten sich unter die Gaffer gemischt, als Agnete Knudsdatter sich zum erstenmal zur Schau stellte, und Mullenax sagte hinterher: »Sag mal, Fitz, wird nicht dein Programmteil ein bißchen mit Reptilien überlastet? Im Anbau hast du eine Schlangenfrau, hier auf der Plattform eine Aalfrau, von dem Wurm, dem Gnom, ganz zu schweigen Was soll denn als nächstes kommen?« »Naja, Abner«, ging Fitzfarris mit gespieltem Ernst darauf ein, »du hast ja lange nicht mehr den Krokodilsmann gespielt ...« Woraufhin Mullenax machte, daß er fortkam. Ein anderer Zuschauer, Obie Yount, stellte sich jedesmal wieder ein, wenn Fräulein Aal auftrat. Nach etwa einer Woche nahm er allen Mut zusammen und ging dorthin, wo sie sich hinterher abtrocknete, holte tief Atem und sagte schüchtern: »Miss Eel ... ach, verdammt, ich kann eine Frau einfach nicht so -922-
nennen. Miss Kanoods – ach, noch mal verdammt, ich krieg’ auch das nie richtig hin.« »Können Sie mich nicht einfach ›Agnete‹ nennen? Was möchten Sie mir denn sagen, Herr Bebenmacher?« »Nennen Sie mich Obie. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Ihre Nummer einfach vollkommen ist.« »Vielen Dank, Obie.« »Nur meine ich, Fitz kommentiert sie nicht mit der gebührenden Ehrerbietung. Ich habe da eine Idee und hoffe, daß ich sie Ihnen vortragen darf.« »Havd onsker De?« Sie seufzte. »Wieder eine neue Position?« »Naja, wenn Sie so wollen. Ich denke, Sie sollten in der großen Manege auftreten, nicht draußen zusammen mit den Abnormitäten und Feuerfressern. Deshalb meine Idee – sehen Sie, früher habe ich eine Kolonne gearbeitet, dabei habe ich eine ganze Menge Mädchen gestemmt und balanciert. Sie allein aber – naja, Sie könnte ich einhändig überm Kopf halten. Könnten Sie Ihre Kontorsionistik nicht dort oben machen?« Agnete war verblüfft und geschmeichelt zugleich: »Mit ein bißchen Übung, ja, das geht, Obie.« »Und was wäre, wenn ich den Simms-Jungen mit der anderen Hand halte?« »Sind Sie wirklich so stark? Uns mehrere lange Minuten lang über dem Kopf zu halten?« Yount holte Luft und dehnte machtvoll die Brust, dann ließ er seinen Bizeps spielen. »Miss Agnete, ich bin der Quakemaker. Ich gehe gleich hin und rede mit Zack und Florian.« Er fand beide im Roten Wagen, und sie erklärten sich damit einverstanden, ihn die Nummer probieren zu lassen; allerdings waren sie nicht recht bei der Sache, denn das Kontor war voll von anderen Bittstellern. Carl Beck und Jules Rouleau bearbeiteten den Prinzipal, Linz sei als Stadt groß genug und -923-
verdiene einen Ballonaufstieg der Saratoga; außerdem wartete eine Abordnung von Linzer Stadtverordneten, die ihn sprechen wollte. Florian sagte: »Sehr wohl, Monsieur Roulette, fangen Sie gleich mit den Vorbereitungen an; ich sorge dafür, daß Streifen mit den entsprechenden Angaben gedruckt werden, die wir auf die Plakate kleben können«, und hob auch diese beiden hinaus. Edge mußte sich inzwischen Türsteher Banat anhören: »Wir brauchen Circuszaun, Pana Edge, wie die anderen europäischen Circusse. Ich sehe auch jetzt zuviel Junge sich jeden Nachmittag reinschleichen.« »Hör mal zu, Chef. Du weißt selbst, was Drahtrollen für einen Zaun kosten. Nun nehme ich an, es geht dir gegen die Berufsehre, aber überleg doch mal, wieviel verlieren wir schon an halben Eintrittspreisen für Kinder, wenn sich ein paar Jungs reinschmuggeln.« »Nicht Jungs. Junge.« »Na schön. Dann einer jeweils. Und bei jedem einzelnen verlieren wir ...« »Nicht ein Junge. Selbe Junge.« Edge sah ihn lange forschend an. »Alex, das erstemal, als du dich wegen dieser Sache beschwert hast, waren wir in Landshut. In einem anderen Staat. Du willst mir doch nicht etwa weismachen wollen, derselbe Junge schleiche sich auch hier immer noch rein?« Banat zuckte die Achseln. »Einer von den unsern kann es nicht sein. Wir haben nur zwei kleine Jungs in der Truppe. Der eine ist schwarz wie die Sünde, und der andere bleich wie der Mond. Die würdest du ja wohl erkennen. Jetzt willst du mir also weismachen, daß uns seit über zweihundert Kilometern ein Kind auf den Fersen geblieben ist? Immer dasselbe Kind, das sich auf den Festplatz und ins Chapiteau rein- und rausschmuggelt? Du schaffst es nicht, ihn zu schnappen, und außer dir hat ihn niemand gesehen. Wenn du -924-
also nicht verrückt bist, Alex, muß der Junge ein Gespenst sein. Hör zu, ich habe Probleme genug mit den wirklichen Leuten unserer Truppe. Entweder schnappst du dir diesen Spuk und bringst ihn mir, oder du hältst den Mund.« Mit der Miene des zu Unrecht Zurechtgewiesenen, aber nicht überzeugt, trollte Banat sich. Jetzt konnte Edge sich der Abordnung von Stadtvätern widmen, die selbstverständlich alle deutsch sprachen. Florian übersetzte für Edge, denn was sie zu ihnen gebracht hatte, war völlig unbegreiflich. »Ich hatte den Herren gesagt, wir wollten ihre Stadt mit einem Ballonaufstieg ehren, doch wäre es ihnen offensichtlich lieber, wir unterließen dies. Am liebsten hätten sie es, wenn wir sofort abbauten und weiterzögen.« »Wie bitte?« »Solange ich in diesem Beruf bin – aus einer Stadt rausgeworfen worden bin ich noch nie. Aber diese Männer meinen es ernst. Einer von ihnen ist der Bürgermeister, der andere ein hoher Verwaltungsbeamter und der dritte der Polizeichef. Es ist ihnen ernst damit.« »Aber um Gottes willen – warum?« »Was das betrifft, sind sie merkwürdig zurückhaltend und wollen nicht recht mit der Sprache heraus. Aber irgendwie hat die Sache mit den Kindern der Stadt zu tun.« »Glauben sie etwa, der Circus übe einen verderblichen Einfluß aus? Diesen Vorwurf haben wir noch nie zu hören bekommen. Oder verdächtigt man uns, kleine Jungs zu entführen? Oder den Rattenfänger von Hameln zu spielen?« Diese Frage richtete Florian an die Stadtväter, die nur einsilbig, aber offensichtlich keineswegs peinlich berührt antworteten. Dafür aber mit um so mehr Nachdruck. »Nein«, erklärte Florian Edge. »Es geht um kleine Mädchen. Leider weigern sie sich – weil das ganze zu heikel sei –, genau -925-
zu sagen, um was es geht. Das einzige, was sie immer wieder wiederholen, ist, daß es so etwas vor der Ankunft unseres Circus in der Stadt noch nie gegeben hat.« »Nun, ich bin kein Anwalt, aber für meine Begriffe hört sich das als Anklage nicht sehr haltbar an, Prinzipal. Nur so aufs Geratewohl uns ein Verbrechen vorzuwerfen, das sie noch nicht mal beim Namen nennen wollen?« Florian wandte sich nochmals an sie, und wieder war ihre Antwort kurz und bündig – und in der Sache unnachgiebig. »So wie die gelaunt sind«, sagte Florian zu Edge, »möchte ich lieber davon absehen, weiter zu bohren. Irgendwas ganz Abscheuliches muß mit den kleinen Mädchen dieser Stadt passieren. Gleichgültig, ob es Zufall ist, daß wir zur selben Zeit hier sind, oder nicht, sie würden es am liebsten sehen, wenn wir wieder abzögen. Und ich meine, der Anstand gebietet es, daß wir ihnen diesen Gefallen tun. Sie könnten uns leicht noch größere Schwierigkeiten machen, als uns nur einfach hinauszuwerfen.« »Solange wir hier sind, haben wir gute Geschäfte gemacht. Aber ich persönlich hätte nichts dagegen, wenn wir weiterzögen. Ich möchte Autumns wegen so schnell wie möglich nach Wien und den Spezialisten aufsuchen, den man uns dort genannt hat. Fangen wir gleich mit dem Abbau an?« Nochmals besprach Florian sich mit den Stadtvätern. »Wenn auch widerwillig, räumen sie uns noch eine Frist ein, damit wir die Abendvorstellung heute noch mitnehmen können. Sag den Racklos, sie sollen sofort hinterher anfangen, die Absegelungen zu lösen. Gleich morgen früh ziehen wir weiter.« Edge ging, diese Nachricht den Kollegen zu überbringen; mit einem weiteren Auftrag ging er zu Aleksandr Banat. »Ich glaube zwar immer noch nicht an Gespenster, Chef der Racklos, aber irgendwie kommen mir hier allzu viele Zufälle zusammen. Und irgendwie schmeckt mir das gar nicht. Ich möchte, daß dieses -926-
Kind, das sich immer reinschmuggelt, gefaßt wird. Sag das deinen Leuten, und ich sage den Artisten und den Gauklern Bescheid. Alle, aber auch wirklich alle, sollen die Augen offenhalten und aufpassen wie ein Luchs.« Dann hörte Edge sich beim Namen gerufen, und als er sich umdrehte, erkannte er Major Minim, der wie üblich mit polternder Stimme sprach, doch für seine Begriffe geradezu demütig wirkte. »Colonel, ich möchte mich für was entschuldigen.« Er fingerte an seinem angeklebten Oberlippenbart herum und fuhr dann fort: »Als man mich als billigen Clown in die Manege steckte – und noch dazu mit einem Neger –, hat mir das gar nicht gefallen, und ich weiß, daß ich euch das hab’ merken lassen. Aber jetzt, wo ihr ein ganzes Chapiteau von Clowns habt, bin ich ja sowieso wieder unter den Schaustellern und Gauklern vorm Eingang. Nun muß ich gestehen, daß ich beim Auftreten Geschmack an der Sache gefunden habe. Jetzt ist mir die Idee zu einer ganzen neuen Nummer gekommen, und ich bitte um die Erlaubnis ...« »Im Grunde ist es mir wirklich egal, was du tust, Reindorf. Aber wenn die Nummer gut ist, nehmen wir sie ins Programm auf.« »Ich denke an einen komischen Löwendompteur. Zwergdompteur mit Zwerglöwen. Es wird dir gefallen. Allerdings brauch’ ich dazu einen Requisitenwagen.« »Dann rede mit Stitches oder Bumbum. Wenn die Zeit und Material finden, hast du meine Erlaubnis.« Es kam an diesem Abend noch zu zwei weiteren Vorfällen, ehe der Circus die Stadt am Morgen verließ, doch waren diese eigentlich nur für die Beteiligten von Belang. Nach dem Finale hatte der Furchtbare Türke zum erstenmal seit langer Zeit keine Linzer Witwe, die sich um seine Gunst bemühte. Deshalb schlenderte er müßig in Fitzfarris’ Sideshow hinein, um zum -927-
erstenmal der Jungfräulichen Amazone im Ringen mit dem Drachen Fafnir zuzusehen, und was er zu sehen bekam, machte gewaltig Eindruck auf ihn. Er ließ ihr Zeit, hinauszugehen und aus ihrem mit schillernden Pailletten besetzten Trikot herauszukommen; dann ging er zur Maringotte der Vasilakises und schaukelte diese wie gewohnt tüchtig durch. Meli kam an die Tür, stöhnte auf und sagte müde: »Du willst Geld. Du mußt zu einer anderen Zeit kommen. Spyros ist in die Stadt gegangen, um Olivenöl und andere Dinge zu kaufen.« »Wie gelegen mir das kommt«, sagte Shadid ganz gutmütig. »Aber ich will kein Geld. Diesmal bin ich gekommen, um zu fragen, was du willst.« »Was ich will? Ich will, daß du uns endlich in Ruhe läßt. Du hast uns schon genug Ärger gemacht, doch jetzt fürchte ci h, daß Spyros dich eines Tages umbringt. Und dann sitzen wir erst richtig in der Tinte.« »Pah! Dieser Spatz und mich umbringen? Da habe ich keine Angst; aber trotzdem habe ich einen Vorschlag zu machen. Du möchtest, daß ich ihn in Ruhe lasse? Das werde ich – versprochen. Sofern du so nett bist, eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen.« Meli war sofort auf der Hut und zog ihren Morgenrock fester um sich. »Was für eine Gegenleistung?« »Die ist ganz einfach. Du bist die Jungfräuliche Amazone, und ich bin der Drache.« Entsetzt wich sie zurück. »Ich bin verheiratet – und eine anständige Frau dazu. Du bist nicht nur geldgierig und schikanös. Du bist durch und durch verdorben.« »Zweifellos hast du recht«, sagte Shadid gleichmütig. »Aber ich glaube, du wirst mich in vieler Hinsicht einem Hinkefuß von Schlange oder einem Schlappschwanz von Ehemann vorziehen. Und dafür würde ich einen Schlappschwanz nicht mehr -928-
belästigen. Doch jetzt Schluß mit diesem griechischen Gefeilsche, Weib! Entweder, du bittest mich jetzt rein oder ich komme ungeladen.« Wenige Minuten später stieg sie stumm weinend aus ihrem Morgenmantel, und er konstatierte anerkennend: »Ah, gut. Du bist dort unten genauso buschig wie nur irgendeine turkge Frau ...« Wie der Türke hatte auch der Quakemaker an diesem Abend keine Damen, die seine Dienste heischten, und er hatte auch keiner schöne Augen gemacht. Er lag zusammen mit Agnete Knudsdatter nackt unter dem bestirnten Himmel auf den weichen Persenningen, mit denen der Ballon in seinem Wagen zugedeckt war. Agnete fuhr ihm mit der Hand durch den dichten Bart, ließ sie dann zu dem fast pelzartig behaarten Rest seines Körpers hinunterfahren und sagte lachend: »Ein Bär und ein Aal, die’s miteinander treiben! Verstößt das gegen die Naturgesetze, oder ist das ganze ein Märchen von Andersen?« »Ich hab’ keine Ahnung, wer Andersen ist, aber du solltest wirklich aufhören, dich einen Aal zu nennen. Ich hab’ die verdammten Dinger nie gemocht. Die haben mir ständig die Angelschnüre durcheinander gebracht.« »Aber schau doch, wie aalartig ich bin, Obie. Fühl nur! Du als Mann hast weit mehr Rundungen und Kurven als ich; dabei bin ich eine Frau.« »Für mich fühlst du dich wunderbar an. Mich haben Kühe nie besonders angezogen, bloß weil sie große Euter hatten.« »Weißt du was?« Sie lachte nochmals auf. »Als Schulmädchen, in der Zeit, da alle anderen Mädchen anfingen – nun, hier oben ihre Kurven zu kriegen und nur ich nicht –, da habe ich zufällig eine Anzeige in der Zeitung gelesen: garantierter Busenentwickler, kostet nicht mehr als zwanzig Öre. Da habe ich dumme Pute bei der Post zwanzig Öre eingezahlt, -929-
und weißt du, was ich dafür bekommen hab’? Eine ausgeschnittene Männerhand aus Pappe. Nie in meinem Leben bin ich mir mehr veralbert vorgekommen.« Yount lachte nachsichtig. »Aber heute bin ich natürlich froh, daß ich nie viel brystet bekommen habe wie die meisten Frauen, und auch nicht dick geworden bin wie die meisten dänischen Frauen früher oder später. Denn dann hätte ich nie Kontorsionistin werden können.« »Und wärst jetzt nicht hier und lägst nicht in meinen Armen, was du jetzt tust.« Sie kuschelte sich enger an ihn, murmelte: »Jeg elsker dig«, und übersetzte ihm das dann ins Englische. Als Spyros aus der Stadt heimkehrte und mit den eingekauften Vorräten die Maringotte der Vasilakises betrat, saß Meli hellwach im Bett auf und machte ein verdrießliches Gesicht. »Was hast du?« fragte er. »Hat dieser ekithiros dich wieder gepiesackt?« Sie mußte sich sichtlich einen Ruck geben, es zu sagen: »Ja, er war hier, aber diesmal haben wir uns geeinigt. Er wird kein Geld mehr von uns verlangen – und auch nicht, daß wir ihm aus dem Weg gehen, wenn wir ihn treffen, oder dir dein – nein: unser – Leben sonst zur Qual machen.« »Wirklich? Und das hast du ganz allein geschafft?« Spyros hörte sich mehr beleidigt als erfreut an. »Wie hast du das gemacht? Ihn bestochen, nehme ich an?« Sie zögerte erst, ehe sie dann sagte: »Ja.« Es klang immer noch verletzt und verärgert, als er sagte: »Eigentlich hättest du dich mit deinem Gatten schon beraten sollen, ehe du einen solchen Waffenstillstand eingingst. Denn schließlich bin ich der Haushaltsvorstand und Verwalter der Finanzen. Diese Bestechung ... hat sie sehr viel gekostet?« Meli sah ihn sehr lange an, ehe sie antwortete: »Es hat dich -930-
keinen Heller gekostet.«
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WIEN
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1 Das FLORILEGIUM machte für ein paar Tage in Amstetten halt, folgte der mäanderförmig dahinfließenden Donau, stieß ostwärts geradenwegs auf Wien zu und gab dann noch einmal in St. Polten einige Vorstellungen. Schon in Amstetten verließ Fräulein Aal Fitzfarris’ Sideshow und wechselte ins Chapiteau über, wo sie ihre gesamte Nummer, von dem kräftigen Arm des Quakemaker in die Höhe gehoben, vorführte. Selbst für einen geübten Kraftmenschen war es sichtlich anstrengend, die schlanke Agnete volle sieben Minuten hindurch hochzuhalten, denn so lange brauchte sie für ihre erstaunlichen Gliederverrenkungen. Obwohl Yount der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief und er manchmal leicht zitterte, bildete er einen Untermann, auf den sie sich als Fundament für ihre Übungen voll und ganz verlassen konnte. Außerdem genoß er seine Aufgabe sichtlich. Denjenigen Gaffern, die gelegentlich den faszinierten Blick von der hübschen und unglaublich biegsamen Frau hinunterwandern ließen, konnten das stolze Lächeln und die liebevollen Blicke des Quakemakers nicht entgehen, die er von Zeit zu Zeit hinaufwarf. Ihretwegen hatte der Circus auch einmal Scherereien mit den Bürgern. Nach der zweiten Abendvorstellung in St. Polten, als die Zuschauer aus dem Chapiteau auf den fackelerhellten Weg zwischen den Buden der Gaukler und Händler herauskamen – wo viele der Männer sogleich auf das Zelt mit der Amazoniund-Fafnir-Vorstellung zusteuerten –, wurde es plötzlich hektisch. Rufe und Flüche waren zu hören, ein paar Frauen kreischten, die Menschen liefen auseinander und ließen in der Mitte, wo zwei Männer sich prügelten, einen größeren Platz frei. Clover Lee, die zufällig vorüberkam und dies sah, rief sofort aus Leibeskräften nach Hilfe. Edge kam herzugelaufen und fragte: »Was ist denn bloß los, Mädchen?« -933-
»Eine Schlägerei! Schau, irgend jemand prügelt sich mit Obie, und da habe ich sofort nach Hilfe gerufen.« »Dann mach weiter so!« sagte Edge und zwängte sich durch die Menge, denn er hatte gesehen, daß Yount es jetzt mit mehreren Männern auf einmal zu tun hatte. »Hilfe! Hilfe!« rief Clover Lee weiter, und irgendwo ließ jemand eine Trillerpfeife ertönen, woraufhin Florian und Banat und etliche mit Zeltankern bewaffnete Böhmen aus dem Chapiteau herausgestürzt kamen. Doch noch ehe Edge eingreifen konnte, war der ganze Spuk vorbei. Der Furchtbare Türke war Yount zu Hilfe geeilt; obwohl er und der Quakemaker es mit rund einem Dutzend stämmiger Einheimischer zu tun hatten, zogen diese schnell den kürzeren. Diejenigen von ihnen, die nicht buchstäblich durch die Luft geschleudert wurden, suchten humpelnd und krauchend mit zerrissener Kleidung und zum Teil blutiger Nase verzweifelt das Weite. Nach wenigen Augenblicken war der Kampf vorbei, die Pöltener in die Flucht geschlagen, und der Rest der Menge hatte sich beruhigt und verzog sich. Yount hatte nur ein blaues Auge mitbekommen und sein Leotard mit den Leopardenflecken war eingerissen. Dankbar schüttelte er Shadid die Hand, und als Edge den Ort des Geschehens erreichte, war keiner von beiden auch nur außer Atem. »Wie hat diese Schlägerei denn angefangen, Obie?« »Zuerst war es nur eine einzige Dreckschleuder. Ich dachte, er müsse den Verstand verloren haben, es mit einem Herkules vom Circus aufnehmen zu wollen, doch dann stellte sich heraus, daß er einen ganzen Haufen Schläger im Rücken hatte.« »Gott sei Dank, daß es so glimpflich und schnell abgegangen ist«, sagte Florian, als er zu ihnen trat. »Ehe jemand nach der Polizei rufen konnte.« »Himmel, der Furchtbare und ich – gemeinsam wären wir glatt mit denen und der Polizei fertig geworden!« -934-
Edge wollte es genau wissen. »Soll das heißen, irgend so ein Krakeeler ist gekommen und hat Streit angefangen?« »Naja, angefangen habe mit der Rauferei eigentlich ich. Er ist gekommen und hat mich beleidigt.« »Was soll das heißen?« »Ach, ist doch egal. Laß mich diese Fetzen ausziehen, damit Mag sie flicken kann. Dann, glaube ich, gehe ich runter in die Stadt und genehmige mir einen.« Als Yount nach St. Polten hineinging, um einen Biergarten aufzusuchen, begleitete Fitzfarris ihn. Nachdem sie beide etliche Seidel intus hatten, nahm Fitz allen Mut zusammen und fragte: »Noch mal zu der Rauferei und dem Krakeeler, der dich beleidigte – mich geht es zwar nichts an, aber ich kenne dich jetzt eine lange Zeit, und ich weiß, es gehört schon verdammt viel dazu, dich aus der Ruhe zu bringen. Was hat dich denn so in Rage gebracht? Er hat doch nicht dich beleidigt, nicht wahr?« »Nein«, gab Yount zu und rülpste. »Kommt diese Giftspritze auf mich zu – englisch hat er gesprochen. Glotzt mich schmierig an und sagt so was wie: ›Du und diese Gliederpuppe, ihr seid Partner, nicht wahr? Im Zelt und im Bett, oder? Wie ist das denn so – eine Frau aufs Kreuz zu legen, die man so durchbiegen kann?« Yount rülpste noch einmal. »Und da hab’ ich mein Bestes getan, ihm zu zeigen, wie man jemand durchbiegt.« »Kann ich dir nicht verübeln.« Nach einem ausgedehnten kumpelhaften Schweigen begann Fitz noch einmal: »Natürlich geht mich das nichts an, und ich hab’ auch keine Lust, durchgebogen zu werden. Aber, Obie, wie ist es denn?« Glucksend schüttelte Yount den Kopf, als könne er es selbst eigentlich auch nicht fassen, und sagte: »Mann, das ist toll, sagenhaft!« Nach einem weiteren Schweigen, in dessen Verlauf die beiden Männer Bier tranken, und nachdem klar war, daß Yount keinerlei Anstalten machte, ausführlicher zu werden, sagte -935-
Fitzfarris: »Du und ich, Obie, wir haben beide – naja, ziemlich außergewöhnliche Frauen.« »Naja, deine kleine Simms, so jung sie ist, die hat aber mehr Balkon da oben als Agnete. Nicht, daß ich mir Agnete anders wünschte, aber ich hab’ja schließlich Augen im Kopf!« »Ich wünschte, ich könnte dir klarmachen, was Monday erst im Keller hat. Wenn sie mich fix und fertig gemacht hat und ich nur noch ein Schrumpel bin, hat die immer noch nicht genug. Wenn sie sich die Löwennummer ansieht oder wie einer von den Elefanten den andern besteigt oder sonstwas Aufregendes macht, fängt sie an zu zucken und erlebt ihre Lust ganz von allein. Ich schwöre dir, ich komm’ mir allmählich ganz ausgepumpt vor.« »Ja, das ist hart für uns Männer«, sagte Yount mit bierseligem Lächeln. »Aber verdammt noch mal – was gibt es denn sonst außer Frauen?« »Es ist schon ein Jammer«, sagte Autumn, die im Wohnwagen am Herd stand und Würstchen fürs Essen heißmachte. »Obie und Agnete scheinen sich ehrlich zugetan.« »Sie wollen sich sogar eine Maringotte kaufen und zusammenziehen«, sagte Edge. »Nur, wieso denn ein Jammer?« »Daß sie nicht alt miteinander werden.« »Wieso um alles in der Welt sagst du das?« »Kautschukartisten werden nie alt. Das wissen sie auch. Schließlich gehört das zum Berufsrisiko. Die vielen Rumpfbeugen und Verrenkungen üben einen solchen Druck auf den Brustkasten aus, daß die Lungen keine Möglichkeit haben, sich zu entwickeln; sie bleiben daher so klein wie bei einem Kind, weshalb sie auch so leicht der Schwindsucht zum Opfer fallen. Vielleicht ist dir noch nicht aufgefallen, wie sehr Agnete nach jeder Vorstellung schnauft und keucht und hustet. Deshalb sucht sie auch hinterher sofort irgendeinen Ort auf, wo sie ganz allein ist, damit Obie nichts merkt; natürlich erzählt sie es ihm -936-
nicht, aber sie hat die Schwindsucht bereits. Und daß du mir nichts sagst, Zachary!« »Ich werde mich hüten!« sagte er mit düsterer Miene. »Aber ich muß schon sagen, es geht mir gewaltig auf den Geist, dauernd von Leuten zu hören, die so jung sterben. In Kriegszeiten mag das ja normal sein, aber ...« »Kein Wort weiter jetzt!« sagte sie. »Mir hat man zwar gesagt, auch ich müßte jung sterben, aber das ist jetzt Monate her, und ich bin immer noch nicht tot. Vielleicht ist Agnete so wie ich – und genießt einfach jeden Tag, weil sie ihn als Geschenk ansieht. Und mir – naja, mir geht es einfach gut. Wenn ich bloß so gut aussähe, wie ich mich fühle.« »Nun, hoffen wir auf diesen Arzt in Wien. Wien ist unsere nächste Station.« »Fangen wir schon mal mit Wiener Würstchen an – gleich zum Mittagessen gibt’s welche.« »Na, schön.« Müßig hob Edge den Deckel von Autumns Spieluhr, und in gequälten, scheppernden und krächzenden Tönen kamen ein paar Takte von ›Greensleeves‹ hervor. »Du spielst das nicht mehr so oft.« »Tut mir leid. Ich vernachlässige dein Geschenk. Komm, ich will’s wieder aufziehen. Es ist nur – eine Art schmerzlicher Erinnerung –, daß ich nicht dort draußen bin und nicht mit rumstolziere, wenn diese Melodie erklingt.« »Hättest du Lust, jedenfalls für eine kurze Zeit mit rauszukommen? Laß die Würstchen Würstchen sein. Wir können uns doch den anderen zum Abendessen im Hotel anschließen.« »Ach, lieber nicht. Es ist so unendlich beschwerlich für mich, in der Öffentlichkeit zu essen, und das mit dem Schleier vorm Gesicht. Außerdem, haben wir nicht schon genug Hotelmusik gehört? In ganz Österreich, in jedem Speisesaal, diese rührenden Möchtegern-Strauße mit Akkordeon, Harmonika und Zither, die -937-
ihren rührenden Strauß-Aufguß von sich geben.« »Richtig«, sagte Edge. »Wenn es zwei Dinge gibt, die Österreich im Übermaß hat, dann sind das Musik und Uhren. Und Spieluhren. Sogar Windharfen, die über der Haustür spielen. Aber unten in der Stadt bin ich vorhin auf etwas gestoßen, das ich für ungewöhnlich hielt und ... nun ja, ich hab’s für dich gekauft. Heute haben wir den Sankt Anna-Tag, hat man mir gesagt, und der ist hier in Österreich das Gegenstück zu unserem Valentinstag – der Tag, an dem der Mann seiner Liebsten ein Geschenk macht. Falls du gegen noch ein Geschenk nichts einzuwenden hast.« »Was dagegen haben? Ach, Zachary!« »Ich muß gestehen, daß es wieder was mit Musik zu tun hat – auf seine Weise, wenigstens. Aber du kannst es mir ja immer wieder zurückgeben.« »Ach, Zachary!« So griff er außen um die Maringotte-Tür herum und holte das Geschenk herein. Es handelte sich um einen Vogelkäfig aus Messingstäben, in dem auf einem kleinen Trapez ein echter Kanarienvogel schaukelte. Das ganze sah nach nichts Ungewöhnlichem aus – eben einem Kanarienvogel in einem Vogelbauer, doch Edge sagte: »Warte, bis er sich beruhigt und eingewöhnt hat.« Das gelbe Vögelchen auf der Schaukelstange legte ruckartig den kleinen Kopf auf die Seite, drehte ihn und nahm sich Zeit, die beiden Menschen ins Auge zu fassen, die sich darüber beugten. Offensichtlich mit der neuen Umgebung einverstanden, glättete es eine widerspenstige Feder, trank einen Schluck Wasser aus seinem winzigen Napf und flog an den Messingring, der den Bauer umspannte und zusammenhielt. Dann wetzte es sein Schnäbelchen an den vertikalen Messingstäben, so daß diese klirrten und vibrierten. »Ach, du meine Güte, die Stäbe sind ja gestimmt!« rief -938-
Autumn fassungslos aus. »Und der Vogel hüpft und pickt und zupft an allen herum. Selbstverständlich kann er keine Melodie spielen, aber es klingt trotzdem reizvoll und harmonisch. Ich jedenfalls fand es reizend.« »Ach, Zachary, das ist ja wie etwas aus Tausendundeiner Nacht.« Liebevoll umarmte sie ihn und drückte ihn an sich. »Zumindest ist es kein Strauß-Aufguß aus dem Hotel.« »Ach, mein Lieber« – wieder drückte sie ihn, fester diesmal womöglich –, »sobald wir Wien erreichen, werden wir den richtigen Strauß hören. Bis jetzt hat man keinen Tanz entdeckt – und wird es vielleicht auch nie tun –, den man so gern hört und tanzt wie den Walzer. Falls der Arzt es erlaubt, können wir vielleicht Walzer tanzen!« »Mal immer mit der Ruhe, Weib – ich habe nie tanzen gelernt. Zwar konnte ich dem alten Thunder seine paar Tanzschritte beibringen, aber ich selbst bin dazu ebensowenig imstande wie eine Indianerfrau zu einem Ringkampf.« »Dabei ist Walzertanzen so einfach.« Sie nahm die Würstchen vom Herd, trat zu ihm, ergriff seine Hand und legte ihm die andere um die Hüfte und fing an, eine Melodie im Dreivierteltakt zu summen. Edge, der auf seine Füße herniederstarrte, versuchte, sich ihren Schritten anzupassen. Autumn sagte: »Als ob du in einem Viereck springst. Fuß vorsetzen, den anderen nachziehen – einen Schritt vorwärts, andern ranziehen –, zurück. Dann drehen wir uns ein bißchen und wiederholen das.« Während sie übten, summte sie weiter, und das Kanarienvögelchen zupfte und zerrte an den Drahtstäben, daß es klirrte und sang; es hörte sich an, als ob das Vögelchen bemüht wäre, Wohlklang zu erzeugen. »Noch anmutiger ist der Walzer linksherum. Das geht genauso, nur, daß man mit dem rechten Fuß führt statt mit dem linken. Der Linkswalzer hat noch etwas Gleitenderes, und man macht auch -939-
nicht solche Pumpbewegungen mit den Armen.« So trug Edges Gesicht einen Ausdruck der Konzentration und des Eifers, während er unbeholfen gegen die Begrenzungen der Maringotte anstieß, und Autumn hatte das schiefe und abstoßende Gesicht, das sie nicht verändern konnte, während ihr junger und wohlgestalter Leib sich zu der von ihr gesummten Walzermelodie wiegte und so anmutig drehte wie eine Blüte im Wind. Plötzlich wurde an die Tür gepocht, und sie fuhren auseinander. Abrupt ließen sie einander los, und Autumn trat an den Herd, wo sie halb im Schatten verborgen stand. Auf der Türschwelle vor der Tür hielt Banal eine kleine Person im Nacken gepackt. Der für gewöhnlich mürrische und strenge Türsteher zeigte ein leicht amüsiertes Gesicht, als er verkündete: »Endlich habe ich unseren kleinen Schmuggler erwischt, Pana Edge. Und sehen Sie? Es war die ganze Zeit über nur ein Schabernack.« Tatsächlich mußte Edge die kleine Person zweimal ansehen – die in Schuluniform und Schülermütze gekleidet war und einen Ranzen auf dem Rücken trug –, ehe ihm klarwurde, daß es sich um Major Minim handelte. Der Gnom hatte seinen falschen Schnurrbart abgelegt, sich das Haar zu einer knabenhaften Tolle in die Stirn gekämmt und das Gesicht gepudert, daß es glatt wirkte wie ein Kinderpopo. »Ein Schabernack, ja, ein Streich«, sagte der Gnom und grinste albern. »Wollte sehen, wie lange ich es schaffte, ungesehen zu verschwinden und wiederzukommen, bevor dieser dämliche Böhme das verlor, was er seinen Verstand nennt.« Edge, den der groteske Aufzug des kleinen Mannes gleichfalls belustigte, hätte fast so etwas wie ein »Gehe hin und sündige nicht mehr!« gesagt, doch dann fiel ihm ein, was er selbst ein allzu übertriebenes Zusammentreffen von Zufällen genannt hatte, und er sagte: »Laß uns beide mal zum Roten Wagen -940-
rübergehen und uns über diesen Schabernack unterhalten. Banat, such Florian und schicke ihn dorthin.« Im Kontorwagen schubste Edge Major Minim auf einen Stuhl, nahm auf einem anderen Platz, faßte ihn ins Auge, sagte jedoch nichts, sondern sah ihn nur gleichsam auf gleicher Ebene an. Ein paar Minuten rutschte der Gnom hin und her, dann konnte er den schweigend forschenden Blick nicht mehr länger ertragen, und er kam damit herausgeplatzt: »Lassen Sie es mich mal so ausdrücken, Edge ...« »Für dich immer noch Herr Sprechstallmeister, Reindorf!« »Gut, Herr Sprechstallmeister. Jeder Mann in unserer Truppe hat eine Frau, und sei es nur eine von den Gauklerschlampen oder irgendeine Frau aus dem Publikum, die nichts weiter zu tun hat. Sie haben eine feste Frau, der Quakermaker hat sein Fräulein Aal, der Tätowierte Mann hat diese Negerin. Selbst die dicke Neue, Nella – haben Sie das gewußt? –, sie macht dem Knochengestell LeVie schöne Augen. Dabei paßte er zweimal in sie rein. Und was mache ich? Welche Chancen hat jemand wie ich? Ja, schon, manchmal hat sich mir eine Frau an den Hals geworfen, weil ihre perverse Neugier sie treibt. Aber wenn ich mich dann ausziehe und sie sieht meinen blassen kleinen Wurm von hujek, kreischt sie gleich vor Lachen, und damit ist alles aus. Gewiß, ich habe ab und zu eine Hure bezahlt – und ihr viel bezahlt, damit sie nicht lacht. Aber eine voll ausgewachsene Frau – naja, in der wackle ich einfach so herum. Und was hab’ ich jemals davon gehabt? Eine von diesen Huren hat mir ’n Tripper angehängt. Da mußte ich mir schon was einfallen lassen, mir meine Befriedigung zu verschaffen. Bin ich aber deshalb zu verachten?« Edge schwieg. »Ich dachte, vielleicht«, fuhr der Gnom verzweifelt fort, »wenn ich mit der ganzen Wahrheit herausrücke – mich Ihnen sozusagen auf Gnade und Ungnade ausliefere – und verspreche, -941-
mich zu bessern – dann könnten Sie ein Wort bei dem Herrn Prinzipal für mich einlegen ...« Edge schwieg. »Ich bitte Sie, Herr Sprechstallmeister. Er würde mich vom Podest stürzen und dafür sorgen, daß ich bei keinem Circus je wieder ankomme, mich möglicherweise sogar der Polizei ausliefern. Und dabei bin ich dabei – das habe ich Ihnen ja schon erzählt –, eine großartige neue Nummer für die Manege auszuarbeiten. Die wollen Sie sich doch nicht entgehen lassen ...« Just in diesem Augenblick betrat Florian den Kontorwagen, warf einen Blick auf den wie versteinert dasitzenden Edge und auf die lächerliche andere Gestalt und sagte: »Was in Gottes Namen geht hier vor?« »Nichts besonders Heiliges jedenfalls«, sagte Edge. Der Gnom flehte ihn wie gehetzt an, doch Edge fuhr fort: »Sieh dir mal die Bücher an, die er in seinem Ranzen hat, Prinzipal!« Wie benommen ließ Minim sich von Florian den Ranzen abnehmen. Völlig verdutzt sagte Florian: »Eine Fibel, ein Rechenbuch für ABC-Schützen, eine Schiefertafel. Und – und einen feuchten Wischlappen dazu? Zachary, würdest du mir bitte erklären, was dies alles zu bedeuten hat?« »Es geht um unseren Hinauswurf aus Linz.« »Wie bitte?« »Ein Wunder, daß man uns nicht woanders mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt hat. Oder geteert und gefedert, vielleicht sogar gelyncht. Fahre fort mit deiner Lebensgeschichte, Reindorf.« Der kleine Mann sah ärgerlich aus, schien zu schmollen und unwillig, mehr zu satt »Hoffentlich wird’s bald! Sonst schleif ich dich rüber zur Longe und knüpfe dich eigenhändig dort auf.« Minim ergab sich völlig seiner Verzweiflung und legte ein -942-
volles Geständnis ab. »Ich hab’s dem Herrn Sprechstallmeister bereits gesagt: Ich hab’ mir mal ’n Tripper geholt. Und dann hab’ ich irgendwo gelesen, ein Mann könnte sich selbst leicht heilen, indem er ... indem er es mit einem unberührten kleinen Mädchen macht. Da suchte ich mir eine Bettelgöre – das war noch in Krakau –, die für zwei Kupferlinge alles getan hätte; und da hat sie es mit mir gemacht. Übrigens, meine Herren, im Vertrauen gesagt, daß das funktioniert, ist eine Legende. Sie sollten es nie ausprobieren. Ich habe den Tripper heute noch. Einen Vorteil aber hatte dieser Versuch für mich. Ich fand nämlich heraus, wie köstlich diese kleinen Mädchen sind. Die seidige Haut ... voll ausgewachsene Frauen haben eine Lederhaut dagegen! Der kleine und noch festverschlossene Münzschlitz ...« »Hör auf mit dem Geseire!« unterbrach Florian ihn. »Erzähl weiter!« Minim ließ den Kopf hängen und senkte die Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war, so daß sie die Ohren spitzen mußten, um etwas mitzubekommen. »Gleich nach der Parade der Nachmittagsvorstellung beeile ich mich und – naja, ziehe mir diese Sachen an. Dann bin ich rechtzeitig zum Schulschluß unten in der Stadt, wenn die Schüler herauskommen. Unter die mische ich mich und falle dabei überhaupt nicht auf. Ich suche mir ein hübsches Mädchen aus, frage sie, ob ich ihr die Tasche tragen darf ...« »Aber du siehst überhaupt nicht aus wie ein Schuljunge«, erklärte Florian angewidert. »Jedenfalls nicht aus der Nähe. Du siehst aus wie die Puppe eines Bauchredners.« »Ach ja, es kommt schon vor, daß ein Mädchen sagt: ›Hottehüh, du hast viel zu buschige Augenbrauen für einen Jungen.‹ Doch im allgemeinen gehen sie ahnungslos mit. Und dann ... na ja ... dann führe ich sie in irgendeine einsame Gasse oder hinter ein paar Sträucher im Park und ...« Er zuckte mit den kleinen Achseln. Immer noch ungläubig fragte Florian: »Aber ein Mädchen in -943-
dem Alter, die erhebt doch gewiß Einwände ... wehrt sich ...« »Sie hat keine Ahnung, was passiert – Mädchen in dem Alter doch nicht –, jedenfalls nicht, bevor die Sache ziemlich weit gediehen ist. Und hinterher heult sie natürlich und bibbert, so daß es eine Zeitlang dauert, ehe sie sich wieder angezogen hat, und das gibt mir Zeit, ungehindert zu entwischen und wieder hierher zurückzukommen auf den Festplatz.« Florian wie Edge saßen da und starrten ihn mit einem Blick an, eisiger denn Abscheu, so daß Minim die Stimme erhob, als gelte es, die vernünftigsten Argumente vorzubringen. »Herr Direktor und Herr Sprechstallmeister, für einen so winzigen hujek wie den meinen, besitzt ein fünf- oder sechsjähriges Mädchen gerade die passende und angenehme Engigkeit, und mein hujek hat auch für sie genau richtig die richtige Größe. Vielleicht genießt sie es manchmal sogar. Jedenfalls glaube ich, daß die Mädchen sich hinterher selten beklagen, wenn sie heimkommen. Sie wissen ja nicht, worüber sie sich beschweren sollen, außer, daß ein Schulkamerad sie nackt ausgezogen und in ihrem Pipiloch rumgestochert hat.« Florian murmelte: »Ich hab’ ja schon viel und Abenteuerliches in meinem Leben erlebt, aber so was noch nicht! Reindorf, wie lange ist es her – wie viele sind es gewesen?« »Seit Polen?« sagte der Gnom, als ginge ihn das ganze überhaupt nichts an. »Ich habe längst aufgehört, sie zu zählen. Immer, wenn ich eine brauchte.« »Du hast also zahllosen kleinen Mädchen Gewalt angetan und ihnen auch noch eine Gonorrhoe, wenn nicht Schlimmeres angehängt. Und ich bin so töricht gewesen, dir für deine Tanznummer die kleine Sava Smodlaka zur Partnerin zu geben!« »Aber nein, Herr Direktor!« rief Minim mit soviel ungespielter Empörung aus, daß er diesmal wohl die Wahrheit -944-
gesprochen haben mußte. »Das würde ich nie wagen! Sie ist hübsch, ja, begehrenswert, auf ihre Weise sogar einzigartig. Aber ihr Vater Pavlo, das ist ein Wahnsinniger. Für die kleine Sava bin ich stets der perfekte Gentleman und Partner gewesen.« »Der perfekte Gentleman!« wiederholte Florian. »Und das werde ich auch weiterhin sein, wenn Sie mich bitte nicht hinauswerfen wollen! Das sage ich Ihnen ganz aufrichtig. Ich werde mich von jetzt an nicht nur hier auf dem Festplatz anständig aufführen. Keine kleinen Mädchen mehr, keine Scherereien. Aber bitte, geben Sie mir diese Chance, Herr Prinzipal, ich flehe Sie an. Außerdem bereite ich, wie ich dem Herrn Sprechstallmeister bereits unterbreitet habe, eine völlig neue Nummer für die Manege vor. Sie werden sie unwiderstehlich finden. Ich verkleide mich als Zwerglöwendompteur, verstehen Sie. Fahre mit einem Zwergpferd in die Manege rein, das vor einen Zwergkäfigwagen gespannt ist, in dem es von Zwergtieren wimmelt. Das sind zwar in Wirklichkeit nur streunende Katzen, verstehen Sie, aber ich klettere hinein, knalle mit der Peitsche und führe mich auf wie ein Barnacle Bill en miniature. Die Leute werden sich in die Hose machen vor Lachen! Bis wir in Wien sind, bin ich so weit. Behalten Sie mich bis Wien, und dort – falls ich mich bis dahin nicht gebessert habe« –, er setzte ein bekümmertes Gesicht auf – , »dann entlassen Sie mich, schwärzen mich überall an, werfen Sie mich ins Gefängnis, tun Sie mit mir, was Sie wollen, nur bis Wien, darum bitte ich Sie!« Florian sagte: »Eines kann ich nicht verstehen, Reindorf. Die Schulbücher haben zu deiner üblen Verkleidung gehört. Aber was ist mit dem Seifenlappen?« Ein nachsichtiges Lächeln verzog Minims Gesicht. »Ach, ich bin ja Künstler durch und durch – nicht nur beim Circus. Und Kunst bedeutet, aufs Detail achtzugeben. Hinterher gibt es ja immer ein bißchen Blut. Deshalb wasche ich mich jedesmal. -945-
Und sie auch, damit sie hinterher nicht nach Hause kommt und ein Blutfleck ihr kleines ...« »Florian«, sagte Edge. »Ich habe in meinem Leben nur zwei Zwerge kennengelernt. Aber jeder einzelne von diesen beiden war so wie Russum oder Reindorf. Wenn du mich fragst, kann unser Circus wirklich auf beide verzichten. Ich schlage vor, daß wir diese Kröte lebendig unter der Manege verscharren.« »Ostroznie!« fauchte Minim ihn an. »Vergessen Sie nicht, daß Fräulein Aal in der Sideshow nicht mehr mitmacht. Wenn Sie jetzt auch mich und meine Tanznummer rausnehmen – was bleibt Sir John dann noch? Außerdem sollten Sie sämtliche Befähigungen von Zwergen berücksichtigen, Herr Edge. Ich kann nicht nur auf Schulhöfen herumschnüffeln, sondern auch anderswo. Ich habe zum Maringotte-Fenster reingespäht und Ihr Fräulein Autumn unverschleiert und in vollem Licht gesehen. Wollen Sie diese Monstrosität vielleicht in der Sideshow zeigen statt ...?« Wie eine Gewehrkugel kam Edge durch den Raum geschossen, doch Florian warf sich mit fast genauso großer Schnelligkeit dazwischen. »Zachary! Zachary! Wir haben Tote genug gehabt!« Dann wandte er sich dem Gnom zu. »Reindorf, geh mir aus den Augen und sorg dafür, daß du es auch bleibst! Dann ersparst du dir Unannehmlichkeiten! Ich werde deiner Bitte entsprechen und dich bis Wien mitnehmen. Und jetzt: raus hier!« Minim tat, wie ihm geheißen, und Edge stand da und funkelte Florian finster an. »Wir haben uns bis jetzt selten gestritten, Prinzipal, seit wir zusammen unterwegs sind. Aber jetzt haben wir die Konfrontation. Dieser Wicht, dieses Schwein, könnte uns das ganze Unternehmen kaputtmachen, und du mußt völlig von Sinnen sein, ihn entkommen ...« »Zachary, Zachary!« wiederholte Florian. »Wir brauchen doch bloß abzuwarten, und er bringt sich selbst um die Ecke – -946-
und zwar auf eine Art, daß nichts am Circus hängenbleibt und unserem Ruf schadet.« »Aber wie denn, verdammt noch mal? Sollen wir abwarten, bis er am Tripper eingeht?« »Nein. Vor einer Minute noch hätte ich ihn eigenhändig umbringen können. Aber dann erwähnte er die Nummer, die er plant. Du hast doch Geschichte studiert, Zachary. Geh und überleg mal, was dir aus der europäischen mittelalterlichen Geschichte noch einfällt, besonders zu den beliebtesten Unterhaltungen damals. Inzwischen beruhige dich, tu nichts weiter als deine Pflicht, kümmere dich um deine liebe Autumn und sei versichert, daß dieser Major Made bekommt, was er verdient.« Praktisch gesonnen, fügte Florian hinterher noch hinzu: »Außerdem müssen wir noch Dutzende von seinen carfes de visite haben, die ich in München aufgekauft habe. Die lassen sich immer noch zu Geld machen.«
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2 Als sich die Straße mitten auf einer Hügelkuppe verbreiterte, warteten dort der Vorausmann Willi Lothar und sein Begleiter Jules Rouleau in ihrer Kalesche auf die Circuskarawane. Rouleau machte eine weitausholende Bewegung mit dem Arm und sagte: »Ich weiß, ein paar von euch haben dies bereits gesehen, aber für mich war es das erstemal. Voilá! Hier, mes amis, befindet ihr euch auf den Höhen des weltberühmten Wiener-Walds.« »Ich sagte gerade zu Autumn«, ließ Edge sich vernehmen, »daß es wie sanft gewelltes Ackerland aussieht und wie Weinberge.« »Dabei gibt es Teile des Wienerwalds«, sagte Jörg Pfeifer, »die sind fast so dicht bewaldet wie der Schwarzwald.« Edge sagte: »Und das da, nehme ich an, ist Wien – die Stadt, die sich dahinten ausbreitet. Eine verdammt große Stadt. Machen wir Parade hinein, Florian?« »Nein, diesmal nicht. Das wäre zu umständlich, wo doch der Kaiser seine Hauptstadt gerade so grandios ummodelt.« Willi erklärte: »Man ist jetzt seit zehn Jahren an der Arbeit, und trotzdem sieht die Stadt immer noch wie eine riesige Baugrube aus. Überall aufgerissene Straßen, Ausschachtungen, halb fertige neue Gebäude, Haufen von Ziegelsteinen und Straßenpflaster und Schienen für die Pferdetram, widerborstige Arbeiter, wirklich ein heilloses Durcheinander. Das allerdings alles nur in der Inneren Stadt, die von der neuen Ringstraße umschlossen wird. Deshalb können wir über die außen gelegenen Straßen um die Stadt herumfahren; dann geht es über den Donaukanal hinüber in den Prater, wo wir das Chapiteau aufbauen werden.« Die Wohn- und Gewerbebezirke der Stadt hatten zwar nichts Monumentales zu bieten, doch gab es für die Artisten viel zu -948-
sehen und zu bestaunen – prächtige Schlößchen und Landhäuser, Triumphbögen, Standbilder, große Plätze und Springbrunnen. Edges erster Eindruck von Wien ließe sich mit dem Ausdruck ›verschlungener Wirrwarr‹ zusammenfassen – denn jeder Stein, jedes Stuck- und Keramikornament war unendlich verschlungen und verzweigt. Die Säulen vor den Gebäuden, die Karyatiden und Friese mit Steingirlanden aus Akanthusblättern, Traubengehängen und Medaillons überladen und jede nackte Darstellung eines muskulösen Gottes oder einer üppigen Göttin – die klischniggreif in ihren versteinerten Verrenkungen wirkten – war so präsentiert, daß das Nackte nicht vertuscht, sondern vielmehr durch ein Stück steingehauenen Tuchs, das sich kraft eines glücklichen Zufalls über Brüsten oder Geschlecht blähte, eher betont und verstärkt wurde. Der Prater erwies sich, nachdem der Circus die Rotundenbrücke überquert hatte, als der geeignetste Ort, der dem FLORILEGIUM jemals als Festplatz zugewiesen worden war. Er war ein Inselpark von über zehn Quadratkilometern Ausdehnung, auf der einen Seite von der Donau umflossen und auf der anderen von dem schmalen Donaukanal. Ein großer Teil dieser Insel lag noch in ursprünglicher Unberührtheit seiner Gehölze und wildblumenprangenden Wiesen da; andere Teile waren streng mit Blumenrabatten, heckenumschlossenen Irrgärten, Geh- und Reitwegen angelegt und mit Gaslaternen ausgestattet. Es gab zahllose Baulichkeiten, die allerdings weit auseinander lagen – eine Trabrennbahn, ein riesiges Sportstadion, eine Gymnastikarena, muschelförmige Musikpavillons und Bänke für Freiluftkonzerte, riesige, schön geschmückte Hallen für Musik- und Tanzveranstaltungen. Die Besucher konnten ihren Hunger in jeder nur möglichen Art von Eßlokal stillen – in kleinen Tavernen und Kaffeehäusern, die sich ins Gesträuch duckten, bis hin zu weitläufigen Gartenrestaurants unter blumenberankten Pergolen. -949-
Das FLORILEGIUM schlug sein Chapiteau im Volksprater auf, dem den ganzen Sommer über geöffneten Vergnügungspark, der ein aus Läden, Ständen und Buden bestehendes Dorf für sich bildete; dabei war alles solide gebaut, nichts war improvisiert, und es gab alle möglichen Attraktionen, für die sogar geworben wurde: Ausstellungen, Glücksspiel, Trödelmarkt, Kinderspielplatz, Pony-Reitplatz und ein fröhlich bemaltes Karussell, eine von den neumodischen Luftschaukeln, ein Schießstand ... »Und nach Einbruch der Dunkelheit«, sagte Willi, »werdet ihr die roten Laternen jener Kaschemmen sehen, die eigentlich Hurenhäuser sind. Selbst tagsüber werdet ihr die Strizzis der Bordelle – die Zuhälter – auf der Pirsch sehen. Nicht um Freier anzulocken, sondern in der Hoffnung, unter den jungen Mädeln, die durch den Wurstelprater flanieren, neue Talente für ihre Häuser aufzutun.« »Das ist mal ein Vergnügungspark, der ganz auf der Höhe der Zeit ist«, erklärte Fitzfarris. »Es gibt jede moderne Errungenschaft.« »Wahrhaftig, ja, das kann man wohl sagen«, meinte Florian. »Und doch gibt es noch einige der Attraktionen von früher. Da siehst du zum Beispiel eine Buttenfrau.« Er wies dabei auf eine betagte, krumm gehende und mit einer Art Krücke sich vorwärtsschleppende Frau; dabei war sie fast bis zur Gänze in einen Leinenumhang gehüllt, der sich hinter ihr bauschte, als schleppe sie eines der Erzleiden der Welt, einen Buckel, mit sich herum. Wiewohl sie ein gutes Stück von ihnen entfernt war, ging von ihr ein solcher Gestank aus, daß man sich die Nase zuhalten mußte. »Was zum Teufel ist eine Buttenfrau?« »Das ist jemand, der auf dem Rücken eine Butte trägt, einen Holzkübel. Mußt du deine Notdurft verrichten – und findest im Park weder eine öffentliche Bedürfnisanstalt, ja, noch nicht -950-
einmal ein für diese Zwecke geeignetes Gebüsch –, dann rufst du nach einer Buttenfrau. Du zahlst ihr zwei Kreuzer, sie stellt die Butte ab, du nimmst darauf Platz, sie hüllt dich mit ihrem Umhang ein und schirmt dich von den Vorübergehenden ab, und du erledigst dein Geschäft.« »Na gut«, sagte Fitz lächelnd. »Der Prater verfügt eben wirklich über jede moderne Errungenschaft – und eine davon sollten andere vielbesuchte Orte sich zum Vorbild nehmen.« Edge rief am nächsten Tag als erstes nach einem Fiaker – von denen ständig eine Reihe im Park hin- und herfuhr –, half Autumn einsteigen und reichte dem Kutscher den Zettel mit der Adresse von Herrn Doktor von Monakow darauf. Es ging zurück über die Brücke, und dann machten sie eine sehr lange Fiakerfahrt, da der Kutscher einen Umweg um die vielen Baustellen und Engpässe der Inneren Stadt machen mußte. »Du wartest hier«, bedeutete Edge Autumn, als sie vor dem Haus des Arztes angelangt waren. »Ich werde sehen, ob er uns sofort empfängt. Er soll englisch sprechen.« Am Tisch in der Eingangshalle saß eine strenge, in ein gestärktes Gewand gekleidete Frau, die gleichfalls des Englischen mächtig war. »Dienstag in drei Wochen, Mr. Edge.« »Err, Ma’am – ich meine, gnädige Frau –, wir haben eine endlose, monatelange Fahrt hinter uns, eigens um Doktor Monakow aufzusuchen.« »Dann kann man das wohl kaum einen dringenden Notfall nennen.« »Wenn Sie mich fragen, Lady, ist das seit langem ein sogar äußerst dringender Notfall.« »Junger Herr«, sagte sie, immer noch spröde, aber keineswegs verständnislos, »es gibt viele andere, die sich genauso große Sorgen machen wie Sie, und die dringlichst auf einen Termin warten. Die Liste der Wartenden ist lang. Der Herr Doktor muß sich aber auch um seine Patienten kümmern und im -951-
Krankenhaus operieren. Dienstag in drei Wochen, Mr. Edge, Punkt zehn Uhr.« Resigniert ging Edge hinaus und berichtete Autumn, der die lange Verzögerung jedoch nichts auszumachen schien. Sie sagte: »Dann soll der Fiaker uns nur bis zur Ringstraße zurückbringen; dort gehen wir ein Stück zu Fuß. So werden wir keine Schwierigkeiten haben, uns durch die Gassen der Innenstadt hindurchzufinden. Und wir haben viel Zeit, bevor du dich zum Dienst melden mußt.« Gelegentlich mußten sie um Schutt und Steinhaufen von Abrißhäusern sowie um das aufgeschichtete Baumaterial von Neubauten herumgehen. Viele Wiener – zu Fuß oder hoch zu Roß, jedenfalls nicht in Pferdefuhrwerken – machten es wie sie. »Alle Welt kommt fast täglich, die Verbesserungen und Fortschritte zu bewundern«, sagte Autumn. »Das hier waren die Befestigungsanlagen der alten Stadt; Franz Joseph jedoch beschloß, daraus einen breiten Boulevard zu machen, der – von Musterbeispielen moderner Architektur gesäumt – die gesamte Innenstadt umfassen soll. Sieh, das da ist die neue Oper«, sagte Autumn beifällig. »Sie bildet das Mittelstück des gesamten Rings. Als ich das letztemal hier war, war sie noch nicht fertig, doch jetzt scheint sie das zu sein, jedenfalls von außen.« »Wirklich hübsch«, sagte Edge. »Franz Joseph wollte es hübsch und ansehnlich. Dabei ist der ärmste so beschränkt und besitzt nicht den geringsten Takt. Als er das erstemal herkam, sich die Fassade anzusehen, brummelte er etwas von wegen nicht hoch genug für die Umgebung. Woraufhin der Architekt sofort hinging und sich das Leben nahm. Seither wagt der Kaiser es überhaupt nicht mehr, seine eigene Meinung zu äußern. Ob er ein Ballett besucht oder ein Konzert oder ob er ein Denkmal einweiht – egal was –, er hat für alles eine Standardbemerkung parat: ›Es war schön. Es hat mich sehr gefreut.‹« -952-
»Worüber ich mich im Moment freuen würde, das wäre ein Morgenimbiß«, sagte Edge. Mit diesen Worten steuerte er Autumn auf das zu ebener Erde gelegene Kaffeehaus des Hotels direkt hinter der Oper zu. »Du hast gut gewählt«, sagte Autumn. »Das hier ist das Sacher, wahrscheinlich das berühmteste Hotel in ganz Europa.« Ein gewandter, selbst um diese frühe Vormittagsstunde bereits tadellos in weiße Fliege und Frack gekleideter Kellner wies ihnen einen Tisch an und fragte in mehreren Sprachen, was ihnen zu bringen er sich beehren dürfe. Autumn sagte: »Zwei Mokka, Herr Ober. Und die Konditorwaren, bitte.« Als er ihnen die beiden Kaffees brachte, rollte er gleichzeitig den üppig ausgestatteten Gebäckwagen herzu. »Die Torte mit den vielen Schokoladenschichten da«, sagte Autumn, »das ist die unvergleichliche Sachertorte. Die mußt du unbedingt probieren, Zachary. Ich werde eine Schnitte von diesem Walnußstrudel nehmen.« »Mit Schlagobers?« fragte der Kellner. »Ja, bitte.« Woraufhin der Kellner ihr Gebäck mit einem dicken Klacks Schlagsahne krönte, selbige mit Hilfe einer Spritztüte künstlerisch verzierte und in einer keck gedrehten Spitze auslaufen ließ. Edge sagte: »Mädchen, wenn du diesen Haufen Schlagsahne ißt, kommst du zu Fuß nicht mehr hier raus.« »Das schaffe ich schon«, sagte sie lachend, weil sich ein kleiner Batzen Sahne an ihrem Schleier festgesetzt hatte. »Du wirst das auch noch lernen. Andere Städte haben Flaggen mit ihren Wappen darauf. Wenn Wien ein solches braucht, dann soll es ein Schlagsahnewimpel sein.« Edge blickte sich um und sah, daß sich an den anderen Tischen außerordentlich wohlgekleidete Damen und Herren -953-
ebenfalls Berge von Schlagsahne einverleibten, die ausgereicht hätten, die Manege des FLORILEGIUM damit zu füllen. »Als wir in die Stadt hereinkamen, dachte ich, die hiesige Architektur und die Ornamente hätten alle etwas – naja, Verschlungenes und Wirres. Ich habe mich geirrt. Offensichtlich ist alles dazu gedacht, genauso aufgeschäumt sahnig und schwer zu sein wie Schlagobers.« Wieder lachte Autumn. »Für einen Hillbilly aus Virginia hast du die Augen ganz schön weit offen. Jemand anders hat mal gesagt, alles, was man in Wien zu sehen bekommt, nimmt sich aus wie der künstlerisch gestaltete Deckel einer Pralinenschachtel.« »Auch dieses Hotel ist hübsch. Aber warum ist es so berühmt?« »Ach, mein Lieber, wir sitzen hier nur im Kaffeehaus. Im Hotel selbst gibt es ein halbes Dutzend andere Speisesäle und außerdem kleine Separees, in denen ein junger Mann sein Mädel mit allen Gaumenfreuden verwöhnen kann. Und oben gibt es dann den riesigen, marmorgetäfelten Salon, in dem reiche Männer nicht selten das gesamte corps de ballet der Oper zu Gast gehabt haben. Sogar eine Filiale gibt es – das Sacher im Prater –, ganz in der Nähe unseres Festplatzes. Wobei mir einfällt: Wir haben gerade noch genug Zeit, dir eine bestimmte Sache zu zeigen, ehe wir zurückfahren. Den Dreh- und Mittelpunkt und den Stolz von ganz Wien.« Sie führte ihn durch die Kärntnerstraße, eine ausschließlich Fußgängern vorbehaltene breite Allee, die wegen der gewaltigen steinernen, unterschiedlich aufgestellten Becken für den Fiakerverkehr nicht zu benutzen war; ein jedes dieser Becken floß über von Petunien und Geranien. Zu beiden Seiten zogen sich die elegantesten und teuersten Geschäfte Wiens hin und boten in ihren Schaufenstern die köstlichsten Kleider, Weißnähereien, Stickereien und Geschmeide dar. An einer Stelle zeigte Autumn eine Seitengasse hinunter und sagte: »Dort hinten findest du Tante Dorothee.« -954-
»Was?« »Das Dorotheum, ursprünglich ein städtisches Pfandhaus für die Armen, ähnlich wie die Monti di Pietá in Italien. Doch schon sehr bald wurde nichts anderes als ein Hehlerladen daraus, wo Diebe und Einbrecher ihre Beute verkauften. Sollte uns also während unseres Aufenthalts hier etwas gestohlen werden, mach dir nicht erst die Mühe, es der Polizei zu melden. Geh einfach zu Tante Dorothee und kauf es zurück.« Von der Kärntnerstraße gelangten sie auf die Weite des Stephansplatzes, in dessen Mitte der ausnehmend hohe, mit gotischem Spitzturm bewehrte und mit bunten Dachziegeln gedeckte Stephansdom emporragte. »Eines Tages, Zachary«, sagte Autumn, »steigen wir den Turm des Stephansdoms hinauf – falls wir nicht von dem ständigen Wind dort oben davongeweht werden. Der Rundblick, den man von dort oben hat, ist überwältigend. Wer den ganzen Tag über bleibt, kann die Sonne über der Donauebene aufgehen und hinter dem Vorgebirge der Alpen untergehen sehen. Doch jetzt sollten wir sehen, daß wir zurückkommen zum Prater. Dort hinten, gleich an der Ecke des Doms, steht ein Fiaker.« Bei ihrem Eintreffen auf den Festplatz unterhielt Florian sich gerade mit einem jungen Mann und einer jungen Frau, beide in paillettenbesetztem, leuchtendrotem Trikot. »Landsleute von dir, meine Liebe!« wandte Florian sich überschäumend an Autumn. »Cecil und Daphne Wheeler, die – kaum zu glauben tatsächlich eine wheel –, also eine Radnummer vorführen. Mr. und Mrs. Wheeler, gestatten Sie mir, Ihnen Miss Autumn Auburn vorzustellen, die gleichfalls aus Ihrem England stammt und unsere Erste Hochseilartistin ist, allerdings vorübergehend nicht auftritt. Und Colonel Zachary Edge aus Ihren amerikanischen Kolonien, unser vortrefflicher Sprechstallmeister, der aber außerdem noch viele andere Aufgaben bei uns wahrnimmt.« -955-
»How do you do?« grüßte Daphne lächelnd – wobei ihr Lächeln unschlüssig waberte, als Edge das Lächeln erwiderte. Daphne, eine ausnehmend reizvolle junge Frau, aschblond mit Pfirsichhaut, hatte aber gleichwohl etwas sehr Verhaltenes an sich. »D’y’do?« sagte Cecil, seinerseits ein stattlicher Mann mit sandfarbenem Haar und geröteter Gesichtsfarbe, der allerdings alles andere als verhalten wirkte. »Ja, wir heißen wirklich Wheeler – wobei man sich fragen könnte, wer war eher da, die Henne oder das Ei. Daheim in Merry old England haben Daf und ich erst eine Velozipednummer gemacht. Doch in Paris haben wir dann diese neue Art kennengelernt, ohne Kufen und Eis gleichsam auf Rollen zu laufen, und so machen wir das jetzt auch. Rollen sind in gewisser Weise ja auch Räder, nicht? Schließlich muß man ständig bemüht sein, besser zu werden und seine Leistung zu steigern, oder?« Florian unterbrach ihn und sagte: »Verzeihung, Zachary und Autumn, aber ich habe völlig vergessen, mich zu erkundigen, wie es euch ergangen ist.« »Es ist nichts draus geworden«, sagte Edge. »Aber es muß ein verdammt guter Arzt sein. Er ist so beschäftigt, daß wir erst in drei Wochen einen Termin bekommen konnten.« »Ach, eigentlich eine Empfehlung, die Mut macht, obwohl ich weiß, wie ungeduldig ihr wartet.« Edge sagte: »Im Augenblick möchte ich als euer Sprechstallmeister aus den rückständigen Kolonien darum bitten, darüber aufgeklärt zu werden, was eine Veloziped- und was eine Rollnummer ohne Eis ist.« »Etwas Aufsehenerregend-Sensationelles«, sagte Florian. »Sie haben’s mir gerade eben vorgeführt. Auf Plakaten und im Programm werden wir sie als ›Wheeling Wheelers‹ – die ›Rollenden Radler‹ – ankündigen. Aber nur zu, Cecil, erklären Sie dem Colonel, was Sie machen.« -956-
»Nun, old boy, vor langer Zeit gab’s mal einen Laufapparat, Dandy- oder Stutzerpferd genannt: ein Rad vorn und eins hinten; dazwischen eine Stange, auf der man rittlings Platz nahm und das man füßetretend vorwärtstrieb. Dann kam jemand auf die Idee, das Vorderrad mit Pedalen auszustatten und ...« »Ja«, sagte Edge, »das ist der Boneshaker oder Knochenrüttler, wie wir dies Gefährt in den Kolonien nennen. Vorn ein hohes Rad und hinten ein kleines.« »Richtig, old boy. Oder pennyfarthing, wie wir das in Merry old England nennen. Oder genauer gesagt: das Veloziped.« »Seit wir hier in Europa auf Tournee sind, habe ich schon einige Männer auf diesem Gefährt durch die Parks rollen sehen. Sieht aber verdammt unbequem aus.« »Und ob es das ist! Aber dafür lassen sich eine Reihe flotter Tricks damit arbeiten. Ich trete in die Pedale, und Daf posiert auf meinen Schultern. Im Schlußtrick fahre ich das Ding dann solo in atemberaubender Geschwindigkeit, bleib’ unvermittelt stehen und mach’ einen Köpfer mitten hinein in ein Faß voller Flammen. In Wirklichkeit ein Faß voll Wasser mit einer hauchdünnen brennenden Ölschicht obendrauf.« »Das ganze ist so aufregend, daß sich einem die Haare sträuben.« Daphne Wheeler und Autumn waren ein Stück beiseite getreten, und das neue Mädchen fragte zögernd: »Im Moment treten Sie nicht auf, Miß Auburn? Und suchen einen Arzt auf? Verzeihen Sie, aber sind Sie – sind Sie in anderen Umständen?« »O nein, meine Liebe«, sagte Autumn. »Es ist nur eine Unpäßlichkeit, weswegen ich vorübergehend nicht arbeiten kann und das Bett hüten muß.« »Ach so, eines unserer vermaledeiten Frauenleiden. Ist es nicht gräßlich, eine Frau zu sein?« »Und Sie und Mr. Wheeler – haben Sie Kinder?« -957-
»Nein. Ceece ist nicht besonders für ... nun, er möchte reisen können und herumkommen. Deshalb hat er sich ja auch bei Mr. Florian beworben. Wir sind jetzt schon den zweiten Sommer hier im Prater und arbeiten unsere Radnummern als Lückenbüßer zwischen den Wettkämpfen in der Sportarena. Deshalb brennt Ceece darauf, ein Unternehmen zu finden, mit dem wir weiterziehen können.« »Nun, solange die Männer sich unterhalten, Daphne, kommen Sie, ich will Sie mit der Weiblichkeit unserer Truppe bekanntmachen.« Cecil erklärte Edge inzwischen: »Beim Besuch des Hippodroms in Paris haben sie eines dieser hübschen, aber altbekannten Winterbilder gegeben – ›Heiteres Holland‹ oder ›Schönes Schweden‹ oder ähnlich abgedroschene Darbietungen: mit Klingelgeläut und Pferdeschlitten und pelzverbrämten Kostümen und so.« Cecil lachte; er hatte ein Lachen an sich, das sich anhörte wie ein wohlerzogenes vornehmes Schnaufen: hnoofhnoofhnoof. »Dafür wollten sie aber um alles auf der Welt vermeiden, ihr schönes Parkett zu überfluten und zu Eis gefrieren zu lassen, wissen Sie? Deshalb trug die ganze Truppe der Eisschuhtänzer Plimptons statt Kufen. Wissen Sie, was das sind – Plimptons? Schließlich ist das eine Yankee-Erfindung.« »Ich fürchte, ich bin kein besonders guter Yankee.« »Nun, statt sich Kufen unter die Stiefel zu schnallen, zieht man diese kleinen Clogs an, an deren Unterseite vier kleine Buchsbaumrollen befestigt sind. Damit rollt man einfach dahin, so glatt als ging’s übers Eis. Und mit etwas Übung kriegt man jede Figur hin, die man auch mit Schlittschuhen drehen kann.« »Aber doch sicher nicht im Sägemehl der Manege.« »Non, no, old boy. Zusätzlich zu dem Kübel für den Trick mit dem brennenden Wasser führen wir auf dem Dach unseres Wohnwagens noch ein zusammenklappbares Brett mit, das sich in der Manege zu einem Bretterrund auseinandernehmen läßt. -958-
Und darauf gleiten wir dahin, rollen und drehen unsere Figuren und tanzen sogar miteinander.« Edge sagte aufrichtig beeindruckt: »Das muß ich unbedingt sehen.« »Ja«, sagte Florian. »Aber erst einmal müssen die Wheelers bei ihrem augenblicklichen Arbeitgeber kündigen; daher haben wir reichlich Zeit zu überlegen, wo wir sie ins Programm einfügen. Und jetzt, Cecil, kommen Sie – ich möchte Sie mit Ihren zukünftigen Kollegen bekanntmachen. Da wären als erste einmal der Quakemaker, Fräulein Aal und der junge Ali Baba.« Yount konnte nur nicken und Grunzlaute ausstoßen, denn er probierte mit Agnete und Quincy und hielt diese in die Höhe, während die beiden ihre Gliederverschlingungen vornahmen. Agnete ruhte bäuchlings auf Younts rechter Hand, steckte den Kopf aus einem Gewirr ihrer eigenen Arme und Beine hervor und sagte lächelnd.: »Willkommen.« Quincy ruhte mit seinem Hinterteil auf Younts linker Hand, hatte dabei die Beine hoch in die Luft gereckt und sie so weit auseinandergenommen, daß er den Kopf über dem eigenen Gemächt durch die gegrätschten Beine strecken und verschmitzt sagen konnte: »Hallo!« Cecil sagte: »Du mußt eine Quelle unsäglicher Befriedigung für dich selbst sein, Affenjunge. Paß nur auf, daß du ihn dir nicht abbeißt.« Nachdem Cecil den Smodlakas vorgestellt worden war, unterhielt er sich freundschaftlich mit Pavlo und Gavrila und klopfte den Terriern, welche Pavlo stolz herbeigepfiffen hatte, pflichtschuldigst die Flanke. In rückhaltloser Bewunderung jedoch starrte er die Albinos Sava und Velja an, die Gavrila gerade in einer Zinkbadewanne abseifte. »Bei allen Göttern, Florian«, sagte Cecil. »Die sollten Sie so und nicht anders zur Schau stellen: splitterfasernackt. Die sind ja weiß wie das feinste Porzellan – hauchdünnes Sevres. Nie zuvor habe ich so kaolinweige Menschen gesehen. Sogar die Nippel -959-
des kleinen Mädchens und die Pimmelspitze des kleinen Jungen ...« »Stvarno ne!« murmelte Gavrila, bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick und hüllte beide Kinder in ein Handtuch ein. Nachdem Cecil auch noch Willi und Rouleau kennengelernt hatte, wartete er zumindest, bis sie wieder außer Hörweite waren, ehe er eine derbe Bemerkung machte: »Zwei Hinterlader, was?« Kalt sagte Florian: »Fragen Sie sie doch selbst.« »Ach, ich hab’ nichts gegen Hinterlader, old boy«, beeilte Cecil sich zu sagen. »Als Artisten, nichts dagegen zu sagen. Aber ist es wirklich ratsam, sich von einer Schwuchtel als Vorausmann vertreten zu lassen? Ich meine, was macht das für einen Eindruck ...« »Herr Lothar hat uns bisher ausgezeichnete Dienste geleistet. Und auf Monsieur Roulette können wir in keiner Weise verzichten. Was ihr Privatleben betrifft – nun, das geht niemand etwas an.« »Schon gut, schon gut. Schließlich sind sie beide erwachsene Männer. Oder zwei voll ausgewachsene Wasweißich, ja? Hnoofknoofl« Auf dem Festplatz drängten sich die Leute und standen nach Karten für die Eröffnungsvorstellung an, während andere sich an den Buden vergnügten, die am Zugang zum Chapiteau standen. Die Schankmädchen zapften schäumendes Bier in Seidel, die Limonaden- und Eisverkäufer gaben Flaschen und Waffeln mit ihrem Produkt aus, die Wurstbrater vernebelten mit blauen Schwaden die klare Luft – und die wenigen Wiener, die nichts aßen, kauften von den Souvenir- und Tandlerständen allen möglichen Krimskrams. Sie erstanden genau die gleiche Art Erfrischung, Getränk und billigen Tand, die auf dem Wurstelprater den ganzen Sommer über verkauft worden waren; -960-
doch da das FLORILEGIUM selbst etwas Neues war, bekam auch alles andere den Hauch von etwas Neuem. Am Anfang der Budenzeile stand die rauchende und fauchende Dampforgel und trompetete Strauß-Walzer mit einer solchen Lautstärke hinaus, daß der eigene Komponist es hören mußte, wo immer in Wien er auch wohnen mochte. Über dem Eingang des Chapiteau flatterten und rauschten die Wimpel im Wind. Auf der einen Seite produzierte der Gierige Grieche ständig neue Flammeneruptionen aus seinem Mund, während auf der anderen Fitzfarris lautstark für sein Mäusespiel warb; man drängte sich, seine Einsätze bei ihm zu plazieren. Edge schob sich auf das Sonnensegel vor dem Eingang zu, als Florian und Lothar ihn abfingen. »Zu deiner Information, Colonel Ramrod«, sagte Florian, »heute in einer Woche wird der Festplatz die ganze Abendvorstellung über fürs Publikum gesperrt. Willi hat eine Privatvorstellung für uns arrangiert, das Chapiteau ist ausverkauft.« »Na, großartig«, sagte Edge. »Eine Gratisvorstellung für alles, was Rang und Namen hat in dieser Stadt?« »Hm, nein, nicht gerade«, sagte Willi. »Daran arbeite ich noch und bin guter Hoffnung, daß was daraus wird. Aber nein, diese Privatvorstellung wird zu Ehren einer Bettlerhochzeit gegeben.« Verdutzt sagte Edge: »Solange ich bei diesem Circus bin, haben wir das ganze nur zweimal für eine geschlossene Vorstellung reservieren lassen. Das eine Mal für den König von Italien, und das andere Mal für einen Bienenschwarm von Erweckungspredigern daheim in Virginia. Bedeuten da Bettler nicht einen gewissen Abstieg?« »Keineswegs«, sagte Florian. »Wiener Bettler stehen auf der gesellschaftlichen Leiter wesentlich höher als eure beschränkten Bibel-Babbler.« »Sehen Sie, Herr Edge«, sagte Willi. »Wien ist eine so -961-
unglaublich reiche Stadt, daß selbst Krüppel nicht unbedingt darauf angewiesen sind zu betteln; Betteln ist hier ein angesehener Beruf. In unserem Fall hat zum Beispiel der Brautvater seinen anerkannten Platz an der Steinbrücke, seine Frau am Burgtor, genauso wie schon ihre Eltern und Großeltern vor ihnen. Ihre Tochter heiratet jetzt einen vielversprechenden jungen Bettler mit eigenem Standplatz in der Nähe der Albertina. Der Beruf wirft soviel ab, daß die stolzen Eltern Tausende von Kronen für die Hochzeit ausgeben wollen. Erst die Trauung im Stephansdom, dann die Vorstellung hier im Circus, danach Galaempfang und Abendessen im Chapiteau – ausgerichtet vom Sacher –, zu welchem wir übrigens alle ausdrücklich eingeladen sind.« »Nun, das verblüfft mich, muß ich schon sagen«, meinte Edge. »Aber wer will sich darüber schon beklagen. Sollte ich jemals zurückkommen nach Virginia, werde ich den Predigern vorschlagen, sich zu überlegen, ob sie nicht doch umsatteln sollen.« Dann ließ er von diesem Thema ab und sagte abrupt: »Hey, Made!«, streckte die Hand aus und packte den Gnom, der in seinem Sideshow-Kostüm vorübertrabte. »Dies hier ist Wien. Wann kriegen wir denn nun endlich deine neue Nummer zu sehen?« Der kleine Mann fauchte: »Ach, komm schon, Edge ...« »Herr Sprechstallmeister!« Aus dem Fauchen wurde ein Gewinsel. »Haben Sie ein Herz, Herr Sprechstallmeister. Stitches und Bumbum haben zwar einen Käfigwagen gebaut, aber ich habe noch nicht genug Katzen zusammen – schließlich fange ich immer nur eine zur Zeit.« Florian meinte trocken: »Ich nehme an, streunende Katzen zu fangen ist schwerer als unschuldige kleine Mädchen.« Major Minim machte ein finsteres Gesicht, sagte aber nur: »Was ich brauche, sind eine ganze Menge Katzen, und bis jetzt habe ich erst vier. Schon jetzt stinkt meine Maringotte wie eine -962-
Kloake.« Mit einem Ruck entwand er sich Edges zupackendem Griff und enteilte. »Wir werden ihm Zeit lassen«, sagte Florian. »Mir geht es ja genau so sehr darum, ihn loszuwerden, wie dir, Colonel Ramrod. Aber ich hasse es nun mal, einen von der Truppe zu verlieren, ehe ich Ersatz für seine Nummer habe. Vermutlich werden wir ihn genau dann los, wenn die Wheelers sich uns anschließen.« »Läßt du die kleine Sava immer noch mit ihm tanzen?« »Ja. Ich glaube, er hat die Wahrheit gesprochen, als er sagte, er hätte viel zuviel Angst, um sie zu belästigen. Immerhin habe ich Gavrila eingeschärft, niemals zuzulassen, daß Sava sich außerhalb der Tanznummer in seiner Nähe aufhält. Oder Velja, was das betrifft. Die Kinder der Nacht dürfen Freundschaft schließen, mit wem sie wollen – nur mit Major Minim nicht.« Als das Publikum der Nachmittagsvorstellung aus dem Chapiteau strömte und die männlichen Besucher wie üblich in den Anbau drängten, um sich daran zu ergötzen, wie der Amazonin vom Drachen Fafnir Gewalt angetan wurde, stellte Fitzfarris zu seiner Verwunderung fest, daß die Zuschauer diesmal nicht alle männlichen Geschlechts waren. Unter all den neugierigen Mannsbildern fiel ihm ein hübsches Mädchen in schicker Haube und Krinolette auf, das einen Skizzenblock auf die Hüfte gestützt hielt, eifrig mit einem Stück Holzkohle zeichnete und gleichzeitig aufmerksam verfolgte, was geschah. Nach der Vorstellung, als die Männer leise wiehernd hinausgingen und schlüpfrige Bemerkungen austauschten, blieb das Mädchen zurück. Sie näherte sich Fitzfarris auf der Plattform und wurde bei jedem Schritt hübscher. Sie mochte Anfang Zwanzig sein, hatte schwarzes Haar, veilchenblaue Augen und eine hinreißende Figur. Jetzt erst bemerkte Fitz, daß sie noch eine andere weibliche Person etwa gleichen Alters im Schlepptau hatte, die freilich alles andere als hübsch war. Diese junge Frau hatte ungepflegt wirkendes Haar, klein gekrusselt -963-
wie die Barte von Spanischem Moos, das in Virginia von den Bäumen herunterhängt, und machte einen sichtlich empörten und angeekelten Eindruck, sich in einer solchen Umgebung wiederzufinden. »Bitte, mein Herr«, sagte die Hübsche. »Sind Sie der Direktor dieses Spektakels?« »Das bin ich, gnädiges Fräulein. Kann ich etwas für Sie tun?« »Ich bitte um die Erlaubnis, mit der ... der Amazone zu sprechen.« »Geben Sie ihr eine Minute, den Drachen in seinem Lager einzusperren, dann werde ich sie rufen. Dürfte ich wissen, was ...« Sie zeigte ihm den Skizzenblock, auf dem sie mit sparsamen, aber gekonnten Strichen Meli und die Python in diversen erotischen Verschlingungen zu Papier gebracht hatte. »Mein Name ist Tina Blau. Ich wollte die Dame fragen, ob sie sich bereitfinden könnte, mir für ein Gemälde Modell zu sitzen.« »Ah, Sie zeichnen«, sagte Fitz beifällig. »Ein höchst damenhafter Beruf. Und malen tun Sie auch? Mit Wasserfarben, nehme ich an.« »Nehmen Sie an!« erklärte ihre Begleiterin bissig. »Was für eine typisch männliche Herablassung. Warum klopfen Sie ihr nicht auf den Kopf? Sie sollen wissen, daß Tina Blau keine dahinwelkende Treibhausblüte ist, die sich in der Mußezeit damit beschäftigt, hübsche Aquarelle zu pinseln. Tina Blau ist Malerin von Beruf! Und wird immer bekannter.« »Und Sie? Wer sind Sie?« fragte Fitz frostig. »Bitte«, sagte Tina Blau. »Bitte, Sie müssen meiner Freundin verzeihen, sie heißt Bertha Kinsky und ist eine führende Persönlichkeit in der Friedensbewegung, bei den jungen Liberalen und in der Gesellschaft gegen die Unterdrückung der Frau.« -964-
»Und ist sie auch Ihre Managerin, Fräulein Blau? Ihr Vormund?« »Nein, nein. Eine Freundin und Mäzenatin. Manchmal geht Bertha in ihrem Eifer zu weit, aber ...« »Ich kann für mich selbst sprechen«, sagte die andere. »Diese ganze Ausstellung stellt eine abscheuliche Herabwürdigung der armen Frau auf der Plattform dar. Aber wenn du sie malen möchtest, Tina, soll dieser Ausbeuter – wissen, daß du sie auch malen kannst!« Und an Fitzfarris gewandt, sagte sie: »Fräulein Tina Blau ist als Künstlerin weit besser als dieser schmuddelige Bonbonschachteldekorateur, der berühmte Herr Makart.« »Schon gut, schon gut, ich glaub’s ja.« Trocken fügte Fitz von sich aus eine witzige Bemerkung hinzu: »Ich male auch – nämlich mich selbst an!«, zog dann ein Taschentuch und wischte sich das Gesicht ab, wodurch die blaue Hälfte zum Vorschein kam. Tina Blaus veilchenblaue Augen wurden ganz groß, und die furchteinflößende Bertha Kinsky hielt den Atem an – und sagte nichts mehr. Fitz hingegen sagte: »Ich werde Ihnen jetzt unsere Amazone holen.« In einen Hausmantel gekleidet, kam Meli Vasilakis zurück ins Zelt und sah nicht sonderlich glücklich drein. Unter den gegebenen Sprachschwierigkeiten brauchte Tina Blau eine Weile, um ihre Bitte – daß, bitteschön, Meli samt Python für sie Modell sitzen möge – klar zu machen. »Ah, Sie wollen schmutziges Bild. Wie ich zefyos mit Schlange mache. Wie wär’s mit wirklich schmutzigem Bild? Wie ich zefyos mit echter Schlange mache. Zwei-, dreimal die Woche muß ich das machen. Kommen Sie, wann Sie wollen, sehen zu, malen.« Womit sie unvermittelt hinausging. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Tina. »Ich, offen gestanden, auch nicht«, gestand Fitz. »Aber wir werden eine ganze Weile hier in Wien bleiben, Fräulein Blau. Kommen Sie wieder, kommen Sie oft, gewinnen Sie ihr -965-
Vertrauen, sie wird sich schon mit Ihnen anfreunden. Das würde jeder. Was mich betrifft, so habe ich bisher noch nie einen echten Künstler kennengelernt, von einer Künstlerin ganz zu schweigen. Es würde mich außerordentlich interessieren, einige Ihrer Arbeiten kennenzulernen.« Lange und nachdenklich sah sie ihn an; dann reichte sie ihm eine Karte. »Meine Atelieradresse. Sie können kommen, wann es Ihnen beliebt, mein Herr.« Fräulein Kinsky zerrte förmlich an Tinas Ellbogen, um sie aus dem Zelt hinauszugeleiten. Fitz’ Blick, der den beiden folgte, begegnete dabei unversehens dem von Monday Simms, die unter dem Eingang stand und ihn mit Augen wie Kohle betrachtete. Die Nachmittags- wie die Abendvorstellung sowie mehrere nachfolgende Vorstellungen waren so gut besucht, daß Florian eine Sitzung aller leitenden Leute in den Kontorwagen einberief und dort verkündete: »Hier in Wien werden wir wohl länger bleiben als je zuvor in einer Stadt. Den Herbst und den Winter über bestimmt, und vielleicht noch bis weit ins Frühjahr hinein. Der größte Teil des Praters – das heißt Buden und Unterhaltungseinrichtungen – schließt den Winter über; genauso geht es mit den Sportstadien und den Gartenrestaurants im übrigen Prater. Trotzdem kommen immer viele Leute aus der Stadt noch an den schneereichsten Tagen hierher, um etwa eine Schlittenfahrt zu machen oder auf den Teichen und dem Fluß Schlittschuh zu laufen; und einige kommen auch bestimmt, um uns zu sehen. Selbst wenn wir den Winter über nur wenige Zuschauer haben, sind wir hier noch immer besser dran, als wenn wir unterwegs sind. Außerdem bietet Wien eine Fülle von Ablenkungen für uns. Warum das nicht ausnutzen? Des weiteren gibt es hier alles, was wir noch brauchen, um unser Programm auszubauen. Carl, du kannst dir hier alle Chemikalien besorgen, die du brauchst, um die Saratoga aufsteigen zu lassen.« »Danke schön«, sagte Beck. »Dürfte ich dann auch -966-
Instrumente für die Kapelle anschaffen? Ich hätte gern noch Holzblasinstrumente, damit das Blech etwas gemildert wird. Außerdem Streicher für die gefühlvolleren Nummern wie etwa die von Fräulein Aal.« »Ja, kaufe, was du für nötig hältst. Vermutlich findest du bei Tante Dorothee die günstigsten Gelegenheiten.« »Aber dann brauchen wir noch mehr Racklos, Direktor«, ließ Dai Goesle sich vernehmen. »So geht das nicht: Mitspielen in der Kapelle, Hilfe beim Ballonaufstieg, die üblichen Routinearbeiten und dann noch Sonderaufgaben wie zum Beispiel den Käfig für unseren Wichtelmann. Banat und seine Böhmen legen sich wirklich mächtig ins Zeug, aber es sind zu wenige. Wenn jetzt noch die Rad-Wheelers kommen, die ja riesige Requisiten mitbringen ...« »Richtig, Zeltmeister. Sag Banat, er soll noch Leute anheuern. Wahrscheinlich kennt er hier in Wien ohnehin die Adresse des allerletzten Böhmen.« »Da wir gerade beim Gnom sind«, sagte Edge, »er hat mir gerade gesagt, wenn die Sondervorstellung für die Bettler stattfindet, hätte er bestimmt genug Katzen zusammen. Er würde seine Dressur gern bei dieser Gelegenheit vorstellen.« »Nein«, lehnte Florian mit Entschiedenheit ab. »Eine Hochzeit sollte ein frohes und fröhliches Ereignis sein. Sein Debüt kann er an einer Nachmittagsvorstellung an irgendeinem Wochentag geben; da sind die meisten Kinder in der Schule, und das Publikum besteht zum überwiegenden Teil aus Erwachsenen.« »Du willst die Kinder vor ihm schützen?« fragte Edge, der nicht recht wußte, was er davon halten sollte. »Mein Gott, er wird doch im Käfig drin sein. Aber wie du willst, Prinzipal.« Gerade in diesem Augenblick hielt Major Minim sich mit einer aus der Schar Katzen im Käfig auf. Abner Mullenax schaute mit einer Mischung aus Belustigung, Fassungslosigkeit -967-
und Skepsis dabei zu. Der Käfigwagen stellte eine perfekte Kopie von Maximus’ Wagen dar; sogar die Räder waren wie flammende Sonnen gearbeitet, nur war der Wagen auf Zwergenformat geschrumpft. Minim mühte sich damit ab, seiner Katze schwarze und gelbe Streifen anzumalen, damit sie aussähe wie ein Tiger. Die Katze drehte und wand sich und biß und kratzte und kreischte zum Gotterbarmen. Minim fluchte fast genauso laut und bekam fast genauso viel Farbe ab wie die Katze. »Kleiner Mann«, sagte Mullenax, »wenn du dir einbildest, du könntest eine Horde streunender Katzen abrichten, irgendwelche Kunststücke zu machen, bist du verrückt. Ich jedenfalls würde lieber beim wildesten Löwen aus dem Urwald Dompteur spielen.« »Dann tu das doch!« fauchte Minim. »Im übrigen täte ich das auch lieber, statt diese verfluchten Dinger einzeln anpinseln zu müssen. Ach, Scheiße! Ich bin ja schlimmer zerkratzt und zerbissen, als es mir je im Urwald passieren könnte! Dabei sollen sie doch nur ein bißchen gestreift aussehen; auf Begabung kann ich verzichten. Denn bei dieser Nummer bin ich der Stör!«
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3 Ein wenig sehnsüchtig sagte Autumn: »Wien ist der letzte Ort, Zachary, wo ich mich als Fremdenführerin aufspielen kann.« Sie standen auf dem windumtosten Nordturm des Stephansdoms. »Fürst Metternich hat einmal gesagt, östlich der Landstraße beginne bereits der Balkan. Und die Landstraße, die er meinte, das ist diejenige, die dort unten am Stadtpark entlangführt. Manche behaupten sogar, daß er gesagt habe: ›Dort beginnt Asien‹, doch wie dem auch sei, weiter östlich als Wien bin ich nie gekommen, und alles, was wir von nun an besuchen, wird auch für mich Neuland sein.« »Nun, du hast das bisher großartig gemacht und mir viel beigebracht«, sagte Edge. »Deshalb nur weiter so – spiel die Fremdenführerin und zeig mir, was du kennst.« Als sie um die ringförmige Aussichtsplattform des Turms herumgingen, zeigte sie ihm in der Ferne das Schloß Belvedere, die Klavierfabrik Bösendorfer und das alte Denkmal, das aus Dankbarkeit über das Ende der Großen Pest errichtet worden war, sowie eine Reihe großartiger Paläste, in deren Mitte die Hofburg lag, das Schloß des Kaisers selbst. Edge sagte: »Von einem berühmten Wiener Bauwerk haben sogar Hillbilly-Kavalleristen wie ich gehört. Kann man das von hier aus sehen? Die Spanische Hof-Reitschule?« »Die gehört zu den Bauten der Hofburg. Spanisch heißt sie nur deshalb, weil dort eine besondere, ursprünglich aus Spanien stammende Pferderasse gezüchtet und geritten wird. Siehst du, deine Fremdenführerin gibt schon wieder an. Tatsächlich bin ich nie drin gewesen. Diese Ehre ist auch nur wenigen Nichtadligen zuteil geworden. Tut mir leid, mein Lieber, aber geritten werden die Pferde nur von adligen Offizieren der Kaiserlichen Armee. Selbst die Zuschauergalerie ist Angehörigen des Herrscherhauses und des Adels vorbehalten – oder besonderen -969-
Gästen des Kaisers, die allerdings eine besondere Einladung dafür brauchen.« »Schade«, sagte Edge und machte ein enttäuschtes Gesicht. Dann jedoch hellte sich dieses wieder auf. »Aber wozu haben wir eigentlich unseren eigenen Circus-Adeligen?« Als er zusammen mit Autumn auf den Festplatz zurückkehrte, suchte er daher Willi Lothar auf und trug ihm sein Anliegen vor. »Nun«, sagte Willi, »Ihnen Eintritt für die Hof-Reitschule zu verschaffen, sollte leichter sein als das, was ich im Moment in die Wege zu leiten versuche – eine Galavorführung vor dem Kaiser. Ich werde sehen, was sich machen läßt.« »Fünf Eintrittskarten, wenn Sie können«, sagte Edge. »Für mich, für Autumn, Obie Yount, Clover Lee und Monday Simms.« An diesem Abend sollte die Sondervorstellung für das frischgetraute Bettlerehepaar stattfinden, und ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten Artisten erwarteten, erwies sich das Publikum als alles andere denn zerlumpt und abgerissen. Die Menschen, die – fröhlich, aber keineswegs lärmend und ungesittet – ins Chapiteau einzogen, waren gekleidet wie Bürgerliche beim Opernbesuch. Der Bräutigam zeichnete sich zwar dadurch aus, daß er ein Holzbein hatte, doch die Braut war heil und ganz und eher hübsch, wie im übrigen auch ihre Eltern, Brautführer und die Ehrenjungfrau. Überdies waren die wenigsten der nahezu zweihundert Gäste deformiert oder in irgendeiner Weise verkrüppelt. Lediglich ein paar Männer ohne Beine rollten auf kleinen Rollbrettern herein, und einige Aussätzige mußten von Kollegen getragen werden: doch auch sie trugen Festtagskleidung über dem, was von ihren Leibern noch geblieben war, und schienen das Fest genauso zu genießen wie ihre gesunden Kollegen. »Himmel«, sagte Fitzfarris, »ich hatte gedacht, heute abend kriegen wir mehr Krüppel zu sehen als im Prater Menschen sind, -970-
und ich hatte gehofft, den einen oder anderen für uns engagieren zu können, aber als Mitglied unserer Abnormitätenschau scheint sich kein einziger von ihnen zu eignen.« »Der Bräutigam hat, wenn ich das recht verstanden habe, sein Bein im letzten Krieg verloren«, sagte Florian, »und dafür den Bettlerstandplatz an der Albertina zugewiesen bekommen – von einer dankbaren Regierung anstelle einer Invalidenrente. Den meisten von denen, die einen festen Platz zum Betteln haben, ist dieser vermutlich aus ähnlichen Gründen zugewiesen worden; aber was du hier vor dir siehst, das sind schon deren Erben – ihre Kinder und Enkel –, die meisten von ihnen an Leib und Seele gesunde Berufsbettler. Die wenigen echten Krüppel, die du hier siehst, sind wie der Bräutigam vermutlich neu in dem Gewerbe.« Kapellmeister Beck und sein nunmehr auf volle Stärke gebrachtes Orchester spielten eine gefühlsbetonte Version des ›Hochzeitsmarsches‹ der diesmal kein Alarmzeichen war; die Gäste nahmen Platz und Beck leitete lautstark zu einer ausgelassenen Interpretation von ›Greensleeves‹ über. An diesem Abend war kaum ein Fünftel des Chapiteaus besetzt, doch da das Publikum selbst aus einer Art Berufsschauspieler bestand, applaudierte es sachkundig jeder Nummer genauso frenetisch, als ob das FLORILEGIUM vor ausverkauftem Haus spielte; wer noch über seine zwei Füße verfügte, trampelte so laut er konnte. In der Pause bat Florian wegen der Krüppel, die Mühe haben würden, das Chapiteau zu verlassen, alle sitzenzubleiben, und die Sideshow fand diesmal in der Manege statt, nach dem Großen Finale wurden die Zuschauer von Florian nochmals aufgefordert sitzenzubleiben, und herein kamen Sir John und Meli mit der Python, um ihr ›Lebendes Bild‹ zum erstenmal vor einem Publikum vorzuführen, das gut zur Hälfte aus Frauen bestand – Beschwerden gab es keine; die Damen pfiffen und kreischten genauso lustvoll schlüpfrig wie die Männer. -971-
Als nächstes trafen vom Sachers Garten dampfbeheizte und eisgekühlte Wagen ein. Eine Armee befrackter Kellner brachte lange Klapptische herein und stellte sie um die Piste herum auf, legte schneeweißes Tischleinen auf und stellte Stapel mit Porzellantellern und legte Berge von Silberbesteck zurecht. Dann verteilten sie wie zu einem Kalten Büfett die Tabletts und Platten, damit die Gäste sich selbst bedienten. Die Circusleute hielten sich selbstverständlich zunächst zurück, bis die Bettler ihre eigenen Teller sowie die ihrer Kollegen, die dazu allein nicht in der Lage waren, mit Köstlichkeiten vollgehäuft hatten – doch blieb noch reichlich zurück, so daß auch Artisten und Racklos sich gütlich daran tun konnten. Während die Austern geschlürft wurden, trugen die Kellner bereits große Terrinen heißer Schildkrötensuppe auf. »Meine Güte!« sagte Mullenax, als immer neue Gerichte aufgetragen wurden – Hummer a l’Armoricaine, Truite au bleu mit venezianischer Sauce – »wenn hier schon die Wiener Schnorrer so schlemmen, wie sieht das denn erst bei den gehobeneren Ständen aus?« »Ach, so etwas wie dies hier erlebt das Brautpaar oder vielmehr die Brauteltern vermutlich nur einmal im Leben«, sagte Jörg Pfeifer. »Für gewöhnlich reicht’s, wenn sie überhaupt was essen, höchstens für ein Schmauswaberl.« »Für den Abfallhaufen?« »Nun, nicht ganz. Schmauswaberl ist eine billige Kaschemme – eigentlich ein Lagerhaus –, das ursprünglich dazu diente, den hiesigen Studenten eine möglichst billige Mahlzeit zu reichen. Die ganze Speisenkarte besteht aus nichts weiter als dem, was von der kaiserlichen Küche aus der Hofburg übriggeblieben ist.« Doch jetzt und hier wurde eine Köstlichkeit nach der anderen aufgefahren. Nachdem alle – buchstäblich jeder einzelne von den Circusleuten und ihrem Publikum – sich satt gegessen hatten, watschelte einer der robusteren männlichen Bettler -972-
schwerfällig in die Mitte der Manege, rülpste, hob die Arme, gab das Zeichen zum Einsatz, und die Bettler begannen zu singen. Das Lied war offensichtlich ein Dankeschön an die Gastgeber, aber genauso offensichtlich eigens ausgesucht worden, um den Konföderierten Amerikanern zu gefallen. Oh, Susannah! Oh weine nicht um mich! Bum-Bum Beck scheuchte seine Musikanten aufs Orchesterpodium, damit sie ihre Instrumente ergriffen, und gleich darauf hörte man neben dem flotten Gesang auch noch die dröhnende Begleitung. Denn ich komm’ von Alabama, Bring mein Banjo nur für mich ... »Ein so hübsches Kompliment hat man uns noch nie gemacht«, sagte Florian, als die Bettler kamen – jedenfalls diejenigen, die kommen konnten und auch noch beide Hände hatten –, um jedem vom FLORILEGIUM die Hand zu schütteln und sich vollmundig für die Unterhaltung zu bedanken. »Wahrscheinlich«, meinte Florian hinterher, »ein Tribut und ein Beifall, wie wir ihn so aufrichtig und von Herzen kommend von den Mächtigen und Einflußreichen nicht zu hören bekommen werden.« In einem ebenso hellen wie luftigen Atelier mit hoher Decke und vielen Fenstern in der Marxergasse sagte Fitzfarris: »Ihre Bilder sind wirklich schön, Fräulein Blau. Ich bin zwar kein Experte, aber ich muß zugeben, daß Ihr kesser Vater recht hatte.« »Kesser Vater? Sie ist kein Mannweib, falls Sie das meinen. Bertha versucht nur, so ruppig, kratzbürstig und unweiblich zu sein wie ein Mann, damit man ihre Vorstellungen und Ansichten genauso ernst nimmt wie die eines Mannes.« »Nun, mit ihrer Ansicht über Ihre Arbeiten hat sie völlig recht. Ich wünschte, ich könnte eines dieser Bilder kaufen – nur, daß sie, naja, ein bißchen reichlich großformatig sind. Und ich -973-
lebe nun mal in einem winzigen Wohnwagen. Was bekommen Sie übrigens für ein Bild?« »Für das, das Sie gerade betrachten – Nachthimmel – einhundert Goldkronen.« Fitz schluckte und machte große Augen. »Das ist ja mehr als meine ganze Maringotte gekostet hat.« »Hier«, sagte sie freundlich, die veilchenblauen Augen samtweich. »Diese kleine Kreidezeichnung mit der einen lebensgroßen Nelke darauf. Ist die klein genug, daß sie in Ihren Wohnwagen hineinpaßt? Falls sie nicht zu teuer ist.« »Ein bezauberndes Bild, Fräulein Blau, aber ...« »Sagen Sie Tina zu mir.« »Uh, Tina ... die Zeichnung ... wie unteuer ist sie denn?« »Geben Sie mir dafür, was Sie mir geben wollen.« Ihr Lächeln war köstlich. »Egal, was.« »Egal was?« »Egal was.« Da der nächste Tag ein Schultag war, setzte sich das Publikum am Nachmittag, wie Florian vorausgesagt hatte, fast ausschließlich aus Erwachsenen zusammen. Die Rollschuhnummer der Wheelers stellte für einen Circus etwas einzigartiges dar, und selbst diejenigen Zuschauer, die das Paar bereits im Sportstadion des Praters gesehen hatten, wurden nicht müde, Beifall zu klatschen. Allein oder gleichzeitig absolvierten Cecil und Daphne jeden Sprung und jede Figur, wie sie beim echten Eiskunstlauf vorkommen. Sie machten Spagat, drehten im Hocken Pirouetten und bildeten den viergezackten Stern. Dann, einander zugewandt und die Hände verschränkt, lehnten sie sich aus der Hüfte zurück und wirbelten so atemberaubend schnell um und um, daß sie zu einem paillettenglitzernden tiefroten Farbklecks verschwammen. Danach hielt Cecil Daphne an einer Hand und einem Fußgelenk -974-
gepackt und wirbelte weiter um die eigene Achse so daß seine Partnerin sich vom Boden erhob und wie ein roter Vogel atemberaubend geschwind um ihn herumflog. Zuvor hatte Cecil dem Kapellmeister ein Notenblatt mit der Begleitmusik für ihre Nummer gegeben, und Beck hatte mit nicht gelindem Schrecken den Titel vorgelesen: »Oh, Emma! Whoa, Emma ...« »Bloß keine Panik, old boy. Der Text ist wirklich schlimm: ›Emma, du stürzst mich in ein Dilemma‹ –, aber den singen wir schließlich nicht. Die Musik ist laut und flott. Und laut muß sie nun mal sein, damit das Grollen unserer Holzräder auf dem Holzboden übertönt wird. Und da Ihre Leute so schönen Krach machen, sieht es für die Zuschauer so aus, als glitten wir geräuschlos dahin; das erhöht den ästhetischen Reiz, verstehen Sie?« Die Velozipednummer der Wheelers fand zu weniger vulgärer Musik statt, die mehr nach Becks Geschmack war, dem ›Ländlichen Tanz‹ aus Handels ›Feuerwerksmusik‹. Das Veloziped bedeutete für das Publikum keine solche Sensation, wie die Rollschuhe es gewesen waren. Gleichviel bis jetzt hatte jedenfalls kein Mensch gesehen, daß man es schneller fahren konnte als in gemessenem Tempo; das hatten selbst die Draufgängerischsten nicht gewagt, die auf Park- und Reitwegen damit großtaten. Was Cecil damit machte, war etwas grundsätzlich anderes. Er fuhr nicht einfach im Chapiteau im Kreis herum, sondern vollführte mit dem hohen und ungefügen Fortbewegungsmittel engste Kurven, ließ es nicht selten rückwärts rollen und manchmal auf seinem kleinen Hinterrad steigen wie ein Pferd – und das, während Daphne ihm auf den Schultern stand und künstlerische Posen einnahm, sich dann bückte und dort oben einen Handstand vorführte und selbst bei Cecils gewagtesten Manövern keinen Moment ins Wanken geriet. Als sie leichtfüßig zu Boden sprang und den Beifall -975-
entgegennahm, steckte ein Racklo eine Fackel in den Bottich, in dem auf dem Wasser eine dünne Ölschicht schwamm. Wie gehetzt strampelte Cecil ein paarmal rund um die Manege und wurde immer schneller, bis er schließlich auf einen Holzblock zusteuerte, den er zuvor im Boden verankert hatte. Das hohe, mit einem Eisenreif bewehrte Vorderrad des Velozipeds prallte mit voller Wucht gegen diesen Holzblock, daß es nur so krachte. Das Rad blieb stehen, und wie von einem Katapult geschleudert, flog Cecil über die Lenkstange hinweg und landete in dem dampfenden und flammenden Bottich. Als er hineinfiel, schossen die Flammen noch höher als zuvor, und er verschwand – denn er blieb für die kurze Zeit, die es brauchte, bis das Öl verbrannt war und das Feuer erlosch, unter Wasser. Inzwischen hatte Daphne sich des umgefallenen Velozipeds bemächtigt, so daß sie neben dem Bottich stand, als Cecil wieder auftauchte – und das Publikum geriet vor Begeisterung völlig außer Rand und Band. Edge als Sprechstallmeister pfiff nach Hanswurst, Kesperle und Emeraldina, die jetzt ihre Nummer an der wippenden Russischen Stange vorführten, solange die Böhmen dabei waren, die Requisiten der Wheelers hinauszuschaffen. Als der Rauch des verbrannten Öls sich verzogen hatte, bemerkte Edge, daß Florian am Eingang mit einem uniformierten Gendarmen zusammenstand, doch da sie sich freundschaftlich zu unterhalten schienen, nahm Edge an, die ›Behörde‹ habe den Wachtmeister dort postiert, damit er achtgebe, daß die Flammen im Bottich keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellten. Edge pfiff auf seiner Trillerpfeife’ um die nächste Nummer anzusagen – die Smodlakas mit ihren Hündchen –, doch der Gendarm verließ seinen Posten nicht. Nachdem der Schlußtrick der letzten Nummer – Barnacle Bill mit seinem Löwen, den Tigern, dem trompeteblasenden Bären und den brückemachenden Elefanten – und nachdem die Käfigwagen von den Racklos hinausgeschoben worden waren, -976-
spielte die Kapelle Gottschalks ›Großes Scherzo‹, und der Kleine Major Minim rollte glanzvoll in die Manege. Er trug wie immer seinen schmucken kleinen Frack sowie den angeklebten Schnurrbart, hatte sich jedoch außerdem eine Augenklappe zugelegt wie Mullenax. So angetan, saß er oben auf seinem Miniaturkäfigwagen, der von einem Zwergpferd hereingezogen wurde, und bearbeitete Rumpelstilzchen mit einer Spielzeugpeitsche. Der Käfigwagen schien in der Tat vollgestopft mit Katzen. Sie krallten sich an die Käfigstäbe, hatten das Maul weit aufgerissen und kreischten vermutlich, was jedoch bei der ohrenbetäubend lauten Musik und dem stürmischen Gelächter nicht zu hören war, mit dem er begrüßt wurde. Das Fell der Katzen war verklebt und rauh von der Farbe, mit der sie blaugelb gestreift angestrichen worden waren. Minim fuhr einmal ganz um die Manege herum, lenkte den Wagen dann durch die Pistentür und blieb in der Mitte der Manege stehen. Dort hüpfte er vom Wagen hinunter, verneigte sich mehrere Male nach allen Seiten, begab sich dann an die Tür an der Rückseite seines Käfigwagens und ließ die kleine Peitsche knallen, um die Katzen zu verscheuchen, die sich dort festgekrallt hatten. Die drei Reprisenclowns standen neben Edge und riefen in ihren jeweiligen Sprachen: »Pozor!« kam es von Spenz; »Oy gevalt!« von Notkin und »Porco dio« von Emeraldina, die Edge am Ärmel packte und sagte: »Will er da etwa rein? Signor direttore – das dürfen Sie auf keinen Fall zulassen!« »Er tut es auf eigenen Wunsch, Nella«, sagte Edge. »Und hat viel Mühe aufgewendet, um es zu tun. Warum sollte ich ihn jetzt davon abhalten? Florian sagte irgendwas von, im Mittelalter wäre sowas äußerst populär gewesen.« So drängend, daß sie ins Stottern geriet, sagte sie: »Im Mittelalter, si, da war die öffentliche Hinrichtung der beliebteste Zeitvertreib. Eine Hinrichtungsmethode bestand darin, den -977-
Missetäter in einen Sack voller Katzen zu stecken; die Katzen kämpften mit allen Mitteln darum, herauszukommen und – ohime! Zu spät! Jetzt ist er drin.« Das war Minim in der Tat, der die Tür mit lautem Knall hinter sich zuwarf. Etwas verschwommen sah man ihn die Katzen mit der Peitsche von den Gitterstäben herunterstoßen zum Käfigboden, damit er selber besser gesehen werden konnte. Als die Katzenschar sich um seine Füße duckte, riß er die Arme zum V-Zeichen in die Höhe, und die Musik hörte unvermittelt mitten im ›Siegesmarsch‹ auf. Dann schnellte plötzlich eine der ihn geduckt umschleichenden Katzen in die Höhe und schlug im Vorüberfliegen mit den ausgefahrenen Krallen nach Minims Gesicht. Mit einem einzigen Tatzenhieb riß sie ihm die Augenklappe herunter und brachte ihm eine rote Schramme quer über die Backe bei. Darüber lachte das Publikum, doch über dem allgemeinen Gelächter ließ sich eine Kinderstimme deutlich vernehmen: »Papa! Das ist der Junge, der mich nackt ausgezogen hat!« Aus dem Lachen wurde verwundertes Gemurmel. Unsicher stand Minim unter den kreischenden und fauchenden Straßenkatzen; seine Verkleidung war dahin, und sein Gesicht plötzlich so bleich, daß die Schramme darin lebhaft rot leuchtete. »Che cosa c’e?« sagte Nella. »Irgendein kleines Mädchen hier behauptet, er sei der Junge, der sie nackt ausgezogen habe? Soll das etwa heißen ...?« »Himmelherrgott noch mal!« fluchte Edge unterdrückt. »Der Scheißkerl hat es auch hier nicht lassen können!« Das Kind piepste immer noch ganz aufgeregt, und eine noch lautere Stimme – vermutlich die ihres Papas – war gleichfalls deutlich zu verstehen; dann redete das gesamte Publikum durcheinander, und im Käfiginneren explodierte Minim förmlich vor Wut. Als gelte es, damit seine kleine Anklägerin abzuwehren, schlug er verzweifelt und bösartig mit seiner -978-
Peitsche nach den Katzen. Aber nicht lange. Jetzt wurde er nicht mehr von einer Katze angesprungen, sondern von allen zugleich. Eine Zeitlang hielt Minim sich noch auf den Beinen; dabei war er in dem kochenden und zuckenden Gebrodel aus Gelb und Schwarz überhaupt nicht zu erkennen, und seine eigenen Schreie kamen nur erstickt hervor. Dann fiel der heftig wogende Katzenhaufen auf dem Käfigboden in sich zusammen, wo er jedoch gleichwohl fortfuhr zu pulsieren und zu kreischen und zu fauchen. Das Zwergpferd wieherte jämmerlich und keilte wie wild aus. Aus dem Gemurmel der Menge wurden lautes Geschrei, und viele schickten sich an, vom Gradin hinunterzudrängen und den Ort des Schreckens zu verlassen. Plötzlich ging das ganze Tohuwabohu unter in den dröhnenden Klängen des ›Hochzeitsmarsches‹. Der Gendarm stürzte hinein in die Manege und steckte seinen Schlagstock durch die Käfigstäbe, um – völlig unwirksam, freilich – auf den bebenden Fellhaufen einzudreschen. Mehrere Racklos kamen mit Stecken herzugelaufen, um das gleiche zu tun. Florian und Edge spannten blitzschnell Rumpelstilzchen aus, ehe das Zwergpferd mit Wagen durchgehen konnte. Ein Böhme sprang sogar mit einem Eimer Wasser herzu und schüttete ihn in den Käfig, doch nicht einmal das konnte die wie wahnsinnig fetzenden Katzen von ihrem grausigen Werk abhalten. Sie rissen und bissen weiter, und zum Gelb und Schwarz ihres Fells kam jetzt rotes Blut. Es dauerte in diesem Durcheinander eine ganze Weile, bis einer der Männer, die hilflos um den kleinen Wagen herumliefen, daran dachte, die Käfigtür zu entriegeln und aufzureißen. Mehr hatten die Katzen offenbar gar nicht gewollt; wie eine einzelne Woge sprangen sie schwarz und gelb und rot heraus und stoben wie der Blitz in alle Richtungen auseinander. Diejenigen Zuschauer, die bis jetzt noch nicht alles daran gesetzt hatten, ins Freie zu gelangen, taten das jetzt, als die blutbeschmierten Katzen unter sie fuhren. -979-
Die Männer beim Käfig sahen mit Entsetzen, was auf dem blutverschmierten Käfigboden zurückgeblieben war: Major Minims Spielzeugpeitsche, sein falscher Lippenbart und die Augenklappe, Fetzen seines Kostüms, nur wenige noch größer als die Augenklappe, sowie ein roher, zerfetzter, breiiger blauroter Fleischklumpen, der genausogut ein Batzen frisch gelieferten Katzenfutters hätte sein können – nur, daß er immer noch glänzende schwarze Lackschuhe anhatte. Als kein einziger Gaffer mehr im Chapiteau, die Kapelle verstummt und der größte Teil auch der Circusleute angeekelt fortgegangen war, sprachen Florian und der Wachtmeister sehr ernst miteinander. »Sie sind sich darüber im klaren, Bruder«, sagte der Gendarm, »daß ich einen Bericht machen muß über das, was hier vorgefallen ist.« »Selbstverständlich, Bruder«, sagte Florian ruhig. »Sie müssen den Zirkel Ihrer Pflichten schließen.« »Der Dahingeschiedene. War er vom Bau?« »Nein. Ein unbehauener Stein.« »Hat er Verwandte?« »Soviel ich weiß, nein. Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, wer er war. Sehen Sie hier, sein Konuitenbuch. Er hat viele Namen geführt – Minim, Wimper, Reindorf, und noch einen Namen in einer Schrift, die ich nicht lesen kann.« »Nun, wo er über so viele angenommene Namen verfügt, ist es möglich, daß er aus einem Gefängnis ausgebrochen ist. Und wenn das der Fall ist, Bruder, wird man behördlicherseits viele Fragen stellen. Aber die Kinder der Witwe müssen fest zueinander stehen. Und da Sie mich eigens zu dieser Vorstellung eingeladen haben und ich das unglückliche Ereignis mit eigenen Augen gesehen habe, kann ich – nach Richtscheit und Zirkel – den Unfalltod eines Unbekannten melden. Damit erübrigt sich eine Untersuchung.« -980-
»Dann ist die Nut verkeilt und der Keil vernutet. Ich danke Ihnen, Bruder.« »Leider bedeutet das aber auch, daß der Verstorbene so bestattet werden muß, wie es mit jenen unbekannten Selbstmördern geschieht, die man in der Donau treibend findet. Weder Priester noch Rabbi – welcher Religion der Tote auch immer angehangen haben mag –, ohne Aussegnung und ohne Sakrament, ohne Grabstein und auch ohne berufsmäßige Klageweiber – verscharrt auf dem Städtischen Totenanger der Namenlosen.« »Namenlos war er. Wir können nicht murren.« »Ich werde Leute aus dem Leichenschauhaus herschicken. Möchten Sie einen Sarg stiften, oder soll er zusammen mit den anderen namenlosen Leichen, die heute gestorben sind, in das Gemeinschaftsgrab geworfen werden.« »Hiermit stifte ich den Käfigwagen als Sarg. Die Leute des Leichenbeschauers brauchen ihn darin bloß fortzukarren.« »Sehr gut. Das Zeichen ist gesetzt, das Zeichen ist geschnitten«, sagte der Wachtmeister. »Wenn Sie gestatten, gehe ich jetzt und leite alles Notwendige in die Wege.« Auf englisch wiederholte Florian das Wesentliche für Edge und rief dann einige Böhmen herbei, die den Wagen samt Inhalt an eine Stelle hinter das Chapiteau rollen sollten, wo sein Anblick niemand mehr störte. Edge sagte: »Solches und Bumbum werden nicht besonders glücklich darüber sein. Sie haben eine Menge Arbeit in das Gefährt gesteckt.« »Sie wären aber noch weit unglücklicher, wenn wir alle angeklagt werden würden, einen Verbrecher bei uns aufgenommen zu haben. Glücklicherweise konnte ich den Beamten ablenken, als das Kind aufschrie. Die Kleine ist offenbar samt Vater davongelaufen wie alle anderen Gaffer auch; jetzt gibt es keinen Verbrecher mehr, den man anklagen -981-
könnte. Sage bitte den anderen, Zachary, daß ich alle – Artisten wie Racklos, versteht sich – zu einem Imbiß noch vor der Abendvorstellung einlade. Und zwar zu einem guten – im Cafe Heinrichshof. Damit wir den schlechten Geschmack im Mund loswerden.« »Um zu feiern, meinst du. Du kannst ziemlich kaltblütig sein, nicht wahr?« »Auf französisch klingt das wesentlich besser. Sang froid. Ich habe nichts weiter getan, als nicht einzugreifen und das Schicksal seinen Lauf nehmen zu lassen.« Nicht alle begleiteten Florian in den Heinrichshof. Autumn und Edge aßen wie üblich in ihrer Maringotte, und manch anderem hatte es den Appetit verschlagen. Noch andere hatten den Festplatz bereits verlassen. In einem billigen und schmuddeligen Beisel an der Rotenthurmstraße, saß Mullenax an einem Tisch und hatte eine dralle junge Frau auf dem Schoß. Mit der einen Hand war er unter ihrem Rock beschäftigt, und mit der anderen kippte er einen Schnaps nach dem anderen; das ihm verbliebene Auge rötete sich zusehends, und er brummelte Dinge in sich hinein, die sie nicht verstehen konnte. »Himmel, dabei waren das bloß einfache Hauskatzen – und sieh mal einer, was die angerichtet haben. Meine Raubkatzen sind verdammt viel größer im Verhältnis zu mir als die zu ihm. Sich auszumalen, was meine mit mir machen könnten! Und da fragen mich die Leute immer wieder: ›Abner, wieso betrinkst du dich vor jeder Vorstellung?‹ Grundgütiger Himmel!« »Ist ja schon gut, ist ja schon gut, Gigerl«, sagte die Frau begütigend und meinte: »Was du brauchst, ist eine Frau, ja?« Sie zeigte nach oben. »Und jetzt ist auch noch dieser gottverdammte Engländer mit seiner Flammenspringerei dazugekommen und stellt damit Maximus in den Schatten. Ich muß mir was einfallen lassen.« Die Frau wackelte mit ihrem mächtigen Hinterteil und sagte -982-
schmeichelnd: »Willst du bumsen?« Lasziv schürzte sie die fleischigen Lippen. »Soll ich dir einen blasen?« Sie versuchte, ihn zum Aufstehen zu bewegen. »Komm.« Tina Blau stützte den Kopf mit der zerzausten Haarpracht in die Hand, ließ die Bettdecke von den elfenbeinfarbenen Brüsten herabgleiten und fragte boshaft: »Lieben blaue Männer nur nachmittags?« Fitzfarris, der neben ihr lag, stellte die Gegenfrage: »Lieben Malerinnen nur Abnormitäten?« »Nur blaue. Wie schon mein Name sagt, sind wir füreinander bestimmt. Aber du könntest auch mal kommen, wenn das Tageslicht bereits geschwunden ist, damit ich nicht dauernd bei der Arbeit gestört werde.« »Tut mir leid, Tina. Ich habe nur zwischen den Vorstellungen Zeit, penn nach der Abendvorstellung habe ich ... Pflichten und Verpflichtungen, von denen ich mich nicht lösen kann.« Eine dieser ›Verpflichtungen‹ saß in diesem Augenblick unter Florians anderen Gästen im Heinrichshof zu Tisch und war die einzige, die den Mund nicht aufmachte, während alle anderen aufgeregt das sensationelle Finale der Nachmittagsvorstellung besprachen. Monday saß ein wenig abseits, sah aus wie eine kleine Sturmwolke und ließ gelegentlich eine Träne auf den Teller kullern. Als Artisten und Racklos sich auf dem Festplatz versammelten, nahm Banat, der standhaft als Wächter zurückgeblieben war, Florian beiseite, um zu berichten, »die Leute des Leichenbeschauers« wären bereits da gewesen und hätten Minims sterbliche Reste fortgebracht. »Sehr gut. Wir haben ja noch sein Pferd und seine Maringotte – die inzwischen vermutlich scheußlich nach Katzenpisse stinkt. Laß all seine Habe rauswerfen und verbrennen, Banat. Der Wagen sollte gründlichst gesäubert und in unseren Farben angestrichen werden. Später werde ich dann entscheiden, was -983-
damit geschieht.«
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4 Doktor von Monakow empfing Autumn und Edge mit einem aufmunternden kleinen Lächeln. Mit einer Handbewegung forderte er die beiden auf, sich auf den Sesseln vor seinem Schreibtisch niederzulassen, und sein Ausdruck veränderte sich auch nicht, als Autumn den Schleier vor ihrem Gesicht lüftete. Er fragte nur: »Haben Sie schon einen anderen Arzt konsultiert, gnädige Frau?« »Ja, zwei sogar. Der eine schien unsicher und verwies mich an Sie, Herr Doktor. Der andere stellte eine Diagnose von fieberhafter Wasweißich? und brachte mir bei, daß ich bald zu sterben hätte. Aber das war vor Monaten.« Von Monakow schüttelte den Kopf. »Sie werden nicht sterben, jedenfalls nicht jetzt, sondern vermutlich erst hochbetagt.« Edges Miene hellte sich merklich auf, Autumn hingegen blinkerte. Der Arzt fuhr fort: »Sagen sie, lange ehe dies Leiden sich bemerkbar machte, in Ihrer frühesten Jugend, hatten Sie da viele Sommersprossen? Hatten Sie viele kleine braune Flecken auf der Haut?« »Wieso ... ich weiß nicht ...«, sagte Autumn beträchtlich verwirrt. »Ich habe niemals besonders darauf geachtet ...« »Verzeihen Sie, Herr Doktor«, sagte Edge. »Dafür habe ich aufgepaßt Sie hatte immer nur wenige Sommersprossen, die allerdings – nun ja – an Stellen, wo sie nicht stören. Wo man sie kaum wahrnimmt.« »Nur in den Achselhöhlen, nicht wahr?« Edge und Autumn starrten ihn an, als wäre er Magpie Maggie Hag, die eine ihrer Prophezeiungen losließ, die einschlugen wie ein Donnerschlag. Er fuhr fort: »Ich bin kein Hexenmeister, sondern beschäftige mich nur mit den Symptomen, die mir eine Diagnose erlauben. Wären Sie in der Kindheit zu mir gekommen, Frau Edge, hätte ich Ihnen den -985-
Ausbruch dieses Leidens vorhersagen können – freilich, ohne es verhindern zu können und zwar allein aufgrund der ungewöhnlichen Verteilung der wenigen Sommersprossen.« »Das hört sich aber wie Hexerei an«, sagte Autumn tief beeindruckt. »Nein. Die Krankheit gehört nicht einmal zu meinem Spezialgebiet, der Myopathie oder primären Muskelleiden. Es handelt sich um eine ausgesprochen seltene Krankheit, und nur ein einziger junger Mediziner – Doktor von Recklinghausen in Berlin – hat sich eingehend damit befaßt. Aber ich lese seine Veröffentlichungen und seine anderen Artikel in medizinischen Zeitschriften. Vielleicht veröffentlicht er irgendwann einmal die frohe Kunde, die Krankheit heilen zu können. Oder zumindest wie man ihr vorbeugt. Oder, daß man ihr Fortschreiten blockieren kann.« »Die Heilung von was?« entfuhr es Edge. »Was ist es denn eigentlich?« »Im Moment hat sie noch nicht einmal einen Namen. Doch irgendwann wird sie der medizinischen Tradition entsprechend vermutlich einmal Recklinghausensche Krankheit genannt werden. Doch nach heutigem Wissensstand kann man nur sagen, daß es sich um ein unheilbares, offenbar angeborenes Nervenleiden handelt. Am häufigsten macht es sich bei Neugeborenen bemerkbar; aber es kann auch schlummern, bis das Opfer etwa in Ihrem Alter ist, Frau Edge. Die Nervenhüllen fangen an sich zu verdicken und setzen zunehmend tumoriges Fleisch- und Knochengewebe an ... Ach, ich will nicht zu technisch werden; jedenfalls ist es keine Krankheit mit unbedingt tödlichem Ausgang, Sie werden nicht sterben. Jedenfalls nicht an dieser Krankheit.« »Was aber wird mit mir geschehen?« Der Arzt nahm den Kneifer ab und rieb sich die Augen. »Leider wird sich weder die Schädel- noch die -986-
Gesichtsverformung wieder zurückbilden. Es werden schließlich sogar in anderen Teilen Ihres Körpers solche Verformungen vorkommen – an Armen und Beinen, dem Oberkörper, überall dort, wo sich anfällige Nerven befinden – und mit Nerven durchzogen ist nun mal der gesamte Organismus.« »Und man kann nichts dagegen machen?« fragte Edge in geradezu beschwörendem Ton. »Nur sehr wenig, wie ich leider sagen muß.« Der Arzt wandte sich wieder Autumn zu. »Tragen Sie weiterhin Kleidung, die Sie verhüllt. Und wenn das nicht mehr hilft, die Deformierungen zu verbergen – die Schwellungen und Entstellungen –, sollte man vielleicht daran denken, solche Teile chirurgisch zu entfernen jedenfalls die auffälligeren Verunstaltungen. Das würde jedoch nur vorübergehend helfen, verstehen Sie, und Sie müßten so etwas viele Male über sich ergehen lassen.« Autumn sagte unglücklich: »Der letzte Arzt, den ich konsultiert habe, hat mir zumindest einen gnädigen raschen Tod vorhergesagt. Mein Gott, und jetzt sagen Sie mir, daß ich noch einmal vierzig, fünfzig Jahre leben kann? In diesem Zustand, und schlimmer? Und wie ein Baum, der schief wächst, muß ich mich zurechtstutzen lassen? Und der arme Zachary soll dabei die ganze Zeit über ...« »Zum Teufel mit dem armen Zachary«, begehrte Edge mit fester Stimme auf. »Ich bin soeben reich geworden.« Er lehnte sich vor, legte ihr liebevoll die Hand aufs Knie und sah ihr ohne mit den Wimpern zu zucken in das schrecklich entstellte Gesicht. »Du lebst, Autumn, und du wirst weiterleben. Ich werde dich nicht verlieren. Wenn wir hier fertig sind, gehen wir geradenwegs ins Sacher und feiern die gute Nachricht so, daß Wien nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Ich werde sogar noch Walzer mit dir tanzen lernen.« Schweigend erwiderte sie seinen Blick. Ob ihre Miene bekümmert oder dankbar aussah, ließ sich nicht ohne weiteres -987-
entscheiden. Dann ließ sie den Schleier fallen, um das Gesicht wieder zu verbergen. »Wenn ich Sie jetzt vielleicht noch untersuchen dürfte, Frau Edge?« sagte der Arzt. »Um sicherzugehen, daß es keine erschwerenden Komplikationen gibt ...« »Bitte, Herr Doktor«, sagte sie verzagt. »Könnte ich ... könnten wir das auf einen späteren Tag vertagen? Ich habe ... Das, was Sie mir gesagt haben, muß ich erst einmal verdauen.« »Selbstverständlich, das verstehe ich. Lassen Sie sich von Fräulein Voss einen anderen Termin geben. Auf Wiedersehen.« Autumn war in dem Fiaker, der sie zum Prater zurückbrachte, recht schweigsam und ging lediglich durch Gemurmel auf Edges Versuche ein, unbefangene fröhliche Konversation zu machen: »Am besten lerne ich noch vor unserem großen Schwof Tanzen« – und optimistischen Vorschlägen: »Später könnten wir nach Berlin gehen und diesen Spezialisten dort aufsuchen.« Als sie auf dem Festplatz ausstiegen, wurden sie von mehreren Artisten und Racklos angerufen und an die rückwärtige Tür des Stallzelts gewunken. »Komm, ich helfe dir eben noch rein, dann gehe ich mal nachsehen, was sie wollen«, sagte er zu Autumn und küßte sie durch den Schleier hindurch. »Leg dich hin und ruhe dich aus. Ich komme gleich nach.« An dem Ende des Zeltes, das durch Flankierbäume in Boxen für die Pferde aufgeteilt war, drängte sich eine ganze Traube von Menschen. Florian, Hannibal und Yount knieten im Stroh und untersuchten ein ausgemergeltes Pferd, das auf der Seite lag und röchelnd atmete. »Es ist der alte Klepper, der die Maringotte der Clowns gezogen hat«, sagte Florian, als er aufstand und sich den Staub von den Knien klopfte. »Aber zunächst einmal: Was gibt es Neues bei Autumn?« -988-
»Wieder einrenken wird sich das alles leider nicht. Aber sie wird weiterleben, und das ist erst einmal das wichtigste.« Edge beugte den Kopf, um sich das Pferd anzusehen. »Dies arme Tier hingegen nicht, so leid es mir tut, das zu sagen.« »Was, meinstu, hat es, Mas’ Edge?« fragte Hannibal. »Na, hoffentlich keinen Rotz«, sagte Yount. »Denn dann würden wir alle Tiere verlieren, die wir haben. Und vielleicht auch noch den einen oder anderen von uns.« »Nein, sieh dir seine Zähne an – ich vermute, es geht einfach an Altersschwäche ein. Und das wird uns eines Tages allen so ergehen.« Florian sagte zu den Clowns: »Tut mir leid. Natürlich werden wir ein Ersatzpferd für euch anschaffen. Aber wo wir gerade dabei sind, Nella hättest du nicht Lust, eure Dreisamkeit aufzulösen? Wir haben gerade eine Maringotte frei.« »Grazie. Danke. Thank you«, sagte sie und errötete. »Aber ich bin bereits ausgezogen. In die Carovana von Signor LeVie.« »Ach so, entschuldige, ich wollte mich nicht einmischen. Und meine besten Wünsche für euch beide. Zachary, kannst du nichts tun, um dem Leiden des Pferdes ein Ende zu bereiten?« »Das beste wäre, ihm einen Gnadenschuß zu geben. Dann ist es rasch erlöst«, sagte Edge und stand auf. »Aber ich habe meine Waffen alle in der Maringotte. Ich laufe schnell hin, um eine zu holen.« Er schickte sich gerade an loszulaufen, als sie von dort einen einzelnen Schuß hörten. Einen Moment stand Edge wie erstarrt da, dann sagte er: »Großer Gott!« und wollte loslaufen, doch Florian vertrat ihm den Weg. »Das beste ist, ich gehe hin. Obie, Shadid, sorgt dafür, daß Zachary hierbleibt. Das ist ein Befehl!« Yount schlang seine großen Arme um Edge, und der Türke stellte sich daneben, während Florian loslief. -989-
»Verdammt, laß mich los!« fauchte Edge und wehrte sich wild. »Und das ist ein Befehl, Sergeant!« »Tut mir leid, Colonel«, sagte Obie, »aber wir sind nicht mehr bei der Army. Furchtbar, ich glaub’, du mußt mir helfen.« Edge rang und fluchte, und es bedurfte beider Kraftmenschen, ihn festzuhalten, und alle anderen sahen mit weit aufgerissenen Augen zu, während das alte Pferd auf dem Stroh still seinen letzten Schnaufer tat, was außer Hannibal niemand bemerkte. Als Florian die Maringotte erreichte, sah er, daß Magpie Maggie Hag bereits vor ihm da war und die Tür aufmachte. »Du hast es gewußt?« fragte er schwer atmend. »Das habe ich schon vor langer Zeit geschaut, aber du hast es ja nie glauben wollen. Und jetzt bleibst du draußen. Ich sehe nach, was man noch tun kann.« Sie blieb nur eine Minute drinnen, dann trat sie mit Edges altern einschüssigen Coockarabiner in der Hand wieder heraus, der leicht rauchte und nach verbranntem Schießpulver roch. »Diese Flinte kurz genug. Selbst kleines Mädchen wie sie konnte sich Mündung an Kopf halten und Abzug erreichen.« »Mein Gott! Zachary hat sie auch immer noch mit Schrot geladen aufbewahrt«, sagte Florian und nahm ihr die Waffe ab. »Es muß da drin ja scheußlich aussehen.« »Sie wollte, daß von ihrem Aussehen nichts übrig bleibt. Ich kümmere mich um sie. Du schick mir Racklo – Racklo mit Magen, der was verträgt, um Wände und alles zu säubern. Außerdem hat sie Zettel und versiegelten Umschlag zurückgelassen. Da!« Florian nahm beides in Empfang, machte aber keins von beiden auf. Den Karabiner steckte er unter die Treppenstufen der Maringotte, rief einen der Böhmen herbei, wies ihn an, Wasser, Scheuerbesen und Putzlumpen zu holen und kehrte dann ins Stallzelt zurück. Edges Widerstand hatte sich gelegt, -990-
doch sah er genauso wie die beiden anderen Männer ziemlich zerzaust aus. Yount und Shadid ließen ihn bei Florians Eintritt los; wortlos hielt dieser ihm Zettel und Umschlag hin. Mit einer ruckartigen kurzen Kopfbewegung gab er den anderen im Zelt zu verstehen, daß sie verschwinden sollten. Edge faltete den Zettel auseinander; offensichtlich war er mit fliegender Hand beschrieben worden, verriet aber keinerlei Zittern. Mit versteinertem Gesicht las Edge den Inhalt durch und sagte dann: »Es steht nichts allzu Persönliches drin, ihr könnt es also alle hören«, und las laut vor: »Liebster, Du hast mir alles bedeutet, und ich will Dir keine Last sein. Nein – das klingt nach heroischer Selbstlosigkeit, und das ist es nicht. Ein solches Leben wäre mir unerträglich. Vor noch nicht langer Zeit habe ich Dir gesagt, wohin wir uns jetzt auch wendeten, es wäre für mich genauso fremd und unbekannt wie für Dich. Ich bete darum, daß Du noch sehr, sehr lange brauchst, ehe Du hierherkommst. Aber ich werde auf Dich warten. Au revoir, mein Geliebter.« Edge hielt inne, räusperte sich und sagte: »Keine Unterschrift, nur die Umrisse eines kleinen Herzens.« Dann riß er den Umschlag auf, holte noch einen Bogen Papier hervor und las den Anfang dessen vor, was darin stand: »›Liebster, man hat mir eröffnet, ich müsse bald sterben ...‹ Das muß sie schon in München nach unserem Besuch bei dem dortigen Arzt geschrieben haben. ›Du aber hast noch das ganze Leben vor Dir, und ich möchte ...‹ Edge verstummte und las den Rest schweigend nur für sich selbst. Dann steckte er das Stück Papier in die Tasche und sagte mit belegter Stimme zu Florian: »Wenn ich jetzt gehen und sie mir ein letztesmal ansehen könnte ...« »Das solltest du nicht tun«, sagte Florian bestimmt. »Sie jedenfalls würde es nicht wollen. Maggie kümmert sich um sie. Bitte, Zachary, laß mich nicht noch einmal Leute bitten müssen, dich zu bändigen. Komm, steigen wir in meine Kutsche. Ich -991-
werde dich in ein gutes Hotel bringen und dann alles weitere veranlassen.« Edge nickte wie benommen und ließ sich zu der Kutsche führen. Als sie davonfuhren, rief Florian Fitzfarris zu: »Sir John, du und alle, die schreiben können, beschriftet die Stadtstreifen der Plakate, daß es bis auf weiteres keine Vorstellung mehr geben wird. Und Banat und seine Leute sollen sie überall im Prater ankleben.« Als Florian etliche Stunden später zurückkehrte, saß auf dem Sitz neben ihm ein anderer Mitfahrer – derselbe uniformierte Beamte, der geholfen hatte, sich der Leiche von Major Minim zu entledigen – und der Kutsche folgte ein Leichenwagen. Als die beiden Wagen sich Autumns und Edges Maringotte näherten, folgten ihnen die Circusleute, die unverhohlen weinten. Magpie Maggie Hag saß auf dem Tritt von Autumns Wohnwagen: »Jetzt schon dritter Racklo, der drinnen arbeitet«, berichtete sie. »Erst einer, dann zweiter sich übergeben. Mußte entschuldigen.« Florian fragte: »Ist sie ... sieht es drinnen jetzt so aus, daß man den Herrn bitten kann, sich die Unglücksstätte anzusehen?« Achselzuckend erhob die Zigeunerin sich und ließ den Wachtmeister eintreten. Dieser kam umgehend am ganzen Leibe zitternd wieder heraus und sagte auf deutsch zu Florian: »Ich habe ja sehr viel Mitgefühl für den Verlust, der Sie betroffen hat – und natürlich noch weit schmerzlicher Herrn Edge. Und selbstverständlich habe ich meinen Eid geschworen, jedem Bruder in meinem Wirkungsbereich hilfreich zur Seite zu stehen. Aber Verzeihung, wie oft werden Sie mich jetzt noch bitten, die Regeln meines Berufs zu brechen?« »Bruder, Sie brauchen nur zu beurkunden, daß es ein Unfall war; dann kann der Bestattungsunternehmer sich dessen annehmen, was von der Dame übriggeblieben ist. Und daß es -992-
ein Unfall war, sehen Sie ja mit eigenen Augen. Wie ich Ihnen sagte, war die junge Dame die Partnerin unseres Kunstschützen, und als sie in seiner Abwesenheit seine Waffen reinigte ...« »Die Partnerin eines Kunstschützen«, sagte der Wachtmeister trocken, »sollte es eigentlich besser wissen – einen geladenen Karabiner zu reinigen!« Trotzdem kritzelte er ein offiziell aussehendes Dokument voll und sagte: »Alles in Ordnung«, reichte das Papier dem Beerdigungsunternehmer, wechselte noch einige für Außenstehende schwer verständliche Bemerkungen mit Florian, um sich dann neuerlich zu verabschieden. Der Bestattungsunternehmer wies seine Leute an, einen außerordentlich reichverzierten Sarg abzuladen, doch dabei wurden sie unterbrochen. Jörg Pfeifer rief: »Nein! Nein! Nicht doch!« Verblüfft hielten alle inne, und Florian sagte: »Was ist denn, Fünffünf?« »Aber das ist ja nur ein ganz normaler bürgerlicher Sarg, Prinzipal!« »Ich habe den schönsten und teuersten ausgesucht, den ich im Sarglager finden konnte. Was mehr ...« »In einem gewöhnlichen Sarg läßt sich Fräulein Auburn nur so betten, daß ihre Füße nebeneinander liegen. Sie aber war eine begnadete Seiltänzerin. Ich lasse nicht zu, daß sie anders zur letzten Ruhe gebettet wird als so, daß die Zehen die Ferse berühren.« Ohne die Zustimmung des verblüfften Florian abzuwarten, wiederholte er seine Forderung auf deutsch an den Beerdigungsunternehmer. Dieser Herr geriet leicht ins Wanken. »Unerhört! Schändlich!« Florian schüttelte den Kopf. »Unerhört vielleicht, aber schändlich nein, das ist es nicht. Da stimme ich Herrn Pfeifer -993-
völlig zu. Sie werden uns einen Sarg liefern, der diesen besonderen Erfordernissen Rechnung trägt.« »Aber dann muß es eine Sonderanfertigung sein, Herr Florian«, protestierte der Beerdigungsunternehmer. »Und in meiner ganzen Berufslaufbahn ...« »Dann ist es eben das erstemal.« Der Beerdigungsunternehmer hörte mit seinen Einwendungen auf; seine Leute holten Autumns von einem Tuch verdeckten sterblichen Überreste heraus, legten sie auf eine Bahre und betteten diese vorsichtig in den provisorischen Sarg, hoben ihn auf den Leichenwagen und fuhren davon. Da niemand, nicht einmal Edge, wußte, welcher Religion Autumn falls überhaupt – angehört hatte, gab es keine kirchliche Aussegnung. Die Circustruppe versammelte sich auf dem Wiener Zentralfriedhof und gedachte der Verstorbenen am offenen Grabe. Trotz des frostigblauen Herbsttages trugen sämtliche Artisten ihr Manegenkostüm – Leotards, Trikots, Pailletten, Leopardenfell, Clownskostüm – und bibberten und klapperten lieber mit den Zähnen, statt sich unter wärmenden Mänteln zu verbergen. Zuerst war Edge beim Anblick von Autumns Sarg bestürzt, denn dieser hatte viel Ähnlichkeit mit einer Mumienhülle aus dem Museum. Als ihm jedoch der Grund erklärt wurde, dankte er Jörg Pfeifer sehr herzlich dafür, daran gedacht zu haben. Dai Goesle übernahm wieder die Ansprache, die er kurz und schlicht hielt und in deren Verlauf er nur einmal ein blumiges Bild verwandte: »Wir gewöhnlichen Sterblichen bleiben auf der Erde und gehen. Diese junge Frau jedoch ist in die Luft gegangen und hat getanzt. Jetzt tanzt sie irgendwo in noch luftigerer Höhe, vielleicht auf einer Wolke, und alle Engel klatschen Beifall ...« Am Schluß war es dann nicht Florian, sondern Edge, der den alten Grabspruch vorbrachte: »Saltavit. Placuit« – doch dabei beließ er es; das letzte Wort blieb ungesagt; so weigerte er sich, -994-
laut auszusprechen, daß sie tot war. Als das FLORILEGIUM am nächsten Nachmittag wieder spielte, übernahm auch Edge wieder seine verschiedenen Rollen als Sprechstallmeister, Colonel Ramrod und Buckskin Billy. Er war vielleicht weniger schwungvoll war als sonst, doch daß er weniger gekonnt auftrat als zuvor, konnte niemand behaupten. Wirkte er auch manchmal wie abwesend, so entging ihm doch nicht die kleinste Kleinigkeit: So rief er zu Bumbum Beck zum Musikpodium hinauf: »Was für eine Musik hast du denn da für die Parade gespielt? Und warum hat niemand gesungen? Warum machen wir die Parade nicht zu ›Greensleeves‹ wie sonst immer?« »Verzeihung, Herr Sprechstallmeister. Aber ich dachte, da dies die Lieblingsmelodie deiner Freundin war, müßte sie jetzt schmerzliche Erinnerungen wecken, und da sollten wir auf sie verzichten.« »Unsinn, Sir! Wir haben Autumn zwar begraben, aber die Erinnerung an sie werden wir nicht auslöschen. Du nimmst das Stück wieder ins Repertoire auf, und dabei bleibt es!« Dann kam die Zeit für Mondays Drahtseilakt und er gab mit der Trillerpfeife das Zeichen zum Auftritt. Doch weder Monday erschien noch spielte die Kapelle die ›Aschenbrödel‹-Musik – sie spielte überhaupt nicht. Das einzige, was man vernahm, war ein plötzliches leises Zischen, als Goesle seinen Karbidscheinwerfer anzündete – dabei war es erst später Nachmittag, und das Chapiteau war durch das Außenlicht noch ausreichend beleuchtet. Verwirrt wollte Edge schon wieder die Trillerpfeife ansetzen, da blickte er gerade noch rechtzeitig hinauf zu der Stelle, auf die der Scheinwerferstrahl gerichtet war. Er fiel genau auf den Abgangssteg für die Seiltänzer hoch oben, der allerdings jetzt, wie Edge im grellen Licht erkennen konnte, von einem riesigen Strauß Herbstastern eingenommen -995-
wurde, der von einer schwarzen Trauerbinde mit riesiger Schleife zusammengehalten wurde. Unversehens setzte die Kapelle zu einer getragenen Melodie an derselben, die Beck früher bei Autumns Nummer immer gespielt hatte –, Arpeggios, gespielt von der schlichten Teufelsgeige. Solange das sanfte Geklingel andauerte, wanderte Goesles Spotlight langsam die ganze Länge des leeren Drahtseils entlang und folgte den Posen und luftigen Sprüngen einer nur noch in der Phantasie existierenden, gelbgewandeten Fee. Zwar hatten nur wenige der Zuschauer Autumn auf dem Seil bewundern können, doch die meisten hatten von ihrem Ableben gehört und brachen in einen ähnlich begeisterten Applaus aus, als ob Autumn wirklich dort oben ihre Kunst vorgeführt hätte – und erhoben sich dabei respektvoll von ihren Sitzen. Als das Scheinwerferlicht erlosch, der Beifall weniger wurde und das letzte Arpeggio ausklang, gab es erst eine Pause. Dann spielte die Kapelle, um die Vorstellung in heitererer Stimmung ausklingen zu lassen, zur Clownsnummer auf, und Fünffünf, das Kesperle und Ali Baba kamen in die Manege gewirbelt, um ihr Spiegelentree vorzuführen. Doch Edge sah sie nicht; sein Blick hatte sich verschleiert. Er entschwand durch den Ausgang hinten, um allein zu sein. Dann fragte er sich, warum. Von jetzt an, so dachte er, würde er selbst im Gewühl einer großen Menschenmenge immer allein sein.
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5 Im Lauf des Winters trennte Edge sich von allen Besitztümern, die Autumn zurückgelassen hatte. Clover Lee bekam den Kanarienvogel samt dem gestimmten Käfig und Sunday Simms schenkte er die Spieldose mit der ›Greensleeves‹-Melodie. Monday Simms-Fitzfarris hingegen erhielt das gerahmte und eigenhändig von der großen Artistin unterschriebene Bild der Mme. Saqui – »Sie hat zwar vor deiner Zeit gelebt, Monday, aber auch sie war eine große Seiltänzerin, und zwar eine berühmte«. Autumns Garderobe und Schmuck wurde unter allen Frauen der Familie aufgeteilt. Edge lebte fürderhin allein im Wohnwagen und lehnte sowohl allfällige Liebesdienste ab, die ihm von Damen aus dem Publikum angetragen wurden, als auch Mullenax’ häufig wiederholte Aufforderung, in der Stadt »die Puppen tanzen zu lassen«. Eines Tages kamen die Smodlaka-Kinder bei ihrer Mutter angetanzt, und der Junge sagte neckend: »Mati, kannst du den Mund aufmachen, ohne die Zähne zu zeigen?« »Ne znam«, sagte Gavrila, die mit irgendeiner Näherei beschäftigt war, beiläufig. »Warum fragst du?« »Ein Mann hat uns das gefragt.« Gavrila ließ die Näherei sinken und sah Velja besorgt an. »Und, Mati, ich kann’s. Genauso wie Sava auch. Siehst du?« Der kleine Junge schürzte ringförmig die bleichen Lippen. »Und da«, kam es jetzt zwitschernd von seiner Schwester, »hat der Mann gesagt: ›Genau die richtige Größe‹, lachte und schenkte uns jedem einen Gulden.« »Velja, hör auf, den Mund vorzustülpen und das Gesicht so zu verziehen!« fuhr Gavrila ihren Sohn an. »Wer immer euch das hat machen lassen, war unartig. Zweifellos der verstorbene Major Minim ...« »Nein, Mati, der ist ja lange tot. Es war gerade vorhin ...« -997-
»Dann sagt mir nicht, wer es war! Ich will es nicht wissen. Ich möchte nur, daß ihr euch von diesem schlechten Menschen fernhaltet. Das bitte ich mir aus!« »Aber Gospodin Florian hat gesagt, wir könnten mit allen spielen, bloß nicht mit Major Minim«, begehrte Velja auf, als er sich – wie er meinte, zu unrecht, zurechtgewiesen – untröstlich mit seiner Schwester trollte. Tina Blau, die Malerin, kam eine ganze Woche lang in den Pausen zwischen den beiden Vorstellungen des Tages aus ihrem Atelier auf den Festplatz, und bannte Meli und ihre Python auf eine Leinwand, die, wie sie sagte, den Titel Andromeda bekommen sollte. Fitzfarris gegenüber, der dabei immer um sie und ihre Staffelei herumschlich, beschwerte sich die Künstlerin: »Ich schaffe es einfach nicht, Meli zum Lachen zu bringen!« »Sie scheint überhaupt nicht mehr zu lachen«, bestätigte Fitz. »Warum, begreife ich nicht. Früher hat sie viel gelacht. Aber was soll’s, Tina – was dein Bild betrifft: wie soll eine Frau denn lächeln, wenn sie von einem Drachen genöckt wird?« »Ach, ich könnte mir das vorstellen«, sagte Tina, Mutwillen in den veilchenblauen Augen. »Lächle ich nicht auch, wenn ich von einem Tätowierten Mann genäckt werde?« Dieses und anderes frivole Geplänkel bekam Monday mit, die die beiden ungesehen belauerte und hinter Wagenecken, Zeltplanen und anderen Dingen verborgen, glühende Blicke auf sie abschoß. Aus der Glut hätten helle Flammen werden können, würde ihre Schwester ihr nicht zur Vorsicht geraten haben. »Tu nichts Gemeines«, sagte Sunday. »Dann wirkt sie – oder jede andere Frau – im Vergleich zu dir nur netter und um so begehrenswerter. Irgendwann werden wir Wien verlassen, die Frau aber bleibt hier. Es wird nicht mehr lange dauern, und du wirst John Fitz wieder ganz für dich allein haben.« Verstockt sagte Monday: »Und dann, was? Du hast deinen Mr. Zack im Moment ganz für dich allein – und was hast du -998-
davon?« »Nun ... er trauert und versucht zu vergessen.« Geradezu bösartig schnaubte Monday: »Oben im Kopf mag ein Mann die Erinnerung an eine Frau ja bewahren, aber unten hat er einen Sporn der sie wahrhaftig schnell vergißt. Ich sollte das wissen.« »Warum zuckst du zurück, wenn ich dir die Hose aufknöpfe, Bürschlein?« fragte der Mann. Sie lagen auf einem aus Segeltuchresten hergerichteten Lager im Zeltwagen, der am äußersten Rand des Festplatzes abgestellt war. »Schau, ich knöpf meine auch auf. Ich entblöße ja nur unser beider Schwengel, damit wir sie miteinander vergleichen und gegenseitig bewundern können. Und jetzt machst du Augen, als hättest du noch nie den Knüppel eines anderen Mannes gesehen – dabei hast du selbst einen.« »Nicht groß. Nicht rot.« »Das liegt nur daran, daß du von einer ganz einzigartigen Hautfarbe bist, mein Junge. Aber daß wir von unterschiedlicher Hautfarbe sind, besagt noch lange nicht, daß sich unsere Riemen unterschiedlich verhalten. Deiner wächst in meiner Hand. Und schau – auch meiner wächst –, obwohl du ihn noch nicht angefaßt hast. In unseren Reaktionen sind wir ganz gleich; weshalb also Hemmungen haben? Da ... fühlt sich das nicht gut an?« Verschämt, nickend, kam es: »Umhm.« »Dann komm, mach dasselbe auch mit meinem. So ist’s richtig. Ahh, ja, fühlt sich das gut an! Du kannst dankbar sein, daß ich dir etwas so Nützliches beibringe. Du kannst das auch allein machen, und ich bin sicher, das wirst du von jetzt an auch tun. Aber ich bin entzückt, der erste zu sein, eine Frucht von so ungewöhnlicher Farbe zu pflücken. Jetzt mach es nur genauso wie ich! Fester! Und schneller! Ja ... ja ...« Nach einiger Zeit: »War das nicht himmlisch?« -999-
»Umhm!« »Bis zum nächstenmal kannst du das Neuerlernte bei dir selbst ausprobieren und genießen. Oder mit einem anderen Burschen. Oder ... aber ach, nein, das hoffe ich nicht! Ich kann dich nur aufrichtig davor warnen, deine Kraft an eine Frau zu verschwenden – nicht mal an eine, die dir so nahe steht wie deine Schwester. Warum, erkläre ich dir ein andermal. Jetzt geh! Und nicht vergessen – zu keinem Menschen ein Wort davon!« An einem Mittwoch, dem Zahltag für die Racklos, ging Edge wie gewöhnlich in den Roten Wagen, um Florian zu helfen, die Namen auf der Lohnliste abzuhaken und das Bargeld abzuzählen. Als die Männer der Reihe nach durch den Kontorwagen kamen, die Mütze abnahmen, ihren Lohn in Empfang nahmen, respektvoll Dankesworte murmelten oder an ihrer tief herabhängenden Stirnlocke zupften, meinte Edge leise: »Jedesmal stehen neue Namen auf der Liste, und sehe ich Gesichter, die ich nicht kenne. Wer, zum Beispiel, sind Herman Begega und Bill Jensen? Das hört sich doch nun wirklich nicht nach böhmischen Namen an.« »Nein«, sagte Florian. »Ein Spanier und ein Schwede. Der eine arbeitet als Zimmermann bei Stitches, und der andere spielt bei Bumbum die Baßtuba. Die kommen aber heute noch nicht, sich ihr Geld abzuholen; sie sind beide noch auf Rückhaltelohn.« »Und wo schlafen all diese neuen Helfer?« »Ich habe Banat gesagt, er könnte Major Minims Maringotte haben, um die unterzubringen, für die woanders kein Platz mehr ist. Unser FLORILEGIUM ist ganz schön groß geworden. Ich wünschte, wir könnten unsere Artisten genauso rasch ergänzen wie die Racklos. Wenn wir in Budapest sind, lasse ich eine Anzeige in die Era einrücken, daß engagementslose Artisten sich bei uns melden.« Im Zeltwagen lag der Junge löffelförmig an den Rücken des -1000-
Mannes geschmiegt, rammelte aber konvulsivisch. Beim letzten Zustoßen stöhnte er hingerissen auf und bebte am ganzen Leib. Dann entrang sich ihm noch ein zitternder Seufzer, und er wollte sich zurückziehen, doch der Mann griff um sich herum und hielt ihn fest. »Bleib noch eine Weile so, Bürschlein. Ich genieße es, wenn er in mir schrumpft. Und während du dich ausruhst, laß dir von mir noch was mit auf den Weg geben. Manche werden dir weismachen wollen, Frauen wären besser dafür ausgestattet, einem Mann diese Lust zu bereiten. Glaub ihnen nicht. Frauen haben da unten nur große, schlaffe und schlüpfrige Lippen an dem Zugang zu einer weichen, feuchten und wenig einladenden Höhle. Jedenfalls sind sie nicht von der warmen, zupackenden Festigkeit, die du eben so genossen hast. Und was die Frauen sonst betrifft – was sind sie schon? Nichts weiter als Busenblubber, aus dem Menschenfresserinnenmilch rauskommt. Hörst du mir überhaupt zu?« Verschlafen kam es: »Umhmh.« »Wenn du dich richtig erholt hast ... nun, sich abzuwechseln, ist nur fair. Dreh dich rum, mein Junge. Und bleib ganz entspannt ... sperr’ dich nicht ...« Clover Lee und Sunday saßen in Griensteidl’s Cafe – sie waren hier fast schon Stammgäste geworden –, tranken Kaffee, aßen Torte und studierten die Neue Freie Presse, die Sunday auf der Seite mit den ›Persönlichen Nachrichten‹ aufgeschlagen hatte. »Na, was Interessantes dabei, heute?« fragte Clover Lee. »Nun, hier ist eine, da steht was von ›künstlerisch‹ ...« Sunday las sie genau durch und übersetzte dann laut: »Ich möchte, daß das bezaubernde Fräulein D. M., die in meinem Büro einst ihre künstlerische Aktentasche vorgeführt hat, weiß: Ich verehre sie aufrichtig und werde sie nie vergessen?« »Na, so was?« sagte Clover Lee. »Ich nehme an, die -1001-
Aktentasche einer Frau – damit ist ja wohl was ... nun, Intimes gemeint, oder?« »Keine Ahnung. Leider habe ich mein Wörterbuch nicht dabei.« »Immerhin, du weißt ja, daß die Anfangsbuchstaben meines Namens C. L. C. sind. Wenn du die nirgends findest, sieh mal nach, ob sich sonst was findet, das für mich in Frage käme. Möglichst was mit einer Adelskrone.« »Hm. ›Ich möchte, daß das bezaubernde Fräulein‹ – offenbar muß man unbedingt bezaubernd sein – ›das bei sanftem Schneefall die Stadt mit mir durchstreifte ...‹?« »Das war ich nicht. Verdammt noch mal. Vielleicht muß ich selbst eine Anzeige aufgeben. ›Ich möchte, daß der bezaubernde und reiche Graf ...?‹« »Diesmal«, sagte der Mann, »werde ich dir beibringen, wie man eine Zigarre raucht.« »Noch zu jung, um zu rauchen«, murmelte der Junge. »O wir werden sie ja nicht richtig anstecken.« Der Mann amüsierte sich höchlichst. »Meine Güte – hnoofhnoof – das ginge nun wirklich nicht. Nein, du wirst nur lernen, sie in den Mund zu nehmen und richtig daran zu ziehen. Aber zuerst mache ich es dir an deinem eigenen wißbegierigen kleinen Lustbolzen vor. Paß auf, zunächst mal leckt man so eine Zigarre von oben bis unten ab ...« Nach einiger Zeit, etlichen Verrenkungen und so manchen erstickten Ausrufen von beiden, sagte Cecil: »Das hast du gut gelernt, Bürschlein, und gut gemacht. Jetzt schluck ihn, so wie ich’s vorhin auch gemacht hab’. Und siehst du, das ist noch ein Grund, warum ein männliches Wesen irgendeiner fremden Frau vorzuziehen ist. Der Mann hat ja nur eine begrenzte Menge von diesem kostbaren Saft, die er in seinem Leben zu spenden hat. Wenn diese Rammelei dir nun Spaß machen und du sie auch weiterhin genießen möchtest, wirst du ja nicht verschwenden -1002-
wollen, was sie ermöglicht, nicht wahr?« »Nein«, sagte der Junge regelrecht verängstigt. »Na, siehst du? Frauen nehmen einfach deine guten Säfte in sich auf und geben dir von sich aus gar nichts. Wohingegen du und ich, wir beide uns ja gegenseitig in uns aufnehmen können – dabei unser beider Vorrat wieder ergänzen und niemals Gefahr laufen oder Angst zu haben brauchen, daß irgendwann mal nichts mehr kommt.« Am Sonntag gingen etliche von der Circustruppe – zusammen mit wohl der Hälfte der Einwohner der ganzen Stadt – in den Stephansdom, um die berühmten Wiener Sängerknaben singen zu hören. Hinterher sagte Florian zu Willi Lothar: »Naja, der Chorleiter Bruckner, der ist ja in der Hofburg auch gleichzeitig Organist des Kaisers. Kommen wir denn wirklich nicht näher an diese Hofburg heran?« »Herr Direktor, Sie wissen, daß ich noch den letzten meiner Verwandten und Bekannten aus dem Dunstkreis des Hofes dauernd in den Ohren liege. Allerdings, einen Vorschlag hätte ich schon zu machen. Ich glaube, es würde unserer Sache dienlich sein, wenn wir uns bereiterklärten, an irgendeiner Wohltätigkeitsveranstaltung teilzunehmen.« »Warum nicht? Woran hatten Sie gedacht?« »Ach, da gibt es den Ball der Beisl-Wirte, das Gschnastfest der Künstler, den Straßenkehrerball und noch viele andere. Besonders habe ich jedoch an die Gala in der Brünfelder Irrenanstalt gedacht.« »In der Irrenanstalt?« rief Edge aus, als Florian ihm dies mitteilte. »Willi hat dauernd von einer Galavorstellung vor dem Kaiser geredet – und was ist? Erst Bettler und jetzt Idioten? Mein lieber Prinzipal, fällt dir eigentlich nicht auf, daß es langsam bergab mit uns geht?« »Hier handelt es sich um eine der geheiligtsten Wiener Traditionen«, erklärte Florian. »Am Karnevalsdienstag gibt es -1003-
jedes Jahr eine Galavorstellung in der Irrenanstalt. Die – hm – leichteren Fälle dürfen sogar mitmachen, in selbstgenähten Kostümen. Natürlich geht es dabei nicht so sehr um ihre Kurzweil als um die der Zuschauer – Angehörige des Herrscherhauses, Adlige und andere hochstehende Persönlichkeiten, die sich darüber amüsieren, wie die Irren ihre Possen treiben. Da schadet es unseren Plänen bestimmt nicht, wenn diese Leute uns unsere Possen treiben sehen.« »Schön, wenn du meinst, das ist in Ordnung, sind wir anderen wohl auch damit einverstanden. Heißt das, hier abzubauen und auf dem Gelände der Anstalt das Chapiteau neu aufzubauen?« »Nein, nein. Zwischen den Anstaltsgebäuden und dem Hospital gibt es eine weiträumige Halle. Wir setzen hier nur für den einen Tag mit den Vorstellungen aus, ziehen in die Irrenanstalt um und spielen dort, so gut es unter den gegebenen Umständen geht. Wir nehmen nur die Piste mit und die nicht zu aufwendigen Requisiten. Dabeisein werden die Artisten, Brutus, Maximus, das Zwergpferd. Mehr nicht. Wir wollen ja nicht riskieren, die Insassen mit der Dampforgel oder den gewagteren Nummern in Angst und Schrecken zu versetzen.« Doch vor dieser Sondervorstellung am Karnevalsdienstag geschahen noch andere Dinge. »O nein, Bürschlein, jetzt schummelst du«, sagte Cecil, freilich durchaus gutmütig, als er beim Dunkelwerden den Zeltwagen betrat. »Du hast nicht auf mich gewartet. Aber wie ich dich um deine Fähigkeit beneide – einfach zusammenzuklappen und deine eigene kleine schwarze Zigarre zu rauchen. Nein, nein, bleib nur, wie du bist. Ich kann warten; dir zuzusehen, ist wahnsinnig anregend.« Als Quincy fertig war, schluckte und nach Atem rang, murmelte er: »Mit Ihn’ mach ich’s aber doch lieber.« »Wunderbar! Aber nutzen wir deine Gelenkigkeit. Sieh mal zu, ob du das hier schaffst. Steck ihn rein wie immer, nur -1004-
andersherum. Dann krümm dich, damit dein Kopf ... hier ist! Und jetzt bring mal meine Zigarre tüchtig zum Glühen, während deine sich da hinten vergnügt. Schaffst du das?« Nach nur wenigen Verrenkungen brachte der Junge diese extreme Rückenkrümmung zuwege und fing begeistert an, sich in und an dem Mann zu schaffen zu machen, der girrte und gurrte: »Ah, so ist’s recht. O ja, wunderbar ist das!« Plötzlich ging die Wagentür auf, und vor dem fahlen Außenlicht zeichneten sich die dunklen Umrisse eines Menschen ab. »Verflixt!« entfuhr es Cecil, und er versuchte, Quincy von sich zu schieben, der von der Unterbrechung nichts gemerkt hatte und immer noch tüchtig bei der Sache war. »Hier also versteckst du dich«, sagte der Eindringling nicht wenig verwundert. »Daphne!« ließ sich Cecil entsetzt vernehmen. »Wir stehen doch alle bereit, die Irrenanstalt aufzusuchen, und ...« Inzwischen konnte sie die beiden nackten Leiber im Wageninneren erkennen und begriff, wobei sie sie ertappt hatte. Mit hohlklingender Stimme sagte sie: »Ach du lieber Gott ...« »Laß mich, Bursche, hau ab!« Mit einem Ruck befreite Cecil sich so unvermittelt von Quincy, daß die Trennung zwei deutlich zu unterscheidende Laute machte, so als ob zwei Flaschen kurz nach einander entkorkt würden. Quincy sagte völlig verdattert und nicht wenig enttäuscht: »Hoy!« Cecil jedoch fuhr hastig in seine Kleider, während Daphne machte, daß sie zur Tür hinauskam. »Die Zuschauer in den Logen, die mit soviel buntem Tuch herausgeputzt sind, das sind die Adligen und Notabein«, sagte Florian. »Die auf den gewöhnlichen Sitzen die Irren.« -1005-
Das war nicht nur spaßig gemeint, denn wesentlichere Unterschiede zwischen den Anstaltsinsassen und den Gästen gab es nicht, höchstens, daß die von ersteren getragenen Kostüme wenig zufälliger zusammengestückelt wirkten und aus weniger kostbaren Stoffen bestanden; wesentlich ausgefallener und verrückter jedoch waren sie nicht. In beiden Publikumsabteilungen gab es eine ganze Reihe von durchaus als solche zu erkennende Napoleons und Pallas Athenes, geflügelte Engel, hörnerbewehrte Dämonen, mehrere, die offenbar Gottvater und Jesus, die Heiligen Brigitte und Anna sowie alle möglichen Phantasieungeheuer darstellen sollten. Florian hatte gesagt, bei den Geistesgestörten, die die Anstaltsgebäude verlassen dürften, um an dem Fest teilzunehmen, handele es sich um die weniger schweren Fälle. Gleichwohl entdeckte man eine Vielzahl uniformierter Wärter und weißgewandeter Krankenschwestern, die unauffällig überall postiert waren. Der Circus absolvierte sein Programm diesmal ohne bestimmte Tricks und bestimmte Nummern – zum Beispiel die Pferdedressur, denn dafür wäre es zu eng oder zu laut gewesen; noch andere wurden aufgrund der taktvollen Vorschläge des Chefarztes gestrichen. So marschierte Spyros Vasilakis zwar bei der Parade mit, drückte aber für den Rest der Vorstellung einen der für die Artisten reservierten Plätze. Denn der Anblick des Gierigen Griechen, wie er Schwerter schlucke und Feuer speie, sagten die Ärzte, könnte ihre Patienten auf unheilsame Gedanken bringen. Offensichtlich fürchteten sie jedoch nichts Unzuträgliches für die Zuschauer, wenn sie Meli Vasilakis und ihre Schlangen ihre aufreizenden Medusa-Posen einnehmen und ihre Verrenkungen als Vergewaltigte Jungfrau sahen oder miterlebten, wie Colonel Ramrod sich als Kunstschütze produzierte. Edge lud jedoch seine Waffen nur mit der Hälfte des üblichen Pulvers, so daß es bei jedem Schuß nur einen gedämpften Knall gab; seine Assistentin Sunday mit den Zähnen eine Kugel auffangen zu lassen, darauf verzichtete er vollends. -1006-
Um für die Programmverkürzung zu entschädigen, informierte Florian das Anstaltspersonal, die Pfleger seien eingeladen, während der Pausen in die Manege zu steigen und dort auf dem Elefanten oder dem Zwergpferd rund um die Piste zu reiten; auch überließ er es eben diesen Pflegern, die Patienten auszusuchen, die es ihnen darin gleichtun könnten Auch die gleiche Zahl von Gästen aus den Logen für die Besucher drängte sich dazu. Und ein Mann, der eine Allongeperücke und ein Rüschenhemd anhatte wie Ludwig XIV., der erst auf Brutus und dann auf Rumpelstilzchen die Manege umritt, verwickelte Florian und Willi hinterher in eine angeregte Unterhaltung, in deren Verlauf viel mit den Armen und Händen herumgefuchtelt wurde. »Dieser kleine Einfall hat sich ausgezahlt«, wandte Florian sich hinterher an Edge. »Hast du diesen Ludwig XIV. gesehen, der mit uns sprach? Der war so entzückt darüber, an unserer Vorstellung beteiligt gewesen zu sein, daß er uns versprach, für eine Einladung in die Hofburg zu sorgen. Und er könnte das auch fertigbringen. Das war nämlich Graf Wilczek, ein besonderer Günstling von Franz Joseph.« »Bist du sicher?« fragte Edge skeptisch. »Ist er denn von den Luxuslogen gekommen und nicht von den bewachten Sitzreihen?« »Kein Zweifel, er war’s«, erklärte Willi. »Und ich muß zugeben, ich bin hochbetrübt. Nach all meinen Bemühungen haben es schließlich ein Elefant und ein Zirkuspferdchen geschafft, uns den Zugang zur Allerersten Gesellschaft zu verschaffen.« Die Vorstellung sollte mit Cecil und Daphne auf ihrem Veloziped weitergehen – auf ihre Rollschuhnummer sollten sie auf Florians Anweisung verzichten, weil die zu laut sei. So hob die Kapelle zum Tanz aus der ›Feuerwerksmusik‹ an, und Florian sagte »die Wirbelnden Wheelers« an, woraufhin der Sprechstallmeister auf der Trillerpfeife pfiff, jedoch nur Cecil -1007-
auf dem Zweirad hereingefahren kam, ohne die sonst auf seinen Schultern stehende Daphne. »Was soll denn das?« sagte Edge verdutzt. »Er und seine Frau haben una battaglia ausgefochten«, vertraute die neben ihm stehende Nella ihm an. »Deshalb wird er jetzt mit sich allein spielen.« »Uh ... nicht mit sich, sondern für sich allein«, korrigierte Edge sie. »Haben sie sich gestritten? Wann denn?« »Kurz vor Verlassen des Festplatzes. Als ich an ihrer carovana vorüberkam, hörte ich sie schreien: ›Du wirst das Ding nie wieder in mich reinstecken. Nicht, nach dem, wo es vorher drin war. Und berühren wirst du mich auch nie wieder. Und jetzt verschwinde!‹ Worauf er scompigliatamente – völlig verwirrt – herausgestürmt kam. Und zwar allein.« »Na, möcht’ mal wissen, um was es da wohl gegangen ist«, sagte Edge. »Wenigstens hat er schnell noch Ersatz gefunden – wenn der auch nicht halb so hübsch ist wie seine Frau.« Ali Baba war in seinem bunten Kostüm hereingesprungen. Cecil, der gerade dabei war, zwischen der Piste und der vordersten Logenreihe einmal die Runde zu drehen, langte mit einer Hand hinunter und hob sich den Jungen schwungvoll auf die Schultern. Auch ohne besondere Proben legte Ali Baba eine lobenswerte Leistung hin und bemühte sich, Daphnes Posen, ihre Handstände, Einbänder und Hochspagats nachzumachen. Da die Nummer aus Sicherheitsgründen diesmal nicht mit dem Sprung in den Flammenbottich enden sollte, konzentrierte Cecil sich auf besonders effektvolle Fahrkünste – extrem schwieriges Wenden, Rückwärtsfahren und darauf, mit dem großen Vorderrad zu steigen wie ein Pferd und sich auf das vergleichsweise winzige Hinterrad zu stellen. Eine dieser ruckartigen Steigeübungen brachte Ali Baba aus dem Gleichgewicht. Er flog von Cecils Schulter, versuchte in der Luft einen Überschlag zu machen, um sicher auf den Beinen zu -1008-
landen, schaffte es jedoch nicht ganz und prallte auf den Kopf – und zwar mit einem lauten Krach, denn der Manegenboden war nicht wie im Chapiteau mit weichem Sägemehl oder Stroh bedeckt, sondern bestand aus harten Dielenbrettern. Die Anstaltsinsassen brachen augenblicklich in Lachen aus und schlugen sich vor Begeisterung auf die Schenkel. Cecil hielt sein Veloziped an, ließ es auf die Seite kippen, um abzusteigen, und lief zurück. Auch zwei andere Circusleute, die in der Nähe standen, liefen hinzu – es waren Florian und Mullenax, der gerade dabei gewesen war, die Racklos mit Maximus’ Käfigwagen in den Saal zu dirigieren. Doch Ali Baba sprang ohne Hilfe federnd wieder auf und riß die Arme Vförmig in die Höhe. Dasselbe tat auch Cecil, der eine Hand des Jungen in die seine nahm, so als wäre der Sturz nichts weiter als der Schlußtrick seiner Nummer. So kam es, daß auch die andere Hälfte des Publikums in das Lachen und Klatschen der Anstaltsinsassen einfiel. »Alles all right mit dir, Ali Baba?« fragte Florian. »Yassuh. Awright!« »Ach, er is’ ja nur aufie Beine gefall’n«, lallte Mullenax mit schwerer Zunge. »Un so’n Nigger hat’n Schädel wie ’ne Kanon’kugel, stimmt’s nich’, kid?« Und strich Ali Baba spielerisch herablassend über das fein gekräuselte Haar. »Ja, is’ wohl so, suh.« Frostig sagte Florian zu Cecil: »Warum dieser Ersatz, von dem wir nichts wußten und der nicht abgesprochen war, Mr. Wheeler?« Cecil versuchte, es lachend abzutun. »Hatte ’ne kleine Auseinandersetzung mit meiner besseren Hälfte, Governor. Hnoofhnoofhnoof. Da hat sie geschwänzt, und Ali Baba ist freundlicherweise eingesprungen.« Immer noch frostig, sagte Florian: »Da werde ich mal ein Wörtchen mit ihr reden müssen, wenn wir wieder auf dem -1009-
Festplatz sind.« Die Kapelle intonierte den ›Bollocky Bill‹, was Mullenax veranlaßte, einen Flachmann aus der Tasche zu ziehen und auf einen Zug zu leeren. Edge, der sich gerade dazugesellt hatte, sagte: »Auf noch so eine Überraschung können wir verzichten! Abner, bist du nicht zu betrunken, um weiterzumachen?« Mullenax riß sich zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen und um sicher auf den Beinen zu stehen, plinkerte mit seinem düsterrot unterlaufenen Auge und erklärte mit übergenauer Aussprache: »No, Sir, Colonel. Ich habe genau richtig geladen!« Die Racklos hatten den Käfigwagen inzwischen in die Manegenmitte gerollt; Edge zauderte daher nur ganz kurz, winkte ihm dann zu gehen, und Florian hob das Megaphon an die Lippen und fuhr in seiner Ansage fort. Edge jedoch blieb weiterhin wachsam und behielt die Trillerpfeife im Mund, um jederzeit bereit zu sein, die Nummer abzubrechen. Dabei lief diese ganz leidlich ab, obwohl Barncacle Bill den größten Teil der Nummer über, während er Platz! und Hoch! und Krank und Schönmachen! befahl, dem Anschein nach lässig an die Gitterstäbe des Wagens gelehnt dastand und nur schlaff mit seiner Peitsche knallte. Dann trugen die Böhmen den ölbestrichenen Reifen herbei und reichten ihn durch die Gitterstäbe ins Wageninnere hinein. Maximus wich bis in die äußerste Ecke zurück und duckte sich in Vorbereitung auf seinen Sprung. Da der Käfigwagen nur wenig Raum bot, war Barnacle Bill bei diesem Trick immer gezwungen, sich hinzuknien und den Reifen mit einer Zange mit langem Griff festzuhalten, während ein Racklo den Reifen entzündete und sich dann eilends vor den Flammen in Sicherheit brachte. Doch als der Reifen aufflammte, kam von Barnacle Bill diesmal kein Befehl in deutscher Sprache. Statt dessen kippte er aus seiner knieenden Haltung langsam vornüber, streckte sich -1010-
der Länge lang auf dem Käfigboden aus und versank in Bewußtlosigkeit. Der Reifen rollte lustig flackernd durch die Gitterstäbe hinaus, hüpfte ein paarmal auf und ab, rollte weiter durch die Manege. »Himmelherrgott! Holt das Ding!« schrie Edge. »Bringt Stangen herbei! Haltet den Löwen in Schach!« Wieder kam von den Anstaltsinsassen donnernder Applaus – ob für das unverhoffte Feuerwerk oder für die unbekümmerte Zurschaustellung von Barnacle Bills Mut, war nicht zu entdecken. Doch alle Racklos waren instinktiv vorgesprungen, um den Reifen abzufangen, ehe er über die Piste springen und in die Zuschauermenge rollen konnte; jedenfalls war niemand in unmittelbarer Nähe des Käfigwagens, um Maximus daran zu hindern, sich zu bewegen, wie er wollte. Und dieser bewegte sich sehr wohl, kam – immer noch geduckt – bedrohlich auf seinen bewußtlosen Herrn und Meister zugekrochen und leckte sich offenbar in Erwartung einer unverhofften, aber hochwillkommenen Mahlzeit die Lippen. Jetzt lief Edge selbst hinzu und rollte im Laufen seine Peitsche auf, während die Kapelle übergangslos den ›Hochzeitsmarsch‹ spielte. Doch inzwischen stand der Löwe über dem auf dem Rücken liegenden Barnacle Bill, starrte den Menschen an und versuchte offensichtlich, sich schlüssig zu werden, wo er die Zähne am genußreichsten in ihn schlagen könne. Die Großkatze funkelte Edge aus den Augenwinkeln heraus an, schürzte die Lippen und stieß einen warnenden Knurrlaut aus. Edge nahm daher Abstand davon, seine Peitsche zu gebrauchen, denn er war sich nicht sicher, ob er dadurch Maximus nicht zu einem sofortigen Angriff reizte, statt ihn von seinem Opfer zu vertreiben. Wieder betrachtete die Raub-Katze ihren Herrn und Meister und senkte die Schnauze, um ihn zu beschnüffeln. Und tat dann genau das Gegenteil von dem, was Edge jemals über die tückische Wildheit einer Großkatze gehört hatte, die einen hilflosen Menschen in ihrer Gewalt hatte. -1011-
Maximus begann, dem bewußtlos unter ihm ausgestreckten Menschen – und man hätte meinen können, sorgenvoll oder mitleidig – das Gesicht zu lecken. Edge hörte, wie jemand hinter ihm laut rief: »Himmel, einer von den verrückten ist los!«, drehte sich jedoch nicht um, sondern verfolgte, hinund hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und Angst, was der Löwe Barnacle Bill zuteil werden ließ. Schnelle Schritte näherten sich, dann polterten plötzlich deren viele über den Holzfußboden und es kam zu einem Stimmengewirr, doch Edge blieb wo er war, jeden Augenblick bereit, mit der Peitsche zu knallen. Das Kratzen der wie ein Reibeisen rauhen Zunge machte Mullenax wieder wach. Er schlug sein eines Auge auf, doch glücklicherweise ließ das, was es erblickte, ihn erstarren, statt ihn dazu zu bringen, aufzuspringen und um sein Leben zu laufen. Von Entsetzen gepackt starrte er in den gewaltigen Löwenschlund, dann auf die Zähne und die Zunge, und jetzt war es Edge, der anfing zu murmeln: »Ruhig ... Platz! Platz jetzt ...!« Plötzlich – aber es kam weder von Mullenax, noch von Maximus – war ein Wirbel an Bewegung im Käfigwagen zu sehen, und noch eine Person befand sich darin – ein Teufel in Rot und Schwarz, mit Hörnern und spitz auslaufendem Schwanz, einer Dominomaske vorm Gesicht und in der einen Hand einen langen Dreizack, wie ihn wohl der Teufel trägt. Maximus hob den massigen Kopf, betrachtete den Unbekannten und fing an, bedrohlich zu fauchen. Und auch Edge fauchte: »Raus da, Wahnsinniger! ... Raus! Er beschützt seinen Herrn!« Doch der Eindringling kümmerte sich weder um den einen, noch um den anderen, sondern berührte eiskalt mit den Spitzen seines Dreizacks die breite Brust des Löwen und befahl ihm mit ruhiger Stimme: »Zurück ... zurück, Kätzchen ...« Nachdem der Löwe diese Aufforderung im Geiste einen Moment von allen Seiten betrachtet hatte, schickte er sich an, gehorsam zurückzuweichen. -1012-
Nun, dachte sich Edge, der Mann mochte ein entsprungener Wahnsinniger sein, aber zumindest kannte er die deutschen Befehle. Deshalb rührte Edge sich nunmehr auch von der Stelle, wo er gestanden hatte, und lief behende um den Käfigwagen herum zur Tür, während der rotschwarze Teufel über Mullenax hinwegstieg und Maximus zwang, noch weiter im Käfig zurückzuweichen. Edge zischte halblaut: »Abner, rutsch jetzt hier raus, aber nicht zu schnell.« Schlangengleich tat Mullenax, wie ihm geheißen, und Edge machte die Käfigtür genau im richtigen Moment auf, so daß Mullenax mit dem Kopf zuerst über die Käfigschwelle hinwegrutschte und auf den Boden hinunterfiel. Dort blieb er zitternd und schweratmend liegen. Florian trat herzu, ragte über ihm auf und sagte mehr mitleidig als zornig: »Ich hoffe, du schämst dich. Der unerschrockene große Löwenbändiger, der sich von einem Irren retten lassen muß!« Es stand aber auch eine Reihe von Anstaltspflegern bereit, einer von ihnen mit einer kräftigen Zwangsjacke aus Leinwand, von der mehrere Bänder und Schließen herunterbaumelten. Der Mann im Käfig befahl: »Platz!«, die Raubkatze hockte sich auf die Hinterhand und riß das Maul zu einem herzhaften Gähnen weit auf, als langweile sie das ungewohnte menschliche Treiben rings um sie. Der Mann wich nun langsam vor der Raubkatze zurück, und nochmals riß Edge die Käfigtür auf, um ihn herauszulassen. Die Kapelle hörte sofort auf, den ›Hochzeitsmarsch‹ zu spielen und intonierte die Musikbegleitung für die Hundenummer. Die Smodlakas mit ihren Terriern kamen in die Manege gehüpft, und die Vorstellung ging weiter. Die Pfleger näherten sich dem Roten Teufel, und zwar so vorsichtig, als wäre es Maximus, der dem Käfigwagen entstiegen war und kein Mensch. Doch der Mann hob die Hand, nahm seine Dominomaske ab, und einer von den Pflegern lachte erleichtert auf und sagte zu Florian: »Das ist keiner von unseren -1013-
Patienten!« »Nein«, erklärte der Teufel gleichfalls lachend. »Kein Irrer, Messieurs. Jean-Francois Pemjean, á vótre Service.« Es war ein stattliches Mannsbild mit dunklem Teint und mit lustig blitzenden Augen, die gut zu seinem Teufelskostüm paßten. »Ich habe einer kleineren Sache wegen die internistische Abteilung des Krankenhauses aufgesucht und erfuhr dabei von den Vorbereitungen für die Galavorstellung. Ich borgte mir dann aus einem der Schränke diese Verkleidung aus, um gleichfalls teilnehmen zu können.« »Fortuiment«, erklärte Florian. »Merci, Monsieur Pemjean, merci infiniment. Sagen Sie, sind Sie einfach von Natur aus ein Lebensretter oder von Beruf etwa Löwendompteur?« »Oui, c’est de mon resort. Selbstverständlich kenne ich die alte Circusweisheit, Franzosen seien gerade für diese Arbeit zu temperamentvoll und hätten nicht die erforderliche teutonische Bierruhe.« Er warf einen mitleidig verächtlichen Blick auf Barnacle Bill, dem einige Böhmen aus der Manege heraushalfen, während andere den Käfigwagen hinausschoben. »Trotzdem bin ich es nun mal! Ich bin Pemjean l’intrepide – Pemjean der Unerschrockene, bis vor kurzem noch beim CIRCUS DONNERT in Prag, früher jedoch beim CIRCE D'ÉTÉ in Paris, wohin ich jetzt wieder zurückwill.« Die beiden verließen gemeinsam die Manege, und die Vorstellung ging ohne weitere Unterbrechungen und Pannen weiter. Sogar Aschenputtels Seiltanzkünste wurden gezeigt und Maurice und Mademoiselle Schmetterling konnten ihre Trapeznummer vorführen, denn Beck und Goesle hatten früher am Tag die dazu benötigten Geräte an den hohen Balken und zwischen den Säulen der Halle aufgehängt. Nach dem festlichen Finale überschwemmten Racklos den Saal, um sämtliche noch verbliebenen Requisiten und Geräte fortzuschaffen und den Boden gründlich zu säubern. Florian -1014-
befahl Abner Mullenax, mit ihm zum Festplatz zurückzufahren. Andere von der Truppe und Edge folgten ihm auf eigenen Wunsch – darunter Cecil Wheeler und Ali Baba, und, nicht minder bereitwillig Jean-Francjois Pemjean, den sie durch einen glücklichen Zufall kennengelernt hatten und der jetzt einen Straßenanzug trug. Als Florian und Edge Mullenax in den Kontorwagen führten und ihn aufforderten, sich zu setzen, ernüchterte ihn dies beträchtlich. »Barnacle Bill«, sagte Florian, »du hättest dich heute abend ohne weiteres umbringen können. Ja, schlimmer noch – wenn dir die Geschichte im Chapiteau mit dem Boden aus Stroh und Sägemehl passiert wäre, wäre womöglich das ganze FLORILEGIUM in Flammen aufgegangen, und viele Unschuldige wären zu Tode gekommen.« »Yessir«, murmelte Mullenax, »damit hast du wohl recht.« »Was, meinst du, soll ich jetzt mit dir anfangen?« »Naja, du brauchst mich ja nicht grade zu feuern, Governor! Ich habe selbst schon den Entschluß gefaßt, meinen Job als Löwenbändiger aufzugeben. Ich bin ja vor Angst fast umgekommen. Nachdem ich dem Tier in den Rachen gesehen und seinen Atem gerochen habe, könnte ich nie wieder einen Raubtierkäfig betreten. Niemals mehr!« erklärte er, noch nachträglich zitternd. »Durch eine glückliche Fügung haben wir einen Mann, der bereit und imstande ist, deinen Posten zu übernehmen. Aber selbstverständlich will ich dich nicht mutterseelenallein mitten in Europa sitzenlassen.« »Nossir! Wenn du mich bloß als eine Art Racklo behalten würdest – die Käfige auszumisten, das schaffe ich schon noch. Die Biester füttern und solche Arbeit. Du brauchst mir nur grade genug zu bezahlen, daß ich ’ne feuchte Kehle behalte – mehr verlange ich nicht und wäre dankbar dafür.« »Gut denn. Einverstanden. Geh jetzt und schlaf deinen -1015-
Rausch aus. Und wenn du bei den Wheelers vorbeikommst, richte Mrs. Wheeler aus, sie möchte mal rüberkommen.« »Eine traurige Sache«, sagte Edge, nachdem Mullenax davongeschlichen war, »mitanzusehen, wie ein Mann vor die Hunde geht.« »Ich habe das nur allzuoft miterlebt«, sagte Florian aufseufzend. »Manche haben’s so gemacht wie er. Andere geraten erst dann ins Schleudern, nachdem sie die Nerven verloren haben. Doch ich habe schon zu viele ähnliche Beispiele gesehen; Barnacle Bill wird noch weiter absacken. Irgendwo unterwegs wird er so betrunken sein, daß er unseren Aufbruch verpaßt. Ein- oder zweimal schafft er es vielleicht, wieder zu sich zu kommen und uns einzuholen. Aber es wird der Zeitpunkt kommen, wo das nicht mehr passiert, und dann sehen wir ihn nie wieder.« Als nächsten rief Florian Pemjean zu sich, der draußen vorm Wagen mit Cecil Wheeler plauderte. Dem Franzosen sagte er: »Der unglückliche Dompteur, dessen Platz Sie heute abend eingenommen haben, hat seinen Posten für immer aufgegeben – Sie können ihn übernehmen. Er wird uns jedoch erhalten bleiben – zumindest vorläufig – und Ihnen bei der Versorgung der Tiere zu helfen. Wie ich Ihnen bereits sagte, haben wir außer dem Löwen noch drei bengalische Tiger und zwei syrische Bären, mit deren Ausbildung es noch nicht sonderlich weit her ist.« »Das wird sich schnell ändern«, erklärte Pemjean zuversichtlich. »Gut. Und jetzt zu Ihrer Nummer im Programm. Mir hat der Eindruck des roten Teufels im Käfigwagen sehr gefallen.« »Aussi á moimeme«, sagte Pemjean und grinste. »Soweit ich weiß, hat noch kein anderer Dompteur Tiere jemals mit einem Dreizack gearbeitet statt mit einer Peitsche. Da ich das Kostüm habe mitgehen lassen, habe ich mir die Freiheit genommen, auch den Dreizack mitzubringen.« -1016-
»Ihre Weitsicht ist lobenswert. Wir werden nur eine kleine Änderung vornehmen – lassen Sie den Teufelsschwanz von unserer Näherin etwas kürzen. Denn der könnte sich im Käfigwagen als hinderlich erweisen. Und ankündigen werden wir Sie als ... wie wär’s mit ›Le Demon Debonnaire‹ – ›Der gutmütige Dämon‹?« »Excellentissime!« rief Pemjean begeistert. Edge ging die Liste der Beschäftigten durch und sagte: »In Notkins und Spenz’ Maringotte ist noch eine Koje frei, denn Nella ist ja ausgezogen.« »Ich werde mit ihnen reden«, sagte Florian. »Also, Monsieur, Sie können mit unserem Hanswurst und dem Kesperle reisen, bis Sie sich auf dem Festplatz und für unterwegs eine bessere Unterbringungsmöglichkeit leisten können. Holen Sie Ihre Sachen, wann immer Sie wollen. Und willkommen beim FLORILEGIUM. Wir hoffen, Sie fühlen sich in unserer Gesellschaft wohl.« »Merci, Monsieur Florian. Je mehr ich davon zu sehen bekomme, desto besser gefällt sie mir«, denn in diesem Augenblick hatte gerade Daphne Wheeler geklopft und trat zur Tür herein. Bevor Pemjean den Wagen verließ, vollführte er vor der hübschen blonden Frau wie ein Tanzmeister eine umständliche Verbeugung. Sie erwiderte weder sein Lächeln, noch sagte sie ein Wort, sondern stand nur stumm da, rang die Hände und ballte sie dann. »Bitte, nehmen Sie Platz, Mrs. Wheeler«, sagte Florian, um nicht allzu streng hinzuzusetzen: »Sie sind heute abend bei einer wichtigen Vorstellung ausgefallen, ohne uns vorher Bescheid zu sagen. Ein – ein kleiner Ehekrach, soviel ich weiß. Im allgemeinen mische ich mich nicht in die Familienangelegenheiten unserer Leute ein, doch wenn sie Folgen für das gesamte Unternehmen haben, möchte ich gern wissen ...« -1017-
»Warum fragen Sie nicht ihn? Er drückt sich ja draußen herum, nur weil er Angst hat, ich könnte ihn anschwärzen.« »Normalerweise mache ich das nicht, den einen Partner in Hörweite des anderen herunterzumachen, aber ich muß offen gestehen, daß ich Männern mißtraue, die durch die Nase lachen. Ich bitte Sie um genausoviel Offenheit. Los, genieren Sie sich nicht.« Daphne rang neuerlich die Hände und ballte sie wieder zu Fäusten, doch dann platzte sie mit einer kurzen, dafür aber um so lebendigeren Schilderung dessen heraus, was sie im Zeltwagen gesehen hatte. »Verflucht«, knurrte Edge. »Ich dachte, so etwas hätten wir hinter uns, jetzt, wo wir Major Made los sind.« »Das ist in der Tat höchst bedauerlich«, sagte Florian und runzelte die Stirn. »Hm, Mrs. Wheeler, ist dies die ... na ja ... die erste Enttäuschung in dieser Hinsicht, die Sie erleben?« »Nein«, gestand sie kläglich. »Es hat auf den Sportplätzen immer einen Haufen junger Athleten gegeben. Doch dies ist das erstemal, daß er sich mit einem ... einem Schwarzen besudelt hat.« Sie machte ein angeekeltes Gesicht. »Das bringt für mich das Faß zum Überlaufen.« Immer noch stirnrunzelnd, sagte Florian: »Meine erste Regung ist selbstverständlich, Ihren Mann mit der Peitsche zum Circus hinauszutreiben, Mrs. Wheeler, aber das würde bedeuten, auch Sie zu entlassen – Sie wären damit ein unschuldiges Opfer meiner Empörung. Und wenn ich den Päderasten schon rauswerfe, müßte ich dann in aller Fairneß nicht auch den Jungen auf die Straße setzen? Das ist ein echtes Dilemma.« »Ach, zum Teufel, Florian«, sagte Edge. »Quincy kommt gar nicht auf die Idee und sieht auch nicht so aus, als könnte er jemand verführen. Der ist genauso ein Opfer.« »Und meinetwegen machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Florian«, sagte Daphne traurig. »Bei der Trauung haben Ceece -1018-
und ich uns Liebe bis an den Tod gelobt. Ich habe aufgehört, ihn zu lieben. Deshalb muß jetzt einer von uns oder wir beide sterben.« »Immer mit der Ruhe«, redete Florian ihr ins Gewissen. »Wir leben schließlich im neunzehnten Jahrhundert und nicht in biblischen Zeiten. Es gibt moderne Errungenschaften wie die Scheidung; man muß nicht gleich auf Mord oder Freitod zurückgreifen.« »Da haben Sie wohl recht. Aus der Maringotte habe ich ihn bereits hinausgeworfen. Denn die gehört rechtens nicht uns, sondern mir. Gekauft haben wir sie von dem Geld, das ich in die Ehe eingebracht habe.« Tränen rannen ihr über die Wangen. »Dann haben Sie jedenfalls noch ein Dach überm Kopf und ein Transportmittel.« »Aber Transportmittel wohin?« sagte sie, und die Tränen flossen reichlicher. »Ich weiß ja nicht, wohin. Da könnte ich gleich zu einem dieser Praterstrizzis gehen und mich von ihm auf den Strich schicken lassen.« »Aber, aber«, sagte Florian. »Wem gehören die Requisiten Ihrer Nummer? Das Veloziped und die Rollschuhe, die Arbeitsfläche und der Bottich?« »Die haben wir gemeinsam angeschafft«, sagte sie und schluchzte ... »Dann teilen Sie sich die«, sagte Florian mit Entschiedenheit. »Wenn Sie nur Ihre Rollschuhe und die Fläche behielten, könnten Sie doch eine Rollschuhnummer ganz für sich allein entwickeln, oder?« Daphne schniefte, hörte aber auf zu weinen und erklärte, ja, das könne sie. »Und wenn wir später noch ein zweites Paar Rollschuhe anschaffen«, fuhr Florian fort, »wer weiß, vielleicht hat einer der Clowns Lust, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Also gut, -1019-
Madame, Ihr Mann muß gehen, aber Sie können bleiben, wenn Sie wollen.« »Und ob ich will!« sagte sie dankbar. »Colonel Ramrod, würdest du nachsehen, ob dieser Abartige sich draußen immer noch rumtreibt? Bring ihn zum Wohnwagen der Wheelers und bleib dabei, während er seine Sachen rausholt – und zwar nur die Sachen, die ihm wirklich gehören –, und sorge dann dafür, daß er verschwindet. Heute abend noch! Die Dame behalte ich hier, bis er weg ist.« Cecil umkreiste den Kontorwagen zwar in einigem Abstand, ließ ihn aber nicht aus den Augen – und unterhielt sich derweil mit Pemjean. Edge, der sich den beiden näherte, hörte noch, wie Cecil dem Neuen sagte: »... nehmen Sie bei der das blanke Ende eines Besenstiels, hnoofhnoof. Ja, wirklich, das ist nur fair, old boy. Une sacree baiseuse, wie ihr Franzmänner sagen würdet. Und lassen Sie mich Ihnen eine Art erklären, für die sie besonders viel übrig hat ...« Er senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, und Pemjeans Augen weiteten sich immer mehr. Doch als Edge stehenblieb und sie steinern ansah, brach Cecil ab und fragte: »Braucht man mich, Zachary, old Chap?« »Keiner braucht dich!« sagte Edge. »Komm mit zur Maringotte, hole deine Sachen raus und verschwinde vom Festplatz.« »Wie bitte? Wieso plötzlich so unangenehm, old ...« »Ich kann noch sehr viel unangenehmer werden. Mit einem Zeltanker, wenn du nicht ein bißchen Tempo machst! Mich wundert nur, daß du nicht schon längst abgehauen bist. Du mußt doch gewußt haben, daß deine Frau uns reinen Wein über dich einschenken würde. Und jetzt, vorwärts!« Pemjean erbleichte und sagte: »Sacre bleu! Die Frau, das ist Ihre Frau?« Doch die beiden anderen gingen bereits, wobei Cecil die Schultern hängen ließ und Edge hinter ihm herging -1020-
wie ein Gefängniswärter. Edge kam allein zurück, um Florian und Daphne zu melden: »Er ist weg, Mrs. Wheeler. Die Maringotte gehört wieder Ihnen. Er hat nur seine Kleider und Kostüme und seine persönlichen Requisiten mitgenommen das, was er in den Satteltaschen des Velozipeds verstauen konnte.« »Sie haben ihm nichts getan?« »No, Ma’am. Er mußte gar nicht erst überredet werden. Und selbst, wenn ich es gemußt hätte – viel Lust hatte ich nicht darauf.« »Und gesagt hat er nichts? Keine Abschiedsbotschaft?« »Naja ... er sagte, den großen Feuerwasserbottich ließe er zurück. Könnte ihn nicht tragen. Und außerdem hoffe er, sagte er, Sie würden drin ertrinken!« »Oh!« sagte Daphne. »Good night, sweet prince!« hauchte Florian – und nachdem Daphne gegangen war, sagte er: »Jetzt zu Quincy Simms. Du hast recht, er hat wohl keine Ahnung gehabt, daß er was Unrechtes tut. Aber vielleicht versucht er dies jetzt immer wieder; wir möchten doch nicht, daß er in seiner Unwissenheit andere belästigt. Ich schlage vor, daß ihn mal jemand beiseite nimmt und ihn auf sehr väterliche Weise aufklärt.« »Du brauchst gar nicht mich anzusehen, Governor. Ich habe selbst keinen Vater gehabt, der mich aufgeklärt hätte, und gezeugt habe ich auch noch keinen Sohn, den ich aufklären müßte.« »Mir geht das genauso. Hm. Soweit ich weiß, sind die einzigen Väter oder gewesenen Väter, die wir beim FLORILEGIUM haben, Pavlo Smodlaka und Abner Mullenax. Und da widerstrebt es mir denn doch, dem verwirrten kleinen Jungen einen von beiden zuzumuten.« »Ich weiß, wer das tun könnte«, sagte Edge. »Foursquare -1021-
John Fitzfarris. Das ist ein weltgewandter Mann und er hat echte Erfahrungen mit diesem einsamen Laster. Zumindest weiß er, wie man eine solche Predigt in hochtrabende medizinische Floskeln packt.« Fitzfarris übernahm am nächsten Tag ohne viel Widerstreben die Aufgabe, Quincy darüber aufzuklären, wie ein männlicher Mann sich verhält. Hinterher suchte er Florian auf und berichtete: »Nun, ich hab’ mir den Burschen an einer abgelegenen Stelle vorgeknöpft, hab’ mich hingestellt wie auf der Kanzel und ihm eine Predigt gehalten, und er hat alle Augenblicke yassuh gesagt. An einer Stelle hat er mir erklärt, er hätte Wheelers Spiel nur deshalb mitgemacht, weil der ihm eingeredet hätte, sonst würden seine Säfte ihm eintrocknen. Ich denke, da habe ich ihm den Kopf zurechtgerückt, und er hat es kapiert. Wie übrigens auch alles andere, das ich ihm sagte, und ich glaube, ich habe ihn zurückgeholt auf den Pfad der Tugend. Aber merkwürdig nachdem ich ihm alles mögliche eingetrichtert hatte, was ein junger Mann vom Leben wissen muß, fragte ich ihn, ob er noch irgendwelche Fragen hätte. Er sagte: ›Ja.‹ Und ich: ›Was denn?‹ Da sagte er: ›Mas Fitz, hörn Sie das Sing’n? Den ganz’n Tag hör’ ich schon dies Sing’n‹.« »Ja, und?« »Ich hab’ dir doch schon gesagt, es war ein stiller Ort. Da hat keiner gesungen. Nicht mal ein Vogel, so zeitig im Frühjahr. Meinst du nicht, durch den Umgang mit diesem fickerigen Wheeler ist er ein bißchen plemplem geworden?«
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6 Etwa einen Monat später rollte ein prachtvoller, vergoldeter Vierspänner mit dem kaiserlichen Wappen an den Wagenschlägen auf den Festplatz, dem ein in eine glänzende Livree gekleideter Hofbeamter mit reichgeschmücktem Amtsstab entstieg. Der Mann bewegte den Stab, damit die Leute vor dem Chapiteau eine Gasse bildeten und ihn durchließen, und schien, als er auf den Kontorwagen des FLORILEGIUM zuschritt, höchst indigniert über die Geräusche und Gerüche sowie überhaupt alles, was auf ihn eindrang. Mit dem Amtsstab klopfte er an die Tür. Zum Glück für die offenkundigen Empfindlichkeiten des Mannes war es Florian, der den Kopf heraussteckte und nicht Magpie Maggie Hag. Der Hofbeamte überreichte Florian eine überdimensional großen Umschlag und wartete mit einem Ausdruck von Höflichkeit, zu der er sich wohl überwinden mußte, während Florian das verschlungene Siegel erbrach, die große Karte durchlas, die der Umschlag enthielt, und ihm ein paar Fragen stellte. Als der Höfling sich naserümpfend durch die Menge hindurchdrängte, um wieder zu seiner Kutsche zurückzukehren, war Florian bereits unterwegs, jedem von der Truppe die Karte unter die Nase zu halten und die wie gestochen geschriebene Botschaft zu übersetzen. »Seine K. K. Apostolische Majestät lassen sich herab ...« »Was’n das, K. K.?« unterbrach Clover Lee ihn. »Das ist die Abkürzung für ›kaiserlich‹ und ›königlich‹, erklärte Florian ungeduldig. »Noch mal von vorn: ›Seine kaiserliche und königliche apostolische Majestät lassen sich herab, nach höchstdero Beschluß und eingedenk Eures Beitrages zur öffentlichen Wohlfahrt, will sagen der Circusaufführung vor den unglücklichen Insassen der Irrenanstalt‹« – Florian mußte Luft holen –, »Euch allergnädigst aufzufordern, am Dritten Mai -1023-
um drei Uhr in Schloß Schönbrunn eine Vorstellung Eures Unternehmens zu geben.« »War das alles ein Satz?« fragte Maurice. »Der übertrifft ja sogar die deinen noch an Länge, Monsieur le Gouverneur.« »Ach, du kennst doch die Bürokraten. Franz Joseph wird volkstümlich auch ›Premier Bureaucrat d’Europe‹ genannt.« »Und was ist Schönbrunn?« wollte Edge wissen. »Ich dachte, die kaiserliche Familie residiere in der Hofburg.« »Schönbrunn ist die Sommerresidenz Ihrer Majestäten und liegt auf der anderen Seite der Stadt. Heute bin ich froh, daß er mit dieser Einladung solange gewartet hat, bis die Familie aus der Hofburg ausgezogen ist denn dort hätten wir in einem der Säle oder Höfe auftreten müssen. In den ausgedehnten Parkanlagen von Schönbrunn können wir alle drei Zelte aufbauen und sogar einen Ballonaufstieg riskieren.« »Das hat doch der Kaiser wohl nicht eigenhändig geschrieben, oder?« meinte Pfeifer. »Nein, natürlich nicht. Geschrieben und in seinem Namen unterfertigt ist es von irgendeinem Kammerherrn. Aber unter der Botschaft selbst hat der Schreiber sämtliche sechsundfünfzig Titel Franz Josephs angeführt: Kaiser von Österreich, Apostolische Majestät, König von Ungarn, König von Jerusalem, von Böhmen, von Dalmatien und so weiter. Das Blatt ist wirklich wert, aufgehoben und in Gold gerahmt zu werden. Na, schön. Uns bleiben also vier Wochen, um uns auf diese Galavorstellung vor ihren Majestäten vorzubereiten. Monsieur Roulette, poliere die Saratoga auf, soweit nötig; verleihe ihr meinetwegen einen neuen Firnis – jedenfalls bring’ sie auf Hochglanz. Ihr anderen arbeitet bitte an etwaigen neuen Tricks, die ihr im Sinn habt – und bringt eure alten zu letzter Vollendung.« Das FLORILEGIUM hatte in letzter Zeit mehrere neue Nummern in sein Programm aufgenommen. Ein zweites -1024-
Veloziped zu finden und zu kaufen, war kein Problem gewesen; Shadid Sarkioglu hatte sich angeboten, das Radfahren zu erlernen. Das beherrschte er inzwischen, und wenn auch der Türke zu massig und zu groß war, um die gleiche Beweglichkeit aufzubringen wie Cecil bei der Veloziped-Nummer, bereitete es ihm zumindest keine besondere Mühe, Daphne auf seinen Schultern ihre akrobatischen Übungen machen zu lassen. Außerdem absolvierte er den Schlußtrick der Nummer furchtlos wie Cecil, indem er über die Lenkstange seines Zweirads hinweg einen Kopfsprung in den brennenden Bottich machte. Auf der Bretterunterlage bot Daphne auch noch eine Solovorstellung auf Rollschuhen, doch das nur solange, bis Goesle irgendwo in der Stadt ein zweites Paar mit Holzrollen besetzter Schuhe auftrieb. Eigentlich hatte Florian dieses entweder dem Hanswurst oder dem Kesperle geben wollen, damit diese Daphne begleiteten. Doch war es das neueste Mitglied der Truppe, Jean-Francois Pemjean, der bat, sie sich anschnallen und eine völlig neue Nummer erarbeiten zu dürfen. Es war auch Pemjean, ›Le Demon Debonnaire‹, der sich – mit etwas Unterstützung seitens des degradierten, aber nicht murrenden, wohl aber nachdenklichen Barnacle Bill, so oft dieser nüchtern genug war, um überhaupt helfen zu können – durch Vorschläge für Neues auszeichnete. Pemjean erklärte schlicht, Maximus sei zu alt, um noch zusätzliche Tricks zu lernen. Dafür mutete es fast wie Zauberei an, wie schnell er es schaffte, den drei Tigern jene Kunststücke wie Totstellen, Setzen, Springen und so weiter beizubringen, die zuvor immer der Löwe gemacht hatte. Deshalb wurde in der Raubtierdressur zuerst immer Maximus allein vorgestellt, Was die Gaffer stets mit großem Beifall begrüßten, um hinterher um so gebannter dazusitzen, wenn Radscha, Rani und Schiva dieselben Tricks in Gruppe vorführten, wobei sie zum Schluß einer nach dem anderen durch den brennenden Reifen sprangen. Außerdem schaffte Pemjean es sogar, die beiden dummen und -1025-
leicht erregbaren Strauße zu etwas Nützlichem abzurichten. Er entwarf leichtes Zaumzeug für sie und brachte es fertig, daß Hansel und Gretel sich daran gewöhnten, es zu tragen. Von da an wurden die beiden Riesenvögel zu Beginn und am Schluß einer jeden Vorstellung aus ihrem Käfig herausgelassen und vor den leichtesten Wagen der Menagerie gespannt denjenigen, in dem die Hyänen hausten – und zogen diesen bei der Parade und beim Finale durch die Manege. Seinen größten Erfolg heimste ›Le Demon Debonnaire‹ jedoch mit den beiden Tanzbären ein. Barnacle Bill hatte es lediglich so weit gebracht, daß Kewwydee sich auf den Hinterbeinen aufrichtete und aus einer Spielzeugtrompete Zuckerwasser sog, während ein richtiger Blechbläser die Trompetentöne dazu erzeugte. Pemjean jedoch schaffte es, die Bärin Kewwydah dazu zu bringen, sich nicht nur auf den Hinterbeinen aufzurichten, sondern auch noch auf den neuerworbenen Rollschuhen, für die Goesle eigens eine Art daran befestigten Fußzeugs aus Segeltuch gefertigt hatte, zu fahren. Dann machte Pemjean Daphne den Vorschlag, Kewwydah solle bei der Rollschuhnummer die Rolle ihres bisherigen Ehemannes und Partners übernehmen. »›Monsieur le Demon‹!« entfuhr es ihr entsetzt. »Halten Sie mich für schwachsinnig? Reicht es nicht, daß ich eine grasswidow, eine geschiedene Frau bin? Ich habe nicht die geringste Lust, schon so bald unterm Gras im Grab zu liegen.« »Keine Angst, fair Lady! Kewwydah ist viel zu sehr damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten, als daß sie daran dächte, Sie in eine tödliche Umarmung zu ziehen. Überdies trägt sie einen Maulkorb, und ihre Krallen sind beschnitten und stumpf gefeilt. Außerdem stehe ich immer ganz in der Nähe. Sie brauchen sie bloß bei der Tatze zu nehmen, als wäre sie Ihr Tanzpartner, und Sie stoßen sie ab, daß sie im Einklang mit Ihnen rollt und sich dreht.« Es bedurfte noch weit mehr Überredungskünste, doch -1026-
schließlich faßte Daphne sich ein Herz und versuchte es – und war bald überrascht, beruhigt und entzückt über das, was dabei herauskam. Wenngleich sie alle Kraft und alles Können aufbieten mußte, den Bären auf den Rollschuhen gleichsam zu schieben und zu lenken – für die Zuschauer sah es aus, als rolle Kewwydah von sich aus vorwärts und rückwärts, zur Seite und im Kreis herum – und das alles, während Kewwydee mit seiner Trompete dem Anschein nach der Kapelle half, die Begleitmelodie für diesen Trick – ›Ach, Emma! Ach, Emma!‹ – zu spielen. »Dieser Pavlo macht wieder Sperenzchen«, vertraute Magpie Maggie Hag Edge unter vier Augen an. »Oh, Gott! Um was geht es denn nun schon wider? Er hetzt seine Nummer nicht mehr durch, und mir ist auch nicht aufgefallen, daß er die Reihen der Zuschauer nach Spionen abgesucht hätte.« »Nein, jetzt wird er fast wahnsinnig vor Eifersucht. War nie eifersüchtig, solange er mit seiner Hundenummer auf Barnacle Bill folgte. Jetzt aber kommt er nach ›Le Demon Debonnaire‹ dran. Und neue Raubtiernummer so gut, sagt er, daß seine Tummelhunde lahm un’ schwach daneben wirken.« »Damit könnte er recht haben. Aber ich kann ja ohne weiteres das Programm umstellen, damit die Smodlakas früher drankommen.« »Weiß nicht«, sagte die Zigeunerin unentschlossen. »Pavlo hat sich in Kopf gesetz’, daß der Franzos richtiger Dämon ist. Behauptet, Pemjean liest immer in selbes Buch. Vielleicht Zauberbuch. Damit seine Nummer alle andern in Schatten stellt.« »Dieser Pavlo hat sie nicht mehr alle«, sagte Edge aufseufzend. »Trotzdem werde ich seine Nummer anders placieren. Mal sehen, ob ihn das beruhigt.« »Und noch was«, sagte Magpie Maggie Hag. »Der Gierige -1027-
Grieche kam zu mir geschlichen – heimlich –, weil er Medizin von mir wollte.« »Was fehlt Spyros denn? Und wozu die Heimlichkeit?« »Weil er sich Krankheit schämt. Ich hab’ Abführpillen und Enziansalbe für ihn bereitet. Vielleicht helfen, vielleicht nicht. Aber ich ihm nicht gesagt, was ihm fehlt. Is’ Tripper, Harter Schanker, Barrach oder so was.« »Ein Mitbringsel? Mein Gott, dann sollte er einen Doktor für Heimliche Leiden aufsuchen. Die gibt es hier in Wien haufenweise. Warum hast du ihm das nicht gesagt?« »Weil Spyros sich, soviel ich weiß, nie mit andern Frauen abgibt. Un’ wie soll er sich’s denn geholt haben? Nur von seiner Frau – Meli.« »Großer Gott, ja, verstehe. Und woher hat die es? Bisher hab’ ich Meli immer für treu gehalten. Ist irgendeiner von den anderen Männern vielleicht mit demselben Leiden zu dir gekommen?« »Nein. Andere Leute wollen Medizin gegen andere Sachen. Quincy Simms leidet unter Kopfweh. Monday Simms liegt mir dauernd wegen Liebestrank in den Ohren, damit John Fitz sie mehr liebt un’ nicht mehr nach andren schielt.« »Nun, für Monday kann ich nichts machen. Aber halt, ich habe doch noch etwas von diesem Pulver, das Autumn eingenommen hat. Damit hat sie ihre Kopfschmerzen bekämpft. Gib Quincy davon. Und was Meli betrifft ... wenn niemand außer ihrem Mann sich über Hosenschnupfen beklagt ...« »Manche Männer jammern eben nich’ rum. Warten einfach, daß Triefentripper aufhört. Wie schwere Erkältung. Manche Männer haben das öfter, geh’n lachend drüber weg.« »Größer ist jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß Meli es sich von irgendeinem Gaffer geholt hat. Und wenn das so ist – Spyros wäre imstande, sie umzubringen! Meinst du, du könntest -1028-
ihn kurieren, ohne daß er Verdacht schöpft, was er wirklich hat?« Die Zigeunerin zuckte die Achseln. »Und könntest du dich nicht mal mit Meli unterhalten – von Frau zu Frau?« »Die weiß wahrscheinlich nicht mal, daß sie futsche Frau ist. Frauen wissen das meistens nicht, bis sie blindes Baby zur Welt bringen.« »Um so mehr Grund, mit ihr zu reden. Und sie auch zu heilen. Tu, was in deinen Kräften steht, ja, Mag? Bitte!« »Was in mein’ Kräften steht«, sagte sie, zuckte neuerlich die Achseln und ging fort. »Hallo, Colonel Ramrod«, rief Florian, der gerade mit Willi vorüberging. »Würdest du bitte zusammen mit Pressechef Lothar zu mir kommen – in den Roten Wagen?« Im Kontor zündeten sie sich Zigaretten an, und Florian schenkte jedem ein Glas Wein ein, das einen blaßgrünen Schimmer hatte. »Noch etwas typisch Wienerisches, Zachary: Heuriger – junger Wein – frisch aus den Weinbergen des Wienerwalds. Ich persönlich habe ihn immer als zu herb und wenig ansprechend gefunden, aber gegen die Tradition ist kein Kraut gewachsen!« »Schmeckt nicht schlecht«, sagte Edge. »Was ich noch fragen wollte, Governor. Nach unserer Vorstellung in Schönbrunn – kehren wir dann zurück in den Prater oder ziehen wir gleich weiter?« »Wir ziehen weiter. Gerade darüber habe ich mit euch reden wollen. Wir haben aus Wien alles herausgeholt, was herauszuholen ist. Natürlich könnten wir wieder ›fahrendes Volk‹ spielen und über die Landstraße ziehen, doch ich habe was dagegen. Im Laufe dieses langen Winters hier haben viele von uns – insbesondere die Frauen – sogar die Schausteller der Sideshow – ihre Wohnwagen zur winterfesten Wohnung gemacht. Deshalb wäre es jetzt höchst umständlich für sie, alle ihre Habseligkeiten wieder einzupacken und für die Reise auf -1029-
der Landstraße fest zu verstauen. Außerdem ist unser nächstes Ziel Budapest, wo wir uns wieder auf einen längeren Aufenthalt einrichten müssen. Ich meine, es wäre für alle Beteiligten am leichtesten, wenn wir direkt dort hingingen, und zwar auf die Art und Weise, die am wenigsten Umstände und Aufregung macht: per Schiff. Wir brauchen bloß unsere Wagen auf die Lastkähne hier zu rollen und uns nach Budapest schippern lassen.« »Das klingt nach gut und bequem«, sagte Edge. »Aber ist diesem Fluß zu trauen? Denk dran, was er mit Zanni gemacht hat.« »Ein reißender Strom ist die Donau bloß bis hier«, sagte Willi. »Von Wien flußabwärts wird er breit und behäbig. Völlig ungefährlich. Und überdies ist die Fahrt eine angenehme Reise durch reizvolle Landschaften.« »Dann bin ich dafür«, sagte Edge. »Damit wird die Reise sogar noch zu einem Vergnügen.« »Dann seid ihr also einverstanden? Gut«, sagte Florian. »Willi, würden Sie wieder den Vorausmann spielen? Fahren Sie gleich nach Budapest und besorgen Sie uns einen Festplatz mit längerfristigem Pachtvertrag. Nehmen Sie Monsieur Roulette mit, wenn Sie mögen. Nur – sorgen Sie dafür, daß Sie bis zur Vorstellung in Schönbrunn zurück sind. Und chartern Sie hier oder in Budapest soviele Lastkähne, wie wir Ihrer Meinung nach brauchen.« »Das mache ich am besten dort«, sagte Willi. »In Budapest finde ich bestimmt einen Reeder, der eine ganze Reihe von Kähnen besitzt und diese mit Fracht nach Wien bringt. In der Regel fahren die Kähne wieder leer nach Budapest zurück. So einer würde uns bestimmt mit Freuden nehmen und dafür um so weniger verlangen.« Nachdem das FLORILEGIUM seine letzten Vorstellungen im Prater gegeben hatte, bauten die Racklos das Chapiteau und das -1030-
Gradin ebenso ab wie das Stallzelt und die beiden Anbauzelte. Am Sonntagmorgen fuhren, ausgenommen die Maringottes und die Gefährte der Schausteller, alle anderen Circuswagen mit den Artisten, Musikanten und den meisten Racklos zurück über die Rotundenbrücke. Diesmal brauchte die Kolonne keinen Umweg zu machen, um die immer noch aufgerissenen Straßen der Inneren Stadt zu meiden, sondern fuhr direkt durch Wohn- und Gewerbegebiete, bis diese dem offenen Umland wichen und sie schließlich vor dem hohen spitzen schmiedeeisernen Zaun anlangte, der den Park von Schönbrunn einfaßte und sich schier endlos in die Weite dehnte. Daphne Wheeler neben sich, führte Florian die Circuskarawane in seiner lackglänzenden Kutsche bis an eines der massiven, verschnörkelten Tore in diesem endlosen Zaun. Er wies den Schildwachen – Soldaten der Ungarischen Ehrenwache, die gestreifte Umhänge zu roten, mit silbernen Tressen besetzten Dolmans trugen – die Einladung vor, woraufhin diese einladend die Torflügel aufschwangen. Die Wagenkolonne rollte mindestens eine halbe Stunde lang über eine sanft gewellte, kiesbestreute Fahrbahn, die sich unter dem Astwerk gewaltiger alter Alleebäume dahinschlängelte; vorüber an samtenen Rasenflächen, stillen Teichen und kleinen Wasserfällen; um Beete und Rabatten mit Tulpen, Jonquillen, Narzissen und Fliederbüschen herum; zwischen haushohen Wänden aus dichten, dunkelgrünen, schnurgerade getrimmten Hecken, die in regelmäßigen Abständen Nischen aufwiesen, aus denen unbekleidete Marmorstatuen leuchteten; vorüber an einer Senke, in welcher efeuüberwuchertes Mauerwerk zu sehen war und das an römischen Tempel erinnerte. »Wie alt mag diese Ruine sein?« fragte Daphne mit ehrfürchtigem Schauder in der Stimme. »Keine hundert Jahre«, sagte Florian. »Das ganze ist nur eine Art Attrappe. Der Gartenarchitekt hat sie bereits als Ruine bauen lassen.« -1031-
Der Fahrdamm mündete auf ein gewaltiges offenes Rechteck aus Rasenflächen und Blumenbeeten, das links und rechts von hohen grünen Hecken mit weiteren Statuen davor eingefaßt wurde. Auf den Rasenflächen schritten nickend zahlreiche Pfauen einher und stießen ihre mißtönenden Schreie aus. Abgeschlossen wurde das Rechteck an der einen Längsseite von der cremefarbenen Fassade des großen Schlosses. Ihm gegenüberliegend stand ein Springbrunnen, in dem sich steinerne Neptune und Najaden in einem Wasserfall tummelten, der sich aus einem aus Felsen getürmten künstlichen Berg über Wehre und Mauern in einen Seerosenteich ergoß. Jenseits dieses Springbrunnens dehnten sich weitere Rasenflächen, gewannen jedoch sanft gewellt allmählich an Höhe, bis sie einen Hügel erreichten, auf dessen Kuppe ein weiteres Gebäude zu sehen war, ein offenes Bauwerk aus Säulen und Bögen, über die sich ein steinerner Engel mit weit ausgebreiteten Flügeln erhob. »Solche Wunder schon so früh am Morgen!« wandte Yount sich an Agnete. »Das übertrifft sogar noch den Park des Königs von Italien!« Florian erteilte sofort Befehle. »Mr. Goesle, Pana Banat, das Chapiteau wird hier auf dem großen Rasen errichtet, das Stallzelt möglichst weit entfernt dahinter. Keine Donnerbalken! Und gebt acht, daß niemand auf die Blumenbeete trampelt. Herr Beck, wir sollten die Dampforgel ein Stück weiter den Hügel hinauf aufstellen, damit die Scheiben der Schloßfenster nicht zerspringen. Und den Ballonwagen samt Gasentwickler bis ganz hinauf auf den Hügel. Ich denke, es muß bezaubernd wirken, wenn die Saratoga vor der Gloriette aufsteigt.« Er zeigte auf das engelüberragte Bauwerk. »Und wenn Monsieur Roulette wieder herunterkommt, kann er hier inmitten der königlichen Zuschauer landen, was die Wirkung des erst verschwindenden und dann wiederauftauchenden Mädchens noch erhöhen dürfte.« »Die Gloriette?« sagte Edge und spähte zum Hügel hinüber. »Das klingt nach einem Diminutivum, einer -1032-
Verkleinerungsform, wohingegen das Ding dort drüben einen ganz gewaltigen Eindruck auf mich macht.« »Das hat Kaiserin Maria Theresia dort errichten lassen«, erklärte Willi Lothar. »Während des Krieges gegen Preußen, der in ihrer Regierungszeit stattfand, gewannen die Österreicher nur eine einzige Schlacht, und dies ist das Denkmal, das daran erinnern soll. Aber Maria Theresia hatte durchaus Humor. Da es ja nur eine kleine Schlacht und ein kleiner Sieg gewesen sei, meinte sie, werde sie das Denkmal auch nur ›Kleine Glorie‹ nennen. – Ah! Da kommt auch schon Seine Majestät.« Franz Joseph kam aus einer der Schloßtüren. Er trug nur einen schlichten Jagdrock aus grünem Loden und Bundhosen, und sah darin mehr aus wie einer seiner eigenen Jäger. Er war schlank, stand etwa in Edges Alter und hatte sich einen üppigen Schnauzund Backenbart offensichtlich eigens wachsen lassen, um seinem Gesicht, das etwa so schmal war wie ein Spaltkeil und genauso ausdruckslos, etwas Breite zu verleihen. Er wurde begleitet von zwei Kindern, die gleichfalls schlicht gekleidet waren, der etwas pummeligen und im Backfischalter stehenden Prinzessin Gisela und dem blassen und etwas jüngeren zappeligen Kronprinz Rudolf. Von einer Leibwache war nichts zu sehen; etwas weiter entfernt bewegten sich nur einige uniformierte Höflinge und livrierte Diener. Willi und Florian beeilten sich, Seine Majestät und die Kaiserlichen Hoheiten zu begrüßen und sich vor ihnen zu verneigen. Dann stellte Florian »einige meiner engsten Mitarbeiter« vor – Edge, Fitzfarris, Goesle und Beck, die gleichfalls passable Kratzfüße zuwege brachten. Während diese vier und Florian weiterhin mit der Aufsicht über den Circusaufbau beschäftigt waren, blieb Willi bei der kaiserlichen Gesellschaft, die interessiert jeden neuen Abschnitt der Böhmen beim Errichten der drei Zelte verfolgte. Wie jeder gewöhnliche Vater beugte sich Franz Joseph häufig zu seinen Kindern hinab, um ihre Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes Lehrreiche des -1033-
Vorgangs zu richten. Die anderen Circusangehörigen beäugten sie neugierig, aber diskret, und Clover Lee sagte: »Mich enttäuscht, daß wir seine Kaiserin nicht zu sehen kriegen.« Maurice sagte: »Die ist gewiß wieder irgendwo auf Reisen. Es könnte als taktlos gelten, sie zu erwähnen.« »Für eine so kleine Familie«, sagte Agnete, »haben sie aber ein meget großes Haus.« »Mein liebes Mädchen«, sagte Pfeifer, »die kaiserliche Familie bewohnt nur rund sechzig Räume des Schlosses. Die restlichen dreizehnhundertvierzig sind für den Hofstaat und die vielen Diener.« Die kaiserliche Familie blieb auf dem Festplatz und sah bis zum Hochziehen des Chapiteaus und dem Anhalftern der Tiere im Stallzelt zu. Dann kam Franz Joseph persönlich, um Florian die Hand zu schütteln und ihm zu sagen: »Freut mich sehr«, ehe er mit seinem Gefolge ins Schloßinnere zurückkehrte. Ein Höfling blieb zurück, wandte sich auf englisch an Florian und sagte: »Ich bin Georg Graf Stockau, Stellvertretender Zeremonienmeister Seiner Kaiserlichen Majestät. Sie wissen ja, daß die Vorstellung um drei Uhr beginnen soll. Wie lange wird sie dann dauern?« »So an die drei Stunden, Herr Graf. Eine Stunde für den ersten Teil des Programms, dann eine Pause, in der alle dem Ballonaufstieg beiwohnen und die Sideshow aufsuchen können und so weiter. Dann noch eine Stunde für die zweite Programmhälfte.« »Sehr gut. Seine Kaiserliche Majestät laden huldvoll den gesamten Circus ein, zum Diner zu bleiben. Ich werde den Küchenchef anweisen, das Essen für sieben Uhr zu richten. Die einfachen Circusarbeiter essen selbstverständlich in der Küche. Die Herren von der eigentlichen Truppe im Vieux-Laque-1034-
Zimmer, in dem ich an der Tafel präsidieren werde. Die Artistinnen im Blauen chinesischen Zimmer mit der Gräfin Mathilde Apponyi. Die Gräfin und ich sprechen neben anderen Sprachen wo nötig auch englisch. Sie, Baron Lothar von Wittelsbach und Ihre vier wichtigsten Mitarbeiter werden zusammen mit dem Kaiser persönlich in der Konspirationstafelstube speisen. Sie werden zur Rechten Ihrer Majestät sitzen, Wittelsbach zu seiner Linken. Ihnen gegenüber sitzt Prinzessin Caroline von und zu Liechtenstein, vis-ávis dem Baron die Gräfin Marie Larisch. Alles ganz zwanglos, selbstverständlich.« »Selbstverständlich«, sagte Florian mit fast versagender Stimme. »Es wird von keinem von Ihnen erwartet, sich so kurzfristig groß in Garderobe zu werfen.« »Die Gnade Ihrer Majestät ehrt uns unendlich, Herr Graf.« Als die Angehörigen des Kaiserhauses und das Gefolge der Adligen aus dem Schloß herauskam und über den Rasen dem Chapiteau zustrebten, ging der Kaiser, was die ›Zwang- und Formlosigkeit‹ betraf, mit gutem Beispiel voran. Wiewohl jetzt in einen gut geschneiderten, schmucken weißen Uniformrock mit vielen Goldlitzen daran sowie eine rote Hose gekleidet, trug er nur eine einzige seiner Auszeichnungen: das rotgrüne Band des Ordens vom Heiligen Stephan. Der kleine Kronprinz Rudolf trug eine Miniaturausgabe der Uniform seines Vaters und dazu nur die Kette des Ordens vom Goldenen Vlies. Doch die anderen Herren vorn Hof und hohen Offiziere, die aus dem Schloß herausströmten, waren tadellos in glänzende Paradeuniformen gekleidet – die Husaren in Rosa und Himmelblau, die Tiroler Schützen in Silbergrün, die Guardia degli Arcieri in Scharlachrot und Gold – und dazu samt und sonders wie gepanzert mit übereinander getragenen Reihen von Orden auf der Brust. Die Damen waren nicht minder glanzvoll gewandet in modische Krinolinen aus Seide, Taft und Brokat. -1035-
Die zahlreichen Kinder, die zum Hofstaat dazugehörten, trugen keine kurzen Knabenhosen oder Mädchenpantaletten, sondern Miniaturausgaben der Erwachsenenkleidung. Nachdem die Zuschauer sich im Chapiteau versammelt hatten – und es deren so viele waren, daß sie es fast bis zur Hälfte ausfüllten, weil die niedrigeren Ränge klaglos auf den einfachen Holzbänken des Gradins Platz nahmen –, überstrahlten sie mit ihrem Glanz sogar die paillettenbesetzten Kostüme der Artisten. Alle standen, die Offiziere machten die Ehrenbezeugung, während Franz Joseph und Rudolf demütig das Haupt beugten, als Becks Kapelle mit ›Gott erhalte unsern Kaiser‹ das Programm eröffnete, die Nationalhymne, welche in der Ferne, doch trotzdem unüberhörbar von der Dampforgel oben auf dem Hügel begleitet wurde. Abdullah hatte zuvor die beiden Elefanten in die Manege gebracht, wo sie jetzt mit geringeltem Rüssel und erhobenem Kopf gleichfalls dem Mann und dem Knaben auf den Ehrensitzen huldigten. Danach jedoch entspannten alle, das erlauchte Publikum applaudierte der Parade sowie jeder nachfolgenden Nummer so stürmisch und laut wie nur je ein ganzes Zelt voll Bürgerlicher. Das Programm lief mit der Präzision eines Uhrwerks ab, und es gab keine einzige Panne. In der Pause entschwebte die Saratoga anmutig der Hügelkuppe vor der Gloriette und tanzte dann verträumt über den Himmel. Nachdem er das ›Fräulein Simms‹ hatte ›verschwinden‹ lassen, präsentierte Fitzfarris die Sideshow und danach für die Männer und nicht wenige Frauen ›Die Amazone in der Gewalt des Drachen Fafnir‹. Magpie Maggie Hag machte unter den Damen die Runde, las Prinzessinnen, Gräfinnen und Baronessen aus der Hand und prophezeite jeder Dame ein Leben der Freude, der romantischen Liebe und des Reichtums. Der Ballon schwebte schwerelos wie eine Pusteblume auf den Festplatz hernieder, und der Gondel entstieg zur größten Verwunderung und allgemeinem Beifall wieder ›Fräulein Simms‹. Das eigentliche Programm ging glatt -1036-
weiter, es kam auch zu keinerlei Störungen, und schloß mit dem nochmaligen Abspielen der Kaiserhymne. Während die Zuschauer unter Lachen und angeregtem Geplauder zurückkehrten ins Schloß, drängten sich die Artisten im Ankleidewagen, denn jeder war bemüht, möglichst bald aus dem Kostüm herauszukommen und seinen Sonntagsstaat anzulegen, was Florian wiederum dazu brachte, Dai Goesle zu sagen: »Merk dir’s, Zeltmeister. Wir müssen uns bald zwei neue Zelte zulegen je ein Garderobenzelt für Männer und Frauen.« Nachdem sich alle umgekleidet hatten, kam der Stellvertretende Zeremonienmeister, um sie ins Schloß zu bringen. Es ging durch den Großen Spiegelsaal, in dem die den Fenstern gegenüberliegende Wand zur Gänze verspiegelt war, so daß der Raum doppelt so groß wirkte, als er in Wahrheit war und mit der doppelten Zahl an Kronleuchtern und kandelaberhaltenden goldenen Nymphen ausgestattet schien. Carl Beck kniete beim Gang durch diesen Raum praktisch bei jedem Schritt einmal nieder und erklärte mit gedämpfter Stimme, warum: »In diesem Saal hat der junge Mozart zum erstenmal bei Hof vorgespielt.« Quincy Simms, dessen Sinn auf Praktischeres gerichtet war, sagte zu niemand im besonderen: »Wassas wohl zu ess’n gibt? Ich riech’ brutzeln’n Saubauch.« »Saubauch?« sagte Pemjean. »Questce que c’est?« »Gepökeltes fettes Schweinefleisch«, übersetze Rouleau. »Niggerfraß.« »Ali Baba, hier kannst du unmöglich so etwas riechen«, sagte Florian. »Schon deswegen nicht, weil die Küche in einem Extragebäude untergebracht ist – damit keine Essensgerüche und kein Rauch die erlauchte Gesellschaft stören. Und die Fliegen und die Gefahren eines offenen Feuers nicht zu vergessen.« Jeder Raum im Schloß war bis obenhin angefüllt mit -1037-
Kunstwerken – Statuen, Büsten, Gobelins und Gemälden –, wobei letztere zum größten Teil aus Portraits von Mitgliedern der kaiserlichen Familie bestanden, von Maria Theresia bis zu den augenblicklichen Bewohnern. Zachary Edge hatte nicht die geringste Ahnung von Kunst und war auch nicht besonders empfänglich dafür, doch einige der Bilder vermittelten ihm den Eindruck, die Abkonterfeiten irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Zwar hätte er sich bei ihrem Begleiter danach erkundigen können, doch besaß der Graf von sich aus die Liebenswürdigkeit, bereits einen Kommentar zu den Räumen abzugeben, durch welche die verschiedenen Gruppen von Circusangehörigen hindurchgelotst wurden. »Meine Damen, Sie werden hier im Blauen chinesischen Zimmer dinieren. Gestatten Sie, daß ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Genreszenen aus dem chinesischen Leben hinlenke, welche in die Tapetengefache eingefügt sind. Die Figuren der Männer und Frauen sind mit phosphoreszierender Farbe gemalt. Wird es dunkel und bringen die Diener die Kerzen, werden Sie sehen, daß diese Gestalten schimmern und sich zu bewegen scheinen.« Nachdem er die männlichen Artisten in einen Raum geleitet hatte, dessen Paneele fast so glänzten wie die Verkleidung im Spiegelsaal, sagte er: »Meine Herren, bitte, beachten Sie die Vollkommenheit dieses Vieux-Laque-Zimmers. Jedes einzelne der Paneele wurde an Bord eines Schiffes lackiert, weit draußen auf See, damit nicht das kleinste Staubkörnchen den Lack verunreinigt.« Der letzte Raum – in den nur Florian, Willi, Edge, Beck, Goesle und Fitzfarris gebeten wurden – war der kleinste, den sie bisher zu sehen bekommen hatten. Er bildete ein Oval, doch gerade zu diesem Raum schien der Graf keinen Kommentar zu haben. Der kam dafür von Fitzfarris, nachdem Stockau sie verlassen hatte: »In allen anderen Räumen stand ein Eßtisch. Hier hingegen sehe ich nur Stühle. Ob wir vom Schoß essen -1038-
sollen?« »Warte nur ab«, sagte Beck. »Von diesem Raum habe ich schon gehört. Hier hat Maria Theresia bei Geheimsitzungen mit ihren Räten gegessen. Damit nicht einmal Diener störten.« Just in diesem Augenblick trat Franz Joseph mit einem Halbdutzend Frauen ein, die meisten davon jung und hübsch. Während die Gräfin Larisch sich und die anderen Damen auf englisch vorstellte, zog der Kaiser ernst an einem Klingelzug, und die Vorstellung wurde von einem knirschenden und knarrenden Geräusch unterbrochen. Ein Teil des Parkettfußbodens schob sich beiseite – und hätte um ein Haar Dai Goesle mitgenommen, wäre er nicht rasch beiseite getreten. Aus der beträchtlichen Lücke, die sich jetzt im Fußboden auftat, erhob sich langsam und majestätisch ein damastgedeckter Tisch mit Damastservietten, Porzellan, Kristall und Silberbesteck – und selbstverständlich den dampfenden Schüsseln einer aus mehreren Gängen bestehenden Mahlzeit. Überraschte Ausrufe wurden ebenso laut wie allgemeiner Applaus; selbst Franz Josephs im allgemeinen keinerlei Regungen verratendes Gesicht verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Die Herren rückten den Damen die Stühle heran, die an der Wand standen, und nahmen dann selbst nach der vorher von Graf Stockau festgelegten Tischordnung Platz. Sofort fingen alle an zu essen, denn da mehrere Gänge gleichzeitig ›aufgetragen‹ worden waren, mußte die Suppe eilends hinuntergelöffelt werden, ehe alles andere kalt wurde. In Wahrheit war das Essen, wie die sechs Circusleute hinterher einmütig bekannten, weder etwas ganz Glanzvolles noch war die Tischgesellschaft besonders anregend. Bei dem einzigen Wein, der gereicht wurde, handelte es sich um billigen Heurigen, wie ihn noch der letzte Landstreicher in jedem beliebigen Lokal im Wiener Wald vorgesetzt bekam. Da der Kaiser selbst nur Eiswasser trank, sahen die anderen sich genötigt, selbst bei diesem leichten Wein Zurückhaltung zu üben. Das Hauptgericht des Diners war ein -1039-
ganz gewöhnliches Backhendl, wie es an diesem besonderen Sonntag und vermutlich auch an allen anderen Sonntagen des Jahres in jeder österreichischen Familie auf dem Tisch stand. Auch die Tischunterhaltung fiel recht karg aus. Florian, Willi und Beck konnten sich zwar auf deutsch unterhalten, und Edge tauschte mit seinem Visavis, der jungen und recht ansprechenden Baronin Helene Vetsera, ein paar Banalitäten aus. Goesle und Fitzfarris hingegen konnten nur englisch, das wiederum ihre Tischdamen nur höchst unvollkommen radebrechten. Im übrigen wurde das Tischgeplauder merklich durch die Schweigsamkeit Seiner Majestät gedämpft. Rang sie sich doch einmal zu einer Bemerkung durch, kam diese gleichsam wie von einem Bauchredner, wandte sich der Kaiser doch zunächst an die Prinzessin Liechtenstein, auf daß diese sie weitergab. Als erstes sagte er: »Wie gesagt ... es war sehr schön, der Circus. Es hat mir sehr gefallen.« Die Prinzessin übersetzte es für die anderen. Etwas später sagte der Kaiser zu der Prinzessin: »Dieser Herr Florian hat Zukunft.« »Besten Dank, Majestät!« sagte Florian, ohne die Übermittlung durch die Prinzessin abzuwarten. Später sagte er zu seinen Kollegen: »Ich nehme an, das sollte ein Kompliment sein – mir zu sagen, daß ich in meinem Alter ›Zukunft‹ habe. Der Kaiser ist völlig witz- und geistlos und hat auch keinerlei Humor; deshalb nehme ich auch nicht an, daß er es sarkastisch gemeint hat. Aber ich schwöre, ich kann mich nicht entsinnen, daß er das ganze Essen über auch nur eine einzige andere Bemerkung gemacht hätte.« Nun, wie auch immer, dachte Edge – nachdem die Langeweile endlich vorüber war, alle sich erhoben, Franz Joseph nochmals am Klingelzug zog, die Tafel mit dem ganzen Durcheinander und den abgenagten Hühnerknochen in der Tiefe -1040-
verschwand und der Fußboden sich wieder zusammenschob –, sollte ich jemals wieder zurückkommen nach Hart’s Bottom, bin ich bestimmt der einzige, der sich rühmen kann, mit einem Kaiser diniert zu haben. Nur wird mir das niemand glauben. Mein Gott, wahrscheinlich weiß in Hart’s Bottom sowieso kein Mensch, was ein Kaiser ist! Nach dem Essen versammelten sich die Damen und Herren im Spiegelsaal, und ein livrierter Lakai trug ein hochgehäuftes Tablett herbei, von dem Franz Joseph an jeden der Circusleute ein Andenken verteilte: Die Damen bekamen winzige Abendtäschchen und die Herren Brieftaschen, alle mit dem kaiserlichen Wappen in exquisiter Wiener Petitpoint-Stickerei. Die Männer bedankten sich mit einem Diener und die Damen mit einem Knicks – wobei einige unterdrückt kicherten, denn diejenigen, die mit den weniger hochstehenden Persönlichkeiten gespeist hatten, waren offensichtlich nicht davon abgehalten worden, dem Wein und wohl auch noch stärkeren Getränken reichlich zuzusprechen. Dann geleitete Graf Stockau die Truppe zurück zum Festplatz. Die Racklos, so stellten sie dort fest, waren womöglich noch betrunkener als der Rest der Truppe; in der Küche mußte es wirklich hoch hergegangen sein. Trotzdem überließ Florian es ihnen, alles wieder abzubauen, wenn und sobald sie unter der Aufsicht von Goesle und Beck dazu wieder in der Lage wären. Er nahm nur seine Kutsche und drei Wagen, um die Artisten durch die mitternächtlichen Wiener Straßen wieder in den Prater zurückzubringen. Als wäre das ganze eine Schlittenpartie gewesen, sang ein Teil der Mitfahrenden, manche jedoch schnarchten und noch andere – Maurice und Nella, Obie und Agnete – balgten zärtlich miteinander und kicherten beschwipst, und Monday setzte alles daran, Fitzfarris zu bewegen, es ihnen gleichzutun. Francois Pemjean war bemüht, bei Daphne Wheeler einen ähnlichen Erfolg zu erzielen und hatte dabei mehr Glück als Monday Simms. -1041-
Florian berichtete Edge, der diesmal mit ihm fuhr: »Die Lastkähne aus Budapest werden gerade entladen; übermorgen früh werden sie uns an Bord nehmen.« »Und wie lange wird die Fahrt dauern, Governor?« »Hm ... den Rest des Tages und den ganzen nächsten Tag, schätze ich.« »Länger nicht?« Edge war sichtlich überrascht. »Nun, wir fahren ja flußabwärts, folglich hilft die Strömung dem Dampfboot, das uns ins Schlepptau nimmt. Es sind ja nur rund zweihundert Kilometer von hier bis Budapest.« Nachdenklich sagte Edge: »Also nicht viel weiter als von Hart’s Bottom bis Winchester, Virginia. Man lernt wohl nie aus. Ich dachte immer, die Hauptstädte Europas lägen unglaublich weit auseinander.« Die Kutsche und der erste der Wagen trafen ein wenig vor den beiden anderen im Prater ein. Diejenigen, die – recht unsicher auf den Beinen von dem ersten Wagen herunterstiegen, waren Magpie Maggie Hag, die Smodlakas, Jean-Francois Pemjean und Daphne Wheeler. Pavlo Smodlaka war nicht betrunken genug, um nicht mitzubekommen, daß Pemjean Daphne zu ihrer Maringotte brachte, in der sie – nach einigem Gekicher vor der Tür – beide verschwanden. Leise stieß Pavlo mit Schnapsatem aus: »Aha!« Er überließ es seiner Frau und den Kindern, sich in der Dunkelheit allein den Weg zu ihrem Wohnwagen zu suchen; er selbst ging ein wenig unsicher zu der Maringotte, die Pemjean und die beiden Clowns Notkirt und Spenz teilen. Die Clowns hatten eine Laterne brennen lassen, die am Nagel über der Tür hing. Pavlo nahm sie mit hinein und brauchte so nicht lange zu suchen: Das Buch lag aufgeschlagen auf einer der Kojen, als hätte Pemjean noch vor kurzem darin gelesen. Pavlo nahm es zur Hand, sah sich den Einband an und mußte ein Auge zukneifen, weil er sonst alles doppelt sah. Doch selbst so gelang -1042-
es ihm nur unter Mühe, den englischen Titel zu entziffern. Er sagte noch einmal, diesmal triumphierend: »Aha!« – und lief mit dem Buch unterm Arm hinaus. In Daphnes Maringotte – im Dunkel, denn sie hatten sich nicht erst die Zeit genommen, eine Lampe oder Kerze anzuzünden – waren Pemjean und sie bereits entkleidet und lagen mit verschlungenen Gliedern da. Eine Zeitlang herrschte vornehmlich Schweigen – nur sanft raschelnde Geräusche und das leise Schmatzen von Küssen war zu hören. Dann jedoch ruckte die Lagerstatt plötzlich, hob und senkte sich wieder, und Daphne stieß einen spitzen Schrei aus. »liik! Mein Gott, Jean, was machst du?« »Aie, ma chere, mach’ ich was falsch?« »Falsch? Was für eine Frage! Was du tust, ist abscheulich!« »Helas! Dann laß’ es mich lieber direkt vers...« »Aufhören!« Es hörte sich an, als versuche sie eiligst, sich mit den Laken zu bekleiden. »Was du versuchst, ist ekelhaft! Unanständig! Unerhört! Obszön! Das muß wohl Griechisch sein!« »Ma fois, ich will doch nur tun, was du am liebsten ...« »Ich wäre ja nie auf die Idee gekommen, daß du so abartig sein könntest!« Mehr zu sich selbst sagte sie: »Ich muß Madame Hag fragen ... unter welch unseligem Stern ich geboren wurde, daß ich immer wieder auf Abartige reinfalle!« »Mais cherie, ich dachte, du hättest das besonders gern ... dies eben, meine ich.« »Das ist ja die Höhe! Hältst du mich etwa für pervers? Wie kommst du auf eine so idiotische Idee?« »Eh bien, dein Mann hat es mir gesagt!« »Was!« Die ganze Maringotte knarrte und schaukelte, als sie nach ihm stieß. »Mach, daß du hier rauskommst, du dreckiger Froschfresser!« -1043-
»Ich wollte dir doch nur einen Gefallen tun! De bonne fois, cherie!« »Nimm deine Sachen und mach, daß du fortkommst!« »Siehst du, Gospodija Hag?« sagte Pavlo aufgeregt, blies ihr seinen Schnapsatem ins Gesicht und fuchtelte ihr mit dem Buch vor der Nase herum. »Wie ich gesagt habe: der Franzose ist ein koldunya, ein Zauberer, vielleicht ein Vampir! Sieh dir dies Buch an, über zabranjeno Zauberei! Ich, sogar ich kann den furchtbaren Titel lesen. The Book of ... Private ... Knowledge. Siehst du. Mein Verdacht war also berechtigt!« Knurrend nahm die Zigeunerin ihm das Buch aus der Hand. Dann hielt sie es nahe an die Kerze heran und las, ohne zwischendurch zu stocken, den vollständigen Titel vor: The Book of Private Knowledge and Advice, of the Highest Importance to Individuais in the Detection and Cure of ›A Certain Disease‹ Which, if Neglected or Improperly Treated, Produces the Most Ruinous Consequences to the Human Constitution. CHARVA! Du dummer, dummer Dalmatinski, das hier ist kein Zauberbuch. Es ist nur ein ... medizinisches Buch.« Ein paar Wörter hatte Pavlo jedoch verstanden, und diese ließ er jetzt gleichsam auf der Zunge zergehen: »›Certain Disease‹, eine ›Gewisse Krankheit‹, ja? Na, also!« »Hier, Schwachkopf! Leg ihm das Buch wieder hin, bevor er es vermißt. Und hör auf, rumzuspionieren und deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen!« »Da, Gospodija Hag«, sagte Pavlo lieb. »Verzeih, daß ich dich bemüht habe.« Er trug das Buch dorthin zurück, wo es hingehörte, und schaffte es, die Maringotte gerade noch rechtzeitig wieder zu verlassen, ehe der völlig aufgelöste und unordentlich gekleidete Pemjean kam, um sich brummelnd in sein eigenes Bett zu legen.
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MAGYARORSZÄG
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1 »Hoffentlich ein glückverheißender Zufall«, sagte Florian und wies auf den kleinen Raddampfer, der ihre Lastkähne im Schlepptau hatte. »Der Schlepper heißt Kitartö; das bedeutet etwa das gleiche wie Pflichttreu.« »Hoffentlich bedeutet das nicht auch genau soviel Mißgeschick unterwegs«, sagte Edge. Florian, Edge, Willi, Beck und Fitzfarris fuhren auf dem ersten Lastkahn gleich hinter dem Schlepper. Die anderen waren auf die nachfolgenden Kähne verteilt, zusammen mit ihren Maringottes, Geräte- oder Käfigwagen mit Tieren, für die sie verantwortlich waren. Da man sich nicht gegenseitig besuchen und mithin auch nicht gemeinsam essen konnte, hatte Florian vom Sacher im Prater eine Reihe von Picknickkörben zusammenstellen lassen. Infolgedessen hatten die Reisenden während der beiden Tage und der einen Nacht, die sie unterwegs waren, mehr als genug zu essen und zu trinken. Die Fahrt auf dem Fluß war eine angenehme Abwechslung gegenüber den Fahrten auf den Landstraßen. Vor allem war der Schiffsverkehr auf der Donau ungleich vielfältiger als alles, was sie auf der Straße zu erleben pflegten; da gab es Segel- und Ruderboote, Raddampfer und kombinierte Frachtund Passagierschiffe, die von Schiffsschrauben am Heck angetrieben wurden, Fischerboote, Hausboote, flache Last- und Frachtkähne, die alles mögliche transportierten, von Nutzholz und Kohle bis zu Gemüse und anderen Gartenerzeugnissen, ja, sogar bis zu Blumen. Auch die Landschaft veränderte sich bei der Flußfahrt schneller als auf dem Landweg. Eine Zeitlang eilte der Strom von Wien an ziemlich rasch zwischen schilfbestandenen und bewaldeten Ufern dahin. Dann jedoch wurde der Fluß breiter und verlangsamte seinen Lauf. Zu beiden Seiten dehnte sich Ackerland, und sämtliche Landarbeiter schienen Frauen – derb -1046-
und breithüftig mit Kopftüchern und Faltenröcken zu sein, die mit Hacken und Schaufeln, Sicheln und Dreschflegeln umgingen. Die Bauernhäuser, eigentlich nur Lehmhaufen, die gelegentlich jedoch weiß getüncht waren, wirkten so ausladend wie die Frauen. Da alle Häuser Strohdächer aufwiesen und jeweils im Schutz eines Heuhaufens lagen, die manchmal selber die Ausmaße eines Hauses hatten und dabei drei- bis viermal so hoch waren, wirkten sie von der Flußmitte aus, als trügen sie sämtlichst Strohdächer, die viel zu groß für sie waren. Dann wichen die Äcker linkerhand Weingärten mit Kelterhäusern und hochgetürmten Fässerhaufen. Diese wiederum gaben vereinzelten Werkstätten und Schmieden Raum, deren Zahl immer größer wurde und die immer dichter zusammenrückten, bis sie das Gewerbegebiet vor einer Stadt bildeten. Bald glitt die Stadt selbst ins Blickfeld mit ihren mittelalterlichen Fachwerkkonstruktionen, steilen Schieferdächern, vielen Türmen und Türmchen, unzähligen hohen Schornsteinen, manche von Storchennestern gekrönt, in denen manchmal sogar gebrütet wurde. Hinter und über der Stadt ragte auf einem Hochplateau eine prachtvolle alte Burg. »Die Stadt Pozsony«, sagte Florian. »Auf deutsch: Preßburg«, sagte Willi. »Bratislava«, ergänzte Banat. »Die Hauptstadt der Slowakei und früher Hauptstadt von ganz Ungarn.« »Auf jeden Fall«, sagte Florian, »überschreiten wir hier eine Grenze der Doppelmonarchie. Hinter uns liegt Österreich. Linkerhand die österreichische Provinz Slowakei. Und rechterhand Ungarn – oder Magyarorszäg, geschrieben zwar MA-G, doch ausgesprochen wie M-A-D. Madyar. Aber da gibt es noch andere linguistische Absonderlichkeiten in Ungarn. Du, Kapellmeister, heißt hier Beck Carl. Oder Beck Bumbum, wenn dir das lieber ist.« »Dann wäre ich also Fitzfarris John Foursquare?« ließ Sir -1047-
John sich vernehmen. »Himmel, was für ein Land ist das, das nicht einmal seinen eigenen Namen richtig schreiben kann und überhaupt alles umdreht?« »Das klingt schlimmer, als es ist«, sagte Willi. »Zweite Sprache ist hier deutsch und bis auf die Landbevölkerung spricht das jeder. Und wenn Sie sich in Bayern oder Österreich verständlich machen konnten, geht das hier in Ungarn nicht weniger gut.« »Außerdem gibt es nicht nur viele Absonderlichkeiten, sondern auch viele, viele Köstlichkeiten«, versicherte Florian ihnen allen. »Aber was hast du nur, Zachary? Freust du dich denn gar nicht auf die Abenteuer, die jetzt auf uns zukommen? Du wirkst etwas bekümmert.« »Ach, eigentlich nicht. Ich mußte nur gerade denken, daß ich jetzt weiter östlich bin, als Autumn jemals gekommen ist. Und sie würde hier Auburn Autumn geheißen haben – was allerdings nicht minder melodiös klingt.« Drei oder vier Kähne hinter ihnen, saß Monday Simms auf den Treppenstufen ihrer Maringotte. Mit umwölkter Stirn und ohne etwas von der Schönheit der Landschaft wahrzunehmen, ließ sie die slowakische Seite an sich vorüberziehen. In der Nähe stand Jean-Francois Pemjean, der seit der Nacht nach Schönbrunn auch nicht gerade vor guter Laune sprühte. In dem Bemühen, sie beide ein wenig aufzuheitern, nahm er allen Mut zusammen und fragte Monday, warum sie denn die Fahrt nicht genieße. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, sagte sie: »Geht kein’ was an!« »Eh bien, wenn es niemand was angeht, kann ich mich ja an jeden wenden. Sag’s mir doch.« Monday plinkerte mit den Augen, wandte ihm dann den verschleierten Blick zu, versuchte, die Logik dieser Bemerkung zu ergründen, falls sie denn eine hatte, und sagte schließlich: -1048-
»Was mich fuchst, is’, daß ich mein’ Mann verlier’.« »Ach. Solltest du le bleu Sir John meinen?« Sie wandte den Blick ab und nickte verloren. »Der hat sich in Wien ’ne weiße Schnepfe angelach’. Un’ letzte Nacht, uns’re allerletzte Nacht da, hat er mit ihr verbrach’. Un’jetzt fährt er nich mal auf’n selben Kahn mit mir.« »Ich kenne mich in den Arrangements der Truppe zwar nicht allzu gut aus, aber – seid ihr beide verheiratet?« »No, gottverflucht! Auch dazu isses nie gekomm’.« »Alors, dann ist doch klar, was du zu tun hast. Dir en revanche einen weißen Mann anlachen.« Grämlich sagte sie: »Un’ ich dacht’, das hätt’ ich.« »Aber er ist halb blau. Ich habe mich schon immer gefragt, wieso er auf ein so hübsches Mädchen wie du es bist, anziehend wirkt. Außerdem ist er auch noch wesentlich älter als du ... und ich.« Wieder drehte Monday den Kopf, allerdings sehr, sehr langsam diesmal, und betrachtete Pemjean abschätzend. »Tatsache is’ ...«, sagte sie, »daß ich das nich’ war.« »Comment?« »Von ihm angezog’n. Er war’s, der mich dazu gebracht hat, mich mit ihm einzulass’n.« »Comment?« »Ach, verstehst du, Mr. Dämon, als ich anfing, bei der Show mitzumach’n, war ich bloß ’ne Weiße Pygmäin inner Sideshow. Ich wollt’ ja Hohe Schule reit’n lern’ – un’ Mam’selle Asch’nputtel aufm Seil sein. Aber er wollt’ mich nich’ vonner Sideshow freigeb’n, eh’ ich nich’ ... naja.« »Scandaleux!« entfuhr es Pemjean. »Und ich hatte Sir John immer für einen Gentleman gehalten. Aber was für eine grobschlächtige, was für eine jedes Feingefühl vermissen lassende Art, ein Mädchen zu verführen.« Er streckte die Hand -1049-
aus, um ihr übers Haar zu streichen. »Pauvre Cendrillon!« »Naja ... un’ jetzt komm’ ich fürn annern Mann ja nich’ mehr in Frage ...« »Mademoiselle!« erklärte er scharf. »Derart vorsintflutliche Ansichten kannst du doch einem Franzosen nicht zumuten! Ich, Pemjean, kann das überhaupt nicht so sehen! In meinen Augen bist du höchstens für die Freuden und Möglichkeiten des Lebens geweckt worden.« »Aber ich bin nich’ wie John Fitz. Ich kann nich’ von einer Blüte zur ander’n schwirr’n ...« »Mais oui kannst du das! Dazu gehört doch nur ein wenig Phantasie, ein wenig Mut und ein bißchen französische Leichtigkeit! Zu der ich dir leicht verhelfen könnte.« Jetzt betrachtete sie ihn unverhohlen neugierig und schien die Möglichkeiten zu erwägen. »Un’ weit stattlicher is’ er auch noch«, murmelte sie halblaut. »Und möglicherweise auch beständiger.« Mehr für sich als eigentlich für sie bestimmt, setzte er dann noch hinzu: »Une amourette avec une mulátresse – nun, diese reizvolle Erfahrung fehlt mir noch.« Die Kitartö führte jetzt die wie an einer Perlenschnur aufgereihten Lastkähne in einem gemessenen Tanz durch die Kanäle, welche sich durch zahlreiche Inseln in der Strommitte hindurchzogen, und vielleicht war es auch die schaukelnde Bewegung, die Monday dazu brachte, kaum merklich die Schenkel aneinander zu reiben. Pemjean merkte es dennoch, enthielt sich aber jeder Bemerkung. Statt dessen zeigte er über die dunkelnden Äcker der Slowakei und sagte: »Die Sonne geht unter, es wird Nacht. Helas, ich habe keine Lust, zu Bett zu gehen, muß ich doch den Wagen mit dem Hanswurst teilen, der wirklich wie Wurst riecht, und dem -1050-
Kesperle, der womöglich noch worse schlimmer – riecht. Voilá, wie findest du das, zwei Sprachen zu nehmen, und einen Scherz daraus zu machen? Mademoiselle Cendrillon – ich bemühe mich, dich aufzuheitern und zum Lächeln zu bringen.« Sie lächelte. Ja, sie lachte sogar. Dann stand sie auf und machte die Wohnwagentür auf. »Nun, Mr. Demon – heute nacht, zumindest – is’n Platz leer in dies’ Maringotte!« Die ganze Nacht tanzte und wiegte die Kette der Lastkähne sich auf den Wellen, und die Menschen, die schlafend oder mit anderen angenehmen Dingen beschäftigt, in ihren Kojen lagen, genossen dieses sanfte Gewiegtwerden. Als sie am nächsten Morgen aufstanden, lagen die Inseln hinter ihnen. Es ging jetzt geradenwegs nach Osten, zwischen den beiden Städten Komärom auf der ungarischen und Komärno auf der slowakischen Seite hindurch – Städte, die hauptsächlich aus großen, lauten, dampfenden und rauchenden Werftanlagen bestanden. Danach gab es nichts weiter zu sehen als sanft gewellte Felder auf dem linken Ufer. Auf dem rechten Ufer jedoch tauchten immer wieder kleine, aber fröhlichbunt angestrichene, blitzblanke Dörfer auf und dann die von ihrer Kathedrale überragte Stadt Esztergom. Dort verkündete Florian: »Die Slowakei haben wir jetzt hinter uns. Was wir ab hier an beiden Donauufern sehen, ist Ungarland.« Gleichsam, als gälte es, diesen Eindruck zu untermauern, wölbte das Land sich auf beiden Ufern zu hohen und hübsch bewaldeten Hügeln auf. Und als wäre dem Fluß daran gelegen, möglichst viel von dieser reizvollen Landschaft darzubieten, schlängelte er sich immer wieder hin und zurück – Süden, Osten, Norden und wieder Osten –, vollführte dann einen entschlossenen Schwenk nach Süden und führte, in dieser Richtung weiterfließend, an weiteren auf Hügelkuppen angesiedelten malerischen kleineren Ortschaften sowie zwei Städtchen vorüber, dem von Burg und Schloß beherrschten -1051-
Visegräd und dem von vielen Kirchtürmen überragten Szentendre. Doch südlich von Szentendre machten sich in dem Grün der Landschaft wieder die schmutzigen Werkstätten und Gießereien störend bemerkbar, bis dann große Fabriken das Bild noch mehr verschandelten und die reine, duftende Luft mehr und mehr von dem säuerlichherben Geruch von Brauereien und dem modrigen Gestank von Lohgerbereien verpestet wurde. »Ach, die Zeichen der Zivilisation«, sagte Florian. »Eines jedoch muß man den Ungarn lassen: Sie siedeln ihre Fabriken jedenfalls weit außerhalb der Städte und auf der dem Wind abgekehrten Seite an.« »Ja, sind wir denn da?« fragte Goesle. »In Budapest?« »In gewisser Weise, ja. Eigentlich sind das drei Städte: Im Moment fahren wir an dem auf dem rechten Donau-Ufer gelegenen Öbuda -Alt-Buda – vorüber. Gleich kommen wir dann zu dem eigentlichen Buda, das ebenfalls auf dem rechten Ufer liegt. Dort werden wir wegen der Einreiseformalitäten kurz anlegen müssen. Aber Buda ist so hügelig, daß es uns schwergefallen wäre, eine ebene Stelle zu finden, das Chapiteau darauf aufzuschlagen. Deshalb wird die Kitarto uns zu der flachen Stadt Pest hinüberschleppen, wo wir ausladen und unsere Parade bis zum Festplatz machen werden.« Plötzlich zerteilte eine Inselspitze die Donau wie der Bug eines Schiffes in zwei Flußarme. Der Schlepper wählte den rechten Donauarm und tuckerte an der dicht bewaldeten Insel entlang. »Das ist die Margareten-Insel«, sagte Willi. »Die Königstochter Margarete hat hier in einem Kloster gelebt. Jetzt hat man hier heiße Quellen entdeckt, mineralhaltige Heilquellen. Deshalb werden große Hotels gebaut, die Bäder anbieten, jede nur denkbare Krankheit zu heilen. Als ob es nicht schon genug Heilbäder hier gäbe.« »Ah?« machte Carl Beck interessiert. -1052-
Das keilförmige hintere Ende der Margareten-Insel blieb hinter ihnen zurück und gab den Blick frei auf die weit hingestreckte flache Stadt Pest auf dem entfernteren Ufer. Die terrassenförmig den Hang hinaufführenden Straßen von Buda tauchten auf dem nähergelegenen rechten Ufer auf. Der Schlepper drängte von der Kanalmitte zu eben diesem Ufer hinüber, verlor an Fahrt und näherte sich langsam einem langen, steinernen Pier, wo er es mit viel Geschick schaffte, jeden der ihm folgenden Lastkähne an dieser Anlage festmachen zu lassen. Die Schlepperbesatzung sprang an Land und belegte die Fahrzeuge an den Pollern des Piers. Danach erst gingen auch die Circusleute an Land – wobei Pemjean Monday galant die Hand reichte –, um sich die Beine zu vertreten, und auf Anweisungen zu warten. Der Pier war nichts weiter als die Flußseite des weitläufigen, mit großen Steinplatten gepflasterten Bomba-Platzes, der an seinem einen Ende von einer Kirche und ihren Nebengebäuden begrenzt wurde und am anderen von großen Verwaltungsbauten. Die landwärtsgelegene Seite des Platzes wurde vollständig von einem langgestreckten, dreistöckigen Gasthaus samt Nebengebäuden, Stallungen und Scheunen eingenommen. Das Hauptgebäude wies ein geschwungenes Dach auf, dessen Ziegel wellenförmig über die Mansardenfenster hinweggingen; über dem Haupteingang hing gleichsam als Wirtshausschild oder Wahrzeichen ein großes, weiß angestrichenes Holzkreuz. »Das ist das altehrwürdige und weithin berühmte Gasthaus zum Weißen Kreuz«, erklärte Florian. »Endstation der Bahnlinie Wien-Budapest und gleichzeitig für alle Flußreisenden. Ich muß jetzt dem Zoll und den Paßbeamten unsere Konuitenbücher bringen.« So ging er, einen Stapel Konuitenbücher unterm Arm, über den Platz hinweg dorthin, während die Circusleute hin- und herspazierten und versuchten, von der Stadt mitzubekommen, was man von der Flußebene aus erkennen konnte. Das -1053-
gegenüber gelegene Pest schien aus einem Meer unterschiedsloser Häuser städtischen Charakters zu bestehen; nur ganz selten wurde die Eintönigkeit der Dächer von einem Kirchturm oder einer Kuppel unterbrochen. Doch auf der Budaer Seite der Donau, über ihnen und ein wenig weiter nach Süden zu, erhob sich ein gewaltiger Hügel mit Treppen, Bastionen und Mauern, die sich im Zickzack von ganz unten bis zu der trutzigen Burg ganz oben hinaufzogen. Von irgendwo unten am Fluß des Hügels spannte sich anmutig eine Hängebrücke über den Fluß nach Pest hinüber. Hinter der Brücke, auf dem diesseitigen Donauufer, ragte dann noch ein hoher Hügel empor, der von weithin gelagerten, mauerbewehrten Festungsanlagen gekrönt wurde. »Der nähergelegene Hügel, das ist der Burg-Hügel«, sagte Willi Lothar. »Und das dort ist die berühmte Kettenbrücke über den Fluß, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst. Sie werden erkennen, daß sie an Ketten hängt, nicht an Stahltrossen. Und dahinter, das ist der Saint-Gellerts-Hügel mit der Zitadelle.« »Soweit ich es von hier aus sehen kann«, sagte Yount, »endet die Brücke unmittelbar am Burg-Hügel.« »Enden tut sie dort durchaus nicht«, sagte Willi. »Sie mündet dort vielmehr in einen Tunnel ein. Von dort, wo die Straße auf der anderen Seite wieder herauskommt, windet sie sich ganz zur Burg hinauf. Hier in Ungarn wird über die Brücke viel gewitzelt. Die Einheimischen werden Ihnen sagen, die KettenBrücke bedeutet ihnen so viel, daß sie sie bei Regen in den Tunnel hineinziehen, damit sie nicht rostet.« Florian trat aus dem Gasthaus heraus, überquerte den Platz, und schien etwas aus der Fassung gebracht, als er die kleine Gruppe erreichte. »Ach«, sagte er, »im Gegensatz zur leichtlebigen, frisch geeinten Nation der Italiener scheinen die Ungarn besonderen Wert darauf zu legen, ihr kleines Bißchen neugewonnener -1054-
Souveränität herauszukehren und machen das mit viel Wichtigtuerei. So muß zum Beispiel jeder einzeln reingehen, sein Konuitenbuch vorlegen, etwaige Fragen beantworten, und guten Eindruck machen und so weiter. Und noch was: Die Beamten weigern sich, irgendeine andere Sprache zu sprechen als das Magyarische. Ich werde mich also danebenstellen und dolmetschen müssen.« Artisten wie Racklos standen erst einmal Schlange und betraten dann einer nach dem anderen die Halle des Gasthauses, die als Büro für die Einreisebehörde diente. Die Befragung war kein strenges Verhör; es ging vornehmlich darum, das, was aus den Konuitenbüchern ohnehin ersichtlich war wie Namen, Alter, Beruf und dergleichen, bestätigt zu bekommen. Was die meisten vor allem irritierte, war die Umstellung der Namen. Einer von ihnen jedoch mußte schon mit etwas mehr fertig werden. »Geezle Dai?« rief polternd ein uniformierter Beamter. »Himmel!« stöhnte Stitches. »Dai Gwell. Ich mein’, entschuldigen Sie, Sir. Goesle Dai.« »Ejha, Gwe-l-l. Goesle ürr, valläs. Dissenting Methodist. Mi az?« Florian trat vor und erklärte: »Ah ... Methodist jelent metodista.« »Es dissenting? Elszakadäs?« Florian tat so, als müsse er sich kurz mit Goesle verständigen. Dann erklärte er den Beamten auf magyarisch: »Dissenting bedeutet, daß Goesle Dai dabei ist, sich vom bösen protestantischen Methodismus loszusagen und zurückzukehren in den verzeihenden Schoß der Mutter Kirche.« »Eljen!« ließen sich alle Uniformierten begeistert vernehmen, standen auf, drückten dem völlig verdatterten Dai ausgiebig die Hand, strahlten ihn an und wünschten ihm »isten hozott«. Hernach warfen sie kaum mehr als einen flüchtigen Blick in die Konuitenbücher der noch nicht überprüften Circusleute. -1055-
Florian sah nach seiner alten Uhr und sagte: »Wo wir schon mal in diesem Gasthaus sind und es gleich Zeit zum Abendessen ist, laßt uns hier essen. Abdullah, lauf zurück zur Kitartö, frage den Kapitän – das läßt sich auch mit einer Geste machen –, ob er nicht Lust hat, sich uns mit all seinen Leuten zum Essen anzuschließen, ehe er uns auf die andere Seite hinüberbringt.« Die Schlepperbesatzung kam dieser Aufforderung mit Begeisterung und viel Appetit nach. Im riesigen verräucherten Speisesaal mit der tiefen Balkendecke setzten sie sich mit Willi sowie Florian, die sich mit ihnen unterhalten konnten, an einen der langen Bohlentische, während der Rest der Gesellschaft an anderen Tischen Platz nahm und zum erstenmal Bekanntschaft mit der ungarischen Küche machte. Es gab keine Speisekarte, von der man wählen konnte; die hübschen drallen Saaltöchter brachten einfach das Tagesgericht. Der Gasthof zum Weißen Kreuz war es gewohnt, müde Reisende wieder munter zu machen, und so war die Mahlzeit deftig und reichhaltig zugleich. Als die Gesellschaft nach dem Essen schwerfüßig zu den Lastkähnen zurückkehrte, meinte LeVie zu Florian gewandt: »Ich hoffe, Monsieur le Gouverneur, daß wir jetzt nicht mit der Parade in die Stadt beginnen. Ich glaube, ich könnte nicht einmal den Arm zum Winken heben.« »Keine Sorge«, sagte Florian. »Wir werden Wagen und Maringottes an Land schieben, die Tiere versorgen und uns dann tüchtig ausschlafen, ehe wir uns morgen früh an die Parade machen.« Es war jetzt ganz dunkel, so daß die Besatzung des Schleppers an ihrem eigenen Fahrzeug und an jedem der Lastkähne Positionslateren entzündete. Der Schlepper tutete immer wieder, als er – schräg flußabwärts vorstoßend – die Kähne in einer Kette hintereinander den breiten Strom hinunterschleppte und brachte es irgendwie fertig, daß keiner der Kähne mit den anderen auf dem Fluß fahrenden Fahrzeugen kollidierte. Der -1056-
schräg verlaufende Kurs brachte den Schleppzug auch unter der Ketten-Brücke hindurch, die plötzlich zu einer wie durch Zauberhand in der Luft hängenden Kette aus weißen Lampen mit pfirsichfarbenem Schimmer wurde. Die lange Brücke verlief so hoch überm Wasser, daß man unten nicht das geringste vom Geratter der pferdegezogenen Wagen, Kutschen und Rollwägen vernahm, die ständig darüber hinwegfuhren. Doch nicht alle von der Truppe bewunderten das Bild. Fitzfarris fuhr jetzt auf demselben Kahn wie Monday mit; sie hieß ihn auf den Stufen ihrer Maringotte Platz nehmen und redete sehr ernst und mit vielen dramatischen Handbewegungen auf ihn ein. Dann winkte sie Pemjean, zu ihnen zu kommen, und auch der sprach sehr ernst und mit vielen temperamentvollen Gesten auf Fitzfarris ein. Dieser saß da, hörte zu und machte ein leicht bedrücktes Gesicht, schien aber zugleich auch ein wenig erleichtert, wenn nicht gar belustigt. Nur einmal runzelte er die Stirn, als Pemjean nämlich seine Argumente zusammenfaßte und sagte: »Ich denke, du wirst mir zustimmen, ami, daß du eigentlich keinen begründeten Anspruch auf die junge Dame hast – wo du doch anfangs contrainte benutzt hast, um sie dir gefügig zu machen.« »Was genau bedeutet contrainte?« fragte Fitz kalt. »Warte, nicht erklären, ich will raten. Erpressung?« »Hm ... oui. Druck, Zwang. Es ihr unmöglich machen, in ihrer Karriere weiterzukommen, es sei denn, sie sei dir zu Will...« Fitzfarris lachte, doch klang das alles andere als belustigt. »Ja, das wäre nicht gentlemanlike von mir gewesen, nicht war? Das wäre fast zannihaft gewesen, nicht wahr, Monday?« Doch Monday schien plötzlich in die Betrachtung des bestirnten Nachthimmels vertieft und hörte ihm anscheinend gar nicht zu. »II n’importe pas«, sagte Pemjean ein bißchen verunsichert. -1057-
»Wir werden darüber hinwegsehen, es vergessen. Ich gehe davon aus, daß wir drei trotzdem bon amis bleiben und ...« »Ach, ganz vergessen würde ich’s an deiner Stelle nicht, mein Freund. Aber ich wünsche dir viel Spaß mit ihr.« Und so zog Sir John anstelle von Pemjean in die Maringotte von Hanswurst und Kesperle. Auf einem Lastkahn ein wenig weiter hinten pinkelte Spyros Vasilakis über das niedrige Schanzkleid hinweg. Normalerweise hätte er das nicht in aller Öffentlichkeit getan, doch er hatte tief in das Tokaier-Glas geschaut, und so stand er jetzt da und stöhnte und wand sich, hielt sich dabei an der Halterung der Positionslaterne fest und hätte diese in seiner Qual fast herausgerissen. »He du, Spyros!« dröhnte Pavlo Smodlaka laut, als er unvermittelt aus dem Dunkel auftauchte und teilnahmsvoll grinste. »Das Pissen tut dir weh?« Peinlich berührt nickte Spyros. »Weißt du, was das bedeutet? Daß du dir ’n Tripper geholt hast, einen Hosenschnupfen, eine Pariser Erkältung.« »Was?« sagte Spryros. »Soviel ich weiß, heißt das in deiner Sprache khonorrein.« »Was?« wiederholte Spryros entgeistert. »Hast du mit einer von Monsieur le Demons Freundinnen yebla gemacht?« »Was?« wiederholte Spyros, von Entsetzen gepackt. Sich freundschaftlich und hilfreich gebend, berichtete Pavlo ihm von Pemjeans geheimem Buch, in dem es um »eine gewisse Krankheit« ging. Dann zerriß Pavlo sich ausgiebig den Mund darüber, was für dreckige Schweine diese Franzmänner doch seien, und bekundete tiefes Mitleid mit Spyros, sich das schändliche Leiden des Dämons zugezogen zu haben. Doch Spyros stellte mit verzerrtem Gesicht das schmerzhafte Getröpfel ab, entfernte sich eilends und knöpfte sich auf der -1058-
Suche nach seiner Frau die Hose zu. In diesem Augenblick legte der Schlepper an einem langgestreckten Pier an – diesmal an dem der Pester Seite. Die Schlepperbesatzung belegte die Haltetaue aller Kähne an den Pollern und half den Circusleuten dann, Wagen und Maringottes von den Kähnen hinunterzuschieben sowie die Pferde, das Kamel und die Elefanten an Land zu bringen. Alles in allem dauerte es zwei Stunden, den gesamten Circus auszuladen und vom Pier zum Corso hinüberzubringen, jenem weiten Platz, der an ihn angrenzte. Dort wurden sämtliche Wagen säuberlich nebeneinander aufgestellt, die nicht in Käfigen befindlichen Tiere angehalftert, gefüttert und getränkt. Dann fielen die meisten Artisten und Racklos dankbar in ihre Kojen oder auf ihre Lagerstätten – wobei Fitzfarris Notkin und Spenz erstaunt grunzen ließ, als er ihre Maringotte betrat und sich ohne jede Erklärung in die Koje fallen ließ, die bislang Pemjean innegehabt hatte. Nur in einem Wohnwagen blieb die Lampe noch lange brennen – in der der Vasilakises –, und die Bewohner der anderen Maringottes wurden durch den Lärm, der von dort herüberdrang, am Einschlafen gehindert. Am lautesten zu hören war zweifellos Spyros’ wütendes Geschrei, doch auch Melis lautes Schluchzen war vernehmbar – vom Klatschen der heftigen Schläge, die er ihr gab, ganz zu schweigen. Spyros fuchtelte mit einem seiner Säbel in der Luft herum, war aber immerhin so rücksichtsvoll, nur die flache Seite zu benutzen und Meli auch nur dann damit zu bearbeiten, wenn ihm der Strom griechischer Flüche einmal versiegte und auch dann nur an Stellen, die nicht zu sehen sein würden, wenn sie für die Parade in ihr Kostüm schlüpfte. Schließlich jedoch gebot sie ihm Einhalt, indem sie erklärte: »Wenn ich alles zugebe, würdest du dann endlich aufhören, mich zu prügeln? Ja, ich habe getan, was du mir vorwirfst, aber ...« -1059-
»Du Hure! Wenn ich zurückkomme, benutze ich die Schärfe der Klinge! Ich kann dir nicht mehr wehtun, als mein armer peos mich schmerzt. Aber vorher bringe ich ihn um!« »Nein, nein! Es war ja gar nicht Monsieur Pemjean.« Wenn Spyros es hörte, so achtete er jedenfalls nicht darauf, sondern schoß hinaus in die Nacht. Es dauerte eine Weile, bis er die Maringotte gefunden hatte, die er suchte. Er stürmte zur Tür hinein, tastete sich bis zu Pemjeans Koje vor, stieß mit der Spitze seines Säbels zu und brüllte: »Steh auf, Franzose! Ich bringe den Tod!« »Ow! Je-sus!« brüllte Fitzfarris und versuchte fieberhaft, sich an die Rückwand der Koje zu drücken. Auch vom anderen Ende des Wohnwagens vernahm man lautes Geraschel, und einer der Clowns riß ein Streicholz an. »Sir John!« rief Spyros völlig verdattert. »Hast du mich betrogen?« »Was? Bist du wahnsinnig! Mach doch mal jemand eine Lampe an!« Notkin tat eben dies, doch Spyros ließ sich nicht davon abbringen, und wollte immer wieder wissen: »Sir John, du hinter meinem Rücken bei deiner Frau gelegen?« »Sag mal, schlafwandelst du, blöder Grieche? Und mit einem Säbel in der Hand! Schau, mein Hintern blutet! Einer von euch Clowns nehme ihm mal dieses Mordinstrument ab!« Keiner der beiden Spaßmacher rührte sich, beide verfolgten nur entsetzt das Geschehen. Mit äußerster Vorsicht schob Fitz sich aus der Koje heraus – seine lange Unterhose hinten jetzt von Blut gerötet – und sagte so vernünftig, wie es nur irgend ging: »Spyros, wach auf! Du hast einen Alptraum! Ich bin’s doch, dein Freund Foursquare John!« »Jawohl ... du Freund«, sagte Spyros blöde. »Du Meli nicht angerührt. ’Schuldigung, Sir John. Ich geh’ Pemjean finden und ihn umbringen!« -1060-
Er wandte sich zum Gehen, woraufhin Fitzfarris ihn ansprang, ihm den Säbel entwand und ihn weiterhin gepackt hielt: »Du träumst ja immer noch, Mann. Wach auf und sag mir – was soll das ganze mit Meli überhaupt? Du hast doch hoffentlich nicht sie erstochen, oder?« »Noch nicht. Später. Erst Pemjean.« »Bildest du dir etwa ein, Meli und Pemjean hätten was miteinander gehabt ...?« Und als Spyros wie benommen nickte und zu weinen anfing: »Nun, soviel kann ich dir sagen, daß das einfach nicht stimmt. Denn dieser Pemjean ist viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, eine andere zu umgarnen. Erst heute abend haben wir beide – er und ich – ein Gentleman’s Agreement getroffen. Er ist bei Monday eingezogen, und die war bis heute mein Mädchen.« »Stimmt wirklich, Sir John?« fragte Spyros schniefend. »Ja, es ist wirklich wahr. Wenn Meli dich wirklich betrogen hat – was ich persönlich bezweifle –, solltest du sie lieber dazu bringen, dir zu gestehen, wer der Schuft war, statt in stockfinsterer Nacht rumzulaufen und unschuldige Menschen aufzuspießen! Komm, ich bring dich zurück und werde mal ein Wort mit ihr reden. Ich muß mir nur eine Hose anziehen!« Meli stand völlig zerzaust und händeringend unter der lampenerhellten Tür ihrer Maringotte, spähte suchend über die Weite des Corso hinweg und machte vor Freude einen Satz, als sie die beiden kommen sah. »Ach, Sir John, du hast ihn erwischt«, rief sie mit jammernder Stimme. »Hat mein armer Spyros Mord verübt? Um Gottes willen, sag nein.« »No, ma’am. Bloß verstümmelt hat er jemand«, sagte Fitzfarris. »Laßt uns reingehen. Es braucht ja nicht der ganze Circus mitzukriegen!« »Ich habe versucht, es ihm zu sagen«, stöhnte sie, als Fitz den mit hängenden Schultern dasitzenden und zerknirschten Spyros ins Wageninnere schob und die Tür hinter sich zumachte. »War -1061-
ja nicht Monsieur Pemjean!« »Davon, glaube ich, habe ich ihn bereits überzeugt«, sagte Fitz und warf den Säbel in eine Ecke. »Und ich weiß, Meli, daß du niemals ...« »War Furchtbarer Türke«, sagte sie aufschluchzend. »Meli!« entfuhr es dem wie vom Donner gerührten Fitz. »Weib!« brauste ihr Gatte da auf. »Das hast du getan – mit eingeschworenem Feind?« »Ach, Spyros, Spyros ... doch nur, damit er nicht mehr unser Feind ist.« »Was, zum Teufel, soll das bedeuten: Feind?« wollte Fitzfarris wissen. »Schlaft ihr beide noch und träumt, oder bin ich es, der nicht klar bei Verstand ist?« Meli erklärte es. Das dauerte eine Weile, und Spyros fuhr zwischendurch immer wieder aus der Haut, wurde jedoch von Fitzfarris immer wieder auf den Stuhl gedrückt. Meli fuhr fort: »Ich dachte, es würde zu unserem Besten sein ... für uns beide, Mann.« Und da schwiegen sie alle drei eine geschlagene Minute. Schließlich räusperte Fitzfarris sich und sagte: »Ihr müßt doch begreifen, Meli, Spyros – wenn wir anderen auch nur eine Ahnung gehabt hätten, was für eine Bedrohung Shadid für euch war, wir hätten ihn mit Sicherheit von einem Augenblick auf den anderen an die Luft gesetzt. Himmel, ich hatte ja nicht einmal eine Ahnung, daß Griechen und Türken jemals Krieg miteinander geführt haben. All dies hätte nicht geschehen oder sich gar solange hinziehen müssen!« Er räusperte sich nochmals. »Aber es ist nun einmal geschehen. Ich werde gleich morgen ein Wörtchen mit Florian reden. Shadid wird dich nie wieder belästigen, Meli, dafür garantiere ich. Und, Spyros, ich kann nur hoffen, daß du es fertigbringst, Meli zu verzeihen – und ihr zu danken – für all das, was sie um deinetwillen auf sich genommen und durchgemacht hat.« -1062-
Fitz stand auf und bemühte sich, als aufrechter und edler Freund der Familie dazustehen, doch diese schöne Wirkung wurde zunichte gemacht, als der Stuhl mit ihm in die Höhe ging. Dann löste sich die blutige Sitzfläche von seiner Hose, und der Stuhl fiel wieder zu Boden. »Idoú!« rief Meli. »Du bist verwundet! Laß mich verbinden!« So mußte Fitz die Hose herunterlassen, die Unterhose aufmachen und sich behandeln und verbinden lassen, ehe er in sein neues Zuhause zurückkehren konnte. Als erste standen am nächsten Morgen Willi Lothar, Dai Goesle, Aleksandr Banat, die Racklos und die Schausteller auf und wurden zusammen mit den Fahrzeugen, die bei der Parade nicht erwünscht waren, von Willi Lothar zum Festplatz geführt, den er zwei Kilometer vom Corso entfernt im Pester Stadtpark für sie gemietet hatte. Mit dem Aufstellen des Zuges für die Parade wartete Florian, bis die Straßen voll waren von Menschen. Als die Parade endlich begann, ging es zunächst durch einige ziemlich enge Gassen am Uferbezirk, bis sie auf die breite Avenue Sugär gelangten, wo die sich drängenden Menschen den Einzug auch wirklich sehen und bewundern konnten. Wie gewöhnlich führte Florian den Zug an, die Kapelle fuhr auf einem Wagen direkt hinter ihm und spielte schwungvoll; den Schluß bildete die Dampforgel, die noch schwungvoller als sonst röhrte. Doch diesmal kam etwas Neues zu der Parade dazu, und dieses Neue blieb nicht in Reih und Glied, sondern scherte ständig aus. Es handelte sich um den Furchtbaren Türken auf dem Veloziped, der überall auftauchte. Wie besessen den Clown spielend und Fratzen schneidend, radelte er die Kolonne der Circuswagen hinauf und hinunter, eilte ihr manchmal voraus und fiel bisweilen hinter sie zurück, kurvte zwischen den Wagen hindurch, schoß wieder aus der Kolonne heraus, fuhr mitten -1063-
unter das wirbelnde Flic-Flac der Chinesen und umrundete die bedächtig dahintrottenden Elefanten und das Kamel. Er fuhr auf die Zuschauer zu, so daß die Leute erschrocken auseinanderspritzten, und kreischte dabei vor Vergnügen. Manchmal trat er rückwärts in die Pedale, rollte auf dem kleinen Hinterrad aufgerichtet und bisweilen freihändig dahin, wobei er die Arme vor der Brust kreuzte. Er radelte in Toreinfahrten hinein, und wo immer bei einem Haus ein paar Treppenstufen vorsprangen und zum Bürgersteig hinunterführten, riß er das Veloziped hoch, fuhr die Stufe entlang und rollte wieder herunter. »Er war ein Riesenerfolg!« überschlug Florian sich vor Begeisterung, als die Parade sich am Festplatz auflöste und sämtliche Pester, die ihnen gefolgt waren, sich um den Roten Wagen drängten, um Eintrittskarten für die erste Vorstellung zu ergattern. »Von jetzt an muß Shadid bei unseren Paraden immer dabei sein.« Fitzfarris sagte: »Ich muß mit dir über ihn reden, Governor.« »Später, Sir John, später. Das gibt auf Anhieb ein ausverkauftes Haus. Nutzen wir die Gunst der Stunde. Die Schausteller sind ja schon fast soweit, daß sie anfangen können, ihre Verkaufsstände aufzumachen. Hol deinen Feuerschlucker, daß er vorm Eingang Flammen speit, und locke mit deinem deutschen Gebrabbel die Leute an! Das hilft, die Gaffer bis zum Vorstellungsbeginn zum Geldausgeben zu animieren.« »Du bist der Boss, Governor«, sagte Fitz und machte sich auf die Suche nach seinem Feuerschlucker. Das Chapiteau und die beiden Anbauzelte standen bereits, die Wimpel flatterten und die meisten Racklos waren dabei, das Gradin aufzubauen. Die Schausteller entzündeten die Glut unter den Kesseln für die gebrannten Mandeln, stellten Fäßchen mit Bier und Brause auf und breiteten ihre Andenken zum Verkauf aus. Die Dampforgel war am Anfang der Budengasse aufgestellt -1064-
worden und pfiff und dröhnte. Die anderen Wagen, die an der Parade teilgenommen hatten, wurden in der gewohnten Anordnung hinter dem Chapiteau aufgestellt. Die Artisten waren überall dabei, Requisiten und Geräte zu entladen, und die Tiere in das Stallzelt zu führen. Fitzfarris ging davon aus, daß Spyros dabei war, seine Flaschen mit Petroleum und Olivenöl sowie anderes Zubehör auszupacken und wanderte durch das allgemeine Durcheinander, um ihn zu suchen. Spyros jedoch war schnurstracks zur Maringotte des Türken gegangen, vor der Shadid stand und sich nach der langen und anstrengenden Fahrt auf dem Veloziped den Schweiß abtrocknete. Dort trat Spyros auf ihn zu und rief: »Hey, Türkei« Shadid machte angesichts der ungewohnten Schroffheit, mit der er angeredet wurde, ein leicht erstauntes Gesicht, sagte aber verächtlich nur: »Hey, Wurm!« »Du hast Tripperkrankheit, denk’ ich.« »Wahrscheinlich«, sagte der Türke ungerührt. »Die hab’ ich im allgemeinen immer. Na, und?« Dann brach er in ein dröhnendes Lachen aus. »Ach so, hat sie sich angesteckt? Und den Stallnieser an dich weitergegeben? Wie entsetzlich! Bei einer halben Portion wie dir tut es ja so weh, daß du weinst, würd’ ich mal meinen.« »Jawohl, ich weine«, sagte Spyros und zog den Dolch hinten aus dem Gürtel, wo er ihn versteckt hatte. Shadid warf einen Blick auf die blitzende, auf ihn gerichtete Klinge. Wahrscheinlich wäre es ihm ein leichtes gewesen, Spyros den Arm auszureißen und ihm den Dolch samt Arm und Hand in den Bauch zu rammen, doch er sagte nur verächtlich: »Du stichst ja doch nicht zu!« Die Klinge zitterte, als Spyros sich anspannte, um zuzustoßen. Doch dann bekam er plötzlich einen albernen Schluckauf und ließ den Arm sinken. »Du hast recht, Türke. Ich bin nicht wie du.« Drehte sich um, ging davon und hatte das Lachen von -1065-
Shadid noch lange in den Ohren. »Spyros! Wo bist du gewesen?« fragte Meli besorgt, als er in ihre Maringotte zurückkehrte. »Sir John sucht dich überall.« »Ich bin hingegangen, den Türken umzubringen«, sagte er bekümmert. »Aber ich hab’ ihn nur angezittert. Ich brauche den Kerl nur zu sehen und schon bricht mir der kalte Angstschweiß aus, und ich bekomme einen Schluckauf. Ich konnte ihn nicht töten.« »Selbstverständlich nicht. Du bist ein guter Mensch, mein Gatte. Und ein guter Mensch rächt sich nicht, sondern vergibt seinen Feinden.« »Ich wollte gar nicht mich rächen, sondern dich, Weib Meli!« »Wenn du mir nur verzeihst, Spyros. Das reicht mir. Ich war dir nicht wirklich untreu und werde es nie sein.« »Ich weiß. Ich weiß. Du bist besser Frau als ich Mann.« »Sei du nur liebender Gatte. Mehr verlange ich nicht. Und Sir John hat versprochen, daß wir uns niemals wieder fürchten noch verstecken müssen. Idoú – Sir John! Du sollst dich beeilen und vorm Eingang mit dem Feuerschlucken anfangen!« »Ja, ich gehe.« Spyros schickte sich an, seine Requisiten aufzunehmen. »Wenn ich zurückkomme, Meli, fangen wir ganz neues Leben an. Das Vergangene soll Vergangenheit sein.« Er hatte immer noch seinen Schluckauf, dann küßte er sie schüchtern wie ein frischgebackener Ehemann. Sie erwiderte seinen Kuß. »Geh jetzt und zeige, was du kannst!« »Wo hast du gesteckt, Spyros?« fragte Fitzfarris. »Auch mit dem Megaphon – mein Deutsch ist nicht besonders attraktiv. Steig hier herauf und spiele mal Vulkan.« »Werde besser machen, als du je gesehen hast, Sir John«, erklärte Spyros glücklich. Er schwang sich zur Plattform hinauf, stellte seine Flaschen auf und entzündete seinen Kienspan, während Fitz die Flüstertüte auf die Budengasse richtete. -1066-
»Nur hergesehen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der feuerschluckende Grieche!« Nur wenige Leute wandten den Kopf, um hinzusehen, wie Spyros den ersten Schluck Petroleum in den Mund nahm, den Kopf in den Nacken warf, die Lippen schürzte und den brennenden Kienspan hob. Fitzfarris jedoch sah zufällig hin, und was er sah, war ein Ausbruch, wie er ihn bei dem Gefräßigen Griechen noch nie gesehen hatte. Unmittelbar, bevor Spyros das Petroleumgesprüh an dem brennenden Holzspan vorüberblasen sollte, schien er zu schlucken, und die geblähten Backen stülpten sich hohlwangig nach innen. Seinem Mund entsprang nur ein kleines Fläminchen – dann vernahm man ein gedämpftes Wummm. Nicht nur seine Backen blähten sich und barsten, sondern fast alles übrige von ihm auch. Wozu die Saratoga Stunden benötigte, schaffte Spyros im Bruchteil einer Sekunde, so als wäre er an die Kraftpumpe des Gasentwicklers angeschlossen und diese hätte ihn im Nu prall gefüllt. Brustkasten und Bauch blähten sich so ruckartig und mit einer solchen Heftigkeit, daß sein schwarzes Trikot an den Nähten platzte. Das ganze Gesicht schwoll an, der Mund klaffte auf, die Nasenflügel weiteten sich und die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Nach dem einen kümmerlichen Aufflammen löste sich Rauch aus Mund und Nase und quoll hinter den Augäpfeln hervor. Dann brach er zusammen, qualmte aber noch eine ganze Zeitlang hinterher. Noch einmal suchte Fitzfarris die Maringotte der Vasilakis auf. Meli saß auf den Treppenstufen, stickte an irgend etwas und begrüßte ihn fröhlich: »Wo du hast meinen Gatten gelassen, Sir John?« »Er wird nicht mehr heimkommen, Meli«, sagte Fitz sanft und brachte ihr so schonend wie möglich bei, was geschehen war. »Florian hat es einen Rohrkrepierer genannt. Als ob Spyros das Petroleum irgendwie eingeatmet oder verschluckt hätte.« Meli starrte den Boden an und murmelte: »Er hat gesagt, er -1067-
kriegt Schluckauf vom Anblick des Türken ...« »Nun, ich hatte so meinen Verdacht, als ob der Streit mit Shadid etwas damit zu tun haben könnte und habe das dem Prinzipal auch gesagt. Ich habe ihm die ganze Geschichte erzählt. Und der Türke ist fort. Florian hat ihn sofort ausgezahlt« – Fitz schnippte mit den Fingern – »und Shadid zog ab, fluchte aber gottserbärmlich, als ich dazukam. Du wirst ihn nie wiedersehen, Meli. Aber ... wenn du Spyros ein letztesmal sehen willst ... Maggie Hag hat ihn – hm – gewaschen und im Roten Wagen aufgebahrt, bis der Beerdigungsunternehmer kommen kann. Maggie wird hierher zurückkommen mit dir und dir Gesellschaft leisten, solange ...« »Nein!« erklärte Meli mit Entschiedenheit. »Du hast viel von Sideshow verloren, Sir John. Du bist sehr gütig zu uns gewesen; ich lasse nicht zu, daß jetzt auch noch ich ausfalle. Das Spyros bestimmt nicht wollen. Wie immer bin ich in der Pause ›Medusa‹ und nach der Vorstellung ›Jungfrau und Drachen‹.« »Das ist zwar sehr tapfer von dir, aber nicht nötig. Ich bin sicher, Clover Lee erklärt sich bereit, wieder als ›Bathseba‹ aufzutreten und ...« »Ich griechische Frau«, sagte Meli und hielt den Kopf stolz gereckt. »Seit Troja wissen griechische Frauen, wie man Tod am besten betrauert. Indem man weiterlebt.«
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2 So schrumpfte das Programm des FLORILEGIUM erneut, so daß Yount sein altes Quakemaker-Solo als Kraftmensch ebenso wieder aufnehmen mußte wie sein Tauziehen mit Brutus, das an die Stelle des Kräftemessens mit dem Furchtbaren Türken trat. In der Sideshow hatte Sir John nur zwei richtige Nummern zu bieten – seine eigene als Bauchredner mit dem kleinen Fräulein Handschuh, und als Lebendes Bild die ›Medusa‹ mit den Schlangen – denn alles, was er sonst vorzuweisen hatte, waren Exponate, die sich nicht bewegten: die Kinder der Nacht, die Mumie der ägyptischen Prinzessin, wieder er selbst als Tätowierter Mann und der Auerhahn oder siketfajd, wie er hier in Ungarn hieß. Yount erbot sich freiwillig, in seiner Freizeit die Kunst des Velozipedfahrens zu erlernen – was er auch tat und in welcher er mindestens so gut war wie Shadid, wenn er auch nie das Geschick und die Gelenkigkeit von Cecil Wheeler erreichte –, und bald schaffte er es sogar, mit der auf seinen Schultern stehenden Daphne dahinzuradeln; schließlich gelang ihm sogar der jähe Halt und Kopfsprung über die Lenkstange hinweg in den brennenden Kübel. »Ist auch nicht viel anders als bei Tom’s Brook hoch zu Roß in Güsters Kugelhagel reinzureiten«, sagte er nach seinem ersten zum Glück – gelungenen Versuch. An dem unter einem unglücklichen Stern stehenden Premierentag hatte Florian die nächstgelegene Polizeiwache aufgesucht, um das Ableben von Spyros Vasilakis zu melden – was hier in Ungarn weder behördliches Interesse wachrief noch zu einer Untersuchung führte, wie das in Österreich oder Bayern unweigerlich geschehen wäre. Die Circusleute waren von Budapest genauso entzückt wie Budapest offenbar von ihnen. Der Pester Stadtpark war ein wunderschöner Festplatz. Zwar war er kleiner als der Prater in Wien, wies aber jede nur denkbare Art von -1069-
Landschaftsgestaltung auf – dichte Gehölze bis zu samtweichen Rasenflächen, leuchtende Blumenbeete und Teiche mit Schwänen, Springbrunnen und Wasserfällen, Wege für Reiter und Fußgänger. Auch dieser Park besaß einen kleinen Vergnügungspark mit Karussell, Schiffsschaukel, Spielplatz für die Kinder und zahlreiche kleine Verkaufsstände. In gebotener Entfernung von diesem Treiben stand das elegante und anmutige Gundel’s Restaurant, dessen Speisesäle und Eßzimmer mit Wandtäfelungen, Lederund Plüschsitzgelegenheiten, Kronleuchtern an der Decke und Leuchtern auf den Tischen ausgestattet waren; die Kellner steckten im Frack und waren bei Bedienung und Service von diskreter und unaufdringlicher Beflissenheit. In der Küche waren die besten Küchenchefs damit beschäftigt, das zarteste Fleisch zuzubereiten, das in Pest oder Buda zu haben war. Die Circusleute speisten dort, sooft sie nur konnten. »Hier in Ungarn gibt es eine Art Sprichwort«, sann Florian nach einer Mahlzeit, die mit einem Bugac-Mandelaperitif und einer Schattennnorellen-Kaltschale begann, sich über Hecht in Gurkensauce und einem Zigeuner-Gulyäs aus verschiedenen Fleischsorten, Spargel, Nudeln in Kümmelsahne und grünen Paprika-Schoten fortsetzte. Dazu tranken sie Aszü-Tokaier und beschlossen das Mahl mit einem ›Indianer‹ genannten, schokoladenüberzogenen Sahneblätterteig. »Die Ungarn sagen: ›Wenn wir es uns leisten könnten, so gut zu leben, wie wir leben – ah!, wie gut wir dann leben würden.‹« Richtig zufrieden war Edge nicht. Insgeheim fragte er sich sogar, ob er womöglich dabei sei, den Verstand zu verlieren. Vor einem Monat etwa hatte ihn die offenkundige und doch so unmögliche Ähnlichkeit einiger Portraits in Schloß Schönbrunn leicht beunruhigt. Und jetzt hier, in einem ganz anderen Land, hatte ihn während zweier Abendvorstellungen nacheinander ein vertrautes Gesicht unter den Zuschauerinnen beunruhigt. Ob es denn überhaupt denkbar sei, sann er, daß der Kummer und das -1070-
sehnsüchtige Verlangen eines Mannes nach einer Frau, die er verloren – ein Verlangen, das dieser Mann bewußt nicht hochkommen lassen wollte –, im Bewußtsein eben dieses Mannes doch irgendwelche Risse und Spalten fanden, um sich Bahn zu brechen und ihn mit Halluzinationen zu quälen? Als sich dies bei einer weiteren Abendvorstellung wiederholte, beschloß Edge, den Stier bei den Hörnern zu packen und herauszufinden, was es sei: Wahnvorstellung oder Phantom. Wie schon die Male zuvor kam die Frau in Begleitung einer anderen Frau; beide waren verschleiert und beide nahmen erst im letzten Moment – während der Parade, als die Aufmerksamkeit des Publikums auf das farbenprächtige Schauspiel gerichtet war – die für sie reservierten Plätze für besondere Gäste ein; erst dort lüfteten sie den Schleier. Bei der Begleiterin handelte es sich um eine in mittleren Jahren stehende Frau mit einem alltäglichen Gesicht; die andere war ... Beide blieben immer im Chapiteau und mischten sich nicht unter die Menge, die sich auf der Budenstraße drängte, winkten aber auch nicht Magpie Maggie Hag herbei, ihnen aus der Hand zu lesen; im übrigen hatten sie immer zu den ersten gehört, die den Circus verließen. »Autumn?« sagte Edge schüchtern, als er auf sie zutrat. Sie machten große überraschte Augen und ließen sofort den Schleier herunter. Diejenige, die er angesprochen hatte, fragte argwöhnisch: »Beszel ön magyar?« Edge starrte sie nur sprachlos an. »Sprechen Sie deutsch?« Jetzt, da der Schleier heruntergelassen war, konnte sie die Autumn der letzten Tage sein. Doch ohne Schleier war sie die Autumn, wie sie ausgesehen hatte, als er sie kennenlernte. »Tiens, parlezvous francais?« Edge schüttelte sich, um wach zu werden, und murmelte: »Un petit peu.« -1071-
Sie lachte, und es war das Lachen Autumns. »Öhn pütti pö? Dann gibt es also wirklich einen Amerikaner in diesem amerikanischen Circus. Ich hatte Sie ja nie sprechen, sondern immer nur auf der Trillerpfeife pfeifen hören.« Sie hob den Schleier, und der in seinen Grundfesten erschütterte Edge stammelte: »Ich tu’s ja auch nicht, Ma’am, viel sprechen, meine ich.« Nein, das Haar dieser Frau hatte mehr einen Bronzeton als einen kastanienroten Schimmer. Doch die Augen waren die gleichen: braun, blütenblättrig mit Goldsprenkeln darin. Auch der Mund, stets so, als wolle er gleich lächeln, war der gleiche... »Warum haben Sie mich mit diesem einen Wort angeredet?« Edge schüttelte sich nochmals. »Es ist ein Name, Ma’am. Autumn. Der Name von jemand, den ich kannte.« Sie legte kokett den Kopf auf die Seite und setzte ein blendendes Lächeln auf: »Und hätte dieser Jemand nichts dagegen, wenn Sie sich an andere Frauen heranmachten?« »Verzeihung. Aber Sie sehen ihr so ähnlich. Auch sie war – wunderschön.« »Vielen Dank. Aber wenn wir uns gegenseitig Komplimente machen, sollten wir uns einander vielleicht vorstellen. Zufällig haben Sie meinen Namen fast richtig genannt. Ich bin allerdings nicht Autumn, sondern Amelie, Gräfin von Hohenembs.« »Dann bedaure ich meine Zudringlichkeit um so mehr, Euer Gnaden«, sagte Edge und verneigte sich. »Sie möchten in dieser Umgebung gewiß inkognito bleiben. Ich bin Zachary Edge, der ...« »Sprechstallmeister, natürlich. Meine Gefährtin ist die Bäronö Festetics Marie. Es ist uns ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen, Edge ür.« Sie reichte ihm die behandschuhte Hand; Edge beugte sich darüber und streifte sie mit den Lippen. »Ich selbst«, fuhr sie fort, »bin eine Amateurreiterin und von klein auf jemand, der den Circus über alles liebt. Leider kann ich -1072-
meiner dilettierenden Leidenschaft nur heimlich frönen. Das einfache Volk könnte es als Skandal empfinden oder tief betrübt sein, daß ihre – nun, jemand von ihren pompous Leuten Freude an etwas so Freizügigem oder Leichtfertigen wie einem Circus hat.« »Gräfin, wenn Sie soviel vom Circus verstehen, daß Sie mich den Sprechstallmeister nennen und nicht Ansager« – er lächelte –, »dann sind Sie wirklich keine Dilettantin.« »Bitte nicht lächeln, Edge ür.« »Diese Bemerkung war als Lob gemeint, Euer Gnaden, und nicht als Zudringlichkeit.« »Ich weiß, ich weiß. Trotzdem sollten Sie niemals lächeln. Sie sehen weniger häßlich aus, wenn Sie nicht lächeln. Hat Autumn Ihnen das nie gesagt?« »Naja, schon. Vielleicht nur nicht ganz so direkt.« »Ein Titel gibt einer Frau das Vorrecht, kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Ich sage Ferenc – das heißt, meinem Mann – genau das Gegenteil. Daß er sich ab und zu dazu durchringen sollte zu lächeln.« »Das Vorrecht liegt ganz beim Grafen«, sagte Edge. »Von einer so charmanten Gräfin auf so etwas hingewiesen zu werden.« »Oh, oh«, sagte sie und faßte ihn genauer ins Auge. »Solange Sie nicht wieder versuchen, es mit Ihrem fräuleinhaften Französisch zu tun, können Sie sehr galant sein. Für einen Amerikaner.« »Ich tue mein möglichstes«, sagte er bescheiden. »Euer Gnaden, wenn Sie Lust hätten, hierzubleiben bis – bis all das einfache Volk gegangen ist, das heißt, bis nach dem Finale – vielleicht erweisen Sie mir dann die Ehre, Ihnen und der Baronin zu zeigen, wie unser Circus gewissermaßen hinter den Kulissen funktioniert.« -1073-
Sie überlegte, sagte dann jedoch: »Das könnte ... unvorsichtig sein. Sehen Sie, wie Marie allein bei der Vorstellung davon die Stirn runzelt?« »Dann vielleicht ein andermal?« sagte Edge fast drängend; er wollte sie einfach nicht gehen lassen. Wieder gehen lassen, wie er es bei sich nannte. Strahlend sagte sie: »Un prete pour un rendu. Warum zeige ich Ihnen nicht meinen Circus?« Die Baronin Festetics runzelte die Stirn auf womöglich noch warnendere Weise, doch die Gräfin nahm sie nicht zur Kenntnis. »Können Sie sich für ein paar Tage frei nehmen, Edge ür?« »Wieso ... ich denke, schon, ja. Ja, gewiß kann ich das. Nur ... Ihr Circus, Euer Gnaden?« »Ach, nichts Aufregendes, Sir, aber immerhin meiner. Wahrscheinlich wird er Ihnen eines von Ihren häßlichen Lächeln abringen. Kennen Sie das Städtchen Gödöllö? Im Moment halte ich mich in meinem in der Nähe gelegenen Landhaus auf. Es ist nur eine Fahrt von wenigen Stunden dorthin – wenn man schnell fährt. Ich schicke Ihnen einen Wagen. Bitte, ganz zwanglose Kleidung, nur zum Dinner nicht. Sagen wir: heute in einer Woche?« Edge erklärte, ja, das wäre wunderbar; er werde sich darauf einstellen. Dann plauderte er noch eine Weile – selbst die Baronin taute soweit auf, daß sie ein paar nette englische Worte zur Unterhaltung beisteuerte –, bis die Kapelle anfing ›Wait for the Wagon‹ zu spielen und die »einfachen« Leute ins Chapiteau zurückströmten. Edge nahm seine Pflichten als Sprechstallmeister wieder auf, und zwar so schwungvoll, wie schon seit langem nicht mehr; auch seine Kunstschützennummer als Colonel Ramrod absolvierte er mit ungewohnten Gesten und Schlenkern, und seine Buckskin-Billy-Nummer ritt er mit halsbrecherischer Bravour. Bei jeder Verbeugung verneigte er sich unmittelbar vor der Gräfin Amelie. Sie applaudierte mit hocherhobenen Händen, -1074-
so daß er sie sehen konnte – Adlige trampeln nicht mit den Füßen –, und Edge mußte sich zusammennehmen, um sie nicht anzugrinsen. Als die Vorstellung zu Ende ging, huschten die beiden Damen diesmal nicht bereits während des Finales hinaus, so daß Edge die Chance hatte, ihnen Auf Wiedersehen zu sagen. Und als die Gräfin sich erhob, um zu gehen, stellte er fest, daß sie auch insofern anders war als seine winzige Autumn, denn sie war ein ganzes Stück größer als diese. Aber sie hatte die gleiche kurvenreiche Figur und eine unglaublich schlanke Taille. Edge hatte mit niemandem über seine »Halluzinationen« gesprochen und offensichtlich war die Frau auch keinem der anderen aufgefallen. Was jedoch allen auffiel, war sein neues schwungvolles Auftreten wie früher. Nachdem die letzten Gaffer gegangen waren, näherte Florian sich Edge, um besorgt zu fragen: »Ist während der Pause etwas passiert, Zachary? Du bist plötzlich so – hm – aufgekratzt.« »Das kann man wohl sagen, Governor. Ich möchte mir nächste Woche für ein paar Tage freinehmen.« »Mon dieu! Stimmt was nicht mit dir, Junge?« »Fast hatte ich das befürchtet, doch vorhin habe ich festgestellt, daß eben doch alles in Ordnung ist. Es war doch nicht Autumn sondern eine Gräfin Soundso.« »Ach?« machte Florian und trat einen Schritt zurück. »Vielleicht solltest du wirklich ein paar Tage ausspannen, alter Freund.« »Ich bin nicht plemplem, Governor. Ganz im Gegenteil. Ich habe mich selten besser gefühlt. Sie hat mich in ihr Landhaus eingeladen – die Gräfin, die ich heute abend kennengelernt habe. Amelie – soweit erinnere ich mich noch an den Namen. Du ermunterst uns doch immer, Freundschaft mit hochgestellten Persönlichkeiten zu schließen, stimmt’s? Falls sie dem Circus mal nützlich sein könnten?« »Durchaus, durchaus, geh nur, mein Junge, geh nur! Du hast -1075-
ja nie richtig Urlaub gehabt, seit du dich uns angeschlossen hast. Wenn schon die Aussicht darauf dich so beflügelt – der Besuch als solcher sollte dir unendlich gut tun.« Die nächste Woche hindurch verwendete Edge einen Großteil seiner Freizeit darauf, einen Schneider aufzusuchen, den Willi ihm empfahl, und sich bei diesem zur Anprobe eines Fracks einzufinden, während Clover Lee immer wieder murrte: »Alle angeln sie sich irgendwas Titeltragendes, nur ich nicht.« Sunday jedoch nahm allen Mut zusammen, Edge zu fragen: »Der ganze Circus zerreißt sich das Maul darüber, daß du ein Rendezvous mit irgendeiner geheimnisvollen Gräfin hast. Stimmt das, Zachary?« »Ein Rendezvous kann man das wohl kaum nennen, Mädchen. Das klingt mir zu sehr nach Heimlichkeiten. Und was Geheimnisvolles hat die Dame nicht – nur, daß sie Autumn geradezu unheimlich ähnlich sieht. Wenn du dich noch dran erinnerst, wie Autumn ausgesehen hat.« »Ja«, sagte Sunday niedergeschlagen. »Sie war eine schöne Frau.« »Man muß selbst schön sein, um Schönheit zu erkennen«, sagte Edge beseligt. »Du bist genauso schön, Sunday. Nur auf eine andere Weise.« »Danke. Wirst du dich denn in diese verlieben, so wie du dich in Autumn verliebt hast?« »Lieber nicht. Denn diese ist verheiratet.« Das ermutigte Sunday zu sagen: »Dann nimmst du mich vielleicht mit – ein andermal, wenn du dir wieder mal frei nimmst? Um dir Gesellschaft zu leisten?« »Aber natürlich gern doch, Sunday. Wenn die Gräfin mich noch mal einlädt, kommst du mit und setzt dein fabelhaftes Aussehen ein, den Grafen irgendwohin zu locken, damit ich sie für eine Zeitlang ganz für mich allein habe.« -1076-
Nach einem längeren verletzten Schweigen, sagte sie: »Wenn du möchtest. Doch das könnte Clover Lee besser als ich. Die würde den Grafen nehmen und nicht wieder hergeben. Und du könntest die Gräfin für immer haben.« Er hörte ihr kaum zu, sagte jedoch: »Ja, so ist das wohl.« Und Sunday ging traurig davon. Der versprochene Wagen traf am verabredeten Tag ein: eine luxuriöse geschlossene Kalesche mit einem Gespann von zueinander passenden Hackneys. Auf dem Kutschbock thronte ein livrierter Kutscher, und auf dem Bedientensitz hinten saß ein livrierter Lakai. Die meisten Circusangehörigen sahen beeindruckt zu, wie der Lakai heruntersprang, um sich Edges neugekauften ledernen Handkoffer zu greifen und im Kutschkasten unterzubringen und Edge dann den unter der Sitzbank verstauten Henkelkorb zeigte, der mit Reiseproviant, Wein und Weinbrand gefüllt war. »Das da ist das Wappen der Festetics am Wagenschlag«, sagte Florian sichtlich beeindruckt. »So also lautet der Name, der dir entfallen war. Einer der erlauchtesten in ganz Magyarorszäg.« »Nein«, sagte Edge nach einiger Überlegung, »sie war eine von Wasweißich. Ich glaube, Festetics hieß die Frau, die sie begleitete. Naja, erst mal auf Wiedersehen, ihr alle.« Mit diesen Worten berührte er seinen neuen grauen Reisehut. »Ich bin bald wieder da.«
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3 Unmittelbar nach Verlassen des Stadtparks wandte die Kalesche sich nach Nordwesten und ließ nach kurzer Zeit die letzten Vororte von Pest hinter sich. Edge lehnte sich zurück, um die Szenerie zu genießen, doch das Land links und rechts von dieser Straße war so flach und uninteressant, daß er den größten Teil der Fahrt über döste. Gelegentlich, wenn die Straße besonders holperig war, wurde er so durchgerüttelt, daß er aufwachte; dann griff er nach dem Henkelkorb unter seiner Sitzbank, um sich ein Stück gebratenes Huhn oder Dobostorta herauszuholen oder um sich einen Schluck Wein zu genehmigen. Kurz vor Sonnenuntergang wurde er ein letztes Mal geweckt, weil die Räder plötzlich die kurzatmige Vibration übertrugen, die entsteht, wenn eine Kutsche über Kopfsteinpflaster rollt. Er schaute hinaus und erkannte, daß er über eine windungsreiche Straße durch einen ziemlich weitläufigen Park fuhr, der freilich nicht von Menschenhand gestaltet schien, sondern offenbar natürlich belassen war. Er fuhr durch Waldstücke und an Weiden vorbei, und zweimal wollten die beiden Pferde stehenbleiben, als ein Hirsch mit ausladendem Geweih vor ihnen über die Straße setzte. »Ihr Landhaus«, murmelte Edge ironisch, als dieses vor ihm auftauchte: ein schönes Schloß aus unregelmäßigen Steinen und mit vielen Türmen sowie Fenstern mit rhombisch geschnittenen Scheiben darin, reichgeschnitzten Türen und rankenden Glyzinien und Kletterrosen davor. Seltsamerweise wurde er jedoch nicht vor dem Haupteingang abgesetzt; die Kalesche fuhr vielmehr durch einen Torweg zur Rückseite des Schlosses und rollte auch noch an den Nebengebäuden vorbei. Endlich hielt sie vor den Stallungen, und der Lakai machte den Wagenschlag auf, um ihn aussteigen zu lassen. Gewiß, die Stallungen waren kaum weniger prächtig als das Schloß selbst – aber ob sie hier lebte? Hatte sie nur -1078-
angegeben, als sie von Titeln und Vorrechten sprach? Oder war sie vielleicht nur eine arme Verwandte der Wiehießensiedochnoch? Oder gehörte sie schlicht zum Personal? Dann hörte er Musik. Neben einer runden Koppel spielte ein Mann, ganz offensichtlich ein Stallknecht, wenn auch mühsam, einigermaßen flotte Zigeunerweisen auf einem Akkordeon. Auf der Rundkoppel liefen zwei anmutige ungesattelte Araber im leichten Galopp im Kreis herum. Auf ihrer Kruppe stand jeweils ein in weißes Oberteil und schwarze Hose gekleidetes schlankes Wesen; anfangs konnte Edge im dämmerigen Licht nicht genau erkennen, ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Sie absolvierten akrobatische und tänzerische Übungen der Stehendreiterei fast genausogut wie Clover Lee, nahmen reizvolle Posen ein, standen auf einem Bein, hüpften gelegentlich wie mühelos von den Pferden auf den obersten Balken des Koppelzauns und balancierten dort solange, bis die Pferde wieder bei ihnen angelangt waren und sie ihnen auf die Kruppe springen konnten. Voller Vergnügen sah Edge zu, bis schließlich einer der Reiter zu Boden sprang, sich durch die Querlatten des Zauns hindurchzwängte, auf ihn zukam und sich dabei ein schwarzes Bolerojäckchen über das weiße Hemd zog. Ihr Gesicht glühte reizvoll von der Anstrengung, doch ging ihr Atem keineswegs keuchend. Amelie trug keinerlei Schminke – die hatte sie nicht nötig – und das bronzefarbene Haar war hübsch nach Bäuerinnenart zurückgebunden, so daß es ihr in Wellen bis zur Hüfte herunterhing. Sie hätte genausogut eine Stallhelferin sein können, eine ungemein bezaubernde allerdings, nur, daß ihr Hemd aus feinster weißer Seide bestand und Hose wie Bolero aus schwarzem Samt. Tadelnd sagte sie: »Wie ich befürchtet habe – Sie lächeln, Edge ür. Lassen Sie das doch, bitte!« »Verzeihung. Aber ich war voll der Bewunderung.« Er -1079-
verneigte sich, und sie reichte ihm die Hand zum Kuß. Diesmal trug sie keine Handschuhe und es war weder die Hand einer professionellen Reiterin, noch die rauhe Hand eines Dienstboten. So beeilte er sich hinzuzusetzen: »Euer Gnaden.« »Bernie!« rief sie dem Stallburschen zu und winkte ihm, mit dem Spielen aufzuhören. Dann rief sie: »Elise!« und winkte den anderen Reiter herbei. »Ist das hier Ihr Circus, Gräfin?« fragte Edge. »Nur ein sehr kleiner Teil davon. Nur wir beide. Ich muß mich entschuldigen. Als ich Sie einlud, hatte ich ganz vergessen, daß ich all meine Parterreakrobaten und Clowns schon vorausgeschickt hatte nach Achilleion. Aber immerhin – ich möchte Sie mit Fräulein Elise Renz bekanntmachen.« Fräulein Renz war genauso jung und fast ebenso schön wie die Gräfin. Ohne Umschweife streckte sie ihm die Hand zum Schütteln hin und nicht zum Küssen – und diese Hand war die muskulöse Hand einer richtigen Reiterin. »Guten Abend, Herr Edge«, sagte sie. »Elise ist die Tochter von Ernst Jakob Renz«, erklärte die Gräfin. »Vom CIRCUS RENZ, von dem Sie gewiß schon gehört haben. Elise ist so nett, ab und zu den Circus ihres Vaters zu schwänzen und zu mir zu kommen, um nur Unterricht in der Stehendreiterei zu geben.« Mit hübsch aufgeworfenem Schmollmund sagte das Fräulein Renz etwas auf deutsch. Die Gräfin übersetzte: »Elise sagt: ›Aber wir haben keinen Sprechstallmeister, uns Befehle zu geben‹, und das stimmt. Wir brauchen einen strengen Zuchtmeister. Ob Sie morgen vielleicht so gut sein würden, die Peitsche für uns knallen zu lassen, Edge ür? Wir genießen es beide, wenn uns eine strenge Hand führt – und uns notfalls auch züchtigt.« »Ja, züchtigen!« hauchte die andere, und ihre Augen -1080-
leuchteten auf. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte Edge. »Gut.« Die Gräfin sagte ein paar Worte auf deutsch zu Elise, die glücklich aufkicherte. »Aber jetzt kommen Sie, mein Gast. Sie wollen sich gewiß frisch machen nach der langen Fahrt. Elise und Berni kümmern sich um die Pferde.« Noch einmal rief sie einen Namen: »Schatten!« und ein riesiger struppiger Hund kam aus dem Torweg des Stalles heraus. Feierlich trabte er neben ihnen her, als Edge und die Gräfin sich in Richtung Schloß in Bewegung setzten. »Dieser Hund«, sagte Edge, »wäre ja schon eine Circusnummer für sich. Der ist ja so groß wie Rumpelstilzchen, unser Zwergpferd.« »Ja. Mein ›Schatten‹ ist ein Irischer Wolfshund. Mein treuer Gefährte und Leibwächter, der mir wie ein Schatten nicht von der Seite weicht.« »Glücklicher Hund!« sagte Edge unwillkürlich. Doch dann, gleichsam als gälte es, die Taktlosigkeit zu übertünchen, sagte er rasch: »Haben Sie Ihre Reitkünste von Miß Renz?« »Oh, nein, sie hilft mir nur, nicht ganz aus der Form zu kommen. Mein Vater war es, der mich zuerst unterrichtet hat. Er machte aus seiner Reitschule einen Miniaturzoo und Circus und bildete mich schon in ganz jungen Jahren zur Kunstreiterin aus.« »Ihr Vater hat eine Reitschule betrieben? Mein Vater hat in einer Eisengießerei gearbeitet – wenn es dort Arbeit gab.« »Sie haben mich falsch verstanden. Stallungen, Koppeln und Springplätze sowie die Rennbahn, die zu einem Schloß gehören, werden schlicht Reitschule genannt – eine Art Understatement, wie Ihr Amerikaner sagt. Mein Vater war Maximilian Joseph von Wittelsbach, Herzog in Bayern.« »Ach!« »Sie haben vom Wahnsinn der Wittelsbacher gehört? Nun, -1081-
mein Vater war nur in milder Form verrückt. Er besaß eine Leidenschaft fürs Circusleben. Einmal – ich war damals noch blutjung – verkleideten wir beide uns als Landstreicher und zogen zu Pferde durch Bayern, ohne daß man uns erkannt hätte. Kamen wir zu einem Gasthof, spielte er Zither, und ich machte meine Kunststückchen zu Pferde. Hinterher mußte ich dann mit dem Hut in der Hand unter den Zuschauern Sammeln gehen.« Sie lächelte wehmütig. »Es ist das einzige Geld, das ich je in meinem Leben verdient habe. Und mein Vater wohl auch, glaube ich.« Edge gluckste, doch es klang ein wenig hohl. »Aber dafür habe ich die Verrücktheit meines Vaters geerbt – und einen Teil seines Circus – die Tiere, die Zwerge – und habe sie seither behalten. Mein eigenes Kind war als Sechsjähriger äußerst nervös und schüchtern. Um ihm Furchtlosigkeit beizubringen, habe ich ihn über Nacht in einen Zoo voll wilder Tiere eingesperrt. Oh, selbstverständlich mußte Rudis Hauslehrer sich in der Nähe verstecken – für alle Fälle. Ich würde meinen Sohn nie mit Absicht einer Gefahr aussetzen.« »Natürlich nicht. Trotzdem, ich nehme an, er hat diese Nacht nie vergessen.« »Er ist immer noch sehr nervös«, sagte sie beiläufig. »Tut mir so leid, daß ich die Tiere und den Rest meines Circus nicht hier behalten habe, um es Ihnen zu zeigen.« »Wenn ich nur gekommen wäre, einen Circus zu sehen, Euer Gnaden, hätte ich in Pest bei meinem eigenen bleiben können.« Für diese Bemerkung schenkte sie ihm einen gefühlvollen und dankbaren Blick, ließ sich aber in ihrem Geplauder nicht unterbrechen. »Wie ich schon sagte, habe ich sie nach Achilleion geschickt, wo ich für gewöhnlich überwintere. Das ist mein Besitz auf Korfu. Ich habe ihn selbst entworfen – im griechischen Stil.« Inzwischen waren sie dem weißbekiesten Weg über den -1082-
Rasen bis zu der großen plattenbelegten Terrasse vor dem Schloß gefolgt; überall standen mannshohe Bronzeurnen, die überquollen von Blumen. In jeden der verwitterten Steinpilaster, welche die Balustrade der Terrasse flankierten, war ein neuer Stein mit eingemeißeltem Wappen eingesetzt worden. Edge fiel auf, daß dieses Wappen sich von dem am Wagenschlag der Kalesche der Festetics unterschied; gleichzeitig war er sich sicher, dieses Wappen irgendwo schon einmal gesehen zu haben. »Ah, Sie haben die kleinen Hinzufügungen bemerkt«, sagte die Gräfin. »Ja, ich habe dies Schloß erst voriges Jahr geschenkt bekommen. Ich liebe es sehr, mehr als irgendeines meiner anderen. Nur im Winter nicht. Dann entfliehe ich in die Sonne.« Edge überlegte, wer denn wohl Schlösser zu verschenken habe und wieviele sie denn besitzen mochte, sagte jedoch nichts. Lakaien machten die Eingangstür auf, und sie betraten eine Halle, deren Wände mit Bannern, Schilden und antiken Waffen geschmückt waren. Die Baronin Festetics stand bereit, der Gräfin aufzuwarten. Nachdem sie in einem Knicks vor ihr versunken war, machte sie sogar in Edges Richtung die Andeutung eines solchen. »Sie erinnern sich natürlich an Marie«, sagte die Gräfin. »Und das hier ist mein Haushofmeister, Baron Nopsca.« Dieser vornehme Herr verneigte sich und klappte die Hacken zusammen. »Und das hier ist Hirschfeld, der Ihr Kammerdiener sein wird. Nur muß ich Ihnen von vornherein sagen, daß alle Dienstboten hier ausschließlich magyarisch sprechen.« Sie senkte die Stimme, so daß sie nur mehr ein Flüstern war. »Damit ich, ohne belauscht zu werden, in anderen Sprachen sprechen kann. Und auch sehr Intimes sagen kann.« Dann sprach sie in normaler Lautstärke weiter: »Sie werden jedoch sehen, daß Hirschfeld seine Pflichten kennt und nicht erst auf Befehle oder Anweisungen wartet. Er wird Ihnen jetzt Ihre Gemächer zeigen. Gegessen wird heute abend um acht, allerdings nicht im großen -1083-
Speisesaal, sondern im Elfenbeinzimmer. Hirschfeld wird Sie hinbringen.« Edge war, als er die schön geschwungene Treppe hinaufgeführt wurde, wie benommen und nahm wie im Traum wahr, daß sein Kammerdiener sogar Untergebene hatte: einen Lakaien, der seinen Koffer trug, und ein anderer, der mit einem Tablett mit einem Krug heißen Wassers, Waschbecken und verschiedenen Toilettenartikeln einherschritt. Die »Gemächer« – ein Schlafraum mit Himmelbett, ein Frühstücks- und ein Badezimmer – waren von solcher Pracht, daß Edges Benommenheit nur noch zunahm. Gleichwohl versank er nicht sofort in sybaritischer Trägheit, sondern bestand darauf, sich selbst zu waschen und zu rasieren, obwohl er dieserhalb einen regelrechten Kampf mit Hirschfeld ausfechten mußte. Als der Kammerdiener seinen Koffer auspackte, schnaubte er dabei voller Verachtung. Offenbar mißfiel ihm die Qualität des Inhalts. Dann jedoch ließ Edge sich von ihm beim Ankleiden helfen, war er doch nicht vertraut mit den Kniffligkeiten einer Hemdbrust, Kragen, Steck- und Manschettenknöpfen und dergleichen und hätte es zweifellos nie fertiggebracht, sich die weiße Schleife selbst zu binden. Als Edge das Elfenbeinzimmer betrat, schien es ihm womöglich größer zu sein denn das Haus, in dem er geboren und aufgewachsen war. Die Gräfin saß an einem elfenbeinfarbenen – vielleicht aber auch aus echtem Elfenbein bestehenden – Konzertflügel in einer Ecke des Raums und klimperte müßig irgend etwas von Schumann. Bei seinem Eintreten erhob sie sich und überließ ihren Platz einem bebrillten weiblichen Wesen, das – freilich sehr leise und einschmeichelnd – das ganze Essen mit seinem Spiel begleitete. Die Gräfin sah jetzt nicht mehr im entferntesten wie ein Stallmädchen oder eine Reiterin aus, sondern eher wie die Heldin eines romantischen Märchens. Außerdem wies sie – im Gesicht – immer noch eine so bestürzende Ähnlichkeit mit -1084-
Autumn Auburn auf, daß Edge unwillkürlich dachte: ›Ach, wäre sie doch hier. Und wie sehr wünschte ich mir, ich hätte Autumn einen solchen Rahmen für ihre Schönheit bieten können.‹ Doch die Gräfin Amelie lebte, war gegenwärtig und auch aus Eigenem eine phantastische Frau. Und ebenso war Edge weder tot noch unempfänglich für den Reiz, der von ihr ausging. Das Haar trug sie jetzt zu einem komplizierten Chignon aufgesteckt, der von einem Smaragddiadem gekrönt wurde. Auch um den Hals und die Handgelenke trug sie Smaragde. Das Kleid aus dunkelgrünem Brokat und elfenbeinfarbener Spitze war tief ausgeschnitten, um ihre bloßen Schultern und – fast bis an die Grenze der Schicklichkeit – die Brüste zur Geltung zu bringen. Der Schimmer ihrer Haut ließ das ganze Elfenbein des Elfenbeinzimmers im Vergleich dazu verstaubt und matt erscheinen. Die Taille über der Ausbauchung des Krinoletterocks war so überschlank, daß sie geradezu zerbrechlich wirkte. »Dreiundvierzig Zentimeter«, sagte sie, als ob Edge laut gedacht hätte. Gleichwohl schwang etwas Bedauern in der Auskunft mit, und sie fügte noch hinzu: »Vor meiner Heirat waren es neununddreißig Zentimeter.« Richtig, sie war verheiratet, erinnerte Edge sich. Er sagte: »Speist der Graf denn nicht mit uns, Euer Gnaden?« Es waren nur zwei Gedecke an dem nicht besonders gemütlichen Tisch aufgelegt, an dem ohne weiteres zwölf Platz gefunden hätten. »Ich hatte« – er konnte es einfach nicht über sich bringen zu sagen: gehofft – »erwartet, das Vergnügen zu haben, ihn kennenzulernen. Und Ihren Sohn.« »Mein Mann weilt im Ausland, und die Kinder sind bei ihm. Und – Zachary – förmlich anzureden brauchen Sie mich nur, wenn wir in Gesellschaft sind. En tete-átete dürfen Sie mich Sissi nennen, wie alle meine Freunde.« »Das ist schon ein merkwürdiger Spitzname für eine Frau, Ma’am. Sie wissen doch, was sissy bei uns in Amerika bedeutet -1085-
– nämlich weibisch oder Weichling – und ich glaube nicht, daß ich eine Frau so anreden sollte.« »Dann eben Amelie, wenn Sie auf etwas halbwegs Förmlichem bestehen.« Sie zog an einem Klingelzug. »Trinken Sie einen Aperitif? Amontillado? Bugac?« Ein Diener trat ein und nahm an einem elfenbeinernen Sideboard, auf dem Karaffen und geschliffene Gläser standen, Aufstellung. Sowohl Edge als auch Amelie nahmen einen Sherry, und als der Mann wieder verschwunden war, fragte Edge: »Kinder, sagten Sie? Mich hat schon erstaunt, daß Sie auch nur eines hätten, und das auch bereits sechs ist. Sie jedenfalls sehen nicht alt genug aus ...« »Heute ist Rudi zehn. Und seine Schwester fast dreizehn. Vor ihr hatte ich noch eine Tochter, doch die ist schon als Baby gestorben. Wie alt sit diese Autumn, mit der Sie mich verglichen haben?« »Noch nicht ganz vierundzwanzig. Als sie starb.« »Ach, du liebe Güte, so jung! Und gestorben? Das tut mir leid. Eine jüngere Frau ist als Rivalin schon gefährlich genug. Aber gegen eine tote kommt man fast gar nicht an. Das ist meist hoffnungslos.« »Als Rivalin?« »Alle Frauen sind Rivalinnen, Zachary, wenn nicht gar Gegnerinnen. Besonders dann, wenn ein großer Altersunterschied zwischen ihnen besteht. Ach, zu Weihnachten werde ich einunddreißig, trete also in mein viertes Lebensjahrzehnt ein.« »Von fast vierzig aus gesehen, meine ich, sind vierundzwanzig und einunddreißig jung, beziehungsweise sehr jung. Zumal Sie kaum ein Jahr älter aussehen als Autumn mit vierundzwanzig.« »Ach, dann hab’ ich mich also gut gehalten? Ein solches -1086-
Kompliment kann man nicht gerade galant nennen, Zachary.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt ...« »Außerdem bedauere ich Sie zwar Ihres Verlustes wegen, aber müssen wir deshalb den ganzen Abend über Ihre Autumn reden?« »Ich bin es doch nicht gewesen, der davon angefangen hat ...« »Nehmen wir Platz und fangen wir an.« Sie zog nochmals am Klingelzug. Vor lauter Verwirrung und auch ein wenig verzweifelt, versäumte Edge, ihr den Stuhl zurechtzuschieben, und sie sah ihn leicht verstimmt an. Doch als der erste Gang vor ihnen stand, sprachen sie wieder unbefangen von Circusangelegenheiten, während im Hintergrund ganz leise Musik erklang. Amelie machte nur noch eine weitere tadelnde Bemerkung: »Nun entspannen Sie sich doch, Zachary, und sitzen Sie nicht da, als hätten Sie einen Ladestock verschluckt – wie, ja, wie Graf Hohenembs. Auch ihm muß ich deswegen ständig Vorwürfe machen.« »Meine Tischmanieren habe ich in einer strengen Schule gelernt.« Er war strikt bemüht, die richtigen Gläser und das richtige Besteck zu beiden Seiten seines Tellers zu wählen. Edge hatte bereits kalte Garnelen in Kräutersauce zu sich genommen und war jetzt bei einer heißen Lauchsuppe, wohingegen Amelie bis jetzt nur an einem Blatt Salat genagt hatte. Im Laufe des Diners ging ihm auf, daß die Schloßküche zwei völlig verschiedene Mahlzeiten zubereitet hatte. Die seine war herzhaft und abwechslungsreich; das einzig Handfeste hingegen, das ihr serviert wurde, war irgendein blasser Fisch. Kein Wunder, daß sie ihre Wespentaille behält, dachte er. Als der Diener den Nachtisch brachte – goldgelben, mit Puderzucker bestreuten Kirschmichl für ihn und ein paar reife Kirschen für sie –, trat zusammen mit den Dienern die Baronin Festetics mit einem Silbertablett ein, auf dem ein gelber Umschlag lag. Sie murmelte etwas auf magyarisch. Amelie riß -1087-
den Umschlag auf, las den Brief, lachte und sagte: »Ein Telegramm in unserem Privatcode. Soll ich Ihnen vorlesen, was er schreibt, Zachary? ›Liebling, ankomme morgen abend. Lege nichts an außer Deinen Juwelen‹.« Peinlich berührt schloß die Baronin die Augen. Edge, der nicht wußte wohin vor Verlegenheit, stieß ein paar unzusammenhängende Laute aus, ehe er sagte: »Der Graf kommt also aus dem Ausland zurück, Euer Gnaden? Dann möchte er gewiß keinen Hausgast vorfinden ...« »Mein Mann? Ach du liebe Güte! So geistreich könnte Ferenc nie sein und auch nicht ein solch arrogantes Ungestüm aufbringen. Das hier stammt von meinem Liebhaber.« Die Baronin sah aus, als schwänden ihr gleich die Sinne. Edge brachte mit gequetschter Stimme hervor: »Nun. Dann will der bestimmt keinen Fremden in ...« »Aber Sie sind doch nun mal hier, oder?« Lange und prüfend sah sie ihn an. »Möchten Sie hinausgeworfen werden? Ihm Platz machen?« Er hielt dem Blick stand. »Nein.« »Das hatte ich gehofft. Marie, bitte, schicken Sie dem Grafen Andrässy ein Telegramm, daß ich morgen indisponiert bin. Und das vielleicht noch ein bis zwei Tage darüber hinaus. Und wenn Sie schon gehen, Marie, lassen Sie bitte der Küche ausrichten, daß der Kaffee in meinen Gemächern serviert wird.« Die Gräfin in höchsteigener Person und nicht ein Diener war es, die Edge dort hinführte, wo sie an einem niedrigen Tisch Platz nahmen. »Plus intime, nestce pas?« sagte sie. Aus irgendeinem angrenzenden Raum patschte der riesige Irische Wolfshund herbei, stupste seine Herrin mit der weichen Schnauze an, würdigte Edge kaum eines Blickes und legte sich leise knurrend neben Amelies Sessel nieder. Nach einiger Zeit kamen Diener mit einem silbernen Kaffeeservice, Tassen und Untertassen aus Sevres-Porzellan, Karaffen mit Liqueuren und -1088-
hauchzarten kleinen Gläsern. Die Gräfin entließ die Diener und übernahm das Einschenken selbst. Was Edge von ihren Gemächern sehen konnte – den Vorraum, durch den sie eingetreten waren, und den Salon, in dem sie jetzt saßen –, ließ seine eigene Suite, die er für großartig gehalten hatte, als vergleichsweise beengt erscheinen. Ihr Salon allein nahm die ganze Breite eines Schloßflügels ein; die beiden Außenseiten wurden von bis zum Boden reichenden Fenstertüren gebildet, hinter denen sich ein geräumiger Balkon dehnte. Die Fenster standen offen, so daß die feinen Musselinvorhänge sich träge im linden Nachtwind bauschten und einen Schwall der nach Rosen und Glyzinien duftenden Luft hereinließen. Edge sah sich um, nicht, um ihre Wohnräume miteinander zu vergleichen, sondern um zu vermeiden, daß er wie ein Lüstling immerzu auf das glatte, schwellende und einladende elfenbeinfarbene Fleisch starrte, das Amelie seinem Blick darbot, als sie sich zum Einschenken über den niedrigen Tisch vorbeugte. »Sie schienen übertrieben schockiert, Zachary«, sagte sie, »selbst für einen Amerikaner, als Sie hörten, daß ich einen Liebhaber habe. Ehe Sie sich dem Circus anschlossen, haben Sie zweifellos unter dem provinziellen amerikanischen Puritanismus gelitten, doch bestimmt hinterher nicht mehr. Ich kenne mich beim Circus aus.« Sie lächelte, als wisse sie über so manches beim Circus besser Bescheid als er. »Aber vielleicht glauben auch Sie, wie so viele ignorante fromme Seelen es tun, daß die höheren Stände ein reineres Leben führten.« Sie berührte die Smaragde in ihrem Haar. »Wir tragen zwar Kronen und Diademe, gewiß, aber man muß schon ein dummer Bauer oder ein Narr sein, diese für einen Heiligenschein zu halten. Vielleicht haben Sie sich aber auch eingebildet, mein erster und einziger Liebhaber zu sein.« »Den ganzen Abend über«, sagte Edge zurückhaltend, »haben Sie mir Worte in den Mund gelegt und mir gesagt, was ich zu -1089-
denken habe. Hätten Sie mich jemals danach gefragt, was ich wirklich denke, ich hätte es Ihnen mit Freude gesagt.« »Was denn?« »Daß Sie eine bezaubernde, begehrenswerte Frau sind und unter diesen Juwelen, den Spitzen und dem Brokat – nun ja: splitterfasernackt.« »Oh!« Sie errötete von dort, wo ihr Kleid begann, bis hinauf zum Ansatz ihres bronzebraunen Schöpf es. »Sie sind genauso draufgängerisch wie Andrässy.« »Und noch was denke ich: Daß Sie Mäuse haben müssen.« »Wie bitte?!« Auf so etwas war sie nicht gefaßt gewesen. »Das Schloß, meine ich. Ich höre es ständig in den Wänden rascheln.« »Haben Sie denn Ihr Leben lang in einem Zelt gelebt?« fragte sie und faßte sich wieder. »Und nie in einem richtigen Haus? Natürlich gibt es Gänge hinter den Wänden, damit die Diener im Winter die großen Kachelöfen von hinten befeuern können, ohne die Bewohner der Räume zu stören. Was Sie im Moment hören, sind die Zofen, die die Milch für mein erstes Bad bringen.« »Ihr erstes Bad? Milch?« »Und zwar ausschließlich Milch von Jersey-Kühen. Wohin ich auch reise, ich nehme immer zwei Jersey-Kühe mit. Und jeden Tag vor dem Zubettgehen bade ich in warmer Milch. Sie werden noch feststellen, daß das meiner Haut eine herrlich seidige Glätte verleiht. Hinterher werden Sie die Zofen wieder durch die Gänge huschen hören, wenn sie das Olivenöl für mein zweites Bad bringen, das ich immer nehme, wenn ein Mann mir beigewohnt hat. Was natürlich nur eine Vorsichtsmaßnahme ist; ich möchte wirklich nicht noch mehr Kinder bekommen. Und hinterher werden auch Sie durch einen dieser Gänge zurückkehren in Ihre eigene Wohnung. Meine Diener sind mir -1090-
zwar treu ergeben und verschwiegen, doch der Anstand ...« »Ich will verdammt sein, wenn ich das tue«, sagte Edge und stand auf. »Nicht einmal eine Gräfin kann von mir verlangen, auf Befehl den Beschäler zu spielen und mich hinterher davonzuschleichen ...« »Ich spreche nicht als Gräfin!« brauste sie auf. »Ich ...« Doch dann mäßigte sie sich. »Ich spreche als Frau, allerdings nicht als eine von diesen spröden, einfältigen und ständig in Ohnmacht fallenden Frauen.« »Dann behandeln Sie mich wie einen aufrechten Mann und nicht wie einen unterwürfigen Lackaffen. Muß Ihr verwegener und ungestümer Andrässy sich etwa hinterher auch durch ein Rattenloch davonschleichen?« »Wie können Sie es wagen! Andrässy ist als Edelmann geboren und heute Premierminister von ganz Ungarn. Sie jedoch sind ein gemeiner Mann!« Edge verneigte sich und sagte kalt: »Gestatten Dero Gnaden, daß der gemeine Mann sich zurückzieht?« »Nein. Setzen Sie sich!« Er blieb stehen. Mit finsterem Gesicht sah sie ihn an und sagte dann sinnend: »Es hat einmal eine Zeit gegeben – und hier in Ungarn ist das noch gar nicht so lange her –, da wäre ein gemeiner Mann, hätte er so mit jemand von Adel gesprochen wie Sie ... nun, ich hätte Sie auf einen rotglühenden Thron setzen und Ihnen eine rotglühende Krone aufs Haupt und ein rotglühendes Szepter in die Hand drücken lassen. Wären Sie gründlich durchgeschmort, aber noch am Leben gewesen ...« – sie ließ eine smaragdgeschmückte Hand sinken, um sie dem Hund zu ihrer Seite auf den Kopf zu legen, woraufhin dieser hellwach und bereit zuzupacken, den Kopf hob, – »nun, dann hätte ich Sie Schatten zum Fraß vorgeworfen.« Edge bezweifelte nicht, daß sie damals wie heute dazu imstande wäre, blieb aber abwartend stehen. Unvermittelt stand -1091-
sie auf, und plötzlich sah sie nicht mehr zornig aus. Sie hatte die Andeutung von etwas Schelmischem in ihren goldgesprenkelten Augen, als sie sagte: »Heute befehle ich nicht, sondern bitte Sie einfach, nur solange in diesem Zimmer zu bleiben, bis ich wieder da bin. Und falls Sie dann immer noch gehen wollen, steht es Ihnen frei, das zu tun.« »Euer Gnaden«, sagte er und verneigte sich. Die Seide ihrer Krinolette raschelte, und sie rauschte zum Zimmer hinaus. Edge setzte sich, nahm sich eine Zigarette aus einem Lapislazulikästchen auf dem Tisch und schenkte sich ein Gläschen Benedictine ein. Er sann noch einmal über das auf der Hand liegende nach – daß Amelie nicht Autumn und bis auf eine oberflächliche Ähnlichkeit ganz anders war als diese. Amelie war ganz sie selbst, doch was sie war, vermochte er nicht zu ergründen, weil sie ständig von einem Extrem ins andere fiel War sie eben noch herrisch, konnte sie im nächsten Augenblick verspielt sein; eben noch frank und frei und im Handumdrehen hochmütig und unnahbar. Sie blieb so lange, daß er sich bereits – nicht ganz ohne Grund – Gedanken darüber machte, ob ihre Schergen wohl dabei wären, den eisernen Thron für ihn zu erhitzen. Doch offenbar hatte sie nur in aller Ruhe ihr Milchbad genommen, denn als sie zurückkam, hatte sie das Haar heruntergelassen und die Kaskaden ihrer Locken waren alles, was sie anhatte. Stolz wie eine Königin und nicht im geringsten verschämt stand sie da – und ließ sich von ihm bewundern. Das bezaubernde Gesicht, der Elfenbeinschimmer ihrer winzigen Taille, die hochstehenden Brüste, die großen Höfe um die bereits erigierten Brustwarzen – all das hätte Autumn sein können. Doch von der Taille abwärts war sie in einer vielleicht nebensächlichen Kleinigkeit anders. Sie verfolgte, wie Edges Blick ihren ganzen Leib abtastete, doch zuletzt lächelte sie und fragte, ohne im geringsten an der Antwort zu zweifeln: »Nun, Zachary, willst du immer noch gehen?« -1092-
Edge sollte den Duft von Rosen oder Glyzinien nie wieder riechen und auch keine Milch mehr schmecken, ohne lebhaft an diese Nacht zu denken. Das alte spanische Sprichwort – Por la noche todos los gatos son gris – ›In der Nacht sind alle Katzen grau‹, hatte er zum erstenmal als junger Mann in Mexiko gehört, doch schon damals hatte er nur darüber lachen können, wußte er doch, daß das nicht stimmte und keine zwei Frauen einander gleich waren, nicht einmal im Dunkeln. Doch Amelie erwies sich als wahrhaft einzigartig in der Liebe wie in allem anderen auch. Weder seufzte oder stöhnte sie vor Lust wie die meisten anderen heißblütigen Frauen, die Edge gekannt hatte. Statt dessen begann sie bei den ersten Liebkosungen von Lippen, Zunge und Fingern vor Entzücken zu kichern wie ein kleines Mädchen, das liebevoll gekitzelt wird. Freilich hatte Edge längst entdeckt, daß sie noch in anderer Hinsicht wie ein kleines Mädchen war. Er sagte: »Du bist ja glatt wie ein Babypopo ... hier.« Atemlos sagte sie: »Die Zofe, die mich frisiert ... ich lasse mich da unten von ihr rasieren. Für mich ist das hygienisch. Aber jetzt sei still! Du hast ja schon ein rotglühendes Szepter. Laß es mich genießen. Bring mich zum Lachen.« Und genau das tat sie. Als Edge dafür sorgte, daß ihre Erregung sich steigerte, wurde aus dem Gekicher ein lustiges Lachen, das lauter und immer lustvoller wurde, bis sie konvulsivisch zuckend den Höhepunkt erreichte und dabei ein volltönendes, perlendes Lachen ausstieß. Und als sie vom Gipfel der Ekstase herunterkam, war das an ihrem Lachen abzulesen, das nach und nach in umgekehrter Reihenfolge die ganze Skala von neuem durchlief: vom Frohlocken über Fröhlichkeit bis zum leisen Glucksen wohliger Befriedigung. Letzteres zog sich eine ganze Zeit hin und hörte erst auf, als sie drängend sagte: »Nein, nicht rausziehen. Bleib, wo du bist. Ich werde ... ich werde ihn sehr schnell wieder zum Leben erwecken.« -1093-
Und jetzt setzte sie in der Tat nur diesen Teil von sich ein, drückte und ruckte an ihm und umspielte ihn rhythmisch klopfend, bis der entsprechende Teil von ihm wieder lebendig geworden war. »Wie, um alles in der Welt, machst du das?« fragte Edge bewundernd. »Übung. Ich übe alle meine Muskeln. Diesen ... oder diese ... eingeschlossen. Wer weiß, wieviele ich dort unten habe. Aber jetzt: Pst. Ich bin ... Ich bin ... oh, ja!« Diesmal durchlief sie die Skala vom wohligen Glucksen über das frohe Kichern bis hinauf zum höchsten Wogenkamm schneller als zuvor, während Edge unten ihre ekstatischen Zuckungen spürte, sich verkrampfte und sich entlud und sie dabei so ansteckend lachte, daß er es ihr gleichtat. Lange, viele Male hinterher, als sie erschöpft nebeneinander lagen und sich erholten, blieb sie stumm, um endlich doch wieder von lautlosem Lachen geschüttelt zu werden. »Ich berühre dich ja nicht einmal«, sagte Edge träge. »Was reizt dich denn jetzt?« »Ich mußte an deinen Circus denken. An die Clownsnummer. Jenen Teil, weißt du, wenn die hübsche Emeraldina die Ehefrau des verrunzelten alten Hanswurst sein soll, Kesperle ihr anzügliche Avancen macht und sie sagt: ›Mein Gatte wird es Euch nicht danken, Sir, wenn Ihr ihn zum Hahnrei macht.‹« »Und Kesperle sagt: ›Aber Ihr hoffentlich ihn, Madame.‹« Und wieder konnte Edge nicht umhin, sich ihrem Lachen anzuschließen. »Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Amelie. »Vielleicht verurteilen Sie die ungetreue Ehefrau jetzt nicht mehr ganz so rigoros.« Woraufhin er sagte: »Und ich habe Sie vielleicht davon überzeugt, daß ich doch kein prüder Puritaner bin. Nein, ich war nicht schockiert, als Sie beim Essen vorhin sagten, Sie hätten -1094-
einen Liebhaber. Ich war nur überrascht, daß Sie es gesagt haben.« »Wem hätte ich denn damit geschadet? Es war doch bloß Marie dabei.« »Und ich.« »Dummkopf!« sagte sie leichtfertig. »Selbst wenn Sie das – oder irgendetwas anderes – erzählten, es würde Ihnen doch niemand glauben.« Ein wenig verletzt darüber, wie abwertend sie das – unbewußt oder sorglos – sagte, knurrte Edge leise grollend. Woraufhin sie noch hinzusetzte: »Und vor Marie habe ich keine Geheimnisse.« »Und vor Ihrem Gatten?« »Ich will’s Ihnen sagen, Zachary. Er ist un mari commode. Und dazu hat er allen Grund, weil er Angst hat, ich könnte sonst gewisse Dinge ausplaudern. Vor sieben Jahren – und ich habe keine Ahnung, woher er sie sich geholt hat – hat er mir eine ... eine schändliche Krankheit angehängt.« Wieder knurrte Edge, diesmal freilich aus Mitgefühl. »Verstehen Sie, warum ich immer sage, wir tragen zwar Kronen oder Diademe, aber keinen Heiligenschein. Nun, wie dem auch sei, damals bin ich zum erstenmal inkognito und ohne Gefolge gereist. Nach Berlin, unter angenommenem Namen und nur in Begleitung von Marie – um mich auszukurieren. Und als ich dann wieder gesund war, stellte ich fest, daß ich Ferenc herrlich und schamlos untreu sein konnte. Tatsächlich habe ich seit dieser Zeit nie wieder mit ihm geschlafen und meide seine Gesellschaft, es sei denn, es geht nicht anders und handelt sich zum Beispiel um Staatsangelegenheiten, bei denen wir der Welt vorspielen müssen, wir wären das glückliche und liebende Ehepaar Graf und Gräfin Hohenembs. Jetzt reise ich, wie es mir gefällt, habe meine eigenen Güter und lebe mein eigenes Leben. -1095-
Nur entehre ich weder ihn noch meine eigene hohe Stellung in aller Öffentlichkeit. Meine Affairen behandle ich mit Diskretion und achte darauf, daß keine echten Herzensbindungen oder bedrohliche Verwicklungen daraus werden. Graf Andrässy zum Beispiel hat eine Frau und zwei Söhne und einen Ruf, den es zu bewahren gilt; folglich besteht keinerlei Gefahr, daß er mehr von mir will als eine Gelegenheitsliaison. Genauso wie Sie und ich, Zachary, unser kurzes Zusammensein genießen – und uns dann trennen werden. Oh, gewiß, kann sein, daß wir uns irgendwo oder irgendwann wieder einmal sehen. Aber nie für lange.« Edge seufzte. »Wie heißt es? In der Liebe und im Krieg ist alles erlaubt. Nun kenne ich die Liebe und ich kenne den Krieg, und so bin ich dahintergekommen, daß die beiden noch etwas gemeinsam haben. Man erwartet kein Morgen. Man nutzt die Gunst der Stunde in vollen Zügen, und zwar immer hier und jetzt.« »Sie sind weise.« »Für einen gemeinen Mann?« »Und jetzt müssen Sie gehen. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, und ich muß noch mein Olivenölbad nehmen und mir eine Spülung machen. Die Zofen sind längst aus den Gängen hinter der Wand verschwunden; hoffentlich ist das Öl noch warm. Und da Ihnen soviel daran liegt, erlaube ich Ihnen, durch die Tür und über die Korridore zu Ihrer Wohnung zurückzukehren. Um diese Stunde dürften sie leer sein.« »Das nehme ich auch an. Es beginnt schon fast zu tagen. Warum schlafen wir nicht eine Weile und ...« »Nein.« Sie setzte sich im Bett auf und griff nach etwas, das auf dem Nachttisch gelegen hatte. »Ich schlafe mit dieser Seidenmaske – sehen Sie? – und lege Streifen Kalbsfleisch dazwischen. So würden Sie mich bestimmt nicht sehen wollen.« »Guter Gott, Amelie! Wozu das?« -1096-
»Damit ich auch weiterhin so jung aussehe wie Ihre Autumn. Dagegen haben Sie doch gewiß nichts einzuwenden, oder? Dann seien Sie aber auch nicht schockiert über die Mittel, mit denen ich das zu erreichen versuche.« »Dann, vermute ich, benutzen Sie auch nur das Fleisch von Jersey-Kälbern?« »Jetzt werden Sie nicht unverschämt! Hätten wir Frühling, würde ich Sie die Nacht über hier behalten. Denn im Frühling lege ich auf Gesicht und Brüste eine Maske aus zerdrückten Walderdbeeren, die noch frisch vom Tau sind. Das würde Ihnen bestimmt munden.« »Sie munden mir auch jetzt. Ich glaube, ich könnte sogar über die Maske hinwegsehen und die Erd ...« »Nein. Nicht schon wieder! Nicht vor morgen abend! Und jetzt gehen Sie!« Sie küßte ihn und lächelte befriedigt. »Es hat mich sehr gefreut.« Edge schlief bis weit in den Vormittag hinein, und niemand störte ihn. Beim Aufwachen zog er am Klingelzug und hatte nicht einmal die Zeit, aus dem Bett zu steigen, da war auch schon Hirschfeld zur Stelle und hielt ihm den Morgenmantel hin, machte ihm aber gleichzeitig durch Gesten klar, er könne auch liegenbleiben. Edge willigte ein, und im nächsten Augenblick kam ein Lakai mit aufstellbarem Tablett fürs Bett samt Frühstück und Kaffee; ein zweiter brachte die frisch geplättete Ausgabe der Pester Viläg. Während Edge frühstückte und die leicht verschmierten Holzschnitte durchsah – das einzige, das er von der Zeitung verstehen konnte –, bereiteten ihm sein Kammerdiener und eine ganze Kompanie von Lakaien, die dampfende Kannen mit heißem Wasser herbeitrugen, das Bad. Während Edge badete, stieß Hirschfeld mißbilligende Schnalzlaute über den Zustand seines Fracks aus – er hatte nämlich am Abend gar nicht schnell genug aus ihm herauskommen können und ihn hinterher nur nachlässig wieder -1097-
übergezogen. Infolgedessen nahm der Kammerdiener ihn jetzt und trug ihn hinaus, um ihn ausbessern, abbürsten und bügeln zu lassen; trotzdem war er rechtzeitig zurück, um Edge behilflich zu sein, sich trockenzureiben und Lodenhose und Jagdjoppe anzulegen, die Magpie Maggie Hag ihm aus seinem alten Uniformrock gefertigt hatte, indem sie ihn neu zuschnitt und an Ellbogen und dort, wo der Gewehrkolben aufsaß, Lederflecke aufgenäht hatte. In der großen Eingangshalle begegnete Edge der Baronin Festetics, die nicht unliebenswürdig sagte: »Sie müssen sich eine Zeitlang mit sich allein beschäftigen, Edge ür. Sissi – ich meine, die Gräfin Amelie kommt nicht vor Mittag herunter.« »Schläft sie immer so lange?« »Ö jaj, nein! Sie ist bestimmt schon seit halb sieben auf. Aber meine Gebieterin hat für den Vormittag ein streng einzuhaltendes Pensum.« Die Baronin zählte es auf – und zwar nicht minder ehrfürchtig, meinte Edge, als Homer die Taten seiner Helden; er mußte aber auch zugeben, daß es sich um ein heroisches, wenn nicht gar homerisches Programm handelte. »Als erstes nimmt sie ihr Duftbad und läßt sich eine Gesichtscreme aus holländischen Tulpenzwiebeln auftragen; möglicherweise wird ihr auch mit rohem Ei und Weinbrand das Haar gewaschen. Dann kommt der Masseur, den sie aus dem Wiesbadener Kurhaus hat. Nachdem sie ein aus Kräutertee und Toast bestehendes Frühstück zu sich genommen hat, zieht sie ihren Leotard an und arbeitet sich eine Stunde lang an den Geräten in ihrem Gymnastikraum aus. Als nächstes kommt ihr Fechtmeister und übt eine weitere Stunde mit ihr. Nach diesen anstrengenden Stunden kommt wieder ein Bad. Sobald ihre Friseuse ihr das Haar gebürstet und die Zöpfe geflochten hat, wählt die Gräfin ihre Garderobe aus und legt je nach dem, was als erstes auf ihrem Terminkalender steht, einen passenden Anzug an. Ist sie angekleidet, setzt sie sich mit ihren Büchern und ihrem Griechischlehrer zum Arbeiten hin. Im Anschluß -1098-
daran nimmt sie in ihren Gemächern ein leichtes Mittagsmahl ein. Damit ist es dann zwölf Uhr mittags, und der Tag mit ihren öffentlichen Verpflichtungen beginnt.« Edge sagte: »Mich macht allein das Anhören schon so müde, daß ich gleich wieder ins Bett gehen könnte.« »Ö jaj, das sollten Sie nicht tun, Edge ür«, sagte die Baronin ernst. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Schloß.« So durchschritten sie ein prachtvolles Gemach, eine Halle und eine Galerie nach der anderen, und die Baronin erklärte ihm die Geschichte, erläuterte Seltenheits- und materiellen Wert und Umstände des Erwerbs noch des letzten Kunstwerks und der kleinsten Antiquität. Am meisten genoß Edge jedoch den Rundblick, nachdem sie bis aufs Dach des höchsten Schloßteils hinaufgestiegen waren. Von dort hatte man eine herrliche Aussicht auf die umliegende Parklandschaft; auf einer Weide äste ein Rudel Rotwild, während auf einer Lichtung eine stattliche Anzahl von bedrohlich aussehenden Schwarzkitteln mit dem Rüssel den Boden durchwühlte. »Edge ür, haben Sie je mit der Meute Jagd auf Hirsche gemacht?« »Nein, Ma’am, das habe ich nicht. Dafür aber die Sauhatz. In Mexiko.« »Ach, dann müssen Sie das auch hier machen, zusammen mit Ihrer Gnaden. Vielleicht führt sie Sie auch in die Hetzjagd ein. Sie ist nämlich eine hervorragende Reiterin und bei der Jagd eine veritable Diana.« Als Amelie endlich erschien, war Reiten offensichtlich das erste, was auf ihrem Programm stand, denn sie kam in Begleitung von Elise Renz, und beide Frauen trugen wieder Bolerojäckchen und enganliegende Beinkleider – beides diesmal aus dunkelblauem Samt. Nach unverfänglichem Geplauder, wobei Amelie für Elise den Dolmetsch spielte, begaben sie sich zu den Stallungen, wo Elise den Reitknecht herbeipfiff. Dieser -1099-
führte die beiden prachtvollen Araber auf die Rundkoppel. Die Pferde trugen keinen Sattel, die jungen Frauen saßen auf und begannen, sie warmzureiten, während der Mann in den Stall zurückkehrte und neben seinem Akkordeon eine lange, tückisch aussehende Peitsche mit geflochtener Schnur und ausgefranstem Ende herbeitrug. Dabei handelte es sich, wie Edge später erfuhr, um eine Korbäcs, die Peitsche, wie sie von den berittenen Viehhirten aus den Weiten der ungarischen Pußta benutzt wird. Der Mann reichte sie Edge und versetzte ihn in nicht gelinde Verwirrung, als er ihm dabei wie in geheimem Einverständnis zuzwinkerte. Dann setzte er sich und spielte ausgelassene CigänMusik. Freilich, Edges Verwirrung hielt nicht lange an. Er knallte mit der Peitsche, um die Frauen und ihre Pferde zu ihren reiterlichen Übungen anzutreiben und – nachdem er mehrere Male damit geknallt hatte – um die Frauen zu veranlassen, eine Pose nach der anderen anzunehmen. Manchmal ließ er sie sanft zischen, um die Pferde zum Schrittwechsel aufzufordern. Elise rief etwas auf deutsch. Die Gräfin, die gerade auf dem Pferderücken stand, rief Edge zu: »Sie sagt, nicht die Pferde sollen Sie touchieren, sondern uns und zwar mit der Korbäcs.« »Ich schlage doch keine Frauen«, rief Edge zurück. »Verdammt noch mal, dies ist doch kein Kinderspielzeug, sondern eine ganz besonders brutale Peitsche.« »Tun Sie, was sie sagt! Und ich befehle das gleichfalls.« »Befehlen, ja?« knurrte Edge mehr zu sich selbst und ließ das viel länger als bei einer Chambriere ausgefranste Peitschenende knallend auf Amelies wohlgestaltes Hinterteil zufahren. Das entlockte ihr einen erschrockenen kleinen Aufschrei und sie wäre fast vom Pferderücken abgerutscht. Edge war entsetzt, sie doch empfindlicher getroffen zu haben als beabsichtigt und hoffte aufrichtig, ihr vollkommenes kleines Gesäß nicht verunstaltet zu haben. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die -1100-
Gräfin nach ›Schatten‹ oder einem glühenden Thron gerufen hätte, um ihn dafür zu bestrafen, was er sich herausgenommen hatte. Doch als sie Gleichgewicht und festen Halt wiedergefunden hatte, rief sie fröhlich: »So ist’s richtig! Mehr!« Da zuckte Edge mit den Achseln und kam ihrem Wunsche nach, ließ die zerfaserte Quaste laut knallend erst auf die eine und dann auf die andere junge Frau zufahren, wobei er ihnen abwechselnd auf Hinterteil, Rücken und Schenkel eins aufbrannte und gelegentlich, wenn sie en ambesque ritten, auf die dünnen Ledersohlen ihrer aufgerichteten Reitschuhe. Bald aber reichte nicht einmal das mehr, sie zufriedenzustellen. Die mühelos freihändig aufrechtstehende Elise streifte das Bolerojäckchen ab und warf es von sich. Gleich darauf entledigte sich die Gräfin auch des ihren, und die jungen Frauen ritten in den leuchtendweißen Blusen, wobei ihre von keinem Büstenhalter eingezwängten Brüste ungehindert auf und ab hüpften. Amelie rief Edge zu: »Jetzt wollen wir mal sehen, ob Sie etwas höchst Delikates schaffen. Versuchen Sie, unseren Rücken zu treffen, daß es brennt – so hart, daß es dicke Striemen gibt –, aber ohne die seidige Haut richtig zu verletzen.« Das war, zumal mit einer Peitsche, mit der er keine Übung hatte, in der Tat ein schwieriges Unterfangen. Erst zögerte Edge, doch dann gehorchte er mit äußerster gebotener Vorsicht. Nach einigen Peitschenschlägen rief Elise, was Amelie weitergab: »Fester, Zachary! Das tut ja kaum weh. Es muß richtig brennen!« Achselzuckend legte er noch etwas mehr Kraft in seine Schläge, was ihnen so manchen schrillen Aufschrei und so manches lustvolle Gestöhn entlockte, sie jedoch niemals dazu brachte, ihn zu bitten aufzuhören. Dann war Elise, die aufmerksam verfolgt hatte, wann er die Peitsche knallen ließ, wieder an der Reihe, drehte auf dem Rücken ihres Pferdes eine schnelle Pirouette und richtete es so ein, daß das Quastenende genau eine ihrer Brustwarzen traf. -1101-
Sie stieß einen langgezogenen, weithinhallenden Schrei aus – und der entsetzte Edge ließ die Peitsche fallen –, doch war dieser nicht im mindesten zornig. Er zog sich unendlich in die Länge, sie drehte nochmals eine Pirouette, ließ sich dann fallen, um rittlings auf dem galoppierenden Pferd zu landen, schlang diesem die Arme um den Hals und ritt dergestalt weiter, rieb sich an dem Pferd und stieß immer noch jubelnd den beseligten Schrei aus. Amelie saß von ihrem Pferd ab, führte es aus dem Weg und verfolgte lächelnd, wie Elise immer und immer weiter im Kreis herumritt, bis ihre – wie Edge meinte – abartig hochgepeitschte Erregung allmählich verebbte. Der Stallknecht grinste die ganze Zeit über wissend und lüstern und fuhr fort, seine Zigeunermusik zu spielen. Schließlich brachte Elise Renz ihr Pferd zum Stehen, und ließ sich – sichtlich erschöpft, verschwitzt und zitternd – zu Boden gleiten. Amelie stützte sie, bis sie wieder zu Kräften kam; die beiden redeten ruhig miteinander und lachten dann fröhlich. Nach einer Weile kam die Gräfin über die Koppel herüber zu Edge, der mit der Korbäcs in der Hand dastand. Er sagte: »Ihre Freundin ist ein wenig absonderlich, nicht wahr?« »Wenn sie das ist, bin ich das auch, n’estce pas? Aber urteilen Sie doch selbst. Elise wird sich heute abend in meinen Gemächern zu uns gesellen. Für dort ist die Peitsche zu lang. Der Stallknecht wird Ihnen statt dessen eine kurze Reitgerte bringen.« An diesem Abend wichen nach anfänglichen Vorbehalten seitens aller drei Beteiligten – wobei diese in Edges Fall ziemlich groß waren – Scheu und Zurückhaltung erst einer gewissen Vertrautheit und dann rückhaltloser Hingabe. Edge wußte nicht recht, was er von alledem halten sollte und benutzte halb amüsiert und sich reichlich närrisch vorkommend die Gerte, freilich nur sanft, und sie verlangten auch nur gerade soviel, um ihre nackten Gesäße zu röten und zum Erblühen zu -1102-
bringen – ihr Inneres war jedoch offensichtlich weit mehr erhitzt, wie er aus der Art und Weise schloß, mit der die beiden Frauen sich windend aneinander rieben. Er legte die Gerte beiseite und sah ihnen bei ihrem Spiel zu. Als sie es leid waren, sich gegenseitig Lust zu bereiten, schlangen sie die Arme um ihn, und nach einer Weile war Edge der einzige im Schlafgemach, der stumm blieb. Elise stieß ihre hemmungslos jubelnden Schreie aus und Amelie ihr hemmungslos jubelndes Lachen, worin sie lange und laut wie von Sinnen fortfuhren. Wirklich wie von Sinnen.
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4 Als Edge am Spätnachmittag an der Budengasse vorm Haupteingang aus der Kalesche stieg, kam Florian aus dem Roten Wagen herausgeschossen und rief: »Willkommen, mein Junge. Du hast uns gefehlt.« »Aber ich bin doch bloß fünf Tage fortgeblieben. Immerhin, gut zu wissen, daß ich unersetzlich bin. Wie ich sehe, hat Stitches die neuen Garderobenzelte fertig. Unser Festplatz sieht jetzt aus wie eine kleine Stadt für sich.« »Und du bist schön braun gebrannt. Dein Ausflug in die Sphären der höchsten Gesellschaft scheint dir bekommen zu sein.« »Nun, drei von den fünf Tagen waren wir auch an der frischen Luft. Einmal Hirschhatz, dann Hasentreiben, dann Jagd mit der Saufeder. Die Vorratskammer der Gräfin enthält für die nächste Zukunft jedenfalls Wildbret genug!« »Komm rüber in den Roten Wagen und spül dir den Reisestaub aus der Kehle. Banal, bring Zacharys Koffer rüber in seine Maringotte. Und auf dem Weg dorthin bitte Tücsök, sich bei mir zu melden.« Im Kontor schenkte Florian ihnen Csopaki-Wein ein. Beide entzündeten Zigaretten, und Edge fragte: »Irgendwas geschehen, wovon ich wissen sollte?« »O ja, es gibt eine ganze Reihe guter Neuigkeiten. Vielleicht wußtest du, daß Maggie Hag Meli Vasilakis wegen ihrer unangenehmen Krankheit behandelt hat, und zwar mit einer Roßkur aus Kampfer, Brom und Quecksilber. Nun, inzwischen hat sie Meli für gesund erklärt, und da hat Sir John sein Werben um Meli wohl zum krönenden Abschluß gebracht. Zumindest nehme ich das an; er ist inzwischen in ihre Maringotte übergesiedelt.« »Das freut mich zu hören.« -1104-
»Und Bumbum hat für seine Kapelle einen talentierten Musikus engagiert: Gombocz Elemer, einen Zimbalspieler, falls du weißt, was das ist. Wir mußten zwar das Orchesterpodium verstärken, damit es unter dem Instrument nicht zusammenbricht, aber die melodiöse Musik, die es ergibt, hat den Aufwand gelohnt.« Edge nickte beifällig. »Und außerdem ist die Truppe um ein neues Mitglied erweitert worden. Während deiner Abwesenheit habe ich den Sprechstallmeister gemacht und auch die Nummer mit der Freiheitsdressur übernommen; aber als Kunstschütze konnte dich natürlich niemand ersetzen, und als Voltigereiter auch nicht. Da mußten die anderen Artisten ihre Nummern einfach ein bißchen auswalzen, um das Programm auf die richtige Länge zu bringen. Doch am zweiten oder dritten Tag meldete sich auf meine Anzeige in der Era ein wirklich einzigartiger Artist. Du sollst genauso große Augen machen wie die Gaffer. Dabei ist Tücsök kein blutiger Anfänger, sondern legt eine phantastisch ausgereifte Leistung hin.« »Ich hörte ja schon, wie du Banat gegenüber den Namen erwähntest, doch hatte ich gedacht, es handelte sich um einen neuen Racklo.« »Nein, Tücsök ist ein Künstlername. Ein magyarisches Wort, das ›Grille‹ bedeutet.« »Grille? Wenn das bedeutet, was ich fürchte ...« »Ja. Ein Gnom.« »Mein Gott, und du sprichst von guten Nachrichten! Wieder ein gottverfluchter Zwerg? Nach all den Scherereien, die wir mit den beiden anderen Hurensöhnen gehabt haben ...« »Diesmal handelt es sich aber um eine Frau, und die ist mit Sicherheit kein Satansweib. Ich habe sie bei Clover Lee und Sunday untergebracht, und die freuen sich, als hätte ich ihnen ein kleines Schwesterchen gebracht – dabei ist Grille so alt wie -1105-
beide zusammen. Sie ist ein bezauberndes kleines Ding und – aber da ist sie ja schon. Szäbo Katalin kisasszony, darf ich dir unseren Sprechstallmeister, Edge Zachary ür vorstellen, von dem du ja schon viel Lobenswertes gehört hast? Zachary, das hier ist Katalin Szäbo, in der Manege bekannt als Tücsök – Grille.« Mit leiser, aber keineswegs piepsiger Stimme und in ausgezeichnetem Englisch sagte sie: »Freut mich, Sie kennenzulernen, Colonel Edge.« »Madame Grille«, sagte er. Edge war beim Eintritt der kleinen Dame aufgestanden und mußte sich jetzt tiefer niederbeugen, als er sich jemals vor irgendeinem Menschen verneigt hatte, egal ob König oder Edelmann, um Grille die winzige Hand zu schütteln. Er mußte zugeben, daß sie in der Reihe von Gnomen, Wichtelmännern oder Zwergen etwas Neues, ja, zweifellos eine Verbes
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serung darstellte. Vielleicht, daß sie ein wenig pummelig war für ihre Größe, die rund fünfundsiebzig Zentimeter betrug; aber sie war weder mißgestaltet noch stimmten in irgendeiner Weise die Proportionen bei ihr nicht. Sie stellte einfach die vollkommene Miniaturausgabe einer hübschen jungen Dame dar, hatte braune Ringelhaare und leuchtend blaue Augen, war wohl etwas älter, als ihr mädchenhaftes Gesicht auf den ersten Blick vermuten ließ, und rauchte eine Zigarette, die sie in einer langen Zigarettenspitze aus Jade stecken hatte. Florian erzählte Edge: »Katalin bringt ihre Manegennummer in der ersten Programmhälfte, und ich garantiere dir, die Nummer ist einfach bezaubernd, die reine Magie. In der Pause tritt sie in Sir Johns Sideshow auf. Sie reitet auf Rumpelstilzchen in sein Anbauzelt hinein – im Moment noch ohne Sattel, aber Stitches arbeitet schon an einem Miniatursattel und zaumzeug. Dabei trägt sie das Kostüm eines Csikos, eines Reiters aus der Pußta. Dann wirft sie ihr Männerkostüm ab, zeigt sich in einer reizenden farbenfrohen ungarischen Volkstracht und legt einen Czärdas hin, daß dir der Atem wegbleibt.« »Da bin ich aber sehr gespannt auf Ihre geheimnisvolle Manegennummer«, wandte Edge sich an die kleine Frau. »Und ich bin sicher, Sir John ist glücklich, eine richtige Artistin in seiner Sideshow zu haben und nicht nur wieder was für seine Abnormitätenschau.« »Ich hoffe, ich mache alle froh, Colonel«, sagte sie. »Monsieur Pemjean und ich haben bereits begonnen, dem kleinen Pferd ein paar Tricks beizubringen – Kopfhochwerfen, Steigen, Kratzfuß machen –, die ich dann mit ihm vorführen kann. Eine Freiheitsdressur mit einem Zwergpferd auf dem beschränkten Raum des Sideshow-Postaments!« »Das klingt vielversprechend«, sagte Edge. »Jedenfalls heiße ich Sie herzlich in der Truppe willkommen.« Katalin schenkte ihm ein wichtelkleines Lächeln und blies einen wichtelkleinen -1107-
Rauchring. »Sobald ich einen Augenblick frei habe«, sagte Florian, »fahren wir beide zum Daguerreotypisten in der Innenstadt, Tücsök, und lassen Cartesdevisite für dich anfertigen, die wir verkaufen können.« Katalin dankte ihm anmutig und verabschiedete sich. »Wahrscheinlich habe ich sie zu Recht bei der Truppe willkommen geheißen. Aber ich muß an Major Made und seine kleinen Spielgefährten denken. Allerdings, Governor, diese Grille ist so appetitlich, daß bei ihrem Anblick voll ausgewachsenen Wüstlingen das Wasser im Mund zusammenlaufen wird.« »Ich bin aber ganz sicher, daß sie jegliche Avancen dieser Art zurückweisen wird«, sagte Florian. »Ich will dir – aber auch nur dir – sagen, was sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat. Tücsök hat erst vor kurzem ein Baby zur Welt gebracht. Wer der Vater war, hat sie offengelassen, aber das spielt auch keine Rolle. Jedenfalls war es ein normalwüchsiges Kind, wie das ja bei Kleinwüchsigen nicht selten vorkommt. Sie hat dieses Kind daher sofort zur Adoption freigegeben, damit es in einer netten, normalen, ganz gewöhnlichen Familie aufwächst. Und sie macht kein Hehl daraus, daß die Erfahrungen der Geburt so wahnsinnig schmerzhaft waren – naja, kann man sich ja vorstellen –, daß sie nie wieder riskieren möchte, das noch einmal durchzumachen. Nein, ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, daß uns bei ihr üble Überraschungen wie etwa bei Reindorf ins Haus stehen.« Von draußen drang plötzlich das Gewummere und Gewinsel von Musik herein. »Die Dampforgel bereitet uns auf die Abendvorstellung vor«, sagte Florian. »Ich muß gehen. Aber sag mir erst noch: Wie hast du deine Gräfin gefunden? War sie immer noch so reizvoll, wie du zu Anfang dachtest?« -1108-
»Nun, ich bin zwar keine Autorität, was Damen der höchsten Gesellschaft betrifft. Aber ich bin einmal Mrs. Jeff Davis begegnet, und die konnte der Gräfin Hohenembs nicht das Wasser reichen.« »Ach, das ist ihr Titel?« Sinnend wiederholte Florian den Namen: »Hohenembs ... Hohenembs. Da bin ich mal gewesen. Ein Ort mit einem großen Felsen, der darüber dräut. Irgendwo nahe der Grenze nach Liechtenstein. Aber wenn ich mich recht erinnere, ist Hohenembs nur eine Baronie. Ich fürchte, Zachary, man hat dir was vorgemacht, um dich zu beeindrucken.« »Mich hat es nichts gekostet. Ganz im Gegenteil.« »Ach, natürlich könnte ich mich irren. Schließlich ist es schon lange her, daß ich in Hohenembs war.« Florian zog seinen besten Frack an und setzte den Zylinder auf. »Bist du von der Reise zu müde, um bei der Vorstellung heute abend mitzumachen?« »Nein, laß mich bloß den Wein austrinken, dann gehe ich mich umkleiden.« Florian verließ das Kontor und ließ Edge allein zurück, was dieser auch so gewollt hatte. So viele von Amelies Bemerkungen hatten ihm das Gefühl des dejáentendu vermittelt, daß er einer Sache nachgehen wollte, an die er sich vage zu erinnern glaubte. Halblaut vor sich hinsprechend: »Ferenc, Franz ... Franz, Ferenc«, trat er an die Wand, wo Florian die gerahmte Einladung nach Schönbrunn von Franz Joseph hängen hatte, und las angestrengt hinschauend die lange Liste der anderen Titel des Kaisers durch. Nachdem er sie halb durch und damit mehrere Königsund Herzogstitel hinter sich hatte, fand er es: »... Landgraf von Habsburg und Tirol, Großwoiwode von Serbien, Graf von Hohenembs ...« Edge murmelte: »Florian, diesmal irrst du dich – was die Hohenembs betrifft.« Er trank den Rest seines Weins und begab sich in seinen Wohnwagen. Dort machte er seinen Koffer auf -1109-
und kramte unter seinen Andenken – der größte Teil davon die wenigen Sachen, die er von Autumn behalten hatte –, fand die Brieftasche, die er in Schönbrunn erhalten hatte, nahm sie heraus und betrachtete das gestickte Wappen des Kaiserreichs Österreich darauf. Das Doppeladler-Emblem war dasselbe, das er an den Pfeilern von Amelies Terrassenbalustrade erblickt hatte. Immer noch mit sich selbst redend, sagte Edge: »Und doch hast du auch recht, Florian. Eine Gräfin ist sie nicht. Zumindest nicht bloß eine Gräfin.« Dann lachte er. »Himmel, und dabei habe ich sie eine Zeitlang für ein Stallmädchen gehalten!« Er stand auf, nahm seine Colonel-Ramrod-Uniform vom Kleiderbügel und zog sich für die Vorstellung um. Als er das Chapiteau erreichte, war die Dampforgel verstummt, statt dessen spielte Bumbums Kapelle und die ersten Gaffer nahmen Platz. Edge stieg zum Orchesterpodium hinauf, um sich das neue Cimbalom anzusehen: ein großer, reichgeschnitzter Holzkasten auf gedrechselten Beinen, der viel Ähnlichkeit mit einem altmodischen Stutzflügel aufwies, nur, daß er weder Tastatur noch Klavierdeckel harte, die zahllosen Saiten in seinem Inneren also offen zutage lagen, um mit weichen kleinen Klöppeln angeschlagen zu werden, von denen der Cimbalom-Spieler Elemer zwischen den Fingern jeder Hand jeweils zwei hielt. Das Cimbalom war jedoch kein kümmerliches einfaches Hackbrett, dessen Klänge vom Rest der Kapelle übertönt wurden. Wenn Elemer seinem Instrument auch verhaltene, ja stille Passagen entlocken konnte, so vermochte er genausogut, es keck klirren, ja, ohrenbetäubend aufrauschen zu lassen, daß es sich gegen den geballten Lärm von Bläsern und Trommeln Gehör verschaffte. Offensichtlich genoß Elemer seine Arbeit; denn er grinste jedesmal übers ganze Gesicht, wenn ihm eine besonders verzwickte oder eingängige Passage gelang. Edge unterbrach ihn nicht dabei, um sich vorzustellen, doch reichte Elemer ihm – ohne im Spiel innezuhalten – die Rechte und spielte dieweil mit der Linken weiter, und zwar sehr -1110-
gut. Die Vorstellung begann und durchlief glatt die erste Programmhälfte. Nachdem Monday auf Thunder die Hohe Schule geritten und den Beifall entgegengenommen hatte, bekam Edge zum erstenmal die neue Nummer zu sehen. Florian kam federnd in die Manege und verkündete durchs Megaphon großsprecherisch auf Magyarisch, Deutsch und – möglicherweise, damit Edge es verstand – auch auf Englisch: »Eine ›Büvös Gömb!‹ Die Verzauberte Kugel! The Enchanted Globe!« Gleichzeitig trugen mehrere Requisiteure ein großes Gerät in die Mitte der Manege, wie Edge es nie zuvor gesehen hatte. Es handelte sich gewissermaßen um eine Kombination aus Wendeltreppe und sehr schmalspuriger Straßenbahn. Letztere bestand aus zwei vernickelten, parallel nebeneinander herlaufenden Schienen, die sich in sanfter Steigung spiralförmig vom Manegenboden bis zu einer etwa viereinhalb Meter überm Boden angebrachten Plattform oder Abgangssteg hinaufschraubten. Die Zuschauer verstummten und stellten ihre Vermutungen an, was es mit diesem Gerät wohl auf sich haben mochte. Im allgemeinen Schweigen ließ sich nur ein einziges Instrument der Kapelle – Elemers Cimbalom – ganz leise anhebend vernehmen, und zwar mit den unwirklichen Klängen von Josef Strauß’ ›Sphärenmusik‹. Dann kam durch den Hintereingang des Chapiteaus zwischen dem Zugang und der Pistentür eine etwa neunzig Zentimeter im Durchmesser messende kunterbunt mit Zickzacklinien bemalte Holzkugel hereingerollt. Weder hatten ihr irgendwelche Racklos einen Stoß versetzt noch sie hereingerollt; rollen tat sie nämlich von sich aus, und zwar, ohne die Fahrt zu verlangsamen oder gar liegenzubleiben, dreimal um die Manege herum. Wie entgeistert starrte das Publikum die Kugel an, und das Cimbalom wiederholte geisterhaft leise fast – Variationen der ätherischen Eingangstakte der ›Sphärenmusik‹. Die Atmosphäre im Chapiteau bekam etwas womöglich noch -1111-
Unirdischeres, als die Holzkugel jetzt abschwenkte und auf das vernickelte Gleis zurollte, zwischen den beiden eng beieinander liegenden Schienen Aufstellung nahm und dann immer noch langsam, aber unaufhaltsam die Steigung hinaufrollte. Je höher sie gelangte, desto lauter wurde die Cimbalom-Musik. Elemer ging zum Crescendo in der ›Sphärenmusik‹ über, wurde immer lauter und immer lebhafter, während die Kugel heiter die sich nach oben schraubenden Schienen hinaufrollte. Als die Verzauberte Kugel die Plattform oben erreichte, fing die gesamte Kapelle an zu spielen und peitschte sich zu einem aufreizenden Höhepunkt hoch, woraufhin die Gaffer aus ihrer Erstarrung erwachten und in stürmischen Beifall ausbrachen. Im Takt der Musik drehte die fröhlich gestrichene Kugel sich mehrere Male um die eigene Achse, ja, vollführte sogar eine Reihe von schwerfälligen Hopsern. Dann ging sie auf. Edge hatte das Geheimnis der mysteriösen Vorwärtsbewegung längst erraten und war daher nicht überrascht, als die Kugel sich wie zwei Schalen einer Auster aufklappte und für alle sichtbar wurde, daß die beiden hohlen Halbkugeln durch Scharniere miteinander verbunden waren. Die Zickzackbänder der Bemalung dienten dazu, das Metall und – wie Edge mutmaßte – auch ein paar Sehschlitze zu verbergen. Doch als die Kugel aufging, sich die kleine Tücsök, nur mit einem orangefarben glitzernden, ärmellosen Trikot angetan, aufrichtete und lachend die Arme in Siegerpose in die Höhe riß, rann ihr der Schweiß für alle sichtbar in Strömen übers Gesicht. Selbst eine so winzige Person wie sie mußte sich in der Kugelhülle arg zusammengekauert haben und äußerst mühevoll darin umhergekrochen oder gegangen sein, damit die Kugel all die Dinge machte, die sie vorgeführt hatte. Als Grille der Kugel entstieg, brach die Musik erneut mit ohrenbetäubender Lautstärke los, während die Zuschauer in laute Hochrufe, donnernden Applaus und Füßestampfen ausbrachen. Grille schlitterte fröhlich auf den spiralförmig hinabführenden -1112-
vernickelten Straßenbahnschienen hinunter wie ein Kind auf der Rutsche eines Kinderspielplatzes und nahm unten den Beifall der Menge entgegen. Während die Requisiteure Gerüst und Kugel fortschafften, sagte Edge bewundernd zu ihr: »Florian hat die Wahrheit gesagt. Das war die reine Magie. Außerdem müssen Sie weit kräftiger sein, als Sie aussehen.« »Nun, ich kann die Kugel zwar hinaufrollen, das geht. Aber ich schließe den Trick immer oben ab. Ein einziges Mal bin ich auch wieder hinuntergerollt. Dabei habe ich die Kontrolle über die Kugel verloren, und sie kam kollernd und wirbelnd herunter wie ein Felsen in einer Lawine. Als ich unten ausstieg, sah ich aus wie Rührei. Das tu’ ich nie wieder.« »Hoffentlich nicht. Sie sind viel zu hübsch, als daß man Rührei aus Ihnen machen sollte.« »Danke, Colonel. Und vielen Dank auch dafür, daß die Nummer Ihnen gefallen hat.« Einige der Artisten, die schon länger beim FLORILEGIUM waren, hatten während Edges kurzer Abwesenheit manche ihrer Tricks verbessert oder raffinierter gestaltet. Sunday Simms zum Beispiel hatte sich von irgendwoher einen Lederball besorgt und verwendete ihn jetzt auf atemberaubende Weise. Maurice LeVie hatte ihr geholfen, diesen Trick zu erlernen und zugegeben, er selbst sei zu schwer und eckig, um ihn so anmutig vorzuführen wie sie. Mademoiselle Butterfly schloß ihre Solonummer damit, daß sie auf dem Trapez sitzend hinausschwang und dabei den Ball unterm Arm hielt. In langen, aber langsamen Bögen dahinschwingend, richtete sie sich dann auf, legte den Ball im Gleichgewicht auf die Trapezstange, machte einen Handstand und ließ sich mit dem Kopf auf den Ball herunter, machte also aus dem Handstand einen Kopfstand auf dem unsicher daliegenden Ball und streckte dabei Arme und Beine seesternförmig von sich, ohne sich an irgend etwas festzuhalten und schaukelte die ganze Zeit über regelmäßig gleitend hin und her. Manche Zuschauer, selbst erwachsene Männer, wendeten -1113-
voller Angst den Blick ab. Doch Sunday blieb oben und berichtete Edge sogar, sie finde diesen Schluß ihrer Solonummer, mit dem die Götter des Unfalls ja förmlich herausgefordert würden, geradezu euphorisch anregend. Quincy Simms hatte eine neue Gliederverrenkung erfunden. Nachdem er und Fräulein Aal mit ihrer Duonummer fertig waren, fügte er noch eine schaurigschöne Koda an. Langsam schob er seine dem Anschein nach knochenlosen Gliedmaßen und seinen Leib dergestalt zusammen, daß Körper und Arme gleichsam zu verschwinden schienen und nur noch die gekreuzten Beine zu sehen waren und – auf sie gestützt – sein Kinn. Dabei setzte er ein leichenblasses Grinsen auf, und die Augen quollen ihm schier aus dem Kopf. Mit diesem Grinsen und den kreuzweise übereinandergelegten mageren Beinen wirkte er wahrhaftig wie der Totenschädel und die gekreuzten Knochen auf einer Seeräuberflagge oder auf dem Etikett einer Giftflasche. Manche Gaffer mußten auch von diesem Anblick die Augen abwenden, doch die meisten lachten und klatschten voller Anerkennung. »Naja, schaurig aussehen tut es schon, Ali Baba«, sagte Edge hinterher zu ihm. »Aber es ist unglaublich gekonnt und scheint ja allgemein gut aufgenommen zu werden.« »Kann ja sein, dasses n’ Gaffern gefall’, Mas’ Zack«, sagte Quincy recht mürrisch, »bloß ich gefall’ ihn’ deshalb noch lange nich’. Ich hab’ doch Ohr’n un’ hör’ sie sag’n: Das is’ kein Ali Baba. Das is’ bloß ’n dreckiger Nigger, den ’n weißer Mann geschändet hat.« »Aber Quincy!« sagte Edge verwundert und verwirrt zugleich. »Ich habe noch nie gehört, daß irgendwer so was gesagt hätte. Himmel, das ist doch ganz ausgeschlossen. Keiner von diesen Gaffern kann englisch. Das mußt du dir einbilden.« Bei erster Gelegenheit ging Edge in den Anbau von Fitzfarris, um sich Grilles Nummer in der Sideshow anzusehen. Fitz war -1114-
offensichtlich begeistert, sie unter seinen Attraktionen zu haben, und die Zuschauer genossen ihre Nummer dort sichtlich genauso begeistert wie ihre Verzauberte Kugel in der Manege. Wenn Tücsök im rauhen Gewand des Csikos und mit lächerlich tief verstellter Stimme ihre rauhen und zotigen Reiterlieder vortrug, brüllten die Männer vor Lachen und schlugen sich auf die Schenkel, während die Frauen so taten, als wären sie empört und peinlich berührt. Gleichwohl strahlten nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen sie an und klatschten rhythmisch, wenn sie mit farbenprächtiger Perlenstickerei auf der Bluse und einem Rock aus unzähligen winzigen Falten zur Musik von Fitz’ Akkordeonspieler jenen uralten, kraftvoll koketten Tanz auf die Plattform legte, wie er in den Landhäusern getanzt wurde und der in Ungarn Csardas hieß. »Sie ist wirklich ganz große Klasse, das muß ich zugeben«, sagte Edge zu Florian, »und entweder stellt sie die sprichwörtliche Ausnahme unter den Winzlingen dar, oder ich hatte ein Brett vorm Kopf, als ich die ganze Brut in Bausch und Bogen verdammte. Nur, Governor, ehe ich Ferien machte, hast du dich darüber beschwert, daß die Frauen bei uns allzusehr in der Überzahl wären – und dann engagierst du als nächstes wieder eine Frau.« »Naja, ich kann ja schließlich nicht mit der Trommel vorm Bauch durchs Land ziehen und nach männlichen Artisten Ausschau halten. Ich kann nur hoffen, daß sich auch mal Männer bewerben werden, selbst wenn sie blutige Anfänger sind. Dann erst läßt sich das Gleichgewicht wieder herstellen.« Doch sollte das Ungleichgewicht zunächst nicht ausgeglichen werden. Im Gegenteil, in der nächsten Woche wurde der Frauenüberhang noch größer. Nach einer Nachmittagsvorstellung endete Fräulein Aals und Ali Babas Kontorsionistiknummer wie jetzt immer mit dem Schlußtrick des Jungen, der sich zur Totenschädel-Pose zusammenfaltete. An diesem Tag schien er besonders erfreut über die -1115-
Kombination aus Atemlosigkeit, Gekicher und Beifall, denn er verharrte so ungewöhnlich lange in dieser Pose, daß der Sprechstallmeister schließlich seine Trillerpfeife bemühen mußte, um ihn zu ermahnen, wieder hochzukommen, sich vor dem klatschenden Publikum zu verneigen und die Bahn freizumachen für die Trapeznummer. Ali Baba jedoch kümmerte sich nicht darum und blieb, wo er war. Colonel Ramrod pfiff noch dringender, und als der Junge sich noch immer nicht rührte, ging er hin und schüttelte ihn ärgerlich. Doch so völlig verknotet, wie er war, erwies Quincy sich als unzugänglich für diese Ermahnung; allerdings hätte er sowieso nicht reagiert, denn er war tot. Der Sprechstallmeister winkte zwei Böhmen herbei und wies sie an, ihn hinauszutragen, so wie er war, für immer in diesem nunmehr traurig gerechtfertigten Totenschädelgrinsen und der Knochen-Pose erstarrt. Die Zuschauer amüsierten sich, lachten und hielten das ganze für einen urkomischen, gelungenen Schlußtrick. Die Budapester Behörden hätten Quincys Ableben genauso gleichgültig behandelt wie das von Spyros Vasilakis, doch war Florian selbst besorgt und auch neugierig genug, einen Arzt kommen und die Todesursache feststellen zu lassen. Nachdem dieser den kleinen Körper untersucht hatte, informierte der Arzt Florian über das, was er festgestellt hatte, und Florian wiederum berichtete es Edge: »Es sieht so aus, als ob Ali Babas ehemaliger Freund, Cecil Wheeler, Quincy umgebracht hat – in gewisser Weise, jedenfalls.« »Wie bitte?« »Erinnerst du dich, daß Quincy eine Zeitlang behauptet hat, er nehme Gerüche wahr, die niemand sonst roch und höre merkwürdige Geräusche; außerdem beschwerte er sich darüber, daß manches ganz normale Essen merkwürdig schmecke?« »Soll das etwa heißen, er ist vergiftet worden?« -1116-
»Nein, das nicht. Aber du erinnerst dich bestimmt auch noch, daß Quincy bei Cecils letztem Auftreten kopfüber vom Veloziped stürzte, nicht wahr? Seither ist er mit einem Schädelbruch herumgelaufen und hat, was den Gipfel der Heldenhaftigkeit darstellt, damit auch noch gearbeitet. Hätten wir davon gewußt und ihn im Bett liegenlassen, möglich, daß er sich erholt hätte und wieder gesund geworden wäre. So aber hat sein armer Kopf heute der Verletzung endlich nachgegeben.« Edge wollte Sunday trösten, doch sie lächelte traurig und sagte: »Wir Simmses werden immer weniger. Vielleicht wäre es besser gewesen, Tuesday und Quincy wären bei den Furfews geblieben, barfuß rumgelaufen und arm und unwissend geblieben.« »Was für ein Unsinn. Du weißt ganz genau, daß beide mehr vom Leben gesehen haben – auch wenn dieses Leben noch so kurz war –, als wenn sie in Virginia alt und grau geworden wären. Und du bist Mademoiselle Butterfly. Unvorstellbar, was aus dir noch alles werden kann!« Als Edge dann Monday sein Mitgefühl aussprach, schien diese ebensowenig vom Kummer überwältigt. Sie sagte: »Lass’n Sie mich was frag’n, Mr. Zack, ’ne Frage, die ich mein’ Mr. Demon nich’ stell’n kann. Der is’ kein Südstaatler nich’, also wird er’s nie kapier’n. Worumas geht, is’ folg’ndes. Nun, wo ich kein Bruder Quincy mehr hab’, den jeder sieht obbich da wohl in’n Anseh’n der Leute steig’?« »Wieso denn, Monday. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand dich nach deinem Bruder beurteilt hat. Deine Qualitäten und deine Begabung oder ...« »Wovon ich red’, is’ die Hautfarbe. Solang’ Quincy da war, konntich nix anneres sein als die Schwester von’n schwarz’n Nigger. Aber Mr. Demon nennt mich – irg’nd’n französ’sches Wort – heißt soviel wie hellhäut’ge Mulattin oder so. Aber mal angenomm’, ’n annerer Mann wüßt’ nich’, dassich ’n tief -1117-
schwarz’n Bruder hatt’. Könnt’ so’n Mann mich nich’ für was Bess’res als’n halfnigger halt’n?« Trocken sagte Edge: »Du meinst nicht was Besseres, sondern etwas, das leichter zu sein ist.« Er sah sie an und überlegte: »Nun, ich denke, du könntest als ungewöhnlich hübsche Mexikanerin durchgehen. Oder irgendwer von einer tropischen Insel.« »Hey, now!« Sie grinste. »Nenn’ Sie mir ’n paar Nam’ von solche Ins’ln.« »Was soll’s, und wenn du behauptest, du wärest die Königin von Saba, die Leute würden dir das doch nicht glauben. Die Königin von Saba war eine blitzgescheite Frau, und du müßtest dir schon Mühe geben, gebildet, vornehm und elegant zu sein. Und zum Beispiel nichts zu sagen statt ›nix‹.« Mondays Grinsen war wie weggewischt, und sie sah ihn mit wehem Blick an. »Deine Schwester Sunday, hingegen, die ...« »Yeah, die!« sagte Monday finster. »Die hat nix dageg’n, ’ne fette Niggermummy zu sei, solang’ sie nur überkandid’lt red’n un’ mit ihr’n fein’ Manier’n dicke tun kann. Verdammt! Un’jeder neue Mann könnt’ seh’n, dassich ihr’ Schwester bin, nix weiter als ’ne bißchen hellhäutig’re Mulattin, oder? Ich kann’s nich’ weiterbring’n, wenn sie’s nich’ auch weiterbringt, nich? Verdammt!« Edge gab es aufseufzend auf und ging, Florian zu helfen, Quincys Begräbnis in die Wege zu leiten.
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5 »Der zwanzigste August ist Istvans-Tag«, erklärte Florian anläßlich einer im Roten Wagen abgehaltenen Besprechung. »Oder das Fest des heiligen Stephan, wenn euch das lieber ist. Wie auch immer, es ist der höchste ungarische Feiertag im Sommer, und da müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß die Zuschauer uns das Chapiteau einrennen. Deshalb möchte ich das Terrain sondieren und bin dafür, wenn sich nicht gerade Zeter und Mordio dagegen erheben, an diesem Tage drei Vorstellungen zu geben – bereits am Vormittag eine neben der üblichen Nachmittags- und Abendvorstellung.« »Ich glaube, niemand hat was dagegen«, sagte Carl Beck. »Wir sind Circusleute. Uns geht es doch darum aufzutreten und Beifall einzuheimsen, statt auf unseren Ärschen zu sitzen und nichts zu tun. Die Böhmen arbeiten sowieso den ganzen Tag.« »Na, gut. Dann plant also drei Vorstellungen am Istvans-Tag. Nach diesem Tag würden wir, da bin ich überzeugt, bis in den Herbst genauso gute Geschäfte machen wie bisher. Trotzdem möchte ich nach dem Istvans-Tag weiterziehen. Außer Budapest gibt es noch einen ausnehmend, ja wirklich besonders schönen Ort in Ungarn, den Platten-See oder Balaton, wie er in Ungarn heißt. Den sollte sich keiner von uns entgehen lasen, und die Badeorte am See versprechen genauso guten Besuch, wie wir ihn hier erfahren haben.« »Ano pojd me na Balaton Jezero!« rief Aleksandr Banat begeistert, der dort offensichtlich schon einmal gewesen war. Florian fuhr fort: »Und dann, nach, sagen wir einem Monat am Balaton, wenn die Blätter anfangen, sich zu verfärben, ziehen wir weiter Richtung Osten. Dabei müssen wir Hunderte von Kilometern durch die Pußta – ein flaches, ödes und gesichtsloses Grasmeer, in dem es kaum eine Kleinstadt gibt, die groß genug wäre, daß es sich lohnte, dort Station zu machen. Ich -1119-
will noch vor dem ersten Schnee die russische Grenze erreichen. Ich habe keine Lust, denselben Fehler wie Napoleon zu begehen und einen russischen Winter auf der Landstraße zu riskieren.« »Na, hör mal, Governor«, sagte Dai Goesle skeptisch. »Rußland ist ein Riesenreich, und wir werden nur im Schneckentempo vorankommen. Irgendwo unterwegs muß der Winter uns einholen.« »Aber bitte nicht auf der Landstraße oder auf freiem Feld. Wenn auch mit beträchtlichem inneren Widerstand, habe ich mich dazu durchgerungen, es genauso zu machen wie der verachtenswerte CIRCUS RINGFEDEL. Von der russischen Grenze fahren wir mit der Eisenbahn und machen nur in Kiew und Moskau Station, bevor wir das Ziel erreichen, das mir immer vorgeschwebt hat und nach dem ich mich von jeher gesehnt habe – die grandiose, strahlende Hauptstadt des Zarenreiches, Sankt Petersburg. Ich bin überzeugt, daß uns dort ein langer, glücklicher und gewinnträchtiger Aufenthalt beschert sein wird.« Jetzt ergriff Willi Lothar das Wort. »Wenn ihr an den Balaton weiterzieht, breche ich schon nach Rußland auf und kümmere mich darum, einen Eisenbahnzug zu chartern und den ersten Festplatz in Kiew anzumieten.« Er wandte sich an Florian. »Jules braucht mich nicht zu begleiten. Er möchte am See unbedingt mit der Saratoga aufsteigen. Ein schönerer Flecken Erde für einen Ballonaufstieg ist kaum denkbar.« »Moment mal!« sagte Edge. »Einen kleinen Eindruck habe ich von der ungarischen Prärie schon bekommen – Pußta, sagst du, nennen sie die hier? –, als ich die Gräfin besuchte. Diese Pußta ist wirklich öde, stimmt schon. Warum wollen wir die ganze Strecke mit Pferd und Wagen zurücklegen? Warum nicht gleich hier einen Zug chartern und bis Kiew durchfahren?« »Weil das alles nur noch schwieriger macht«, sagte Florian. »Die Eisenbahnen in Westeuropa haben Regel- oder -1120-
Normalspurbreite, während die Eisenbahnen in Rußland Breitspurbahnen sind. Das heißt, die Schienen liegen weiter auseinander, und folglich sind die Waggons ganz anders gebaut. Das hieße, wir müßten hier erst einmal alles einpacken, aufladen und verstauen sowie Futter und Vorräte für die Tiere und uns einkaufen. An der Grenze müßte alles wieder ausgeladen und auf einen russischen Zug umgeladen werden. Das wäre reichlich umständlich und würde wahrscheinlich auch länger dauern, als einfach über die Landstraße dorthin zu fahren. Nein, wir fahren nach Czernowitz an der ungarischen Grenze, setzen über den Pruth auf das russische Ufer des Flusses über, und bei Novosielitza wird unser Zug auf uns warten.« Achselzuckend sagte Edge: »Du weißt es am besten, Governor.« »Noch eins: Die Schausteller mit ihren Verkaufsständen, Buden und Wohnwagen lassen wir dann zurück. Am Balaton können sie auch ohne uns gute Geschäfte machen – es gibt dort Kurorte für die Sommerfrische wie für den Winterurlaub –, wohingegen sie in der Pußta nun wirklich verloren sind. Außerdem sind die russischen Grenzbehörden bekannt für ihr Mißtrauen und ihre mangelnde Zuvorkommenheit; einem solchen Zigeunerhaufen würden sie wahrscheinlich nicht die Einreise erlauben. Und, der Charterzug kostet mich ein Vermögen, und ich habe keine Lust, noch zwei oder drei Extrawaggons zu chartern.« »Verdammt«, sagte Fitzfarris. »Zack hat recht, du weißt es wohl wirklich am besten, Governor.« »Dann fangt an zu planen und eure Vorbereitungen zu treffen, meine Herren. Zeltmeister, ehe wir Pest verlassen, besorge alles an Eisenwaren, Ersatzteilen, Ersatz-Zeltbahnen und Tauwerk, was wir deiner Meinung künftig benötigen werden. In einem rückständigen Land wie Rußland kommt man an solche Sachen nur schwer heran, und am Balaton vermutlich auch nicht ohne weiteres. Und du, Kapellmeister, tu das gleiche: deck dich mit -1121-
Noten, Hornventilen, Trommelfellen und dergleichen ein – und lege dir einen reichlichen Vorrat an Chemikalien für den Gasentwickler der Saratoga an. Chef der Racklos, sprich dich mit Abdullah ab, wieviel Futter und Fleisch für die Raubkatzen wir brauchen, um sie über die Pußta zu bringen. Sind wir erst einmal in Rußland, ist das kein Problem mehr; solche Vorräte jedenfalls können wir dort jederzeit ergänzen.« Florian erhob sich. »Und bis dahin werde ich noch zwei zusätzliche Wagen mit Gespannen anschaffen. Die werden wir brauchen, und zwar nicht nur für die Extra Vorräte, die wir benötigen. Wir haben in letzter Zeit eine ganze Menge neuer und zum Teil schwerer Gerätschaften dazubekommen: die Garderobenzelte zum Beispiel, das Cimbalom, Tücsöks Kugel und die Rampe. – Hm, noch irgendwelche Fragen, meine Herren? Wenn nicht, erkläre ich diese Sitzung für geschlossen.« Am Tag des Heiligen Istvan oder Stephan gab das FLORILEGIUM – zum erstenmal seit seinem Bestehen – drei Vorstellungen, die nicht nur alle drei ausverkauft waren, sondern es mußten sogar Zuschauer, die noch Karten haben wollten, nach Hause geschickt werden. Der folgende Tag war Ruhetag, damit die gesamte Truppe – die Böhmen nach der Fütterung der Tiere nicht ausgenommen – ausspannen und sich erholen konnte. Manch einer nahm die letzte Gelegenheit wahr, seine Lieblingsstätten in der Stadt aufzusuchen. Clover Lee, Gavrila und Agnete gingen im Kaufhaus Pärizsi stöbern. Carl Beck suchte ein Badehaus auf, um sich das letzte Mal in heilkräftigem Wasser zu aalen, und kaufte hinterher mehrere Kisten Banfi-Haarwuchs- und BéresStärkungsmittel. Abner Mullenax ging auf die andere Donauseite hinüber nach Buda und kaufte eine ganze Kiste abscheulichen bulgarischen Wacholderschnaps und kam mit einer Ladung desselben im Leib zurück. Edge, Pemjean, Yount und LeVie faulenzten den ganzen Tag über im Kaffeehaus New York. Florian verbrachte den größten Teil des Tages in seinem -1122-
Kontor, zählte dort lustvoll die Einnahmen des Vortages und brachte seine Bücher auf den letzten Stand. Der nächste Tag war für den Abbau vorgesehen. Der Festplatz mußte gereinigt und der gesamte Circus auf die Wagen geladen werden. Wobei die Wagen – die neu angeschafften nicht ausgenommen – vor lauter Extragerät und zusätzlichen Vorräten, Futter und Ausrüstungsgegenständen, die Dai, Carl und Hannibal gekauft hatten, aus allen Nähten platzten. Manche kleineren Gegenstände mußten sogar in den Wohnwagen der Artisten untergebracht werden. Dann befahl Florian einigen Racklos, sofort aufzubrechen mit dem leichtesten Wagen und mit einem ausreichenden Vorrat an FLORILEGIUM-Plakaten vorauszufahren, den gesamten Balaton zu umrunden und noch den letzten Weiler am Seeufer damit vollzukleistern. Der Rest der Circuskarawane verließ Pest den nächsten Morgen, überquerte ein letztes Mal die Kettenbrücke, überwand den Heiligen Gellert-Hügel, zog an der düsteren Zitadelle vorüber und bog in eine nach Südwesten führende Straße ein. Ihr Ziel am Balaton war rund hundert Kilometer oder zwei lange Tagesreisen entfernt, und so kampierten sie am ersten Abend am Wegesrand in der Nähe des einzigen Hauses, das sie die letzten Kilometer über gesehen hatten, einer mittelgroßen Csarda mit der Aufschrift Szep Juhäsne – ›Schöne Schäferin‹ – auf dem Wirtshausschild. »Wo das Gasthaus einen so hübschen Namen hat«, sagte Florian, »kann es so schlecht nicht sein. Wir werden hier zu Abend essen, ehe wir uns dann zum Schlafen niederlegen.« Der Wirt war hocherfreut, sie zu sehen; zweifellos hatte er noch nie zuvor soviele Gäste in seinem Gasthof unterbringen müssen. Es waren nicht einmal ausreichend Tische für alle vorhanden, und sie mußten schichtweise essen. Als die erste Abteilung Platz nahm, stellte der Wirt ohne, daß sie es bestellt hätten – gewaltige zinnerne Humpen mit kühlem dunklen Bier vor sie hin und dazu Plattenkuchen, der gerade aus dem Ofen -1123-
kam und zum Bier genossen wurde. Auswählen oder bestellen konnten sie nicht. Den hungrigen Gästen wurden einfach riesige Schalen mit dem Standardessen eines jeden ungarischen Wirtshauses vorgesetzt. »Bogräcgulyäs«, sagte Florian. »Ein Eintopf mit verschiedenerlei Fleisch. Was ihr Franzosen ein potaufeu nennt, Maurice, oder du, Maggie, eine olla podrida. Die haben hier einfach einen riesigen Kessel auf dem Feuer stehen, der ständig vor sich hinköchelt und in den man immerzu an Fleisch und Gemüse hineintut, was einem gerade unterkommt.« Woraus es im Moment auch bestehen mochte – alle fanden es ungewöhnlich wohlschmeckend und stärkend. Der glückliche Wirt scharwenzelte die ganze Mahlzeit über um sie herum und freute sich, zumindest mit zweien von ihnen reden zu können, mit Florian und der kleinen Katalin. Diese berichtete den anderen: »Der Fogados behauptet, seine Csärda habe es schon immer gegeben, und vor langer Zeit sei es das Versteck des großen Räubers Sobri Joska gewesen. So heißt der ungarische Robin Hood, der die Reichen ausnahm und die Beute mit den Armen teilte.« »Wirklich?« sagte Yount. »Genau hier hat er sich versteckt, wo wir jetzt essen?« »Das bezweifle ich«, sagte Grille, »jeder Fogados in Ungarn wird einem erzählen, seine Gaststätte habe einst dem Banditen Pal Kinizi, dem Samson Ungarns, als Zuflucht gedient. In einem der Türkenkriege hat Pal einen Muselman getötet, dann seinen Leichnam wie eine Keule geschwungen und damit hundert weitere erschlagen.« »Nun, solche Geschichten sind gut fürs Geschäft«, sagte Fitzfarris. »Wie Florians Flunkereien. Das ist sehr klug von den Gastwirten.« »O ja, auf den Kopf gefallen sind wir Magyaren nicht«, sagte Grille und lächelte. »Mir gefällt am besten die Geschichte von -1124-
dem Bauern aus der Pußta, der einem Juden zwanzig Kronen schuldete und nicht zurückzahlen konnte. Als Onkel Isaak ihn immer wieder drängte, erbot der Bauer sich, seine Kuh zu verkaufen und seine Schulden mit dem Verkaufserlös zu begleichen. Die Kuh war leicht ihre zwanzig Kronen wert, so daß der Jude sich einverstanden erklärte. So zogen sie gemeinsam zum Markt, und der Bauer nahm auch noch ein Huhn mit. Ein Mann trat an sie heran und fragte: ›Wieviel für das Huhn?‹ Der Farmer sagte: ›Zwanzig Kronen‹ Der Mann sagte: ›Grundgütiger Himmel! Für soviel Geld könnte ich ja gleich die Kuh bekommen.‹ Woraufhin der Bauer sagte: ›Ich mache Euch einen Vorschlag. Gebt mir zwanzig Kronen für das Huhn, und ich überlasse Euch die Kuh für zwei Kupferkreuzer.‹ Der Mann schlug ein, der Bauer steckte die zwanzig Kronen ein und übergab dem Juden die beiden Kupfer, die er für die Kuh erhalten hatte. Genau wie abgemacht.« Lachend erhoben sie sich von dem Tisch, um der nächsten Gruppe Platz zu machen, die auf das Essen wartete. Am nächsten Tag, als die Kolonne nur noch etwa fünfzehn Kilometer vom Balaton entfernt war, fiel den Reisenden auf, daß die Straße gesäumt war von Wiesen mit einem merkwürdig schlaffen, wilden Gras, dessen Halme sich beim kleinsten Luftzug, den die vorüberrollenden Wagen hervorriefen, krümmten und darin wogten. Als sich die Karawane noch weiter dem See näherte, spürten sie eine echte Brise im Gesicht. Sie fuhren jetzt durch Weingärten, in denen statt der in den meisten Ländern üblichen Vogelscheuchen lange, farbenprächtige Stoffbänder aufgehängt waren, die im Wind flatterten und knatterten. Außerdem kamen sie an Heustadeln vorüber, die ursprünglich nach oben sich verjüngend aufgebaut worden waren, jetzt jedoch vom Wind gezaust zu freieren und anmutigeren Gestalten getrimmt worden waren, wie Tanzmädchen, die mit wirbelnden Röcken mitten in ihrer Bewegung erstarrt waren. -1125-
»Am Balaton herrscht immer Wind«, berichtete Florian Daphne, die jetzt in der Kutsche mit ihm fuhr. »Ich glaube, das hat etwas mit dem See zu tun. Der Balaton ist in vielerlei Hinsicht etwas Kurioses. Erstens ist er der größte Binnensee Mitteleuropas und zeichnet sich nicht nur durch eine sonderbare Gestalt aus – er ist achtzig Kilometer lang, aber im Durchschnitt keine sechs Kilometer breit –, sondern auch das Seebett selbst ist etwas höchst Ungewöhnliches. Am Südrand flacht sich der Boden so geringfügig ab, daß man fast einen Kilometer hinauswaten kann, bis das Wasser einem bis an den Hals geht. Dabei senkt er sich wie eine achtzig Kilometer lange Rampe, bis er am anderen Ende, am Nordrand, eine Tiefe von etwa zwölf Metern erreicht. Ich weiß zwar nicht, wieso die Besonderheiten des Balaton Wind entstehen lassen sollten, aber richtige Windstille gibt es hier überhaupt nicht. Es weht ständig, und das Wasser ist immer etwas kabbelig. Kommt ein richtiger Sturm auf – und der braut sich im allgemeinen im Süden zusammen und zieht gen Norden –, wirkt er wie ein Gummischrubber. Er fegt das seichte Wasser vom Südende des Sees zusammen und versucht, es über das tiefe Wasser im Norden zu schieben. Auf dem Balaton bekommt man Wellen, Wogen und Brecher zu sehen, die denen auf hoher See in nichts nachstehen.« »Da bekommt man es ja richtig mit der Angst«, sagte Daphne. »Nun, Fischer und Fährleute gibt es hier seit Generationen, und die haben ein unheimliches Gespür dafür entwickelt, wann sich so eine Hexenküche zusammenbraut. Spüren sie das, werden Raketen abgefeuert, die man rings um den See hören oder sehen kann. Die Bootsfahrer und Feriengäste machen dann, daß sie aus dem Wasser kommen.« Schließlich erreichte die Karawane den Kamm eines Hügels, von dem aus man den See unter sich liegen sah. Das Wasser war ungewöhnlich milchig türkisfarben und reichlich gesprenkelt mit den kleinen Schaumkrönchen kabbeligen Wassers. Überall sah man leuchtendgrüne Schilfsäume, über denen stahlblaue -1126-
Schwalben und schwarzköpfige Möwen dahinschossen; an den Ufern neigten sich die allgegenwärtigen Pappeln über das Wasser und ließen selbst so spät im Sommer noch die weiße Watte ihrer Samenfäden herniederschweben. Ab und zu hörte man es aufplatschen, wenn ein Fisch danach schnappte und ins Wasser zurückfiel. Hier und da kreuzten Segelboote, doch die meisten Fahrzeuge, die man sah, waren Fischerboote und die schwerfälligen, mit Riemen versehenen Kähne der Fährleute. Rings um den See gab es kleine, dichtbesiedelte Ortschaften, von winzigen Weilern bis zu richtigen kleinen Städten, doch dazwischen dehnten sich lange, unbebaute Uferstreifen. Die größten und beliebtesten Sommerfrischen – Siofok und Földvär lagen am Südostufer, dem die Wagenkolonne des Circus sich jetzt näherte. Beide Kurorte lagen nur zehn Kilometer voneinander entfernt, weshalb Florian seinen Leuten bereits vorher aufgetragen hatte, das Chapiteau genau in der Mitte zwischen ihnen aufzuschlagen. Die Dunkelheit senkte sich hernieder, doch sie konnten hier und da an Bäumen die FLORILEGIUM-Plakate sehen. Als sie auf dem Festplatz anlangten, wurden sie von der Klebekolonne, die ihnen vorausgefahren war, bereits erwartet. Die Racklos hatten von sich aus bereits zwei Kochfeuer entzündet, Kessel mit sauberem Seewasser herbeigetragen und von den Fischern sogar schon Körbe voller Fogas gekauft, hechtähnliche Fische, die im Balaton heimisch waren. Da konnte Magpie Maggie Hag, der Gavrila, Meli und Agnete halfen, ein herzhaftes Essen zubereiten. In aller Herrgottsfrühe des nächsten Tages begannen Zeltmeister Goesle, der Chef der Racklos, Banat, die Böhmen und die Elefanten mit dem Aufbau. Da das Seeufer aus lauter Kies bestand, mußten sie das Chapiteau ein paar hundert Meter weiter landeinwärts errichten, weil sonst die Zeltanker nicht gehalten hätten. Vorsichtshalber wies Florian sie außerdem an, wegen des ständigen Windes die Zahl der Anker sowie der -1127-
Absegelungen an der Südseite eines jeden Zeltes zu verdoppeln. Bereits zu dieser frühen Stunde hatten sich viele Sommergäste aus Siofok und Földvär, die durch die Plakate auf die bevorstehende Ankunft des FLORILEGIUM vorbereitet gewesen waren, eingefunden, verfolgten den Aufbau und erstanden Eintrittskarten für die erste Nachmittagsvorstellung. Diese Vorstellung war längst ausverkauft, ehe die Dampforgel ihre ersten Tonfolgen quietschend und tutend und überall am See widerhallend herausbrachte. Und wie Florian vorausgesehen hatte, waren die folgenden Vorstellungen genauso gut besucht wie in Pest. Die Gaffer kamen nicht nur aus den beiden nahegelegenen Ferienorten; viele nahmen sogar eine Zweitagestour auf sich und kamen von den entferntesten Ortschaften am Balaton und sogar aus dem Hinterland. Jules Rouleau hatte gehofft, viele Male mit der Saratoga über den bezaubernden blauen See und das grüne Umland dahinzuschweben, doch der ständige Wind ließ Carl Beck hartnäckig bei seinem »Nein! Nein!« bleiben. Allerdings flaute der Wind in der Regel bei Sonnenuntergang ab, so daß Rouleau Bumbum schließlich bewegen konnte, seine Einwilligung zu einem Aufstieg um diese Stunde zu geben, und die Böhmen wurden rund um den See ausgeschickt, dieses Ereignis auf einem eigens gedruckten Plakat anzukündigen. Als der Ballon gefüllt wurde, zerrte und zog er plump an den Haltetauen, so daß diese sich abwechselnd strafften und erschlafften. Deshalb kürzte Florian seine im allgemeinen recht ausgiebige und großsprecherische Ansage über Monsieur Roulettes Tollkühnheit und die Risiken, die solch eine Herausforderung des Himmels bedeutete, um ein gutes Stück ab. Rouleau kletterte hastig in die Gondel – und zwar allein; er weigerte sich, die Verantwortung für eines der Simms-Mädchen auf sich zu nehmen – und die Racklos lockerten sofort die Haltetaue. Die Saratoga schoß wie eine Rakete in den Himmel, allerdings auf einer schrägen Bahn, das heißt, schneller in -1128-
nordöstlicher Richtung als in die Höhe, und hätte dabei um ein Haar die Kronen einer Baumreihe gestreift. Über dem See jedoch hatte der Ballon genug an Höhe gewonnen und als die Brise nachließ – offenbar wehte der ewige Balaton-Wind nur nahe der Wasseroberfläche –, geriet er in größerer Höhe in eine südliche Luftströmung. Infolgedessen konnte Rouleau den Ballon wie gewohnt steigen und hinuntergehen lassen und karriolte in allen möglichen Richtungen über den Himmel. Für den Abstieg und die Landung brachte er die Saratoga zunächst an das Südende des Sees und betätigte dort das Rückschlagventil, um genug Gas freizusetzen, den Ballon bis auf eine Höhe hinunterschweben zu lassen, wo der Oberflächenwind wehte. So kam er den See heraufgefegt und öffnete und schloß das Ventil so geschickt, daß er auf einer langgezogenen geneigten Flugbahn herniederschwebte. Er verstand sich mittlerweile so trefflich auf den Umgang mit dem Ballon, daß er es schaffte, unmittelbar vor dem Circuseingang zu landen – eine große Menge von Zuschauern mußte auseinanderlaufen, um Platz zu machen –, doch wiewohl er die Reißleine zog, um im selben Augenblick den letzten Rest Gas aus dem Ballon herauszulassen, prallte die Gondel doch mit ziemlicher Wucht auf dem Boden auf und hüpfte mehrere Male auf und ab. Erst dann erschlaffte der Ballon vollends und legte sich zusammen mit der Gondel auf die Seite. Rouleau blieb unverletzt, mußte jedoch wenig würdevoll aus dem umgekippten Korb herauskriechen und sich aus dem Gewirr der Leinen befreien, ehe er aufspringen, triumphierend die Arme hochreißen und den Jubel der Menge in Empfang nehmen konnte. Es blieb bei diesem einzigen Ballonaufstieg am Balaton. Gleichwohl redeten die Gäste und Einheimischen noch monatelang hinterher bewundernd über das Ereignis. Sie waren überglücklich, dies noch in ihrem Leben erlebt zu haben, denn bislang hatte man hierorts solche Wunder nie zu sehen -1129-
bekommen. Seit dem Ballonaufstieg war es Rouleau unmöglich, in Siofok oder Földvär für ein Bier oder ein Essen zu bezahlen; die anderen Gäste erkannten Monsieur Roulette unweigerlich, überschütteten ihn mit Lob, schlugen ihm auf den Rücken und wollten es sich unter keinen Umständen nehmen lassen, ihn zu allem, was er aß oder trank, einzuladen. Bei einer Nachmittagsvorstellung, als Edge bei der Parade und unter den Klängen von ›Greensleeves‹ auf Thunder ins Chapiteau einritt, machte sein Herz plötzlich einen kleinen Satz. Auf den Prominentensitzen saßen zwei verschleierte, ihm höchst vertraut vorkommende Damen. Als sie die Schleier lüfteten und hinten feststeckten, entpuppten sie sich in der Tat als »Gräfin Amelie Hohenembs« und Baronin Marie Festetics. In der Pause, als die Zuschauer hinausgingen, um sich bei der Sideshow und in der Budengasse zu amüsieren, blieben die beiden wie gewöhnlich sitzen, und Edge ging freudig hin, sie zu begrüßen. Er verneigte sich übertrieben tief und sagte: »Willkommen, Kaiserliche Hoheit.« In gespieltem Entsetzen sagte Elisabeth, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn: »Ö jaj! Sie sind also hinter meine kleine Maskerade gekommen. Wie denn?« »Ach, nachdenklich gemacht hat es mich zuerst wahrscheinlich, als Sie die Standardfloskel des Kaisers benutzten, es habe Sie ›sehr gefreut‹.« »Ach, nun. Ich möchte nur bemerken, Edge ür, daß ich Sie in keiner Weise belogen habe. Amelie ist wirklich einer meiner Vornamen, und ich bin auch wirklich die Gräfin Hohenembs. Und die Herzogin von Salzburg und Auschwitz, die Markgräfin von Böhmen und alles mögliche andere auch. Ich hätte Ihnen sagen können, ich wäre etwas so Niedrigstehendes wie die Woiwodin von Serbien und trotzdem wäre ich immer noch bei der Wahrheit geblieben. Doch bitte, um alter Zeiten willen, nennen Sie mich weiterhin Amelie. Ich mag die zärtliche Art, -1130-
wie Sie das aussprechen – fast so zärtlich, wie Autumn.« »Und was machen Sie hier draußen?« »Ich bin Gast im Schloß der Festetics und bleibe dort, bis sich die ersten Anzeichen des Winters bemerkbar machen. Dann entfleuche ich in mein sonniges, balsamisches und blumenübersätes Achilleion.« Die Baronin Marie sagte: »Und ich beeile mich zu erklären, Edge ür, daß das Schloß der Festetics nicht mir gehört. Ich besitze keines. Es gehört einem Cousin von mir, dem Grafen Festetics, und liegt bei Keszthely, unten am Südzipfel des Sees. Das sind über sechzig Kilometer von hier. Selbst mit einem Vierspänner und bei gestrecktem Galopp brauchen wir einen ganzen Tag, um hierherzukommen. Deshalb sind wir gestern abend in Siofok in einem Hotel abgestiegen und wollen auch heute dort noch einmal übernachten, ehe wir morgen nach Keszthely zurückkehren.« Elisabeth Amelie sagte: »Ich würde Sie gern noch einmal einladen, Zachary ...« »Nun, ich glaube, ich käme mir wie ein Faulpelz vor, wollte ich zweimal im Jahr Ferien machen; aber ich will auch verdammt sein, wenn ich ablehne. Ich bin mein eigener Herr, und Florian ist ein netter Kerl. Wenn Sie einverstanden sind – mir wären mehrere Kurzbesuche lieber als ein langer. Ich könnte mir einen Tag frei nehmen, um hinzureiten; wir beide könnten den nächsten Tag gemeinsam verbringen, und am dritten Tag reite ich zurück. Damit würde ich nur für sechs Vorstellungen ausfallen. Aber um meinen Kollegen und dem Publikum gegenüber fair zu sein, könnte ich das nur alle zwei Wochen einmal machen. Und wie oft, weiß ich auch noch nicht. Das kommt darauf an, wie lange wir hier bleiben.« »Tut mir leid, Zachary. Ich wollte Ihnen sagen, ich würde Sie gern einladen; doch Graf Andrássy ist einer der anderen Hausgäste.« -1131-
»Ach«, sagte Edge und machte ein langes Gesicht. Er überlegte einen Moment, doch dann faßte er sich ein Herz und sagte: »Dürfte ich einen unverschämten Vorschlag machen? Doch zunächst sagen Sie mir bitte: reitet Graf Andrässy?« »Ja, selbstverständlich. Welcher Adlige tut das nicht?« »Aber er versucht sich doch nicht als Kunstreiter, so wie Sie, oder?« »Nein. Nur Schulreiten, Hindernisrennen, Fuchsjagd mit der Meute...« »Vielleicht hätte er Lust, ein paar besondere Kunststücke zu erlernen. Sie haben doch gerade eben unsere Kunstreiterin gesehen. Nicht das dunkle Mädchen, das die Hohe Schule macht. Die blonde - sie trägt heute ein scharlachrotes Trikot -, die über die Bänder und durch die Reifen gesprungen ist.« »Also, wirklich, Zachary! Bandeau- und Ballonsprünge durch den Spiegel hat sie gemacht. Vergessen Sie nicht, daß ich mich im Circusjargon auskenne.« »Jedenfalls ist das Clover Lee Coverley, die sich nach nichts mehr sehnt als danach, Adlige kennenzulernen. Wenn Sie uns beide einlüden - sie und mich -, könnte sie Ihren Grafen vielleicht dazu bewegen, sich von ihr in die Kunstreiterei einführen zu lassen. Und während sie das tut, könnten wir beide ... nun, andere Dinge tun. Clover Lee ist blutjung, erst siebzehn ungefähr, dabei jedoch sehr frühreif für ihr Alter und ...« »Gyula hat für junges Blut sehr viel übrig«, sagte Elisabeth Amelie nachdenklich. »Sogar ich bin vierzehn Jahre jünger als er. Und ein Mädchen, das noch mal vierzehn Jahre jünger ist als ich bringt ihn wahrscheinlich zum Glühen wie Ihre Rampenlichter hier.« Sie stieß ein mutwilliges Lachen aus. »Jawohl, Zachary, Sie sind wirklich unverschämt. Aber sei's drum - Sie sind beide herzlich eingeladen.« Dann jedoch wurde sie wieder ernst. »Aber bitte schön, ich möchte nicht, daß Clover Lee mich für immer aus Gyulas Herzen verdrängt.« -1132-
»Aus seinem Herzen? Das hört sich an, als wäre ich ein Kuppler. Ich habe nur daran gedacht, daß sie ihn hoch zu Roß unterhält und sie ihrerseits ihr Vergnügen hat, sich im Glanz des Adels zu sonnen. Doch wie dem auch sei, ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Graf, der mit einer Gräfin verheiratet ist und eine Kaiserin liebt, sich lange in der Gesellschaft einer Stehendreiterin vom Circus amüsiert.« »Sorgen Sie dafür, daß sie sich darüber im klaren ist! Sagen Sie ihr das! Und was Sie selbst betrifft, lieber Zachary, so werde ich Ihretwegen meine tägliche Routine unterbrechen. Da wir dann jeweils nur einen Tag für uns haben, werde ich auf meine vormittäglichen Übungen und Studien verzichten, damit wir außer dem Nachmittag und Abend auch noch den Vormittag miteinander verbringen können.« »Vielen Dank, Amelie, Euer Majestät!« »Graf Festetics, Graf Andrässy und ich freuen uns darauf, Sie und Clover Lee bei uns zu sehen - und zwar sooft und sobald Sie können.« Hochbeglückt kehrte Edge als Colonel Ramrod zurück an seine Arbeit, konnte sich aber gleichzeitig nicht des Gefühls erwehren, nachgerade zum Schmarotzer und Abtrünnigen zu werden. Als er zufällig bei einer Nummer neben Florian stand, brachte er das Thema jedoch ebensowenig zur Sprache wie nach dem Finale, als sie beisammen standen und zusahen, wie die Zuschauer das Chapiteau verließen. Doch dann kam ihm ein wunderbarer Zufall zu Hilfe. Drei Zuschauer blieben hinter denen, die den Circus verließen, zurück, besprachen sich kurz, kamen dann auf Florian zu und redeten ihn auf magyarisch an. Alle drei waren sie Männer, die sich auch noch sehr ähnlich sahen: ungeschlacht häßlich, groß, kräftig, sonnengebräunt, fast bronzefarben, mit lockigem schwarzem Haar und gewaltigem, gleichfalls schwarzen Walroßschnauzbart. Auch gleich angezogen waren sie: Lederweste über leuchtend rotem Hemd, -1133-
abgeschabte Lederhose mit so breiten Beinlingen, daß diese sie umwallten wie ein Rock, derbe Lederstiefel und das alles gekrönt von einem schwarzen Hut, der aussah wie ein Plumpudding in einer breiten Suppenschüssel. Am sonderbarsten jedoch mutete an, daß sie alle drei über der Schulter eine aufgeschossene Korbäcz-Peitsche trugen. Nachdem er ein paar Minuten mit ihnen geredet hatte, wandte Florian sich Edge zu. »Das sind die Brüder Jäszi - Arpäd, Zoltän und Gusztäv. Die drei sind Csikosok-Hirten oder Pußta-Reiter, die vor kurzem stellungslos geworden sind, als ihr Arbeitgeber pleite machte. Daraufhin haben sie sich Richtung Westen auf den Weg gemacht, um in Budapest mal Zivilisation und Kultur kennenzulernen. Ehe sie zurückkehren in die Pußta, um sich eine neue Stellung zu suchen, sind sie hierher an den Balaton gekommen. Sie wollen sich von uns drei Pferde leihen, damit sie uns eine Kostprobe ihrer Csikos-Reitkünste geben können. Ich würde sie mir gern ansehen.« »Ich auch«, sagte Edge, pfiff nach einem Böhmen und schickte ihn, drei Pferde zu satteln und herbeizuholen. Als die Pferde gebracht wurden, benutzten die Brüder Jäszi zum Aufsitzen nicht erst umständlich die Steigbügel, sondern sprangen mit einem Satz aus dem Sägemehl in den Sattel und trieben die erschreckten Pferde damit aus dem Stand in einen furiosen Galopp. Dann taten sie Erstaunliches: Sie führten jeden Trick der Equestrik vor, den auch Buckskin Billy drauf hatte, wie bei vollem Galopp unter dem Bauch des Pferdes hindurchkriechen und auf der anderen Seite wieder nach oben in den Sattel kommen. Doch sie setzten sich auch verkehrtherum auf den Sattel und lenkten die Pferde, indem sie ihre Schwanzrübe drehten. Sich am Schweif festhaltend, glitten sie von der Kruppe der Pferde herunter und liefen zu Fuß genauso schnell wie die Pferde neben ihnen her - und zogen sich dann am Schweif heran, sprangen dem galoppierenden Tier auf die Kruppe, hüpften nach vorn auf den Sattel, ritten stolz -1134-
aufgerichtet und dann - unfaßlich - sogar im Kopfstand - und die Pferde liefen die ganze Zeit über im gestreckten Galopp. Als nächstes nahmen sie wieder die normale Reithaltung auf dem Sattel ein und entringelten ihre Korbäcsek. Erst benutzten sie sie nur als Peitsche. Während sie an der vordersten Sitzreihe entlangdonnerten, holte der erste Jäszi aus, schlug blitzschnell zu und ließ den ersten Stuhl der Reihe umfallen, der hinter ihm reitende den zweiten und der dritte den dritten, während der erste wieder den vierten Stuhl zu Boden riß, bis die gesamte vordere Stuhlreihe am Boden lag. Einer der Brüder kam an Edge vorübergeprescht und schnippte ihm die Zigarette aus dem Mund und zwar mit einer solchen Heftigkeit, daß Edge den dadurch entstandenen Luftzug spürte. Dann benutzten sie ihre Korbäcs als Lasso. Einer der Brüder holte damit nach einem anderen aus, freilich nicht, um ihm eins aufzubrennen oder überhaupt richtig zuzuschlagen, sondern damit sich die geflochtene Lederschnur ihm um die Hüfte ringelte und er den Bruder spielerisch aus dem Sattel reißen konnte. Ein anderer riß die Korbäcs in die Höhe, und zwar so, daß das Ende sich um eine Mastabsegelung ringelte, ließ sich dadurch aus dem Sattel heben, hielt sich am Griff seiner Korbäcs fest und schaukelte in der Luft hin und her. Nach einem Augenblick rutschte das Peitschenende vom Tau der Absegelung, entringelte sich und ließ den Mann – und auch dies wieder genau im richtigen Augenblick, da sein Pferd die Manege an der Piste umrundet hatte und wieder unter ihm war – fallen, so daß er glatt wieder auf dem Sattel landete. »Mein Gott!« entfuhr es Edge. »Im Vergleich zu dem, was diese Burschen alles können, nehme ich mich bei der Voltigereiterei aus wie ein Kind auf einem Schaukelpferd.« »Nun, sie suchen Arbeit«, sagte Florian, »und wir haben nach männlichen Artisten Ausschau gehalten.« Er zögerte, räusperte sich und fuhr fort: »Außerdem bin ich schon seit langem der -1135-
Meinung, Zachary, daß du dem FLORILEGIUM zuviel von dir persönlich gibst – als Sprechstallmeister, als Tierlehrer bei der Freiheit, als Kunstschütze, Voltigereiter und Friedensstifter, wenn es irgendwo Knatsch gibt. Mich hat es immer bekümmert, daß wir deine Gutmütigkeit über Gebühr für uns ausnutzten. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, daß du so etwas wie Neid oder Eifersucht im Beruf nicht kennst – trotzdem möchte ich dich vorher fragen. Würdest du dich zurückgesetzt oder vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn ich die Jäszi-Brüder engagierte, dich in der Voltige zu ersetzen?« »Nicht im geringsten«, erklärte Edge fröhlich und wiederholte das fast jubelnd: »Nicht im geringsten!« Die Brüder waren inzwischen abgesessen und kamen zu ihnen herüber. Edge rief aus: »Willkommen, Männer, willkommen!« schüttelte ihnen ausgiebig die Hand – erst Zoltän, dann Arpäd und schließlich Gusztäv – und grinste dabei von einem Ohr zum anderen, so daß er fast so häßlich aussah wie sie. Florian schien ein wenig verwirrt über Edges Enthusiasmus, sagte jedoch: »Ich gehe mit ihnen ins Kontor, damit wir die Verträge aushandeln; dann rufe ich Maggie Hag wegen der Kostüme, die sie brauchen.« »Ehe du gehst, Governor ...« sagte Edge. »Jetzt, wo du einen so sehenswerten Ersatz für wenigstens eine meiner Nummern hast, möchte ich dich um einen Gefallen bitten ...« Er berichtete von der neuen Einladung der ›Gräfin Hohenembs‹, die diesmal auch Clover Lee mit einbegreife, und von seiner Vorstellung, sich nur drei Tage frei zu nehmen, und das nicht allzu häufig, vielleicht alle vierzehn Tage oder alle drei Wochen. Am liebsten hätte er – schon allein um Florians entgeistertes Gesicht zu sehen – ihm verraten, wer Amelie wirklich war, überlegte dann jedoch, daß er dazu wohl kein Recht habe. »Damit bleibt immer noch die Freiheitsdressur, die du ja -1136-
selbst übernehmen kannst, und Mondays Hohe Schule; dazu jetzt diese phantastischen Jäszi-Brüder – das sind insgesamt drei sehr gute equestrische Nummern. Folglich wird den Gaffern das Fehlen eines einsamen Stehendreiters und einer Kunstschützennummer gar nicht auffallen. Außerdem werden wir zwei sowieso bei jedem Besuch im Schloß nur für sechs Vorstellungen ausfallen.« »Nun, ich kann ja wohl kaum Nein sagen, wenn du mit so hochgestellten Persönlichkeiten verkehrst«, sagte Florian, den gleichwohl Schuldgefühle plagten, seinem Freund die Voltigereiterei weggenommen zu haben. »Nur tu mir einen Gefallen, und verheirate Clover Lee nicht gleich an einen deiner adligen Freunde. Es wäre mir nicht recht, sie für immer zu verlieren.« So suchte Edge denn Clover Lee auf und erzählte ihr von der Einladung – und der zeitlichen Begrenzung ihrer Besuche – und seiner Hoffnung, sie könne den Grafen Gyula Andrässy mit ihrer Reitkunst so lange ablenken, wie er die Gesellschaft der Gräfin Amelie genieße. Ganz zuletzt fiel ihm dann noch ein zu fragen, ob sie überhaupt Lust habe mitzukommen. Clover Lee, deren kobaltblaue Augen größer und immer größer geworden waren, stieß einen Jubelschrei aus wie die Dampforgel und rief: »Himmel, ja, und ob ich Lust dazu habe! Reiten wir gleich morgen hin.« »Nein. Ich nehme Thunder und muß deshalb erst einem anderen Pferd einen Schnellkurs in den verschiedenen Gangarten geben, damit Monday mit ihrer Hohen Schule zurechtkommt. Und wenn ich dir einen Tip geben darf: An deiner Stelle würde ich nach Siofok gehen und mir eine Abendrobe machen lassen – denn zum Abendessen werfen sich Dero Hochwohlgeboren, zu denen wir dann ja gehören, ganz groß in Schale. Und dann laß dir noch sagen, daß der Ritt verdammt anstrengend werden wird. Thunder ist ein alter Kavalleriegaul, dem werden die Ritte nichts weiter ausmachen; -1137-
aber dein Snowball oder Bubbles sind dem nicht gewachsen. Ich schlage vor, daß du jeden der Pinzgauer ausprobierst und dir den aussuchst, von dem du meinst, daß er der ausdauerndste und schnellste ist.« »Wird gemacht. Ach, Zack, ich kann es kaum erwarten.« »Kann ich mir denken. Ich sehe schon, wie du den Titel Gräfin vor deinen Namen stellst. Aber dieser Andrässy ist fünfundvierzig Jahre alt und hat Frau und Kinder. Was für Hausgäste sonst noch da sind, weiß ich nicht. Durchaus möglich, daß ein adliger Junggeselle dabei ist, der altersmäßig besser zu dir paßt. Mir ist es egal, wie heftig du rumflirtest – nur, wenn die Gräfin und ich nicht dabei sind, hast du dich an Graf Andrässy zu halten und dafür zu sorgen, daß er beschäftigt ist. Ist das klar?« »Yessir, Colonel!« sagte sie lächelnd mit rosig erglühtem Gesicht und grüßte militärisch. Danach wurden sofort alle anderen weiblichen Circusangehörigen mit vor Glück und Stolz überschäumender Stimme über ihren bevorstehenden Abstecher in die Welt der Reichen und Mächtigen informiert und über ihre doch wohl mit Sicherheit glückverheißenden Aussichten dort. Die Frauen gratulierten ihr, wünschten ihr alles Gute und versicherten ihr, sie werde mit Sicherheit jeden Prince Charming in dieser Märchenwelt in ihren Bann schlagen. Einige machten ihr liebevoll vor, bitter eifersüchtig auf sie zu sein. Nur eine – Sunday Simms – sagte überhaupt nichts. Und sagte immer noch nichts, als sie und Edge einander später auf der Budengasse begegneten und er sie sehr herzlich grüßte. Sunday ließ mutwillig die Locken fliegen und Edge stolz erhobenen Hauptes stehen. Edge drehte sich um, holte sie ein und sagte: »Nanu, Butterfly, was ist denn in dich gefahren?« Sie funkelte ihn an und zischte: »Deine Gräfin hat ja wohl schon einen Gatten, oder? Das hält aber weder sie davon ab, -1138-
jedesmal, wenn ihr euch trefft, aufs neue mit dir zu spielen und dich zum besten zu halten, noch dich, mit heraushängender Zunge hinter ihr herzuhecheln wie ein Rüde hinter einer läufigen Hündin.« »Ja, sage mal? Was, um alles in der Welt, kümmert’s dich, was ich tue oder lasse? Ich meine, ein Kind sollte sich nicht zum Richter über das Verhalten eines erwachsenen Mannes aufschwingen. Es ist das erstemal, daß ich dich in so übler Laune erlebe, Sunday, und das aus einem Grund, der dich nichts angeht.« »Auch in diese verliebst du dich wieder – deshalb.« Ehrlich betroffen, sagte Edge: »Und wenn ich mich in Maggie Hag verlieben würde – oder Grille – oder Willi Lothar –, was geht das dich an? Im übrigen tue ich nichts weiter, als noch mal einen kleinen Urlaub auf dem Lande zu machen. Und diesmal nehme ich sogar eine Anstandsdame mit.« Woraufhin sie jetzt wie eine Katze fauchte und sagte: »Clover Lee nimmst du doch nur mit, um ihrem Gatten Sand in die Augen zu streuen, während du dich im geheimen mit ihr vergnügst.« »Ja, verdammt noch mal, Mädchen, selbst wenn das so wäre – du bist es doch, die mich erst auf die Idee gebracht hat!« »Ja«, sagte sie kläglich. »Zum Teufel mit mir und meinen Ideen!« Und brach in Tränen aus, rannte davon und ließ einen verblüfften Edge zurück.
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6 Um elf Uhr nachts war auf den Straßen von Keszthely kein Mensch mehr zu sehen. Trotzdem entdeckte Edge schließlich einen – vermutlich jemand, der nicht schlafen konnte – und fragte ihn nach dem Weg auf die einzige Art, die ihm möglich war, indem er nämlich in fragendem Tonfall immer wieder »Festetics?« sagte und der Mann seinerseits auf eine Art reagierte, die wiederum Edge verstand – indem er mit dem Finger zeigte. Edge und Clover Lee ritten weiter und standen nach etwa fünf Kilometern außerhalb der Stadt vor dem Schloß. Ein großes Haus, doch bei weitem kein so grandioses Bauwerk wie das von Amelie; es wirkte vielmehr wie ein Stadthaus, das man genommen und in riesige Rasenflächen und Blumenbeete hineingestellt hatte. Als Edge den vergoldeten Klopfer betätigte, öffnete ihnen ein Butler. Edge stellte sich und Clover Lee vor, doch der Butler konnte offenbar kein Englisch. Hochmütig und verächtlich blickte er auf den Mann und die junge Frau in verstaubtem Reitdreß sowie die schweißbedeckten Pferde, die mit hängendem Kopf auf der Einfahrt standen. Jetzt versuchte es Clover Lee mit dem bißchen Französisch, das Rouleau ihr beigebracht hatte, um ihm klarzumachen, sie kämen auf Einladung der Gräfin Hohenembs. Das verstand der Butler, doch sagte er nur: »Attendez ici« und schlug ihnen die Tür vor der Nase zu. Als diese wieder aufgemacht wurde, stand Baronin Marie Festetics da, hieß sie warmherzig willkommen und entschuldigte sich dafür, daß der Butler nicht instruiert gewesen sei, sie einzulassen, wenn und wann immer sie kämen. Sie und der nunmehr untertänigst um sie herumscharwenzelnde Butler führten sie in das Speisezimmer, und die Baronin sagte mehr zu Clover Lee als zu Edge: »Wir anderen sind im Salon und trinken noch ein Glas Cognac vorm Schlafengehen. Sie möchten jedoch gewiß erst morgen früh vorgestellt werden, wenn Sie sich -1140-
ausgeruht und erfrischt haben und präsentabel angezogen sind. Im Moment müssen sie hungrig sein, deshalb werde ich die Küche anweisen, Ihnen eine warme Mahlzeit zu servieren. Ihre Zofe und Ihr Kammerdiener können inzwischen das Bad für Sie bereiten. Wo haben Sie Ihr Gepäck?« »Auf den Pferden, Baronin.« »Ich werde dafür sorgen, daß es auf Ihre Zimmer hinaufgebracht wird, und daß die Pferde abgerieben und gefüttert werden. Sobald Sie sich die Hände gewaschen haben, wird Burkhalter Ihnen zu trinken bringen, was Sie möchten.« »Csopaki«, sagte Edge, woraufhin der Butler jedem von ihnen einen großen Pokal dieses Weines einschenkte, sich verneigte und rückwärts schreitend zur Tür hinausging. Die Baronin mußte Köche und Küchenmädchen ganz schön auf Trab gebracht haben oder diese waren Vorbilder an Tüchtigkeit, denn kaum hatten sie ausgetrunken, deckten Diener bereits den Tisch und stellten dampfende Platten mit verschiedenerlei gegrilltem Fleisch, heißen Brötchen, Silberkannen mit Tee und Kaffee vor sie hin, und Burkhalter schenkte ihnen Wein nach. »Du meine Güte!« sagte Clover Lee mit leuchtenden Augen. »Und du nimmst das alles, als könnte dich nichts erschüttern, Zack: Butler und Diener, Zofe und Kammerdiener und überhaupt alles.« Sie fiel heißhungrig über das Essen her. »Nun, dies ist das Südende des Sees – sollte man da nicht von Südstaaten-Gastfreundschaft sprechen?« »Das ist nichts weiter als die natürliche ungarische Großzügigkeit, verbunden mit den guten Manieren der höchsten Kreise«, sagte Edge. »Ich sollte dich wohl darauf vorbereiten, daß deine Zofe wahrscheinlich weder englisch noch französisch spricht. Aber sie weiß, was sie zu tun hat; du brauchst keinen Finger zu rühren und keine einzige Anweisung zu geben.« -1141-
Nach dem Essen führte Burkhalter sie hinauf auf ihre Zimmer, wo die Diener, die ihnen persönlich zugeteilt worden waren, sie bereits erwarteten. Edge und Clover Lee hatten selbstverständlich nur das mitgebracht, was in gewöhnliche Satteltaschen und in den Mantelsack hineinging. So konnten Kammerdiener und Zofe über die zerknüllten Kleidungsstücke nur den Kopf schütteln. Doch trugen sie sie fort und erklärten, morgen früh würden sie gebügelt und anziehbereit daliegen. Edge stieg ohne fremde Hilfe in die Badewanne, doch Clover Lee war nur zu glücklich, sich von der Zofe verwöhnen, einseifen, den Schwamm über sich ausdrücken und das goldene Haar schamponieren, ja, sich sogar das Nachthemd überziehen und die Bettdecke feststopfen zu lassen. Wie versprochen ging Amelie von ihrer vormittäglichen Routine ab und kam wie eine gewöhnliche Kaiserin zusammen mit den anderen zum Frühstück. Edge und Clover Lee wurden vorgestellt – auf englisch, das alle Anwesenden fließend beherrschten. Auf Edges flüsternd vorgebrachten Vorschlag hin und zur Erheiterung der anderen Gäste stellte Kaiserin Elisabeth sich als Gräfin Hohenembs vor. Edge wollte nicht, daß eine von Ehrfurcht überwältigte Clover Lee im FLORILEGIUM die Wahrheit hinausposaunte. Ihr Gastgeber, Graf Festetics, war Witwer, ein beleibter älterer Herr, doch lebhaft und gutmütig und mit einer Vorliebe für langatmige Vorträge; er konnte sich nicht genug tun, Clover Lees Schönheit und Anmut zu preisen. Graf Andrässy Gyula, erster Premierminister des neuen Königreichs Ungarn sowie Kriegs- und Außenminister in einer Person, war ein großgewachsener, hagerer und auf nicht unangenehme Weise mit einem Raubvogelgesicht ausgestatteter Mann mit einem Hauch Silber im Backenbart. Außer der Baronin Marie, Clover Lee und Edge gab es keine weiteren Gäste. Clover Lee und Edge als die Zuletztgekommenen mußten als erste an das Büfett herantreten und unter den Platten mit -1142-
mehreren Omeletts, weich- und hartgekochten Eiern, Schinken, Speck, Würsten und Räucherfisch, Kalbsbries, Toastscheiben auf Ständern, Schüsseln mit Buchweizengrütze und Krügen mit mehreren Saftsorten sowie dickbauchigen Kaffee- und Teekannen wählen. Sich nehmen durften sie freilich nicht selbst; sie zeigten vielmehr auf das, was sie wollten, und Diener taten ihnen das Gewünschte auf die Teller und füllten ihnen Gläser und Tassen. So kam es, daß Clover Lee und Edge die ersten waren, die sich am Tisch niederließen, während die anderen noch am Büfett standen. Das gab Clover Lee Gelegenheit zu murmeln: »Du hattest recht, Zack. Es ist fast unheimlich, wie sehr die Gräfin Amelie der teuren Autumn ähnlich sieht. Einfach wunderschön! Bedauerlich ist nur, daß keine jungen Männer zu Besuch hier sind, aber beklagen kann ich mich auch nicht. Es wird nicht schwer sein, einem so distinguierten Mann wie dem Grafen die Gefährtin vorzuspielen. Für sein Alter sieht er ja sehr gut aus. Und muß auch mich schön finden. Beim Handkuß hat er mich mit den Augen schon ausgezogen.« Und in der Tat, als alle bei Tisch saßen, verleitete sein Interessse für Clover Lee den Grafen Gyula dazu, seinen Gastgeber arrogant bei einer langatmigen Anekdote zu unterbrechen.»... Obwohl ganz offensichtlich schuldig, wurde der Mann nie vor Gericht gestellt, denn verstehen Sie, er war ein mägnäs, ein adliger Großgrundbesitzer. Und übrigens, Edge ür, davon leitet sich Ihr englisches Wort magnate ab und das deutsche Magnat ...« »Wie man mir sagte«, fiel Andrässy ihm an Clover Lee gewandt rüde ins Wort, »besitzen Sie neben Ihrer betörenden blonden Schönheit auch noch großes Talent in der Kunstreiterei, Coverley kisasszony.« »Ach, nennen Sie mich doch Clover Lee, Euer Gnaden«, sagte sie und klimperte kokett mit den Augenlidern. -1143-
»Und Sie mich Gyula. Oder Julius, wenn Ihnen die englische Form des Namens lieber ist. Ich wollte Sie bitten – nach dem Frühstück –, ob Sie uns dann wohl eine Kostprobe Ihrer akrobatischen und tänzerischen Leistung als Stehendreiterin geben wollen?« Bescheiden sagte sie: »Ich würde es als schmeichelhafte Ehre betrachten, vor einem so erlauchten Publikum aufzutreten.« »Oh, nicht nur das«, sagte Amelie. »Miss Coverley war so nett, sich zu erbieten, dir, Gyula, ein paar besonders männlich verwegene Kunststücke beim Reiten beizubringen, mit denen du deine Freunde, die Hindernisreiter, beeindrucken kannst. Ich denke, du solltest ihr Angebot annehmen.« Sie lachte. »Stell dir vor, wie verblüfft deine Kollegen, die Minister sein werden, wenn du hoch zu Roß in die Ratsversammlung geritten kämest und anfingest, wie ein Csikos zu springen und zu tanzen. Sie würden nie wagen, auch nur bei einer einzigen der Maßnahmen, die du ergreifen möchtest, zu opponieren.« »Pompäs!« rief Andrässy laut und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Fabelhaft, Clover Lee. Wir werden uns Ihre Vorführung ansehen, und dann, wenn die anderen ihren Zerstreuungen nachgehen, werden Sie und ich ungesehen von den anderen trainieren.« Sowohl Clover Lee als auch Amelie strahlten, und Edge hätte es gleichfalls getan, wenn Amelie es ihm nicht verboten hätte. Während die anderen an der Reithalle des Schlosses warteten, ging Clover Lee mit einem Stallburschen in den Stall, um sich ein passendes Pferd auszusuchen, denn Thunder und ihr Pinzgauer mußten sich ausruhen, um den langen Ritt zurück morgen zu überstehen. Amelie erklärte inzwischen: »Ich persönlich habe Miss Coverleys Können schon häufig bewundert, und für Zachary ist es wohl auch nichts Neues. Deshalb werde ich ihn mitnehmen und ihm ein paar der Sehenswürdigkeiten hier zeigen.« Dann schickte sie einen -1144-
anderen Stallburschen, ihre beiden Araber zu satteln. Als sie den Schloßpark verließen, tauchte irgendwo aus dem Nichts schatten auf und lief in langen Fluchten neben ihnen her. Erst führte Amelie Edge hinunter nach Keszthely und ans Ufer des Sees, wo viele Familien und Gruppen Piknikek machten, ins Wasser hineinwateten, schwammen, ruderten oder segelten. In einem Gehölz ließen sie die Pferde stehen – es handelte sich um süßduftende Oliven, Bäume, die ihrem Namen alle Ehren machten, denn sie verströmten in der Tat einen köstlichbetörenden Duft –, um den Kindern zuzusehen, die so weit hinauswateten, daß ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen waren, obwohl sie immer noch auf dem Seeboden dahingingen. Die Schwimmer waren so weit hinausgeschwommen, daß sie nur mehr als kleine Punkte zu sehen waren. Dann führte Amelie sie ein paar Kilometer um das Nordufer herum und wandte sich nach einigen weiteren Kilometern landeinwärts nach Szent György, um ihm die berühmte, ›Orgelpfeifen‹ genannte Lavagruppe zu zeigen, ein vor- und zurückspringendes Felsmassiv, das aus lauter runden, aufrechtstehenden Säulen bestand und aussah wie eine Dampforgel für Titanen. Am Fuß des Massivs halfterten sie die Pferde an und stiegen die Felsgruppe hinauf und zwischen den Säulen herum, bis sie eine fanden, die ein flaches, weich mit Gras und Moos ausgepolstertes Sims aufwies. Dort – höchstens von ein paar hin- und herspringenden Ziegen gestört liebten sie sich, und Amelies nunmehr vertrautes Crescendo, ihr Höhepunkt und das langsame Diminuendo melodischen Lachens hallte in den Felsen wider, als wären die Säulen wirklich Orgelpfeifen. Zum Diner trug Edge seine weiße Schleife zum weißen Frack, und Clover Lee sagte bewundernd, ja, fast verwundert, stattlicher habe er nie ausgesehen. Die beiden Grafen trugen selbstverständlich auch Gesellschaftsanzug und Andrässy seine Ministerschärpe quer über der Brust. Clover Lee sah im blaßgrünen Taftkleid und dem blonden Haar, das ihr bis zur -1145-
Taille reichte, wie ein Engel aus, und Amelie in der Seidenrobe, die farblich genau zu dem Rubindiadem, ihrem Kollier, den Ringen und dem Armreif paßte, konnte die Kaiserin nicht mehr verleugnen. Das gesamte Abendessen über tauschten Amelie und Edge Blicke, die nicht zu bemerken oder richtig zu deuten Andrässy hätte blind sein müssen. Doch genau dies war er, nämlich blind, denn er und Clover Lee tauschten ziemlich die gleichen Blicke wie das andere Paar. Nur die Baronin Marie merkte beides, enthielt sich jedoch jeden Kommentars. Graf Festetics bemerkte nichts von dem, was sich hier abspielte, ebensowenig, daß die anderen am Tisch ihn praktisch nicht zur Kenntnis nahmen. Er erzählte Anekdoten von außergewöhnlicher Langatmigkeit und Langeweile, machte sich jedoch nicht im geringsten etwas daraus, daß er damit bei den anderen keinerlei Reaktion hervorrief. Mußte er, was selten genug vorkam, einmal Atem holen, wurde diese Pause von seinen Gästen zu einem Austausch von Bemerkungen genutzt, deren Zweideutigkeit eigentlich unüberhörbar war. Amelie fragte: »Nun, wie ist dir das Training heute bekommen, Gyula?« »Oh ... ah ... sehr gut, wirklich. Ich habe ein paar neue Sachen dazugelernt. Tolle Methoden zum Verhalten und zum Wechsel der Gangart und verschiedene reizvolle Stellungen.« »Aber auch er hat mir einiges beigebracht«, sagte Clover Lee. Sie hielt einen hinreißend berechneten Herzschlag hindurch inne, ehe sie hinzufügte: »Wie man zum Beispiel die Hürden anmutiger nimmt.« Andrässy sagte: »Ich hoffe, Sie kommen wieder, damit wir weiter trainieren können.« Amelie sagte: »Ihr habt doch wohl nicht den ganzen Tag über zu Pferde trainiert, oder?« »Nein, nein. Ich schäme mich zwar, es zuzugeben, aber ich habe eine Reihe von dilettantischen Stürzen hinter mir und bin überhaupt ziemlich wund. Deshalb bin ich mit Clover Lee ins -1146-
Wildgehege gegangen, um ihr die Kitze dieses Jahres zu zeigen. Die haben zwar ihre hellen Kringel alle verloren, waren aber zutraulich und hatten überhaupt keine Angst vor uns.« »Das liegt nur daran, daß so wenige Menschen den Wildpark jemals betreten«, sagte Amelie mutwillig. »Da kann man völlig ungestört und für sich sein.« Nachdem Graf Festetics inzwischen lange genug Atem geholt hatte, um seine Monologmaschinerie erneut in Gang zu setzen, erzählte er eine weitere Anekdote, die diesmal freilich Heiterkeit und Belustigung bei seinen Zuhörern auslöste. Graf Festetics gehörte offensichtlich zu den vielen, die wußten, daß die Kaiserin Elisabeth es selten krumm nahm, wenn jemand sich auf Kosten ihres Gemahls lustig machte. Diese bestimmte Geschichte schloß laut dem Grafen: »Nun, Franz Joseph beschied den armen Bittsteller: ›Ich werde darüber nachdenken lassen‹, wandte sich dann seinem Stallmeister zu und befahl: ›Denk drüber nach, Klaus!‹« Amelie stimmte fröhlich in das Gelächter der anderen ein und sagte: »Ö jaj! Das ist Megaliotis wie er leibt und lebt«, und die anderen Ungarn in der Runde, die sie diesen Ausdruck schon des öfteren hatten gebrauchen hören, lachten womöglich noch lauter über das, was der griechische Ausdruck im Ungarischen bedeutete. Nach Kaffee und Blut-Brandy – einem Kirschlikör – verabschiedeten Edge und Clover Lee sich; sie wollten zu Bett gehen und morgen früh bei Tagesanbruch zurückreiten, ehe die anderen aufgestanden waren. »Ach, aber kein Lebewohl«, sagte Amelie und sah dabei Edge an. »Hoffentlich nicht«, sagte Andrässy und sah dabei Clover Lee an. Edge ritt, wie er es bei der Kavallerie gelernt hatte: anderthalb Kilometer Galopp, anderthalb Kilometer Schritt – folglich verließen er und Clover Lee den Stallhof des Schlosses am -1147-
nächsten Morgen im Galopp. Als sie diese Gangart nach den ersten anderthalb Kilometern verlangsamten und sie sich unterhalten konnten, sagte Clover Lee mutig: »Ich hoffe, du hast mit der Gräfin Amelie genausoviel Spaß gehabt wie ich mit Graf Gyula. Als du sagtest, er stehe bereits im vorgeschrittenen Alter, habe ich mir einen dickbäuchigen und verschrumpelten Mann vorgestellt.« Sie lachte. »Verschrumpelt ist er jedenfalls nicht.« »Da hätte ich mich auch gewundert. Er ist ja nur fünf Jahre älter als ich.« »Nun, hoffentlich weiß die Gräfin dich zu schätzen. Gavrila Smodlaka hat mir mal gesagt, jüngere Frauen und ältere Männer, das wäre die beste Kombination.« Schweigend ritt Edge eine Minute weiter, doch dann sagte er: »Du und ich, wir haben es weit gebracht, von der kleinen Circusklitsche in Beaver Creek bis hier, nicht wahr?« »Das haben wir ja alle. Bis auf diejenigen, die wir unterwegs verloren haben.« Clover Lee zögerte und sagte dann fast unhörbar: »Was wohl aus Mutter geworden ist ...« Schon am nächsten Nachmittag standen Edge und Clover Lee wieder in der Manege, und Clover Lee hatte alle ihre Kolleginnen bereits mit einer eingehenden Beschreibung des Festetics-Schlößchens erfreut ... »Hundertundein Räume, eine Bibliothek, die über zwei Stockwerke geht, und in den Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichen, zweiundfünfzigtausend Bücher. So etwas Wunderschönes wie diesen Stall habt ihr noch nie gesehen. Und einen Wildpark mit zahmem Rotwild ...« Einen gleichfalls bis in jedes Detail gehenden, – wenn auch nicht in die intimsten Einzelheiten – Bericht hatte sie darüber abgegeben, was sie mit dem Adel alles erlebt hatte, davon, daß sie eine Zofe gehabt hatte, sie an- und auszukleiden, ja, sie sogar zu baden, nebst Einzelheiten jeder Mahlzeit, die sie dort gegessen. Die anderen Frauen stießen abwechselnd Ohhhs und Ahhhs aus, und wenn sie zu erkennen gaben, daß sie neidisch -1148-
waren, mag das diesmal nicht ganz gespielt gewesen sein. Clover Lee hätte den anstrengenden Ritt mit Vergnügen binnen weniger Tage wiederholt und besaß zweifellos auch die Energie dazu, doch Edge sagte entschieden Nein. »Wir haben hier Verpflichtungen, Mädchen. Wir können weder den Governor, noch unsere Kollegen, noch das zahlende Publikum einfach sitzenlassen, wann es uns gefällt.« »Verdammt! Wieviele Chancen hat ein Mädchen wie ich denn im Leben ...?« »Allerdings«, fiel Edge ihr ins Wort, »in zwei Wochen gibt es ein Fest, das vier Tage hindurch geht, mit Hochamt in der Kirche und Straßenumzügen in Siofak. Es geht dabei um den Geburtstag eines Burschen namens Kossuth – irgend so ein ungarischer Nationalheld. Da wird unser Circus ziemlich leer sein, und das ist die Gelegenheit, nach Keszthely zurückzukehren. Diesmal werden wir zwei Tage bleiben können.« Sie ritten auch hin, mußten jedoch zu Clover Lees Leidwesen feststellen, daß Graf Andrässy in dringenden Regierungsangelegenheiten nach Budapest zurückgerufen worden war. »Irgendeine ermüdende Debatte über irgendwelche Handelsabkommen«, sagte Amelie gleichmütig. »Wahrscheinlich überhaupt nichts Wichtiges, aber bei Gyula kann man sich immer drauf verlassen, daß er seine Pflicht tut. Die Nachricht wurde telegraphisch übermittelt, und er ist sofort abgereist. Außerdem bedauere ich, Ihnen mitteilen zu müssen, meine Liebe, daß er in diesem Jahr nicht wieder an den Balaton zurückkommt.« Eingedenk Amelies Überzeugung, daß jede jüngere Frau ihre ›Rivalin‹ sei, fragte Edge sich insgeheim, ob die Abberufung nach Budapest nicht auf Machenschaften ihrerseits zurückzuführen sei, doch hütete er sich, irgend etwas zu sagen. -1149-
Freilich, die Enttäuschung von Clover Lee währte nicht lange. Es stellte sich nämlich heraus, daß das Schloß jetzt voll war von einer beträchtlichen Schar neuer Gäste: acht junge Männer, alles Barone, Markgrafen oder Grafen – oder zumindest beim Tod ihrer Väter Anwärter auf diese Titel – sowie die Gattinnen von sechsen davon. Doch zwei der jungen Männer – ein künftiger Baron Horvät Imre und ein künftiger Graf Puskäs Frigyes – hatten keine Frau, weder hier noch sonstwo, und ihre Mienen hellten sich sichtlich auf, als sie am nächsten Morgen Clover Lee vorgestellt wurden. Beim Frühstück, nachdem Graf Festetics eine Viertelstunde gebraucht hatte, um zu erzählen, daß er dem Heros Kossuth Lajos einmal die Hand geschüttelt, verkündete Amelie: »Zachary und Clover Lee, da ihr diesmal einen Tag länger in unserer Mitte verbringt, habe ich eine Überraschung für euch vor. Wir werden nach Almädi fahren. Die am Südufer gelegenen Kurorte Siofok und Földvär, zwischen denen das FLORILEGIUM sein Chapiteau aufgeschlagen hat, sind selbstverständlich die beliebtesten am ganzen See und daher immer überfüllt. Wer sich jedoch auskennt und Geschmack besitzt, geht nach dem am Nordufer gelegenen Almädi, ein malerischer, stiller und von den gewöhnlichen Leuten aus der Stadt noch nicht entdeckter Ort, der viel zu bieten hat. Aber ihr werdet selbst sehen.« »Ist das weit von hier?« fragte Edge. »Ja. Fast genauso weit wie von hier zurück zu eurem Circus. Ich habe vor, morgen früh zeitig loszufahren und irgendwann nach Dunkelwerden dort einzutreffen. Wir werden uns Zimmer im Gasthaus nehmen, und am nächsten Tag zeige ich euch alles Sehenswerte.« »Das jedoch wäre unser vierter Tag, Gräfin. Wir müßten am Abend zurück sein auf dem Festplatz.« »Das werdet ihr auch. Es sind nur zwanzig Kilometer von -1150-
Almädi quer über den See bis zum Circus. Eines der großen Fährboote kann Pferd und Reiter aufnehmen. Wenn vier Mann rudern, schaffen sie die Überfahrt in nur drei Stunden. Ihr könnt uns verlassen und so früh oder spät zum Festplatz zurückkehren, wie ihr wollt. Selbst am nächsten Vormittag geht es noch; ihr würdet immer noch rechtzeitig zur Vorstellung zurück sein.« »Oh. Ja, das klingt wunderbar!« »Das hatte ich mir gedacht, und deshalb habe ich die Baronin Marie bereits vorausgeschickt, Zimmer für uns zu reservieren. Das Gasthaus, das ich ausgewählt habe – aus einem ganz bestimmten Grund, den ich euch verraten werde, wenn wir da sind –, ist das Törgyöpi – ein sehr ansehnliches Etablissement und nicht bloß eine Land-Csärda. Allerdings hat es nur fünf Räume zum Übernachten. Für mich, für Clover Lee, für Sie, Zachary, für Marie – und noch jemand. Sie dürfen sich also aussuchen, wer Sie dorthin begleiten darf, Clover Lee.« »Hhhmmm ...«, machte Clover Lee. Der junge Horvät und der junge Puskäs sahen sie sogleich schmachtend an. »Ja, das werde ich wohl.« »Und was machen wir«, fragte Edge, »wenn die fünf Zimmer bereits besetzt sind?« Amelie sah ihn mit einem Ausdruck nachsichtiger Belustigung an. »Marie braucht bloß meinen Namen zu erwähnen. Also dann. Ergehen wir uns jetzt im Schloß oder im Park und überanstrengen wir uns nicht, damit wir morgen für die lange Fahrt nicht zu abgespannt sind.« Clover Lee setzte sich über diese Ermahnung insofern hinweg, als sie wieder ihr Trikot anzog und vor den neuen Gästen eine Kostprobe ihres Könnens als Kunstreiterin gab, wobei der junge Baron Horvät und der junge Graf Puskäs immer wieder heftigeren Beifall spendeten als alle anderen. Nachdem sie sich umgezogen hatte, verbrachte Clover Lee den Rest des Tages mit weniger anstrengenden Beschäftigungen. Puskäs und -1151-
Horvät baten gleichzeitig um die Ehre, ihr die Skulpturen im Schloßpark zu zeigen, den Teich mit den exotischen Fischen darin, den Seerosenteich und das Wildgehege. Clover Lee nahm beide Einladungen an und spazierte in ihrer Mitte durch den Park, warf beiden unparteiisch gleich viele kokette Blicke zu und flirtete mit beiden, ohne den einen oder den anderen zu bevorzugen. Zwischendurch warfen die Verehrer sich über Clover Lees Blondschopf hinweg Blicke zu, mit denen sie sich gegenseitig zum Teufel wünschten, während sie hoffte, sie könnte sie – einer echten femme fatale gleich – zu einem Duell provozieren. Als sie sich am Abend zum Diner niederließen, waren sie jedoch immer noch zu dritt. Edge war seinem Gastgeber gegenüber höflich genug, einen Teil des Vormittags zusammen mit den anderen Gästen in seiner Gesellschaft zu verbringen und mit dem Ausdruck hingerissenen Interesses zuzuhören, wie der alte Graf Festetics bis zum Überdruß von seinen Knabentagen bis heute aus seinem Leben erzählte und dabei manchmal Erinnerungen wie ein Schauspieler vorspielte. Er brauchte eine halbe Stunde, um bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr – 1809 – zu kommen, als er von einer Gouvernante in Das Große Geheimnis eingeweiht wurde. Einem Ehepaar nach dem anderen fiel etwas ein, das unbedingt noch woanders erledigt werden mußte. Edge blieb lange genug, um noch etwas von dem zwar fehlgeschlagenen, aber heldenhaften Aufstand von 1848 gegen die Herrschaft der Österreicher über Ungarn mitzubekommen und hoffte lange auf einen Bericht über Strategien und Taktiken oder Schlachten, doch es stellte sich heraus, daß der einzige heroische Beitrag des Grafen zum Aufstand darin bestanden hatte, daß er das Flugblatt Nieder mit dem Kaiser! verteilte. Woraufhin auch Edge vorschützte, nachsehen zu müssen, ob seine Pferde sich nach dem gestrigen anstrengenden Ritt wieder erholt hätten. »Mein Gott, ist dieser alte Mann ein Schwätzer!« sagte er, als er Amelie entdeckte, die in einem der Gärten langstielige Rosen -1152-
schnitt. »Deshalb wirst du jedesmal, wenn du hierherkommst, eine neue Gruppe von Gästen vorfinden.« Mit einem aufreizenden Lächeln sagte sie: »Es gibt doch so viel schönere Dinge zu tun als zu reden oder zuzuhören. Komm, hilf mir, diese Rosen in meine Gemächer hinaufzutragen.« Und dort redete Amelie für den Rest des Tages in der Tat wenig, sondern lachte viel und unverkennbar, von leise bis laut und wieder leise, und tat dies zu wiederholten Malen und hätte mit Freuden endlos damit weitergemacht. Doch schließlich mußten sie eine Pause einlegen, sich zum Diner umkleiden und dem Grafen Festetics wieder eine Weile zuhören. Am nächsten Morgen fuhren die beiden Paare in aller Frühe – Clover Lee hatte sich für Puskäs als Begleiter entschieden; er war stattlicher als Horvät – in einer eleganten, doch ziemlich leichten und mit einem Viererzug bespannten Kutsche los. ›Schatten‹ lief nebenher und sprang gelegentlich auf den Sitz neben den Kutscher, um sich auszuruhen. Der Kutsche folgte ein weiterer Vierspänner mit Körben voller Wein und mit Eßpaketen, dem beträchtlichen Reisegepäck der Gräfin und des jungen Grafen Puskäs und dem alles andere als umfangreichen Gepäck von Edge und Clover Lee und ihren Sätteln. Hinter diesem Kutschwagen liefen Thunder und der Pinzgauer am Halfter. Zum Mittagessen kamen sie erst spät am Nachmittag, denn Amelie bestand darauf, daß sie damit warteten, bis sie nach Süden in die Tihany-Halbinsel einschwenken konnten. Dort breiteten Kutscher und Diener Tischlinnen aus wie zu einem Picknick und stellten Essen und Wein hin und das alles inmitten von fünfundachtzig Morgen mit Lavendelpflanzen. Tihany, sagte Amelie, versorge sämtliche Parfümhersteller in ganz Europa mit Lavendelöl. Gerade jetzt waren die Gärtner dabei, die duftende Ernte einzubringen, und Edge und Clover Lee meinten, daß man den Wohlgeruch noch bis Budapest riechen -1153-
müßte. Gegen neun Uhr abends erreichten sie Almädi; auch dieses Städtchen war von Wohlgeruch erfüllt, freilich diesmal von dem weniger aufdringlichen Duft von Citrusfrüchten. Dort wurden sie von Marie und dem Wirt des Torgyöpi erwartet, der immerfort Kratzfüße machte und sie in ihre Räume über eine Außentreppe nach oben führte, damit sie sich nicht den Weg durch die Schankstube bahnen müßten. Der Gastwirt sprach magyarisch mit Amelie, doch sie wiederholte das, was er zu sagen hatte, für Edge und Clover Lee auf englisch. Er sagte, die Baronin und seine anderen Gäste hätten bereits gespeist, doch stehe das Küchenpersonal bereit, eine süperbe Mahlzeit für die Neuangekommenen zu bereiten was Ihre Kaiserliche Majestät denn zu essen geruhten? »Ach, für diesmal bin ich die Gräfin Hohenembs, Juhasz ür. Und was sonst würde man in einem am See gelegenen Gasthaus wie diesem genießen wollen als die köstlichen Fogas in jener Kapernsauce, deren Rezept nur Sie allein kennen? Spargel, gedämpfte Kartoffeln mit Paprika. Vorweg, meine ich, eine kalte Petersiliensuppe. Und dazu selbstverständlich Somlyo.« »Sobald Sie und Ihre Gäste sich frisch gemacht haben, Euer Gnaden, steht das Essen auf dem Tisch.« Im Zimmer eines jeden Gastes warteten eine Zofe oder ein Kammerdiener, die alle mit Marie vorausgefahren waren; sie hatten wie auf ein geheimes Zeichen hin die Badewannen bereits mit heißem und sprudelndem Mineralwasser gefüllt – und die von Amelie mit heißer Jersey-Milch. Nach dem Bad trafen sie sich im großen Schankraum, in dem viele Männer und einige wenige Frauen saßen, die tranken und laut durcheinander redeten und lachten. In einer Ecke spielte die Frau des Wirts Cimbalom. Zwar spielte sie bei weitem nicht so gut wie Elemer Gombocz, doch schien ohnehin keiner der Gäste zuzuhören. Juhasz führte die neuen Gäste in einen vom -1154-
Hauptraum abgetrennten Alkoven, der sich durch einen Vorhang abtrennen ließ, doch Amelie bedeutete ihm, diesen nicht zuzuziehen. »Ich möchte euch nämlich was zeigen«, wandte sie sich an Clover Lee, Edge und Puskäs. »Ich steige immer in diesem Gasthaus ab, eines Kuriosums wegen. Dieses Gasthaus liegt nämlich genau auf der Grenze zwischen den Megye, den Verwaltungsbezirken Veszprem und Fejep. Die Grenze zwischen beiden verläuft mitten durch den riesigen Schankraum. Infolgedessen wird dieser Gasthof häufig von Straßenräubern und anderen Gesetzlosen und Flüchtlingen besucht. Tritt – was des öfteren vorkommt – die Polizei des einen Bezirks herein, um sich umzusehen oder vielleicht auch nur ein Glas zu trinken, begeben sich die Missetäter einfach auf die andere Seite des Raums. Die lange Tafel in der Mitte des Raumes steht übrigens genau auf der Megye-Grenze. Daher können die Männer, die an der einen Seite des Tisches sitzen, Polizisten in Zivil sein, die ihnen gegenüber jedoch Banditen.« Als sie ihren zarten, auf der Zunge schmelzenden Fogas-Hecht verzehrten, sagte Amelie: »Bei dem Wein, den wir trinken, handelt es sich um den Somlyo, der nur hier angebaut wird und von dem die Almädier behaupten, er sei der beste Wein in ganz Ungarn – was ich nur bestätigen kann. Die Winzer behaupten, er sei deshalb so besonders gut, weil die Rebstöcke ständig ihr Spiegelbild im Platten-See erblicken. Was nichts anderes bedeutet, als daß die Sonnenstrahlen vom Wasser reflektiert werden und die Rebstöcke nicht nur auf der Oberseite der Blätter, sondern auch auf der Unterseite von der Sonne beschienen werden.« Als sie nach dem Essen auf ihre Zimmer hinaufgingen, stellte sich heraus, daß sie eigentlich nicht alle Räume hätten mit Beschlag zu belegen brauchen; denn nachdem die Dienerschaft fortgeschickt worden war, verbrachten weder Edge noch Puskäs die Nacht in ihren Betten. Edge jedoch stand früh auf und kehrte in sein Zimmer zurück, damit man nach Amelies Zofe läuten -1155-
konnte, ihr das Olivenöl-Bad zu bereiten. Der Tag war bedeckt und grau, doch die auf den See hinausgehenden Weinberge färbten sich golden und rot und schienen selber Sonnenschein auszustrahlen; die Luft war immer noch durchdrungen vom reinen, herben Zitrusgeruch. »Limonenbäume«, erklärte die Baronin Marie. »Hier in Almädi wachsen sechzehn verschiedene Sorten, die alle zu verschiedenen Zeiten nacheinander blühen. Deshalb ist die Luft hier bis auf die Wintermonate immer von Wohlgeruch erfüllt.« Die Stadt lag eingebettet in einen Halbkreis von Hügeln. Die beiden Paare machten einen Spaziergang dorthin und bewunderten die Bauernhäuser – weißgetünchte Holzhäuser oder Hütten aus lehmbeworfenem Flechtwerk, jede einzelne jedoch überwuchert von einer Fülle von Kletterrosen. Amelie zeigte auf den höchsten der Hügel vor ihnen, der eine Art schiefstehenden Kegel bildete und dem sie sich jetzt näherten. »Das ist die Große Nase«, sagte sie. »Einer Almädier Legende zufolge ist hier der allerletzte Riese aus dem Märchen gestorben. Die Menschen haben ihn ehrfürchtig bestattet, konnten jedoch nicht genügend Erde zusammenkratzen, um ihm auch noch die Nase damit zu bedecken.« Als sie oben angelangt waren, stellten sie fest, daß es sich um einen zutage tretenden Felsen handelte, der außer verschiedenfarbenen Flechten keinerlei Vegetation trug. Amelie zeigte ihnen die zahlreichen, jedoch weit auseinander gelegenen Zellen, die vor achthundert Jahren Einsiedlermönche mühselig aus dem Stein herausgehauen hatten. »Die Nase hat aber immer zugleich noch zu etwas anderem gedient«, sagte sie. »Vielleicht habt ihr den Jungen oben auf der höchsten Spitze sitzen sehen. Er ist bestimmt das jüngste Kind einer Fischerfamilie. Von dort oben kann er über den Oberflächenglast des Wassers hinweg bis in die Tiefe schauen. Sobald er einen Schwärm Fische entdeckt, signalisiert er den -1156-
Männern in den Booten seinen Standort.« Als sie an den See zurückkehrten, wurde es immer wärmer, grauer und schwüler. Sie ließen sich auf dem rötlichen Sand eines Sandstreifens nieder. Marie hatte dafür gesorgt, daß die Kutscher vom Gasthaus Körbe mit warmem Essen, Wein, Silberbesteck, Leinentischtücher und Servietten brachten – nicht zu vergessen einen gewaltigen Rindsknochen für Schatten. Die vier waren gerade dabei, die letzte Flasche Somlyo zu leeren, als sie von einem lauten Knall aufgeschreckt wurden. Als sie zum Himmel aufschauten, sahen sie ein weißliches Wölkchen wie einen Wattebausch unter der grauverhangenen Wolkendecke hängen. Noch ein zweites Wölkchen platzte auf, dem kurz darauf ein Krachen folgte. Clover Lee sagte: »Drüben in Siofok müssen sie beim Kossuth-Fest ein Feuerwerk abbrennen.« »Nein«, sagte Amelie und runzelte die Stirn. »Das sind die Raketen, die vor einem Sturm warnen.« Und tatsächlich: der Himmel – bis jetzt eine gesichtslos bleifarbene Kuppel – war zu einem blutergußfarbenen Wolkengebrodel geworden. »Ob es ein schwerer Sturm wird?« fragte Edge, als seeauf, seeab weitere Raketen zerbarsten. »Ein Sturm am Balaton ist immer schlimm.« »Dann tut es mir leid, Amelie, aber ich muß Sie verlassen. Für die Zelte kann das schlimm werden. Ich muß drüben sein, ehe er richtig losbricht. Wo legen die Fährboote an?« Amelie brachte ihn und Clover Lee zum Anlegesteg, während die Kutscher zum Torgyöpi rannten, um ihr Gepäck, ihre Sättel und die Pferde zu holen. Amelie sprach mit einem der Fährleute – der, als er sie erkannte, seine Stirnlocke berührte und sich wiederholt verbeugte –, doch als er antwortete, hörte selbst Edge heraus, daß er zauderte und sich entschuldigte. -1157-
»Er sagt«, übersetzte Amelie, »alle anderen Boote würden jetzt an Land gezogen; es wäre töricht, sich hinauszuwagen und eine dreistündige Überfahrt zu wagen. Außerdem würde er es keinesfalls riskieren, eines der Pferde im Boot mitzunehmen. Selbst bei ruhiger See sei ein Pferd immer noch nervös, bewege sich und verändere das Gleichgewicht des Bootes. Wenn dieser Sturm zuschlägt, könnte ein in Panik geratenes Prerd das Boot kurz und klein schlagen. Wenn du unbedingt willst, kann ich es ihm befehlen zu fahren, und er wird nicht wagen, ungehorsam zu sein ...« »Nein. Keines deiner rotglühenden Eisen, bitte. Vielleicht kannst du ihn überreden, nur mich überzusetzen. Clover Lee kann über Nacht bleiben – morgen ist der Sturm gewiß vorbei – und dann die Pferde und unser Gepäck am Vormittag hinüberbringen.« Amelie sprach noch einmal mit dem Fährmann und diesmal mit großem Nachdruck. Der Mann machte immer noch ein widerstrebendes Gesicht, willigte jedoch schließlich ein. Er rief seine drei Rudergesellen und erteilte ihnen Anweisungen. Die drei sahen unverkennbar ängstlich aus, grüßten die Kaiserin jedoch gleichfalls mit einer Berührung der Stirnlocke, warfen die Riemen ins Boot und lösten die Vorleine. Während sie damit beschäftigt waren, schloß Edge Amelie rasch in die Arme, gab ihr schnell einen Kuß und sagte: »Diese beiden Tage bilden einen besonderen Schatz unter den schönsten Erinnerungen meines ganzen Lebens. Wenn dieses Boot draußen nicht zertrümmert wird, möchte ich dich mindestens noch einmal wiedersehen, ehe der Circus weiterzieht. Oder wenn das ganze FLORILEGIUM davonfliegt – nun, kann ja sein, daß ich mich dann für immer hier niederlassen muß.« »Isten vele«, murmelte sie und lächelte ein wenig verloren. »Behüte dich Gott!« -1158-
Da vier kräftige Ruderer pullten, was das Zeug hielt, schoß das große und behäbige Fährboot ziemlich rasch in südlicher Richtung dahin. Von den Fischerbooten, die dem Ufer zustrebten, wurden sie erstaunt oder höhnisch angerufen, doch Edges Fährleute sparten sich den Atem und reagierten nicht. Der Sturm ließ noch zwei Stunden auf sich warten und sie waren nur noch sechs Kilometer von ihrem Ziel entfernt. Dann jedoch schlug er zu – ein tosender Südwind, in den die Fährleute hineinhielten und gegen den sie ankämpfen mußten. Es war mehr das Wasser als der Wind, das ihnen zu schaffen machte, denn es regnete auch noch sintflutartig. Aus kabbeligen Wellen wurden hochgehende Wogen, die sich zu Brechern auftürmten, welche sich brodelnd überschlugen und von denen der Wind augenblicklich Gischtfetzen hochriß. Von einem Augenblick auf den anderen standen Edge und die anderen Männer knöcheltief im Wasser. Einer von ihnen schrie ihm etwas zu und zeigte auf etwas; als Edge hinsah, erkannte er eine Pütz unter der Ducht und machte sich augenblicklich daran, das Wasser auszuschöpfen. Wenn auch kein Sturm so viel Wasser in ein Boot dieser Größe hätte schlagen können, um es zum Sinken zu bringen, so wollten die Männer an den Riemen zweifellos nicht auch noch das Extragewicht des Wassers gegen die ihnen entgegenlaufenden Wogen und den ihnen direkt ins Gesicht blasenden Wind voranbringen. Obwohl Edge schöpfte, so schnell und so viel er konnte, schaffte er es kaum, den Wasserstand dort zu halten, wo er angefangen hatte, denn der peitschende Regen und das von den Wogenkämmen übergenommene Wasser gelangten genauso rasch ins Boot, wie er es hinausschöpfte. Das Fährboot wurde hin- und hergeworfen, schoß voran und wurde zurückgeworfen, und die Luft hing so voll von Wasser, daß Edge sich fragte, wie die Männer es schafften, auch nur den Kurs zu halten – oder ob sie ihn nicht vielleicht schon verloren hätten. Außerhalb eines Umkreises von zwei, drei Metern um -1159-
das Boot herum war nichts, aber auch gar nichts zu sehen, höchstens die Zacken und Scharten der blauweißen Blitze, die alle paar Sekunden herniederzuckten, so daß die bis ins Mark gehenden Donnerschläge wie eine unablässige Kanonade wirkten. Sie brauchten noch zwei Stunden, das letzte Drittel der Überfahrt zu schaffen, doch sie schafften es, und zwar mit einer geradezu unwahrscheinlichen Zielgenauigkeit. Plötzlich fuhr Edge schneidend etwas über den Nacken, er sah von seiner Pütz auf und erkannte, daß sie in einen Schilfgürtel einliefen. Wenn auch die Schilfstengel und -blätter auf der dem Wind zugekehrten Seite des Bootes auf die Ruderer eindroschen und einhieben, nahmen sie Wind und Wellen bis zu einem gewissen Grad auch etwas von ihrer Gewalt. Noch ein paar Minuten, und der flache Kiel des Bootes schabte über Kies. Alle Männer, Edge eingeschlossen, sprangen über Bord und zogen das mächtige Fahrzeug mit letzter Kraft den Strand hinauf. Die vier Ruderer brachen noch auf den Ufersteinen zusammen, so erschöpft und so durchnäßt waren sie. Edge ließ sie liegen. Sie würden ihr Fährgeld schon abholen, wenn sie sich wieder erholt hatten; er selbst stemmte sich weiter gegen Wind und Regen und arbeitete sich landeinwärts vor. Eine fahle Dämmerung kroch bereits herauf, doch hier, wo das aufgewühlte und hochgerissene Wasser des Sees den Dunst nicht mehr verstärkte, konnte Edge weiter sehen. In einiger Entfernung linkerhand erkannte er bald das FLORILEGIUM, doch sah seine Silhouette anders aus als vor ein paar Tagen. Als er näherkam, begriff er, warum: Masten und Zeltbahnen des Chapiteau lagen am Boden. Und dieser Boden, über den in den letzten Wochen Tausende von Füßen dahingetrampelt waren und auch noch den letzten Pflanzenbewuchs zertreten hatten, war jetzt ein aus zähflüssigem Schlamm bestehender Morast. Fast alle Bahnen des Chapiteau sowie die Rundleinwand waren von den Absegelungen und den Rondellstangen heruntergerissen -1160-
worden, die einzelnen Teile in alle Winde zerstreut. Die Racklos und die meisten anderen Circusleute jagten hinter ihnen her und versuchten, sie zusammenzurollen oder zusammenzulegen, um zu verhindern, daß sie vollends fortgeweht wurden. Beide Masten lagen am Boden und deuteten in entgegengesetzte Richtungen. Die vielen Rondellstangen, die Vorzugsplätze und das Gradin lagen weit verstreut auf dem ganzen Festplatz herum. Das Musikpodium war zu einem Bretterhaufen zusammengekracht, das Cimbalom stand auf seinen Beinen, die jedoch immer mehr im Schlamm versanken. Überall lagen Reste von verschlungenen und verknoteten Seilen herum. Mitten aus einer Pfütze blinkte ein Gewirr von Seilen und Stangen, die einmal das Trapez gewesen waren. Vom ganzen Chapiteau staken nur noch die Anker im Boden und ließen das gewaltige Oval erkennen, das der Zweimaster einmal gebildet hatte; auch die Piste der Manege hatte sich nicht geruckt und nicht gerührt. »Futsch! Weg!« rief Florian und trat auf Edge zu. Er hatte rotunterlaufene Augen, Haar und Bart waren völlig zerzaust, und sein hübscher Frack und die hohen Reitstiefel mit den Sporen daran waren lehmbeschmiert; er selbst jedoch schien nicht sonderlich niedergeschlagen. »Hätte weit schlimmer kommen können! Himmel noch mal, ich habe wirklich schon Schlimmeres mitgemacht.« »Irgend jemand verletzt?« rief Edge laut, um beim Tosen des Windes und dem Dröhnen des Donners gehört zu werden. »Niemand Wichtiges. Nur ein Böhme hat sich das Schlüsselbein gebrochen.« Sie steckten die Köpfe dichter zusammen, um nicht so schreien zu müssen. »Keine Gaffer was abgekriegt?« fragte Edge. »Daß man uns haftbar machen könnte?« »Nein. Die Vorstellung war aber auch nur spärlich besucht – -1161-
wegen des Festes, weißt du. Als kurz nach der Pause die Raketen hochgingen, habe ich das Chapiteau räumen lassen – die Leute gingen ohnehin schon –, und Maggie hat ihnen das Eintrittsgeld zurückgezahlt. Inzwischen hatten wir alle Wagen vor die Zelte gerollt, zuerst vor das Stallzelt, und von diesen dann Extraabsegelungen zu den Rondellstangen gezogen. Die leichter erregbaren Tiere wie Kamele und Zebras haben wir im Wald angehalftert. Carl hat sämtliche Instrumente in den Wagen in Sicherheit gebracht – nur das Cimbalom nicht; wir hatten einfach nicht die Männer zur Hand, die es hätten bewegen können.« »Offenbar habt ihr alles getan, was möglich war.« »Nun, Stallzelt, Garderobenzelte und Anbau sind ja nicht besonders hoch – bei denen sind nur hier und da ein paar Verlaschungen gerissen. Aber einem Orkan wie diesem konnte das Chapiteau bei aller Vorsorge nicht standhalten. Und ein paar von den weniger robusten Verkaufsständen und Buden der Schausteller sind zum Teufel.« »Läßt sich das Chapiteau wieder reparieren?« »Aber ja doch. Muß nur erst getrocknet und vom Schlamm befreit werden. Ein paar von den Metallösen sind ausgerissen, und der Sporn von einem Mastschuh ist gebrochen. Der Ausleger der Longe hat sich vom Mast losgerissen. Aber mit alledem wird Stitches schon fertig. Und natürlich brauchen wir ein paar Kilometer neues Tauwerk.« In diesem Augenblick tauchten Edges vier Ruderer auf. Sie sahen immer noch ausgepumpt aus und waren bis auf die Haut durchnäßt, doch sah man ihnen auch an, wie stolz sie waren, dem Sturm getrotzt zu haben. »Das sind die Männer, die mich herübergerudert haben«, sagte Edge. »Frage sie bitte, was ich ihnen schulde.« Sie nannten einen Preis, den Edge nach allem, was sie durchgemacht hatten, so lächerlich gering fand, daß er ihn von -1162-
sich aus verdreifachte. Wieder redete Florian mit den Männern und wies auf einen der Wagen. »Mag hat Brote gestrichen und auf dem Herd in ihrem Wagen einen Riesentopf Suppe gekocht, damit die Arbeiter sich zwischendurch stärken können. Ich habe deine Fährleute eingeladen, sich zu bedienen.« »Gut. Und wo kann ich jetzt helfen?« fragte Edge. »Ich stehe hier herum wie ein neugieriger Gaffer.« »Immer mit der Ruhe, Soldat! Die anderen kommen schon allein zurecht. Jeder weitere Helfer wäre nur im Weg. Außerdem, sobald alle Fetzen und Bruchstücke eingesammelt und gereinigt sind, brauchen wir einen ausgeruhten Boss mit einem klaren Kopf, unser weiteres Vorgehen zu überwachen.« »Was für ein weiteres Vorgehen? Jetzt sind wir doch erst mal für eine Weile außer Gefecht gesetzt. Selbst wenn wir es schafften, das Chapiteau morgen schon wieder hochzuziehen – dieser Morast hier braucht doch mindestens eine Woche, ehe er richtig ausgetrocknet ist. Diesen Sumpf würde keiner durchwaten, und wenn es um die tollste Show auf Erden ginge!« »Ich rede vom Abbau. Wie immer, Zachary, müssen wir versuchen, flexibel zu reagieren. Jetzt hat uns Mutter Natur oder der Sturmgott oder sonstwas deutlich zu verstehen gegeben, daß es Zeit ist, Abschied zu nehmen. Du bist doch gerade durch den Schilfgürtel gekommen; als wir herkamen, war das Schilf grün; jetzt ist es goldgelb. Es ist Herbst geworden. Da uns ein Großteil des Abbaus abgenommen worden ist, meine ich, sollten wir den Rest allein machen, unsere Sachen packen und nach Osten weiterziehen. Wir bleiben hier, bis Stitches und seine Leute die dringendsten Reparaturen ausgeführt haben. Die kleineren Flickarbeiten können sie unterwegs verrichten, wenn wir halten, um zu übernachten.« »Hm, ja«, sagte Edge mit einem Seufzer, der bei dem Sturm freilich nicht zu hören war. »Ich habe den Balaton weiß Gott -1163-
liebgewonnen, aber du hast schon recht. In welchem Fall ich dich um Erlaubnis bitten möchte, daß ich mich noch ein paar weitere Stunden vor der Arbeit drücken darf. Ich würde der Gräfin gern endgültig Lebewohl sagen. Sie ist auf der anderen Seite des Sees, in Almädi. Sobald der Sturm sich gelegt hat, kann ich rüber und in sieben Stunden auch wieder zurück sein. Jedenfalls bin ich wieder hier, wenn unsere Leute sich ausgeruht haben, um mit dem endgültigen Abbau anzufangen oder sonstwie einen Boss mit einem klaren Kopf brauchen.« »Selbstverständlich, Mann! Meine Erlaubnis hast du!« Kurz vor Morgengrauen hörte der Regen so unvermittelt auf, als wäre ein Hahn zugedreht worden. Der Wind legte sich und wehte kaum stärker als sonst. Der Wellengang des Sees ging zurück, die Oberfläche war kabbelig bewegt wie immer, und die Wolken verzogen sich so rechtzeitig nordwärts, daß eine richtige Morgendämmerung heraufziehen konnte. Die Sonne ging auf, brachte die triefende Welt zum Glitzern und entlockte jedem Regentropfen einen winzigen Regenbogen. Edge war wieder an Bord, als die Fährleute das Boot über den Balaton zurückruderten. Die Nachtruhe und Magpie Maggie Hags Proviant hatten sie sichtlich wieder zu Kräften gebracht. Sie pullten wie ein Mann und redeten dabei die ganze Zeit über – wie Edge meinte, wohl über die Verheerungen, die sie auf dem Festplatz gesehen hatten. Als sie die Strecke etwa bis zur Hälfte geschafft hatten, begegneten ihnen zwei andere Boote. In dem einen schaukelte der schwarzgetüpfelte Pinzgauer und trat nervös von einem Huf auf den anderen. In dem anderen fuhr Thunder in Begleitung Clover Lees. »Weshalb fährst du denn noch mal zurück?« rief sie, Verzweiflung in der Stimme. »Mein Gott, ist alles kaputt?« »Nein, durchaus nicht. Nur das Chapiteau liegt am Boden. Niemand ist verletzt. In meinen Augen ein heilloses -1164-
Durcheinander, doch Florian wird damit schon fertig. Ist die Gräfin noch im Gasthaus?« »Ja. Und sie will dort bleiben, bis die Straßen wieder trocken sind.« »Florian will abbauen und weiterziehen, deshalb möchte ich mich noch mal von ihr verabschieden. Fahr du nur weiter; ich komme bald nach. Und danke, Clover Lee, daß du die Pferde und unsere Sachen mitbringst. Wundert mich nur, daß du keinen jungen Grafen im Schlepptau hast.« Sie grinste. »Er ist nie dazu gekommen, mir einen Antrag zu machen. Vielleicht habe ich ihn zu sehr in Atem gehalten. Aber wie dem auch sei, selbst wenn er es getan hätte, ich glaube, ich könnte es doch nicht ertragen, Mrs. Frigyes Puskäs zu heißen. Nicht mal mit dem Titel Gräfin davor.« Amelie sah Edge vor ihrem Fenster im ersten Stock sich mühsam den Weg zum Gasthaus heraufschleppen und erriet auf der Stelle, weshalb er noch einmal zurückgekommen war. Sie ging hinunter in den Schankraum, der bis auf den Wirt und seine Frau, die dabei waren, die Flaschen hinter der Theke neu zu ordnen, leer war. Jedermann sonst in Almädi inspizierte den Schaden, den der Orkan an seinem Boot, seinen Netzen oder seinen Weinbergen angerichtet hatte. Amelie bat Juhasz ür, sie für eine Weile allein zu lassen. Als Edge eintrat, fielen die beiden sich in dfe Arme und hielten sich wortlos eine Weile eng umschlungen. Edge liebte diese Frau nicht und hatte nie den Ehrgeiz gehabt, für sie mehr sein zu wollen als ein gelegentlicher Zeitvertreib. Gleichwohl hatte er sie wirklich gern – und war, wie er später gern eingestand, insgeheim mehr als nur ein bißchen überwältigt, nämlich auch stolz darauf, der Liebhaber einer Kaiserin gewesen zu sein. Hinzu kam jedesmal, wenn sie zusammen waren, die Illusion, daß zumindest Autumns Äußeres wieder lebendig würde. Es war nicht leicht, sich von Amelie zu trennen. -1165-
»Es braucht ja nicht für immer zu sein«, sagte sie, als er die Situation erklärt hatte. »Du bist bei einem Wandercircus, und ich selbst bin auch viel unterwegs. Ganz Europa ist kaum größer als eure Vereinigten Staaten von Amerika. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, daß wir uns wieder einmal begegnen. In Ungarn, Österreich, Griechenland, oder England ...« »Das hoffe ich inbrünstig.« »Vielleicht vergißt du mich aber auch rasch«, sagte sie und tat so, als ziehe sie ihn gutgelaunt auf. »In Sankt Petersburg gibt es viele schöne Frauen, zumindest in der Oberschicht.« »Ich bin bereit, meinen rechten Arm zu verwetten, daß ich dich nie vergessen werde.« »Wie dem auch sei. Ich möchte nicht, daß du ein Keuschheitsgelübde ablegst. Ich werde dir sogar helfen, einige von diesen hochwohlgeborenen Frauen kennenzulernen. Hast du gewußt, daß die Zarin Maria Alexandrowna eine Deutsche ist? Vor ihrer Heirat mit Zar Alexander war sie Prinzessin Maria von Hessen-Darmstadt. Unsere Familien haben sich immer nahegestanden. Ich war noch ein kleines Kind, als sie heiratete und im dunkelsten Rußland verschwand. Immerhin schreiben wir uns von Zeit zu Zeit; das liegt in unserer Stellung begründet. Ich werde dir ein Empfehlungsschreiben für die Zarin mitgeben; ich schicke es dir durch einen Fährmann hinüber, ehe der Circus weiterzieht.« »Das ist sehr freundlich von dir. Besonders Florian, der sich immer Gelegenheiten wünscht, mit der Aristokratie zu verkehren, wird darüber hocherfreut sein.« »Du und ich, wir werden jetzt nicht Lebewohl sagen, sondern viszontlätäsra, auf Wiedersehen. Und jetzt – gib mir noch einen Kuß. Dann werde ich gehen und mich nicht umdrehen, denn ich werde Tränen in den Augen haben.« Edge selbst sah ein wenig verschwommen wie durch einen Schleier, als er plötzlich allein im Schankraum stand. Er griff -1166-
nach einer Flasche Branntwein, schenkte ein großes Glas voll und stürzte es hinunter, legte eine Münze auf die Theke und wandte sich zum Gehen. Dann jedoch blieb er überrascht stehen. In dem Cimbalom in der Ecke wählte eine offenbar übermäßig straff gespannte Saite just diesen Augenblick, der lange ertragenen übergroßen Spannung nachzugeben und zu reißen. Es machte klinggg! Edge wartete, bis ihr letztes, kleines trauriges Klirren aufgehört hatte, im Raum widerzuhallen; dann erst ging er.
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7 Die Circuskarawane jetzt ohne den Rattenschwanz von Schaustellerwagen – kam auf dem Weg Richtung Osten und ein kleines bißchen auch nach Norden über die Pußta ziemlich rasch voran. Die Straßen waren anständig, das Wetter desgleichen. Nirgends galt es auch nur den kleinsten Hügel zu überwinden, und über Flüsse und Bäche führten entweder gute Brücken, oder es gab eine seichte Furt. Nur gelegentlich traf man unterwegs auf eine Csärda, wo man eine Mahlzeit Kesselfleisch erhielt; sonst hielt Magpie Maggie Hag die Glut im Herd ihres Wagens ständig unter einer Ascheschicht am Glosen, so daß sich jederzeit rasch ein tüchtiges Feuer entfachen ließ. Es gelang ihr und ihren Helferinnen, die gesamte Truppe aus den mitgeführten Vorräten – wenn auch nicht mit üppigen Fleisch-, so doch mit anderen nahrhaften Gerichten – satt zu machen. Sie schlief auch weiterhin in diesem Wagen, und alle gingen davon aus, daß ihr der Hanswurst darin Gesellschaft leistete, denn er spielte ihren Kutscher und wich auch sonst nicht von ihrer Seite. Wenn auch die alte Zigeunerin und der alte Clown beide relativ klein waren, müssen sie sich jedoch trotzdem beengt gefühlt haben, denn ihr Wagen war früher der Garderobenwagen gewesen und barg auch jetzt noch – auf Weiderbügeln oder säuberlich zusammengelegt in Regalen – sämtliche Kostüme der Artisten. Früh morgens beginnend und ohne Pause bis zum Dunkelwerden weiterfahrend, schaffte die Circuskolonne rund dreißig Kilometer am Tag, was bedeutete, daß sie bis zur Grenze am Pruth rund zwanzig Tage benötigen würde. Doch bereits nach einer knappen Woche war jeder von ihnen die Pußta gründlich leid – eine endlose Ebene mit hohem Gras und Wildgetreide, nur gelegentlich von einem winzigen Weiler aus Lehmhütten unterbrochen, dessen Bewohner die Karawane mit blödem Blick und schlaff herunterhängendem Kiefer verfolgten. Ab und zu kamen sie an einem Bauernhof vorüber, der Brot-1168-
und Futtergetreide anbaute und auf dem der Landmann bei einer primitiven Art des Dreschens beobachtet werden konnte. Ein breiter Kreis von Roggen- oder Buchweizengarben wurde auf dem Boden ausgelegt, in dessen Mitte der Bauer stand und eine longeähnliche Leine in der Hand hielt, an der ein Pferd unverdrossen seine Runden drehte und mit den Hufen das Korn heraustrat. Ab und zu sah man auch einen Baum oder ein paar Sträucher, doch war in dieser Jahreszeit bis auf das gelegentliche Scharlachrot eines Klatschmohns ohnehin alles braun, rötlichbraun oder graubraun gefärbt. Als er eines Morgens den Blick über die flache, abweisende Landschaft vor ihnen schweifen ließ, sagte Yount trübsinnig zu Agnete: »Mag ja sein, daß diese Pußta nicht das Ende der Welt bedeutet – zumindest man hat das Gefühl, es von hier aus zu sehen.« »Hvad?« sagte Agnete. »Hoffentlich für keinen von uns! Einen Gefährten haben wir gerade verloren – von den Schaustellern nicht zu reden.« Kurz nach dem Abbau am Balaton war Abner Mullenax mit blutunterlaufenem Auge zu Florian gekommen und hatte gesagt: »Governor, ich bin euch zu nix mehr nütze. Ich würd’ gern bei den Schaustellern bleiben. Eine von den Tänzerinnen muß wohl was für mich übrig haben, und die anderen haben mir angeboten, mir für Handlangerdienste ’ne Kleinigkeit zu zahlen – genug jedenfalls, um immer ’n bißchen unter Schnaps zu stehen. Und Essen krieg’ ich auch.« »Nun, alter Freund, du bist lange genug bei uns gewesen, aber unser Leibeigener oder Schuldknecht bist du nicht. Es steht dir frei, zu gehen oder zu bleiben, wie es dir beliebt.« »Mir gefällt es hier, und die Einheimischen sind recht freundlich. Ich glaube, dies hier ist ein guter Platz für Barnacle Bill, vor Anker zu gehen.« »Macht dir das Sprachenproblem denn nicht zu schaffen?« -1169-
»Im Bett mit meinem Mädchen nicht. Und in der Kneipe braucht man bloß auf ’ne Flasche zu zeigen und den Arm anzuwinkeln.« »Stimmt schon. Aber, Abner, du solltest ein bißchen Geld beiseitelegen, falls du dich mal von den Schaustellern trennst. Das FLORILEGIUM hat allein dir die Saratoga zu verdanken, und wir haben dir nie auch nur einen Cent dafür bezahlt.« »Ach, was – vergiß es! Du hast mich auf der Lohnliste behalten, obwohl ich monatelang nur ein Klotz am Bein für euch gewesen bin.« »Nein, nein – du mußt wenigstens hundert Dollar in Forints annehmen. Steck das in deinen Michelebeutel.« »Nun ...«, sagte Mullenax, leckte sich durstig die Lippen und verstaute den Stapel Geldscheine in der Tasche. »Wir alle wünschen dir hier viel Glück, Abner. Irgendwann kommen wir gewiß wieder hier durch, und dann sehen wir dich hoffentlich heil und gesund wieder.« Doch bezweifelte Florian, daß sie Barnacle Bill – hier oder sonstwo je wiedersehen würden, zumal, wenn er den Arm immer häufiger anwinkelte. Jetzt, weit draußen auf der Pußta, schrie Florian, die Karawane solle machen, daß sie vorankomme. Zu Edges Verwunderung kletterte Magpie Maggie Hag zu ihm und setzte sich neben ihn. »Muß dir was sagen«, sagte sie, als sie von ihrem Lagerplatz rumpelnd auf die Straße zurückrollten. »Sehe wieder Scherereien mit Pavlo Smodlaka voraus. Irgendwo. Irgendwann!« »Ach, du liebes bißchen, was denn jetzt? Letztesmal war er überzeugt, unser ›Demon Debonnaire‹ wäre ein rechter Unhold, der’s auf ihn abgesehen hätte.« »Und jetzt hat er Angst, Ferfifarkas holt ihn.« »Himmel! Wer ist denn Ferfifarkas? Klingt, als ob’s weiter -1170-
nichts wäre als Kopfschuppen.« »Weiß nicht auf englisch. Auf spanisch vielleicht hombrelobo.« »Ein Wolfsmann? Ein Werwolf vielleicht?« Magpie Maggie Hag zuckte mit den Achseln. »Pavlo spricht bißchen ungarisch. In letzter Csärda trinkt er mit Bauern und erzählt, er geht nach Rußland. Alle machen entsetztes Gesicht. Sagen, er tapferer Mann, daß er sich dorthin wagt, wegen Ferfifarkas. In Rußland, sagen sie, manche Männer werden Ferfifarkas. Auf russisch oborotyen. Solchem Mann wachsen bei Vollmond überall Haare, kriegt vier Beine, Schwanz, Reißzähne, Klauen, genau wie Wolf, macht Jagd auf andere Menschen zu fressen. Oder Frauen, Kinder. Leichter zu fangen.« »Grundgütiger Himmel! Und er hat den ganzen Unsinn geglaubt?« »Pavlo glaubt alles, mißtraut allem, hat Angst vor allem. Selbst vor Frau jetzt nervös. Sagt mir, Gavrila weckt ihn mitten in der Nacht, um ihn wegen Träume zu kritisieren. So was hat sie sonst nie getan.« Edge stieß einen Laut aus, der belustigte Verzweiflung verriet. »Ich werde mal ein Wörtchen mit ihm reden. Und versuchen, ihn davon zu überzeugen, daß es so was wie einen Werwolf nicht gibt.« »Tu das, pralo. Ich seh’ viel Schlimmes voraus.« Ein kleiner Umweg nach Süden hätte sie nach Debrecen bringen können, einem Marktflecken am Schnittpunkt mehrerer Handelsstraßen und groß genug, ihnen für mehrere Tage ein großes Publikum zu garantieren. Doch Florian sagte, er denke nicht daran, die mühselig dicht gepackten Wagen wieder auszuladen – das würde er nur an einer Eisenbahnlinie tun; er brannte darauf, endlich den wartenden Zug zu erreichen, denn die Nächte wurden kalt und tagsüber wehte ein schneidender Wind. Deshalb war der einzige Ort, an dem das -1171-
FLORILEGIUM mehrere Tage hintereinander verweilte, ein Dorf namens Nagykällo, das etwas größer war als die Lehmweiler, durch die sie zuvor durchgekommen waren. Auch hielten sie sich in Nagykällo nur deshalb länger auf, weil es zufällig das Heimatdorf der Jäszi-Brüder war und Zoltän, Gusztäv und Arpäd Florian in den Uhren lagen, der Circus möge einen Zwischenaufenthalt einlegen und die Gastfreundschaft ihrer Verwandten und Freunde genießen. Florian hätte Einwände erheben können, doch es war zwecklos. Die Wagenkolonne hatte mitten auf dem großen Platz gehalten, um den herum Nagykällo gebaut worden war; sofort wurden sie von einer großen Menschenmenge umringt. Alle erkannten die Jäszi-Jungen, und es hob ein allgemeines Begrüßen an. Zoltän fuchtelte aufgeregt mit den Armen, sie zum Schweigen zu bringen, redete dann mindestens zehn Minuten auf sie ein und begann mit einem rauhkehlig vorgetragenen, mit lebhaften Gesten untermalten Bericht über sämtliche Abenteuer der Gebrüder. »Jetzt erzählt er ihnen gerade«, dolmetschte Florian für die anderen, »wie wir sie vor der Arbeitslosigkeit gerettet haben, vor schändlichem Müßiggang und möglichem Hungertod. Wir haben ihnen eine Aufgabe gegeben, die sie wunderbar finden, und haben sie zu leuchtenden Sternen am Artistenhimmel gemacht, ihnen dazu verholfen, daß sie am Balaton jetzt berühmt sind – und sie stünden im Begriff, bald international berühmt zu werden. Er ersucht die Bewohner von Nagykällo dringlichst, ihre Dankbarkeit dadurch zu bekunden, daß sie uns bewirten, uns in ihre Häuser aufnehmen und dann morgen allesamt kommen, uns zu Ehren ein Fest zu feiern.« Wieder brüllte die Menge auf und stimmte einmütig und einträchtig dafür, woraufhin Florian mit einem resignierten Aufseufzen hinzufügte: »Wir können wohl kaum so ungehobelt sein, eine derartige enthusiastische Freundlichkeit zurückzuweisen. Das sind arme Leute – sie tragen nur Kittel aus -1172-
selbstgesponnenem und selbstgewebtem Leinen und dazu Holzschuhe – und doch wollen sie unbedingt alles mit uns teilen, was sie besitzen. Stitches, gib deinen Böhmen Anweisung, ein Feld zu finden, wo wir unsere Fahrzeuge abstellen und die Tiere anschäkeln können. Bis auf die Stallwache sollen die Racklos sich von mir aus gemeinsam mit uns erholen. Wir brauchen auch keine Wachtposten aufzustellen.« Die Dörfler drängten heran, zupften die Artisten am Ärmel und riefen laut: »Gyere! Egy Vendeget!« So wurden Artisten wie Racklos ziemlich willkürlich einzeln oder zu zweit aufgeteilt und im Triumphzug in das Haus ihrer jeweiligen Gastgeber entführt. Die betagten Eltern der Jäszi-Brüder bekamen nicht nur ihre Söhne, sondern auch noch Florian und Edge ins Haus. Bis auf diesen blieben alle für den Rest des Tages in angeregtester Unterhaltung. Nach dem gemeinsamen Abendessen entschuldigte Florian sich und ging die Runde durch die anderen Häuser zu machen, in denen Angehörige seiner Truppe gastlich aufgenommen worden waren, und um nachzusehen, ob es Fragen oder Probleme gebe, die durch jemand, der magyarisch sprach, zu lösen wären. An diesem Abend erhielt jeder Gast vorgesetzt, was die betreffende Familie gerade auf dem Herd stehen hatte, und das war in den meisten Häusern das Standardessen der Bauern: Hammel mit Kohl, Schwarzbrot und selbstgebrautes Bier. Doch die Frauen im Haus klapperten mit ihren Holzpantinen über den gestampften Boden und waren bereits emsig damit beschäftigt, das Festmahl für den nächsten Tag zu bereiten. Sie schlachteten Hühner und rupften sie, trugen aus den Räucherkaten ganze Rinderlenden und Lammkeulen herbei, holten Butter und Milch und Eier und Gemüse aus ihren Vorratskammern und machten sich daran, zu schälen und zu hacken und zu rühren. Dabei plapperte jeder munter auf die Circus-Gäste ein und ließ sich nicht im mindesten davon abhalten, daß diese in den meisten -1173-
Fällen nur mit einem vagen Lächeln antworteten. Doch als man den Gästen mit lebhaften Gesten begreiflich machte, sie sollten das Familienbett oder die Familienbetten besteigen, erhoben manche von ihnen höflich oder entschieden Protest. Kam Florian herein, stürzten sie sich auf ihn und ließen ihn den Gastgebern mitteilen, derlei würden sie nicht tun; vielmehr würden sie in ihren eigenen Maringottes schlafen. Die meisten jedoch waren entweder zu schüchtern oder allzu überwältigt von der durch nichts abzuwehrenden Großzügigkeit ihrer Gastgeber, um die Familienbetten abzulehnen. Lange ehe der Morgen graute, wünschten sie, sie hätten es doch getan. »Wanzen!« stellte Daphne voller Abscheu und Entsetzen fest, als die Circusleute sich am nächsten Morgen versammelten. »Ich bin über und über von Quaddeln bedeckt.« »Aber nicht nur Wanzen! Läuse und Flöhe auch!« sagte Meli und kratzte sich. »Das kribbelt und juckt bei mir überall.« »Immer mit der Ruhe!« sagte Florian beschwichtigend, obwohl auch er sich kratzen mußte. »Es gibt ein altes Sprichwort: Richtig beim Circus ist man erst, wenn man durch und durch verlaust ist. Vergeßt nicht, wo ihr seid, und bedauert die Leute; vor allem aber gebt euch Mühe, euch die Beschwerden und den Ärger nicht allzusehr anmerken zu lassen. Außerdem werdet ihr nach dieser Erfahrung erst richtig zu schätzen wissen, was für Unterbringungsmöglichkeiten ich von nun an für euch bereithalte und überall dort bereitzuhalten mich bemühen werde, wo es sich machen läßt.« »Aber wir werden diese Biester überall hin mitnehmen, wo wir auch hingehen!« kreischte Clover Lee und kratzte sich. »In unsere Maringottes, in die Eisenbahn, überallhin.« »Nein, das werden wir nicht«, erklärte Edge und kratzte sich gleichfalls. »Nur haltet euch heute von den Wohnwagen fern. Und behaltet an, was ihr jetzt anhabt. Wir werden noch einmal hier übernachten; morgen früh ziehen wir dann weiter. Bittet -1174-
eure Freunde, die letzte Nacht in ihrer Maringotte geschlafen haben und folglich ungezieferfrei geblieben sind, frische Kleidung für euch herauszusuchen, die ihr morgen früh anziehen könnt. Aber nicht schon vorher holen! Wir werden’s dann mit einem alten Army-Trick versuchen. Ich habe mich bereits umgesehen, und dort drüben, bei der Linde, einen Haufen entdeckt.« Er streckte den Finger aus. Ungläubig fragte Daphne: »Flöhe, Wanzen und Läuse sind noch nicht genug?« Edge ging nicht auf sie ein. »Wenn ihr schlafen geht, zieht euch splitterfasernackt aus und bringt eure Kleider raus – und wenn ihr dabei über die auf dem Boden schlafende Familie hinwegsteigen müßt. Die interessiert das nicht im mindesten. Mir ist bereits aufgefallen, daß unsere Gastgeber Nacktschläfer sind und ihre Kleider hoch auf einem Regal oder sonstwas ablegen. Jedenfalls: vorm Zubettgehen ausnahmslos alle Kleider nehmen und sie auf den Ameisenhügel da legen. Bis zum nächsten Morgen haben die Ameisen sie auch noch vom letzten Quälgeist befreit, das heißt, die Krabbelviecher aufgefressen. Ihr müßt bloß dafür sorgen, daß ihr alles wegschnippt, was euch noch über die Haut kriecht, ehe ihr die frischen Kleider anzieht, die eure Freunde euch bringen.« Ein paar von den schamhafteren unter den Kollegen waren entsetzt und fingen an zu blöken. Doch selbst die Allerschamhaftesten befolgten an diesem Abend nach einem mit Jucken und Kratzen verbrachten Tag seinen Rat – und stellten fest, daß es wie versprochen klappte. Doch das Fest, das sie feierten, war so unterhaltsam und nahm sie dermaßen gefangen, daß die meisten sich nur wie abwesend kratzten und sich ganz auf die Tänze konzentrierten, die ihnen zu Ehren vorgeführt wurden. In der Mitte des Dorfplatzes war über Nacht ein gewaltiges hölzernes Podest errichtet worden, das auf kaum dreißig Zentimeter hohen Pfosten ruhte. -1175-
»Das ist für den Tanz«, sagte Florian. »Aber wozu brauchen die so was?« fragte Fitzfarris. »Der Boden hier ist so flach und hart und glatt, wie es besser kein Tanzboden sein könnte.« »Für die Resonanz. Zu magyarischen Tänzen gehört viel Füßestampfen und Gespringe, und auf der Plattform läßt sich eben am lautesten poltern.« Die gesamte Einwohnerschaft des Dorfes sowie ganze Horden von Leuten aus der Umgebung nahmen an dem Fest teil; irgendwie hatte es sich über Nacht herumgesprochen und selbst aus den entferntesten Weilern strömten die Menschen herbei. Alle, die nicht – oder noch nicht an den Schautänzen teilnehmen wollten, saßen oder hockten um die Plattform herum auf dem Boden und überließen den Leuten vom FLORILEGIUM die besten Plätze. Florian saß mit Papa und Mama Jäszi zusammen, konnte also Fragen stellen und die Antworten und Bemerkungen von allgemeinem Interesse an die anderen weitergeben. Hinten auf der Plattform, das Gesicht den geehrten Gästen zugewandt, saßen die Dorfmusikanten, drei Männer in ihrem besten und liebevoll gepflegten Sonntagsstaat, der einen dezenten Kampfergeruch verströmte. Die drei hievten ein altes und ziemlich mitgenommenes Cimbalom herauf, an dem einer von ihnen Platz nahm; die beiden anderen verschwanden und kamen nach kurzer Zeit mit einem Akkordeon und einer Zither zurück. Als sie das erste Stück gespielt hatten, sah man Carl Beck mit der kleinen Tücsök tuscheln, die Zwergin sich erheben und hinten um die Plattform herumgehen. Tücsök langte hoch, zupfte einen der Männer am Rockschoß und redete mit ihm. Der Mann nickte begeistert erst ihr, dann den Circusleuten zu. Tücsök hüpfte zurück zu Bumbum, der ein paar von seinen Musikanten herbeiwinkte – Teufelsgeige und Tenortrommel, Tuba und Kontrabaß, Posaune und Klarinetten, Geigen und -1176-
Oboe – und Hannibal Tyree, den Baßtrommler, und ließ sie zu ihren Wagen hinüberrennen und ihre Instrumente holen. Als sie zurückkamen, nahmen sie hinter der Plattform Aufstellung, um den Dorfmusikanten nicht die Auszeichnung streitig zu machen, diejenigen zu sein, die oben spielten. Dann verschlug es dem Publikum wahrlich den Atem, man war überwältigt und hingerissen. Nie zuvor hatten sie eine so donnernde, lustvolle und mit originellen Schlenkern gespielte Musik gehört. Wenn Sänger auf die Plattform stiegen, ließ Beck seine Kapelle schweigen, um die Stimmen nicht zu übertönen. Doch als die Tänzer auf die Bühne sprangen und die Begleitmusik Beck und seinen Leuten bekannt vorkam, fielen sie ein und spielten noch einmal von vorn. Kannten sie das Stück nicht, ließen sie die Musikanten von Nagykällo den ersten Refrain und Chor spielen, was reichte, sie bei der nächsten Wiederholung genau im richtigen Augenblick und in der richtigen Tonart einfallen zu lassen. Wenn nur die hübschesten Nagykalloer Mädchen und Frauen in der Öffentlichkeit auftraten oder auftreten durften, mußte es im Ort und in der Umgebung einen außerordentlich hohen Prozentsatz von langbeinigen Frauen mit hochsitzenden Brüsten geben. Einige von ihnen trugen weiße, über und über mit kleinen Silberperlen bestickte Kleider. Andere hatten kurze Röcke in leuchtenden Farben an, die aus tausend winzigen Falten zu bestehen schienen. Alle trugen sie hohe Stiefel aus weichem weißen Leder, deren Schäfte bis fast unters Knie reichten. Die Haare trugen Frauen wie Mädchen so aufgesteckt, wie es am besten zu ihnen paßte oder wie es ihnen am besten gefiel. Im Gegensatz zu ihnen hatten die Männer das für gewöhnlich kurzlockige Haar glatt gestrählt und dicht am Kopf anliegend – glänzend geölt und trugen gleichsam Fransen von Schmachtlocken vor der Stirn. Keiner war ohne den verwegenen schwarzen Banditenschnauzer, wie ihn die Jaszi-Brüder trugen. Alle Männer hatten hohe, schwarzglänzende weiche -1177-
Schaftstiefel an. Für die romantischen und komischen Tänze trugen sie weite, gefältelte Beinkleider und Blusen, die über und über mit roten, violetten, orangefarbenen und grünen Blumen bestickt waren, während sie bei den mehr kriegerischen Tänzen über den Blusen zottige und ungefärbte Umhänge aus Schaffell trugen. »Ihr glaubt, wir sind arme Leute hier«, wandte Papa Jäszi sich an Florian. »Das stimmt auch. Diese Kostüme werden nur zu ganz besonderen Gelegenheiten hervorgeholt.« »Meine Truppe und ich fühlen uns tief geehrt«, sagte Florian. »Armut hat auch ihre Vorteile, mögen die auch noch so bescheiden und rührend sein«, fuhr der alte Jäszi fort. »Den größten Teil ihres Lebens rennen unsere Leute in schweren, klobigen Holzschuhen herum. Tragen sie dann einmal die weichen leichten Tanzstiefel, sind ihre Füße federleicht und flink und behende.« »Jaj de szep!« rief Florian aus. »Das sehe ich.« Die Männertänze waren womöglich noch energiegeladener als die der Frauen. Immer wieder sprangen sie zu unmöglichen Kapriolen in die Luft, klatschten mit der flachen Hand hinter sich oder vor sich auf die Stiefel oder rissen die Beine im Sprung wie zum Spagat auseinander. Bei einem der komischen Tänze hockten die Männer alle auf niedrigen Melkschemeln und tanzten und stampfen im Rhythmus der Musik mit den Füßen auf. Dann hoben sie die Füße, hielten die Schemel fest und galoppierten damit in verschlungenen Mustern über die Plattform und auch dieses wieder in schönem Einklang mit der Musik. Zu ihren Kriegstänzen legten die Männer – neben den voluminösen Schafsfellen – Sporen an, die klirrten und gegeneinanderstießen, was für die Kapelle eine regelrechte Klangbereicherung bedeutete. Dann kam der Säbeltanz. Die Säbel waren uralt, schartig und manche leicht gebogen; doch sie -1178-
blitzten wie neu. »Fast alle unsere Pußtatänze«, vertraute Papa Jaszi Florian an, »haben ihren Ursprung in den alten Verbunkos, den Aushebungstänzen des Militärs. Der Kaiser schickte eine Militärkapelle und eine aus lauter Soldaten bestehende Tänzergruppe durchs Land. Die spielten dermaßen aufreizende, Stimmung machende Verbunkos, daß viele von unseren jungen Männern zu patriotischer Begeisterung hochgepeitscht wurden und sich ihnen anschlossen, um in den Militärdienst einzutreten.« Er gluckste in sich hinein. »Wir Magyaren lassen uns leicht von Gefühlen hinreißen.« Jeweils zwischen ein paar Tänzen standen die Mitwirkenden still, um zu singen – manchmal allein, manchmal alle zusammen im Chor und zur Begleitung der Dorfmusikanten, dann a capella – Liebeslieder, schwermütige Weisen, von alten Helden, Lieder aus dem fehlgeschlagenen Aufstand vor zwanzig Jahren. So ging das den ganzen Tag weiter, wechselten sie unermüdlich zwischen Tanz und Gesang – eine Unterbrechung gab es nur am Mittag, als sich die Frauen unter die Menge mischten und einen leichten, aus Hammelpasteten und Bechern voll schäumenden Biers bestehenden Imbiß reichten. Den Schluß der Veranstaltung bildete im Zwielicht kurz vor der Dämmerung ein explosiver Höhepunkt. Eine Sängerin hatte gerade ein schmelzendes Solo über das längst vergangene Liebespaar König Mätyäs und die schöne Ilonka beendet. Als ihre Stimme und die Begleitmusik verhallte, war plötzlich lautes Hufgetrappel zu vernehmen. Gusztäv, Arpäd und Zoltän hatten ihre Circuspferde geholt, galoppierten jetzt in halsbrecherischem Tempo um die sitzenden Zuschauer herum, führten ihre Stehendreiterei vor und stießen dabei immer wieder gellende Kriegsschreie aus. Binnen Minuten hatte sich praktisch jeder junge Mann aus dem Dorf von irgendwoher ein Pferd beschafft und schloß sich ihnen an, bis eine ununterbrochene Reihe von schafspelzgewandeten Czikosen rund um den Dorfplatz ihre -1179-
Kunststücke vorführten, wobei ein jeder sich genauso als Könner erwies wie die Jäszi-Jungen. Becks Kapelle brach in Liszts ›Hunnenschlacht‹ aus, die so laut war, daß sie trotz des allgemeinen Tumults noch zu hören war. Dann donnerten die Reiter, immer noch ihr Kriegsgeschrei ausstoßend, einer nach dem anderen aus dem Platz heraus und eine Gasse hinunter. Die Musikanten verließen die Plattform, und die Frauen brachten von ihren Öfen und Herden, was sie seit dem gestrigen Abend an Schmausereien vorbereitet hatten, stellten Tabletts und Platten, Schüsseln und Krüge und Becher hin, Stapel von sauberen Holztellern und Berge von zinnernem Besteck, bis die ganze Plattform vollstand, soweit der Arm reichte, und das Essen in der kühlen Abendluft dampfte und rauchte. Die Gäste vom FLORILEGIUM wurden selbstverständlich genötigt als erste an das Riesenbüfett heranzutreten. Als Florian sich Leberknödel nahm, pilzgefüllte Rindsrouladen, Gurkensalat, frittierten Käse in Brotpanade, Mohnkuchen und Debröl-Wein, sagte er zu Daphne, die vor ihm in der Reihe stand: »Bei Gott, am liebsten würde ich jeden einzelnen, der heute aufgetreten ist, engagieren und mitnehmen – wenn wir nur die nötigen Transportmittel für alle hätten.« »Falls sie mitkämen«, sagte Daphne. »Sie scheinen überglücklich, daß die Jäszi-Brüder sich so gut in der Welt draußen machen; doch habe ich irgendwie das Gefühl, daß die meisten zufrieden sind mit ihrem Leben hier. Und das auch noch mit dem blutrünstigen Ungeziefer teilen.« Am nächsten Morgen waren die Circusangehörigen dank Edges Rezept in der Lage, ihre eigene Ungeziefersammlung zurückzulassen. Als die Karawane Nagykällo verließ, liefen die Dörfler noch einmal zusammen, diesmal, um sie mit Hochrufen zu verabschieden. Ihre farbenprächtigen Kostüme jedoch waren für die nächste große Gelegenheit weggelegt worden, falls es denn je wieder eine solche geben sollte. Die Leute trugen ihre -1180-
Alltagskleidung aus hausgewebtem Leinen und Holzschuhen, wobei die einzige Unterscheidung darin lag, daß die ledigen Mädchen barhäuptig gingen, während die verheirateten Frauen Kopftücher oder enganliegende Hauben trugen. Zwei Tage später, kurz vor Sonnenuntergang, mußte der Circus einen Bach durchqueren. Die ersten zehn, zwölf Fahrzeuge schafften es mühelos, reichte doch das Wasser den Rädern kaum bis zur Nabe, und wurden gerade die Uferböschung gegenüber hinaufgezogen. Doch der Hanswurst war ein unerfahrener Kutscher. Bis jetzt hatte er es zwar ganz anständig geschafft, Magpie Maggie Hags Wagen zu lenken; hier jedoch lenkte er den Wagen beim Durchqueren der Furt ein wenig zu weit nach links. Als die Pferde sich die Böschung hinaufmühten, befanden die linken Räder sich auf der abschüssigen Seite, während die rechten sich bemühten, den höhergelegenen Boden daneben hinaufzukommen, woraufhin der ganze Wagen sich langsam, fast träge, aber unaufhaltsam auf die linke Seite legte. Die beiden Pferde des Gespanns hielten dagegen, um nicht umgerissen zu werden, und die Deichsel zerbrach mit einem lauten Krach. Yount, der unmittelbar dahinter den Roten Wagen lenkte, brachte seinen Lightning mitten im Bachlauf zum Stehen und stieß einen lauten Ruf aus, um alle zu alarmieren, die die Überquerung bereits geschafft hatten. »Verflucht!« knurrte er, wickelte seine Zügel um die Stange vor ihm und schickte sich an hinunterzusteigen. »Dabei hab’ ich Maggie gesagt, sie soll sich einen Böhmen holen, ihren Küchenwagen zu fahren. Aber dieser alte Narr Notkin will ja unbedingt Eindruck bei ihr schinden ...« »Nun, der Wagen hat sich ja ganz sachte auf die Seite gelegt«, sagte Agnete neben ihm. »Es hätte schlimmer kommen können. So sind sie nur tüchtig durchgeschüttelt worden.« Doch dann sahen sie Rauch aus den Ritzen des Wagenkastens -1181-
herausquellen. Yount sprang ins Wasser und kämpfte sich hindurch. Auch andere sprangen von Kutschböcken oder aus dem Sattel und hasteten herzu, um zu helfen. Yount riß die Tür des Küchenwagens auf, und dicker Rauch quoll ihm entgegen. Er mußte eine ganze Zeitlang warten, bis der Wind ihn soweit vertrieben hatte, daß er zumindest hineinsehen konnte. Ihm entfuhr ein leises: »Oh, mein Gott!«, ehe er den anderen zuschrie: »Bringt Eimer! Egal was! Schöpft Wasser vom Bach und löscht das Feuer.« Doch so lange wartete er nicht erst. Er kroch zwischen die brennenden Kostüme und die anderen leicht entzündlichen Dinge und lag bäuchlings auf der Wagenwand, die jetzt unten lag wie ein Fußboden und schob mit den Füßen – wobei er die Hitze selbst durch die Stiefelsohlen hindurch spürte – den Holzofen beiseite. Der Ofen war durch den ganzen Raum gerutscht, hatte sich wie ein Liebhaber auf Magpie Maggie Hag gelegt und sie mit aufgeschwenkter Feuerklappe umarmt, an die Wand gedrückt und sämtliche glühenden Kohlen über sie entleert. Dann machte Yount, daß er wieder hinauskam, denn seine eigene Kleidung fing an zu schwelen, er hatte sich den Bart versengt und sich Blasen im Gesicht und an den Händen geholt. Die Eimerkette übernahm, und das Feuer wurde gelöscht; nach wenigen Minuten war der Ofen etwas abgekühlt. Draußen vor der Tür fragte Florian angstvoll und händeringend: »Ist sie schlimm verletzt?« »Es tut ihr nicht mehr weh, Governor. Tut mir leid, daß ich das sagen muß«, erklärte Yount ihm. »Es wird ihr nie wieder was wehtun.« Rouleau hatte seinen Verbandskasten geholt und bestrich Younts Gesicht und Hände mit Olivenöl. »Ach, Mag ...«, sagte Florian und stöhnte auf. »Arme Mag ...« Dann hörte man vom Vorderteil des Wagens jemand laut rufen. Edge und Pemjean wateten durchs Wasser hin und entdeckten den anderen Toten. Notkin war nicht gefallen und -1182-
auch nicht gesprungen, als der Wagen sich umlegte; zumindest nicht schnell genug. Er lag schräg gegen die Uferböschung geworfen auf dem Rücken; die Schmalseite des Kutschbocks hatte sich in ihn hineingedrückt und ihm grausam wie ein Messer den Bauch aufgeschnitten. Vielleicht, wenn nicht alle sofort zu dem sichtbareren und offenkundigeren Unglück gelaufen wären, hätte jemand die mißliche Lage entdecken können, in die der Hanswurst geraten war, und hätte den Wagen anzuheben versucht, um ihn herauszuziehen. Doch so vital er in der Manege war, er war ein alter und gebrechlicher Mann. Was immer das keilförmige Ende des Kutschbocks mit seinen Innereien angestellt hatte – er war genauso tot wie Magpie Maggie Hag. »Gute alte Mag ... gute alte Mag ...« Jammerte Florian immer wieder, nachdem die Eimerkette ihre Arbeit beendet und der letzte Rauch sich verflüchtigt hatte. »Nicht reingehen, Governor«, sagte Yount. »Es ist kein schöner Anblick. Zack und ich, wir kümmern uns schon um sie.« Jemand kam und berichtete ihm, daß auch Hanswurst tot sei, worauf Florian auch für diesen Worte der Trauer fand. Dennoch spürte jedermann, daß Florian der Verlust von Magpie Maggie Hag näher ging als jede andere Tragödie, die das FLORILEGIUM befallen hatte, seit Edge und Yount dabei waren. »Sie war schon bei dem ersten Circus dabei, dem ich mich anschloß, nachdem ich von zu Hause weggelaufen war«, sagte Florian. »Der Himmel mag wissen, wie alt sie damals schon war. Sie hat seither immer gleich alt ausgesehen. Nun, sie hat ein langes, gutes Leben gehabt. Und Notkin wohl auch. Nur habe ich von Mag unglaublich viel gelernt. Was ich vom Circus verstehe, habe ich ihr zu verdanken; schließlich hat sie sich mir angeschlossen, als ich damals den wahnwitzigen Plan faßte, mich mit einem eigenen Unternehmen selbständig zu machen. -1183-
Hat meinetwegen einen ziemlich anständigen Laden verlassen – und den meinen eine miese kleine Klitsche zu nennen, ist noch untertrieben.« Er zog ein Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die Augen. »Immer dabei gewesen ... von Anfang an ... treu, hilfsbereit, schwer gearbeitet. Hier in Europa, dann in Amerika, später wieder hier. Ich weiß nicht, wie das ohne sie weitergehen soll ...« Dann patschte er schwerfällig aus dem Bach hinaus und stapfte die Böschung hinauf, um sich allein seinem Kummer zu überlassen. Die anderen Männer richteten den umgekippten Wagen wieder auf, und Stitches brachte Zeltbahnen herbei. Behutsam hüllten Edge und Yount Magpie Maggie Hags verkohlten und winzigen Leichnam darin ein – im Tod war sie womöglich noch winziger als im Leben –, während Dai den Hanswurst in ein Leichentuch wickelte. Die Racklos hoben Gräber aus, was in der Pußta eine mühselige Arbeit war, wo das Gras – Jahrhunderte hindurch gewachsen, verdorrt, sich ausgesät und erneut gesprossen – den Boden zu einem nahezu undurchdringlichen Wurzelgeflecht hatte werden lassen. Endlich jedoch war es geschafft, und inzwischen hatte auch Florian sich aus seiner einsamen Trauer herausgerissen. Edge sagte: »Es ist schon ziemlich dunkel, Governor. Sollten wir die Bestattung nicht auf morgen früh verschieben?« »Nein. Maggie hat die Dunkelheit immer gemocht. Bringen wir diese Prüfung hinter uns. Und schlagen wir für heute nacht hier das Lager auf. Leisten wir ihnen jedenfalls noch ein kleines bißchen länger Gesellschaft.« Einige Leute schnieften am Grab oder wischten sich die Augen. Auch Nella Cornelia, die lange Zeit hindurch mit Bernhard Notkin gearbeitet hatte, und die anderen Frauen, von denen einige Magpie Maggie Hag seit Jahren gekannt hatten, schluchzten leise. Die Jäszi-Brüder jedoch, die als letzte zum Circus gestoßen waren, und die beiden Toten kaum gekannt hatten, legten Zeugnis ab von ihrer magyarischen -1184-
Gefühlsbetontheit und weinten rückhaltlos und reichlich. Bei Fackellicht hielt Dai Goesle ein kurzes und schlichtes Gedenken ab: »Allmächtiger Gott, mit Dem die Seelen derer, die es verdient haben, nach der Befreiung von der Bürde des Fleisches in Freude und Glückseligkeit leben, wir danken Dir von Herzen für das gute Beispiel, das diese Deine Diener uns gegeben, und die nun, nachdem sie ihre Reise beendet haben, sich ausruhen von ihren Mühen ...« Nachdem Florian wie nun schon viel zu oft zuvor eine Handvoll Erde auf das Grab geworfen und auch ihre Konuitenbücher darin versenkt hatte, sprach er mit fast erstickter Stimme die Worte: »Saltaverunt. Placuerunt ... Mortui sunt ...« »Zack«, wandte Yount sich an Edge, als die Böhmen die Gräber zuschaufelten – und das Pußtagras ohne Zweifel augenblicklich begann, sich darüber auszubreiten –, »ich möchte Florian jetzt nicht damit behelligen. Dazu ist er viel zu sehr durcheinander. Es können zwar mehrere von unseren Frauen kochen, aber von jetzt an werden wir nicht mehr viel zu beißen haben. Praktisch sämtliche Lebensmittel waren in Mags Wagen. Verbrannt ist zwar nicht soviel, aber dafür mit Wasser vollgesogen.« »Dann, vermute ich, können sie wohl immer noch eine Suppe draus kochen, wenn nichts anderes.« »Schlimmer noch, Zack. Wir hatten ja praktisch auch alle unsere Kostüme drin. Davon sind allerdings viele verbrannt oder so stark versengt, daß man sie nicht mehr gebrauchen kann; oder sämtliche Farben ausgelaufen und die Pailletten vom Wasser ruiniert. Köchinnen haben wir zwar, um die alte Mag zu ersetzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß auch nur eine von ihnen als Näherin taugt.« »Richtig, Obie. Verflucht! Aber du hast recht, damit solltest du Florian jetzt nicht belästigen. Du weißt ja, was er sagen würde. Daß sich unterwegs schon eine Lösung findet. Bleibt uns -1185-
wohl auch gar nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen. Vielleicht gabeln wir eine streunende Näherin auf, ehe wir die Eisenbahn besteigen – bis zur Grenze ist es jetzt nicht mehr weit –, und vielleicht findet sie Zeit, eine ganze neue Garderobe anzufertigen, ehe wir Kiew erreichen.« Nachdem die anderen Circusfrauen einiges an aufgeweichten Lebensmitteln aus dem Wagen herausgeholt hatten, aus denen sich noch eine Suppe kochen ließ, die Kochfeuer flackerten und Stitches und seine Helfer dabei waren, den Unglückswagen bei Lampenlicht mit einer neuen Deichsel zu versehen, kletterte Edge selbst mit einer Laterne in den Wagen hinein, um diejenigen Kostüme zusammenzulegen oder auf Kleiderbügel zu hängen, von denen er meinte, daß sie noch zu retten wären, und an Vorräten herauszuholen, was sich möglicherweise trocknen und essen ließ. Dann brachte er Ordnung in die persönliche Habe von Magpie Maggie Hag und Hanswurst, wobei er vorhatte, Florian, wenn dieser wieder ansprechbar war, zu fragen, was mit den Sachen geschehen solle. Die Koffer des alten Mannes und der Frau enthielten den größten Teil ihrer Habseligkeiten; sie waren nur äußerlich etwas angesengt und die Farbe hatte durch die Hitze Blasen geworfen. Als Edge Magpie Maggie Hags Koffer öffnete, sah er als erstes ein dickes, offenbar vielgelesenes und mit vielen Eselsohren versehenes Buch: Traumbuch der alten Zigeunerin – oder: Alle erdenklichen Omina, mystisch gedeutet. »Donnerwetter, wer hätte das gedacht«, brummelte Edge. »Ist es das, worauf Mag die ganze Zeit über zurückgegriffen hat?« Er versuchte, sich einige von Magpie Maggie Hags Prophezeiungen oder Rückzugsanfälle auf ihr Lager ins Gedächtnis zurückzurufen. Dabei fiel ihm das allererste Mal ein, als er sie jemals einen Traum hatte deuten hören – einen Traum, in dem es darum gegangen war, daß Sarah Cover-Jey vom Pferd fiel und sich in den Maschen irgendeines Netzes verstrickte. Mit größter Deutlichkeit – weil es sich ja letzten Endes bewahrheitet -1186-
hatte – erinnerte er sich, daß Magpie Maggie Hag erklärt hatte, aus dem Traum gehe hervor, daß Sarah sich eines Tages in böse Machenschaften verstricken und infolgedessen von ihren Freunden verlassen werden würde. Das Traumbuch war alphabetisch nach Themen geordnet. Als erstes schlug Edge unter dem Stichwort ›Pferd‹ nach. Offenbar gab es laut Buch eine ganze Menge Träume, in denen Pferde eine Rolle spielten, aber er fand keinen, der auf diesen bestimmten Fall anwendbar war. Dann sah er unter ›Netz‹ nach; auch hier nichts, das gepaßt hätte. Schließlich fiel ihm ein, unter dem Stichwort ›Maschen‹ nachzusehen, und da stand es: ›Träumt eine junge Frau davon, sich in den Maschen eines Netzes zu verstricken, geht daraus hervor, daß ihre Umwelt sie zu Bösem verleitet, was zur Folge hat, daß sie von allen verlassen wird. Gelingt es ihr, sich aus den Maschen zu befreien, entgeht sie um Haaresbreite öffentlicher Schande.‹ »Donnerwetter!« wiederholte Edge. Eigentlich war es ja Sarah gewesen, die den Circus verlassen hatte und nicht umgekehrt, trotzdem ... War denn Magpie Maggie Hag die ganzen Jahre über eine Schwindlerin gewesen? Nicht, wenn so viele von ihren Prophezeiungen sich bewahrheitet hatten, wenngleich das auch nur bewies, daß das Buch recht hatte. Edge erinnerte sich, daß sie kurz vor Lincolns Ermordung einen ihrer Anfälle gehabt hatte. Wenn nicht gerade ein eigener Traum dabei eine Rolle gespielt hatte, konnte man ihre Vorhersage in diesem Fall nicht auf das Buch schieben. »Und sie hat nie etwas gesagt oder getan«, murmelte er, »um ihren eigenen Tod vorherzusehen. Mal überlegen, was denn noch? Sie hat prophezeit, daß Pavlo wegen irgendwelcher Werwölfe Scherereien machen wird.« Er blätterte noch einmal in dem Buch herum. Der Begriff ›Werwolf‹ war unter den Stichwörtern nicht aufgeführt, und unter ›Wolf‹ stand nur: »Im Traum einen Wolf heulen zu hören, -1187-
weist auf ein unheimliches Bündnis hin« – was entweder überhaupt nicht oder auf hunderterlei Weise gedeutet werden konnte. Edge zuckte mit der Achsel und konnte sich nicht schlüssig werden, ob sie nun die Gabe der Weissagung besessen oder ob sie all ihre Voraussagen nur aus dem abgegriffenen alten Buch hatte – oder in den meisten Fällen im Grunde nichts anderes getan, als Weisheit, Einsicht und Erfahrung eines langen Lebens auf bestimmte Situationen anzuwenden. Doch als er neben Yount und Agnete Platz nahm, um eine undefinierbare, aber gar nicht mal so schlecht schmeckende Suppe zu löffeln, die die Frauen gekocht hatten, und die drei gedrückt über dieses letzte Mißgeschick nachdachten, das den Circus getroffen hatte, meinte Yount zufällig: »Dabei ist es noch keine vierzehn Tage her, daß die alte Mag mir sagte, die Pußta werde sich für manche Leute als das Ende der Welt erweisen.« Edge zuckte mächtig zusammen, ließ den Löffel in seine Schale fallen und mußte ihn mit den Fingern wieder herausfischen. Es konnte doch unmöglich etwas über die ungarische Pußta in dem alten Buch stehen. Gleichwohl nahm er sich vor, Pavlo Smodlaka in der nächsten Zeit besonders im Auge zu behalten und die Ohren zu spitzen, falls irgendwo ein Wolf heulte. Vier Tage später trafen sie in der Grenzstadt ein. Florian hatte sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen. »Czernowitz«, verkündete er, als die Circuskarawane auf einem leeren Grundstück in den Außenbezirken Aufstellung genommen hatte. »So jedenfalls lautet der Name auf den Karten der ÖsterreichUngarischen Doppelmonarchie. Dabei sind die meisten Bewohner Rumänen und nennen sie Cernauti. Nun, in den letzten paar Tagen ist ja Schmalhans bei uns Küchenmeister gewesen, deshalb werden wir uns zunächst einmal in einem Gasthof den Bauch vollschlagen. Dann klappert ihr Frauen -1188-
Märkte und Krämerläden ab und frischt unsere Vorräte wieder auf. Wer sonst nichts zu tun hat, möge sich in den Läden und Werkstätten von Tapezierern und Textilhändlern umsehen und sämtliche ausgefallenen Gewebe, Pailletten und andere Posamenten aufkaufen, die er findet. Ich selbst werde mich inzwischen erkundigen, ob es hier so etwas wie ein Schneiderviertel gibt; vielleicht findet sich ein Kostümstichler, den es in die Ferne zieht.« Und er fand einen. In der beengten Werkstatt mit Vater, Mutter und Tochter erkannte er sofort, daß die jüngere der Frauen äußerst geschickt mit der Nadel umgehen konnte. Sie hieß Ioan Petrescu, war um die dreißig, aber immer noch Jungfrau, besaß ein Dutzendgesicht und war ziemlich aus dem Leim gegangen. So sehr jedenfalls, daß sie genau der gleichen Meinung wie ihre Eltern war, daß für sie kaum noch Hoffnung bestand, sich hier einen Mann zu angeln. Sie sprach Magyarisch wie Rumänisch, und da sie ihr Leben lang an der Grenze gelebt hatte, auch einigermaßen Russisch. Außerdem war sie eine tüchtige Köchin, doch, nein – erklärte sie einigermaßen verwundert, als Florian vorsichtig nachfragte – irgendwelche Seherkräfte besitze sie nicht. »Ach, macht nichts«, sagte Florian seufzend, als er weiter über Gage und Bedingungen verhandelte – zu denen unter anderem die Zahlung einer Abfindung für die Eltern Petrescu gehörte. Ioan sagte, sie brauche ein paar Stunden, ihre Siebensachen zu packen und sich von der Familie, anderen Verwandten und Freunden zu verabschieden. Kurz vor Mittag des nächsten Tages – solange hatte es gedauert, die Wagen mit all den neuen Vorräten, die sie gekauft hatten, zu beladen fuhr FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM zum Königreich Ungarn hinaus. Es gab keine umständlichen Formalitäten wie bei ihrer Einreise. Die Wachen in den Schilderhäuschen kurz vor der Brücke winkten nur freundlich, als die Wagenkolonne vorüberfuhr, den Pruth -1189-
überquerte und in das Russische Reich hineinrollte.
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POCKKLH
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1 Am anderen Ende der Brücke über den Pruth stand ein Schilderhaus und ein dicker Schlagbaum versperrte den Weg; Schilderhaus wie Schranke waren mit diagonalen weißen und dunkelgrünen, durch eine feine Goldlinie voneinander getrennten Streifen gestrichen. Dahinter stand ein weit hingelagertes Wachthaus mit der russischen Flagge darüber: einem doppelköpfigen Adler, Dunkelgrün und Gold auf weißem Grund. Zwei Bauernwagen, hoch mit Kohlköpfen beladen, standen vor Florians Kutsche; ihre Fahrer warteten geduldig darauf, daß irgendein Wachtposten sie bemerkte. Als Florian hielt, kam auch die gesamte Kolonne hinter ihm zum stehen und erstreckte sich nicht nur über die gesamte Brücke, sondern noch ein gutes Stück in Richtung Czernowitz. Ein Mann duckte sich unter dem Schlagbaum hindurch, trabte an den Bauernwagen vorüber, kam etwas atemlos auf Florian zu und machte ein erregtes und besorgtes Gesicht. Es war Willi Lothar. »Ich warte seit nunmehr über einer Woche auf Sie«, sagte er. »Wir sind unterwegs aufgehalten worden«, sagte Florian und hob sich die Einzelheiten für später auf. »Und warum geht es hier nicht vorwärts?« »Nichts weiter als die übliche Unhöflichkeit jedes kleinen Beamten in Rußland«, sagte Willi verdrossen. »Soldaten und Zollbeamte nehmen gerade ihr Mittagsmahl zu sich. Nichts und niemand wird sie bewegen können, sich bei Tisch und im Dienst abzuwechseln. Lassen Sie sich von mir gesagt sein, Herr Direktor, auf der Fahrt von hier nach Kiew und wieder zurück habe ich die russische Unhöflichkeit und Unfähigkeit zur Genüge kennengelernt. Allerdings muß ich gestehen, meinerseits manches übersehen und einige Fehler begangen zu haben. Ich kann nur versuchen, sie damit zu entschuldigen, daß dies mein erster Besuch in Rußland ist.« -1192-
»Durchaus verständlich, Herr Lothar. Ich bin überzeugt, wir alle werden unterwegs noch so manchen faux pas begehen.« »Zunächst einmal«, sagte Willy voller Unbehagen, »habe ich mit viel Geld und Zeit gegen ein unvorstellbares Maß an Bürokratie ankämpfen müssen, die jeden mit ihrer Undurchschaubarkeit zur Verzweiflung bringt, um einen Sonderzug für uns chartern zu können. Allerdings habe ich erst hinterher festgestellt, daß die nächste Eisenbahnstation die von Kamenec-Podol’skij ist – dort wartet er auf uns.« »Und wie weit ist das von hier?« »Rund sechzig Werst. Verzeihen Sie – ich habe mich schon so an die russischen Entfernungsangaben gewöhnt. Rund vierzig Meilen oder fünfundsechzig Kilometer.« »Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir das in zwei Tagen. Das geht noch.« »Ich würde an Ihrer Stelle lieber mit mindestens vier Tagen rechnen, Herr Florian. Sie kennen den Zustand der russischen Straßen noch nicht.« »Je nun«, sagte Florian schicksalsergeben. »Wir sind unterwegs eines Großteils unseres Kostümfundus verlustig gegangen. Dann hat unsere Costumiere jedenfalls Zeit, an den neuen Kostümen zu arbeiten.« Willi fuhr fort: »Im Lauf der Woche, die ich hier gewartet habe – und gráce á Dieu sprechen der Kommandant und die meisten anderen höheren Offiziere, Wachen und Zollbeamten französisch –, habe ich mein Bestes getan, sie ... nun, wie würde man das sagen? ... sie zu schmieren, und zwar allesamt.« »Das ist hier wohl nötig.« »Und ob! Wenigstens ist es mir gelungen, daß sie ihre Tresore geöffnet und mir Reisepässe für die gesamte Truppe ausgehändigt haben, in die ich dann Zweck und Ziel unserer Reise einzutragen hatte ...« -1193-
»Pässe? Für Rußland braucht man einen Paß? Zusätzlich zu unseren Konuitenbüchern?« »Ja, leider. Und bei der Ausreise braucht man sie noch einmal – plus einer Bestätigung der Polizei, daß nichts gegen einen vorliegt. Ich habe eine ganze Menge bekommen können – ich wußte ja nicht, mit wieviel Leuten ihr hier ankommt. Jeder braucht nur seine persönlichen Daten einzutragen – so, wie sie in den Konuitenbüchern stehen –, dann kommt noch ein Stempel der Einreisebehörde dazu.« »Offensichtlich haben sich Ihre Schmiergelder gelohnt.« »Nicht unbedingt«, sagte Willi mißmutig. »Könnte sein, daß wir hier noch zwei, drei Tage festsitzen, vielleicht sogar noch länger, um die nötigen anderen Formalitäten zu erledigen, von den unnötigen ganz zu schweigen. Ich habe mein Bestes getan, diese Bauernschädel davon zu überzeugen, daß Ihre Tour durch Rußland von großem kulturellen wie wirtschaftlichen Nutzen für ihr Land sein wird. Daß Sie nicht die üblichen zigeunerhaften Voyageur forains sind. Daß sie sogar einen ganzen Eisenbahnzug gechartert haben, und so weiter und so fort. Ich habe Sie so über den grünen Klee gelobt, daß es sich nach der Wiederkehr Christi angehört haben muß. Aber diese Leute hier sind noch anmaßender, träger und gleichgültiger als die typischen Beamten anderswo. Zum Teil mag das daran liegen, daß der Kommandant dieses Grenzpostens nominell zwar ein Oberst der Armee ist, derjenige jedoch, der wirklich das Sagen hat, ein Vertreter der Dritten Abteilung, ein Zivilist. Deshalb traut sich keiner hier, Fremden gegenüber auch nur die geringste Freundlichkeit zu bekunden, und selbstredend nehmen sie keinerlei Bestechung an, nicht einmal eine Zigarette. Täte das jemand und würde das ruchbar, schickte man ihn sofort in die Bergwerke Sibiriens.« »Was um alles in der Welt ist die Dritte Abteilung?« »Zar Alexanders Geheimpolizei, die nur ihm persönlich -1194-
Rechenschaft schuldig ist. Sie werden bald die Erfahrung machen, Herr Florian, daß es für alles Unerfreuliche in Rußland eine schönfärberische Bezeichnung gibt. Von einem Sträfling, der seine lebenslängliche Verbannung nach Sibirien antritt, zum Beispiel, sagt man, er sei ›auf der Durchreise‹. Doch die so verharmlosend genannte Dritte Abteilung wacht überall – nicht nur an den Grenzen; ihre Agenten sitzen überall – und achtet nicht nur auf illegale Einwanderer und unerwünschte Personen oder Schmuggelwaren, sondern auch auf Personen, die unliebsame Tendenzen oder abweichende politische Meinungen äußern, ja, die auch nur verwerfliche Gedanken hegen.« »Grundgütiger Himmel!« murmelte Florian. »Dabei sind ausgerechnet wir eine Ansammlung von nachweislichen Exzentrikern. Meinen Sie, die lassen uns überhaupt rein, Willi?« »Ach, ich denke schon, wenn auch nur widerwillig. Der Oberst war offensichtlich beeindruckt, als ich ihm die Quittung für die Anzahlung vorlegte, die ich für das Chartern des Zuges leisten mußte. Immerhin sollten wir unseren Leuten raten, sich möglichst unauffällig zu verhalten, zu tun, was verlangt wird und gegen keine Beleidigung und Kränkung aufzumucken. Wenn zum Beispiel Jules und ich uns sehen, sollten wir uns nicht allzu liebevoll begrüßen. Alle anderen sollten darauf gefaßt sein, zunächst einmal gründlich in die Mangel genommen zu werden. Und auf eine Leibesvisitation gefaßt sein. Und auf eine allgemeine boshafte Trödelei, bloß um einen zum Kochen zu bringen. Und darauf, daß wir wahrscheinlich eine saftige Importsteuer bezahlen müssen. Ich hatte gehofft, Schmeicheleien und Schmiergeld könnten da etwas Abhilfe schaffen, doch ich fürchte, das war vergebliche Liebesmüh.« »Nun, vielleicht ist der Oberst oder die Graue Eminenz von der Dritten Abteilung ein Logenbruder und ich könnte ...« »O nein, bloß das nicht, Herr Direktor! Die Bruderschaft der Freimaurer wird hier, wie man in Rußland schönfärberisch sagt, ›nicht ermutigt‹ oder ›nicht gefördert‹. Jede Art von -1195-
Geheimgesellschaft ist verboten. Selbstverständlich gibt es solche Vereinigungen in Hülle und Fülle, doch sind sie sehr darauf bedacht, auch geheim zu bleiben. Sollten Sie es wagen, ein Erkennungszeichen oder Losungswort der Freimaurer zu gebrauchen, könnte das für Sie die Reise nach Sibirien bedeuten.« »Verflucht und zugenäht? Sonst noch was, das ich wissen sollte?« »Nun ...jeder könnte genausogut alles, was er an Büchern, Zeitschriften oder Zeitungen in seinem Besitz hat, in den Fluß werfen. Das erspart uns zusätzliche Verzögerungen, denn sonst müßte jede Seite und jedes Stück Papier begutachtet werden. Denn wissen Sie, jegliche ausländische Literatur ist von vornherein verdächtig, aufrührerisch, ketzerisch oder zumindest sittenlos zu sein.« Florian rief aus: »Das ist ja völlig unglaub...!« doch wurde er unterbrochen von der Trillerpfeife eines Soldaten am Schlagbaum. Die Wachsoldaten hatten ihr Mittagsmahl beendet und kamen jetzt müßig aus dem Wachthaus herausgeschlendert, pulten in den Zähnen und ließen, nachdem sie mit ihren nadelförmigen Bajonetten in den Bergen von Kohlköpfen auf den Wagen der Bauern herumgestochert hatten, diese anstandslos hindurch. Jetzt winkten die Soldaten ungeduldig und herrisch den Circuswagen, weiter vorzurücken. »Ich fahre zuerst«, sagte Florian, »stelle mich vor und präsentiere unsere Konuitenbücher. Gehen Sie, Willi, inzwischen die Kolonne ab und verteilen Sie die Pässe. Und geben Sie allen gute Ratschläge, ja?« Die Schranke ging kurz hoch, bloß, um die Droschke hindurchzulassen. Florian stieg aus und wollte schon auf das Wachthaus zugehen, da hielt der Wachtposten ihn mit dem Gewehr zurück, rief kläffend: »Ostavaitye!« und gab ihm zu verstehen, er solle stehenbleiben, wo er war. Dann entriß er -1196-
Florian den Stapel Konuitenbücher und trug diese selbst in das Gebäude hinein. Dem folgte eine Pause, die lang genug war, jedes einzelne Konuitenbuch genau durchzulesen. Schließlich tauchte der Soldat wieder unter der Tür auf, machte mit seinem Gewehr eine ›Komm mit‹-Geste und blaffte: »Voiditye!« In der Amtsstube im Wachhaus standen mehrere Offiziere; alle waren dabei, in ihren Zähnen zu pulen, und gelegentlich rülpste einer. Florian wandte sich an denjenigen, der an dem Schreibtisch mit den Konuitenbüehern darauf saß. Dieser Mann war auch derjenige von den Offizieren, dessen Uniformrock am meisten mit Goldlitzen, Spangen, Orden und Ehrenzeichen sowie einem wallenden Bart beladen war. In seinem besten Russisch begann Florian. »Zdravstvuitye, Gospodin Polkhovnik, es ist mir eine Ehre, ihre Bekanntschaft ...« »Qu’esce que ca fout?« fauchte der Oberst in einem Französisch, das allerdings wesentlich fließender kam als Florians Russisch, und dazu ungehobelt, rüde und mehr den Nagel auf den Kopf treffend. »Auf gesellschaftlichen Firlefanz können wir verzichten, Gospodin. Tak, Sie sind also der Eigentümer dieses Tsirk und Anführer der Canaille, die da über meine Brücke rumpelt, hab’ ich recht?« »Oui, mon colonel, ich bin stolz, Prinzipal und Direktor von FLORIANS FLORIERENDEM FLORILEGIUM zu sein. Wir beabsichtigen, eine grand tour durch Rußland ...« »S’il vous plait, c’est peu necessaire. Wir haben die ganze letzte Woche kaum etwas anderes von diesem lèche-cul Lothar gehört; er hat von nichts anderem geredet als von Größe und Bedeutung Ihres Tsirk und Ihrem Ehrgeiz, ganz Rußland damit zum Staunen zu bringen. Doch haben Sie bitte im Moment nur die Freundlichkeit, die Angaben in den Konuitenbüchern zu bestätigen – und zwar ohne blumige Umschreibungen.« Der Oberst zählte sie auf – Name, Alter, Beruf etc. –, und Florian bestätigte, alle wären korrekt ausgefüllt. Der Oberst sagte: »Tak, ich kann diese barbarischen ausländischen Sprachen nicht gut -1197-
lesen, doch soweit ich sehe, werden von den Behörden der Städte, in denen Sie gespielt haben, keine nachteiligen Angaben gemacht. Sehr wohl, Monsieur Florian, Sie können einreisen. Geben Sie mir Ihren Paß.« Der Oberst kritzelte etwas hinein und setzte dann mit einem messingenen Amtssiegel einen Stempel darunter. »Sie können draußen warten – und noch die Leerräume in Ihrem Paß ausfüllen. Und schicken Sie den Rest Ihrer Racaille herein – immer einen zur Zeit.« »Excusez, mon colonel«, sagte Florian mit schlecht verhohlener Empörung. »Mein ›Lumpenpack‹, wie Sie es zu nennen belieben, setzt sich aus vielerlei Nationalitäten zusammen. Nur wenige von ihnen sprechen französisch, und russisch, soviel ich weiß, überhaupt keiner. Ich könnte als Dolmetscher von Diensten sein.« »Wie Sie wollen.« Der Oberst zuckte mit den Schultern, wandte sich dem Wachtposten an der Tür zu und sagte: »Odin za drugim.« Der Wachtposten steckte den Kopf zur Tür hinaus – sämtliche Gerätewagen, Käfige und Maringottes und sich auf den eigenen Beinen vorwärtsbewegenden Tiere hatten den Schlagbaum inzwischen passieren dürfen und in Reih und Glied vorm Wachhaus Aufstellung genommen und winkte barsch den ihm nächststehenden Artisten heran, der zufällig Jules Rouleau war. Florian hatte seinen Paß inzwischen gegen die rohe Holzwand des Zimmers gelegt und kämpfte damit, mit seinem Zimmermannsbleistift kyrillische Schriftzeichen in die freigelassenen Räume zu schreiben. Wieder wandte er sich an den Offizier: »Excusez, mon colonel. Sostoy-äniye heißt ›Stand‹. Das weiß ich. Aber was soll ich hinschreiben?« »Ihren Stand, selbstverständlich. Ihren Status«, sagte der Oberst gereizt. »Es gibt schließlich nur fünf. Tak, was sind Sie? Adeliger, Kaufmann, Bürger, Bauer oder Geistlicher?« »Nun, ich ... ich meine, ich passe eigentlich in keine dieser -1198-
Kategorien. Ich würde meinen, das tut keiner von uns. Wir sind Artisten, Künstler ...« »Okh! Tragen Sie ›Bürger‹ – mestchänye – in alle Pässe ein.« Damit wandte er sich Rouleau zu, der sich in Habachtstellung vor seinem Schreibtisch aufgebaut hatte, und gab ihm durch Gesten zu verstehen, er solle sein Konuitenbuch aus den vielen auf seinem Tisch liegenden heraussuchen. Der Oberst nahm das angegebene zur Hand und las: »Yules Rouleau. Francais? Nyet. Amyerikanyets.« Und dann mit einer gewissen Ungläubigkeit in der Stimme: »Aeronaute?« Florian übersetzte: »Vozdukoplavatol. Monsieur Rouleau ist der Luftschiffer unseres Tsirk.« Und dann sagte er es noch einmal: »Je vous fais excuse, mon colonel. Aber wäre es vielleicht möglich, daß Ihre Zöllner, solange wir hier die Konuitenbücher durchgehen« – er zeigte auf zahlreiche andere Männer, die sich in und vor dem Wachhaus herumdrückten und immer noch dabei waren, in ihren Zähnen zu stochern –, »daß Ihre Herren Zollbeamten die Zeit nützen, unsere Wagenkolonne zu inspizieren und die Höhe des Einfuhrzolls festsetzen und so weiter?« Mit wegwerfender Gebärde sagte der Oberst: »Skoro budit, gospodin? Wozu die Eile? Es hat doch keinen Sinn, die Zollerklärungen auszufüllen und Pud und Funt abzuwiegen, solange wir nicht sicher sind, daß auch alle einreisen dürfen.« Da skoro budit nichts weiter bedeutet als: ›Es wird bald geschehen‹ bewußt ungenau gehalten ist und sich auf nichts festlegt wie das spanische Manana, blieb Florian nichts anderes übrig, als seinen Ärger herunterzuschlucken, schweigend daran zu kauen und den Paß eines jeden Kandidaten auszufüllen, sobald der Oberst mit seiner Befragung fertig war, und gelegentlich den Dolmetsch zu spielen. »A. Chink?« rief der Oberst, als einer der Ikarier eingeschüchtert vor ihm stand. »Das ist nicht die Übersetzung -1199-
des Namens, mit dem er hier in seinem Konuitenbuch unterschrieben hat.« »Sie können seinen Namen entziffern, Colonel?« fragte Florian ungläubig. »Wir haben nur unser Bestes getan, denn keiner von uns spricht oder liest chinesisch.« »Chinesisch? Sie Dummkopf! Er hat doch mit koreanischen Schriftzeichen unterschrieben.« Der Oberst sah den Akrobaten an, der leicht zu zittern begonnen hatte, und fragte: »Odi so ososse yo?« Der Ikarier schrak sichtlich zusammen und stammelte: »HHanguk, taeryong. Chchip e so Taegu yo. Ssille haessumnida.« »Chossumnida«, sagte der Oberst geradezu aufgeräumt und fing eine längere Unterhaltung mit dem Mann an, in deren Verlauf der Koreaner auf Anordnung des Offiziers die beiden Konuitenbücher seiner Kollegen herauszog. »Dieser Mann heißt Kim Poktong«, sagte der Oberst zu Florian. »Bitte, radieren Sie das blöde ›A. Chink‹ aus und schreiben Sie es richtig sowohl in sein Konuitenbuch als auch seinen Paß. Die beiden anderen sind seine Brüder, Kim Taksung und Kim Haksu.« Hastig schrieb Florian die Namen so gut er konnte hin und sagte: »Sie erstaunen mich, mon colonel. Ich könnte diese Asiaten nie voneinander unterscheiden ...« »Ich habe in Wladiwostok gedient«, sagte der Oberst. »Tak, und wo ich schon mal da war, habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, die Peter-der-Große-Bai zu überqueren und mir ein bißchen Korea anzusehen. Ein bezauberndes Land, nur, daß die Menschen dort ungewöhnlich einsiedlerisch sind. Ist mir unverständlich, wie diese drei es fertiggebracht haben, sich der Außenwelt zu stellen. Wünschte, ich hätte die Zeit, mich länger mit ihnen zu unterhalten.« »Ich fress ’n Besen!« murmelte Florian. -1200-
Einer nach dem anderen überstanden die Circusangehörigen die Befragung – bei den reizvolleren Artistinnen zog der Oberst sie merklich in die Länge – und begaben sich, nachdem das überstanden war, in die Nähe ihrer Maringottes zurück. Nur einer kochte vor Wut, als er aus dem Wachhaus herauskam, und das war ausgerechnet der sonst durch nichts aus der Ruhe zu bringende Hannibal Tyree. »Kannibal!« rief er außer sich. »Hat dies’ Scheißsoldat mich Kannibal Tyree genannt!« »Ach, zu mir hat er Yules gesagt«, erklärte Rouleau gleichmütig. »Der kann eben kein Englisch lesen. Wozu die Aufregung?« »Is’ doch was ganz Anneres! Yules bedeut’ noch lang’ nicht’, daß man Mensch’n frißtl Bloß, weil ich’n Nigger bin, denk’n die, ich bin’n Kannibale! Mein Gott, nich’ mal mein UrurururGroßvater in Afrika hat jemals Mensch’nfleisch ...« »Ruhig, Herr Tyree, immer mit der Ruhe«, versuchte Willi Lothar ihn zu beschwichtigen. »Das war kein absichtlicher Affront. Sehen Sie, im Russischen gibt es keinen H-Laut. Russen können einfach nicht aspirieren. Deshalb ersetzen sie unser H einfach durch einen Velar- oder Gaumensegellaut, für gewöhnlich das K. Da wird aus Hannibal eben Kannibal.« Doch ein zweiter Einreisewilliger begegnete einer weit prekäreren Schwierigkeit als einer, die auf falsche Aussprache beruhte. Aus dem Konuitenbuch las der Oberst vor: »Künstlername: Maurice LeVie. Bürgerlich: Maurice Levy. Okh!« Er rief nach Florian, der gerade dabei war, Daphne Wheelers Paß auszufüllen: »Attendez uns hier, bitte, Monsieur le Proprietaire. Diesem Mann kann die Einreise nicht gestattet werden. Er ist Israeli!!« »Na und?« sagte Florian. »Soviel ich weiß, haben Sie doch mehrere Millionen Juden in Rußland.« »Aber nicht, weil wir sie haben wollten«, sagte der Oberst. -1201-
»Sie stellten nur einen unangenehm hohen Prozentsatz der Bevölkerung der Ukraine und später Polens dar, die Matuschka Rossiya beide an ihren Busen sedrückt hat. Tak, unsere sogenannten russischen Juden dürfen sich nur in einem bestimmten Siedlungsgebiet aufhalten – eben Polen und der Ukraine. Es steht ihnen nun wirklich nicht frei, sich ungehindert in allen Provinzen des Großrussischen Reiches zu bewegen, wie Sie es für diesen ausländischen Juden wünschen.« »Monsieur le Colonel«, sagte Maurice. »Ich bin Franzose. Ich habe mich nie einer anderen Rasse oder Nationalität zugehörig gefühlt oder irgendeiner Religion angehört.« Der Oberst knurrte: »Tak khram ostavlennyi – vse khram.« Fragend sah Maurice Florian an, der übersetzte: »Auch ein verlassener Tempel ist immer noch ein Tempel.« »Lassen Sie die Hose runter, Franzose!« befahl der Oberst. »Zeigen Sie uns Ihre quequette!« Florian trieb eilends Daphne hinaus. Wütend, gedemütigt und vielleicht auch ein wenig verängstigt ließ Maurice die Hose herunter und entblößte sich, woraufhin der Oberst triumphierend erklärte: »Nu, z gülkin hüy! Circumcis, evidemment! Und Sie leugnen, Jude zu sein! Da würden Sie ja wohl auch behaupten, daß Ihr Juden kein Blut von geraubten Christenbabys benutzt, um euer Passah-Brot zu backen.« Kläglich erklärte Maurice: »Monsieur le Colonel, ich habe nie im Leben das Passah-Fest gefeiert.« Der Oberst blaffte seine müßig herumstehenden Untergebenen an, die plötzlich aus ihrer Untätigkeit erwachten, Maurice in einen Nebenraum drängten und die Tür hinter sich schlossen. Das Russisch des Obersten war wie aus einem Schnellfeuergewehr gekommen, doch das Wesentliche hatte Florian mitbekommen. Maurice sollte entkleidet und auf etwaige Tätowierungen oder andere hebräischkabbalistische Zeichen auf seinem Körper untersucht werden, auf Kassiber mit -1202-
aufrührerischen israelitischen Schriften oder sogar Giftphiolen, die er in den Körperöffnungen versteckt haben könnte; und hinterher sollte auch sein Wohnwagen gründlich ausgeräumt und unter die Lupe genommen werden. Der Oberst wandte sich wieder Florian zu und sagte drohend: »Tak, vorläufig werden wir die Befragung Ihrer Truppe aussetzen, Gospodin. Durchaus möglich, falls wir irgend etwas Aufrührerisches oder Subversives unter den Sachen Ihres Juden finden, daß Sie allesamt zur Rechenschaft gezogen werden, einem Staatsfeind Unterschlupf gewährt zu haben.« »Aber ich versichere Sie ...« »Versichern Sie mir nichts. Die Entscheidung darüber liegt bei meinem Kollegen, einem Zivilisten, Gospodin Trepow, einem persönlichen Vertreter der Kanzlei des Zaren. Warten Sie draußen.« »Mon colonel, Monsieur LeVie ist ein Luftakrobat, ein Trapezkünstler«, sagte Florian verzweifelt. »Ich flehe Sie an, ihm kein Haar zu krümmen.« »So was passiert bei uns nie«, erklärte der Oberst mit Nachdruck. »Nicht einmal mit poseurs wie Monsieur Levy. Warten Sie draußen!« Als Florian mutlos auf die beieinander stehenden Circusleute zuging, fragte Edge: »Was ist denn jetzt wieder los?« Florian erklärte es und schloß mit den Worten: »Wenn wir nicht alle hinter Gitter kommen – wie können wir ohne Maurice weiterziehen? Wir können ihn schließlich nicht diesen Unholden überlassen. Selbst wenn wir diese Herzlosigkeit besäßen, wäre das immer noch ein schwerer Schlag gegen unsere schon reichlich zusammengeschrumpfte Truppe. Himmelherrgott noch mal! Natürlich habe ich gewußt, daß Maurice Jude ist. Ich habe mir nur nicht vorstellen können, daß das hier eine Rolle spielt – sonst hätte ich glatt sein Konuitenbuch gefälscht ...« Verzagt verstummte er. -1203-
Edge überlegte einen Moment, doch dann sagte er: »Nun, ich wollte dich zwar in Sankt Petersburg damit überraschen. Aber ich glaube, wir brauchen es jetzt.« Er ging zu seiner Maringotte und kehrte mit einem schweren, elfenbeinfarbenen Umschlag zurück. Einigermaßen verblüfft erkannte Florian die beiden Kronen – die Kaiser- und die Königskrone in Goldprägung und las die schön geschwungene Handschrift: Ihrer Kaiserlichen Majestät Zarin Maria Alexandrowna Winterpalais St. Petersburg Rußland Unter größter Ehrerbietung öffnete er das unversiegelte Couvert, faltete den Briefbogen aus steifem, handgeschöpftem Bütten auseinander und las halblaut vor: »Chere Madame, theuerste Schwester ...« Sein Blick suchte die Unterschrift, und jetzt gingen ihm wirklich die Augen über, denn er las: »Ihre Schwester Elisabeth Amelie, von Gottes Gnaden Kaiserin von Österreich, Königin der Ungarn.« Ehrfürchtig und mit angehaltenem Atem sagte er zu Edge: »Und ich habe dir gesagt, vielleicht wäre sie nichts weiter als eine kleine Baronin. Himmel!« Dann las er den eigentlichen Brief und kehrte im Geschwindschritt zurück ins Wachthaus. Bei seinem Eintritt bekam er gerade noch ein langgezogenes Stöhnen aus dem Nebenzimmer mit; dann fuhr der Oberst ihn an: »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen draußen warten.« Nicht minder erbost fauchte Florian ihn an: »Lesen Sie deutsch?« »Nyet! Raus mit Ihnen!« Florian legte den Brief vor dem Obersten auf den Schreibtisch, und zwar so, daß sein Blick auf die eingeprägten und vergoldeten Wappen fallen mußte, hielt ihn jedoch vorsichtshalber noch fest. »Vielleicht liest der Vertreter des Zaren deutsch.« »Hmhm ... ich denke«, sagte der Oberst. »Wenn Sie jedoch in dieser Angelegenheit auf Nachsicht oder Einlenken hoffen, so -1204-
kann ich Ihnen versichern, daß er in diesem Punkt unerbittlich sein wird. Deswegen ist er nämlich hier.« Gleichwohl merkte man dem Obersten sein Unbehagen an. Er stand auf, trat an die Tür zum Nebenzimmer, machte diese so weit auf, daß er den Kopf hindurchstecken konnte, und Florian hörte, wie er auf russisch sagte: »Aufhören, Männer, und weitere Befehle abwarten! Gospodin Trepow, da ist etwas, das Sie sehen sollten.« Er kam mit einem pummeligen Mann in schlichtem Gehrock zurück, der nicht das geringste Abzeichen trug, das darauf hingewiesen hätte, wer darin steckte. Ungewöhnlich war nur, daß er der einzige Russe ohne Vollbart war, den Florian bisher gesehen hatte. Statt dessen trug er einen schwarzen Schnauzbart, struppig wie eine Schuhbürste, und Augenbrauen, buschig wie dicke Raupen, die wirkten, als wären sie angeklebt und nur dazu dienten, jeden Ausdruck in seinen Augen zu verbergen. Als sein Blick jedoch auf das pergamentdicke, elfenbeinfarbene Büttenpapier fiel – auf dem immer noch schützend Florians Hand lag –, machten seine Raupen unwillkürlich einen Satz nach oben. Trepow las den Brief durch, und zwar, wie man merkte, zwei- oder dreimal, dann erst senkten sich die Raupen wieder, er funkelte Florian an und verlangte in herrischem Ton zu wissen: »Wie kommen Sie zu diesem Brief?« »Mein Sprechstallmeister – der in dem Brief erwähnte Monsieur Edge – ist ein enger persönlicher Freund der Kaiserin Elisabeth, Königin von Ungarn. Das geht doch wohl deutlich aus dem warmherzigen Ton hervor, Gospodin Trepow, mit dem Ihre Kaiserliche Majestät ihn der Tsaritsa Maria Alexandrowna empfiehlt. Es wird Ihnen außerdem nicht entgangen sein, daß sie ihre theuerste Schwester, die Zarin, bittet, nicht nur Gospodin Edge in jeder erdenklichen Weise behilflich zu sein, sondern allen seinen Freunden vom Tsirk FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM.« Der Vertreter von der Dritten Abteilung der Hofkanzlei stieß -1205-
einen Grunzlaut aus, nahm den Obersten beiseite und besprach sich halblaut mit ihm. Florian bekam immerhin soviel mit, daß er sich ein Bild von den Vorgängen machen konnte. »Fälschung?« »Unmöglich. Diese dummen duräkha? Außerdem kenne ich die Schrift von offiziellen Schriftstücken. Der Brief stammt zweifellos von ihr.« »Ungarn ... kein Verbündeter.« »Trotzdem ... redet sie mit ›Schwester‹ an.« »Tak. Und wie wär’s, wenn wir sie verschwinden ließen ... sie und den Brief ...?« »Gefährlich ... Vielleicht ist ein Duplikat per Post abgegangen ...« »Wenn sie sich beschweren ... uns anzeigen ... bei der Tsaritsa?« »Tak, wir müssen alles wieder einrenken ...« Beide wandten sich Florian zu, wobei sich einer wie der andere zerknirscht und schmierig die Hände rieb. »Hätten wir nur die geringste Ahnung gehabt ...«, sagte Agent Trepow. »Natürlich, aber selbstverständlich sind Sie alle willkommen, höchst willkommen sogar in Matuschka Rossiya.« »Selbstverständlich auch der Israelit«, ergänzte Trepow. »Ich werde augenblicklich eine Sondererlaubnis ausstellen, die er an den Provinzgrenzen braucht.« »Wir brauchen keine weitere Befragung anzustellen«, sagte der Oberst. »Schicken Sie nur die restlichen Pässe herein, Monsieur Florian. Meine Beamten werden die aus den Konuitenbüchern ersichtlichen Daten eintragen und den Sichtvermerk einstempeln.« »Außerdem meine ich, Zasulich«, wandte sich der Agent an -1206-
den Obersten, »wo diese guten Leute doch praktisch Gäste unserer Tsaritsa sind, daß sich eine Zollinspektion und die Zahlung eines Einfuhrzolls erübrigen. Im übrigen – hahaha – woher eine Waage nehmen, auf der man feststellen könnte, wieviel Pud und Funt zwei Elefanten wiegen?« »Da haben Sie recht, Gospodin Trepow. Ich werde die Zollerklärungen ausstellen, Monsieur Florian, und mit dem Stempel diplomatische Immunität versehen, damit nicht irgendwelche übereifrigen kleinen Zollbeamten an irgendeiner Provinzgrenze sich wichtig machen.« »Und da es spät wird, schlage ich vor«, sagte Trepow, »Sie und Ihre Truppe geben uns die Ehre, das Abendessen in unserem Offizersklub einzunehmen.« »Ihre Damen natürlich eingeschlossen«, sagte Oberst Zasulich. »Im allgemeinen haben Frauen zwar keinen Zutritt, doch werden wir für dieses eine Mal eine Ausnahme machen und auch unsere eigenen Frauen einladen.« »Und wenn Sie morgen früh weiterfahren«, sagte Trepow, »werde ich Ihnen eine Militäreskorte mitgeben. Morgen soll eine Kompanie Kazhäki hier eintreffen. Sie wird Sie bis Kamenec-Podol’skij begleiten, damit weder Räuber, Banditen noch Wölfe Sie belästigen.« »Wir nehmen die Einladung an, meine Herren«, sagte Florian glattzüngig. »Und sind Ihnen dankbar für all Ihr Entgegenkommen. Es freut mich ausgesprochen, daß ich Ihrer Kaiserlichen Majestät hinsichtlich der Tüchtigkeit und Gastfreundschaft Ihrer Untertanen und Offiziere am Grenzposten von Novosielitza einen so positiven Bericht erstatten kann.« Strahlend sahen die beiden ihn an, dann sich und rieben sich dabei nochmals die Hände. Bis auf drei Kollegen nahmen alle Circusangehörigen an dem Abendessen teil. Ioan Petrescu dankte, weil sie eifrig daran -1207-
arbeitete, die noch zu rettenden Reste der Kostüme zusammenzustückeln und nach den Maßen und den rohen Skizzen, die Magpie Maggie Hag hinterlassen hatte, neue anzufertigen. Maurice LeVie lehnte dankend ab, weil er Quetschungen in der Nierengegend und verdrehte Handgelenke auskurieren müsse und Nella Cornelia blieb bei ihm, um seine Verletzungen mit Arnikatinktur zu bestreichen. Selbstverständlich war Maurice noch immer stinkwütend über die Art und Weise, wie er behandelt worden war, und die Demütigungen, die er hatte einstecken müssen. Er schwor Stein und Bein, nie wieder gesellschaftlich mit derlei merdeux sauvages zu verkehren – niemals! »Ich begreife, ich habe Verständnis dafür und bin ganz deiner Meinung«, sagte Florian. »Nur haben wir jetzt eine Sondergenehmigung, die dich vor weiteren Peinlichkeiten oder Ungeheuerlichkeiten bewahrt.« »Je in’en fous et in’en contrefous!« fauchte Maurice. »Vielleicht, wenn Je roi de cons, der russische Zar, mich höchstpersönlich einlädt ..., vielleicht, daß ich mich dann herablasse anzunehmen.« Oberst Zasulich ließ ein exzellentes Diner auffahren. Schon die Zaküska-Horsd’ceuvres hätten gereicht, die Gästeschar zu sättigen: schwarzer, roter und goldgelber Kaviar, Stör in Aspik, verschiedene Sorten Käse, eingelegtes Gemüse, päte de fois, hauchdünn aufgeschnittener kalter Braten – und unzählige eisumhüllte Flaschen Wodka. Viele der Gäste aus dem Circus, zumal die Damen, entdeckten, daß ein einziges Glas von diesem Wodka – trank man es auf russische Art, das heißt, stürzte man es hinunter, daß es blitzschnell an der Stimmritze vorüberrutschte, direkt im Magen landete und von dort aus explosionsartig hochwallte ins Hirn wirkte, als hätte man einen Schlag auf den Kopf bekommen. Aus diesem Grunde tranken sie hinterher Tee, gleichfalls auf russische Art, das heißt, sie schlürften das aromatische Getränk durch ein zwischen den -1208-
Zähnen gehaltenes Stück Zucker hindurch aus einem Glas. Andere jedoch -Ferdi Spenz zum Beispiel, Aleksandr Banat und die drei Jäszi-Brüder sprachen dem Wodka so kräftig zu, daß sie in ihre Maringottes gebracht oder gar getragen werden mußten, noch ehe die nächsten Gänge aufgetragen wurden: Borschtsch, Heringssalat mit roten Beeten, Elchsteaks, gegrillt oder halb roh, Brühwürste, Morcheln, eine Fülle von Gemüsen mit Gewürzen und Zutaten, die völlig exotisch anmuteten, ein kräftiger grüner Krimwein, Heidelbeertorte, noch mehr Tee und Wodka und ein Preiselbeerlikör. Die meisten Beamten und Offiziere nebst Gattinnen – oder Begleiterinnen von nicht genau feststehender Beziehung – konnten französisch. Florian kam mit seinem Russisch ziemlich gut zurecht, und auch die Smodlakas konnten sich in dieser Sprache verständlich machen. Oberst Zasulich unterhielt sich sogar eine ganze Zeitlang auf koreanisch mit den Brüdern Kim. Diejenigen, die stumm bleiben mußten, waren jedoch nicht taub und waren höchst erstaunt, daß der Klang der Umgangssprache sich von einem Ufer des Pruth zum anderen so drastisch verändern konnte und aus dem hellen, brüchigen Magyarisch das gutturale Russisch geworden war, das so feucht ausgesprochen wurde, daß es manchmal wie Bachgeplätscher anmutete. »Was soll eigentlich das ständige ›taktaktak‹, das ich immer wieder höre?« wandte Sunday Simms sich an Willi. »Selbst wenn diese Leute französisch reden, lassen sie nach jedem dritten Wort ein tak einfließen. Das hört sich an, als befände man sich in einem Zimmer voll tickender Uhren.« »Ach, das ist nichts weiter als ein sprachlicher Schluckauf, meine Liebe, ts bedeutet nichts weiter als ›so‹, doch ist es offenbar eine Russische Nationalangewohnheit, es häufig und völlig überflüssig anzuwenden. Ich habe es überall in Rußland gehört, wo immer ich bis jetzt gewesen bin.« Die Messekellner sagten weder ›tak‹ noch sonst etwas. -1209-
Offenbar waren sie keine Russen und sprachen kein Russisch. Sie sahen fast so asiatisch aus wie die Kims und erfüllten ihre Aufgaben und Pflichten, ohne daß man ihnen irgendeine Anweisung zu geben brauchte. »Es sind Tataren«, erklärte Agent Trepow Edge. »Wir holen sie uns aus den Wolgaprovinzen, wie überhaupt jedes russische Hotel oder Restaurant, denn sie sind gläubige Muslime und vergreifen sich deshalb nicht an unserem Wodka. Tak, wir Kinder von Matuschka Rossiya können von Glück sagen, eine solche Völkervielfalt in unserem Riesenland zu beherbergen. Jedes Volk ist mit seinen besonderen Tugenden oder Talenten ausgestattet. Unsere Balten etwa sind für ihre Ehrlichkeit und Pünktlichkeit bekannt, deshalb stellen sie die überwiegende Mehrheit unserer Gutsverwalter, Buchhalter und Schreiber. Die Letten sind besonders gut im Bau von Wind- und Wassermühlen. Und so weiter.« Was an Unterhaltung zwischen Gastgebern und Gästen möglich war, verlief freundschaftlich, bezog sich zumeist auf Nichtigkeiten, war aber manchmal recht aufschlußreich. JeanFrancois Pemjean zum Beispiel meinte zu der untersetzten, aber hübschen Frau, die ihm vis-ávis saß: »Madame, ist das Wetter für Ende Oktober nicht noch außergewöhnlich gut für Rußland? Ist dies etwa so eine Art Nachsommer?« »Wir sagen Altweibersommer dazu«, erwiderte sie und lächelte affektiert. »Bäye leto. Denn hier in Rußland findet man uns Frauen in ihrer vollen Reife ganz besonders begehrenswert. Ja, es stimmt schon, das Wetter ist sehr milde. Doch für uns, tak, ist es erst Anfang Oktober. Vielleicht wissen Sie noch nicht, daß wir hier dem Julianischen Kalender folgen, der zwölf Tage früher beginnt als der Gregorianische Kalender des Westens.« An einem anderen Tisch sagte eine andere, gleichfalls hübsche Frau zu Rouleau: »Sie sprechen von Leibeigenen, Monsieur Yules. Wir nennen sie Krepostnoyi. Oder nannten sie vielmehr so, denn es gibt sie heute nicht mehr. Unser weiser und -1210-
menschlicher Alexander, der persönlich eine Million Krepostnoyi besaß, hat sie überall im Land freigelassen.« Mit unverhohlenem Abscheu für Rouleaus Heimat fügte sie dann noch hinzu: »Das war sieben Jahre, ehe Ihr rückständiges und unaufgeklärtes Amerika einen Bürgerkrieg führen mußte, um dasselbe für Ihre Sklaven zu erreichen.« »Ich weiß nicht, ob es den unseren viel Gutes gebracht hat«, sagte Rouleau. »Als ich das letztemal drüben Freigelassene sah, wußten die nicht, wohin, und waren völlig hilflos – was ihnen fehlte, waren Herren, die ihnen sagten, was sie tun sollten, und die sie versorgten.« »Tak, ich muß gestehen, daß das bis zu einem gewissen Grad auch auf unser aufgeklärtes Rußland zutrifft«, sagte die Frau. »Es wird noch einige Zeit dauern, bis die freigelassenen Muzhiks ihre alten Abhängigkeiten und ihre schreckliche Ungebildetheit abstreifen. Besonders was ihren eingefleischten Aberglauben betrifft.« Sie lachte. »Wissen Sie, jedesmal, wenn ein Provinzgouverneur oder Bürgermeister eine Volkszählung befiehlt, flüchten die Muzhiks auf die hohen Bäume. Manche begehen sogar Selbstmord.« »Par dieu, pourquoi? Welcher Aberglaube kann denn mit einer Volkszählung etwas zu tun haben?« »Die Muszikhi glauben, die Volkszählung gehe auf den Antichrist zurück, der alle ihre Namen haben will, um sie in die Hölle holen zu können. Das jedoch ist ein religiös begründeter Wahn und vielleicht deshalb entschuldbar. Leider glauben die Bauern aber auch an alle möglichen anderen ketzerischen und übernatürlichen Dinge und haben eine Heidenangst davor. Zum Beispiel vor Vampiren, oder Oborotyen ...« Im selben Augenblick bemühte sich Pavlo Smodlaka verzweifelt, einen neben ihm sitzenden Hauptmann nach eben diesen Wesen auszufragen. »Auf magyarisch Ferfifarkas. Ihr nennt, glaube ich, Oborotyen.« -1211-
»Tak, Sie haben von unsren Oborotyen gehört?« sagte der Hauptmann und nahm einen trübsinnigen Ausdruck an, wiewohl es in seinen Augen gleichzeitig lustig blitzte. »Da, die gibt es bei uns. Und was immer Sie darüber gehört haben, wahrscheinlich stimmt alles. Manchmal, bei Vollmond, werden diese zu Wölfen gewordenen Menschen zu einer solchen Plage, daß selbst wir, die Armee, aufgefordert werden, sie zur Strecke zu bringen und zu erschlagen. Tak, und dafür müssen wir silberne Bajonette benutzen.« Der Hauptmann erging sich des längeren und breiteren über dieses Thema und griff dabei zu immer phantastischeren Bildern, daß Pavlos Kinnlade immer weiter heruntersackte, bis ihm das bereits durchgekaute Essen als Brei übers Kinn lief. Oberst Zasulich sagte zu Florian: »Ich bin wahrhaft froh, daß wir die wenigen unbedeutenden Schwierigkeiten ausräumen konnten und Ihr Unternehmen unser Land jetzt in Entzücken versetzen kann. Ich bin ein wenig zwischen Ihren Wagen umhergegangen, und ich muß sagen, es handelt sich wirklich um einen anständigen Tsirk und nicht um eine miese Balagan – in Amerika, glaube ich, nennen Sie so was einen tína Tsirk.« »Richtig, eine mud show«, bestätigte Florian. »Sie scheinen mit dem Circusjargon wohlvertraut, mon colonel.« »Der Tsirk steht in Rußland in hohem Ansehen, Gospodin Florian. Zum erstenmal Lust darauf bekamen wir vor fast hundert Jahren, tak, als der ROYAL CIRCUS OF LONDON ein Gastspiel in Sankt Petersburg gab. Er wurde dort herzlich aufgenommen. Zum Teil zweifellos, weil Jekaterina die Große den Oberreiter als letztes Glied in die lange Kette ihrer Liebhaber einreihte. Danach kamen andere Wandercircusse, uns zu besuchen. Jetzt haben wir eine ganze Reihe eigener Circusse – von gewaltigen Unternehmen in festen Hippodromen bis zu den schäbigen Balagans, die auf jedem Jahrmarkt auf dem Lande auftreten. Doch der Jargon blieb zumeist derselbe, wie er auch im Westen üblich ist. Tak, eure Löwenbändiger geben ihre -1212-
Befehle auf deutsch. Das Manegenrund in der Mitte heißt nach dem Italienischen Pista. Nur wenige Ausdrücke sind bei uns anders. Was Sie einen Clown nennen, ist bei uns ein Rizhi und ein Gnom, wie etwa die bezaubernde kleine Dame weiter unten am Tisch, ist bei uns eine Lilliput.« Florian holte Bleistift und Papier hervor. »Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit, mon colonel, mir zu helfen, verständliche Übersetzungen der Künstlernamen auszubrüten, die unsere Leute sich zugelegt haben. Quakemaker oder Bebenmacher, Cinderella oder Aschenbrödel ...« »Tak«, sagte der Oberst, rutschte mit dem Stuhl näher heran, und dann gingen sie gemeinsam die Liste durch. Später verließen sie die anderen, die immer noch weiterfeierten, und begaben sich nochmals in Zasulichs Amtszimmer, wo der Oberst Florian den Gefallen tat, seinen Tresor aufzuschließen und die große Menge von ungarischen Kronen und Forints, österreichischen Kronen und Gulden gegen silberne russische Rubel und Kopeken einzutauschen. Am nächsten Morgen war Oberst Zasulich genauso früh auf den Beinen wie die Cirucusleute – und beträchtlich frischer und munterer als so mancher von ihnen. Er kam zu dem Platz, auf dem die Karawane die Nacht verbracht hatte, und verkündete: »Hier kommt die Kompanie Kazhäk-Infanterie. Unten an der Straße hören Sie schon die Marschmusik. Ich werde ihnen erlauben, sich nur so lange auszuruhen, wie Sie brauchen, um anzuschirren und sich aufzustellen. Dann erhalten sie Befehl, kehrtzumachen und Sie zum Bahnhof von Kamenec-Podol’skij zu eskortieren – mit Vorausabteilung und Nachhut.« Florian und Edge spitzten die Ohren und erwarteten, eine Militärkapelle zu hören, doch das war es nicht. Die Hälfte der näherkommenden Kompanie pfiff nur die russische Nationalhymne, während die andere Hälfte sie sang. Boshe tsara krani -1213-
Syilni der zharni Stsar stvouyna Slavouna slavounam... »Nun, vielleicht haben sie keine Kapelle«, sagte Edge, »aber die Hymne ist anregend und flott. Nur, solch schwirrendes Gepfeif habe ich noch nie gehört. Was singen sie denn?« »Hm ... ungefähr ...«, sagte Florian: »›Glühend vor Begeisterung legen wir den Eid auf den Zaren ab. Graben es in Baumstämme ein: Ruhm dem Slaventum.‹« Die Musik wurde lauter, und es kamen immer mehr Circusleute aus ihren Maringottes und anderen Wohnwagen heraus. Als die Kompanie auf den Exerzierplatz des Grenzpostens marschierte und den Befehl ›Ganze Abteilung halt!‹ erhielt, ohne indes mit dem Pfeifen und Singen aufzuhören, war zu erkennen, woher die eigentümlich lauten, eingängigen und harmonischen Trillertöne kamen. Jedem Pfeifer war ein Loch zwischen die beiden Vorderzähne gebohrt worden. Der Kompaniechef wartete, bis seine Männer mit dem Schlußchor zu Ende waren, und brüllte dann einen Befehl, der offensichtlich: ›Wegtreten!‹ lautete, denn die Männer stellten geübt die langen Gewehre zu Dreierpyramiden zusammen, nahmen den Tornister ab und ließen ihn fallen, rissen sich die gewaltigen Stiefel von den unbestrumpften Füßen, knöpften sich den Hosenlatz auf und begannen – ohne sich im geringsten um die Zuschauer zu kümmern, zu denen mittlerweile alle Damen des Circus gehörten – sich gegenseitig auf die nackten Füße zu pissen. Die meisten Zuschauer standen einen Moment wie vor den Kopf geschlagen da. Dann machten die Frauen und Mädchen mit hochrotem Gesicht, daß sie in ihre Maringottes zurückkamen. »Das machen Infanteristen immer nach einem langen -1214-
Marsch«, erklärte Oberst Zasulich, dem das ganze ebensowenig peinlich war wie den Soldaten. »Das tut den Füßen gut, härtet sie ab und verhindert Ringwürmer und Fußpilze.« Rouleau mußte an sich halten, um nicht vor Lachen loszuprusten, und sagte auf französisch zu dem Oberst: »Ich dachte, alle Kosaken wären Kavalleristen, tollkühne Reitersmänner wie die ungarischen Csikos oder die Indianer von den großen Ebenen in Amerika.« Zasulich antwortete: »Daß sich diese Mythen bei Ihnen im Westen durchgesetzt haben, liegt an Ihren Circussen und Hippodromen. Tatsächlich ist es so, daß die Kosaken, wie Sie sie nennen, nicht einmal einem bestimmten Volk oder einem Stamm angehören oder überhaupt miteinander verwandt sind. Das Wort Kazhäk bedeutet nur ›Brigant‹, und früher sind sie auch ungehindert als Nomaden über die Steppe gezogen. Tak, dem Grundsatz folgend, daß Wilderer die besten Wildhüter oder Jäger abgeben, hat Zar Peter der Große sie zusammengetrieben und Soldateneinheiten aus ihnen gebildet. Und sie geben in der Tat vortreffliche Soldaten ab. Einige sind Kavalleristen, da, aber nicht alle. Die wildverwegenen Reiter, von denen Sie sprechen, da, die haben wir auch, aber solche Reitersmänner werden korrekt Djigit genannt.« »Noch etwas«, wandte Pemjean sich an Edge, »das ich gerade gestern abend erfahren habe. Wenn Sie sich auf bestimmte Daten festgelegt haben, an denen wir in den verschiedenen Städten ankommen sollen, Monsieur le Directeur, müssen Sie den russischen Kalender berücksichtigen. Denn heute ist nicht, wie Sie vielleicht meinen, der dreiundzwanzigste Oktober, sondern erst der elfte.« Mit einem gewissen Unterton fügte er noch hinzu: »Monsieur Florian hat ja immer gesagt, daß wir in ein rückständiges Land kommen, n’estce pas?« Auch wenn die Kazhäk vortreffliche Soldaten waren und ihrer Hingabe an den Zaren glühend Ausdruck verliehen, murrten sie doch vernehmlich, als der Circus bereit war zum Losfahren und -1215-
sie Befehl erhielten, die Kolonne dieselbe Straße, die sie gerade hermarschiert waren, über viele Werst zurückzubegleiten nach Kamenec-Podol’skij. Trotzdem taten sie, wie ihnen geheißen, zogen ihre großen Stiefel an, schulterten Tornister und Gewehr und bildeten zwei Einheiten, von denen die eine vorwegmarschierte, während die andere die Nachhut bildete. »Lassen Sie sich noch einen Rat geben, Gospodin Florian«, sagte Agent Trepow, als sie sich zum Abschied die Hand schüttelten. »Sobald Sie den Bahnhof erreichen, werden Sie von Nosil’shchiki überschwemmt werden – freiwilligen Gepäckträgern. Scheuchen Sie die fort. Lassen Sie Ihre eigenen Leute die Sachen tragen. Diese Bahnhofsschmarotzer haben keinerlei Anrecht auf irgendwelche Bezahlung; geben Sie ihnen auch nur die kleinste Kleinigkeit, gilt das als Geschenk. Nun begeht aber jeder Russe, der von einem Ausländer ein Geschenk annimmt, nach unserem Gesetz ein strafwürdiges Verbrechen – Sie als Gebender übrigens auch. Dafür hat er jedoch das Recht, einem Ausländer alles und jedes zu stehlen, das ihm in die Hände gerät. Ich dachte, das sollten Sie wissen.« Seufzend und fassungslos den Kopf schüttelnd, dankte Florian dem Vertreter der Dritten Abteilung und gab das Signal zum Losfahren. Die Beamten und Offiziere des Grenzpostens hatten sich alle versammelt, um die Circuskarawane zu verabschieden, und grüßten militärisch wie ein Mann. Die Kazhäk marschierten sofort vorneweg – und ließen einen strengen Ammoniakgeruch zurück, der Florian das Wasser in die Augen trieb – und pfiffen und sangen zum Ruhme des Slaventums.
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2 Die Straße nach Kamenec-Podol’skij war mit runden Baumscheiben gepflastert, die man wie Wegplatten dicht an dicht in den Boden eingelassen hatte. In Zeiten von Regenfällen, wenn die Baumscheiben gut eingeschlemmt waren, oder im Winter, wenn der Frost sie im Griff hatte, daß sie eine anständige, wenngleich unebene Straßendecke abgaben, mochte das etwas nützen. Doch jetzt, im Spätherbst, war die Straße nichts weiter als bröckelige Erde und die nicht festgestampften Baumscheiben lagen völlig regellos schief und krumm da und kippelten und rutschten und verursachten beim Drüberhinwegfahren und schreiten der Wagen und Tiere ein unablässiges Gerumpel, das jedem auf die Nerven ging. Alle wurden mehr gebeutelt als bei einer Fahrt durch eine aufgewühlte See. Die Smodlaka-Kinder und einige der Käfigtiere waren die ganze Fahrt über seekrank, und viele Kinder holten sich blaue Flecken, da es immer wieder vorkam, daß sie in den Wagen oder Maringottes hin- und hergeworfen wurden. Mehrmals mußte die gesamte Kolonne warten, weil eine geborstene Speiche ausgewechselt und gebrochene Radnaben erneuert werden mußten, Zuggeschirr riß oder Hufeisen sich lockerten. Wie die neue Näherin, Ioan Petrescu, in diesem Gerumpel dazu kam, ihre feine Stichelarbeit fortzuführen, war ein Geheimnis, doch sie tat es, und die Fahrt – die für die sechzig Kilometer volle fünf Tage dauerte – gab ihr Zeit, alle beschädigten Kostüme auszubessern und neue zu nähen. Dazu gehörten auch diejenigen für die Jäszi-Brüder, die Florian kostümieren wollte, wie früher Edge als Buckskin Billy, weil der Cowboy-Dreß auf das russische Publikum ›exotischer‹ wirkte als die Tracht der ungarischen Czikosen, die viele Russen bestimmt schon einmal gesehen hatten. Um Ioan soviel Zeit wie möglich für diese Aufgabe zu geben, übernahmen die anderen -1217-
Frauen bei der Rast das Kochen. Die Kazhäk- Eskorte verpflegte sich selbst, und zwar äußerst spartanisch. Sie entzündeten Feuer, um Tee aufzubrühen, und die einzige andere Nahrung, die sie zu sich nahmen, bestand aus faserigem Trockenfleisch, von dem sie einen Vorrat im Tornister mitführten. Wegen der miserablen Straßenverhältnisse zogen Hannibal und sein böhmischer Assistent den beiden Elefanten Füßlinge aus Schafsfell über. Diese an sich robusten ›Stiefel‹ waren am Ende des Marsches zerfetzt und nicht mehr zu gebrauchen, so daß Stitches neue anfertigte, denn die Dickhäuter brauchten sie jetzt, wo es empfindlich kalt wurde, wohl auch auf richtig gepflasterten Straßen. Der Altweibersommer endete, als der Circus die Hälfte des Weges geschafft hatte. Zwar fiel noch kein Schnee, wohl aber die Temperatur. Das Land sah genauso aus wie die ungarische Pußta – eine schier endlose Ebene mit nunmehr vergilbtem Gras; nur gelegentlich unterbrach ein Baum oder Strauch mit unbelaubten Ästen die Eintönigkeit. Jeden Morgen sahen die rauhreifüberzogenen Grashalme aus wie eine bajonettstarrende Armee. Stieg die Sonne dann hoch genug, um den Reif auf den Halmen verschwinden zu lassen, bot sich neuerlich ein merkwürdiger Anblick. Selbstverständlich warf jeder Baum in der Weite einen Schatten, freilich keinen dunklen, wie es normal gewesen wäre, sondern einen silbrigweißen, weil der Rauhreif sich dort noch nicht verflüchtigt hatte. Der Circus kam durch zahlreiche Dörfer, und die hier lebenden Mushiks kamen aus ihren Hütten, um die ungewohnte Erscheinung mit stumpfen Augen anzustarren. Die Circusleute ihrerseits starrten nicht viel anders zurück, denn es gab wenig von Interesse zu sehen. Ein Dorf glich dem anderen: Zeilen von Izba-Hütten, die nur aus einem einzigen Raum bestanden, säumten links und rechts den Straßenrand; jede Izba war aus roh zugerichteten, kaum behauenen und unbemalten Baumstämmen errichtet und die Ritzen mit Moos verstopft. Nur wenige dieser Unterkünfte wiesen ein Fenster auf, und von diesen wiederum -1218-
war ganz selten eines – vielleicht das des Dorfschulzen – verglast; die anderen Fenster waren nur mit Ölpapier oder sogar nur mit hauchdünn geschabter Birkenrinde verklebt. Die Bauern waren genauso häßlich wie ihre Wohnhäuser. Die Männer trugen das Haar in der Mitte gescheitelt, und die ungekämmten fettigen Strähnen hingen ihnen links und rechts über die Schultern, manchmal sogar so weit hinunter wie der ungekämmte strähnige Bart, der bisweilen bis zum Gürtel reichte. Die Frauen waren von den Männern nur daran zu unterscheiden, daß sie keinen Bart hatten und, gleichgültig, was für Haar sie hatten, dieses unter Babuschka-Kopftüchern verbargen. Ihre Gesichter waren genauso sonnenverbrannt und wind- und wettergegerbt wie die der Männer und die Gesichtshaut häufig genauso rauh, mit Warzen, Grützbeuteln oder Pockennarben übersät. Männer wie Frauen trugen dicke, graue, sackartige und mit einem Leibriemen zusammengehaltene bodenlange Mäntel sowie Stiefel aus farblosem Filz, die so groß und klobig waren, daß jeder aussah, als hätte er einen Klumpfuß. Stiefel und Mantelsäume waren schlamm- und mistverkrustet. Ein junges Mädchen oder überhaupt kleine Kinder bekamen die Circusleute so gut wie nicht zu sehen – wahrscheinlich scheuchten ihre Altvorderen sie in die Hütten, damit sie nicht von diesen nie erlebten Vorüberziehenden entführt wurden – doch die jungen Menschenkinder, die sie zu sehen bekamen, waren bisweilen sehr hübsch. Eines jedoch in diesen trostlosen Dörfern reizte die Neugierde der Circusleute. Jedesmal, wenn sie abends durch einen solchen Weiler hindurchkamen, sahen sie zumindest eine Frau einen Kanten Brot und eine Schüssel Milch vor die Tür stellen. »Glauben die Russen etwa an die Heinzelmännchen?« fragte Daphne lachend. »Man hat ja fast das Gefühl, im geheimnisumdräuten alten Schottland zu sein.« »Nein, mit Wichtein hat das nichts zu tun«, sagte Florian, der -1219-
letzthin seine Abende zusammen mit Kapitän Miliukow von der Kazhäckompanie verbrachte, um soviel wie möglich über Rußland und die russische Lebensweise zu erfahren. »Sie glauben an vielerlei andere Spukgeister und Elfen und dergleichen. Aber diese Speiseopfer werden für ›die Unglückliche‹ hinausgestellt – für Männer auf der Flucht vor der Polizei, der Armee oder irgendeiner anderen Staatsautorität. Wie überall sonst auf der Welt stehen die Erniedrigten und Beleidigten auf seiten der zu unrecht Verfolgten. Es gibt hier ein Sprichwort: ›Kein Dieb ist nur, wer nicht erwischt wird.‹ Nur, wenn ein Missetäter tatsächlich ertappt und offiziell verurteilt wird, gehen diejenigen, die eigentlich genauso schlimm dran sind wie er, ihm aus dem Weg und schmähen ihn.« Gelegentlich begegneten der Circuskolonne auf der schlechten Straße andere Fahrzeuge. Bei den meisten handelte es sich um ausladende, mit robusten Rädern ausgestattete Bauernkarren, doch manche – die vielleicht Eigentum eines Grundherrn in der Gegend waren – waren schnittigere Gefährte, die von einer Troika gezogen wurden. Das Pferd in der Mitte eines solchen Dreigespanns lief in einem flotten Trab unter einem hochgewölbten, hölzernen Dugä, einem Bügel, der immer reich geschnitzt und farbenprächtig bemalt und bisweilen auch mit klingelnden Glöckchen behangen war. Die beiden Pferde links und rechts davon mußten schräg laufen, da ihr Kopf von einem Kurzzügel zur Seite gezogen wurde; die beiden Seitenpferde mußten in einem leichten Galopp gehen, um mit dem Trab des Mittelpferds mitzuhalten. »Ich kann den Sinn der Sache nicht erkennen«, sagte die Reiterin Clover Lee kritisch. »Der hochgewölbte Bügel muß doch schwer und für die Flankenpferde muß es höchst unbequem sein, schräg und noch dazu in einer anderen Gangart mitzulaufen.« »Ich habe den schweren Verdacht«, sagte Florian, »daß die russischen Kutscher dieses Geschirr früher einmal erfunden -1220-
haben, um geachtet zu werden und um als unersetzlich zu gelten – als die einzigen Menschen auf Gottes Erdboden, die es fertigbringen, eine Troika an- oder auszuschirren.« Doch bekamen die Reisenden durchaus mehr Neues zu sehen als nur dies. Sehr häufig begegneten sie auf der Straße einem in Lumpen gehüllten Mann – seltener einer Frau –, der sich, statt Stiefel zu tragen, die Füße mit Lappen umwickelt hatte und bettelnd die Hand ausstreckte. »Das sind Pilger«, erklärte Willi Lothar, »die sich aufgemacht haben, irgendein Heiligtum zu besuchen.« Willi warf ihnen jedesmal ein paar Kopeken hin. Doch manche der zerlumpten Wanderer kamen wie besessen tanzend die Straße herunter, drehten sich um sich selbst, sangen und stießen laute Schreie aus. »Auch diese gelten als fromm«, sagte Willi und streute ihnen Kopeken hin. »Man nennt sie ›Narren Gottes‹; in Wirklichkeit jedoch sind es bemitleidenswerte Irre, die ziellos durchs Land streifen.« Am abendlichen Lagerfeuer fuhr Willi fort: »Auch viele der wirklich frommen Sekten hier sind so fanatisch, daß wir sie für wahnsinnig halten würden. Da sind zum Beispiel die Skoptsyi genannten Mönche, die strikte geschlechtliche Enthaltsamkeit geschworen haben. Doch offenbar können sie sich nicht darauf verlassen, das allein mit ihrer Willenskraft zu schaffen. Deshalb entmannen sie sich gegenseitig. Von einem Mönch sagt man, er nehme ›das kleine Siegel‹, wenn ihm nur die Hoden herausgeschnitten werden – beim ›großen Siegel‹ gibt er auch noch das Glied her.« Ein paar von den Leuten, die ums Feuer herum saßen, mußten gegen aufkommende Übelkeit ankämpfen und stellten den Teller mit dem Essen beiseite. »Es gibt auch eine Sekte, die nennt sich Bozhie Lyudi oder ›Gottes-Leute‹«, fuhr Willi fort. »Auch die geloben Enthaltsamkeit, doch das bloß in bezug auf ihre eigenen Männer oder Frauen. Mit dem Partner irgendeines anderen Gemeindemitglieds zu kopulieren, dagegen ist nichts -1221-
einzuwenden. Und dann gibt es die Verehrer des Heiligen Geistes. Die sollen beim Beten möglichst tief und häufig Atem holen, um auf diese Weise den Heiligen Geist buchstäblich zu schlucken. Viele von ihnen fallen von diesem exzessiven Atmen in Ohnmacht und gelten dann als besonders vom Geist berührt. Eines ihrer verstorbenen Mitglieder, so hat man mir erzählt, gilt als der gesegnetste von allen, denn er brach von einer Überdosis Heiliger Geist wie gefällt zusammen.« Nur einmal während dieser Fahrt machten die Circusleute halt, um sich eine Mahlzeit in einem Restaurant zu gönnen, statt sie selbst zu kochen. Das war in einem Dorf namens Khotin, einem Ort, der so groß war, daß er zwei Gebäude von einiger Größe aufwies. Beide waren sogar bunt gestrichen und wiesen mehr als nur ein Glasfenster auf – und bei jedem prangte ein Schild über der Tür. Die Neuangekommenen betrachteten das Schild – es war das erstemal, daß die Mehrzahl von ihnen kyrillische Schriftzeichen sahen. Die Schrift war besonders verwirrend insofern, als sie vertraute Buchstaben des Alphabets aufwies, jedoch Groß- und Kleinbuchstaben durcheinander und dann noch bekannte Buchstaben, die allerdings auf dem Kopf standen oder seitenverkehrt geschrieben wurden. Florian las den anderen die Schilder vor: »Pravityel’stvo Monopöliya Lavka oder Staats-Monopol-Laden, was bedeutete, daß hier Schnaps und Tabak verkauft werden. Das andere Schild trägt die Aufschrift Gostinitsa. Das ist ein Gasthaus. Versuchen wir’s.« Das Essen, das ihnen – von einer drallen, verschwitzten und ziemlich übelriechenden Frau – vorgesetzt wurde, unterschied sich vermutlich nicht von dem, was sonst jede Bauernfamilie in Khotin oder sonstwo in Rußland auf dem Tisch stehen hatte. Yount machte ein mißtrauisches Gesicht, als er seine Schale mit einer gebundenen, graugrünen Suppe vor sich stehen hatte und sagte: »Als sie es vor mich hinstellte, nannte sie es so ähnlich wie Schisssch.« »Na, ich würd’s auch so ähnlich nennen – Schiß oder -1222-
Scheiß«, sagte Rouleau und schnupperte argwöhnisch an der seinen. »Der Name lautet Shchi«, sagte Florian und tunkte, ohne zu zögern den Löffel in die seine. »Kohlsuppe. Durchaus nicht zu verachten.« Tatsächlich war das der beste Teil der Mahlzeit. Der Rest bestand aus ledrigen Batzen Salzfisch, gekochten Kartoffeln ohne jede Zutat, Roggenbrot, schwarz wie Baumrinde, rohen Zwiebeln und Bechern mit einem Getränk, das aussah wie ein besonders helles Bier, doch jeder, der es probierte, verzog das Gesicht und stieß Laute aus, die mehr oder weniger bedeuteten: ›O Gott, was ist das?‹ »Kwas«, sagte Florian. »Soviel ich weiß, eines der Grundnahrungsmittel der Bauern. Ein selbstgebrautes und, wie man sagt, äußerst gesundes Getränk. Man gießt einfach Wasser und ein wenig Honig über Gersten- oder auch altbackenes Roggenbrot, läßt es gut durchgären, gießt die Flüssigkeit hinterher ab, und das ist Kwas.« »Heiliger Bimbam«, sagte Yount. »Da habe ich mir eingebildet, während des Krieges daheim wer weiß was durchgemacht und gelitten zu haben, als wir maisfressenden Südstaatler mit dem gerösteten Eibischkaffee und dergleichen vorlieb nehmen mußten. Aber diese russischen poor whites ...« Mitleidig schüttelte er den Kopf. Wie versprochen wartete der Eisenbahnzug bei ihrem Eintreffen auf dem Kamenec-Podol’skijer Bahnhof auf sie – wahrlich eine furchtgebietende, gewaltige Kette von Waggons. Die Sormowo-Lokomotive war fast anderthalb Meter höher und über einen halben Meter breiter als jede Lokomotive, die die Circusleute in Amerika oder in Europa jemals zu Gesicht bekommen harten. Wie freischwebend wies die Lokomotive über dem massiven Boiler aus schwarzem Eisen eine sonderbare, dicke Röhre auf, die fast so aussah wie ein zweiter, -1223-
dünnerer Kessel, der die beiden Bowlerhat-ähnlichen Kuppeln miteinander verband, welche Drosselklappe und Sicherheitsventil bargen. Die beiden Schwungräder zu beiden Seiten der Maschine maßen fast zweieinhalb Meter im Durchmesser, und selbst das übrige Fahrgestell und die Hinteroder Tragräder waren fast brusthoch. Die Passagierwaggons, die geschlossenen und flachen offenen Güterwagen waren mit den amerikanischen verglichen riesig. Die Passagierwagen wiesen nicht wie die in Westeuropa einen Gang auf, der sich an der einen Seite des Wagens entlangzog und auf den die Abteiltüren hinausgingen. In diesen Zügen gingen die Abteile über die ganze Wagenbreite, so daß mindestens zehn Fahrgäste nebeneinander auf den einander gegenüberliegenden, mit grünem Plüsch bezogenen Bänken Platz fanden, ohne daß sie einander gestört hätten; sie hatten zu beiden Seiten Fenster und Türen und neben den Bänken schmalere Türen, durch die man in die Nachbarabteile gelangte. Für den Kondüktor oder anderes Zugpersonal, die von einem Abteil in ein ferner gelegenes wollten, war an der Außenseite ein schmaler Laufsteg mit Handgriffen angebracht, so daß das Personal die Passagiere nicht zu stören brauchten; zwischen den einzelnen Waggons war dieser Laufsteg unterbrochen und die Lücken zwangen das Personal zu gewagten Sprüngen. Das FLORILEGIUM traf um die Mittagsstunde am Bahnhof ein, und Florian hielt sich an Trepows Rat und scheuchte die abgerissenen Männer und Jungen fort, die lautstimmig darum baten, ihnen zu Diensten sein zu dürfen; dafür stellte er seine eigenen Racklos an, die mühevolle Arbeit zu verrichten, die Circuskarawane auf und in die Eisenbahnwaggons zu verfrachten. »Kommen wir schnell und reibungslos voran«, sagte er, »könnten wir es schaffen, mit dem Beladen bis Dunkelwerden fertig zu sein. Bis Kiew sind es nur dreihundertfünfzig Kilometer. Da der Zug unterwegs sonst nirgends hält, sollten wir -1224-
die Strecke bis morgen früh geschafft haben und das im Dunkeln. Wir brauchen uns also nichts mehr von dieser öden Grassteppe anzusehen.« »Müssen wir die ganze Nacht über auf bleiben?« fragte Agnete. »Nein, Fräulein Aal«, sagte Willi. »Ich habe ausreichend Passagierwaggons bestellt, so daß wir jedes Abteil nur mit vier Personen zu belegen brauchen. Wollen wir schlafen, brauchen wir nur die Rücklehne eines jeden Sitzes vom Provodnik des Zuges hochklappen zu lassen, so daß oben eine zweite Liege entsteht. Die Racklos schlafen selbstverständlich bei den Tieren im Stroh.« So machten sich die Böhmen unter der Aufsicht von Stitches, Bumbum, Hannibal und Banat an die Arbeit. Zum Glück waren die geschlossenen Güterwagen groß und wiesen breite Türen zum Beladen auf, denn Hannibal bestand darauf, daß Pferde, Käfigtiere, Elefanten und Kamele nicht auf den flachen und ungeschützten Plattformwagen untergebracht wurden – wie die Maringottes und Vorratswagen –, sondern daß sie die Fahrt im geschützten Inneren der geschlossenen Güterwagen zurücklegten. Das erforderte eine Menge Hin- und Hergeschiebe und Drehen von Wagenrädern, Abnehmen von Schwengeln und Deichseln und hatte viel Gewieher, Gebrüll und Gefauche und Gebell von Tieren ebenso zur Folge wie eine Unmenge an Flüchen der Böhmen, doch wurde alles glücklich geschafft. Wer nichts zu tun hatte, begab sich in das Bahnhofsgebäude und stellte zu seiner Überraschung fest, daß dieses ein ganz anständiges Gostinitsa enthielt – zumindest wesentlich besser als der Gasthof in Khotin –, das ein einfaches, aber sättigendes Mahl aus Sprotten, Pfeffersuppe, Schweinefleisch und Klößen, gekochten Kartoffeln und richtigem Bier – nicht Kwas – im Angebot hatte. Florian ließ Kapitän Miliukow an seinem Tisch Platz nehmen; der Rest der Soldaten blieb draußen und riegelte den Zug gegen Diebsgesindel oder blinde Passagiere ab; sie -1225-
sollten später mit den Böhmen essen. Nach dem Essen ging Florian auch noch in den Raum neben der Gostinitsa hinüber, in dem wieder ein Laden des Staats-Monopols untergebracht war, kaufte zwanzig Flaschen Wodka und übergab diese dem Hauptmann. »Für Ihre Leute – als Dank für ihre Dienste.« »Spasibo, Gospodin Florian«, sagte Miliukow. »Vielleicht darf ich Sie und Ihre Leute, weil sie solange darauf warten müssen, daß der Zug beladen wird, tak, zu einem recht ungewöhnlichen Ereignis einladen.« »Zu einem Ereignis?« »Da. Kommen Sie. Es findet auf dem Platz gleich hinter dem Bahnhof statt.« Die Truppe wußte nicht recht, was sie von dieser Aufforderung halten sollte, folgte dem Hauptmann aber vom Bahnhof bis zu dem Platz. Auf diesem war ein Pfahl mit Querbalken aufgerichtet, an dem ein Mann mit entblößtem Oberkörper hing, dessen Arme in den dafür vorgesehenen Öffnungen eines der Querbalken eingeschlossen waren; der Mann war selbst so fest mit Seilen umwickelt, daß seine Rückenmuskeln deutlich hervortraten. Er schien noch ziemlich jung zu sein und trug keinen Bart; doch sein langes Haar verhüllte das Gesicht. Einige schwarzgewandete Richter standen herum und in einiger Entfernung drängte sich ein Großteil der Einwohnerschaft. Vorm Pfahl stand ein riesiger Kazhäk-Soldat, auch dieser mit entblößtem Oberkörper, und drehte und bog an einer kräftigen Peitsche herum, die er in Händen hielt. Neben ihm staken in einem Becken mit glühenden Kohlen mehrere Eisenwerkzeuge. Beim Anblick all dieser Dinge hielten die Frauen mit Ausnahme von Monday Simms den Atem an, machten kehrt und liefen zurück in die Bahnhofsgaststätte. Ein paar der Männer folgten ihnen. Florian fragte den Hauptmann nach dem Grund für dieses ›Ereignis‹. »Der Mann ist der Herstellung von Blüten überführt. Der -1226-
Kommandeur der hiesigen Gendarmerie hat mich als einen rangmäßig über ihm Stehenden gebeten, die Bestrafung zu beaufsichtigen und meinen stärksten Soldaten zur Verfügung zu stellen, die Bestrafung auszuführen.« »Der Herstellung von Blüten?« »Von Falschgeld – er ist ein Fälscher, ein Falschmünzer und erhält einhundertneunundneunzig Hiebe mit der K’nut, danach Tavro und zu guter Letzt Shchitsiki. Hat er das alles hinter sich, wird er an die Bannmeile der Stadt gebracht und ist fortan ein Ausgestoßener.« Ehe Florian oder sonst jemand noch etwas sagen oder sich umdrehen und fortgehen konnte, war der K’nutschwingende Soldat vier oder fünf Meter vom Strafgerüst zurückgetreten. Dann trat er entschlossen vier, fünf Schritte vor, sprang hoch in die Luft und ließ gleichzeitig die Peitsche herniedersausen. Dieser erste Hieb rief nur einen kurzen Riß auf der bloßen Haut des Opfers hervor, der vom Nacken bis zur linken Achselhöhle reichte, jedoch entrang sich ihm ein lauter Schrei. Noch ein paar von der Truppe, aber auch einige der Stadtbewohner verließen den Platz. Unter denjenigen, die zurückblieben, befand sich Monday Simms, die seit langer Zeit zum erstenmal die Schenkel wieder aneinander rieb. Der Knutenmeister trat wieder zurück, machte ein paar Sätze voran, sprang in die Höhe und placierte den nächsten Hieb einen knappen Fingerbreit parallel und unterhalb des ersten. So ging es weiter, jeder Hieb rutschte einen Fingerbreit tiefer, bis er den Rücken des schreienden Mannes mit fünfundzwanzig aufgeplatzten, blutigroten Striemen überzogen hatte. Als das geschehen war, übergab der Riese die Peitsche an die linke Hand und überzog – die anderen Striemen kreuzend – den Rücken des armen Opfers mit wiederum genau fünfundzwanzig Striemen, unter denen die Haut von oben links nach rechts unten aufsprang. Und wieder wechselte der Soldat die Schlaghand und schlug wieder zu, diesmal horizontal vorgehend. Inzwischen -1227-
hatte der Schuldige längst aufgehört zu schreien und sein Rücken war nicht mehr blutig rot sondern ein schwarzer Brei. Während der letzten neunundneunzig Hiebe bemühte sich der Knutenschwinger nur, irgendwelche bisher noch unversehrt gebliebene Stellen zu treffen, während das Opfer schlaff und dem Anschein nach leblos vom Querholz herunterhing. Da jedoch trat Kapitän Miluikow zu ihm, hob den kraftlos herabhängenden Kopf hoch und der Mann hatte – unglaublich! – noch Leben genug in sich, um nochmals aufzuschreien, als der Kazhäk ein rotglühendes Brandeisen aus dem Kohlebecken holte und ihm den Buchstaben O für Otvyerzhenyi, Ausgestoßener – auf beide Backen und die Stirn brannte. Und immer noch war das Opfer am Leben; jetzt nahm der Knutenmeister eine rotglühende Zange aus der Glut, packte damit zu und riß ihm die beiden Nasenflügel herunter, so daß in der Mitte seines Gesichts nur ein kleines vorspringendes Knorpelgebilde zurückblieb. Als das den Mann neuerlich – wesentlich schwächer freilich – zum Schreien brachte, löste sich echogleich ein ähnlicher Laut von den Lippen der zitternd und mit starren Augen dastehenden Monday Simms. »Himmel!« entfuhr es Yount halblaut. »Dieser Fälscher ist kräftiger als ich und der Peitschenmann zusammen.« »Und jetzt ist er häßlicher und entstellter als irgendein tätowierter Mann wie ich«, sagte Fitzfarris sinnend. Der Ausgestoßene wurde vom Gerüst befreit und fiel mit dumpfem Aufschlag besinnungslos auf das Pflaster des Platzes. Kapitän Miliukow rief nach Freiwilligen, ihn ans Ende der Stadt zu schleifen. Fitz war der einzige, der sich meldete. Bei Eintritt der Dunkelheit war das Beladen des Zuges abgeschlossen, hatten auch die Racklos gegessen und die Kazhäckompanie war wieder abmarschiert, offenbar zurück an die Grenze. Lokführer und Heizer der gigantischen Lokomotive hatten genug Dampf gemacht und in der Zwischenzeit offenbar -1228-
zu ihrem puren Vergnügen immer wieder die Glocke geläutet und die Dampfpfeife ertönen lassen. Die Böhmen kletterten in die mit Streu gepolsterten Güterwagen mit den Tieren, und die anderen in die ihnen zugewiesenen Abteile. Ein Gleiswärter auf dem Bahnsteig schwenkte eine grüne Laterne, die Lokomotive reagierte mit einem Aufkreischen und klirren, setzte sich unter ungeheurem Geschnaufe in Bewegung und ließ, nach und nach schneller werdend, den Bahnhof von Kamenec-Podol’skij hinter sich. Die Gleisbettung war nicht besonders ebenmäßig ausgeführt, und so kam es zu beträchtlichen Schwankungen und Vibrationen. Man hätte meinen können, daß Monday Simms einträchtig damit ihre Nerven vibrieren ließ, doch hatte ihre Teilnahme an der Auspeitschung offenbar alle Regungen dieser Art in ihr erstickt. Für die anderen war die Zugfahrt nach dem Durchgeschütteltwerden und dem Gerumpel auf der mit Baumscheiben belegten Straße ein wahres Labsal. Das einzig Lästige war der ölige Rauch, der noch durch die kleinsten Ritzen der Waggons herein drang. Am hinteren Ende eines jeden Fahrgastwagens gab es ein Kabäuschen, in dem ein Provodnik saß, der ständig einen großen Samowar voll Tee heiß hielt und dafür sorgte, daß Wasser nachgefüllt wurde; ab und zu kam er über den außen am Waggon entlangführenden Laufsteg entlanggeklettert und erkundigte sich, ob jemand ein Glas Chai wolle. In gewissen Abständen verließen auch der Kondüktor, ein Bremser oder ein Heizer mit der Ölkanne den Personalwagen am Ende des Zugs und hangelten sich die gesamte Länge des Zuges entlang, wobei es manchmal um Routineinspektion ging, manchmal jedoch auch darum, höchst prekär einen Krug Tee – und ein- oder zweimal auch eine Flasche Wodka – für den Zugführer und den Oberheizer nach vorn zu bringen. Sowohl die Passagierwaggons als auch die Güterwagen mit den Tieren und Slowaken wurden durch Dampf röhren vom Kessel der Lokomotive, die unterm -1229-
Fußboden entlangführten, zumindest teilweise geheizt. Doch als die Nacht fortschritt und es kälter wurde, gaben die Provodniks Reisedecken für die Fahrgäste aus, damit diese sich darin einhüllten und sie später auf ihrer Liege als Zudecke benutzten. Diese Decken bestanden aus einer Unzahl kleiner und kleinster zusammengestückelter Fellfetzen von seltenen und sehr kostbaren Pelzen: Nerz, Zobel und Hermelin. Florian erkundigte sich, woher diese herrlichen Felldecken kämen. Sie würden, sagte der Provodnik, aus Resten zusammengenäht, die in den Werkstätten der Skornyäka abfielen, in denen Gehpelze und Capes und dergleichen für die reichen Russen oder für den Export hergestellt würden. Nachdem der Reiz, wieder einmal mit der Eisenbahn zu fahren, sich gelegt hatte, und es draußen kaum etwas zu sehen gab, fingen die Reisenden an, sich untereinander in ihren Abteilen zu besuchen. Fitzfarris betrat dasjenige, das Florian mit Edge, Yount und Pfeifer teilte. Florian sagte gerade: »... möchte mal wissen, was aus dem armen Schwein geworden ist, das da ausgepeitscht wurde.« Fitz sagte: »Sieht ganz danach aus, als ob er überleben würde, Governor.« »Eh? Woher willst du das wissen?« Mit dem Daumen zeigte Fitz über die Schulter hinter sich. »Er liegt in dem Abteil, das Meli, Jules und ich uns genommen haben. Meli und Jules sind gerade dabei, ihm die Wunden und Verbrennungen mit allen Tinkturen und Mitteln zu säubern, die wir haben.« »Du hast den Mann mitgenommen!« rief Edge fassungslos. »Himmelherrgott noch mal, Mann – wozu!« »Wozu? Na, um ihn zu zeigen, natürlich. Ich bin doch dafür verantwortlich, daß ich Nachschub für unsere Abnormitätenschau kriege. Ich denke, als ›Häßlichster Mensch der Welt‹ ist er eine Sensation.« -1230-
»Damit kommst du nie durch, Sir John«, sagte Florian. »Die Os, die sie ihm eingebrannt haben, sind unmißverständlich. Der erste Polizist, der ihn sieht, wird sich auf uns stürzen. Man wird uns den Prozeß machen, weil wir einem – was weiß ich? – Unterschlupf gewährt, ja, ihn versteckt haben!« Kopfschüttelnd sagte Fitzfarris: »Der Bursche war so ohnmächtig, daß er nichts mehr gespürt hat, als wir ihn an Bord brachten. Ist es noch. Da habe ich die Gelegenheit beim Schöpf gepackt, mir eine Zigarre angezündet und an diesen Brandzeichen ein bißchen herumgesengt, solange er nichts davon merkte.« Von Entsetzen gepackt, sahen die anderen Fitz an. »Verschönern ließ sich das ganze zwar nicht, aber zumindest sehen die Dinger nicht mehr wie Os aus. Es könnten die Narben von allen möglichen Verbrennungen sein. Ich hab’ mir gedacht, wenn er sich zur Schau stellt, stelle ich ihn als den Überlebenden von einem mörderischen Kampf mit Pemjeans Bären hin. Der einzige Mensch, der jemals den Kampf mit zwei wilden Bären bestanden hat, meine Damen und Herren. Aber mehr als sein Leben hat er kaum gerettet ...« »Hm, hm«, machte Florian. »Im russischen Volksmärchen gibt es ein Ungeheuer, das nicht zu schlagen ist und Kostchei der Todlose genannt wird. Als den könntest du ihn ankündigen.« »Glänzend«, sagte Fitzfarris. »Außerdem tut es Kewwydee und Kewwydah gut, wenn sie nicht als allzu zahm gelten. Da macht es weit mehr Eindruck auf die Zuschauer, wenn Pemjean diese Killerungeheuer mit Daphne Rollschuh laufen läßt.« Jörg Pfeifer sagte: »Aber der Mann kann kein blöder Muzhik sein. Er muß über eine gehörige Portion Intelligenz verfügen, sonst könnte er kein Falschmünzer sein. Woher willst du wissen, daß er einverstanden ist, sich als Abnormität in der Sideshow ausstellen zu lassen?« »Welche andere Möglichkeit hat er denn?« »Sir John hat recht, Fünffünf«, sagte Florian. »Einen -1231-
gebrandmarkten Ausgestoßenen nehmen sie nicht mal im Kloster auf. Sonst bleibt ihm nur die Bettelei oder er wird rückfällig. Noch dem gutwilligsten Almosengeber wäre es schrecklich, ihm etwas zuzustecken. Und wenn er sich wieder einem Verbrecherleben zuwendet, nun, als Verdächtiger ist er leicht zu identifizieren und aufzugreifen. Und haben sie ihn erst mal wieder gefaßt, würde er bestimmt zum Tode verurteilt werden.« »Deshalb tun wir nicht nur uns, sondern auch ihm einen Gefallen«, sagte Fitzfarris. »Insbesondere mir. Denn so erhalte ich die Möglichkeit, mich aus dem Rampenlicht zurückzuziehen. Ein Tätowierter Mann kann doch unmöglich mit einer Mißgestalt wie ihm konkurrieren. Ich kann old Mags Schminke auftragen und jetzt immer wie ein ganz normaler Mensch rumlaufen. Und Meli braucht nicht mehr zusammenzuzucken, wenn die Leute uns auf der Straße anstarren. Ich mein’, falls du einverstanden bist, Governor.« »Selbstverständlich, Sir John. Sobald Kostchei, der Todlose, dich ersetzen kann. Ich kann deine Tatkraft nur loben.« »Da brat mir doch einer ’n Storch!« sagte Edge mehr fassungslos als vorwurfsvoll. »Florian, du und Foursquare Fitz – ihr beide habt die Unverfrorenheit gepachtet. Jedesmal, wenn ich glaube, jetzt habt ihr die Grenze der Ungeheuerlichkeit erreicht, kommt einer von euch mit irgendeinem neuen und unschlagbaren Mumpitz. Jetzt engagieren wir einen Ismael, einen Zuchthäusler, einen, mit dem sie in seinem eigenen Land nichts zu tun haben wollen. Der Mann hat kein Konuitenbuch, mit dem ihm eine Circuslaufbahn verpaßt werden könnte, keinen Paß, den er den Grenzwächtern vorweisen kann ...« »Wie der Zufall es wollte«, sagte Florian gleichmütig, »war Geheimagent Trepow so sehr darauf erpicht, sich uns erkenntlich zu zeigen, daß er mir ein paar Pässe extra zugesteckt hat – samt Sichtvermerk. Alles andere brauchen wir bloß einzutragen. Außerdem hat der Furchtbare Türke, als er abhaute, -1232-
das so überstürzt und mit einer solchen Wut im Bauch getan, daß er vergaß, sein Konuitenbuch mitzunehmen. Deshalb wird unser neuer Kostchei der Todlose – egal, wie sein richtiger Name lautet – im Privatleben fürderhin Shadid Sarkioglu sein.« Florian wandte sich wieder Fitzfarris zu. »Der Mann könnte aus jedem Land der Erde stammen. Auf jeden Fall hat er nicht mehr die platte, breite slawische Nase. Aber ich würde es nicht drauf ankommen lassen. Schneide ihm das Haar kurz, so wie die Westeuropäer es tragen und sorge dafür, daß er in Gegenwart von Fremden niemals russisch spricht. Stellst du ihn auf dem Podest vor, könntest du ja erwähnen, der Schock des Bärenangriffs habe den armen Mann fürs Leben stumm gemacht.« »Richtig, Governor«, sagte Fitz fröhlich. »Erfahren werden wir’s ja erst, wenn er aufwacht. Aber vielleicht stimmt das ja tatsächlich.« Die Fahrt nach Kiew dauerte alles in allem doch länger als nur die eine Nacht, wie Florian gehofft hatte. Alle drei Werst stand neben dem Schienenstrang ein gelb gestrichenes Holzhaus, in dem der Streckenwärter und seine Familie hausten. Kam der Zug tutend näher, sprang er – für gewöhnlich in Begleitung seiner ganzen Familie – selbst dann nach draußen, wenn er im Bett gelegen hatte, denn der vorüberfahrende Zug war das einzig Interessante in ihrem ganzen Leben – das einzige, das es in dieser öden Landschaft zu sehen gab –, und da stand er dann und schwenkte eine grüne Laterne, um zu verkünden, daß die Strecke laut seinem Telegraphen frei sei. Doch mehrere Male schwenkte auf dieser Fahrt ein solcher Streckenwärter eine rote Laterne, der Zug hielt, die Besatzung stieg aus und handhabte schwere Weichen herbei, und der Zug rumpelte auf ein Nebengleis, um manchmal bis zu einer halben Stunde zu warten und einen anderen, aber fahrplanmäßigen Zug vorüberzulassen. Doch gab es auch noch andere Aufenthalte, manche von langer Dauer: um Wasser aus einem Wasserturm zu -1233-
übernehmen, der kahl und allein mitten in der Steppe stand oder um im Eisenbahnknotenpunkt Vinnica Kohle zu bunkern. Jedesmal, wenn der Zug hielt, wachte Florian auf, wickelte sich aus einer Pelzdecke heraus, schüttelte den Ruß und die Schmutzflocken herunter, die sich auf ihm und der Decke gesammelt hatten, und erkundigte sich mit zunehmender Ungeduld, was denn nun schon wieder diese Verzögerung verursache. Beim siebten oder achten Stop war in der gesichtslosen Weite des Grasmeers bis zum Horizont nichts, aber auch gar nichts zu sehen, kein Wasserreservoir, kein Kohlenbunker, keine Izboushkja eines Streckenwärters, nichts. Offenbar mußte mit dem Zug selbst etwas nicht in Ordnung sein, denn die meisten Eisenbahner waren neben dem Laufrad eines der Güterwagen in die Hocke gegangen. Gerade in diesem Augenblick ging voll und rund und bernsteinfarben der Mond auf und zeichnete eine langgestreckte, goldene schimmernde glitzernde Bahn auf der Steppe, als ob das Grasmeer tatsächlich aus Wasser bestünde. Gleichzeitig erhob sich aus der Ferne ein Chor schaurig klagenden Gejaules und Geheuls. »Volka«, erklärte einer vom Zugpersonal. »Wölfe.« Die Circustiere schienen den Laut zu kennen, wiewohl sie ihn vermutlich nie zuvor gehört hatten, denn sie reagierten mit ängstlichem Gewieher, Gebrüll und Trompetenstößen. Dann erhob sich, genau das Wolfsgeheul nachahmend, ein langgezogener Klagelaut aus einem der Fahrgastabteile. Eine Tür flog auf, eine nackte Gestalt sprang hinaus und lief – brusthoch durchs Gras hastend – auf den goldenen Pfad des Mondes zu. Dieser Gestalt folgte eine zweite, der das Gras bis zu den Schultern reichte, und zwei noch kleinere Gestalten. Es dauerte einen Moment, bis Florian erkannte, daß es sich bei dem ersten Flüchtenden um Pavlo Smodlaka handelte und bei seinen Verfolgern um Gavrila, Sava und Velja. Pavlo fuhr im Laufen fort, unheimlich wölfisch zu jaulen, doch war ihm das dichte Gras recht hinderlich. Dafür ließ er eine Schneise hinter sich. So -1234-
konnte Gavrila ihn bald überholen; sie brachte ihn zum Stehen, hielt ihn fest und tröstete ihn offenbar, was den Alptraum betraf, der ihn zu dieser Flucht getrieben hatte, und brachte ihn zurück zum Zug. Sie und ihre Kinder klettertern wieder in ihr Abteil und schlugen die Tür hinter sich zu. »Was das wohl war?« sagte Florian zu sich, und dann auf russisch zu den Eisenbahnern: »Und was ist hier los, Freunde?« Als er in sein eigenes Abteil zurückkehrte, berichtete er seinen Abteilgenossen: »Jetzt hat sich aus einem der Journalabschnitte, was immer die bedeuten mögen, ein regelrechtes Treibhaus entwickelt, was immer das nun wieder sein mag. Offenbar dauert das ganze entsetzlich lange.« So kam es, daß der Zug zwar gelegentlich eine Spitzengeschwindigkeit von fünfundsechzig Kilometer pro Stunde entwickelte, jedoch im Schnitt nur gemächliche zweiundzwanzig. Doch zumindest der vorletzte Halt war allen willkommen. Es war heller Morgen, man hielt am Bahnhof eines Ortes namens Fastov, und es konnten alle aussteigen und frühstücken. Selbst in diesem kleinen Nest war die BahnhofsGostinitsa gut und bot ein ebenso kräftiges wie schmackhaftes Frühstück an. Von Fastov an war durch die Abteilfenster auch mehr zu sehen: sanft gewelltes Ackerland, recht stattliche Bauernhäuser, Einfriedungen voller Ziegen und Gänse, Dörfer mit Häusern, die gemalte oder geschnitzte Fensterläden und Dachtraufen aufwiesen. Das Geleise lief häufig parallel zu einer Straße, auf der Bauern der Stadt zustrebten: auf Maultieren, Eseln oder Pferden sitzend, in schwerfällig rumpelnden Karren und gelegentlich in leichten, von einer Troika gezogenen, vierrädrigen Wagen. Ob die Muzhiks hier wohlhabender waren, oder ob die Fahrt in die Stadt nur eine Gelegenheit war, seinen Sonntagsstaat anzuziehen jedenfalls waren alle recht fröhlich gekleidet. Die Frauen trugen leuchtende Mieder und Schürzen über langen, buntbedruckten Röcken. Die Männer hatten die -1235-
üblichen weiten Sharoväry-Hosen an, die sie in Stiefelschäfte aus Filz oder Birkenrinde stopften; doch dazu trugen sie Hemden in lebhaften Farben und spitz zulaufende Kappen. Noch ein paar Kilometer weiter warf sich das wellige Land zu beträchtlicher Höhe auf, richtige Hügel tauchten auf, und als der Zug um diese herumfuhr, erkannten die Fahrgäste eine Reihe von bewaldeten Höhen, auf denen hingelagert die Stadt Kiew lag. Aus der Ferne schien sie ausschließlich aus zwiebelturmbewehrten Kirchtürmen zu bestehen. »Nun, Kiew wird auch ›das Jerusalem Rußlands‹ genannt«, sagte Florian. »Denn hier hat ursprünglich das Christentum in Rußland Fuß gefaßt.« Gegen elf Uhr lief der Zug im Bahnhof von Kiew ein und wurde auf ein Nebengleis dirigiert, wo die Racklos entladen konnten, ohne den anderen Verkehr zu stören. Ähnlich wie das Beladen beschäftigte sie auch das Ausladen bis zum Dunkelwerden. Florian beglich im Büro des Stationsvorstehers inzwischen die Charterrechnung, damit der Zug wieder in den regulären Dienst gestellt werden konnte. Gleichwohl traf er Absprachen, ihn jederzeit wiederzubekommen, wenn er abbauen und das nächste Etappenziel – Moskau – ansteuern wollte. Zunächst einmal mußten die Wagenkolonne und die Tiere, die nicht gefahren werden mußten, die vier Kilometer bis zu dem Festplatz zurücklegen, den Willi angemietet hatte wie schon so oft auch hier wieder das Mittelfeld einer Rennbahn. Obwohl auf eine Parade verzichtet wurde, erregte die Circuskarawane beträchtliches Aufsehen. Der Rennplatz hieß Esplanáda und lag wunderschön auf einem Höhenrücken, von dem aus man einen herrlichen Blick auf den breiten, doch träge fließenden und schmutziggelb aussehenden Djnepr hatte. Dort angelangt, kam Banat, um zu fragen: »Pana Governor, erst aufbauen oder erst Plakate kleben?« »Guter Gott, keins von beiden«, sagte Florian müde. »Erst einmal zündet Feuer an, Chef der Racklos, und macht soviel -1236-
Wasser wie möglich heiß. Versuchen wir erst einmal, uns den ganzen Schmutz vom Leib zu waschen – und von den Tieren auch. Und überhaupt waschen, was es nötig hat, was mehr oder weniger wohl alles sein dürfte. Morgen ziehen wir dann zunächst nur das Chapiteau hoch und bringen die Geräte an, damit die Artisten proben können. Sie haben doch wochenlang nicht gearbeitet. Sie müssen sich erst weich und geschmeidig machen. Plakate werden erst geklebt, wenn wir Kiew eine gute Vorstellung bieten können.« »Da wir gerade vom Baden sprechen, Herr Direktor«, sagte Carl Beck, »Herr Lothar hat mir von einem fabelhaften Badehaus erzählt, das gleich zu Füßen dieses Hügels liegen soll. Da gibt es eine wunderbare Heilquelle. Der vielen Wunderheilungen wegen wurde hier die Lawra gegründet – jenes Kloster, das in ganz Rußland allerhöchstes Ansehen genießt. Dort werde ich zum Baden hingehen. Vielleicht hast du und auch andere Lust, sich mir anzuschließen?« »Vielen Dank, Bumbum, aber ich bin einfach viel zu kaputt, um auch nur eine Wunderkur gegen meine Müdigkeit zu versuchen. Ich steige hier in den Zuber. Aber nimm mit, wen du magst.« So begleitete eine ganze Reihe von Kollegen Beck den Hügel hinunter, um das Badehaus in der Nähe des Taufmonuments aufzusuchen. Erst nachdem jeder fünfzig Kopeken bezahlt hatte und sie in den Umkleideraum kamen, entdeckten sie, daß die Quelle von Männern wie Frauen gleichzeitig benutzt wurde – und daß Männer wie Frauen sich bis auf die Haut auszogen, um gemeinsam in das Becken in der Grotte hineinzusteigen. Infolgedessen kehrten alle Circusfrauen – bis auf Clover Lee und die gleichfalls nicht prüde Nella Cornelia – sofort wieder um, waren ihre fünfzig Kopeken los und gingen zum Festplatz zurück; ihnen war es denn doch lieber, allein zu baden, statt in ein geheiligtes, aber öffentliches Becken zu steigen. Ein paar der Helfer im Badehaus sprachen französisch und -1237-
machten Beck begreiflich, daß – abgesehen von dem Bad mit dem wundertätigen Wasser – das Badehaus über ein weiteres Bad verfüge, das wissenschaftlich wundertätig sei und in dem auch andere belebende Dienste geboten würden. Beck beschloß, sich alles zu gönnen, das es gab, wohingegen seine Gefährten sich damit begnügten, im allgemeinen Becken zu bleiben und sich ausgiebig darin zu aalen. Einer der Extradienste wurde von einer Alten geleistet, die ohne weiteres die Hexe Baba Yaga aus dem russischen Märchen hätte sein können. Baba Yaga schleppte einen Korb voll riesiger, knubbeliger und häßlicher Baumpilze an, die sie mit einem Mörser zu einem scheußlichen, eiterähnlichen Brei zerstampfte, von dem sie Beck auf der Stelle einen Teil mit dem Löffel einflößte. Es habe scheußlich genug geschmeckt, berichtete er später, solle jedoch eine gute Medizin gegen Leber- und Nierenleiden sein. Was übrig blieb, füllte die Alte in eine Flasche, die Beck mitnehmen durfte. Dann führte sie ihn an ein kleines Extrabecken mit siedendheißem Wasser, und als er mutig eintauchte, warf sie einen ganzen Ameisenhaufen samt Bewohnern hinterher. Beck wäre um ein Haar wieder herausgefahren, doch waren die Ameisen tot, ehe sie womöglich die Lage für ihn noch heißer machen konnten. Das Wasser im Becken färbte sich augenblicklich schwarzbraun und roch penetrant, doch machte die französischsprechende Bedienerin Beck begreiflich, daß die Ameisensäure in den Tausenden kleiner Ameisenleichen samt dem Terpentin, das sie in sich aufgenommen hatten, da sie aus einem Kiefernwald kamen, sich gegen Rheuma, Gicht, Muskelkater und Kreuzschmerzen als weit wirkungsvoller erweise denn irgendwelche Wundergläubigkeit. Becks ausgiebiger Aufenthalt im Badehaus kostete ihn alles in allem vier Rubel plus vielen Kopeken Trinkgeld, doch als er dem Bad entstieg, behauptete er, sich gesünder und belebter zu fühlen als je zuvor. -1238-
Die anderen Circusangehörigen, denen es reichte, sich wieder sauber vorzukommen und nicht mehr unter den Verspannungen nach der langen Reise zu leiden, machten einen Spaziergang in die Nähe der Lawra die eine ganze Menge Sehenswertes barg –, ehe sie den Hügel wieder hinaufstiegen. »Wißt ihr, Signori, was die dort unten haben?« sagte Nella Cornelia ganz aufgeregt zu Florian und Edge. »Viele, viele Gräber – le catacombe di Sant’Antonio, wie sie heißen – und darin liegen dreiundsiebzig Heilige. Alle alt und knochentrocken und verschrumpelt wie fusilli pasta, aber in liturgische Gewänder gehüllt, daß man meint, gleich stehen sie auf und treten vor den Altar, um die Messe zu lesen.« »Dann kann Sir John seiner Ägyptischen Prinzessin für die Dauer unseres Hierseins frei geben«, sagte Florian, »wenn es hier in Kiew ohnehin schon Mumien im Überfluß gibt.« »Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Nella fort. »Mitten in einer Höhle befindet sich der mumifizierte Kopf eines Mönchs; er ragt aus dem Boden heraus und ist mit einem von diesen großen Hüten bedeckt, wie Bischöfe sie tragen.« »Einer Mitra.« »Si, una mitra. Und alles andere ist in der Erde. Er wird Johann der Langleidende genannt. Um sich zur Größeren Ehre Gottes zu kasteien, ließ er sich bei lebendigem Leib so eingraben, daß nur der Kopf aus dem Boden herausschaut. Die anderen Mönche haben ihn gefüttert, und so hat er noch dreißig Jahre weitergelebt, bis er starb, und das war vor siebenhundert Jahren, Signori, und da steht er immer noch am selben Platz. Maraviglioso!« »Verdammt, Governor«, sagte Edge humorvoll. »Wir können genausogut wieder packen und gleich weiterziehen. Wie sollen wir jemals mit diesen prachtvollen einheimischen Attraktionen konkurrieren?« »Bah«, machte Florian. »Du hast doch Nella gehört. Die -1239-
Einheimischen haben siebenhundert Jahre Zeit gehabt, sich mit Johann dem Langleidenden zu langweilen. Da haben wir doch mal was Neues zu bieten.«
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3 Die halbe Million Einwohner Kiews bescherte dem FLORILEGIUM einen Monat lang ein ausverkauftes Haus – und das selbst dann noch, als strenger Winter die Stadt mit ausgiebigen Schneefällen, schneidenden Winden und einer Kälte lahmte, daß sie einem durch Mark und Bein ging. Freilich, der Winter war für Kiew nichts Neues – neu jedoch war ein Konföderierter Amerikanischer Circus. Die Leute stapften durch frisch gefallenen Schnee, rutschten und schlitterten über zusammengedrückten alten Schnee und spiegelglatte Eisschichten oder spannten ihre Troika nicht vor einen Wagen, sondern vor einen Schlitten, um die Esplanáda zu erreichen, saßen klaglos im kalten Chapiteau, bis die Körperwärme der vielen, dicht nebeneinander sitzenden Menschen es ihnen erlaubte, den Pelz abzulegen – und den Artisten, in ihren knappen Trikots oder Kostümen zur Parade einzuziehen. Florian kaufte Wolfsfelle – das waren die billigsten, und das Angebot war groß –, die Stitches Goesle mit Segelmacherahle und -nadel zu Decken für Elefanten, Pferde und Kamele ebenso zusammennähte wie zu riesigen Abdeckungen der Käfigwagen, die nur fortgenommen wurden, wenn die Tiere Auftritt hatten oder im Stallzelt von den Besuchern bewundert wurden. Die Böhmen wechselten sich ab, die Nacht aufzubleibenjeder hielt einmal eine solche Nachtwache –, um jederzeit bereit zu sein, bei Schneefall im Chapiteau und dem Anbau Heuballen glimmen zu lassen; dazu kam es Ende Oktober zweimal in fünf Nächten und auch noch in den November hinein. Bis auf diesen einen Wächter schliefen alle anderen, die Racklos eingeschlossen, im Frantziya-Hotel in der Stadt. Die einzige Konkurrenz für das FLORILEGIUM in Kiew war der hier beheimatete russische Circus, der ganzjährig im Gippodvorets oder Hippodrom auftrat. Er war eigentlich keine richtige Konkurrenz, denn es handelte sich um eine Vorführung -1241-
ausschließlich von Pferdenummern, welche die Kiewer natürlich längst kannten. Trotzdem gingen Florian, Edge, Clover Lee, Monday und die Jäszi-Brüder einmal hin, um sich eine Vorstellung anzusehen und sich gegebenenfalls Anregungen für die eigenen Nummern zu holen. Doch das war vergebliche Liebesmüh. Die russischen Reiterinnen waren bei weitem nicht so begabt wie Monday und Clover Lee, und die Djigit- oder Voltigereiter waren lahm verglichen mit den draufgängerischen Jäszi-Brüdern. Den Höhepunkt der Vorführung bildete ein nicht sonderlich aufregendes Wagenrennen rund um die Manege; sehr römisch aussehende Wagenlenker in Stahl- und Lederrüstung und mit federgeschmücktem Helm auf dem Kopf lenkten sehr römisch aussehende offene Kampfwagen, doch alles in allem wirkte das ganze ziemlich lächerlich, denn jeder der offenen Wagen wurde von einem außerordentlich russisch aussehenden Troika-Gespann samt hochragendem Dugä-Bügel über dem Mittelpferd gezogen. Carl Beck nahm dieweil täglich sein Ameisenbad im LawraBadehaus und versuchte, auch andere dazu zu überreden, doch Dai Goesle, Jörg Pfeifer und Ferdi Spenz genügte ein einmaliges Experiment. Alle anderen Kollegen sahen sich inzwischen die Sehenswürdigkeiten der Stadt an. Sie standen auf der einzigen Brücke über den Dnjepr, die für Fußgänger und Wagenverkehr gleichermaßen eingerichtet war, um sich den zugefrorenen Fluß anzusehen, und bestiegen den höchsten Hügel der Stadt, wo der Apostel Andreas das erste christliche Kreuz in Rußland aufgerichtet und den heidnischen Rus das Evangelium gepredigt haben soll. Sie besuchten das Ópernyi Teátre, um sich eine Aufführung von Glinkas ›Ein Leben für den Zaren‹ anzuhören und fanden das ganze nicht nur unverständlich, sondern wegen fünf nicht enden wollender Akte auch ermüdend. Bühnenbild und Ausstattung mit Kostümen aus dem siebzehnten Jahrhundert waren glänzend gelungen, und die Musik ging zu Herzen, -1242-
solange die Sänger mit ihrer Stentorstimme die Orchesterbegleitung nicht völlig erdrückten. Von zwei Phänomenen jedoch waren die Circusleute besonders beeindruckt, die mit der Oper speziell nichts zu tun hatten. Als sie das Opernhaus betraten und am Schluß wieder verließen sowie bei ihrem Hinausgehen und Wiederhineinkommen während der Pausen zwischen den einzelnen Akten – in denen sie im reichgeschmückten Foyer eine Zigarette rauchten –, öffneten die Türsteher immer nur eine der vielen Türen des Theaters; so mußte sich das gesamte Publikum durch diese eine Tür hinausdrängen, was unter viel rüdem Geschubse und rücksichtsloser Rempelei vonstatten ging. »Das ist hier in allen öffentlichen Gebäuden so«, sagte Willi. »Ich weiß nicht, ob die Russen für Unbequemlichkeiten besonders begabt sind oder ob sie besonders viel dafür übrig haben – oder ob das ganze absichtlich gemacht wird, um ihnen das Rückgrat zu stärken; aber selbst wenn ein Theater, eine Konzerthalle oder ein Lokal zwanzig Türen hat – für die Besucher wird immer nur eine geöffnet.« Das zweite Bemerkenswerte war der Platz vor der Oper. Bei ihrer Ankunft bis auf die Opernbesucher, ihre Schlitten und Wagen sowie die Mietdroschken und Karetas ziemlich leer, bot er ein völlig anderes Bild wenn das Publikum während der ersten Pause ins Freie strömte. Schlitten und Wagen der Wohlhabenden standen zwar immer noch genauso da wie die vor Kälte zitternden, geduldig wartenden Droschkenkutscher mit den halberfrorenen Nasen. Doch stand auf dem Platz eine Unzahl kleiner tragbarer Holzkioske, welche die Türsteher und Platzanweiser der Oper herausgetragen hatten und die offensichtlich für die Kutscher der reichen Kaufleute, Adligen und anderer hochstehender Persönlichkeiten reserviert waren. Im Inneren dieser Kioske hatten diese die Brenner unter einem Samowar in Gang gesetzt und reichten ihren Herrschaften in jeder Pause heißen Tee, wenn diese in Nerz-, Zobel- oder -1243-
Marderfell eingehüllt herauskamen. Nerz, Zobel und Marder waren so recht nach dem Geschmack der Circusfrauen, besonders, nachdem Clover Lee eines Abends nach einem Diner mit einem Herrn aus dem Publikum ins Hotel zurückkam – und dabei einen hinreißenden Zobelmantel anhatte. Der Herr, der schon zu alt war, als daß er zu mehr als einem Kavalier für eine Nacht getaugt hätte, hatte sich als wohlhabender Zuckerrübenmagnat entpuppt. Clover Lee berichtete freudig, daß er in keiner Weise zudringlich geworden sei, jedoch darauf bestanden hätte, sie für das Vergnügen, sie zum Diner ausführen zu dürfen, mit diesem Mantel zu belohnen. »Er sagte, ich brauchte – oder verdiente – unbedingt einen besseren Wintermantel als das alte Lodending, das ich in Innsbruck oder was weiß ich wo sonst gekauft habe«, sagte Clover Lee und warf den alten Mantel über die Rückenlehne eines Sessels in der Hotelhalle, während den anderen Frauen schier die Augen übergingen. »Da ist er mit mir in die Straße mit den hypereleganten Läden gefahren – ihr wißt schon, den Epiphanie-Boulevard, wo ihr alle schon gestanden und die Nase am Schaufenster plattgedrückt habt. Dort hat er mich in das Geschäft der Kürschnerei FRERES COUVREUX geführt. Gyorgy, so heißt er, Gyorgy hat kein einziges Mal nach dem Preis gefragt, und ich durfte das auch nicht. Bei diesen Gebrüdern Couvreux gibt es schöne Frauen jeder Größe und Figur; von denen haben sie eine ausgesucht, die ungefähr meine Figur hatte und die dann auf einer kleinen Bühne auftrat und uns einen Mantel nach dem anderen vorführte, die Schöße herumwirbeln ließ und posierte, während einer der Messieurs Couvreux uns Champagner einschenkte – und ach, ich hatte ja solche Schwierigkeiten, mich zwischen diesem hier und einem anderen Nerzmantel zu entscheiden, der genauso schön war. Aber ich denke, ich habe mich doch für den hübscheren entschieden. Findet ihr ihn nicht auch wunderschön?« Zähneknirschend bequemten sich die anderen Frauen -1244-
zuzugeben, daß es sich wirklich um ein besonders schönes Stück handele. Von Stund an nahm jede ungebundene Frau der Truppe jede Einladung an, die sie von irgendeinem vornehmen Kiewer bekam. Er mußte nur einigermaßen wohlhabend aussehen und eindeutig weder böse noch irre sein. Am wichtigsten war es jedoch, daß man sich verständigen konnte, damit sie ihn - beim Diner oder im Theater oder wohin auch immer sie zusammen gingen – darauf hinweisen konnte, was für ein großartiges Geschenk eine Künstlerkollegin unter ähnlichen Umständen erhalten habe. Freilich, nur einer der Frauen gelang es, Clover Lees coup d’etat zu wiederholen, und zwar war es die Zwergin Katalin Szäbo, – möglicherweise nur deshalb, weil ihr vornehmer Herr – wieder ein wohlhabender Kaufmann – kein allzu großes Vermögen hinblättern mußte, um einen Nerzmantel für ihre Größe zu erstehen. Ab und zu lud auch ein Adeliger oder reicher Pomieshchik die gesamte Truppe in sein Stadt-Palais oder sein Landhaus ein. Diese Häuser waren allesamt prachtvollst auf eine Weise möbliert, welche die Besitzer vermutlich für den letzten Schrei westeuropäischen Luxus hielten. Dabei herrschte ein derartiges Durcheinander von Nippes, waren die Wände dermaßen gepflastert mit gräßlichen Photographien und mittelmäßigen Gemälden und das Mobiliar – selbst wenn es brandneu war – so bombastisch und überladen, daß – wie Daphne meinte – sogar Queen Victoria an soviel Plüsch erstickt wäre. Das beste Indiz dafür, was die russischen Oberklasse vermutlich für den dernier cri hielt, war die Tatsache, daß in der Eingangshalle eines jeden herrschaftlichen Hauses, das die Circusleute besuchten, ein ausgestopfter Eisbär mit einem Silbertablett in den Vorderpfoten stand, auf dem man seine Visitenkarte abzulegen hatte. Doch mochten die Gastgeber und Gastgeberinnen in Dingen des Geschmacks noch so fragwürdig oder hinter der Mode zurück sein – an ihrer Gastfreundschaft war nichts, aber auch gar nichts auszusetzen. Die Besucher wurden königlich bewirtet -1245-
und unterhalten – von Volkstanzgruppen, umherziehenden Balalaika-Spielern oder der Dame des Hauses persönlich an Harfe, Zimbel oder Spinett – und für jeden Gast stand mindestens ein, für gewöhnlich jedoch mehrere Diener bereit. Da jeder russische Adlige und die meisten der reichen Kaufleute französisch sprachen, konnten die meisten vom FLORILEGIUM sich gut mit ihnen unterhalten. Klappte es dennoch nicht, spielte Florian den Dolmetscher, kommentierte oder erklärte nach Bedarf. Ein Mitglied des FLORILEGIUM, das derlei Einladungen nicht – und überhaupt den Festplatz um nichts auf der Welt verließ –, war ihr neuester Kollege, Kostchei der Todlose. Nach einem Monat Genesung wurde er in der Sideshow zur Schau gestellt und war, wie Fitzfarris vorausgesehen hatte, für diese erniedrigende Beschäftigung sogar noch dankbar, brachte sie ihm doch Unterkunft, Essen und Anonymität ein. Sein kreuzweise aufgeschlitzter Rücken war verheilt und hatte Ähnlichkeit mit dem Panzer einer Schildkröte, nur, daß er konkav statt konvex war. Die zerfetzte Haut und die Muskeln hatten sich im Laufe des Heilungsprozesses so zusammengezogen, daß sich Kostcheis Oberkörper samt Hals und Kopf nach hinten durchbog. Er sah aus wie jemand, der ständig versuchte, zum höchsten Wipfel eines hohen Baums hochzusehen. Auf dem Podest im Anbau war er vollständig bekleidet – seinen Rücken wollte Fitzfarris niemand zeigen, war es doch zu offensichtlich, daß er ausgepeitscht worden war. Stand Kostchei mit gespreizten Beinen auf dem Podest, sahen die Neugierigen nichts als die bartlose Unterseite seines hochgereckten Kinns, und Fitz erging sich großsprecherisch darüber, daß dieser Mann sich in der Annahme, sie seien zahm, in den Käfig der beiden wilden syrischen Bären gewagt und diese Torheit damit bezahlt hätte, daß er von ihren Klauen und Reißzähnen bestialisch zerfleischt worden war, dann jedoch wie durch ein Wunder doch mit dem Leben davongekommen sei, -1246-
gleichwohl aber lebenslange Entstellungen davongetragen habe. So stand Kostchei immer noch da, während Florian die Geschichte ins Russische übersetzte. Während Hannibal seiner Trommel einen tiefen und spannungsfördernden Wirbel entlockte, beugte Kostchei sich sehr langsam aus der Hüfte hervor, um den Gaffern sein grausig zugerichtetes Gesicht zu präsentieren – und die Zuschauer versäumten nie, entsetzt Luft zu holen und von Entsetzen gepackt vor seinem nasenlosen Gesicht mit den tief eingegrabenen, grauglänzenden Narbenrosetten zurückzuweichen, die den Rest des Gesichts verwüsteten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, dauerte es geraume Zeit, bis auch die Circusangehörigen seinen Anblick gelassen ertragen konnten. Für einen Verbrecher und jemand, der durchgemacht hatte, was er hatte erdulden müssen, war er ziemlich guter Dinge, intelligent und offenbar recht gebildet; denn er sprach neben Russisch auch noch Französisch und lernte mit der Zeit auch ganz passabel Englisch. Seines verdrehten Halses wegen klang seine Stimme allerdings immer wie ein ersticktes Flüstern. Er gab nie etwas von seiner Vergangenheit preis, verriet nicht einmal seinen richtigen Namen, sondern schien es zufrieden, in der Öffentlichkeit Kostchei der Todlose und privat Shadid Sarkioglu zu sein. Meistens sahen seine Kollegen nur die Unterpartie seines Kinns. Doch wenn er mit ihnen aß, mußte er sich vorbeugen, und dabei konnte einem schon der Appetit vergehen. Doch schließlich gewöhnten die anderen sich genauso an ihn wie an Tücsöks winzige Gestalt, Melis Schlangen oder Fitzfarris’ zur Hälfte blau gefärbtes Gesicht. (Das man jetzt freilich nur noch frühmorgens sehen konnte, ehe Fitz seine hautfarbene Schminke auftrug und völlig normal wirkte.) Daß Kostchei von den anderen schließlich als einer der ihren akzeptiert wurde – und was ihm besonders die Herzen der Frauen gewann –, war ein freundliches Angebot, als Sunday ihm -1247-
auf französisch anvertraute, wie sehr die Frauen sich wünschten, ihre Männer könnten es sich erlauben, ihnen einen Pelz zu kaufen. Shadid brach in ein schallendes Gelächter aus, soweit das bei seinem zugeschnürten Hals möglich war; denn man hörte nur ein dünnes, pfeifendes Lachen. »Mademoiselle Sunday«, sagte er mit heiserer Flüsterstimme, »es stimmt zwar, daß der Staat die Preise für Rauchwaren reguliert und hohe Preise festsetzt. Der Staat regelt so viele Dinge, doch es gibt immer welche, die diese Regeln so oder so umgehen. Neben den staatlichen Verkaufsstellen gibt es das, was wir den Koöperativnyi-Markt nennen. Die Damen sehnen sich nach einem Pelzmantel? Ich werde sie euch besorgen, und zwar zum Großhandelspreis. Doch erst holen Sie die Erlaubnis von Monsieur le Gouverneur ein.« »Weh mir!« rief Florian klagend, als Sunday spornstreichs zu ihm lief und ihm den Vorschlag unterbreitete. »Ich hätte es wissen müssen. Da stellen wir einen Neuling ein, der ein ExKrimineller ist, und bald geraten wir in Versuchung, selbst kriminell zu werden. Aber ... nun ja ... wenn Shadid garantiert, daß wir nicht am Marterpfahl enden wie er ...« Shadid nannte Fitzfarris eine Adresse und gab ihm eine russisch geschriebene Nachricht mit, die Fitz abgab. Die Adresse erwies sich als die eines Pfandhauses, in dem verdächtig wenig zum Verkauf ausgestellt war. Der betagte Besitzer las die Notiz, nickte, sagte nichts, sondern hielt drei Finger in die Höhe und bugsierte Fitz wieder zur Tür hinaus. Drei Tage später kam nach Einbruch der Dunkelheit ein Planwagen auf den Festplatz gerumpelt, und vom Kutschbock kletterte derselbe alte Mann herab. Er ließ die Hinterklappe seines Wagens herunter und forderte mit beredter Geste alle auf, hinaufzuklettern und die Kleiderständer durchzusehen, die im Wageninneren zu beiden Seiten aufgestellt waren und von denen vielleicht drei Dutzend Mäntel aller Größen und jeder Pelzart herunterhingen. -1248-
Die Pelze waren genauso kostbar und die Mäntel ebenso hervorragend gearbeitet, wie man es im Laden eines anerkannten Kürschners erwartete. Nur die Zahlen, die auf den Preisschildchen standen, machten den vierten oder fünften Teil von dem aus, was sie dort gekostet hätten. Keiner konnte diesem Luxus und diesen Preisen widerstehen. Yount kaufte für Agnete einen Nerz und Pemjean für Monday einen Zobel, LeVie für Nella einen Steinmardermantel, Fitz für Meli einen Nerz und Florian wiederum für Daphne einen Zobel. Damit die ungebundenen Frauen nicht schlechter davonkamen, legten Florian und Edge zusammen und erstanden für Sunday und Ioan zwei elegante Baummardermäntel. Und als Pavlo Smodlaka es rundheraus ablehnte »Geld für Tand und Putz zum Fenster hinauszuwerfen«, sahen Dai und Carl Beck ihn nur verächtlich an und kauften gemeinsam für Gavrila und die kleine Sava je einen Eichhörnchenmantel. Jules und Willi suchten sich zueinander passende, schimmernde, fast von innen heraus leuchtende Rotfuchsmäntel aus. Als die anderen kichernd blöde Bemerkungen machen wollten, sagte Willi hochmütig: »Männer in Pelzmänteln haben durchaus nichts Weibisches. Ihr habt doch viele pelzgekleidete Männer unter unseren Zuschauern gesehen. Und wenn wir weiter nach Norden kommen, wird jeder von euch wünschen, er hätte auch einen.« Das klang einleuchtend, und so kauften sich alle Männer – mit Ausnahme von Pavlo – einen Mantel, allerdings weniger auffällige, aus grauschwarz gestreiftem Dachspelz. Da es Kostchei der Todlose war, der diese Gelegenheitskäufe in die Wege geleitet hatte, dieser aber immer noch auf Rückhaltebasis arbeitete und kaum über Geld verfügte, streckte Florian ihm die Summe vor, die er brauchte, sich gleichfalls einen Dachsmantel zu kaufen. Nachdem sie in Kiew einen vollen Monat hindurch ständig ausverkauft gewesen waren, begann der Zuschauerstrom kaum merklich nachzulassen, so daß Florian sich sofort um den -1249-
Charterzug bemühte. Willi Lothar ließ seine Kalesche bei den anderen Wagen des FLORILEGIUM zurück und nahm zusammen mit Rouleau – beide in ihren Rotfuchsmantel gekleidet – den regulären Zug nach Moskau, um einen Festplatz anzumieten. »Ist das nicht ein bißchen voreilig, Governor?« fragte Edge. »Kiew tut ja nichts, um uns zu vertreiben. Und unsere Einnahmen können sich immer noch sehen lassen. Sollten wir aus dieser Stadt nicht herausholen, was herauszuholen ist?« »Hätten wir Sommer, würde ich genau das tun«, sagte Florian. »Aber es gibt Erwägungen, die mehr Gewicht haben als das Geld, das in der Kasse klingelt. Wir brauchen ein vollbesetztes Haus schon allein, um die Temperatur im Chapiteau erträglich zu machen – für unsere Artisten genausosehr wie für das Publikum.« »Und dir ist jeder Vorwand recht, um nach Sankt Petersburg zu kommen, richtig?« »Nun, ich muß immer wieder dran denken, daß der Zar dieses prächtige Kriegsschiff in Livorno in Brand setzen und anschließend sprengen ließ, nur damit ein Maler sich ein Bild davon machen konnte, wie so etwas aussieht. Wer weiß, wie freigebig er sich uns gegenüber erweisen könnte?« So kam es, daß nach insgesamt acht Wochen in Kiew der Charterzug wieder in den Bahnhof einlief. Wieder wurde der Circus mühevoll aufgeladen und zog die riesige SormowoLokomotive ihn weiter nach Nordwesten. Wieder fuhr man abends ab, und diesmal hatte der Zug auf der Reise keine Panne. Trotzdem wurde von Streckenwärtern unterwegs ab und zu die rote Laterne geschwenkt, mußte man Wasser übernehmen oder Kohle bunkern, oder man hielt an kleinen Bahnhöfen, um in einer Gostinitsa eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Florian errechnete daher eine Durchschnittsgeschwindigkeit von fünfundzwanzig Kilometern pro Stunde. Außerdem war die Strecke, die sie für diese Etappe zurücklegen mußten, -1250-
wesentlich länger und folglich dauerte die Reise zwei Nächte und einen Tag. Inzwischen war es so kalt geworden, daß die vom Kessel betriebene Dampfheizung sich in den Abteilen kaum noch bemerkbar machte, und so verbrachten sie die ganze Strecke, ob in wachem oder im schlafenden Zustand, in ihren kürzlich erworbenen Pelzmänteln, in Handschuhen, Mützen und Muffs sowie sämtlichen zusammengestückelten Pelzdecken, die der Provodnik für sie auftreiben konnte. Wieder gab es in der Dunkelheit außerhalb der lampenerhellten Abteile wenig zu sehen. Doch als es am nächsten Tag hell wurde, hatten sie endlich die eintönige Steppe hinter sich, über die sie hinweggezogen, nachdem sie den Balaton in Ungarn hinter sich gelassen hatten. Jetzt hob und senkte sich die Landschaft, bekam man häufiger Gehöfte, Dörfer, Bäume, ja sogar Wälder zu sehen. Der Zug fuhr über so manchen zugefrorenen Fluß hinweg, von denen allerdings keiner so breit war wie der Dnjepr. Die von einer dicken Schneedecke eingehüllten Dörfer sahen nicht mehr so heruntergekommen aus. Doch die einzigen Städte, durch die sie bei Tageslicht hindurchkamen – Bryansk und Kaluga –, waren nichts weiter als trostlose, rostfarbene und rußigen Rauch ausstoßende Ansammlungen von Fabriken. Am frühen Morgen des nächsten Tages näherte sich der Zug durch schneebedeckte Felder, die im Sommer die Gemüsegärten der Stadt waren, Moskau. Als der Zug über den Kamm der Sperlingsberge hinwegdampfte, tat sich den Reisenden ein Blick über das Tal der Moskwa auf und sie sahen die gesamte Stadt samt Zitadelle – dem Kreml – vor sich: auf sieben Hügeln erbaut wie Rom und Lynchburg. Der Zug rollte durch schäbige Vorstädte bis zum Bryansker Bahnhof und wurde dort auf ein bereits von Willi und Jules für sie reserviertes Abstellgleis rangiert. Die beiden hatten auch bereits allen Papierkram erledigt, die Rechnung bezahlt und mit dem Bahnhofsvorsteher das weitere Vorgehen besprochen. -1251-
»Nur – der beste Festplatz, den ich bekommen konnte«, sagte Willi, »liegt weit von hier entfernt im Petrow-Park. Von hier führt das ein gutes Viertel um die Stadt herum und von dort aus in nordöstlicher Richtung über den Twerskoy-Boulevard.« »Nun, da wir so früh am Tag hier eingetroffen sind«, sagte Florian fröhlich, »müßten die Racklos das Ausladen wohl bis kurz nach Mittag geschafft haben. Dann machen wir Parade, und zwar anders herum, drei Viertel um die Stadt herum. Wir werden den Moskowitern mit unserer Pracht den Mund wäßrig machen.« Lothar und Rouleau machten ein zweifelndes Gesicht, sagten jedoch nichts. So kam es, daß das FLORILEGIUM – den Wagen mit der Kapelle vorneweg und am Schluß die Dampforgel – großartig Einzug in die Stadt hielt. Fast alle Artisten fuhren in ihren Pelz eingehüllt und schlugen diesen nur ab und zu auf, um ihre paillettenglitzernden Kostüme zu zeigen – und zwar wirklich nur ab und zu und auch das nur kurz, denn in Moskau war es kälter als Kiew. Die Tiere in ihrem Käfigwagen blieben unter der Pelzabdeckung unsichtbar, doch die Pferde, das Kamel und die beiden Elefanten in ihren Wolfsfelldecken – Elefanten und Kamel auch noch in gewaltigen Stiefeln – sahen womöglich noch exotischer aus, als wenn sie ohne wärmende Decke in die Stadt eingezogen wären. Nur die Kim-Brüder, die jeder Unbequemlichkeit und jedem widrigen Wetter gegenüber unempfindlich waren, hatten nichts weiter an als ihr Manegentrikot, schlugen Rad und machten Flic-Flac und andere Übungen der Parterreakrobatik barfuß und mit bloßen Händen, und das auf dem festgefrorenen Schnee auf der Straße. Die Parade ging vom Bahnhof über einen breiten Boulevard, der in weitem Bogen fast um die ganze Innenstadt herumführte. Nach den Straßenschildern zu urteilen, war dies der SmolenskyBoulevard, doch änderte sich dieser Name, wie sie feststellten, ungefähr alle Kilometer. Bald erkannten die Circusleute, warum Willi und Jules sich nicht gerade begeistert von der Parade -1252-
gezeigt hatte. Der Boulevard – von den anderen Straßen ganz zu schweigen – war grauenhaft schlecht gepflastert. Hätte nicht die Schneedecke auf den Pflastersteinen vieles abgefedert, die Fahrer auf den Wagen wären wohl genauso durchgeschüttelt worden wie auf der mit Baumscheiben befestigten ersten Straße, die sie in Rußland kennengelernt hatten. Die Fahrbahn war überdies vom Verkehr verstopft; Kutschen und Droschken, Wagen, Karren, Troikas und Menschen, Mensehen, Menschen, die allesamt – gleichgültig, ob zu Fuß oder zu Pferd rücksichtslos, unhöflich und fluchend versuchten weiterzukommen. Nur dem Umstand, daß viele Pferde vor dem Lärm, den die Parade verursachte, scheuten – und andere Kutscher und Fußgänger stehenblieben, um staunend der Parade zuzusehen –, hatte es der Circus zu verdanken, daß er überhaupt vorankam. Doch Florian – an der Spitze des Zuges wie immer – ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen, und so legte die Parade entgegen dem Uhrzeigersinn die gesamten elf Kilometer des langen, unterschiedlich benamsten Boulevard ebenso zurück wie dann noch einmal die drei Kilometer der PetersburgskoeChaussee bis zum Petrow-Park. Noch während sie über den großen Boulevard zogen, konnten die Circusleute erkennen, daß Moskau in konzentrischen Kreisen angelegt war – oder angelegt worden wäre, hätte es nicht den Mäander in der Moskwa gegeben, die dafür verantwortlich war, daß man den Stadtplan mit einer riesigen Torte vergleichen konnte, aus der an einer Stelle ein ganzer Brocken herausgebissen worden war. Die gesamte Kuppe des höchsten der Moskauer Hügel nahm der Kreml ein, eine Stadt für sich mit Palästen, Kirchen, einem Männer- und einem Frauenkloster, dem Justizgebäude, einem Arsenal und Soldatenunterkünften und noch anderen Bauten, die fast alle von Kuppeln, Spitz- oder Zwiebeltürmen überragt wurden – das ganze umfaßt von einer zwanzig Meter hohen, ein Dreieck bildenden roten, mit Schießscharten versehenen -1253-
Backsteinmauer, wobei ein Abschnitt dieser Mauer dem leicht gewölbten Flußlauf der Moskwa folgte. Der Kreml bildete das Herzstück der konzentrischen, aus niedrigeren Bauten bestehenden Teilkreise der Stadt und überragte alles andere. »Wie man hier sagt«, erzählte Willi den anderen später, »gibt es nichts über Moskau als den Kreml und nichts über dem Kreml als den Himmel.« Der um den Kreml herum gelagerte Teilkreis wurde von den Moskowitern einfach als Görod bezeichnet, ›die Stadt‹. Dieser von einer weiß gekalkten Mauer umschlossene Kreisabschnitt war gleichsam die Geschäftsstadt und bestand aus Bürohäusern, den Universitätsbauten, Banken und dergleichen. Der nächstfolgende Kreis war die ›Weiße Stadt‹ voller Adelspaläste, Stadtresidenzen, herrschaftlicher Häuser, Museen, Theater, großartiger Kirchen und dem Kaiserlichen Waisenhospital. Die Parade zog um diese ehrwürdige Stadt herum. Wandten sie den Blick vom Boulevard dorthin, konnten sie deutlich den Kreml und die strahlenförmig von ihm ausgehenden Straßen sehen. Blickten sie in die entgegengesetzte Richtung, sahen sie den nächsten äußeren konzentrischen Teilkreis, die ›Erdstadt‹, so genannt wegen des mittlerweile verfallenen, palisadenbesetzten Erdwalls, der einst der äußerste Befestigungsring von Moskau gewesen war. Erdstadt bestand aus weniger großartigen Wohnhäusern, Hotels, Gasthöfen und Marktplätzen. Und der äußerste Ring um die Erdstadt und über die Neva hinweg bedeckte gut drei Viertel des gesamten Stadtgebietes und hieß Okrestnosti, ›Vorstädte‹. Dieser Name war eine typisch russische schönfärberische Bezeichnung für einen breiten, aus Fabriken und Mühlen, Gießereien, Schmieden und elenden Arbeitersiedlungen bestehenden Industriegürtel, unansehnlich, verdreckt und verwahrlost wie all die anderen Industriestädte, durch die der Eisenbahnzug mit dem Circus hindurchgekommen war. Diese Vorstädte warfen ihre Dunstglocke aus Rauch, Ruß und Gestank über die gesamte Innenstadt, den Kreml -1254-
inbegriffen. »Früher war Moskau die Hauptstadt Rußlands«, sagte Willi, als er den Kollegen später erklärte, was an Sehenswürdigkeiten sie bei der Parade bereits gesehen hatten, »und der Kreml birgt immer noch die heilige Stätte, in der der Zar gekrönt werden muß. Doch nachdem Peter der Große Sankt Petersburg gebaut und den Hof nach dorthin verlegt hatte, ging es mit Moskau nicht weiter voran. Es hat heute kaum mehr Einwohner als Kiew. In letzter Zeit allerdings hat Moskau den Ehrgeiz entwickelt, das Industrie- und Verkehrszentrum von Rußland zu werden. Daher die Häßlichkeit, die schaurig überfüllten Straßen, das Getöse, der Schmutz und der Gestank.« Letztlich waren die Circusleute recht froh, einen noch außerhalb der ›Vorstädte‹ gelegenen Festplatz bekommen zu haben – inmitten der Bäume und der reinen Luft des PetrowParks. Eine kurze Schlitten- oder Wagenfahrt vom Park entfernt lag wieder eine der zahlreichen Moskauer Eisenbahnstationen, der Sawjolower Bahnhof, um den herum es selbstverständlich ein Hotel für Übergangsreisende gab, wo Platz genug für die gesamte Truppe war. Nach der Amerikanskiy-Parade – der Einzug eines Circus, wie Moskau ihn noch nie erlebt hatte – bescherten die nächsten vierzehn Tage dem FLORILEGIUM Tag für Tag ein ausverkauftes Haus. Die Woche darauf war das Chapiteau immer noch gut besetzt, doch danach zeigten sich immer wieder leere Plätze auf dem Gradin, deren Zahl nunmehr ständig größer wurde. In der Erdstadt von Moskau gab es zwei feste und ständige Circusse – einen rein russischen, das NIKOTIN, und einen anderen, der praktisch ein Familiencircus war und dessen Artisten und Leitung fast ausschließlich von italienischen Einwanderern namens Truzzi gestellt wurden und der auch diesen Namen trug. Beide Circusse traten in bequemen und auch einigermaßen geheizten festen Häusern auf. Obwohl ihr Programm, das nur selten wechselte, jedermann in Moskau bis -1255-
zum Überdruß vertraut sein mußte, war es verständlich, daß die Zuschauer lieber dorthin gingen als zu einem mindestens drei Kilometer entfernten, in dem sie auch noch das Chapiteau mit der eigenen Körperwärme heizen mußten. Nach den Menschenmengen zu urteilen, die sich auf den Straßen der Stadt drängten, mußten die Moskowiter außerdem noch eine Vorliebe dafür haben, möglichst dicht gedrängt beisammen zu sein, und das möglichst nahe dem Stadtzentrum – und eine entsprechende Abneigung gegen weite offene Räume. Die Artisten gaben sich alle erdenkliche Mühe, ihre Nummern mit Anmut und Perfektion vorzuführen und möglichst auch noch neue Tricks einzuarbeiten, weil sie hofften, die Gaffer würden ihre Leistung in ganz Moskau rühmen. Rouleau überredete den zuerst widerstrebenden Carl Beck zu einem Ballonaufstieg – und wäre fast erfroren, als die Saratogaza Höhen hinaufschwebte, in denen die Kälte weit mörderischer war als unten auf der Erde. Emeraldina und Kesperle gestalteten jetzt, wo der alte Hahnrei Notkin nicht mehr alles Gelächter auf sich zog, ihre Spaße noch schlüpfriger als zuvor. Nella lernte ihren Text auswendig und sagte ihn auf russisch her. Ferdi Spenz, der in dieser Beziehung freilich nicht mithalten konnte, spielte seine Rolle pantomimisch. Er brachte seinen aufblasbaren ›Kaktus‹ unsichtbar in seiner viel zu weiten Hose unter und pumpte ihn, während er Emeraldina lüstern umgirrte, immer dicker auf, so daß ein veritabler Hosenbeutel zwischen seinen Beinen sichtbar wurde. Woraufhin Emeraldina in gespielter Verzweiflung rief: »Bozhe moi! Wie soll eine Frau ihr geheimstes Verlies versperrt halten, wenn jeder Mann einen solchen Schlüssel dafür besitzt?« Das Publikum brach in brüllendes Gelächter aus, und doch kamen immer weniger Zuschauer. Deshalb suchte Florian einmal mehr den Bahnhofsvorsteher auf, bat um die Bereitstellung des Charterzuges, während Rouleau und Lothar wieder einmal mit einem regulären Zug vorausfuhren, diesmal nach Sankt Petersburg. Der Rest der -1256-
Truppe fand dieweil die Zeit – und den Mut –, sich mehrere Male in die lärmige, geschäftige und übelriechende Innenstadt hineinzuwagen und sich alles Sehenswerte anzuschauen. Im Kreml-Bereich besichtigten sie mehrere Museen, die Prunkgemächer des Zaren im Großen Kreml-Palast, Rüstkammer und Arsenal sowie die Auferstehungs-Kathedrale, wo noch jeder Zar gekrönt worden war seit jenem ersten, der sich diesen Titel zulegte: Iwan IV., genannt der Schreckliche. Als die Besucher diese Besichtigungstour abschlossen, waren sie wie benommen vor allem von der Anzahl und der prunkvollen Ausstattung der Gebäude. Da gab es goldene, silberne und edelsteinbesetzte Medaillons, Diademe und Halsbänder und kostbares Geschirr, antike Kronen und Kronjuwelen, Banner, die an längst vergangene Schlachten erinnerten, antike Waffen und Rüstungen, prachtvolle alte Kutschen und Schlitten, alle mit Blattgold überzogen und die Sitze mit Pelzen gepolstert. Gleichwohl fanden die Neuankömmlinge das, was sie am meisten beeindruckte, außerhalb der Kreml-Mauern. Dazu gehörte unter anderem der genau gegenüber auf dem anderen Moskwa-Ufer gelegene Park mit dem kuriosen Namen Neskuchniy Sad, ›Nicht langweilender Garten‹. Bei diesem handelte es sich um den gepflegtesten und selbst im Winter mit seinen reich mit Skulpturen ausgestatteten formalen Anlagen, seinen Gehölzen mit so manchem Liebesgrund darin, einem kleinen, jetzt zugefrorenen Teich, auf dem es von Schlittschuhläufern nur so wimmelte, und zierlichen Pavillons, auf deren Stufen alte Frauen heißen Tee und Zakuska feilboten, bei weitem schönsten Park weit und breit. Ihre andere Lieblingssehenswürdigkeit lag am Südende des wirklich riesigen Krasny-Platzes jenseits der Kreml-Mauer: die Basilius-Kathedrale, ein weiteres Bauwerk, das auf Iwan den Schrecklichen zurückging. Im Inneren gab es nichts von besonderem Interesse zu sehen, doch das Äußere wirkte, als stamme es geradenwegs aus einem Märchen mit tausend -1257-
verwunschenen Schlössern. Das ganze Bauwerk war ein Ensemble von einem Dutzend hoher Türme und Kuppeln, von denen sich keine zwei auch nur im entferntesten ähnelten – manche waren zwiebel-, andere ananasförmig, einige schuppig gezähnt, manche facettiert, noch andere über und über wie mit Pickeln besetzt und andere geschuppt wie ein Fisch, alle miteinander jedoch entweder mit Blattgold überzogen oder gestreift oder spiralförmig in mindestens zwei Farben angestrichen, von denen wiederum keine zwei Farbtöne sich glichen. Auch Portale und Fenster waren von einer verwirrenden Vielfalt: manche rund, andere quadratisch, noch andere rechteckig, manche betont in die Länge gezogen – zwei nebeneinander angebrachte Fenster waren so gefaßt und angemalt, daß sie die Augen einer Eule darstellten. Die Betrachter gaben eine Fülle von Kommentaren von sich, mit denen sie ihrer Bewunderung, ihrer Überheblichkeit oder ihrer Erheiterung Ausdruck verliehen. Am zutreffendsten war vielleicht der von Yount: »So schrecklich kann dieser Iwan nicht gewesen sein, wenn er dies hier gebaut hat.« Fünf Wochen, nachdem sie in Moskau eingezogen waren, reiste das FLORILEGIUM schon wieder ab, diesmal an einem frostigen Vormittag vom nahegelegenen Sawjolower Bahnhof. Kaum hatte der Zug sich in Bewegung gesetzt, wurde die Stadt hinter ihnen immer kleiner und wich so dichten Wäldern, daß der Zug geradezu durch einen Baumtunnel zu fahren schien. Doch nach und nach wurden die Wälder lichter und der Blick schweifte über welliges, von einer dichten Schneedecke überzogenes Weideland. Auch diesmal hatte der Zug keine Panne, doch da die Verbindung zwischen Sankt Petersburg und Moskau – den quirligsten und lebendigsten russischen Städten – nur aus einem einzigen Gleis bestand, wurde der Charterzug häufig auf ein Ausweichgleis geschoben, um einen anderen Zug vorbeizulassen, gleichgültig, ob dieser nun aus Sankt Petersburg -1258-
kam oder aus Moskau. Und wieder betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit des Zuges – wiewohl er bisweilen ein beträchtliches Tempo drauf hatte – nur rund fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde. Sechs Stunden nach Verlassen Moskaus hielt der Zug, ohne daß ein Streckenwärter die rote Laterne geschwenkt hätte; man hielt an einer nicht gerade kleinen Stadt, um alle zum Abendessen aussteigen zu lassen. Hier lief Florian von einem seiner Leute zum anderen, um ihnen klarzumachen, an welch bedeutendem geographischen Punkt sie sich gerade befänden. »Das hier ist Twer, eine blühende Handelsstadt, denn sie liegt nicht nur an der Strecke Moskau-Sankt Petersburg, sondern auch noch an jenem Fluß dort drüben, der gleichfalls eine vielbefahrene Handelsroute darstellt. Vielleicht geht ihr hin und seht ihn euch an, denn es ist die in Lied und Legende berühmte Wolga.« In der Tat, das erst vor kurzem entstandene Volkslied ›Die Wolgafischer‹ erfreute sich bereits jetzt in ganz Rußland größter Beliebtheit. Alle Circusangehörigen hatten die Melodie in Restaurants, im Speisesaal von Hotels von der Balalaika gespielt gehört und Bumbum bemühte sich um Noten für seine Streicher und Bläser. Am Flußufer sahen sie, wie die muskelstrotzenden Treidler die Treidelpfade rauf- und runterzogen. Da der Strom fest zugefroren war, zogen sie mit ihrem dicken Tau kein Boot, sondern einen voll mit Korn beladenen Schlitten. Trotzdem sangen die Treidler das Lied mit dem bedächtigen Rhythmus, der ihnen half, im Gleichschritt voranzugehen. Von der Balalaika gespielt, klang es allerdings melodischer. Das Zugpersonal beeilte sich in Twer, mit dem Essen fertigzuwerden, und verließ alsbald den Speisesaal, um das riesige flachliegende V eines Schneepflugs vor der großen Lokomotive anzubringen. Als die Circusleute am nächsten Tag bei Morgengrauen erwachten, begriffen sie, warum. Der Schnee über dem Weideland lag sanft gewellt da, ähnlich wie die -1259-
Sanddünen in der Wüste, denn hier wehten ständig starke Winde, die die Schneeberge unablässig umformten und – Wellen gleich – auch über die Eisenbahngeleise hinwegtrieben. In den wenigen Dörfern, durch die der Zug hindurchfuhr und in denen die Kirche mit dem Zwiebelturm für gewöhnlich das höchste Gebäude war, ragte die Kirche nicht höher als die geduckten Izba-Hütten und Unterkünfte der Dorfbewohner. Jede Kirche in diesem Nordland hatte zwar durchaus ihren Zwiebelturm, doch war das Kirchenschiff auf der windabgewandten Seite errichtet, um das Gebäude nicht zu gefährden, falls der Turm einmal umgeweht werden sollte. Der Geruch, den der Wind den Reisenden von den Feldern zutrug, war erschreckend, schlimmer noch als der Gestank, den die Moskauer Fabriken ausströmten. Willi Lothar informierte sie, was es mit diesem Geruch auf sich hatte. »Die Fischer im Finnischen Meerbusen bringen riesige Heringsfänge ein. Ein Teil wird als Eßfisch verkauft, doch so manche Ladung wird ausgepreßt, um Öl zu gewinnen; die nicht verwendbaren Reste werden an die Bauern verkauft. Im Herbst, nach der Ernte, pflügen sie die zermahlenen Fische als Dünger unter, und der Gestank ist so penetrant, daß selbst tiefer Schnee ihn nicht überdeckt.« Als der Zug die Niederungen verließ und die mit Birkenwäldern bestandenen Waldai-Höhen erklomm, blieb der Gestank hinter ihnen zurück. Da die Wälder ein Großteil des ewigen Windes abfingen, war der Waldboden schneefrei und braun wie Ackerkrume bis auf das Silberweiß des ›FrostSchattens‹, den die Stämme warfen. Da die Birken selbst eine silbrigweiße Rinde hatten, wirkten sie weniger als Schatten denn als Spiegelung dieser anmutigen Bäume auf einer ruhigen Wasseroberfläche. Bald ratterte der Zug längs der breiten zugefrorenen Newa und durch weit vor der Stadt gelegene, ziemlich heruntergekommene Wohngebiete und Lagerschuppen – doch -1260-
gab es hier keine Fabriken, keinen Ruß und keinen Rauch, keinen ohrenbetäubenden Lärm und keine üblen Gerüche. Die Reisenden – momentan so aufgeregt, daß sie die bittere Kälte völlig vergaßen – ließen die Abteilfenster herunter, lehnten sich hinaus und sahen vor sich die goldenen Türme und Kuppeln, breiten Prachtstraßen und vielfarbig gestrichenen Paläste des modernen ›Venedigs des Nordens‹, Peter des Großen ›Fenster zum Westen‹, die Stadt, die in den Stadtführern überschwenglich ›steingewordene Musik‹ und von seinen Einwohnern liebevoll und vertraulich Piter (wegen des holländischen Ursprungs) genannt wurde – die Hauptstadt des Russischen Reiches, Sankt Petersburg.
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4 Willi und Jules erwarteten sie am Nikolaus-Bahnhof. Während der Zug auf das ihm zugewiesene Nebengleis rangiert wurde, sagte Willi: »Herr Direktor, diesmal habe ich einen schönen Festplatz bekommen können.« Er breitete einen Stadtplan aus. »Und zwar im Taurischen Garten, einem öffentlichen Park hinter dem alten Potemkinschen Palais, gar nicht weit von hier.« Florian studierte den Plan. »Gute Arbeit, Chefpublizist, aber wir werden nicht auf kürzestem Weg dorthin ziehen. Da es bereits nach Mittag ist, sollen Stitches und Banat als erstes die Tiere und die Käfigwagen ausladen, dann die Dampforgel und alle anderen Fahrzeuge, die sich für eine Parade besonders gut eignen. Die Maringottes und jene Gerätewagen, die nichts weiter hermachen, sollen sie zuletzt ausladen und uns damit folgen, wenn sie fertig sind. Wir müssen unbedingt eine Parade nach Petersburg hinein machen.« »Par Dieu, Florian«, sagte Rouleau. »Steck doch bloß mal die Nase zum Bahnhof raus. Draußen sind es fünfzehn Grad unter Null.« »Ja, und? In Kiew und Moskau kann es nicht wesentlich angenehmer gewesen sein als hier.« »Aber hier spürt man die Kälte wegen der allgemeinen Luftfeuchtigkeit mehr«, sagte Willi. »Peter der Große hat diese Stadt auf Pfählen in einem trockengelegten Morastgebiet gebaut. Selbst Zar Alexanders Höflinge sind nur widerwillig und überhaupt nur deshalb hier, weil der Zar hier residiert.« »Pah, wir sind doch keine verweichlichten Höflinge«, sagte Florian. »Wir sind Circusleute, sind Fahrendes Volk. Wenn Sie mit mir fahren wollen, Herr Lothar, und du mit Colonel Ramrod, Monsieur Roulette, können Sie uns unterwegs alles erzählen, was Sie über die Stadt und die Lebensweise der Menschen hier -1262-
in Erfahrung gebracht haben.« »Gut«, sagte Willi. »Der Hauptboulevard von Piter, der Newski-Prospekt, führt praktisch am Bahnhof vorüber. Ich würde vorschlagen,daß wir ihm stadteinwärts folgen und dann in die Morskaya einbiegen, wo von zwei bis vier die elegante Welt promeniert. Die Racklos und die restlichen Wagen können von hier direkt in nördlicher Richtung zum Festplatz fahren.« »Ich will nur noch Kostchei sagen, daß er mit ihnen fährt und sie hinbringt«, sagte Florian. »Wir wollen ohnehin nicht, daß er bei der Parade mitmacht.« Selbst jene Artisten, die oben auf den Paradewagen fuhren und nicht in den Genuß von Willis oder Jules’ Erklärungen kamen, waren von Piter angenehm überrascht. Bis auf die eine oder andere schneebedeckte Seitengasse gab es in der Stadt nicht eine Straße, die weniger als fünfzehn Meter breit, vom Schnee freigeschippt und gepflastert gewesen wäre, wobei die Pflastersteine in schön geschwungenen Mustern verlegt worden waren. Der Newski-Prospekt wie die anderen Prachtstraßen war über dreißig Meter breit und nicht mit Kopfsteinpflaster befestigt, sondern mit sechseckigen Hartholzblöcken, die gleichfalls in Mustern verlegt worden waren. Von Stund an konnten die Circusleute mit geschlossenen Augen am Klang hören, wann ihr Fahrzeug von einer einfachen Straße in einen Boulevard einbog: denn dann wurde aus dem metallischen Rattern von Wagenrädern auf Kopfsteinpflaster das sanftere, gedämpftere Rumpeln von Rädern auf Holzpflaster. Der herrlich breite Newski-Prospekt wurde auf beiden Seiten von vielstöckigen Palästen, Herrschaftshäusern, Kaiserlichen Ministerien und ausländischen Botschaften gesäumt: Bauten aus reinweißem Marmor, naturfarbenem Stein oder in durchaus lebhaften Farben bemaltem Stuck; manche waren sogar mit steingutähnlichem Terrakotta verblendet. Viele dieser grandiosen Gebäude standen demokratisch Seite an Seite mit einfachen öffentlichen Zweckbauten – dem Rathaus, kleineren -1263-
und größeren Kirchen, der Öffentlichen Bibliothek –, ja, sogar mit backsteingebauten Geschäftshäusern mit Läden im Erdgeschoß: Apotheken, Papierwarengeschäften, Verkaufsstellen des Staats-Monopols und Restaurants. Die exklusiveren dieser Geschäfts boten ihre Waren oder Dienste sowohl in russischer als auch französischer Sprache an: KONDITERSSKAYA/CONFISEUR; TORGÖVETS PLATEM/TAILLEUR POUR DAMES. Doch die Fassaden sämtlicher Gebäude, selbst der Paläste, wurden verschandelt von mächtigen Rohren, die sich – umfangreich wie Fässer – von den Dachrinnen über Fenstersimse und Mauerbrüstungen bis zum Erdboden hinunterschlängelten. Die Rohre waren notwendig, um das Schmelzwasser im Winter und die Wassermassen der schweren Regenfälle, unter denen Piter zu jeder Jahreszeit sonst zu leiden hatte, abzuleiten. Linkerhand vom Boulevard lag ein höchst eigentümliches, weißgestrichenes und nur zweistöckiges, dafür aber von einer Seitenstraße bis zur nächsten reichendes Gebäude. Das Erdgeschoß bestand aus einer Reihe von Geschäften, was sich im Oberstock fortsetzte, denn dieser wies einen offenen Laubengang auf. In beiden Stockwerken herrschte ein lebhaftes Treiben und Willi Lothar erklärte ihnen: »Die Petersburger gefallen sich in dem Gedanken, in der westeuropäischsten und gepflegtesten Stadt ganz Rußlands zu leben. Dies Gebäude hier ist übrigens das Gostini Dvor, das einen ganzen Häuserblock einnimmt. Mit seinen ungeheuren Schaufensterflächen und den Innenhöfen bietet es Raum für zweihundert verschiedene Läden, die alle billige Waren für die Massen feilbieten. Es handelt sich um das genaue Gegenstück zu einem orientalischen Souk oder Basar.« Nach einem Augenblick fügte er noch hinzu: »Was die Oberklassen betrifft, so lassen die sich ihre Kleidung von WORTH in Paris nicht nur kommen, nein, sie schicken sie auch wieder dorthin zurück, bloß um sie waschen zu lassen.« Edge meinte zu Rouleau: »Mir fällt auf, daß fast jeder Karren -1264-
oder jede Kutsche und Droschke außer der Lederschürze vor dem Kutschbock noch ein Netz aufgespannt hat. Soll damit verhindert werden, daß die Pferde diese schönen Straßen verunreinigen?« »Nein, man will nur verhindern, daß dem Kutscher Schneebrocken von den Pferdehufen auf den Schoß oder gar ins Gesicht geschleudert werden. Alle sind hier sehr winterbewußt«, fuhr Rouleau fort, »sogar die Pferde. Sieh mal den Gaul, der dort am Rinnstein auf den Kutscher wartet. Er schiebt die Kutsche ganz von sich aus immer ein paar Zentimeter hin und her, damit die Räder nicht anfrieren.« Auf der Fahrt den Newski-Prospekt hinunter führten Brücken über drei Kanäle, die wegen des ständigen Kommens und Gehens von Frachtkähnen und regelmäßig verkehrenden Passagierbooten nicht zufrieren konnten. Die Brücken wiesen alle schöne schmiedeeiserne oder gußeiserne Gitter auf. Eines war besonders schön. Flankiert wurde es von den Bronzestandbildern fast nackter Männer, die tänzelnde Pferde führten. Der Bildhauer hatte so fein gearbeitet, daß die Satteldecken, wie Pferdekenner Pemjean bemerkte, tatsächlich aussähen wie richtige Schafsfelle. In der Mitte des Boulevard und über diese Brücken hinweg verliefen zwei Schienenstränge, über die in bestimmten Abständen eine pferdegezogene Doppeldeckertram dahinfuhr, an deren Außenseite eine Treppe sich zum luftigen Oberstock hinaufwand, dessen Bänke in dieser Januarkälte allerdings unbesetzt waren. »Das nennt man die Hengst-Straßenbahn«, berichtete Willi Florian. »Sie verkehrt zwischen dem Nikolaus-Bahnhof und der Admiralität.« Jetzt konnten sie den nadelspitz ragenden und mit Blattgold bedeckten Turm der Admiralität vor sich schimmern sehen, doch bog die Parade, ehe sie diese erreichte, vom Newski-1265-
Prospekt in die schmalere und mit Steinen gepflasterte Morskaya Ulika ein, auf der es von nachmittäglichen Spaziergängern wimmelte. Diese Menschen waren gut verpackt, doch mindestens jeder zehnte trug einen epaulettenbesetzten, mit Schnüren und Schnallen versehenen Rock, der meistens ein Uniformrock war. Und die Offiziere trugen dazu auch noch Zweispitz oder federbuschbesetzten Tschako oder eine Art weichen Turban aus Pelz. Einige von ihnen – Kavallerieoffiziere zu Fuß – trugen in langen Scheiden aus Haifischleder Säbel, die klirrend und klappernd über das Pflaster schleiften. Viele der Männer in weniger prächtiger Aufmachung – offensichtlich Soldaten im Mannschaftsrang – trugen kreuzweise Patronengurte über der Brust. Die Parade gelangte jetzt in ein Viertel, in dem viele Häuser standen, die offensichtlich älter waren als die am NewskiProspekt. Es handelte sich um Holzbauten, die jedoch so angestrichen worden waren, daß sie wie aus Backsteinen gemauert wirkten. Als Willi die Prozession unmittelbar darauf wieder nach rechts abbiegen ließ, war man gleich wieder von eleganter Architektur umgeben. Sie gelangte an einen großen offenen Platz mit einem kleinen Park in der Mitte, und in der Mitte dieses Parks wiederum auf hohem Sockel stand eine Reiterstatue von Nikolaus I. Dahinter erhob sich die größte und grandioseste Kirche von ganz Petersburg, die St. IsaaksKathedrale, gekrönt von einer großen, hohen, blattgoldbelegten Kuppel, die blitzend und fast blendend vor dem azurblauen Himmel stand. Offenbar war gerade ein Gottesdienst zu Ende, denn viele wohlgekleidete Menschen kamen herausgeströmt, von denen die meisten auf der Treppe stehenblieben, um der Parade zuzusehen. An einer Galerie weiter oben trat eine Reihe schwarzgewandeter und mit zylindrischen schwarzen Kopfbedeckungen angetane Priester heraus, die sich ebenfalls das Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Einer der Priester lehnte sich über die -1266-
Balustrade, drückte an beiden Nasenflügeln herum und schneuzte dann – ungerührt ob der Menschen unter ihm – reichlich Nasenschleim auf sie hinunter. Ein gutes Dutzend schäbig gekleideter Straßenverkäufer hatte offenbar nur auf das Erscheinen der Gottesdienstbesucher gewartet. Sie trugen Eimer oder Glashäfen auf dem Kopf oder an hölzernem Joch über der Schulter Metallroste und Eimer mit Kohlen, die sie überall absetzen und zum Kochen entzünden konnten. Alle priesen ihre Waren an: »Kwas!« -»Chai!« – »Pirogi!« – »Blini!« Jetzt kam der Zug an dem Bronzereiter vorüber, dem berühmtesten und beliebtesten Wahrzeichen der Stadt – ein massiver Felsen, den Peter der Große in dreifacher Lebensgröße auf einem Pferd hinaufritt, das womöglich noch edler aussah als sein Reiter –, und gleich dahinter kam die breite Promenade, welche die Große Newa entlangführte. Der Fluß war zugefroren und schwarz, und es kam ein so bitterkalter Wind heruntergefegt, daß die Artisten sich noch tiefer und fester in ihren Pelz oder andere Decken hüllten, der gleichwohl Hunderte von jungen wie alten Petersburgern nicht davon abhielt, auf dem Fluß Schlittschuh zu laufen oder kleine Schlitten vor sich herzuschieben. Diese Menschen waren vergleichsweise dünn angezogen. Flußabwärts sah man eine mit verschlungenem schmiedeeisernem Geländer versehene Brücke, die zum anderen Ufer hinunterführte, auf dem es genauso von Menschen wimmelte wie auf dem diesseitigen mit den schönen Gebäuden und den Statuen. Hinter der Brücke lagen an den Quais mehrere völlig vom Eis eingeschlossene Rad- und Schraubendampfer. Als die Parade auf der Promenade stromaufwärts weiterging, konnten die Circusleute in der Ferne eine Dampfstraßenbahn sehen, die munter über das Eis dem gegenüberliegenden Ufer zustrebend, schwarzen Rauch ausstieß. »Grundgütiger Himmel!« sagte Florian. »Haben sie wirklich Schwellen und Geleise übers Eis gelegt? Dazu ist die -1267-
Straßenbahn vollgestopft mit Fahrgästen. Wie dick muß die Eisdecke da denn sein?« »Nun, sehen Sie, dahinten, Herr Direktor«, sagte Willi. »Das Kunstwerk dort steht noch immer an der Stelle, wo der Priester die Wasserweihe vorgenommen hat – und das war eine Woche nach Dreikönig.« Es handelte sich um einen neben dem Fluß aufgestellten reichgeschnitzten Altar mit Kreuz darüber, der ganz aus Eisblöcken bestand, die aus der Newa herausgeschnitten worden waren. Den Sockel bildeten Blöcke von einem Meter fünfzig im Quadrat. »Das war vor einer Woche«, fuhr Willi fort, »und da sind Jules und ich hergekommen, um uns die heilige Handlung anzusehen. Nach der eigentlichen Segnung des Flusses hat einer der Priester Kinder in diesem eiskalten Wasser getauft – er hat sie in das Loch, das man in das Eis geschlagen hatte, getaucht. Eines der Kinder ist ihm aus der Hand geglitten, und es ist selbstverständlich sofort verschwunden.« »Grundgütiger Himmel!« sagte Florian noch einmal. »Da war das Wehklagen wohl groß, was?« »Ach, überhaupt nicht. Es war nur ein Bauernkind und der Priester rief nur: ›Drugoi – das nächste her!‹ Mutter und Vater des verlorenen Kindes waren überhaupt nicht unglücklich, sondern außer sich vor Freude, felsenfest davon überzeugt, daß das Kind, das unter so glückverheißenden Umständen ums Leben gekommen war, sogleich von den Engeln in die Arme geschlossen wurde. Gleich nach der Taufe drängten sich alle, die daran teilgenommen hatten, um das Loch, füllten Krüge mit dem nunmehr heiligen Wasser, um davon zu trinken oder sich darin zu waschen.« Die Parade ging in nordöstlicher Richtung die Uferpromenade der Großen Newa entlang weiter; der eisige Wind, dem sie entflohen, trieb sie gleichzeitig weiter. Bis auf die -1268-
Schlittschuhläufer blieben hier nur wenig Menschen stehen. Doch dann passierte die Karawane die beiden, dem Fluß zugewandten Flügel des riesigen Admiralitäts-Gebäudes mit dem geräumigen Hof dazwischen, und hier war jedes Fenster besetzt mit uniformierten Gestalten. Gleich danach kam die Parade an der Endhaltestelle der dampfbetriebenen EisStraßenbahn vorüber, und die lag gerade unterhalb des Winterpalais des Zaren. Die drei Stockwerke hohe Fassade war rötlichbraun gestrichen, die Fensterrahmen waren mit Blattgold belegt; gegliedert wurde die Fassade von endlosen Reihen weißer Säulen mit vergoldetem Kapitell. In Wirklichkeit war das Bauwerk weit höher als nur drei Stockwerke, denn das Dach trug eine Vielzahl von Giebelfeldern und wurde überragt von zahllosen Riesenstatuen. Die Kolonne überquerte jetzt einen Kanal, der sich in die Große Newa ergoß; nunmehr reihte sich den ganzen Rest der Promenade auf der Landseite ein Palast an den anderen. Der nächste war die von Katharina der Großen gebaute Eremitage mit ihrer sagenhaften Sammlung ausländischer Gemälde, Skulpturen und Antiquitäten, in welche sie sich – über eine Zugbrücke über den Kanal von ihren Gemächern im Winterpalais aus – zurückziehen konnte, um diese Schätze allein zu genießen. Trotz des Namens, der ja soviel wie Einsiedelei bedeutet, war die Eremitage alles andere als ein bescheidenes kleines Versteck; sie war zwei Stockwerke hoch, halb so breit wie die Stirnseite des Winterpalais und von außen nicht minder reich geschmückt. Es folgte eine Reihe ähnlich prächtiger Paläste, zwischen denen Höfe lagen, die im Sommer offensichtlich als Gärten dienten. Von der Stelle der Uferpromenade, die die Parade jetzt passierte, konnte man am gegenüberliegenden Ufer sehen, wie die Newa sich gabelte. Die Wagenkolonne bewegte sich stromaufwärts am Südufer der Newa entlang, doch auf der anderen Seite bog ein Flußarm – die Kleine Newa – nach -1269-
Nordwesten ab, und noch ein Stück weiter flußaufwärts floß ein zweiter Arm geradenwegs nach Norden. Tatsächlich also bestand das Land auf der anderen Flußseite aus einer Reihe von – in der Mehrzahl sehr großen – Inseln, die von den vielen Flußarmen des Newadeltas gebildet wurden und sich in westlicher Richtung bis an den Finnischen Meerbusen hinzogen. Der am meisten ins Auge fallende Gebäudekomplex, den die Artisten zwischen den beiden abbiegenden Flußarmen erkennen konnten, war die von hohen Granitwällen umgebene PeterPauls-Festung, deren schwere Geschütze in den Schießscharten so gerichtet waren, daß sie jeden auf dem Wasser (oder über das Eis) sich nähernden Gegner bestreichen konnten. Hinter den Festungswällen sah man nur eine Reihe vergoldeter Kuppeln sowie einen nadelspitz zulaufenden, blattvergoldeten Turm ähnlich dem der Admiralität. Das sei, wie Willi später erklärte, die Kirchturmspitze der Peter-Pauls-Kathedrale, und diese wiederum, betonte er, sei das einzige vielleicht halbwegs als ›heilig‹ zu bezeichnende Bauwerk innerhalb der Festung; immerhin sei es seit Peter dem Großen bis Nikolaus L, dem Vater des jetzigen Zaren, Alexander II., die Begräbnisstätte sämtlicher Zaren. Jedes andere Gebäude innerhalb der Festungswälle sei, wie Willi sagte, ›milde ausgedrückt, weltlich‹, nämlich das Stadtarsenal, die Münze und das Staatsgefängnis. Als nächstes kam die Parade an einem ziemlich großen, Sommergarten genannten Park vorüber, jetzt nichts weiter als eine Ansammlung von Schneehaufen, kahlen Bäumen und einer Vielzahl kleiner Holzhäuser, die um die vielen Parkstatuen herum gebaut worden waren, um sie den Winter über zu schützen. Jetzt bog die Karawane von der Uferpromenade ab und in die Straße ein, die zum Potemkin-Palais führte, das jedoch seit dem Tod des Fürsten vor achtzig Jahren leer stand und heute als Marstall für ein paar wenige – noch nicht einmal hundert – Pferde der Zarenfamilie diente. Dahinter lag der -1270-
Taurische Garten, der seinen Namen, wie Rouleau Edge erzählte, von einer Schlacht hatte, die Fürst Potemkin bei dem Ort Tauris auf der Krim gewonnen hatte. Auch dieser Park lag unter einer Schneedecke, so daß die Racklos, die die von ihnen mitgebrachten Wagen bereits entladen hatten, schon beim Schneeschippen waren, um den eigentlichen Festplatz sowie eine breite Zugangsstraße dorthin schneefrei zu haben, sobald die Parade mit den restlichen Wagen eintraf. Noch ehe Florian von seiner Kutsche heruntergesprungen war, stand Goesle da und fragte: »Bauen wir noch auf, ehe es dunkel wird?« »Nein, Dai, die Dunkelheit würde uns dabei einholen. Im Winter sind die Tage hier sehr kurz. Außerdem sind alle durchfroren und abgespannt. Laß deine Leute die restlichen Wagen entladen, ich werde mich um Hotelzimmer kümmern. Du brauchst nur einen Wächter aufzustellen wie immer.« Dann wandte er sich an Willi. »Haben Sie hinsichtlich der Hotels irgendwelche Vorschläge?« »Da wäre das älteste und ehrwürdigste, das Evropeiskaya – das Hotel Europa – an der Ecke Mikäilowskaya/NewskiProspekt.« »Eine ausgezeichnete Adresse. Dann also ab ins Europa!« »Es ist aber sehr teuer. Das billigste Zimmer mit Bad kostet siebeneinhalb Rubel pro Tag, das Abendessen drei Rubel pro Person, table d’hote.« »Unsinn! Wir essen a la carte. Und nehmen uns die teuersten Zimmer. Bis auf die Böhmen, versteht sich. Jetzt holen Sie Monsieur Roulette, daß er mitkommt und wir auch sein Gepäck holen.« Das geschehen, fuhren die drei weiter zum Hotel Evropeiskaya. Florian ließ Snowball und seine Kutsche mitten auf der Mikäilowskaya halten, genau vor dem mit Buntglas überdachten Zugang zum Hotelportal und kümmerte sich nicht um die zahlreichen großen Fahrzeuge, die hinter ihm zu halten -1271-
gezwungen waren. Die Zügel sowie ein goldenes FünfRubelstück warf er dem am Rinnstein stehenden Avornik des Hotels zu, der höchstens fünf Kopeken erwartet hätte, und sagte auf russisch: »Halte meinen Wagen irgendwo bereit, damit wir gleich wieder losfahren können; sei ein guter Bursche!« Der auffällig uniformierte Privrätnik kam vom Eingang heruntergeschritten und wollte zweifellos dagegen protestieren, daß die Straße blockiert wurde, doch Florian drückte ihm einfach eine Zehn-Rubel-Münze in die Hand. Dem Mann fielen fast die Augen aus dem Kopf, er riß die Doppeltüren vor Florian weit auf und geleitete ihn und seine Begleiter unter ungezählten Verbeugungen persönlich zur Rezeption. Der eindrucksvolle Auftritt blieb auch dem Chef-Portier an der Rezeption nicht verborgen, so daß auch dieser freundlich und diensteifrig reagierte, als Florian erklärte – und nicht etwa darum bat; soundsoviele Suiten und Zimmer mit Bad und dann fast noch einmal soviele ohne. Als Florian russisch sprach, sprach auch der Chef-Portier russisch. Als Rouleau etwas auf französisch fragte und Lothar deutsch oder wenn irgendeiner von ihnen englisch sprach, wechselte der Chef-Portier beflissen in die betreffende Sprache über, die er alle fließend beherrschte. Gleichwohl legte sich sein Diensteifer ein wenig, und er schob die Brauen etwas in die Höhe, als Florian ihm den Stapel Pässe reichte. Als Florian das Hotel verließ und zum Taurischen Garten zurückkehrte, um seine Mannschaft einzusammeln und mit ihr zurückzukehren einer stattlichen Menge, welche die weitläufige Hotelhalle fast füllte –, schien der Chef-Portier nicht mehr geneigt, sich noch weiter ergeben zu zeigen. Die meisten Circusleute trugen zwar feine Pelzmäntel, bildeten aber trotzdem eine bunt gemischte Gesellschaft, und andere Hotelgäste, die in der Halle herumsaßen, starrten sie an, ja, standen sogar auf, um besser starren zu können: eine Zwergin, drei barfüßige Koreaner, wie Banditen aussehende Ungarn, ein -1272-
Mann, unbegreiflich nach hinten übergebeugt dastehend und den Hut auf dem Gesicht tragend. Doch Florian war auf den kühlen Empfang gefaßt – und hatte auch Edge darauf vorbereitet. So bat er den mit steinernem Gesicht dastehenden Chef-Portier jetzt um die Schlüssel für die Zimmer und sagte im gleichen Atemzug: »Mein Sprechstallmeister hier ist im Besitz eines in einer Sprache geschriebenen Briefes, die er nicht lesen kann; keinem von uns will er die Übersetzung anvertrauen. Ob Sie, Gospodin Commissionaire, wohl die Freundlichkeit hätten, ihm auf englisch aufzuschreiben, was drinsteht?« Edge hatte den Umschlag mit den zwei erhaben geprägten Kronen bereits auf den Tisch gelegt, und jetzt war es der Chef-Portier, dem die Augen aus dem Kopf fielen wie zuvor dem Türsteher. Er las das Schreiben durch und schrieb – mit zitternder Hand – auf dem Briefpapier des Evropeiskaya die englische Übersetzung nieder. Edge bedankte sich: »Spasfbo, Gospodin«, und steckte den Brief wieder weg. Von Stund an war der Chef-Portier nicht nur beflissen, sondern servil und sorgte dafür, daß das gesamte Personal es auch war. Nachdem die Truppe sich frisch gemacht und umgezogen hatte, versammelte sie sich wieder im Speisesaal des Hotels, einem riesigen Saal mit Säulen, Spiegeln, Wandbildern und Topfpalmen unter einer gewölbten Decke, die ganz und gar aus farbigem Glas bestand und durch eine darüber angebrachte Beleuchtung herrlich schimmerte. Florian drückte dem Maitre d’hotel ein größeres Geldstück in die Hand und bat für alle um die besten Plätze, was eigentlich überflüssig war, weil sie fast jeden der im Saal aufgestellten Tische besetzt hielten. Der Maitre d’hotel verneigte und entfernte sich. Gemeinsam mit dem Oberkellner sah man, wie sie später mehrere andere Tischgesellschaften – die offensichtlich protestierten, ohne indes Erfolg damit zu haben – samt ihrem halb verzehrten Diner, gedecktem Tisch und allem anderen in einen nicht ganz so -1273-
großartigen Raum hinauskomplimentierten, der von der großen Hotelhalle abging. Nachdem Florian und seine Freunde Platz genommen hatten, bestellten sie á la carte, ohne auf den Preis zu schauen, und Florian rief nach dem Kellermeister. Dieser kam, den Kellerschlüssel an einer Kette um den Hals, und präsentierte seine Weinkarte, woraufhin Florian den teuersten Wein bestellte, ohne darauf zu achten, ob dieser zu den Speisen paßte, die die einzelnen bestellt hatten, oder nicht. Bei der Zakuska, der üblichen Vorspeise – hier wie überall sonst schon eine Mahlzeit für sich –, sagte Florian zu dem neben ihm sitzenden Edge: »Willi hat mir berichtet, es sei noch ein Circus in der Stadt, allerdings ein ständiger mit eigenem Haus wie der in Moskau. Ich denke, wir beide sollten sehr bald diesem TSIRK CINIZELLI, wie er heißt, einen Besuch abstatten, obwohl er einem Russen namens Marchan gehört. Eine gefährliche Konkurrenz erwarte ich nicht; Willi sagt, Marchan sei nur ein Emporkömmling, der früher ein einfacher Cafehaus-Besitzer war. Aber der erste Orfei ist sogar Mönch gewesen. Und Barnum ist mit einer Reihe prosaischer Geschäfte auf den Bauch gefallen, bevor er mit dem großartigen AMERICAN MUSEUM ein Vermögen machte. Jedenfalls sollten wir uns ansehen, wie dieser Cinizelli ist. Außerdem gehört es zum guten Brauch unter Circus-Leuten, daß wir uns Gospodin Marchan vorstellen.« Am nächsten Tag, nachdem das Chapiteau stand, gingen Florian, Edge und Fitzfarris, um sich die Nachmittagsvorstellung des TSIRK CINIZELLI anzusehen. Das große, solide aussehende Circusgebäude lag am Fontanka-Kanal und war nur vier Blocks vom Taurischen Garten entfernt. Die Eintrittspreise waren ziemlich hoch, doch das wußte Florian bereits von Willi und hatte dementsprechend die eigenen Preise hoch angesetzt. Im CINIZELLI nahm er eine viersitzige Loge zum Preis von zehn Rubel und vierzig Kopeken. Als er der wenig eleganten Türsteherin die Karten gab, reichte er ihr auch -1274-
noch eine Notiz, mit der Bitte, diese noch vor Schluß der Vorstellung Gospodin Marchan zu überreichen. Im Zuschauerraum fanden, wie Florian mit Kennermiene sofort abschätzte, rund fünfhundert Zuschauer auf bequemen Polstersesseln in den Logen und Sperrsitzen Platz; Holzbänke auf den Rängen und auf der Galerie nahmen noch einmal zwölfhundert Zuschauer auf. Da es sich um einen festen Circusbau handelte, gab es hier einige Besonderheiten, die ein Wandercircus sich nicht erlauben konnte, nämlich eine vorzügliche Beleuchtung, richtige Gasscheinwerfer unter der Decke und in Maneeenhöhe. Die Platzanweiserinnen, die die Zuschauer zu ihren Plätzen führten und ihnen prachtvoll gedruckte Programme in die Hand drückten, waren allesamt blond und leidlich hübsch; sie trugen aufreizend kurze Tüllröcke über paillettenbesetzten Trikots. Wie sich bei Vorstellungsbeginn herausstellte, waren es Tänzerinnen, die als erstes ein kleines Ballett aufführten. Florian meinte, Sir John täte vielleicht doch gut daran, sich um eine Tanzgruppe zu bemühen, möglicherweise sogar um zueinander passende Blondinen wie hier. »Die Mädchen zu bekommen, ist, glaube ich, kein Problem; und dafür zu sorgen, daß sie alle blond sind, auch nicht«, sagte Fitzfarris. Er zeigte auf diejenige, die sie zu ihrer Loge gebracht hatte. »Ich denke, wenn eine Blondine an den Beinen dicht und dunkel behaart ist, darf man daraus schließen, daß sie nicht immer eine Blondine war.« Edge sagte: »Ich habe immer gedacht, alle Russen wären groß und blond und blauäugig. Dabei habe ich schon alle möglichen Haut- und Haarfarben gesehen – besonders hier in Sankt Petersburg.« »Tatsache ist«, erklärte Florian, »daß Rußland ein buntes Völker-, ja, sogar Rassengemisch darstellt. Da ist es nur allzu verständlich, daß Piter als Hauptstadt und überhaupt größte Stadt des Reiches viele Angehörige dieser verschiedenen -1275-
Gruppen anzieht: Tataren, Mongolen, Baschkiren und so weiter. Was die eigentlichen Russen angeht, gibt es drei deutlich unterschiedliche Gruppen. Die Groß-Russen sind blond und hellhäutig, haben blaue Augen und besitzen ein höchst überschwengliches Naturell. Die sogenannten Klein-Russen sind schlank und brünett, während man die Weiß-Russen als die Mississippi-Leute dieses Landes betrachten kann – arm, ungebildet und phlegmatisch, unordentlich und schlampig –, wahrscheinlich haben sie alle Hakenwürmer wie die Bewohner von Mississippi. Jedenfalls sehen alle anderen Russen verächtlich auf sie herab. Sie sind auch leicht zu erkennen, denn sie leiden in der Regel an einer endemischen Krankheit der Kopfhaut, die sie hier Blika polonika nennen.« »Ah, dann habe ich von denen schon eine Menge gesehen«, sagte Fitz. »Mit kahlen Stellen im Haar, skrofulös und schmutzig aussehend, selbst wenn sie gewaschen sind.« In diesem Augenblick wurde die Gasbeleuchtung in ihrer Loge und den anderen im ganzen Haus offenbar durch ein Zentralventil langsam dunkler gestellt, wohingegen die auf die Manege gerichteten Scheinwerfer zusehends heller wurden. Zur Musik einer großen Kapelle auf dem Podium über dem Sattelgang kamen die Platzanweiserinnen jetzt als Ballettmädchen – federnd in die Manege gehüpft. Das CINIZELLI war, wie die drei bald meinten, ein durchaus akzeptables und unterhaltsames Circusunternehmen, doch natürlich sei das FLORILEGIUM besser. Nicht nur, daß hier die Tiere die Hauptrolle spielten, sie waren auch zahlenmäßig am stärksten vertreten. Besonders fielen ihnen dressierte Bären und Schweine auf, die einige erstaunliche Tricks beherrschten (»Monsieur le Démon Debonnaire muß sich das unbedingt ansehen«, meinte Florian. »Vielleicht nimmt er ein paar Anregungen mit nach Hause.«) Bei den Artisten handelte es sich fast ausschließlich um Akrobaten oder Clowns. Es gab keine Trapeznummer und – für eine Stadt mit so vielen -1276-
Reiterstandbildern verwunderlich – weder eine Freiheit noch Voltigereiterei; nur ein paar ziemlich mittelmäßige Frauen führten Sprünge und Posen der Stehendreiterei vor. Die Clowns zeigten nichts, das Edge oder Fitzfarris Anerkennung entlockt hätte – von etwas so Herrlichem wie einem Spiegelentree konnte nirgends die Rede sein –, sondern redeten vornehmlich und balgten und schlugen sich wegen der Widerworte, die sie einander gaben. Und der Dialog war dermaßen auf Petersburg bezogen, daß – als Florian ihn den anderen übersetzte – er gestehen mußte, kaum zu begreifen, was daran eigentlich so komisch sein sollte. In der Pause begab sich nur ein kleiner Teil des Publikums hinaus in die Kälte, um frische Luft zu schnappen. Das Innere wurde zunehmend dunstiger und dichte Rauchschwaden zogen durch den Bau, denn jedermann, ob jung oder alt, Männlein oder Weiblein, rauchte während der gesamten Vorstellung Zigaretten. Diejenigen, die im Festbau blieben, wurden von Verkäufern bearbeitet, die aus der Manege herauf schrien oder auch zwischen den Sitzreihen hin- und hergingen und versuchten, die Noten der von der Kapelle gespielten Stücke zu verkaufen, Cartes de visite der verschiedenen Mitwirkenden, Krüge mit kalter Limonade und heißem Tee, Tabletts mit lauwarmen Piroggiyi und Blinis. Das Dreiergespann vom FLORILEGIUM blieb in seiner Loge, in der ein zottelbärtiger und leicht schmuddelig wirkender Herr mit herabhängenden Schultern auftauchte – Weiß-Russe, dachten Edge und Fitzfarris sofort –, der sich auf russisch als Wassili Marchan vorstellte und sie in Rußland, Sankt Petersburg und seinem Circus willkommen hieß. »Nun, da wir in Ihr Territorium eingedrungen sind«, sagte Florian, »hielten wir es für ein Gebot der Höflichkeit, uns Ihnen vorzustellen.« »Okh, ich habe nichts gegen dieses Eindringen«, sagte Marchan. »Mein Unternehmen ist längst so etwas wie eine Petersburger Institution geworden; es gehört einfach dazu, wie -1277-
die öffentliche Bedürfnisanstalt, und die meisten meiner Gäste kommen immer wieder. Leute, die was für den Circus übrig haben – und dazu gehört nun mal der größte Teil der Petersburger –, werden sich jeden Circus ansehen, der sich anbietet, und das auch noch so oft wie möglich. Tak, weder Sie noch ich werden unter dieser geteilten Loyalität zu leiden haben. Schließlich faßt mein Haus rund siebzehnhundert Zuschauer, und die Bevölkerung beträgt über achthunderttausend.« »So viele sind es? Das war mir nicht klar«, sagte Florian. »Dann ist Piter um einiges größer als Moskau oder Kiew.« »Mit Ausnahme der Sommermonate«, sagte Marchan. »Mehr als ein Zehntel der Bevölkerung – und meines Publikums – sind Bauern, die die Stadt verlassen, um die Frühjahrs- und Sommerbestellung zu erledigen und im Herbst die Ernte einzubringen. Das ist zumindest einer der Gründe, warum ich nur im Winter hier bin. Sobald es warm wird, ziehe ich mit dem Circus los und besuche die Badeorte auf der Krim oder an der ukrainischen Schwarzmeerküste ...« Da Marchan nur russisch sprach, entschuldigte Florian sich manchmal, wandte sich seinen beiden Freunden zu und übersetzte jene Teile der Unterhaltung, von denen er meinte, daß sie Edge und Fitzfarris interessieren müßten. Diese waren in der Tat besonders neugierig auf Passagen zwischen den beiden Circus-Direktoren, die etwas länger dauerten. Marchan fragte: »Haben Sie die Peter-Pauls-Festung gesehen?« »Nur aus der Ferne«, sagte Florian. »Besichtigen Sie sie! Ein großer Teil der Festung ist ein geschichtshistorisches Museum. Aber Sie sehen dort auch das Staatsgefängnis. Doch die meisten Gefangenen sind keine Kriminellen, sind weder Mörder noch Räuber, sondern einfach die unglücklichen Mitglieder der ›Land- und Freiheit‹- und der ›Willendes-Volkes‹-Gruppen, das heißt, Agitatoren und -1278-
Befürworter der Revolution.« Florian fragte sich, warum der Mann die Sprache ausgerechnet auf dieses Thema brachte. »Dann herrscht also weithin Unzufriedenheit mit der Regierung von Zar Alexander?« »Mit der zaristischen Herrschaft ganz allgemein«, sagte Marchan. »Alexander ist weder besser noch schlechter, tak, als irgendein Zar vor ihm. Aber ja, gewiß doch, es gärt und kocht in den Massen, und manchmal bringt ein einzelner den Mut auf, sich hinzustellen und zu rufen oder sogar einen Schlag auszuteilen. Solche Revolutionäre werden von den Oberklassen verächtlich Nihilisten genannt, also Leute, die an gar nichts glauben – was Sie im Westen vermutlich Anarchisten nennen würden. Ich habe neulich mitangesehen, wie eine von ihnen – eine Frau –, die an einer Straßenecke dem Vernehmen nach aufrührerische Flugblätter verteilte, von den Gorodovöi, den Angehörigen der uniformierten Polizei, festgenommen wurde. Sie fesselten der Frau die Arme auf den Rücken, rieben ihr Pech in das lange Haar, steckten es in Brand und ließen sie dann laufen – was sie auch tat in der Hoffnung, tak, einen Wind zu erzeugen, der die Flammen ausblies, aber das ist ihr selbstverständlich nicht gelungen.« »Großer Gott!« murmelte Florian. »Barbarisch!« »Njet. Sie konnte von Glück sagen, denn ihr hätte weit Schlimmeres passieren können, wäre sie der Dritten Abteilung in die Hand gefallen.« »Ohne Zweifel. Aber warum erzählen Sie mir diese Dinge, Gospodfn Marchan?« »Um Ihnen zu erklären, warum ich Circusbesitzer geworden bin. Ich selbst bin das, was die Schmarotzer und Speichellecker des Zaren einen Nihilisten nennen; aber nur in einem Circus können Sie solche Gefühle zum Ausdruck bringen, ohne verhaftet und ins Gefängnis geworfen zu werden. Lassen Sie -1279-
mich erzählen. Gerade gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, liegt das Maryinskiy-Ballett-Theater. Die Leute sind so klug, jede Saison mit der Aufführung der kriecherischen GlinkaOper ›Ein Leben für den Zaren‹ zu eröffnen. Tak, das Maryinskiy muß, wie jedes andere Theater, ja, sogar eine Kleinkunstbühne, sein Programm erst den Zensoren des Zaren vorlegen. Nur ein Circus braucht das nicht. Uns betrachtet man hier als nichts weiter denn Clowns, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Wir können sagen, was wir wollen, und das Publikum darf lachen – dagegen haben die Zensoren nichts. Aber vielleicht gehen die Leute auch nach Hause und haben im Kopf, was wir gesagt haben. Hören Sie ...« Er neigte den Kopf in Richtung Manege. »Diese beiden Rizhiyi arbeiten eine Nummer, die ich selbst geschrieben habe.« Im Laufe ihrer Unterhaltung war die Gasbeleuchtung der Loge wieder ausgegangen und die Manege angestrahlt worden; die zweite Programmhälfte lief bereits seit geraumer Zeit. Zwei Clowns, ein Weißclown und ein unglaublich häßlicher Hanswurst, der durch seine Aufmachung womöglich noch häßlicher gemacht wurde, als er ohnehin schon war, ergingen sich in derben bis zotigen Spaßen. Weißclown: »Merkwürdig. Du siehst seiner Kaiserlichen Majestät, Zar Alexander, erstaunlich ähnlich. Aha! Ist deine Mutter je in Sankt Petersburg gewesen?« Hanswurst: »Nein, Gospodin. Wohl aber mein Vater.« (Schallendes Gelächter.) »Tak, da wird sich bloß auf Kosten des Zaren lustig gemacht«, räumte Marchan ein. »Aber ich bemühe mich auch, ein paar sehr überzeugende Gedanken in dem Schlagabtausch unterzubringen. Hören Sie!« Hanswurst: »Gospodin Weißclown, würden Sie am Zarenhof ein Wort für mich einlegen? Sonst müßte ich mich ganz allein auf den Herrgott verlassen.« -1280-
Weißclown: »Okh, da wendest du dich aber wirklich an den Falschen. Ich kenne niemand, der weniger Einfluß am Hofe Zar Alexanders hätte.« (Neuerliches Gelächter von den Zuschauern, wobei manches Lachen recht betreten klang.) »Für Sie mögen das Kinkerlitzchen sein, Gospodin Florian«, sagte Marchan. »Aber würden diese wenigen Worte irgendwo anders in der Öffentlichkeit fallen und nicht ausgerechnet im Circus diejenigen, die sie aussprechen und alle ihre Kollegen würden von der Dritten Abteilung einem Verhör unterzogen werden. Und ein Verhör durch die Dritte Abteilung bedeutet Folter. Sie können natürlich fragen: Wozu sich solchen Torheiten hingeben? Ich will es Ihnen sagen. Mein Vater war ein Muzhik – ein weißrussischer Muzhik, also das Allererbärmlichste – und ein Krepostnoy, also das, was Sie einen Leibeigenen oder Sklaven nennen. Ich weiß noch wie heute, wie er und all die anderen Krepostnoyi in diesem Lande riefen: ›Ach, wie traurig wir sind! Okh, um wieviel besser es wäre, unsere Mutter hätte uns nie geboren!‹ Jammern und Klagen, das war alles, wozu sie sich aufzuschwingen wagten. Ich jedenfalls habe mir eine Stellung errungen, in der ich ein kleines bißchen lauter – und in aller Öffentlichkeit – protestieren kann. Tak, das ist zwar nur wenig, aber immerhin.« Er stand auf und wollte gehen. Auch Florian erhob sich, ergriff seine Hand und schüttelte sie herzlich und sagte: »Als Ausländer steht es mir nicht zu, die Politik in Ihrem Lande zu bewerten, Gospodin Marchan. Aber ich sehe, Sie sind ein mutiger Mann, und ich grüße Sie. Kommen Sie in unseren Circus und lassen Sie sich von uns unterhalten. In unserem Chapiteau gibt es weder Ober- noch Unterschicht, weder Unterdrücker noch Unterdrückte. Bei uns gibt es nur Frohsinn und Nervenkitzel, die alle genießen können. Bitte, Sie müssen unbedingt kommen!« Marchan erklärte, das werde er gewiß tun, schüttelte Edge und -1281-
Fitzfarris die Hand und zog sich zurück. Nachdem Florian alles übersetzt hatte, was gesprochen worden war, meinte Edge mit verzogenem Mund: »Dann werden wir – sobald ich das Empfehlungsschreiben der Zarin überreicht habe – zu Schmarotzern und Speichelleckern des tyrannischen Zaren Alexander.« »Man wird uns positiv oder negativ beurteilen«, sagte Florian, »doch uns steht es nicht zu, irgendwelche Urteile zu fällen. Wir haben weder die Pflicht noch das Recht, hier Partei zu ergreifen. Wir sind ein Circus, und unsere einzige Aufgabe ist es zu unterhalten, gleichgültig, ob wir vor den Gesegneten auftreten oder den Verdammten.« Fitzfarris grinste und sagte: »Tak.«
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5 Zum Glück für Florian und den Rest der Truppe – und für die Buchhaltung des Hotels Evropeiskaya – waren die Vorstellungen des FLORILEGIUM in Sankt Petersburg vorn ersten Tag an ausverkauft. Ja, spielten sie die ersten zwei, drei Tage nur vor ausverkauftem Haus, mußten vom vierten Tag an nachmittags wie abends sogar Leute nach Hause schicken, weil wirklich niemand mehr ins Chapiteau hineinging. Gavrila Smodlaka hatte im Roten Wagen die Stelle von Magpie Maggie Hag übernommen, und wenn sie sich hinter dem Schalter umdrehte, um Florian, der an seinem Schreibtisch in seinem Kontor arbeitete, zu sagen, sie hätte sämtliche Karten für die demnächst beginnende Vorstellung verkauft, sagte sie das fast mit tränenerstickter Stimme, gleichsam als habe sie sich irgendeiner Verfehlung schuldig gemacht. Florian jedoch strahlte jedesmal von einem Ohr zum anderen und ging mit Vergnügen hinaus, um den noch Wartenden auf russisch zu sagen, zwar gäbe es keine Plätze mehr, doch würde er ihnen zum halben Preis gern Stehplätze verkaufen oder noch lieber Karten für eine der nächsten Vorstellungen. Inzwischen hatten sich jedesmal irgendwelche adelige Damen oder Angehörige der höheren Stände ganz bis nach vorn gedrängelt, sich Eintrittskarten gekauft und waren ins Chapiteau hineingegangen. Was jetzt noch Schlange stand, gehörte unweigerlich der Arbeiterschaft oder dem Bauernstand an, und diese Leute wandten sich nur stoisch mit der Schulter zuckend und mit der Miene eines geprügelten Hundes ab. »Das gehört offenbar zum russischen Wesen dazu«, sagte Florian zu Gavrila. »Sie nennen das Pokornost – was soviel bedeutet, wie bescheidenes Sichdreinfügen –, sei es in die Umstände, sei es in eine höhere Autorität, sei es in einen herrisch vorgetragenen Befehl.« Dann jedoch tat es ihm leid, ihr das gesagt zu haben, denn -1283-
Gavrila meinte kummervoll mehr für sich selbst als für ihn bestimmt: »Das Wort muß ich mir merken. Pokornost. Denn das bestimmt unser Zusammenleben – das von Pavlo und mir.« Trotz der glühenden Begeisterung, die ihnen die Sankt Petersburger Circusfreunde entgegenbrachten, revidierten viele Kollegen den günstigen Eindruck, den die Stadt zuerst auf sie gemacht hatte – ihre Luxusherberge nicht ausgenommen. Die Wasserhähne spieen Wasser, das dermaßen eisenhaltig war, daß es rostbraun aus der Leitung kam und es fast unmöglich war, Seifenschaum damit herzustellen; bei den Badenden hinterließ es ein Gefühl der Unsauberkeit und im Mund derer, die davon getrunken hatten, einen metallischen Geschmack. Ihre Kostüme, die sie häufig in die Wäscherei des Hotels gaben, waren nach der Wäsche glanzlos und schmuddelig. Sie beschwerten sich bei den Zimmermädchen und den alten Privätnitsa-Frauen, die in jedem Korridor einen Tisch und eigentlich die Aufgabe hatten, dafür zu sorgen, daß die Zimmermädchen richtig funktionierten, in Wahrheit jedoch nichts anderes taten, als mißbilligend das Kommen und Gehen eines jeden Gastes zu überwachen. Wer sich beschwerte, erntete nur amüsierte Blicke und gleichgültiges Achselzucken oder ein »nizdhy nyet ... nitchego ...«, was mehr oder weniger bedeutete: ›Läßt sich nicht ändern‹ und ›Was macht es schon?‹ Schlimm wurde es erst, als die Artisten krank wurden. Einer nach dem anderen klagte über immer wiederkehrende Magenkrämpfe, dann über Diarrhö-Anfälle mit anschließender Verstopfung. Die Betroffenen verloren jeden Schwung und ließen sich dermaßen gehen, daß manche ihrer Auftritte jeden Glanz verloren. Einige derer, die Sensationsnummern bestritten – LeVie, Sunday, Clover Lee, Monday und Pemjean – mußten Florian oder Colonel Ramrod gelegentlich bitten, sie bei der nächsten Vorführung zu entschuldigen – und das häufig erst wenige Minuten vor dem Auftritt, weil sie Angst hatten, daß Krämpfe oder Durchfall just in dem Augenblick zuschlagen -1284-
könnten, da sie auf dem Trapez oder auf dem sattellosen Pferderücken standen, auf einem Hochseil oder in einem der Raubtierkäfige. Glücklicherweise mußten niemals zwei Artisten gleichzeitig ihre Teilnahme an derselben Vorstellung absagen; folglich schaffte Edge es noch jedesmal, die anderen Nummern etwas in die Länge zu ziehen, um die entstandene Lücke auszugleichen. Unter denen, die nicht in der Manege arbeiteten, litten nur Dai Goesle und Carl Beck unter ähnlichen Symptomen; sämtlichen Böhmen schien das, ›was umging‹, nicht das geringste auszumachen. Als dann die kränkelnden Artisten darangingen, einmal zu überlegen, was sie in letzter Zeit gegessen und getrunken hatten, kamen sie darauf, daß das rosthaltige Wasser die Ursache sein müsse, das sie im Speisesaal des Hotels bekommen hatten. Rußland war das erste Land, in das sie kamen, in dem keine Mineralwasserflaschen auf dem Tisch standen; infolgedessen hatten sie es vorgezogen, ihren Durst statt mit Wodka – der ständig in großen Mengen bereitgestellt wurde – auf ihrem Zimmer mit dem metallisch schmeckenden Leitungswasser des Hotels Evropeiskaya zu stillen. Nachdem das herausgekommen war, stürmte Florian aufgebracht die Rezeption, verlangte die Rechnung und erklärte indigniert, er werde mit seiner gesamten Truppe ausziehen und woanders Unterkunft suchen. »Eine Schande ist das!« erboste er sich. »Da heißt es, dies sei das beste Hotel am Platze! – und es serviert seinen Gästen verunreinigtes Wasser!« »Gospodin Florian«, sagte der Chef-Portier offensichtlich aufrichtig, »das Wasser in Piter ist überall gleich, ob es aus der Pumpe, einem Brunnen oder einem natürlichen Quell stammt. Das ist eine Bürde, mit der wir uns haben abfinden müssen. Sie sollten das nicht dem Evropeiskaya ankreiden. Ziehen Sie aus, wenn es unbedingt sein muß – aber Sie werden in jedem anderen Hotel das gleiche Wasser finden.« -1285-
Florian mußte ihm glauben, erklärte jedoch schroff: »Sie hätten uns zumindest warnen sollen, davon zu trinken, ehe wir alle krank wurden.« Woraufhin der Portier aufrichtig verlegen war. Er spreizte die Hände und sagte: »Gospodin Florian, da frage ich Sie, von Mann zu Mann. Wer hätte jemals gedacht, daß ein einigermaßen vernünftiger Mensch Vodá trinken würde, wenn Vodka dasteht? Warum, meinen Sie, lauten diese beiden Wörter im Russischen so ähnlich? Vodá heißt schlicht Wasser – Vodka hingegen gutes Wasser. Außerdem gibt es Wein, Bier, Cognac ... selbst beim Chai sind durch Kochen alle Verunreinigungen beseitigt.« Vertraulich lehnte er sich über die Theke und sagte leise, weil er Gassenjargon gebrauchen mußte: »Soll das heißen, daß Ihre Leute an Dristliva leiden?« Da dieses Wort buchstäblich ›die laufende Scheiße‹ bedeutet, erwiderte Florian: »Er ... ah ... Durchmarsch ... Dünnpfiff ... ja.« »Okh, dagegen läßt sich leicht was unternehmen«, sagte der Chef-Portier. »Ich werde unseren Hausarzt einen Heiltrank mixen lassen. Ihre Leute werden in Kürze wieder auf dem Damm sein. Und schärfen Sie ihnen ein: Wenn es denn unbedingt Wasser sein muß, dann dieses vorher abkochen, oder nur auf Flaschen aufgezogenes Wasser trinken!« »Hm ... vielen Dank, Gospodin le commissionaire. Und verzeihen Sie, daß ich aus der Haut gefahren bin. Wir werden nicht ausziehen. Trotzdem könnten Sie mir die Rechnung geben, damit ich alles bis heute Aufgelaufene begleichen kann.« Ein Blick auf die Rechnung hätte bei Florian ums Haar zu einem Blitzanfall von Dristliva direkt vor der Rezeption geführt. Doch war das FLORILEGIUM wieder mehr als flüssig: er konnte die gesamte, schwindelerregend hohe Summe in Goldimperialen, Silberrubeln und Kupferkopeken begleichen. Da er hinterher nicht unbedingt mehr darauf angewiesen war, als unbegrenzt zahlungsfähig zu gelten, teilte er nur mehr -1286-
vernünftige Trinkgelder an das Hotelpersonal aus. Zimmermädchen, Kellner und andere schien das nicht weiter zu beunruhigen; im Gegenteil, sie schienen erleichtert, daß dieser Gast endlich zur Vernunft kam, und ließen in ihrer aufmerksamen Bedienung nicht nach. Der Heiltrank des Hausarztes – oder, was wahrscheinlicher ist, die Tatsache, daß die Patienten kein Wasser aus der Leitung mehr tranken bewirkte, daß alle bald wieder gesund und kregel waren. Sie arbeiteten mit neuem Schwung und nahmen wieder reges Interesse an ihrer neuen Umgebung. Viele von ihnen waren besonders erfreut über die Entdeckung, daß es in Sankt Petersburg große Ausländerkolonien gab, die sie oft besuchten und mit deren Bewohnern sie in ihrer Muttersprache reden konnten. Jede dieser nationalen Minderheiten – Engländer, Franzosen, Deutsche und Holländer – hatte sich ihre besondere Enklave im Stadtbereich gesucht und lebte getrennt von den anderen und auch von den Russen. Die Deutschen und Holländer waren soweit assimiliert, daß sie praktisch zu Russen geworden waren, nur, daß sie als ›zweite Sprache‹ ihre Muttersprache beibehalten hatten und dazu neigten, in einem Viertel zusammen zu leben. Bis auf daheim sprachen sie überall russisch, richteten ihre Häuser im verstaubt plüschigen Schwulst russischen Stils ein, beachteten russische Sitten, Gebräuche und Festtage und waren in vielen Fällen mit Russen verheiratet. Dies war so, weil sie die ältesten hier seßhaften Ausländer waren, das heißt die Nachfahren jener Schiffszimmerer, die Peter der Große zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus Hamburg und Amsterdam angeworben hatte, ihm zu helfen, die erste russische Kriegsflotte und Handelsmarine zu bauen. Diese Deutschen und Holländer stellten die zahlenmäßig stärkste ausländische Kolonie dar, alles in allem etwa zehntausend Menschen. Die rund achtzehnhundert hier ansässigen Franzosen sowie fünfzehnhundert Engländer setzten sich vornehmlich aus den -1287-
Angehörigen der diplomatischen Vertretungen ihrer Heimatländer zusammen, oder aus den Leitern, Vertretern oder Kommissionären ausländischer Firmen, die Niederlassungen in Sankt Petersburg unterhielten. Die englischen Familien hatten alle französisch gelernt – es war leichter als russisch –, um mit ihren Petersburger Partnern verhandeln zu können, wohingegen die Franzosen sich hochnäsig weigerten, irgendeine andere Sprache als Französisch zu sprechen oder gar zu erlernen. Aus diesem Grunde wurden Daphne, Dai, die meisten Amerikaner und die anderen englischsprechenden Angehörigen des FLORILEGIUM in den Häusern der Engländer gern gesehen, während Pemjean, LeVie, Rouleau und Sunday Simms häufige und gern gelittene Gäste in den französischen Familien waren; Carl Beck, Jörg Pfeifer und Willi Lothar und – auch hier wieder – Sunday fanden Anschluß bei den Deutschen. Der vielsprachige Florian war selbstverständlich bei allen Ausländern gern gesehener Gast. »Ein Jammer, daß Captain Hotspur nicht mehr unter uns weilt«, sagte er. »Ignatz hätte es genossen, die hier ansässigen Holländer kennenzulernen. Soweit ich gehört habe, soll es draußen auf einer der weiter entfernten Inseln sogar eine Zigeunergemeinde geben. Vielleicht hätte die alte Mag die gern besucht.« Clover Lee begleitete nicht selten jene Kollegen, die englische oder französische Familien besuchten, war aber wie immer im Grund mehr daran interessiert, Angehörige der russischen Aristokratie kennenzulernen. Sie erklärte Florian: »Jedes dritte Haus in dieser Stadt ist das Palais irgendeines Großfürsten, Fürsten oder Grafen. Und die Männer im Publikum, die sich mit ihren in den Griff ihres Spazierstocks eingearbeiteten Operngläsern an meinem Anblick weiden, müssen wohl gewöhnliche Stutzer und Gecken sein. Hier, Florian« – sie reichte ihm eine Petersburger Zeitung – »sieh mal nach, ob irgendwelche Kontaktanzeigen darin stehen, auf die ich -1288-
vielleicht schreiben könnte.« Florian überflog die Kolumnen mit der dichtgedruckten kyrillischen Schrift und schüttelte den Kopf. »Da ist nichts von Interesse, es sei denn, du suchtest eine Anstellung als Kindermädchen oder Gouvernante. Merkwürdig – was sie suchen, sind immer nur englische oder schottische Gouvernanten. Und – mein Gott! – was für eine ewig lange Liste von Quacksalbern, die Heilung für – naja – gewisse Krankheiten anbieten. ›Dóktor Vasiliev, Spezialist der Scabies grossa ...‹; ›Dóktor Aksakov heilt venerische Erkrankungen ...‹; ›Dóktor Chernyshewsky, diskreter Seiteneingang in der Nebenstraße ...‹; ›Dóktor Trediakowksy hilft allen, die an der Großen Galanterie leiden ...‹ Grundgütiger Himmel, Große Galanterie?« »Gemeint ist doch in jedem Fall ’n Tripper, oder?« sagte Clover Lee, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Ist der hier so’ne Geißel? Solche Anzeigen habe ich woanders doch nie gesehen.« »Ich bezweifle, daß die – hm – Vergißmeinnicht-Krankheiten hier weiter verbreitet sind als anderswo«, sagte Florian. »Nur sind die Russen weniger heuchlerisch als andere und verschweigen ihr Vorhandensein nicht. Und haben offenbar mehr Zutrauen zu allen möglichen Scharlatanen. Doch wie dem auch sei, Clover Lee, tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber Angehörige des Hochadels, die nach Gemahlinnen Ausschau halten, scheinen nicht zu inserieren.« »Verdammt! Wann läßt du Zachary endlich diesen Brief abgeben und verschaffst uns eine Einladung bei Hofe?« »Darüber haben wir uns eingehend unterhalten, sind aber noch zu keinem Entschluß gekommen. Denn höchstwahrscheinlich erhalten wir die Aufforderung, vor Seiner Majestät aufzutreten, und wenn das so ist, würde ich lieber solange warten, bis der Hof in den Sommerpalast des Zaren -1289-
übersiedelt. Andererseits ist im Moment Ballsaison, dazu kommt eine Unzahl von Galaaufführungen und Levers.« »Dann sollte Zachary seinen Brief sofort übergeben«, drängte sie. »Ich würde mich lieber unter den hohen Tieren bewegen als bloß vor ihnen aufm Pferd rumzuhopsen.« »Mal sehen, mal sehen! Auf jeden Fall müssen wir noch solange warten, bis sich alle von der kürzlichen Unpäßlichkeit erholt haben.« Die einzige, die das noch nicht geschafft hatte, war Monday Simms. Ihr mußte immer häufiger freigegeben werde, weil sie Bauchgrimmen hatte, und bestieg sie doch das Hochseil, um ihre Schornsteinfegernummer zu absolvieren, tat sie das ziemlich lahm. Edge fragte sie, warum sie nicht einen anderen Arzt aufsuche, statt sich auf den Heiltrank des Hotelarztes zu verlassen, doch sagte sie, das wolle sie lieber nicht; es werde mit der Zeit schon von selbst besser werden. Doch als sie nach einiger Zeit noch immer zu leiden schien, besprach Edge sich mit Florian, und sie ließen Pemjean in den Kontorwagen kommen. Florian sagte: »Der Sprechstallmeister und ich, wir machen uns Sorgen um Ihre junge Freundin, Monsieur le Demon. Wir haben ihr nahegelegt, einen anderen Arzt aufzusuchen. Haben Sie eine Ahnung, warum sie sich dagegen sperrt?« Pemjean richtete den Blick irgendwo in die Ferne, rang die Hände und trat von einem Fuß auf den ändern wie ein kleiner Junge, den man bei einem Streich ertappt hat, und murmelte schließlich: »Oui, monsieur le gouverneur, ich weiß schon, warum. Ein Arzt würde ihren Zustand nur bestätigen, und sie hat Angst, Sie wären dann böse ... würden sie vielleicht sogar rausschmeißen. Deshalb bin ich ja dabei, einen Arzt zu konsultieren.« Edge wußte nicht, was er davon halten sollte. »Was um alles in der Welt soll das heißen? Monday ist in einem Zustand, und -1290-
du suchst einen Arzt auf?« Fast unhörbar murmelte Pemjean: »II y a une polichinelle dans le tiroir.« Immer noch begriffsstutzig, wiederholte Edge: »Eine Puppe in der Schublade?« Aus Florian jedoch platzte es heraus: »Mademoiselle Cinderella ist schwanger? Meine Güte, sie kann doch höchstens sechzehn, siebzehn Jahre alt sein?« »Neanmoins ...«, murmelte Pemjean, sah schuldbewußt drein und schien sich zu schämen. »Wirklich, ich hab’ ja versucht, ihr klarzumachen, daß sie noch viel zu jung ist. Daß es das beste wäre, wenn sie – bitte, nichts Falsches denken, Messieurs, ich betrachte mich als guten Katholiken – aber in diesem Fall ...« Ziemlich frostig sagte Florian: »Was Sie vorschlagen, nennt sich, wenn ich mich nicht irre, eine bewußt herbeigeführte Fehlgeburt.« »Eh bien, Doktor Aksakov teilt meine Meinung. Er spricht französisch, und ich habe ihm die Situation erklären können. Er kann gewisse Geheimmittel verabreichen oder notfalls auch einen kleinen Eingriff vornehmen.« »Ist das der Grund, warum Sie und nicht sie diesen Arzt aufgesucht haben, diesen Doktor Aksakov? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« Edge sagte: »Wozu die ganze Aufregung? So jung sie auch ist, Monday sollte in der Lage sein, ohne Schwierigkeiten ein Kind zur Welt zu bringen.« »Mais oui, ich habe gehört, daß die Frauen ihrer Hautfarbe von der frühesten puberte an ein Kind nach dem anderen bekommen.« »Und?« fragte Florian. »Haben Sie was dagegen, Vater zu werden? Oder etwa Verpflichtung zu übernehmen? Oder ist Ihnen das ganze bloß lästig? Ich muß sagen, ich bin nicht gerade -1291-
überglücklich bei der Aussicht, daß meine Hochseilartistin mehrere Monate ausfällt. Aber wenn Monday das Kind haben will ...« »Messieurs, als ich ihr eine Abtreibung nahelegte, dachte ich weniger an sie oder mich oder an den Circus. Ich fürchte für das Kind.« Pemjean hörte auf, unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten, straffte die Schultern, begegnete Florians Blick und sagte: »Ich habe den Doktor Aksakov aufgesucht – bin überall, wo wir waren, zu den Ärzten gelaufen –, ehe ich auch nur wußte, daß Monday enceinte ist. Sie werden sich erinnern, als wir uns das erstemal sahen, im Hospice d’alienes in Wien, habe ich Ihnen gesagt, ich wäre dort in der Klinik gewesen. Ich leide nämlich an einer hartnäckigen Krankheit, dem mal napolitain. La chaude pisse. La chtouille.« »Dem Tripper«, sagte Edge mit Nachdruck. Florian sagte: »Jetzt fällt es mir wieder ein, wo ich den Namen von Ihrem Dr. Aksakov schon gesehen habe.« Pemjean fuhr fort: »Ich habe das Monday nie gebeichtet, denn Frauen können la gonorrhee haben und brauchen es nicht einmal zu merken. Nur, wenn sie ein Kind trägt, fürchte ich, kommt dieses blind zur Welt oder wird sonst mißgebildet geboren. Der Arzt hält das gleichfalls für sehr wahrscheinlich und meint, das beste wäre, für eine Fehlgeburt zu sorgen.« Florian kratzte sich an seinem weißen Bartflaum, überlegte einen Moment und sagte dann: »Der Meinung bin ich jetzt, wo ich die Umstände kenne, wenn auch widerwillig, ebenfalls. Aber Sie müssen dem Mädchen reinen Wein einschenken, warum es nötig ist, einen so drastischen Schritt zu unternehmen.« Pemjean wand sich, erhob jedoch keinen Einwand. »Und damit wir alle überzeugt sind, daß sie wirklich begreift, um was es geht, werden Sie ihr das in unserer Gegenwart sagen.« Florian ließ Banal rufen und trug ihm auf, Monday herbeizuholen. Als sie kam, machte sie ein etwas ängstliches Gesicht – -1292-
allerdings bei weitem kein so ängstliches wie Pemjean. Florian sagte leise: »Es besteht keine Notwendigkeit, weiterhin noch so zu tun, als wärest du krank, meine Liebe. Monsieur le Demon hat uns anvertraut, daß du – hm – in anderen Umständen bist.« Mondays rehbraune Wangen flammten vor Stolz und Verwirrung langsam rosig auf. »Jetzt aber hat Monsieur le Demon dir etwas zu gestehen.« Angstvoll, stockend, immer bemüht, drastische Ausdrücke zu vermeiden und möglichst einfache englische Worte zu finden, legte Pemjean seine Beichte ab. Monday sah nur verwirrt aus. Offenbar hatte sie noch nie von so etwas wie Gonorrhö gehört und verband auch mit den Vulgärbezeichnungen für diese Krankheit nichts. Edge schwieg, dachte jedoch, daß die Wahrheit über den Rausschmiß des Furchtbaren Türken sowie die Behandlung, die Magpie Maggie Hag Meli Vasilakis’ Krankheit hatte angedeihen lassen, offensichtlich nicht an die große Glocke gehängt worden war, wenn Monday nicht einmal die Frauen darüber hatte tuscheln hören. Offensichtlich hatte Monday ferner nie von anderen Folgen einer geschlechtlichen Vereinigung gehört als von der simplen, guten alten Schwangerschaft. So ergänzte Florian die Erklärung Pemjeans und bediente sich womöglich noch einfacherer Worte. Und dann, als es ihr endlich dämmerte – oder sie zumindest begriff, was sie jetzt von ihr forderten –, überschüttete Monday sie alle mit einer Flut von Unflätigkeiten, von denen die schlimmsten Pemjean zugedacht waren. Von Tränen geschüttelt, kam das reinste Südstaaten-Gebrabbel aus ihrem Mund. Als hätte sie seit dem Verlassen Virginias nicht das geringste dazugelernt, schrie sie ihn an: »Du krank, un’ du gewuß’, daß du krank, un’ mich auf Kreuz gelegt, un’ es is dir völlig schnurz gewes’n, ob du mir was anhängst, oder ’m Baby; un’ nu hastus dem Baby angehängt, un’ es muß sterb’n. Weistu was, Franzman? Du bis’ wirklich’n Dämon, genauso, wie dieser Kerl mit der Hundenummer immer -1293-
behauptet hat! Un’ weißtu noch was? Du bist’n richtiger Kotzbrock'n! Wie könnt' ich dich nur geg'n Fitz eintausch'n! John Fitz hätt' so was Hinterhältiges nie getan! Is mir egal, ob dies Baby tot zur Welt kommt; denn ich will kein Kleines von dir! Un' noch was laß' dir sag'n! Der Wohnwag'n, in dem du gereist bist, der gehört immer noch mir! Ich geh gleich hin un' schmeiß' dein' ganz'n Kram raus in'n Schnee. Un' sorg dafür, daß auch du nich' mehr reinkommst, un' wag es nich', in mein' Hotelzimmer zu komm'. Komm mir nich' unter die Aug'n, un' ich hoff, du frierst dir in'n Schnee ein' ab, bis dir dein verdammter kranker Girigari abfällt.« Damit war sie wieder draußen, brachte beim Hinausspringen den Roten Wagen zum Schaukeln und machte die Männer halb taub, so wie sie die Tür zuknallte. Schweigend saßen die drei eine Minute da. Dann räusperte Florian sich und sagte: »Drei Dinge noch, Monsieur le Demon. Das erste ist das wichtigste: Ich werde dieses Mädchen keinem Kurpfuscher anvertrauen, der in der Zeitung inseriert und um Kundschaft wirbt. Vergessen Sie's, daß Sie sie zu Ihrem Dr. Aksakow bringen wollten. Ich werde durch Willi diskrete Erkundigungen einziehen und sie persönlich begleiten, wenn sie zur - hm Behandlung geht. Und zweitens, ob Sie mit Mademoiselle Cinderella zu einem Rapprochement kommen oder nicht, oder ob Sie sich innerhalb unserer Truppe was anderes suchen jedenfalls bestehe ich darauf - ja, und ich empfehle es selbst dann, wenn sie sich irgendeine Jeannie aus dem Publikum anlachen -, daß Sie Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, wenn Sie mit ihr schlafen. Sie sind ja wohl mit dem Gebrauch der Baudruche bekannt, die man in Frankreich benutzt, und wissen, was ein Überzieher ist.« »Oui«, sagte Pemjean kleinlaut, um dann noch mit einem Hauch von Humor hinzuzufügen: »Ich stamme aus einem Fischerdorf in der Picardie, wo zu diesem Zweck alle Männer auf Aalhäute schworen. Dabei sind bei uns mehr Wechselbälger -1294-
zur Welt gekommen als in jedem anderen Dorf an der ganzen Küste. Unsere Männer haben immer wieder vergessen, die Augenlöcher des Aals zuzunähen.« Sein Lachen kam gequält, doch außer ihm lachte keiner. »Excusez, Monsieur. Sie sprachen von drei Dingen.« »Jawohl. Das dritte ist folgendes. Falls Sie sich nicht mit Mademoiselle Cinderella aussöhnen, bis dahin auf keinen Fall ich rate Ihnen, nieunter ihrem Seil hindurchzugehen, solange sie oben steht. Außerdem sollten Sie vielleicht einen Böhmen bitten, Ihre Tiere zu bewachen, damit sie ihnen keine Kletten unter den Schwanz steckt, um sie toll zu machen. Und wenn Sie und die Tiere in der Manege arbeiten, versuchen Sie, sich stets zu vergewissern, wo sie ist.« »Ma foi!« sagte Pemjean wie vor den Kopf geschlagen und verließ ganz benommen das Kontor. »Ich glaube, auch ich brauche jetzt frische Luft«, sagte Edge und schlüpfte in seinen Dachsmantel. Florian, der sich bereits wieder seinen Rechnungsbüchern zugewandt hatte, sagte wie beiläufig: »Es schneit. Es schneit bereits den ganzen Abend, und die Straßen sind bestimmt nicht vor morgen früh geschippt. Paß auf, daß du nicht in einer Schneewehe landest und dir deinen Girigari abfrierst.« Es war nach der Abendvorstellung, gegen Mitternacht, und die großen Fackeln, die den Zugang zum Chapiteau säumten, waren gelöscht worden. Doch der fußhohe Neuschnee verströmte seinen eigenen bleichen Schimmer und erhellte den Weg. Hinter dem Vorhang der im Wind schrägfallenden Flocken sah der dahinstapfende Edge vor sich noch eine pelzmantelgekleidete Gestalt den Festplatz verlassen. Diese trug einen Baummarderpelz, war also eine Frau; zudem ging sie langsamer als er, denn die dicken Gummigaloschen, die sie -1295-
anhatte, behinderten sie. Edge hatte sie bald eingeholt und erkannte Sunday Simms. Als sie sah, wer neben ihr Schritt faßte, schenkte sie ihm ein warmes Lächeln. »Willst du jetzt noch in einer Ausländerkolonie einen Besuch machen?« fragte er. »Nein, nur Spazierengehen«, sagte sie. »Das tue ich oft, wenn ich das Bedürfnis habe, allein zu sein. Jedenfalls, wenn die Nächte so warm sind wie diese. Es kann kaum unter Null sein.« »Findest du das nicht gefährlich? Ein hübsches Mädchen, das allein durch die dunklen Straßen streift?« »In der Stadt ist es nie wirklich dunkel. Die Petersburger bleiben lange auf, da gibt es immer viele Lampen. Außerdem glaube ich nicht, daß es in den Straßen von Wegelagerern und Mördern wimmelt. Bei Tage habe ich hier sogar den Zar und die Zarin gesehen, zu Fuß, auf dem Newski-Prospekt. Da gehen sie herum wie ganz gewöhnliche Leute, ohne Leibwache oder Hofstaat und so. Vielleicht mit einem oder zweien ihrer Kinder und ein paar Dienern, irgendwelche Einkäufe zu tragen, die sie vielleicht dabei tätigen.« »Soll das ein Witz sein? Wie sehen so hochstehende Persönlichkeiten denn aus?« »Nun, zumindest körperlich sind sie groß. Nicht dick, sondern hochgewachsen. Ich habe noch nie eine solche baumlange Familie gesehen. Jeder einzelne von ihnen ist größer und breitschultriger selbst als du. Und der Kronprinz, der junge Alexander, muß mindestens einsfünfundneunzig sein.« »Kein Wunder, daß sie da keine Leibwache brauchen«, sagte Edge. »Und ist dir schon aufgefallen«, fragte sie, »wieviele von den einfachen Männern hier diese Schuhe mit den gewaltig dicken Sohlen und hohen Hacken tragen? Ich würde vermuten, sie tun das, weil die Zarenfamilie so groß ist. Kleinere Männer müssen sich da ja zu kurz gekommen vorkommen.« -1296-
»Ja«, sagte Edge amüsiert. »Aber damit sehen sie noch lange nicht größer aus. Sie sehen einfach aus wie kleine Männer, die auf Ziegelsteinen rumlaufen.« Die beiden hatten den Taurischen Garten hinter sich gelassen und waren jetzt auf die von Osten nach Westen laufende Kirochnaya-Straße herausgekommen. Er sagte: »Ich selbst wollte mir die Stadt bei Nacht ansehen. Wenn du allein sein möchtest, kann ich allein weitergehen.« »Nein, laß uns zusammen Spazierengehen. Wenn du magst«, fügte sie halb scherzhaft hinzu. »Nie komme ich mir einsamer vor, als wenn ich mit dir zusammen bin.« Gemeinsam wandten sie sich nach Westen, Richtung Innenstadt, ohne sich indessen auf die Uferpromenade hinauszuwagen, denn dort war es zu kalt. Selbst hier, zwischen den Häusern, beutelte der ständige, aus Südwest kommende Winterwind sie tüchtig und färbte die Vorderfront ihrer dunklen Mäntel weiß mit Schnee. Zugleich hielt aber der Wind das Wasser auf den Kanälen davon ab zu gefrieren, denn selbst um diese Stunde, da nur wenige Boote sie befuhren, schwappte das Wasser hoch, über die steinerne Brüstung hinweg und überzog den Bürgersteig mit einer Eiskruste, die Sunday und Edge, die Füße hoch anhebend, knirschend durchbrachen. Außerdem brachte der Wind die Laternenpfähle leicht zum Schwanken, so daß die Gaslampen zitterten und hin- und herbaumelten, knirschten und quietschten und klirrten. Sie riefen auf den sonst stillen Straßen ein gar nicht mal so unmelodisches Konzert hervor, an das sich jeder, der Sankt Petersburg erlebt hat, später als des musikalischen Themas der Winternacht erinnerte. Während Sunday und Edge nur geradeaus durch den unterschiedlich weichen und verharschten Schnee stapften, umtanzten ihre Schatten sie wie spielende Kinder. Die hin- und herschaukelnden Gaslaternen drängten ihren Schatten abwechselnd dicht vor ihren Füßen zusammen, um sie vorwärtsschießen und sich endlos dehnen zu lassen – nicht nur -1297-
vor ihnen, sondern auch seitlich und hinter ihnen, bildete das ganze einen unablässigen, lebhaften Tanz. Die Straßen und Prospekte waren wie leergefegt von Menschen; von Pferdefuhrwerken war erst recht nichts zu sehen. Nur gelegentlich begegneten sie einem einsamen Fußgänger, der nicht, wie Sunday und Edge, das nächtliche Schneegestöber und die frische, weißweinhelle Nachtbeleuchtung genoß, sondern dahineilte, um möglichst schnell irgendwo Unterschlupf zu finden. Doch in den Häusern gingen die Petersburger, wie Sunday richtig bemerkt hatte, keinesfalls früh zu Bett; wenn auch die Straßenlaternen weit auseinander lagen, erhellte doch reichlich Licht aus den Wohnhäusern die Bürgersteige. Und es gab auch noch andere Lichtquellen. Der himmelstürmende Spitzturm der Admiralität war von überallher sichtbar, denn nachts wurde er vom Dach eines der Häuser aus von einem Gasscheinwerfer angestrahlt. Die Vergoldung leuchtete hell, und sie konnten sogar die goldene, aus Krone und Schiff bestehende Wetterfahne ganz oben an der Spitze erkennen. Der Goldschimmer des Turms wurde vom Eis auf der Newa hinaufgeworfen zu den niedrig hängenden Schneewolken und färbte sie blaßorange; von dort aus wurde das Glühen wieder zurückgeworfen nach unten und von der Schneedecke der Stadt wieder hinauf, so daß das gesamte Zentrum von Fiter in dieser Nacht friedlich und glücklich, romantisch, fast zauberisch golden überhaucht dalag. Edge konnte nicht umhin zu bemerken, wie sehr dieses Licht den Schimmer von Sundays rehbrauner Haut noch verstärkte und in den Schneekristallen aufblitzte, die sich auf ihren langen Wimpern festsetzten. Dann jedoch erkannte er, daß es auch auf einer Nadel blinkte, mit der das Revers ihres Mantels festgesteckt war, und er sagte: »Einer von deinen Verehrern hat dir Schmuck geschenkt.« Sie ließ den Blick auf die Nadel niedersinken und sagte: »Die habe ich mir selbst gekauft. Solche Kostümnadeln sind hier ganz -1298-
groß in Mode jedenfalls unter uns Habenichtsen, die sich Gold und Edelsteine nicht leisten können.« Sie nestelte sie frei und reichte sie ihm. Die Nadel bestand nur aus Stahl, war jedoch mit scharfen Rändern facettiert und poliert, daß sie fast wie Sterlingsilber schimmerte. »Tulasilber nennt man das«, sagte sie, »und zwar halb humorvoll und halb abschätzig. Tula ist eine Stahlstadt irgendwo südlich von Moskau, das Sheffield Rußlands, nehme ich an.« Bewundernd sah Edge sie an und gab ihr die Nadel zurück. »Wo immer du bist, du lernst schnell alles, was man über den betreffenden Ort wissen muß. Du hast wirklich einen Kopf fürs Lernen, stimmt’s?« »Ja«, sagte sie, ohne übergroße Bescheidenheit. »Am liebsten befasse ich mich mit den kleinen, wenig bekannten Dingen der Orte, in denen ich mich aufhalte. Da ist es eine große Hilfe, mit den vielen Ausländern hier reden zu können. Zum Beispiel« – sie nahm die dröhnende Stimme eines Fremdenführers an – »gehen wir im Augenblick gerade an der Hofsängerschule vorbei und betreten den unendlich weiten und leeren Schloßplatz, der fast einen halben Kilometer im Quadrat mißt.« »Himmel, laß uns bloß sehen, daß wir schnell rüberkommen«, sagte Edge. »Ich glaube, der ganze Wind hat sich hier zusammengetan, um möglichst kräftig zu blasen. Auf den Pflastersteinen hält sich ja kaum eine Schneeflocke.« Sunday ging nicht darauf ein, sondern fuhr pedantisch fort: »Nun kann man in jedem Stadtführer nachlesen, daß die einzelne Säule, die da in der Mitte des leeren Platzes in die Höhe ragt, die Alexandersäule ist.« Sie lachte. »Furchtsame alte Damen gestatten ihren Kutschern nicht, in ihre Nähe zu fahren, weil sie sicher sind, daß etwas so Hochragendes und dem Wind schutzlos Preisgegebenes eines Tages umfallen muß.« »Das glaube ich auch«, sagte Edge atemlos, zog sie jetzt im Laufschritt über den windgepeitschten Platz und unter einem der -1299-
hohen Triumphbogen des Generalstabsgebäudes hindurch in eine geschützte Seitenstraße. »Donnerwetter! Ich muß schon sagen, für ein Kind der Tropen scheinst du völlig immun gegen kaltes Wetter.« »Der Tropen? Du weißt genausogut wie ich, wie kalt, verschneit und windig es im tiefen Winter in Virginia sein kann.« »Ich meinte ...«, sagte er und blieb stehen. Er hatte irgend etwas in Richtung »Afrika« sagen wollen. Sunday spürte das, woraufhin es in ihren Augen genauso stählern aufblitzte wie auf ihrem Tulasilber. So gingen sie weiter, immer noch Seite an Seite, gleichwohl jedoch mit einem etwas größeren Abstand zwischen sich. Entweder Sunday war wütend, oder sie schwieg, weil sie schmollte. Edges Schweigen hingegen verriet, daß er sich schämte. Gleichwohl suchte er im Geist nach irgendeinem unverfänglichen Thema, das er anschneiden konnte, und sagte zuletzt: Edge kniff die Augen zusammen und sagte: »Draufstehen tut offenbar nichts. Das einzige, was ich sehe, sieht aus wie zwei rote Lippen.« »Ein sprechendes Bild oder Bilderrätsel, richtig. Der Wirt heißt Kußmann und seine Kneipe wird insbesondere von den jungen Männern der Marine-Kadettenschule besucht. Die liegt dort drüben.« Sie zeigte hin »Teils wegen des Namens des Mannes und wegen seines Wirtshausschilds, teils aber auch, weil die Kadetten ihre Mädchen hierher führen, wird diese Brücke die Potselüy Mostik genannt, ›Brücke der Küsse‹.« Dieser Erklärung folgte ein ausgedehntes Schweigen. Dann sagte sie scheu: »Sollten wir nicht dazu beitragen, daß diese kleine Brücke ihren Namen verdient?« Edge lehnte sich über das Brückengeländer und sah hinunter auf den Kanal. Das hier von keinem Wind aufgewühlte Wasser -1300-
hatte eine dünne Eisschicht gebildet, die zweifellos von Minute zu Minute dicker wurde. Irgendwie genauso wie bei mir, dachte Edge. Doch plötzlich glitt – von einem einzelnen Muzhik gestakt – unter der ›Brücke der Küsse‹ ein mit Kohlrüben und Mangold beladener Kahn hindurch, das Eis knackte und zerbrach, und das Boot pflügte sich hindurch. Edge wandte sich Sunday zu, neigte den Kopf in der Absicht, ihr einen väterlichen Kuß auf die Lippen zu geben. Doch Sunday schlang ihm rasch die Arme um den Hals, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn leidenschaftlich. Es war rührend, daß sie darin ziemlich ungeübt war, doch ihre Lippen waren zart, der Kuß süß und ausdauernd, und Edge fragte sich, warum er so lange widerstanden habe. Doch dann fiel ihm eine Reihe von Dingen ein. Zwar stieß er Sunday nicht regelrecht von sich, doch als sie endlich aufhörte zu küssen und sich etwas zurückzog, um atemlos sagen zu können: »Ya lyublyü tebyä«, wollte er nahezu grob wissen: »Bedeutet das, was ich glaube, daß es bedeutet?« »Es sind die berühmten drei kleinen Wörter. Ganz so klein sind sie im Russischen gar nicht, oder? Ya lyublyü tebyä.« »Ganz so geringfügig sind sie in keiner Sprache, Sunday. So oder so sie können ein beträchtliches Gewicht annehmen. Doch sag so etwas nicht zu mir. Ich habe dich gern, gewiß. Du bedeutest mir sehr viel. Aber ich bin alt genug, dein Vater zu sein. Und trotz deines erwachsenen Verhaltens, deiner Redeweise und deiner Erscheinung, bist du immer noch zu jung, um dich selbst zu kennen.« »Zachary, habe ich dich geküßt, als ob ich nicht wüßte, was das bedeutet?« Ihre Augen waren geweitet und leuchteten glücklich im Licht von Kußmanns Kneipe. »Und eine Zeitlang hat es eben danach ausgesehen, als ob es auch dir etwas bedeutete.« »Pst! So was wird es nicht wieder geben. Heute abend habe -1301-
ich gerade erfahren, wie schlimm es für ein anderes junges Mädchen ausgehen kann, das es allzu eilig hatte, eine Frau zu werden. Heb dir diese Worte auf und warte, Sunday. Irgendwann wirst du einen Beau finden, der im Alter besser zu dir paßt. Der überhaupt in jeder Hinsicht besser zu dir paßt. Und wenn das passiert, dann wirst du es wirklich wissen. Warte es nur ab!« »Gut«, sagte sie ruhig. »Das werde ich tun.« Sie hatte sich jetzt von der Kneipe abgewandt, so daß Edge nicht sehen konnte, daß es in ihren braunen Augen immer noch warm glomm, auch ohne das geborgte Licht. »Ich werde warten. Und wenn es noch so lange dauert!« »Das ist schön. Damit beweist du wieder den gesunden Menschenverstand, den ich so an dir bewundere.« Sie gingen weiter. Um seine Schroffheit wettzumachen, nahm Edge freundschaftlich Sundays Hand. Diese steckte in einem Pelzhandschuh. Blitzschnell entzog sie sie ihm, schlüpfte aus dem Handschuh und legte ihre kleine, unbehandschuhte, warme Hand wieder in die seine. So schlenderten sie Hand in Hand weiter, redeten nicht und genossen gemeinsam die Stille. Sie überquerten einen weiteren Kanal und betraten wieder einen weitläufigen Platz, auf dem es jedoch trotz der äußerst fortgeschrittenen Stunde von Menschen nur so wimmelte, Fackeln aufflammten und große Geschäftigkeit herrschte. »Der Heumarkt«, sagte Sunday. Bei den Leuten handelte es sich fast ausschließlich um Bauern, die offenbar gerade vom Lande hereingekommen waren, gekleidet in formlose lange Mäntel und ebenso formlose dicke Filzstiefel. Die Leute bauten Verkaufsstände auf und bestückten sie mit Heuballen und Fellen, Körben mit Wintergemüse, Tabletts voller Dörrobst sowie gesalzenem und geräuchertem Fisch. Einer der Muzhiks war der Mann, der das Boot mit den Gelben Rüben und Mangold gefahren hatte. Außerdem sah man unter der Menge, wachsam sich umsehend, zahlreiche schwarzgekleidete -1302-
Gorodovois, die auffällig ihre Schlagstöcke wirbeln ließen. Sunday sagte: »Am besten machen wir, daß wir hindurchkommen. Hier sollte man nicht länger verweilen als unbedingt nötig. Man hat mir erzählt, dies sei der Treffpunkt der niedrigsten und verbrecherischsten Klassen – Schurken, Beutelschneider und vielleicht auch richtige Halsabschneider.« »Auch ich habe davon schon gehört«, sagte Edge. »In den Tagen vor der Abschaffung der Leibeigenschaft durch den Zaren ging es hier zu wie auf den Sklavenmärkten in Dixieland. Ein Kalb konnte man hier für ein paar Rubel bekommen, aber ein kräftiger Leibeigener, der brachte bis zu tausend – ungefähr denselben Preis wie für einen guten Feldsklaven daheim.« »Für was wohl ein junges Mulattenmädchen weggegangen wäre, das möchte ich mal wissen«, sagte Sunday. Es war das erste Mal, daß sie Edge gegenüber von ihrer Hautfarbe nicht in verbittertem Ton gesprochen hatte. Sie reckte den Kopf und sah lächelnd zu ihm auf. »Hättest du für mich geboten, Zachary?« »Das bezweifle ich.« Enttäuschung malte sich auf ihrem Gesicht. »Ach, das habe ich nicht so gemeint, wie es sich anhört. Meine Familie, weißt du, war arm. Wir haben niemals einen Sklaven besessen. Das war überhaupt nur selten in den Bergen Virginias der Fall. Genaugenommen war es so, daß unsere Blue Ridge-Boys zwar den verdammten Krieg über kämpften und auch fielen – aber das eigentlich nur für die reichen, sklavenhaltenden Plantagenbesitzer aus dem Flachland.« »Wie die Furfews«, murmelte Sunday. »Weißt du, es ist schon komisch ich kann mich kaum noch daran erinnern, daß ich jemand gehörte. Und ich bin froh, daß du nicht gefallen bist, Zachary.« Sie hatten den Heumarkt hinter sich gelassen und stellten fest, daß um diese ungewöhnliche Stunde auf der breiten Sadovaya noch mehr Menschen unterwegs waren. Ein Dutzend oder mehr Frauen, die meisten jung und einigermaßen hübsch anzusehen, -1303-
wenn auch vielleicht etwas allzu betont geschminkt und angetan mit billigen Wolfspelzmänteln, unter denen grellfarbige Röcke hervorschauten – wie gesagt, ein Dutzend dieser Frauen fuhrwerkte mit dem Besen herum und fegte den Schnee von den Pflastersteinen – und das unter der Aufsicht von einem Halbdutzend gelangweilt dreinschauender Gorodovois. »Ach du liebe Güte«, sagte Sunday, »ich hätte nie gedacht, daß Sankt Petersburg so hübsche Schippkolonnen hat.« »Die Damen sind auch nicht freiwillig Straßenfeger«, sagte Edge, »sondern ersparen der Stadt nur die Kosten für eine solche Räumkolonne. Ich habe solche oder ähnliche Kolonnen auf meinen Spaziergängen immer wieder gesehen. Das hier sind die – hm – Damen der Nacht, falls du weißt, was ich meine.« »Natürlich weiß ich das. Aber für gewöhnlich ist dies doch keine Arbeit für Prostituierte.« »Nun, die Polizei wird sie früher am Abend aufgegriffen haben wegen angeblicher Belästigung von Männern auf der Straße –, oder weil sie allein auf und abgingen und so aussahen, als ob sie darauf aus wären, Männer anzusprechen. Vergiß das nicht, wenn du selbst unterwegs bist. Man hat sie dann in der Revierwache festgehalten, und kurz vor Morgengrauen hergebracht, damit sie zur Strafe die Straße fegen. Danach läßt man sie wieder laufen.« »Die Ärmsten!« sagte Sunday. Plötzlich dämmerte Edge, was er da eben gesagt hatte: »Morgengrauen? Wenn sie schon beim Schneefegen sind, dann ist es wirklich bald Tag.« Außerdem merkte er, daß die Luft voll war von dem süßen Duft, der Sankt Petersburg jeden Morgen durchzieht: dem Duft von heißem, frisch gebackenem Brot. »Mein Gott, Sunday, wir sind die ganze Nacht unterwegs gewesen. Wo ist die Zeit nur geblieben?« »Sie ist auf die beste Weise verflogen, die ich mir vorstellen kann.« -1304-
»Schön, aber wir sind nicht im Bett gewesen.« »Nein, das nicht«, sagte sie mit unergründlicher Miene. »Das wäre noch besser gewesen.« »Bald, bald, Kleines. Ich weiß, du mußt völlig zerschlagen und hundemüde sein. Aber wir haben es nicht mehr weit bis zum Hotel. Wenn du das Frühstück ausläßt, kannst du bis zum Mittagessen schlafen. Verzeih, daß ich dich die ganze Zeit wachgehalten habe. Wahrscheinlich ... wahrscheinlich habe ich die Nacht zu sehr genossen, um zu merken, wie spät es ist. Tut mir leid.« »Das braucht dir nicht leid zu tun, Zachary. Was immer wir tun, ich möchte nie, daß es dir jemals leid tut.«
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6 »Herr Direktor«, sagte Willi, »ich habe mich diskret umgehört und nach einiger Mühe einen hochangesehenen Arzt gefunden, der bereit ist, sich unseres – unseres medizinischen Problems anzunehmen. Er ist zwar nicht begeistert, aber immerhin bereit, es zu tun. Ich habe ihm nicht meine FLORILEGIUM-Karte überreicht, sondern meine persönliche Visitenkarte. Als ich ihm sagte, ich hätte höchst unpassend eine Mulattin geschwängert, die überdies auch noch einen Tripper habe, erklärte er, es überrasche ihn keineswegs, so etwas von einem der verrückten bayerischen Wittelsbacher zu hören. Hier ist seine Adresse. Ich habe ihm gesagt, der Vater des Mädchens werde sie zu ihm bringen.« »Ich danke Ihnen für Ihr gutes Werk«, sagte Florian. »Obwohl ich nicht weiß, ob ich Ihnen dafür danken soll, daß Sie mich zum Vater einer Mulattin gemacht haben.« Steif meinte Willi: »Was meinen Sie, wie ich mir in der Rolle ihres Verführers vorgekommen bin! So mancher Wittelsbacher wird sich in seinem edlen Grab umdrehen angesichts dieser neuen Schmach, mit der ich seinen Namen besudelt habe.« »Sie haben recht, mich zu tadeln, Willi. Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar.« So fuhr Florian Monday eines Morgens in die Klinik des Doktor Bestuzhev. Monday machte ein Gesicht, das nichts Gutes verhieß, und biß beängstigend auf ihren Fingernägeln herum, doch sonst schien sie sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden zu haben. Florian versuchte, unterwegs ein fröhliches Gespräch mit ihr anzuknüpfen, erhielt zur Antwort jedoch nur Grunzer. Dann versuchte er, unbekümmert mit dem Arzt zu plaudern, erntete aber auch bei diesem nur einen verächtlichen Blick; später wurde ihm gesagt, er solle seine ›Tochter‹ morgen früh wieder abholen. -1306-
Als Florian am nächsten Tag wiederkam, war Mondays für gewöhnlich rehbraune Hautfarbe blaßgrau und sie war geschwächt, doch erklärte sie, der Eingriff sei bei weitem nicht so schmerzhaft oder quälend gewesen, wie sie befürchtet habe. Diesmal ließ sich der Arzt immerhin dazu herab, ein paar Worte unter vier Augen mit Florian zu reden. »Ich nehme an, Sie sind sich darüber im klaren, Gospodin, daß Ihr Enkel, der nun eine Fehlgeburt geworden ist, zu einem zweiten Puschkin hätte werden können. Unser großer Dichter hatte Negerblut in den Adern, aber das wissen Sie vermutlich; sein Urgroßvater stammte aus Abessinien. Dabei hätte Ihr Enkel natürlich genausogut auch ein ... ach, lassen wir das. Zweifellos haben Sie und sein Erzeuger das Richtige getan. Auf jeden Fall gebe ich Ihnen ein paar Medikamente mit, um die PolkovKrankheit Ihrer Tochter zu kurieren. Diese Quecksilber-ChloridPillen« die von tödlich bleierner Farbe und geformt waren wie kleine Särge – »muß sie dreimal täglich einnehmen. Und diese Silberlösung dient dazu, den Unterleib auszuspülen. Sorgen Sie dafür, daß das morgens und abends geschieht. Auf keinen Fall vergessen!« Auf der Fahrt zurück zum Taurischen Garten wiederholte Florian, was der Arzt ihm aufgetragen hatte, und nahm Monday das Versprechen ab, sich daran zu halten. »Keine Bange nich’«, sagte sie. »ich wer’ schon wieder sauber. Ich will keine Spur nich’ von dies’n Schuft zurückbehalt’n.« »Deine Kollegen und Kolleginnen glauben, daß du nur in die Klinik gegangen bist, um dich von deinem Bauchgrimmen zu kurieren, das dich länger geplagt hat als all die anderen.« »Gut. Ich wer’ n’ Teufel tun, all’n auf die Nase zu bind’n, weshalb ich wirklich hin bin. Mich kotzt dieser Mr. Demon an, ja, mich kotzt fast jedes Mannsbild an. Hab’ schon dran gedach’, wieder Jungfrau zu wer’n.« -1307-
»Wie bitte?« »Ich hab’ sogar dran gedach’, in eins von dies’n Häusern einzutret’n diesen Häusern, in den’ bloß Nonn’n leb’n.« »In ein Kloster? Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß sie behaupten, jemand wieder zur Jungfrau zu machen. Spürst du plötzlich eine religiöse Berufung?« »Nö. Aber ich kann mich genausogut mit Frau’n verlustier’n wie mit’m Mann. Jed’falls brauch’ ich dann keine Angst vor krank’n Schürz’njägern un’ ’n Baby in mein’ Bauch zu ha’m.« »Jedenfalls solltest du im Moment noch nicht den Schleier nehmen. Wir haben ein paar Überraschungen für dich, um dich wieder in unserer Mitte willkommen zu heißen. Bei einer handelt es sich um einen neuen Trick in deiner Nummer. Nachdem du den Applaus für den Hochseilakt von Cinderella entgegengenommen hast und wieder unten bist, werden Brutus und Caesar mit ihren Rüsseln ein Seil zwischen sich aufspannen, über das du rüberlaufen kannst. Oder drauf tanzen oder Salti machen was immer du willst.« »Hmmmm ... klingt nich’ schlecht.« Doch dann versetzte sie bissig: »Aber mach’n tu ich das nur mit Hannibal als Elefant’nkutscher, klar? Ich will dies’n Mr. Demon nich’ in meiner Nähe ha’m – un’ auch mit mein’ Nummer soll er nix zu tun ha’m.« Dabei war es der völlig zerknirschte Pemjean gewesen, der sich die Sache mit den beiden Elefanten ausgedacht hatte und mit Peggy und Mitzi daran arbeitete. Florian willigte gleichwohl in Mondays Verlangen ein: Warum sollte nicht Abdullah diesen einen Trick mit den Dickhäutern durchziehen? »Du hast gesagt, ’ne Reihe von Überraschungen.« »Worin die zweite bestehen soll, weiß ich noch nicht genau. Aber unser Pressechef – der sich bei dieser Gelegenheit wieder als Baron Wittelsbach vorstellte – hat heute dem Winter-Palast einen Besuch abgestattet, um Colonel Ramrods -1308-
Empfehlungsschreiben für die Zarin Maria Alexandrowna abzugeben. Oder zumindest dem ranghöchsten ihrer Kammerherren oder Hofdamen, an die er herankommen konnte. Kann also durchaus sein, daß wir demnächst in Privat-Audienz empfangen werden, oder zu einem Tee in kleinem Kreis eingeladen, oder einer Soiree oder einem Hofball – wer will das schon wissen? Fest steht jedoch, daß wir bald mit dem Hofadel verkehren werden.« »Na, das is’ja wohl ’m Verkehr mit Nonn’n vorzuzieh’n. Schön, ich wer’ mich bemüh’n, wieder zu Kräft’n zu komm’ un’ wieder als Seiltänzerin zu arbeit’n.« Draußen auf dem Festplatz war Willi vom Palast zurück und berichtete: »Selbstverständlich hat man mich nicht gleich bei Ihrer Kaiserlichen Majestät vorgelassen; schließlich bin ich völlig unangemeldet gekommen. Aber ich habe es geschafft, den Brief in die Hände der überaus huldvollen Gräfin Warwara Nikolajewitch Khwoschinski gelangen zu lassen, die ihn bestimmt weiterleitet. Uns bleibt jetzt nichts weiter übrig« – er spreizte die Hände – »als zu warten.« Zwei Tage später stand Monday wieder auf dem Seil. Sie behauptete, wieder vollkommen auf dem Damm zu sein, und sah auch so aus; vorgestellt wurde sie dem Publikum von Florian als ›Gospozhyá Zolushka‹, das russische Gegenstück zur ›Mademoiselle Cinderella‹ – und das alles gerade zur rechten Zeit, so daß Wassili Marchan vom TSIRK CINIZELLI sie sah, der dem FLORILEGIUM just an diesem Tag wie versprochen seinen Besuch abstattete. Wie alle anderen Zuschauer im restlos ausverkauften Haus war auch er hin- und hergerissen von ihrer Schornsteinfegernummer und wollte sich ausschütten vor Lachen bei ihrer Zugabe auf dem Seil, das die beiden Elefanten mit dem Rüssel straff hielten, denn der Gnom Grille – auf russisch Syverchok – hatte dem Trick zusätzlich einen kleinen lustigen Dreh verliehen, ehe er das erstemal vorgeführt wurde. Während die ›Gospozhyá Zolushka‹ für den Applaus dankte -1309-
und sich auf dem Abgangsbrett hoch unter der Circuskuppel verneigte, führte Abdullah Brutus und Caesar in die Manege; zusammen mit den Elefanten kam auch die Liliputanerin und wankte unter der Last eines aufgeschossenen Seils auf jeder Schulter. Sie war zurechtgemacht wie ein Clown und hatte einen viel zu weiten Rock an, ein Überbleibsel des dahingeschiedenen Ali Baba. Nachdem sie Brutus ein Seilende gereicht hatte, damit er es mit dem Rüssel festhalte, verwickelte sich Grille in ein Tauziehen mit dem großen Elefanten – mit Anklängen an den Trick, den früher der Quakemaker vorgeführt hatte. Dann schoß der Elefant Caesar mit dem Rüssel vor und packte das Seil, das Grille aufgerollt über der anderen Schulter trug. Für einen Moment sah es ganz so aus, als werde die kleine Frau auseinandergerissen – hielt sie doch verzweifelt an beiden Seilen zugleich fest, wobei die anderen Enden der Seile unerbittlich von den beiden zurück- und auseinanderweichenden Elefanten straff gezogen wurden. Die Gaffer, die laut über Grilles Possen gelacht hatten, hielten in der Erwartung, daß sie gleich auseinandergerissen würde, den Atem an. Die Liliputanerin wurde tatsächlich hochgehoben, als die beiden Dickhäuter die Seile zwischen sich spannten und starrköpfig keines fahren lassen wollte. Dann lachte das Publikum erleichtert auf, als die Zwergin aus dem viel zu weiten Rock herausrutschte, behende im Sagemehl der Manege landete und sich zeigte, daß die beiden Seile in Wirklichkeit eines waren, das man durch die Ärmel gefädelt hatte, so daß der Rock jetzt lustig flatternd wie auf einer Wäscheleine hing. ›Gospozhyá Zolushka‹ war inzwischen vom Abgangsbrett herunter- und auf den Kopf von Caesar hinaufgeklettert. Jetzt hüpfte sie den Rüssel des Elefanten hinunter und stieg auf das straff gespannte Seil, absolvierte rasch ihre frühere Nummer und schloß damit, daß sie über den am Seil hängenden Rock stolperte und so tat, als stürze sie ab. Wieder hielten die Gaffer vernehmlich die Luft an, brachen dann wieder in Lachen aus, als -1310-
Monday den eigenen Fall dadurch abfing, daß sie mit den Armen in die Ärmel des Rockes hineinschlüpfte. Abdullah gab einen Befehl, die beiden Elefanten gingen langsam aufeinander zu und ließen Zolushka sanft zu Boden, wo sie sich – zusammen mit der kleinen Syverchok – viele Male verneigte. Marchan klatschte, trampelte genauso begeistert mit den Füßen, wie jeder andere Gaffer, und ließ sich Florian gegenüber laut vernehmen: »Prevoskhonyi. Um ein solches Talentbündel beneide ich Sie. Ich selbst habe in der letzten Zeit niemand mehr engagiert außer einem schrecklich dummen Kraftmenschen. Ich kann Sie ja wohl nicht dazu bewegen, sich von einem Ihrer Artisten zu trennen, oder?« »Mit dieser Annahme haben Sie völlig recht, Gospodin Marchan. Im Gegenteil, ich halte ständig Ausschau nach neuen Mitgliedern für unsere Truppe. Entschuldigen Sie, aber ich muß jetzt das Finale anführen.« Nachdem dieses beendet war, kehrte Florian zu Marchan zurück, der sagte: »Ich kann gut verstehen, daß Sie Ihre Truppe nicht verkleinern möchten, aber vielleicht können Sie sich aus menschlichen Gründen dazu verstehen.« »Wie beliebt? Machen einige von uns vielleicht den Eindruck, schlecht behandelt zu werden?« »Njet, njet, njet. Selbstverständlich nicht. Aber sagen Sie mir, wie kommen Sie zu den drei koreanischen Ikariern?« »Die habe ich in Baltimore aufgegriffen, wo sie hilflos gestrandet waren und nicht wußten, wohin. Baltimore ist ein Seehafen an der Ostküste der Soyedinenneye Shtáti. Woran haben Sie erkannt, daß es sich um Koreaner handelt?« »Ich bin bei Gelegenheit ein ganzes Stück nach Korea hinein gekommen – als ich mit meinem Tsirk durch Sibirien zog. Wenn diese Männer gestrandet waren, und noch dazu in einem Seehafen, vielleicht wollten sie dann wieder nach Hause?« »Ich habe keine Ahnung. Keiner von uns spricht ihre -1311-
Sprache.« »Ich aber, einigermaßen jedenfalls. Gestatten Sie, daß ich ihnen ein paar Fragen stelle?« »Aber gern.« Florian schickte einen Racklo, die Kim-Brüder zu holen. »Vielleicht sollte ich Ihnen bei dieser Gelegenheit erzählen, daß wir beide Konkurrenz bekommen haben«, sagte Marchan. »Ein reisender Balagan hat am Fluß aufgebaut, hinten beim Bronzereiter. Nichts weiter als ein primitives, handgekurbeltes Koleso und ein eisrutschiges Salázki. Und natürlich die üblichen Verkaufsbuden und -stände, in denen Andenken, Tand, Leckereien und heiße Würstchen verkauft werden.« »Ich weiß, was ein Koleso ist«, sagte Florian. »Eins von diesen hochgestellten Rädern mit eingehängten Booten darin. Aber was ist ein Salázki?« »Hm ... manche nennen es ›Englischen Berg‹.« Marchan fuhr fort, es zu beschreiben, und Florian sagte: »O ja. Was man im Westen einen Toboggan nennt.« »Wie auch immer. Ich habe nur im Spaß von Konkurrenz gesprochen. Die einfachen Kniffe und Tricks, die ein Balagan zu verkaufen hat, ziehen vor allem Kinder an.« »Ich denke«, sagte Florian, »ich werde hingehen und den Besitzer auffordern, hierher auf unseren Festplatz umzuziehen. Davon könnten wir beide etwas haben: wir und seine Klitsche. Mir jedenfalls würde es sehr gefallen, draußen vorm Eingang zum Chapiteau wieder eine Budenstraße zu haben.« Die Kim-Brüder machten ein finsteres Gesicht, wie immer, wenn etwas Ungewöhnliches sich tat. Dieses hellte sich jedoch auf, als Marchan sie mit »Anyong hasimnika?« begrüßte, auf das sie einmütig glücklich mit einem »Ne, komapsumnida!« antworteten. Marchan redete mit ihnen und sagte dann zu Florian: »Sie würden gern heimkehren nach Korea, und ich habe -1312-
ihnen gesagt, ich würde diesen Sommer in Richtung ihrer Heimat ziehen. Ich habe nämlich vor kurzem beschlossen, nach Osten zu ziehen, statt in den Süden, wenn wir Piter verlassen. Durch Sibirien.« »Ganz bis nach Korea?« fragte Florian verwundert. »Das muß ja über viertausend Kilometer von hier sein.« »Ich werde nicht ganz bis Korea ziehen, njet. Aber wenn ich diese Männer bis an die mandschurische Grenze mitnehme, sollten sie es ohne Schwierigkeiten schaffen, auch den Rest der Strecke zurückzulegen.« »Zwischen Petersburg und der Mandschurei liegen doch bestimmt nicht genug große Städte, daß eine solche Tour sich lohnen würde?« »Nein, die gibt es in der Tat nicht. Und selbstverständlich können Sie mich fragen, warum ich und meine Truppe eine solche mühevolle Reise auf uns nehmen? Tak, ich will es Ihnen sagen. Zum Teil tue ich es aus Altruismus, weil die elenden Sibirier selten etwas Unterhaltung geboten bekommen; es kommen überhaupt kaum Leute von außen hin. Teils aber auch – und das sage ich Ihnen im Vertrauen –, weil es dort draußen so viele Nihilisten wie mich selbst gibt. Manche im Gefängnis, manche in der Verbannung, und manche im Untergrund. Irgendwie gelingt es uns zusammenzukommen und Pläne zu machen, Komplotte zu schmieden und Intrigen zu spinnen.« »Ah.« »Darf ich Ihre Koreaner mitnehmen und ihnen helfen, zurückzukommen in die Heimat?« »Nun ...«, Florian sah sie sich an, wie freudig erregt sie herumtanzten. »Ne! Ne! Ne!« Marchan sagte: »Weil sie unterwegs für mich auftreten würden, wäre es nur fair von mir, wenn ich Ihnen eine Art -1313-
Ersatz für sie anböte. Haben Sie keine Lust, unsere Platzanweiserinnen und Tänzerinnen zu engagieren? Die Mädchen stammen alle von hier und sind noch jung; folglich werden die Eltern sie nicht auf Reisen gehen lassen.« »Hm ... ich habe zwar Tanzmädchen haben wollen, aber bis jetzt hat unser Sir John kein Glück gehabt, welche zu finden.« »Dann ist es abgemacht. Wir tauschen einfach, nur noch nicht gleich. Ich selbst werde nicht vor Mitte Mai aufbrechen, tak. Die Petersburger fangen erst jetzt an, ihre Veilchen zu pflücken.« »Wie bitte?« »Sind Ihnen denn nicht die vielen Bauernwagen und Karren aufgefallen, die die dicken blauen Eisblöcke von der Newa transportieren?« »Doch. Und blau sind sie schon, aber – Veilchen?« »Trotzdem werden sie so genannt: die Veilchen von Sankt Petersburg. Die Leute brechen das Eis heraus, um ihre Kühlhäuser zu füllen, ehe das Frühlingstauwetter das Eis auf dem Fluß bersten läßt. Deshalb gelten die vielen Eiskarren als Vorboten des Frühlings, genauso wie in wärmeren Klimazonen die richtigen Veilchen.« »Ich verstehe. Nun, wenn Sie erst im Mai aufbrechen, werden die Kim-Brüder lange genug bei uns sein, um ...« Florian sprach nicht weiter. Er war drauf und dran gewesen zu sagen, daß die Kims noch da sein würden, um vor dem Zarenhof aufzutreten, überlegte dann jedoch, daß das einen Nihilisten von echtem Schrot und Korn aus der Haut fahren lassen oder kränken könnte, und so wiederholte er nur lahm: »Lange genug.« »So ein unvorteilhafter Handel ist sonst nicht deine Art, Governor«, sagte Edge, als Florian ihm davon berichtete. »Marchan kriegt die Kims, und wir bekommen die Mädchen, die er ohnehin zurücklassen müßte.« »Ich wäre mit jedem Vorschlag einverstanden gewesen. Du -1314-
ahnst ja nicht, wie glücklich die Koreaner waren, wieder nach Hause zu kommen! Wenn sie das schaffen, sind sie einmal rund um die Welt. Immerhin sollte dies dir eine Lehre sein, Colonel Ramrod.« Florian setzte eine feierliche und selbstgefällige Miene auf, doch das Lächeln in seinen Augen strafte die Feierlichkeit Lügen. »Wenn es einmal soweit ist, daß du Prinzipal dieses oder eines anderen Circus wirst, erinnerst du dich an dieses kleine bißchen Mitgefühl heute hoffentlich genauso wie daran, daß ich gelegentlich Leuten was vormache, sie an der Nase herum oder hinters Licht führe und ihnen einen Bären aufbinde.« Edge schnaubte: »Ich hoffe nur, ich komme nie in die Lage, die Verantwortung für einen ganzen Circus zu tragen!« »Aber das wirst du, Mann, das wirst du. Schließlich werde ich nicht ewig leben.« Florian lachte, als wäre diese Feststellung wirklich nichts weiter als dummes Gerede. »Nun, vorläufig wollen wir Sir John sagen, er soll die Anzeigen streichen, die er in den Zeitungen eingerückt hat, und sich nicht weiter nach Tanzmädchen hier umschauen. Wo steckt er eigentlich?« »Ist wieder Mädchen angucken gegangen«, sagte Meli, »zusammen mit Maurice.« Sie zog ihren Nerzmantel über das mit Silberpailletten bestickte Trikot, so daß sie aussah wie ein silberschuppiger Fisch. »Ich hole. Glaub’, er versucht es in Schule für Adlige Junge Mädchen, und ich trau’ ihm nicht ...« – sie lächelte, um zu zeigen, daß sie das nicht ernst meinte – »mit so vielen hübschen jungen Rosithoi.« Obwohl es noch keine sechs Uhr war, als Meli den Festplatz verließ – und wenngleich die Petersburger bereits ihre Frühlingsboten, die ›Veilchen‹, brachen –, war es fast schon dunkel, und die Böhmen zündeten die Fackeln an, die den Zugang zum Chapiteau erhellten. Meli schlug jedoch nicht diesen beleuchteten Weg ein. Sie eilte durch den Schnee, der sich nördlich vom Festplatz dehnte, um vom Park am Potemkinschen Palais vorüber die Shpalernaya zu erreichen und -1315-
dieser bis zum Smolny-Internat für Junge Damen von Adliger Geburt zu folgen. Sie suchte sich den Weg durch eine besonders dunkle, an diesem Palais entlangführende Arkade, als sie unvermittelt ohne jeden Warnlaut von hinten gepackt wurde. Meli stieß nur einen leisen Ausruf der Überraschung aus: »Idoú!«, denn sie nahm an, es handele sich um Fitzfarris, der sie auf dem Rückweg zum Festplatz überraschen und abfangen wollte. Als sie herumgedreht wurde, sah sie, daß es nicht Fitz war. Einen Moment erkannte sie den in einen dicken Mantel gekleideten Mann nicht. Er hatte sich den verwegenen Schnauzer abrasiert und sich dafür einen buschigen Vollbart stehen lassen. Seine Stimme jedoch erkannte sie, als er einschmeichelnd sagte: »Hast du gedacht, du würdest mich nie wiedersehen, Hellenin? Hast du dir eingebildet, ich würde mich kleinlaut davonschleichen und es dir freistellen, dir einen anderen Mann zu suchen und deinen lieben Shadid zu vergessen?« »Du? Was willst du?« »Was ich immer wollte. Dich, wann immer es mir gefällt. Und jetzt will ich dich, auf der Stelle. Welch angenehme Überraschung, nach all meinen Irrwegen festzustellen, daß mein alter Circus hier in Sankt Petersburg ist und du immer noch dabei.« Meli wollte sich ihre Furcht nicht anmerken lassen; mit fester Stimme sagte sie: »Jawohl, ich hab’ jetzt neuen Mann. Dem werd’ ich von dir erzählen. Er wird kommen und dich töten. Er kein Spyros.« »Er aber auch kein Shadid«, sagte der Furchtbare Türke und äffte ihre Sprechweise nach. »Es ist der halbblaue Square John, nicht? Du siehst, ich habe meine alten Freunde schon eine ganze Zeitlang beobachtet. Beobachtet – und auf diese Gelegenheit gewartet. Du hast immer was für Halbmänner übrig gehabt, -1316-
stimmt’s, Hellenin? Ich aber bin ein ganzer Mann. Soll dein halbblauer ruhig kommen, wenn er es wagt.« »Du bist überhaupt kein Mann. Du bist ein Okili.« Wenn der Türke das griechische Wort für ›Hund‹ verstand – es kränkte ihn nicht. »Freut mich zu sehen, daß dein neuer Halbmann dich wenigstens anständig anzieht. Dieser schöne Pelz wird ein weiches Lager auf dem Pflaster hier abgeben.« Er riß den Nerzmantel vorn auf, so daß die pelzumhüllten Knöpfe nach allen Seiten flogen, und warf Meli so auf den Rücken, daß der Mantel sich links und rechts von ihr ausbreitete wie dunkle Vogelschwingen. Dann bückte er sich, packte sie oben am Trikot und riß noch einmal. Schließlich schleuderte er ihre letzte Hülle – das kleine Cachesexe – fort. Meli wimmerte, weniger vor Angst als vor der eisigen Kälte, die plötzlich über ihre bloße Haut herfiel. Das tat Shadid jedoch nicht sofort. Er nahm sich vielmehr Zeit, langsam und lüstern den Blick über ihren Leib wandern zu lassen. Dann sagte er: »Du hast jetzt soviele Männer, daß dein Göbek ganz ausgeleiert sein muß.« Er langte mit der Hand hoch zur Dachtraufe – die für ihn nicht zu hoch war – und brach einen langen Eiszapfen mit abgerundeter Spitze ab. Diese Spitze schlug er ab, so daß er jetzt einen Eisprügel in der Hand hatte, so lang und so dick wie der Unterarm eines Mannes. Meli erschrak und schlug schützend die Hände vors Gesicht; so war sie auf das, was geschah, völlig unvorbereitet. Mit schnurrender Stimme sagte Shadid: »Ich will dich ja nicht schlagen!« – dann rammte er den harten und eisigen Prügel in sie hinein, so tief es nur ging. Die Racklos waren mit dem Entzünden der Fackeln gerade fertig geworden, als sie den Schrei hörten. Sie schauten sich nach allen Seiten um, konnten aber jenseits des Lichtscheins, den die Fackeln warfen, nichts erkennen. Nachdem sie sich halblaut besprochen hatten, kamen sie zu dem Schluß, daß der -1317-
Schrei von einem der Pferde gekommen sein mußte, die in dem alten Palast untergebracht waren; vielleicht war es von einer Ratte in seiner Box erschreckt worden. Meli hatte nur diesen einen Schrei ausstoßen können, dann war sie von dem Schock gelähmt und im ersten Moment ohne jedes Gefühl. Sie konnte nur auf ihrem ausgebreiteten Pelzmantel daliegen; die Augen wollten ihr zu den Höhlen herausquellen, und den Mund hatte sie aufgerissen, war jedoch gleichwohl außerstande, sich zu wehren oder sich der Pfählung zu entwinden. Shadid hielt den Eiszapfen fest, so daß er sich nicht rührte, und sagte dann begütigend: »Das wirkt wie eine Alaunspülung, du wirst schon sehen. Wenn ich ihn rausnehme, wird dein armer, abgenutzter, schlaffer Göbek sich zusammenziehen und wieder wunderbar eng für mich sein.« Der Türke irrte. Als er versuchte, den Eiszapfen vorsichtig herauszuziehen, blieb er, wo er war. Er war an Melis inneren Schleimhäuten festgefroren, so wie ein sorglos an die Lippen geführter eiskalter Blechbecher an den Lippen festfriert. Shadid mußte reißen, um den Eiszapfen herauszubekommen – und als er herauskam, klebten kleine rosa Fetzen daran. Die Böhmen auf dem Festplatz schraken über einem womöglich noch grauenhafteren Schrei nochmals zusammen und sagten sich, irgendwer müsse drüben im Stall des Palais den Pferden das Brandzeichen aufdrücken. »Als ob wir weiße Sklaventreiber wären«, brummte Fitzfarris, als er ein wenig später mit LeVie zum FLORILEGIUM zurückkehrte. »Die Nonnen haben uns rausgejagt, ehe Maurice auch überhaupt nur fragen konnte, ob irgendwelche von den Schulmädchen französisch könnten.« »Ach, macht nichts«, sagte Florian. »Ich habe eine Vereinbarung getroffen, bald die CINIZELLI-Mädchen zu übernehmen. Wieso, erkläre ich dir später. Du solltest jetzt Meli suchen gehen, denn sie wollte dich an der Smolny-Schule abholen.« -1318-
»Da bin ich ja überflüssig, ami«, sagte LeVie. »Außerdem reicht mir die Kälte. Ich muß erst einmal auftauen.« So machte sich Fitzfarris allein auf den Weg, und ein Böhme zeigte ihm, in welche Richtung Meli gegangen war. Fitz folgte ihrer Spur durch den Schnee und wäre fast über sie gestolpert. Sie lag auf halbem Weg zwischen Festplatz und Palais, am äußersten Ende einer weiteren Spur einer Spur roter Tropfen, die im Schnee gefroren waren. Mit einem erschrockenen Fluch beugte sich Fitz über sie; sie stöhnte, immerhin lebte sie noch. Er schob ihr einen Arm unter die Schultern und den anderen unter die Kniekehlen und hob sie hoch. Sie war vor Kälte fast steifgefroren, und ihre Hände wirkten wie erstarrt in der Bewegung, den Pelz um sich zu ziehen. Doch vom Saum ihres Mantels tropfte weiterhin Blut und wurde zu Eis, noch ehe es den Schnee erreichte. Zurückwankend zum Festplatz, fragte Fitz: »Meli, kannst du sprechen? Was, zum Teufel, ist passiert?« Ihre blauen Lider schienen vor Anstrengung zu knirschen, als sie versuchte, sie hochzuschieben. Panische Angst flackerte in ihren Augen, und der steifgefrorene Leib verkrampfte sich, so daß Fitz sie um ein Haar hätte fallen lassen. Doch als sie ihn erkannte, murmelte sie mit blaugefrorenen Lippen seinen Namen. »Ja, ich bin’s. Du bist jetzt in Sicherheit. Du wirst im Handumdrehen wieder auf den Beinen sein. Das kriegen wir schon hin. Aber was ... wer hat dir das angetan?« Geistesgegenwärtig, mit zitternden Lippen und zähneklappernd sagte sie: »Minmm ... muzhik ...« »So ein Schwein!« knurrte Fitzfarris. Als er mit seiner Bürde ins Chapiteau kam, gefolgt von ein paar Racklos, sagte er außer Atem: »Es ist Meli. Sie ist verletzt.« Sofort rief Florian einem der Böhmen zu: »Hol den erstbesten Wagen, der angespannt ist!« Und einem anderen befahl er: -1319-
»Wolldecken und Pelze, schnell! Die Käfigabdeckungen. Irgendwas!« Und zu Fitz: »Komm, Sir John. Ich weiß einen Arzt, gar nicht weit von hier.« So klopfte Florian bereits eine Viertelstunde später an die Tür der Praxis von Doktor Bestuzhev, riß sie, ohne auf ein Herein zu warten, auf und stürzte hinein. Als Bestuzhev erschien, beschwerte er sich mit keinem Wort über dieses ungewöhnliche Eindringen zu so später Stunde, sondern gab Fitzfarris nur durch eine Handbewegung zu verstehen, er solle die Frau auf eine Couch im Vorzimmer legen. Der Arzt schlug die Decken auseinander, in die sie eingehüllt war, sah sich ihren blauweißen, blutverschmierten Leib an und sagte dann sarkastisch zu Florian: »Wieder eine Tochter? Sie scheinen nicht besonders gut auf sie acht zu geben, Gospodin. Warten Sie beide hier!« Damit nahm er selbst Meli hoch und trug sie in einen anderen Raum. Nachdem sie beide wieder zu Atem gekommen waren, fragte Florian Fitz: »Hast du eine Ahnung, was mit ihr passiert ist?« »Nein. Aber es muß ihr irgend jemand Gewalt angetan haben. Alles, was sie hervorbrachte, war: Muzhik. Irgend so ein verdammter Bauer, der ihr im Dunkeln aufgelauert hat. Die Hunde sehen alle gleich aus. Den Schuldigen finden wir nie!« »Ich denke doch«, sagte Florian bedächtig, »denn ich glaube, daß Meli gelogen hat.« »Wie bitte? Nun hör aber mal auf, wenn du sie jetzt auch noch verleumden willst ...« »Ich verleumde sie doch nicht. Im Gegenteil, man kann sie gar nicht hoch genug loben. Überleg doch mal, Sir John. Wer war es, der ihr zuvor Gewalt angetan hat, immer und immer wieder, und für den Tod ihres Mannes verantwortlich war? So elendiglich Meli auch dran sein mag, sie hat versucht, dir ein ähnliches Schicksal zu ersparen.« »Der Türke?« sagte Fitz ungläubig. »Himmel, den sind wir -1320-
doch schon in Ungarn losgeworden.« »Wir haben ihn aber nicht vom Antlitz der Erde verschwinden lassen. Und heute glaube ich, genau das hätten wir tun sollen. Heute nachmittag erwähnte Wassili Marchan, er habe erst vor kurzem einen Kraftmenschen für seinen TSIRK CINIZELLI engagiert. Ich habe dem weiter keine Bedeutung beigemessen, aber jetzt ...« »Himmelherrgott noch mal!« fluchte Fitz. »Nun, warten wir ab, was der Arzt sagt. Aber ich schnapp’ mir eines von Zacks Gewehren und ...« »Nun komm mal wieder auf den Boden, Sir John. Was deine Absichten betrifft, stimme ich natürlich voll und ganz mit dir überein. Von allem anderen mal abgesehen, wir können unmöglich zulassen, daß es zwei Shadid Sarkioglu hier in Sankt Petersburg gibt. Aber ich werde nicht zulassen, daß du ...« »Ich will zur Hölle fahren, wenn ich erst auf deine Erlaubnis warte ...« »So barbarisch dieses Land ist«, fuhr Florian fort, »Mord bleibt auch hier nicht ungesühnt. Wenn der Türke dich nicht umbringt, bevor du ihn umbringen kannst, kannst du sicher sein, daß es die Behörden tun werden. Und was hätte Meli von deiner Kühnheit und Ritterlichkeit? Sie wäre nur ein zweitesmal Witwe.« »Ich soll feige zur Polizei laufen und ihn anzeigen? Um den Schutz des Gesetzes zu winseln? Den Türken wegen Notzucht anzeigen und womöglich zusehen, wie er mit hundert Knutenhieben davonkommt?« »Nein, nur eine Memme würde das Gesetz bitten, Rache für ihn zu nehmen. Außerdem kann dabei herauskommen, daß zwei Shadids herumlaufen, und das könnte uns allen gefährlich werden.« »Du und dein gottverfluchtes praktisches Denken! Was denn schlägst du wirklich vor?« -1321-
»Mord ist ein Kapitalverbrechen. Ein Duell nicht – sofern es außerhalb der Stadtgrenzen ausgetragen wird. Man versucht zwar, das Duellieren einzuschränken, gewiß, aber unter Strafe fällt es nicht, jedenfalls nicht als fait accompli.« Fitz fiel die Kinnlade herunter. »Soweit ich gehört habe, ist der Park von Katharinenhof sehr beliebt als Austragungsort von Pistolenduellen.« In diesem Augenblick trat der Arzt aus dem Nebenraum und sagte zu Florian: »Ihre ›Tochter‹ wird wieder gesund werden, Gospodin.« Florian stieß einen Freudenlaut aus, kam aber nicht dazu, mehr zu sagen. »Sie leidet hauptsächlich unter Blutverlust und steht unter Schock, aber sie ist eine kräftige Frau. Sie hat keine ernsthaften Erfrierungen davongetragen, und die inneren Verletzungen werden verheilen. Was, in Gottes Namen, ist ihr geschehen?« Florian sagte, sie sei wahrscheinlich im Dunkeln von irgendeinem unbekannten Notzüchter überfallen worden. »Der Schuft muß einen abgebrochenen Flaschenhals benutzt haben, statt seines eigenen Werkzeugs«, sagte Bestuzhev. Er sah Fitzfarris an. »Ist das ihr Mann? Sagen Sie ihm, er könne die Frau mit nach Hause nehmen; allerdings muß sie ein paar Tage das Bett hüten. Er selbst aber soll sich ihrem Bett fernhalten. Es wird einige Zeit dauern, ehe sie wieder zu körperlichen Beziehungen imstande ist. Ganz abgesehen davon, daß es wohl lange dauern wird, ehe sie diese von sich aus wünscht. Ich gebe Ihnen ein paar Eisenpillen mit, dazu Lebertran, damit der Blutverlust rasch behoben wird. Und ein paar Zäpfchen, die inneren Schmerzen ein wenig zu betäuben.« Florian gab diese Informationen an Fitzfarris weiter und fragte den Arzt dann, ob es noch etwas gebe. »Ja, Gospodin«, sagte Bestuzhev sarkastisch. »Bitte, klären Sie mich auf, wieviele Töchter Sie noch haben?« Florian war leicht gerötet, als sie sich verabschiedeten. -1322-
Zwischen sich stützten sie die immer noch blauweiße, sonst aber wesentlich munterere Meli. Im Wagen auf der Fahrt zurück zum Festplatz redete Fitz ihr sanft ins Gewissen: »Warum hast du mir einreden wollen, es wäre irgendein Muzhik gewesen, wo es doch wieder dieser Unhold war, der Türke?« »Ai, Kristos!« sagte sie leise. »Habe ich im Delirium geredet?« »Nein. Ich habe es trotzdem herausgefunden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« »Und doch gibt es dazu was zu sagen. Ai, Ziano! Versprich mir, daß du keinen Streit mit diesem Türken anfängst!« »Ich glaube nicht, daß es Streit geben wird. Ich werde mich wie ein Gentleman verhalten und sanft sein wie ein Lämmchen«, sagte Fitz mit zusammengebissenen Zähnen. »Der Governor hat mich bereits davon überzeugt, daß das das beste ist.« »Dann danke ich Ihnen, Kyvernitis Florian«, sagte Meli, wandte sich ihm zu und legte ihm eine blasse, kalte Hand auf den Arm. »Diesen guten Mann Ziano will ich nicht verlieren.« Am nächsten Morgen kam Fitzfarris zu Florian in den Roten Wagen, um ihm zu sagen: »Heute nachmittag gehe ich rüber zum Circus CINIZELLI und überbringe dem gottverdammten Türken zwischen Nachmittags- und Abendvorstellung meine Forderung.« Florian nickte. »Wie geht es Meli?« »Sie hat eine unruhige Nacht hinter sich. Wachte immer wieder schreiend auf. Aber sie kommt schon wieder in Ordnung. Nun, nach dem, was ich aus der Lektüre über Duelle weiß, wird von mir erwartet, daß ich dem Schwein einen Handschuh ins Gesicht klatsche und es dann auffordere, sich beim Morgengrauen mit mir zu treffen. Macht man das so?« -1323-
»So steht es in Romanen. Du brauchst nur vor irgendwelchen Zeugen zu sagen, du wolltest dich mit ihm duellieren. Dann jedoch mußt du ihm Zeit geben, sich einen oder mehrere Sekundaten zu suchen. Dann beraten seine und deine Sekundanten, um Zeit und Ort festzulegen. Hast du irgendwelche Sekundanten?« »Bis jetzt nicht, aber ich nehme an, Zack wird mir den Gefallen erweisen. Er ist schon dabei, zwei Revolver zu reinigen und zu laden. Dasselbe Modell – Colt – und gleich geladen, jeweils mit einer Patrone, soweit ich weiß. Der Türke kann sich aussuchen, welche Waffe er haben will.« »Hm ...«, begann Florian, doch just in diesem Augenblick ging die Tür auf, und der Furchtbare Türke selbst kam hereinmarschiert, wobei er sich bücken mußte, um nicht gegen den Türsturz zu stoßen. Ungläubig starrten Fitz und Florian ihn an. Ihm folgten zwei kleinere Männer, die obwohl sie nicht geschminkt waren – von Florian und Fitzfarris als Weißclown und Hanswurst aus dem TSIRK CINIZELLI erkannt wurden. »Florian Efendi, Sie haben immer noch mein Konuitenbuch«, sagte der Türke. »Das will ich zurück haben. Bislang habe ich mich mit einem Ersatz beholfen ...« Von den wie vom Donner gerührten FLORILEGIUMMännern war es Florian, der als erster die Stimme wiederfand. »Das muß man dir lassen, Sarkioglu! Du hast mehr Mumm als eine Manege voller Gerberlohe. Erwartest du etwa, nach dem, was du dir gestern abend geleistet hast, lebend hier herauszukommen?« »In der Tat, das tue ich«, sagte der Türke zuversichtlich. Fitzfarris knirschte vernehmlich mit den Zähnen und machte einen Schritt auf ihn zu, doch Florian streckte einen Arm aus, um ihn zurückzuhalten. Shadid fuhr fort: »Wollen Sie mich vor den Augen meiner Kollegen umlegen? Oder uns alle drei umbringen? Marchan Efendi könnte sich fragen, warum wir -1324-
nicht zurückkehren; denn er weiß, wohin wir wollten.« »Gut«, sagte Florian, »du wirst also noch nicht sterben.« Und zu Fitz sagte er: »Die Clowns sind Zeugen. Bring deine Forderung vor!« Mit gepreßter Stimme sagte Fitzfarris: »Türke, ich fordere dich in aller Form zu einem Duell. Sorge dafür, daß deine Sekundanten sich mit meinem, Colonel Edge, in Verbindung setzen. Ich schlage vor, wir tragen das Duell ... wo, meinst du, sollte es sein, Governor?« »Im Ekaterin-Dvor«, sagte Florian. »Dem Park von Katharinenhof, südlich des Obvodnyi-Kanals.« »Ja, das ist der Ort, den ich vorschlage«, sagte Fitz wieder zu Shadid gewandt. »Und als Zeit schlage ich vor: morgen bei Sonnenaufgang.« »Damit bin ich einverstanden«, sagte der Türke. »Und selbstverständlich nehme ich die Forderung an. Vielleicht fungieren diese beiden Clowns als meine Sekundanten. Würden Sie sie fragen, Florian Efendi? Ich kann nur wenig russisch.« Florian tat ihm den Gefallen und erklärte die Angelegenheit einigermaßen umständlich. Die beiden Clowns machten eine angemessen beeindruckte Miene, erklärten sich jedoch einverstanden. »Dann mit Pistolen bei Sonnenaufgang«, sagte Fitzfarris. »Colonel Edge bringt die Waffen mit und läßt dir die ...« »Moment, Halbblauer. Kennst du dich im Duellier-Kodex nicht aus? Übrigens, warum bist du nicht mehr halbblau?« »Das geht dich einen Scheißdreck an. Was ist mit dem Duellier-Kodex?« »Nach diesem Kodex steht dem Geforderten die Wahl der Waffen zu. Folglich wähle ich die Waffen.« »Gut, wenn du keine Pistolen willst – welche Waffen dann?« »Diese hier«, sagte der Furchtbare Türke und streckte die -1325-
Arme aus und ließ seinen Bizeps spielen, so daß er selbst durch den dicken Muzhik-Mantel hindurch zu sehen war. »Wir beide mit entblößtem Oberkörper. Meine Arme gegen deine Arme!« Die naturfarbene Hälfte von Fitz’ Gesicht erbleichte sichtlich, als er Florian ansah, der nickte und sagte: »Genau das hatte ich dir sagen wollen, als er hier hereinplatzte. Ihm steht es frei, jede Waffe zu wählen, die er will, von der Haubitze bis zum Zahnstocher.« Der Türke setzte ein wölfisches Grinsen auf. »Halbmann, möchtest du deine Forderung zurückziehen?« »Himmel, nein!« fauchte Fitzfarris. »Wir können gleich hier loslegen, wenn du willst, du gottverdammtes Schwein!« Shadid sah ihn lange an und mußte zu dem Schluß gekommen sein, daß Fitz in seiner Wut in diesem Augenblick tatsächlich ein gefährlicher Gegner wäre, der zumindest einigen Schaden anrichten könnte, ehe es ihm, dem Türken, gelang, ihn zu zerbrechen. Er sagte deshalb: »Nein, nicht jetzt. Wir werden uns an die Formalien halten. Morgen früh bei Sonnenaufgang, in dem von dir genannten Park.« Damit wandte er sich an Florian: »Und jetzt – mein Konuitenbuch.« »Hol’s dir morgen ab«, sagte Florian kalt. »Falls du noch kannst.« Der Türke stieß ein dröhnendes Lachen aus und lachte beim Hinausgehen immer noch. Seine frisch ernannten Sekundanten folgten ihm. Schweigen machte sich im Kontorwagen breit. Dann fuhr Fitzfarris sich mit der Hand über die plötzlich schweißnasse Stirn und sagte: »Mein Gott, ich kann mit einer Pistole umgehen, und manchmal treffe ich sogar. Aber ein Ringkampf mit diesem Ungeheuer ...?« »Ja«, sagte Florian. »Er hat den coup de Jarnac gelandet.« »Was?« -1326-
»Einen hinterhältigen Schlag. So genannt nach einem Duell vor vielen Jahren, in dem ein gewisser Monsieur Jarnac ...« »Ist mir egal, wie er heißt. Aber was meine Chancen angeht, wäre Selbstmord wohl die einzig zutreffende Definition. Du hattest recht, Governor. Ich werde Meli wieder zur trauernden Witwe machen.« »Aber, aber, Sir John! Wenn du mit dieser Verzagtheit und Einstellung an das Duell herangehst, bist du wirklich schon so gut wie tot. Vergiß nicht, daß die Institution des Duells aus etwas hervorgegangen ist, das man ›Unschuldsbeweis‹ nannte – man ging einfach davon aus, daß die Götter jenem der Kontrahenten den Sieg zuwiesen, der im Recht war.« »Wenn die Sonne aufgeht, bin ich bereit, das Gottesurteil anzunehmen, verdammt noch mal! Zumindest kann ich mir den Weg zum CINIZELLI ersparen und den Rest der mir noch verbliebenen Zeit mit Meli verbringen. Das wird ihr gefallen, und sie wird erst morgen früh erkennen, daß ich nichts weiter getan hab’, als ihr lange und ausgedehnt Lebewohl zu sagen.« Florian zerbrach sich den Kopf darüber, was er sagen könnte, um Sir John für sein Treffen mit dem Furchtbaren Türken Mut einzuflößen. Doch ihm fiel nur das Beispiel von David und Goliath ein, und damit war nichts anzufangen. David hatte mit seiner Steinschleuder aus der Ferne gesiegt; er hatte mit dem Furchtbaren Philister nicht handgemein zu werden brauchen. Fitzfarris zog ein Schnupftuch, um sich den kalten Schweiß auf der Stirn besser abwischen zu können. Als er es tat, zitterte ihm die Hand, und dabei rieb er unabsichtlich einen Teil seiner Schminke ab. Nachdenklich betrachtete er den fleischfarbenen Fleck auf seinem Taschentuch; dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Kontorwagen. Als Florian an diesem Nachmittag an der Spitze seiner Truppe und Tiere stolz zur Frühvorstellung ins Chapiteau marschierte, wanderte sein Blick müßig zu den Vorzugssitzen – und da -1327-
wollten ihm schier die Augen aus dem Kopf quellen. Er fragte sich, was um alles in der Welt den Furchtbaren Türken bewogen haben mochte, sich ausgerechnet dort hinzusetzen. Warum war er noch einmal zurückgekommen? Wenn auch jetzt in einen weitgeschnittenen Pelz gehüllt, der viel eleganter war als der grobe Muzhik-Mantel, den er am Morgen angehabt hatte – und zudem die mit einem Schirm versehene Fischermütze so tief ins Gesicht gezogen trug, daß seine Züge im Schatten lagen –, machte ihn seine Körpergröße unübersehbar. Wieso, fragte sich Florian, war Shadid nicht im CINIZELLI, der schließlich um diese Zeit gleichfalls eine Vorstellung gab? Und wieso war er in Begleitung von fünf, sechs anderen erschienen? Der Türke lehnte sich hierhin und dorthin, redete mit dem einen oder anderen, zeigte auf einzelne Artisten in der Parade. Seine Gefährten waren fast genauso groß wie er selbst – seine Sekundanten, die beiden vergleichsweise kleinen Clowns, waren also nicht dabei. Und alle waren sie in gewaltige Pelzmäntel gehüllt, genauso wie Shadid. Manche trugen Hüte, die sie gleichfalls in die Stirn gezogen hatten, und einige waren tief verschleiert – offensichtlich Frauen. Florian überlegte: Ob Marchan Mitgliedern seiner Truppe freigegeben hatte, um sich schon im voraus an dem totalen Sieg zu weiden, den der Furchtbare Türke morgen mit Gewißheit über Sir John erringen würde? Oder waren das Gefolgsleute des Furchtbaren Türken, die sich auf seiner langen Reise von Ungarn bis hierher um ihn geschart hatten? Wollte er womöglich auch noch über andere Mitglieder des FLORILEGIUM herfallen und zeigte er sie jetzt seinen Spießgesellen, damit sie sich darauf einstellten, mit wem sie es zu tun haben würden? Aber... weibliche Gefolgsleute? Florian machte sich Gedanken, machte sich Sorgen, kam im Laufe der Vorstellung auf alle möglichen Erklärungen. Mehrmals gelang es ihm, sich bis zu den Vorzugsplätzen vorzuschieben und sich die Gruppe genauer anzusehen. Und -1328-
jedesmal, wenn er das tat, hüllten sie sich noch tiefer in ihre Pelze und zogen die Köpfe ein; sie wollten offensichtlich nicht erkannt werden. Florian ließ kein Wort über das ganze zu einem der Artisten verlauten, doch sahen ihn diese jetzt verwundert an, da er – was noch nie dagewesen war – ein- oder zweimal zu früh oder zu spät für die Ansage in die Manege sprang und diese dann auch noch laut mechanisch herunterleierte. In der Pause drängte der geheimnisvolle Pulk zusammen mit den anderen Gaffern hinaus in den Anbau zur Sideshow. Dabei gelang es ihnen, sich so zu ducken, daß sie nicht allzu auffällig die anderen überragten. Florian dachte schon daran, Fitzfarris zu warnen, kam dann jedoch zu dem Schluß, daß dieser bereits Sorgen genug hätte. In der Tat war auch Fitzfarris nicht recht bei der Sache und ziemlich sprunghaft bei der Vorstellung seiner nunmehr ziemlich geschrumpften Ausstellung, zu der jetzt nur noch die Kinder der Nacht, der eierlegende Gluhär, Kostchei der Todlose, die Mumie der ägyptischen Prinzessin, die Zwergin Syverchok und ihr kleines Pferd Rumpelstilzchen gehörten. Genauso wie alle anderen kehrte auch die verdächtige Gruppe ins Chapiteau zurück, um sich die zweite Programmhälfte anzusehen. Florian nahm an – falls sie wirklich irgend etwas vorhatten –, daß sie damit warten wollten, bis das Publikum nach der Vorstellung den Festplatz verlassen hatte. Er behielt recht. Als die Vorstellung mit dem glanzvollen Finale abschloß und alle Zuschauer hinausgingen, blieb der in Pelze gehüllte Pulk sitzen. Als sie die einzigen Zuschauer waren, die sich noch im Chapiteau aufhielten, standen sie auf, stiegen in die Manege und hatten offensichtlich irgend etwas vor. Florian rief laut: »He, Racklos!« und war sogleich von Racklos und Artisten , bewaffnet mit Zeltankern, Peitschen, Vorschlaghämmern und Trommelschlegeln umringt. Doch die vorderste in der Gruppe der Pelzgewandeten trug einen Schleier – war also offensichtlich eine Frau –, hob ihren Schleier und man konnte sehen, wie sie -1329-
lächelte. Sie hatte ein rechtes Pferdegesicht, sprach jedoch sehr gewandt und versuchte es in drei verschiedenen Sprachen. »Gospodin Florian? Herr Florian? Monsieur Florian?« Ganz auf der Hut, erwiderte er auf russisch, ja, er sei der Gospodin Florian, woraufhin sie in derselben Sprache fortfuhr: »Ich bin die Grafiya Warwara Nikolaewich Khvoschinski. Darf ich Sie Ihren Kaiserlichen Majestäten vorstellen, die sich ungemein freuen, Sie kennenzulernen?« Florian stammelte: »Aber ..., Gräfin ... Euer Gnaden ...« Hinter seinem Rücken gab er dringliche Zeichen, um die Männer fortzuscheuchen, und seine Bewaffneten zogen sich gehorsam zurück. »Es ist mir eine Ehre ... Sie haben mich völlig durcheinander gebracht ... Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, wer ...« »Verzeihen Sie, daß wir so geheimnistuerisch vorgegangen sind«, sagte sie, »aber der Zar und die Zarin belieben, sich gelegentlich ganz inkognito ins Menschengewimmel zu stürzen.« Dann wandte sie sich an den größten der Männer und sagte auf deutsch: »Majestät, darf ich Ihnen den Besitzer dieses Unternehmens vorstellen: Herrn Direktor Florian. Herr Florian: Seine Majestät, Kaiser, Selbstherrscher und Zar, Alexander Nikolajewitsch Romanow und seine Gemahlin, die Kaiserin Maria Alexandrowna.« »Es ist mir eine Ehre«, wiederholte Florian mit belegter Stimme, diesmal freilich auf deutsch. Er verneigte sich tief und mußte gegen die Regung ankämpfen, sich vor dem hochgewachsenen Mann und der fast genauso großen Frau auf den Boden zu werfen – und zwar nicht in Unterwürfigkeit, sondern vor lauter Erleichterung, daß es nicht zu einer Keilerei unter Circusleuten gekommen war. Der Zar sagte: »Das war sehr gekonnt, Ihr Ruf: Hallo, Racklos!«, und fuhr dann fort, er wünschte, auch er könne im Handumdrehen seine Truppen um sich scharen, wenn er sie -1330-
brauche. Die Gräfin Warwara stellte die anderen aus der Gruppe vor: noch eine Gräfin und mehrere Grafen sowie einige Hofdamen und Kammerherren. Die Zarin, die sich vornehmlich durch ihre Hakennase auszeichnete, sagte: »Ich war entzückt, jenen Brief von meiner königlichen Schwester Elisabeth zu erhalten. Deshalb möchte ich besonders gern den Colonel Edge kennenlernen, über den sie soviel Lobenswertes schreibt.« Florian entschuldigte sich, drehte sich um, um einen Racklo herbeizurufen und ihn Colonel Ramrod holen zu lassen, der zusammen mit den anderen Bewaffneten gegangen war, als sich herausstellte, daß es sich nicht um einen Überfall oder eine Rauferei handelte. »Wir wollten Sie nicht ausspionieren, Herr Florian«, sagte der Zar, »sondern wir wollten nur einmal eine ganz normale Vorstellung sehen. Das heißt, eine Vorstellung, bei der Sie sich nicht unseretwegen besonders viel Mühe geben. Gleichwohl möchten wir, daß Sie eine Vorstellung vor dem gesamten Hof geben, sobald das Ihnen und Ihrer Truppe genehm ist.« »Die Gunst Ihrer Majestät und Ihr Befehl sind uns immer genehm«, erklärte Florian. »Gleichwohl versichere ich Eurer Majestät, daß wir immer unser Bestes tun und so gut sind, wie es uns nur irgend möglich ist, ob wir nun vor Ihrer Majestät auftreten oder vor einfachen Bauern. Wir sind immer bemüht, unser Bestes zu geben.« Und wieder meinte Alexander humorvoll, er wünsche, er könne dies auch von seinen Untertanen sagen. Edge kam und wurde vorgestellt; auch er machte einen tiefen Diener. Als die Zarin festgestellt hatte, daß er weder russisch noch deutsch fließend sprach, sagte sie auf französisch: »Meine königliche Schwester Elisabeth gibt große Stücke auf Sie.« In ihren Augen blitzte es, als hätte sie erraten, warum. »Mein Gemahl hat gerade Monsieur Florian eingeladen, eine -1331-
Privatvorstellung des Circus vor unserem Hof zu arrangieren. Darf ich zusätzlich eine Einladung aussprechen, Colonel Edge – an Sie und Monsieur Florian und alle anderen Artisten, zu einem petit bal bourgeois im Winterpalais?« »Avec plaisir, Madame l’Imperatrice.« »Weiße Schleife, Punkt sieben Uhr am Sonntag abend, dem zwanzigsten April. Selbstverständlich erhalten Sie alle noch eine schriftliche Einladung.« »Es ist uns eine Ehre, Euer Majestät. Wir werden zur Stelle sein. Alle, die heute abend zu Ihrer Unterhaltung beigetragen haben.« Florian wünschte, Edge hätte es weniger genau ausgedrückt. Sollten die Götter morgen bei Sonnenaufgang nicht wach sein und ihre Pflicht tun, würde Sir John Fitzfarris außerstande sein, an irgendeinem Hofball teilzunehmen.
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7 Wie jeder auf dem Duell-Platz entweder voller Furcht oder innerlich frohlockend erwartet hatte, war der Kampf sehr schnell entschieden. Der Park von Katharinenhof bildete eine heitere Oase in diesem Vorort von Piter, der mit seinen Lohgerbereien, Wodkabrennereien, Seilereien und Segeltuchwebereien sonst ein ausgesprochenes Gewerbegebiet war; angetrieben wurden alle diese Werkstätten und Fabriken mittels Wasserrädern, die sich im Obvodnyi-Kanal drehten. Der ständige Wind, der vom Finnischen Meerbusen her wehte, hatte den Park nahezu von Schnee befreit, doch herrschte im Moment Windstille, und was man in der ersten Morgendämmerung vor Sonnenaufgang erkennen konnte, waren wohlgepflegte Rasenflächen, Kieswege, kleine Gehölze und Beete, die einen Monat später vermutlich voll von Blumen stünden. Als die Sonne jedoch an diesem Tage aufging, entlockte sie dem Boden einen klammen, grauweißen, kniehoch wogenden und wirbelnden Dunst, der Duellanten, Sekundanten und die wenigen Zuschauer gleichsam zu entkörperlichten Gestalten machte, die über den Rasen dahinschwebten und den Zweikampf vorbereiteten. Ort und Stunde bildeten infolgedessen einen bedrückenden und unheimlichen Hintergrund für einen plötzlichen Tod. Bei den Zuschauern handelte es sich um Florian und Marchan, die beide gekommen waren, weil sie ein naheliegendes Interesse am Ausgang dieses Zweikampfes hatten. Sie bemühten sich jedoch, niemand hinderlich und im Weg zu sein. Während Sarkioglu und Fitzfarris den Oberkörper entblößten, standen Edge und die beiden Clowns neben ihnen, um zu überprüfen, daß keiner der Kombattanten ein Messer oder irgendeine andere Waffe im Leibriemen, der Hosentasche oder im Stiefelschaft versteckt hatte. Sie fanden nichts. Das einzige, das verborgen blieb, war die blaue Hälfte von Fitzfarris’ -1333-
Gesicht; wiewohl er heute noch in der Nacht hatte aufstehen müssen, hatte er sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht, seine kosmetische Maske aufzutragen. Marchan sagte: »Wenn ich recht verstanden habe, handelt es sich um Ehrenhändel.« »Nicht um die Ehre Ihres Mannes. Das können Sie mir glauben«, erklärte Florian verdrießlich. »Dann muß Ihrem Mann die Ehre wichtiger sein als das Leben. Sehen Sie sich die beiden doch nur an! Der eine schlank und geschmeidig vielleicht wäre er gut in einem fairen Boxkampf. Aber der andere ist groß und schwer und muskelbepackt wie Herkules. Ein bedauerliches Mißverhältnis – das zwischen den beiden. Gospodin haben Sie schon die Bahre in Ihrer Kutsche bereitliegen, tak, um den zerbrochenen Leichnam Ihres Mannes zurückzubefördern zu Ihrem Tsirk?« Florian ging nicht darauf ein und sah die beiden Männer mit dem entblößten Oberkörper blinzelnd an. Jetzt, wo der Dunst in Fetzen und Schleiern davonwirbelte und sich verflüchtigte, schickten sie sich an, sich die vorgeschriebenen Schritte voneinander zu entfernen. »Merkwürdig«, murmelte Florian. »Dem unbesiegbaren Türken hat die Kälte eine Gänsehaut gemacht. Sir John bibbert zwar, läßt sich aber die Kälte sonst nicht anmerken. Die Entschlossenheit muß ihn innerlich zur Weißglut erhitzen.« Plötzlich zerriß Shadid mit einem johlenden Kriegsgeschrei die frühmorgendliche Stille, und es klang wie Donner, als er sich mit seinen gewaltigen Fäusten auf die Brust trommelte. Fitzfarris wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Türke sprang vor, und Fitz riß reflexartig die Arme hoch. Damit war seine eigene Brust verwundbar, und Shadid umschlang sie augenblicklich mit seinen mächtigen Armen, entweder, um Fitzfarris zu zermalmen, oder um ihm das Rückgrat zu brechen. Offenbar verzweifelt mit den Armen rudernd und somit die -1334-
einzige Bewegung ausführend, die ihm möglich war, wischte Fitz erst mit dem einen Unterarm und dann mit dem anderen über das Gesicht des Türken. Shadid senkte den Kopf und drückte ihn in das Salzfaß zwischen Fitz’ Hals und Schulter, so daß Fitzfarris nicht an seine Augen herankam und lediglich an Shadids Nackenhaar zerren konnte. Während der Türke sein Gesicht schützte und fortfuhr, Fitz die Brust einzudrücken, grub er gleichzeitig die großen Zähne tief in das Fleisch an Fitz’ Schlüsselbein. Fitzfarris stand völlig unnatürlich nach hinten durchgedrückt da, ähnlich dem verkrümmten Kostchei. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen, so sehr wurde er gequetscht, und den Mund hatte er aufgerissen, um nach Luft zu schnappen, jetzt, wo seine Lungen sich nicht mehr blähen konnten; alle warteten sie nahezu atemlos darauf zu hören, wie sein Rückgrat knackte. Doch unvermittelt stieß der Türke noch einen Schrei aus – keinen Kriegsschrei diesmal, sondern einen überraschten, ja, verzweifelten Laut. Er löste seine Umklammerung, zuckte zurück, und benutzte die Hände, um wie wahnsinnig in seinem Gesicht und seinem von Fitz’ Blut noch roten Mund herumzuwischen, wobei er die Augen fest geschlossen hielt. Außerdem hatte er Spuren von Fitz’ Makeup im Gesicht. Fitzfarris war frei, doch im ersten Moment konnte er nur in die Knie gehen, nach Atem ringen und die auf jeden Fall angeknacksten, schmerzenden Rippen drücken, während ihm das Blut die Schulter herunterlief. Shadid wütete noch immer, rieb sich jetzt Augen und Mund, ging dann auch in die Knie, krallte ins Gras, versuchte, Feuchtigkeit davon abzustreifen und sich diese mit gehetzten Bewegungen ins Gesicht zu reiben. Fitz hatte sich inzwischen soweit erholt, daß er sich mit zitternden Knien hochraffte. Er ging schwankend zu dem Türken, versetzte ihm einen Stoß, so daß dieser auf den Rücken fiel. Shadid schien es nichts auszumachen, oder es war ihm egal, daß er jetzt jedem Angriff -1335-
preisgegeben dalag, denn er fuhrwerkte immer noch mit den feuchten Händen im Gesicht herum. Fitzfarris kniete neben ihm nieder, holte mit dem rechten Arm aus, streckte die Hand mit den gerade ausgerichteten und fest aneinandergelegten Fingern vor und rammte sie dem Türken wie ein Speer in das Sonnengeflecht. Wieder schrie Shadid – diesmal vor Schmerz –, riß die Hände vom Gesicht und faßte unwillkürlich nach der Magengrube. Fitzfarris benutzte erneut die steif ausgestreckte Hand wie eine Speerspitze und fuhr damit auf den Adamsapfel des sich windenden Mannes zu. Abermals stieß der Türke einen Schrei aus, einen erstickten diesmal, und sein ganzer Körper krampfte sich zusammen. Und noch einmal schlug Fitzfarris zu, diesmal freilich mit der Handkante, die wie ein Schwerthieb mit aller Kraft auf die Unterseite von Shadids Nase krachte. Der Türke gab keinen Laut mehr von sich; nur, daß er von Kopf bis Fuß konvulsivisch zuckte, um dann urplötzlich regungslos dazuliegen. Wieder raffte Fitz sich mit zitternden Knien hoch; immer noch viel zu sehr außer Atem, um sprechen zu können, forderte er Edge mit einer Handbewegung auf, seine Kleider zu holen und ihm zu helfen, sie anzuziehen. »Junge, Junge!« hauchte Florian kaum hörbar. »Und jetzt im Galopp zurück zum Festplatz, Governor«, sagte Fitzfarris atemlos, als Edge – grinsend wie ein Wasserspeier an einer gotischen Kathedrale – dem am ganzen Leib Zitternden in die Kutsche half. »Damit Jules das Loch in meinem Hals verschließt und mich wieder zusammenflickt. Ich hab’ das Gefühl, meine Rippen sind nur noch Knochenmehl.« Edge und Florian halfen ihm auf die Bank in der Kutsche und nahmen ihn in die Mitte. Dann rollten sie davon und ließen einen völlig entgeisterten Marchan und seine zwei Clowns sich mit dem schlaffen und schweren Leichnam von Shadid Sarkioglu abmühen. »So, und nun verrate uns mal, wie du das gemacht hast«, -1336-
sagte Edge. Und Florian sagte: »Geahnt hab’ ich ja was, Sir John – und zwar als ich sah, daß der Türke eine gewaltige Gänsehaut hatte und du nicht.« »O doch, die hatte ich. Bloß, daß du sie nicht sehen konntest!« Fitz sprach durch die gegen den Schmerz zusammengebissenen Zähne hindurch; aber er gab bereitwilligst Auskunft, verriet ebensoviel Stolz wie Erleichterung. »Ich dachte, wenn ich mir das Gesicht mit Maggies alter Schminke anmale, dann müßte ich mir auch Oberkörper und Arme damit einstreichen können. Das habe ich dann gemacht – allerdings mit mehr als der Schminke allein. Jules gab mir aus seinem Medizinschränkchen Karbol, und Monday bot mir ein paar Quecksilberchloridpillen an, die sie von irgendwoher hatte. Das ist nur ein anderer Name für ein Ätzmittel; deshalb habe ich die Pillen zerstoßen und mit der Schminke vermischt. Karbol und Quecksilber jucken zwar höllisch auf der Haut, aber ich dachte, wenn es mir gelänge, dem Türken was davon in die Augen zu schmieren, dann müßte das wie Salzsäure wirken – und das hat es offensichtlich getan. Nur, daß er auch noch gebissen und es damit in den Mund gekriegt hat, das war ausschließlich seine Idee.« »Er hat bekommen, was er verdient«, sagte Florian, um dann – nicht ganz logisch – noch hinzuzusetzen: »Er hat nur die Arme als Waffen gewählt, und als er die Zähne benutzte, hat er gegen den Duell-Kodex verstoßen. Aber das steht auf einem ganz anderen Blatt, Sir John – und dann hast du ihn damit getötet, daß du ihm ein bißchen die Schleimhäute verätztest?« »Ich hatte gehofft, wenn es mir gelänge, ihn für einen Moment zu blenden, könnte ich ihn in den Schwitzkasten nehmen und ihm das Genick brechen, doch Obie hat mir gesagt, daran sei nicht zu denken. Er sagte, der Nacken, das sei der kräftigste Körperteil eines Kraftmenschen. Und dann hat Obie mir den Trick mit der steifen Hand gezeigt. Er sagte, man -1337-
könnte einen Menschen damit umbringen, daß man ihm die ausgestreckte Hand eben unters Brustbein reinjagte und ihm die Eingeweide rausrisse, oder daß man ihm den Adamsapfel zerschmettert, so daß er erstickt, oder ihm einen harten Schlag unter die Nase versetzt. Damit bricht man ihm die Nase am Nasenbein und treibt ihm die Knochensplitter ins Gehirn. Aber, Himmel, es hat aller drei Dinge bedurft, diesen Klotz von Mann umzubringen.« »Immerhin, du hast ihn ins Jenseits befördert«, sagte Florian. »Ich weiß nicht, was mich jemals mehr erfreut und stolz gemacht – oder überrascht hat!« »Nun«, sagte Fitzfarris bescheiden. »Ich hatte ja einige Ratgeber, die mir geholfen haben.« »Quatsch mit Sauce!« sagte Edge, mußte aber trotzdem grinsen. »In Wirklichkeit ist es doch so, daß jeder ein Narr ist, der sich auf ein Duell mit einem so durchtriebenen und mit allen Wassern gewaschenen Bauernfänger einläßt.« Für den Circus ging endlich alles in den gewohnten Bahnen weiter. Meli hatte sich bald soweit erholt, daß sie in der Sideshow wieder als Medusa und als Knalleffekt im Kampf mit dem Drachen Fafnir auftreten konnte. Monday lebte immer noch allein und schien darüber keineswegs unglücklich. Florian bewog den Balagan, von seinem Standort am Flußufer in den Taurischen Garten umzuziehen und sich dem FLORILEGIUM anzuschließen. Der Besitzer des Schaustellerunternehmens – ein Gospodin Tyutchew – baute seine Andenken- und Wurstbuden links und rechts vom Zugangsweg zum Chapiteau auf, und das Riesenrad mit den eingehängten Booten sowie die Toboggan-Rutsche fanden nahe der Straße Aufstellung. Er war mit dem Umzug hochzufrieden, trug ihm dieser doch größeren Zulauf von den Circusbesuchern ein, die ohnehin auf Unterhaltung eingestimmt waren. Er war jetzt nicht mehr auf die Zufallsbesucher oder die -1338-
Spaziergänger auf der Newa-Promenade angewiesen. Florian wiederum freute sich, endlich wieder eine Budengasse vorm Chapiteau-Eingang zu haben, deren Zelte und Stände allerdings so heruntergekommen waren, daß er Dai Goesle und seine Leute anwies, den Schaustellern und Standinhabern zu helfen, ihre Buden zu flicken, frisch anzustreichen und überhaupt attraktiv herauszuputzen. Am Äußeren der Schausteller und Budenbesitzer selbst war allerdings nicht viel zu verschönern. Männer, Frauen und Kinder liefen allesamt ziemlich abgerissen herum, trugen Zottelbärte und waren durch die Bank ungewaschen. Die Circus-Angehörigen, die sich nur allzu gut ihres Streites mit der Dristliva erinnerten, waren durch nichts in der Welt zu bewegen, auch nur das geringste von diesen Ständlern zu kaufen, wohingegen von den Circusbesuchern selbst die am besten angezogenen und vermutlich wählerischsten unter ihnen dazu sehr wohl bereit waren. Im Lauf des nächsten Monats verbrachten die Artisten sowie Carl Beck und Dai Goesle einen Großteil ihrer Freizeit in den besseren Geschäften auf dem Newski-Prospekt und gaben auch in anderen eleganten Einkaufsstraßen viel Geld aus. Sie probierten Fracks und Ballkleider an und erwarben sich alle notwendigen Accessoires. Selbst Pavlo Smodlaka war für diese besondere Gelegenheit bereit, für sich, Gavrila und Söhnchen Velja Geld ›zum Fenster hinauszuwerfen‹. (Für die kleine Sava Smodlaka, die womöglich noch kleinere Katalin Szäbo und sich selbst entwarf und nähte Ioan Petrescu die passenden Kleider.) Sämtliche Circusangehörigen kauften ihre Schuhe bei Weiss, der besten Cordonnerie oder Schuhmacherei in der ganzen Stadt – Lackschuhe und knöchelhohe Stiefeletten für die Herren sowie für die Damen Pumps unterschiedlichsten Stils und in vielerlei verschiedenen Farben, fußspitzenfrei und mit hohen französischen Pfennigabsätzen. Allerdings mußten so viele Circusleute eingekleidet werden, daß sie sich auf mehrere Tailleurs und Couturiers aufteilen mußten. -1339-
»Und trotzdem«, meinte Maurice, »werden wir wahrscheinlich wie aufgedonnerte Provinzler aussehen, verglichen mit den Herren in Galauniform und den Hofdamen im Ballkleid, die ihre Garderobe aus Warschau oder Paris beziehen.« Außer den Böhmen waren es noch sechs Mann vom FLORILEGIUM, die dieser Verpflichtung enthoben waren. Edge und Willi Lothar besaßen bereits Gesellschaftskleidung, doch begleitete Willi Jules Rouleau auf seinen Einkaufsausflügen. Nachdem man den Kim-Brüdern mit Gesten und Zeichensprache sowie Zeichnungen klargemacht hatte, was ein Hofball sei und man entsprechend dafür gekleidet sein müsse, berieten sie sich untereinander und lehnten dann eine Teilnahme ab. Sie ihrerseits machten den Leuten vom FLORILEGIUM durch Gesten und Pantomimen klar, daß sie binnen kurzem in Richtung Korea abreisen würden und in ihrer Heimat Zylinderhut, weißer Binder und Frack unpassend seien, man sich möglicherweise sogar lustig darüber mache und nur Hohn und Spott ernte; infolgedessen würden sie ihr Geld lieber sparen und mit nach Hause nehmen. Auch Kostchei der Todlose wollte am Hofball nicht teilnehmen. Florian war auch nicht sonderlich darauf erpicht, daß er mitkam, fühlte sich jedoch verpflichtet, ihn darauf hinzuweisen, daß die Zarin alle Artisten eingeladen habe und ihn unter ihnen gesehen hätte; offenbar habe sie sich nicht vollkommen abgestoßen gefühlt. Kostchei sagte gutgelaunt: »Nicht nur würde ich inmitten von Jubel, Trubel und Heiterkeit die sprichwörtliche Mahnung an Elend und Tod sein und allen den Spaß verderben. Könnt ihr euch vorstellen, wie der Schneider verrückt wird bei dem Bemühen, mir einen Frack auf diesen Leib zu schneidern?« Irgendein armes Schneiderlein mußte in der Tat verrückt geworden sein, das jedenfalls fanden etliche Kollegen, nachdem er den Frack für Hannibal Tyree fertiggestellt hatte. Als Hannibal damit auf den Festplatz kam und stolz das gute Stück -1340-
vorführte, waren seine Kollegen zum Teil amüsiert und zum Teil entsetzt. Wiewohl aus feinstem Kammgarn und von makellosem Stil und Schnitt, schwankte das elegante Kleidungsstück farblich zwischen Rosa und Hellgelb. »Was glotzt un’ kichert ihr’n alle?« fragte Hannibal. »Ihr tragt Schwarz ’n Weiß un’ obendrauf ’n rosa Gesicht. Ich aber is’ schon Schwarz ’n Weiß – Gesicht un’ Zähne – un’ deshalb will ich’n bißchen Farbe in mein’ Klamott’n.« »Wir waren nur überwältigt, Abdullah, das ist alles«, sagte Agnete freundlich, während die anderen diskret hinter vorgehaltener Hand hüstelten. »Du hast selbst für deinen Anzug gezahlt; deshalb hast du auch jedes Recht, deinen guten Geschmack zum Tragen kommen zu lassen.« »Yessiree«, sagte Yount und nahm das Stichwort auf. »Ich wette, daß es in dem ganzen Palast keine Uniform gibt, die deinen Frack an Glitzerglanz übertrifft, Hannibal.« Während also fast alle anderen – vor, zwischen und nach den Vorstellungen – beschäftigt waren, nutzte Edge diese Zeiten, um weiter allein durch die Stadt zu streifen. Eines Tages ging er auf die andere Seite der Newa hinüber und besuchte die Peter-PaulsFestung. Mit gebührender Ehrfurcht besichtigte er das sorgfältig in seinem ursprünglichen Zustand erhaltene Haus mit den beiden Räumen und der kargen Einrichtung, in dem Peter der Große gewohnt hatte, während er den Bau der frühesten Häuser beaufsichtigt hatte, aus denen später einmal Sankt Petersburg werden sollte. Von hier aus schlenderte Edge hinüber in die Kathedrale der Festung und besuchte die Gräber Peters und aller anderen nachfolgenden Zaren und Zarinnen. Dann jedoch hatte er ein Erlebnis, das ihn unmittelbarer interessierte. Ein hübsch gekleidetes junges Mädchen lag in sich zusammengesunken zu Füßen eines steinernen Kreuzes mit einem steinernen gekreuzigten Jesus daran. Das Gesicht hatte sie in den Händen vergraben, und sie weinte leise vor sich hin. -1341-
Zögernd stand Edge da und überlegte, ob er sich ihr nähern und nach ihrem Kummer fragen sollte. Doch da näherte sich eine alte Frau und kniete neben ihr nieder. Das Mädchen hob das tränenüberströmte Gesicht – sie war in der Tat sehr hübsch – und Edge konnte hören, wie die beiden kurz auf russisch etwas murmelten, dann jedoch französisch weiterredeten. Die alte Frau zog das junge Mädchen vom Fußboden in die Höhe und führte sie auf die andere Seite des Schiffes. Unauffällig folgte Edge den beiden und hörte, was gesprochen wurde. »Hier, mein Kind«, sagte die alte Frau auf französisch und dirigierte das Mädchen vor die Statue der Heiligen Muttergottes. »Wenn ein Mann dich betrogen hat, dann bete zur Jungfrau Maria, nicht zu ihrem Sohn. Männer helfen nur Männern.« Edge war dermaßen angetan von dem ebenso rührenden wie amüsanten kleinen Vorkommnis, daß er fürderhin trotz der Tatsache, daß Kirchen ihn sonst langweilten, nie versäumte, jedenfalls für einen Augenblick einzutreten, sobald er an einer vorüberkam. So kam es auch, daß er in der Karwoche in die Isaaks-Kathedrale eintrat, gerade als die Messe begann, und dort nun gewahrte er etwas Wunderbares. Er eilte zum Festplatz, gleichwohl nicht, ohne zuvor unterwegs in einem Laden ein paar Kerzen und eine Rolle schwarzen Zwirn gekauft zu haben. Als Carl Beck von seiner letzten Anprobe heimkam, wartete Edge bereits, um sich ernsthaft mit ihm zu beraten – und an einer bestimmten Stelle zu sagen: »Wenn wir es überhaupt schaffen, Bumbum – sehr oft können wir es nicht wiederholen. Deshalb werden wir es uns für die Galavorstellung vor dem Zaren aufheben. Und den anderen sagen wir nichts; es soll eine Überraschung für alle sein.« In der Woche vor dem Hofball ließ Florian überall im Taurischen Garten auf Plakaten bekannt machen, daß am zwanzigsten April keine Vorstellung stattfinden werde. Wie sich herausstellte, war das kein großes Opfer an Zuschauermengen und Einnahmen. An diesem Tag – ausgerechnet zu Beginn des -1342-
kurzen Sommers in diesen Breiten, wo die Newa wieder ein Fluß war und nur gelegentlich eine verspätete Eisscholle vorübertrieb schneite es heftig und für die Jahreszeit völlig ungewöhnlich. Der Schnee lag so hoch, daß die Straßen nicht gefegt werden konnten und selbst die Kummer gewohnten Petersburger kaum dem Wetter getrotzt hätten, bloß um einen Circus zu besuchen. Auch die Artisten des FLORILEGIUM brachte der Schneefall völlig aus der Fassung. Sie hatten vorgehabt, in Droschken oder Karetas vor dem Winterpalais vorzufahren, doch jetzt waren die wenigen Mietkutschen und anderen Mietgefährte – vor allen Dingen Troikaschlitten – besetzt. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als in den circuseigenen Wagen hinzufahren, und das waren – bis auf Florians Kutsche und Willis Kalesche – die in schreienden Farben gestrichenen Materialwagen – eine ziemlich unwürdige Art und Weise, vor einem Kaiserpalast vorzufahren, wie die meisten fanden. Doch als sie den Schloßplatz erreichten, war klar, daß kein Mensch ihre absonderlichen Gefährte beachtete, dazu gab es viel zu viele Arten von Gefährten – Kutschen, Troikaschlitten, Berlinen, Landauer und Viktorias –, die aus allen Richtungen hier zusammenkamen und sich am Haupteingang des Palastes Rang und Vorfahrt streitig machten. Auch die Ankunft der anderen Gäste entbehrte jeglicher besonderen Würde. Die Kutscher fluchten und schimpften – »Platz da, du Minetchik, für meinen Herrn, den Großfürsten!« – »Zum Teufel mit deinem Großfürsten! Platz da für meine Herrin, die Fürstin!« – und die blaublütigen oder sonst adeligen und aristokratischen Insassen dieser Gefährte lehnten sich aus dem Fenster, um ihrem Kutscher Mut zu machen: »Zieh diesem arroganten Ublyüdock eins mit der Peitsche über, Wladimir!« Gleichzeitig kam ein Kammerdiener nach dem anderen aus dem Palast heraus, um den in Pelze gehüllten Gästen aus dem Wagen herauszuhelfen, die es geschafft hatten, nahe an den Eingang heranzukommen, -1343-
woraufhin eine Reihe von Stallburschen die Pferdefuhrwerke in die Remise fortbrachte. »Wenn das ein petit bal ist«, wandte Sunday sich an Meli, »dann möchte ich mal wissen, wie ein grand bal erst aussehen würde.« Zu dem Gewühl von Kutschen, Pferden und Gaffern, die sich auf dem großen Platz drängten, kamen noch die verschiedenen Berittenen, die zur Bewunderung der eintreffenden Gäste Exerzierplatzübungen machten. Unter den mit Donnerstimme vorgetragenen Befehlen ihrer Offiziere bildeten sie Trupps und Kolonnen, machten als Einheit kehrt und schwenkten herum oder marschierten schräg voran und führten das alles mit bewundernswerter Präzision aus, was ganz im Gegensatz stand zur chaotischen Unordnung der Zivilisten. Alle Kavalleristen hatten gerötete Gesichter, entweder von der Kälte oder von der Begeisterung, ihre Einsatzbereitschaft zu bekunden. Die Pferde eines jeden Regiments waren von derselben Farbe, und die Farbe jeden Regiments unterschied sich von der der anderen Regimenter. »Die auf den Apfelschimmeln, das sind die von der GatchinaGarde«, erklärte Florian Daphne, die neben ihm in der Kutsche fuhr. »Die auf den Rappen, das sind die von der Garde zu Pferde, und die auf den Füchsen die von der Garde des Chevaliers.« »Du hast dich aber gut informiert«, sagte Daphne. »Nun, man will ja nicht als Dummkopf dastehen, wenn man mit der haut monde plaudert, wie wir das bald tun werden.« »Nach ihrem Benehmen am Haupteingang zu urteilen, möchte man nicht meinen, daß sie zur Creme der Petersburger Gesellschaft gehören.« »Nun ja ... das russische Temperament! Leicht erregbar und dann wieder schwermütig.« Wie dem auch sei, die Circusleute entstiegen ihren Gefährten -1344-
ein ganzes Stück von diesem Durcheinander entfernt und schickten die Kutscher – allesamt Böhmen – zurück zum Festplatz, freilich nicht, ohne ihnen zuvor eingeschärft zu haben, zeitig zurückzukommen und auf das Herauskommen derer zu warten, die den Ball mitmachten – und zwar gleichgültig, wie spät dies auch sein mochte. Dann stelzten sie durch den Schneematsch zum Schloßeingang, warteten, bis sich in der Reihe der Aristokraten eine Lücke ergab, und traten dann einer hinter dem anderen ein. Offensichtlich waren die Türsteher informiert worden, daß sie die Artisten zu erwarten hätten, und woran man sie erkennen würde, denn die Circusleute wurden höflich unter vielen Verneigungen hereingebeten, und niemand verlangte, ihre Einladung zu sehen. Das erfreute die Kollegen, denn die meisten wollten ihr Billet zur Erinnerung behalten; manche hatten sich sogar vorgenommen, es rahmen zu lassen und in ihren Maringottes an die Wand zu hängen. Eine Reihe von Dienern in weißgepuderter Perücke und grünrotschwarzer Livree kam, die Neuankömmlinge von ihren Pelzen und Gummigaloschen zu befreien. Dann kamen vier riesige schwarze Diener, abessinische Giganten in womöglich noch exotischerer Livree ganz in Scharlachrot und Gold mit weißem Turban auf dem Kopf. Schweigend verneigten sie sich und geleiteten die Artisten genauso schweigend durch diverse Türen und über etliche breite Marmortreppen. Links und rechts von jeder Tür stand ein Angehöriger der Garde des Chevaliers in einer Uniform aus Silber, Gold und Weiß, reglos, die Augen gerade ausgerichtet, den Säbel in Habachtstellung gezückt. Und links und rechts von etwa jeder sechsten Stufe auf der Treppe stand ein Angehöriger der Kasachischen Leibwache in rotblauer Uniform, eine flammende Fackel regungslos in der Hand. Schließlich trafen die Artisten im Großen Ballsaal ein und reihten sich ein in die Schlange der Gäste, die darauf warteten, vom Zaren und der Zarin, ihren beiden Töchtern, drei von den -1345-
Söhnen und den Frauen der beiden ältesten Söhne begrüßt zu werden. Zar Alexander und der namensgleiche Kronprinz, der Zarewitsch Alexander, trugen die saphirblaue Uniform der Kasachischen Kavallerie mit der massigen Medaille des SanktAndreas-Kreuzes – auf welcher der Heilige irgendwie widersinnig an ein Kreuz genagelt wurde, das aus Gold, Email und Diamanten gefertigt war – sowie einer ganzen Brust voll anderer Orden und Ordensschleifchen, die sie sich offenbar selbst verliehen hatten. Die Zarin Maria Alexandrowna trug ein dunkelgrünes Taftkleid, dessen Gewebe freilich unter der Fülle der Juwelen wie Halsketten, Broschen und edelsteinbesticktem Brusttuch, die sie trug, kaum noch zu erkennen war; zu allem Überfluß trug sie quer über die Schulter auch noch das breite rote Band des Katharinenordens. Die jüngeren Zarewitsche, ihre Knyaginya-Gemahlinnen sowie die Zarewna-Prinzessinnen waren nicht ganz so glanzvoll geschmückt, doch war ihre Kleidung wahrlich nicht schlicht. Bis auf die beiden jungen Gemahlinnen der Zarewitsche, die ziemlich klein waren, war die ganze Familie erstaunlich hochgeschossen, und sogar Obie Yount kam sich vor wie ein Wicht, als er in der Schlange der Wartenden vorrückte. Florian stellte der kaiserlichen Familie jeden einzelnen der Artisten vor, und alle Romanows lächelten anerkennend über ihre Verneigungen und ihren Hofknicks – und dieses Lächeln schwankte nur flüchtig, als ihnen Hannibal Tyree in seinem rosagelben Frack vorgestellt wurde. Nur Florian und Ioan konnten ihre Gastgeber auf russisch begrüßen; etliche andere taten dies auf deutsch oder französisch. Als Agnete ihre Grußformel auf dänisch vorbrachte, war sie angenehm überrascht, als die hübsche Gattin des Zarewitsch sie in eben dieser Sprache begrüßte. Die Knyaginya Maria Feodorowna, die Frau des Zarewitsch Alexander, bemerkte Agnetes Überraschung, lachte und sagte: »Vor meiner Heirat war ich Prinzessin Dagmar von Dänemark.« Und als Monday Simms so -1346-
korrekt ausgesprochen, wie es ihr möglich war, auf englisch sagte: »Es ist mir eine Ehre, Eure Majestäten und Hoheiten«, erstaunte es fast alle Kollegen und Kolleginnen zu hören, wie der junge Zarewitsch Michail in drolligem Englisch erklärte: »Och aye, eine solche bonnie lassie ist immer willkommen.« Diese absonderliche Begrüßung klärte sich bald auf. Als der letzte Gast den Ballsaal betreten hatte und die Begrüßungszeremonien vorüber waren, bat der Zar um Ruhe und verkündete stolz und mit dröhnender Stimme, was Florian für seine Gefährten übersetzte: »Ich möchte, daß Sie alle meinen Enkel kennenlernen, der gleich von seiner Kinderfrau hereingebracht und allen zur Bewunderung dargeboten werden wird, ehe er für die Nacht wieder in seine Wiege kommt.« Es handelte sich um den kleinen Sohn von Zarewitsch Alexander und der einstigen Prinzessin Dagmar: der einjährige Nikolaus, der sofern keine unvorhergesehenen Umstände eintraten – seinem Großvater und Vater dermaleinst als Kaiser, Selbstherrscher aller Reußen und Zar nachfolgen sollte. Als daher eine ältere, in pastellblaue Uniform gekleidete Kinderfrau mit prächtig gewickeltem kleinem Kind unter der Tür erschien, intonierte das in einem abgeteilten Raum untergebrachte Orchester laut die Bozhe-Tsara-Krani-Hymne. Die männlichen russischen Gäste brachen in ein lautes Urä aus, während die Damen sich in bewundernden Aaahhhs und Ooohhhs ergingen. Mehrere weibliche Gäste umringten die Kinderschwester, um über dem Baby zu gurren, es an der Nase zu kitzeln, es unterm Kinn zu kraulen und mütterliche Fragen an die himmelblau Gewandete zu stellen. Der winzige Prinz blinzelte seine Bewunderinnen freundlich an, doch konnte die alte Kinderfrau zu denen, die sie auf russisch, deutsch oder französisch befragten, nur sagen: »Yell forgi’ me, Your Graces, but I canna speak aught but -1347-
English.« Florian gluckste stillvergnügt in sich hinein und sagte: »Jetzt wissen wir, von wem der Zarewitsch Michail sein Englisch hat. Erinnerst du dich, Clover Lee, daß in den Stellenanzeigen für Kindermädchen immer nach englischen oder schottischen Gouvernanten gefragt wurde? Die müssen hier en vogue sein.« Daphne sagte: »Offenbar können Russen nicht zwischen Engländerinnen und Schottinnen unterscheiden.« Nachdem der kleine Prinz fortgebracht worden war, spielte das Orchester leisere Musik, Diener gingen zwischen den Gästen umher und boten auf einem Tablett schlanke Kristallgläser mit Champagner an. Auch die männlichen Mitglieder der kaiserlichen Familie machten die Runde; ein jeder von ihnen war bemüht, zumindest kurz mit jedem einzelnen Gast ein paar Worte zu wechseln. Auch die Leute vom FLORILEGIUM mischten sich unter die anderen Gäste – Florian und Willi recht ungezwungen, so als wären sie in einer solchen Umgebung zu Hause, die anderen etwas gehemmter –, bis sie entdeckten, daß sie sogar gesuchte Gesprächspartner waren. Es hatte sich offensichtlich herumgesprochen, daß der Zar und die Zarin sich eine Vorstellung des Circus angesehen hatten; diesem Beispiel waren fast alle anderen Anwesenden gefolgt, und so war jeder von ihnen darauf erpicht, sich mit einem Artisten zu unterhalten, mit dem das in einer gemeinsamen Sprache möglich war. »Tiens«, sagte die Zarewna Alexandra. »Wollen Sie mir damit etwa sagen, Monsieur Pemjean, daß Sie und alle Ihre Kollegen samt Tieren und – naja, eben allem – in nur etwa zwanzig Wagen reisen?« »Oui, altesse. Wenn ich mich recht entsinne, waren es bei der letzten Zählung insgesamt sechsundzwanzig.« »Dróle de chose! Ja, wissen Sie, wenn unsere Familie auf Reisen geht nicht mehr als sechs oder acht von uns –, dann -1348-
brauchen wir vierhundert Wagen!« »Incroyable! Was ist denn in all diesen Wagen?« »Nun ... schon damit wir anständig dinieren können, benötigen wir vierzig Köche samt Kücheneinrichtung, verstehen Sie?« »Gospodín Tyree, der Gesellschaftsanzug, den Sie tragen, ist wirklich überwältigend«, sagte eine ältere blaublütige Dame, die fast genauso grell gekleidet war wie er, dazu aber Schmuck aus Tresoren des Juweliers Sazikow trug. »Sagen Sie, ist diese Farbe in Amerika le demier cri?« Hannibal drehte und wendete sich wie ein Pfau und sagte großartig: »Wir is’n konföderierter amerikanischer Circus, Ma’am. Un’ das hier is’ konföderierte amerikanische Mode.« »Was Sie nicht sagen!« erklärte sie beeindruckt. »Das muß ich mir notieren.« An ihrem dicklichen Handgelenk hing an einer goldenen Kette etwas, das wie ein gewöhnlicher Fächer aussah. Doch jetzt schlug sie ihn auf, und da war es ein Päckchen sehr dünner Elfenbeinplättchen, die fächerförmig auseinandergingen. Mit einem daran hängenden winzigen Stift kritzelte sie etwas auf eines der Elfenbeinplättchen. »Das muß ich unbedingt meinem Mann, dem Herzog, erzählen. Er ist immer dabei, wenn es gilt, eine exotische neue Mode einzuführen.« Das Orchester spielte inzwischen einen Strauß-Walzer, und die Mehrzahl der älteren oder tanzunkundigen Gäste begaben sich an die Wand des Ballsaals, damit die jüngeren und flotteren Raum hatten zu tanzen. Die Mitte des riesigen Raums wurde zum Mahlstrom wirbelnder Röcke und flatternder Rockschöße, wobei die vielfarbigen Gewänder und Uniformen mit den eleganten schwarzweißen Fräcken kontrastierten. Die Paare drehten sich in anmutigen Kreisen und Gegenbewegungen und Figuren, wobei das ganze so harmonisch ablief, als hätten sie alle lange geprobt, die schwungvollen Weisen sichtbar zu -1349-
machen. Clover Lee tanzte Walzer mit einem schmucken jungen Hauptmann von der Garde des Chevaliers, einem der Offiziere, die zuvor draußen auf dem Schloßplatz die Truppen bewegt hatten. Clover Lee fragte sich, ob sie mit diesem Hauptmann, der sich als »Kapitän Graf Eugenij Suworow« vorgestellt hatte, nicht ihre Zeit verplempere. Von nahem besehen und im gleißenden Licht der Kronleuchter erkannte sie, daß das Rot seiner Wangen – was draußen im Freien wie durchblutete Haut ausgesehen hatte – in Wirklichkeit durch eine dicke Schicht Rouge erreicht worden war. Ein wenig spitz spielte sie darauf an. »Da«, sagte Suworow und brachte es beim Tanzen fertig, leicht mit den Achseln zu zucken. »Das müssen wir Offiziere alle tun. Der Zar sieht seine Truppen gern kriegerisch bewegt – sonnenverbrannt und wind- und wettergegerbt.« Clover Lee sah sich um. Es waren noch viele Offiziere da, die tanzten; nicht wenige schwenkten eine ihrer Kolleginnen, und in der Tat, alle hatten sie Rouge aufgelegt. Im Bewußtsein, ihn mit ihrer Bemerkung gekränkt zu haben, beeilte Clover Lee sich, die prächtige Uniform von Eugenij zu loben und meinte: »Ich wünschte, ich könnte mein Trikot dazu kriegen, so hauteng und glatt zu sitzen.« »Ah, Sie meinen meine Hose? Ehrlich gesagt, ist sie eine Qual, Mademoiselle Coverley. Sie ist aus Elchleder; wir würden in Ungnade fallen, zeigte sie auch nur eine einzige Falte oder Runzel. Deshalb wird sie vorm Anziehen gut angefeuchtet und innen mit Seife eingeschmiert. Dann braucht man mindestens einen Kameraden, der einem hilft, sie über die eh – nackten Glieder zu ziehen, wo sie beim Trocknen wahnsinnig eng wird.« »Hauptmann Suworow! Soll das heißen, Sie sind splitterfasernackt darunter?« Clover Lee bemühte sich, empört zu klingen und schlug sittsam die Augen nieder – dies freilich -1350-
nur, damit der Graf nicht sah, wie es in ihnen spöttisch blitzte. »Dürfen Sie einer anständigen fremden jungen Dame so ungezogene Sachen sagen?« Der Walzer ging zu Ende, und die Tänzer dankten den Musikern mit höflichem Beifall. Clover Lee wartete darauf, entweder vom Parkett weggebracht oder um einen weiteren Tanz gebeten zu werden. Statt dessen stammelte der junge Hauptmann Suworow: »Es ist ... es ist ein bißchen warm hier drin.« Das stimmte. Wegen des für die Jahreszeit ungewöhnlichen Wetters hatten die Dienstboten, die zwischen den Palastwänden arbeiteten, die riesigen Kachelöfen in den vier Ecken des Ballsaals in Betrieb gesetzt. Geheizt wurde mit einem aromatischen Holz, dessen Duft den gesamten Raum durchzog, doch die Hitze war ein wenig drückend geworden. Suworow jedoch sah erhitzter aus, als man aufgrund der äußeren Wärme hätte erwarten sollen. »Vielleicht ... wie wär’s mit einem erfrischenden kleinen Spaziergang, Mademoiselle. Ich könnte... ich könnte Sie zur Remise bringen und Ihnen den bemerkenswertesten Schlitten zeigen ...« Er schluckte nervös und schien seinem Glück nicht trauen zu wollen, als Clover Lee lächelte, seinen Arm nahm und sagte: »Lassen Sie uns das tun, Eugenij. Noch nie hat mir jemand einen bemerkenswerten Schlitten gezeigt.« Als der nächste Walzer begann, hatten die meisten anderen Circusleute ihre Schüchternheit überwunden und tanzten – Pemjean mit der Zarewna Alexandra, Hannibal mit der dicken alten Herzogin, Pfeifer, Goesle und Beck mit anderen Hofdamen, Fitzfarris und Yount sowie LeVie mit ihren eigenen Frauen. Die kleine Katalin tanzte mit Velja Smodlaka, doch selbst dieses Kind war eigentlich noch zu groß für sie. Viele Gäste, die nicht tanzten, verließen den Ballsaal und begaben sich in einen weiteren, auf der anderen Seite des Ganges gelegenen Festsaal. Dieser Saal war fast genauso groß, und in seiner Mitte stand ein Tisch von der Größe der Manege -1351-
des FLORILEGIUM. Im Grunde handelte es sich um einen Kreis aus Tischen, alle mit weißen Tischtüchern bedeckt, auf denen unzählige Samoware aus Sterlingsilber, Kristallkaraffen, Stapel von Tellern mit Goldrand und goldenem Monogramm, Silbertabletts und kannen, Terrinen und Schüsseln standen, in denen die feinsten Speisen zu sehen waren, die je aus einer Küche gekommen waren. Auf der einen Seite der im Kreis zusammengestellten Tische war eine Lücke gelassen, durch die ein ständiger Strom von Küchenjungen hereinkam und wieder ging. Jedesmal, wenn ein heißes Gericht auf dem Tisch drohte, kalt zu werden oder ein kaltes lauwarm, wurde es weggenommen und durch ein frisches ersetzt. Im Inneren des Tischkreises wiederum stand ein riesiger runder Tisch, vollgepackt mit Vorräten, um das, was auf den äußeren Tischen stand, zu ergänzen. Dekoriert war er neben einer Fülle von Treibhausblumen mit einem massiven, roh behauenen Block aus einfachem Eis, der genau in der Mitte stand. Zwischen inneren und äußeren Tischen stand ein rundes Dutzend weißuniformierter Kellner, bereit, jede Köstlichkeit auf einen Teller zu füllen oder zu häufen, auf die ein Gast zeigte, und in Gläser Tee, in Kelche Wein oder in die Spitzgläser Champagner einzuschenken. Die Zarin Maria Alexandrowna an einem Arm und Daphne am anderen, näherte Florian sich dem Büfett. Hingerissen und bewundernd nahm er die farbenfrohe Darbietung von Speisen und Getränken wahr, dann trat er an den Blumen vorbei an das Mittelstück heran und fragte sich, was für eine Bedeutung eine unbearbeitete Eissäule haben könnte. Doch Daphne hielt erschrocken die Luft an, und im selben Augenblick erkannte auch Florian die im Inneren des Eisblocks eingefrorene Gestalt. Durch das rohbehauene Eis ein wenig gebrochen, aber durchaus erkennbar, sah man die Gestalt eines jungen Mädchen in bäuerlicher Kleidung – das leuchtende und reich bestickte Kostüm, das sie bei einer Festlichkeit auf dem Lande getragen -1352-
hätte. Selbiges hatte man künstlich durcheinandergebracht; an der einen Seite war der Rock hochgezogen, um ein schöngeformtes Bein sichtbar zu machen, und die Bluse war von einer Schulter heruntergezogen, um eine Brust fast bis zur Gänze zu entblößen. »Gefällt Ihnen das Mittelstück, Monsieur Florian, Madame Wheeler?« fragte die Zarin. »Unser Chef d’embelissement stellt manchmal einen Kuchen her, der aussieht wie die IsaaksKathedrale oder die Admiralität in Zuckerbäckerei. Heute morgen fühlte er sich durch den ungewöhnlichen Kälteeinbruch dazu inspiriert, das Motiv für den heutigen Ball einem alten russischen Volksmärchen zu entnehmen. Darin wird von einem armen Krepostnoy-Mädchen erzählt – einer Leibeigenen –, die auf einem Berghang Holz sammelt und dabei in einen Bergspalt fällt. Hundert Jahre später und hundert Werst vom Ort des Unglücks entfernt, tauchte sie in einer Gletscherwand wieder auf, immer noch genauso jung und schön wie an dem Tag, da sie verschwand.« »Ein erschütterndes Märchen, Euer Majestät; wahrhaft wunderbar illustriert. Das Modell im Eis sieht wirklich lebensecht aus.« »Ein Modell?« sagte die Zarin. »Aber wirklich, ich nehme doch an ... nun, ich bin nie auf die Idee gekommen zu fragen ...« Florian spürte, wie Daphnes Hand auf seinem Arm zitterte. Die Zarin ließ seinen anderen Arm los und sagte munter: »Jetzt amüsieren Sie sich gut. Entschuldigen Sie mich bitte; ich muß unbedingt ein Wort mit dem alten Admiral Graf Gordejew dort drüben sprechen.« »Mir ist der Appetit vergangen«, sagte Daphne von Entsetzen gepackt, als die Zarin außer Hörweite war. »Florian, das da drin ... ist ... ein ... echtes, lebendiges Mädchen ... gewesen; jetzt ist sie zu Eis erstarrt. Und hat heute morgen noch gelebt. Erfroren, bloß um uns zu amüsieren ...« -1353-
»Pst, meine Liebe. Vielleicht ist sie doch künstlich. Nehmen wir doch mal an, daß sie das ist. Nimm dir einen Happen, damit du nicht auffällst. Du mußt es ja nicht unbedingt essen.« Sie wählten einen höchst bescheidenen Imbiß – Kaviar, Heringssuppe, gesottene Pfauenleber, Blätterteiggebäck und einen Krimwein. Als der Kellner mit der Kochmütze ihnen die Teller gerichtet hatte, reichte er sie nicht etwa Florian und Daphne, sondern einem Diener, der plötzlich an seiner Seite stand. Dieser Diener führte sie unter unzähligen Bücklingen an einen der freien kleinen Tische, die den Rest des großen Raums ausfüllten. Dort setzte er ihre Teller ab, rückte ihnen die Stühle zurecht und entfernte sich unter weiteren Kratzfüßen. Daphne hatte gerade einen großen Schluck Wein genommen, um wieder zu sich zu kommen, da war der Bedienstete auch schon wieder bei ihnen und brachte einen dritten Teller mit den gleichen Speisen, die sie ausgesucht hatten; dann zog er sich ohne Erklärung dienernd wieder zurück. »Was soll denn der Extrateller?« fragte Daphne. »Keine Ahnung«, sagte Florian. »Vielleicht ist das so Sitte hier. Um dem Wunsch nach einem Nachschlag zuvorzukommen.« »Ich kann nicht einmal den ersten Teller aufessen«, sagte Daphne, erschauerte neuerlich und bemühte sich, nicht zu dem Eisblock hinüberzusehen. Gleichwohl fing sie an, an einem dick mit Kaviar belegten Brötchen zu knabbern. Die Wagenremise neben dem Palast war fast genauso imposant wie das Winterpalais selbst und wohl ausgestattet; nur kalt und dunkel war es darin. Hauptmann Graf Suworow zündete eine Laterne an, um Clover Lee zu dem »bemerkenswerten Schlitten« zu führen. Diese Beschreibung zu diesem Urteil kam sie – war eine grobe Untertreibung. Das Gefährt ruhte auf Kufen, und am Vorderteil wies es sämtliche Schwengel auf, die nötig waren, Pferde davorzuspannen, doch -1354-
damit endete die Ähnlichkeit mit einem Schlitten auch. Es handelte sich tatsächlich um den größten und am luxuriösesten ausgestatteten Wohnwagen, den Clover Lee jemals gesehen hatte. »Gebaut wurde er auf Befehl von Ekaterina der Großen«, sagte Suworow. »Um ihn zu ziehen, benötigte man vier Vierergespanne.« »Und ich wette, selbst sechzehn Pferde konnten ihn nur im Schritt vorwärtsbewegen«, sagte Clover Lee tief beeindruckt. Sie kletterten hinein und durchmaßen das Innere des Schlittens, das mit Porzellan, edlen Hölzern und Schmuckkacheln ausgekleidet war. Suworow benannte die verschiedenen Abteile: »Das hier ist Ekaterinas Salon, in dem sie beim Fahren auf einer Chaiselongue ruhte. Das hier ist das Speisezimmer, dies das Schlafzimmer und daneben gleich der Abort ...« »Ah, wirklich schwellende Polster im Bett«, sagte Clover Lee. »Ob es auch wirklich bequem ist?« Hauptmann Suworow machte ein unbehagliches Gesicht und plapperte weiter: »Heute wird der Schlitten nicht mehr benutzt. Die Muzhiks würden die kaierliche Familie unerträglich protzig finden, wenn ...« »Aber es ist ein wirklich weiches Bett«, sagte Clover Lee und streckte sich einladend und erwartungsvoll darauf aus. »Katharina muß hier manches schöne Stündchen erlebt haben.« »Ahem, Mademoiselle, es ist scheußlich kalt hier drin. Vielleicht sollten wir in den Ballsaal zurückkehren.« Clover Lee setzte sich auf und sagte ungehalten: »Soll das heißen, Sie haben mich nur herausgebeten, um mir den Schlitten der Großen Katharina zu zeigen? An irgend etwas anderes hatten Sie nicht gedacht?« »Gedacht schon, Mademoiselle«, sagte Suworow unglücklich. -1355-
»Aber auch an meine elchledernen Hosen. Ich müßte ja Stallburschen kommen lassen, bloß um ...« »Ach, lassen Sie’s schon gut sein«, sagte Clover Lee schnippisch und kam federnd vom Bett herunter. »Ich würde auch nicht wollen, daß Ihre bloßen Schenkel frieren. Nur zu, gehen wir zurück!« Das Geheimnis des zusätzlichen Tellers, der auf Daphnes und Florians Tisch abgestellt worden war, sollte sich bald aufklären. Zar Alexander hatte den Festsaal betreten und ging von Tisch zu Tisch und nahm sich die Zeit, an jedem kurz Platz zu nehmen. Auf jedem Tisch stand deshalb ein Extrateller, so daß er einen kleinen Happen nehmen und die am Tisch Sitzenden hinterher zu Recht behaupten konnten, mit dem Kaiser zu Abend gegessen zu haben. Als Alexander am Tisch von Daphne und Florian Platz nahm, vergewisserte er sich mit einem Blick, was sie aßen – Daphne knabberte immer noch an ihrem Kaviarbrot, während Florian Suppe löffelte – woraufhin er selbst auch von einem Kaviarbrötchen abbiß und einen Löffel Suppe zu sich nahm. Gleichzeitig brachte er in nicht sonderlich gutem Französisch die Hoffnung zum Ausdruck, daß sie sich gut amüsierten. Florian versicherte ihm, das täten sie, wohingegen Daphne in Gegenwart der eingefrorenen jungen Leibeigenen Abstand davon nahm, überhaupt irgend etwas zu sagen. Dann erklärte Alexander auf deutsch: »Herr Florian, würden Sie bitte mit hinaufkommen in meine Gemächer, damit wir uns unter vier Augen unterhalten können? Und Sie, Frau Wheeler, würden Sie bitte unsere Unhöflichkeit entschuldigen und Marschall Krylows Aufforderung zum Tanz annehmen?« Auf irgendein unsichtbares Signal hin war plötzlich ein in mittleren Jahren stehender, etwas korpulenter und mit Backenbart ausgestatteter Offizier der Garde zu Pferde zur Stelle und verneigte sich vor Daphne. Florian erklärte ihr die Situation auf englisch, woraufhin sie schmollend das Gesicht verzog, jedoch gehorsam -1356-
mit Krylow in den Ballsaal abzog. Der Zar scheuchte die verschiedenen Wachen und Diener fort, die sich ihm anschließen wollten, und führte Florian eine Marmortreppe hinauf und durch verschiedene prächtig ausgestattete Räume und Korridore zu seinen Privatgemächern, wo die Tür von zwei wie katatonisch erstarrten Wachen von der Goldenen Kompanie der Kaiserlichen Grenadiere flankiert wurde. Die Gemächer des Zaren waren eher karg eingerichtet, dafür war jedoch jedes Stück exquisit. Alexander trat zunächst auf einen Waschtisch aus karelischer Birke zu, auf dem eine Kanne und ein Becken standen, beide jeweils aus einem einzigen Amethyst herausgeschnitten. Er goß Wasser ein und wusch sich die Hände, wobei er erklärte: »Ich habe soeben dem Emir von Buchara die Hand schütteln müssen und wasche mir hinterher immer die Hände, wenn ich jemand von einer anderen Religion berührt habe.« Dann forderte er Florian mit wedelnder Handbewegung auf, auf einem Sessel Platz zu nehmen, setzte sich auf den gegenüber und sagte: »Sie stammen aus dem Elsaß, einem Land, dessen Bewohner von altersher nicht recht wissen, wohin sie eigentlich gehören: zu den Deutschen oder den Franzosen. Ihr zweiter Mann beim Circus, Colonel Edge, stammt aus Virginia und ist praktisch heute ein Mann ohne Vaterland. Die anderen Circusangehörigen stammen aus aller Herren Länder.« »Euer Majestät sind glänzend informiert.« Alexander tat das mit einer Handbewegung ab. »Die Dritte Abteilung meiner Kanzlei besitzt ein detailliertes Dossier über jeden Ausländer, gleichgültig, ob er seinen ständigen Wohnsitz bei uns hat oder nur auf der Durchreise ist. So weiß ich zum Beispiel, daß Sie Ihren Circus durch das hindurchgebracht haben, was man heute den Sieben-Wochen-Krieg nennt, und sich dabei geschickt zwischen den sich gegenüberstehenden Armeen hindurchlaviert haben. Ich nehme an, daß Sie in diesem Krieg weder für Österreich noch für die preußischitalienische -1357-
Allianz Partei ergriffen haben. Gleichwohl möchte ich behaupten, Sie wissen, worum es in diesem Krieg ging.« »Circusleute sind zwar apolitisch, Majestät, aber nicht unwissend. Jeder in Europa ist sich des Ehrgeizes von Kanzler Bismarck bewußt, alle deutschsprechenden Völker zu einem einzigen Reich zusammenzuschmieden.« »Und dazu gehöre ich nun einmal, Herr Florian. Sie werden bemerkt haben, daß die Umgangssprache an diesem Hofe deutsch ist. Meine Mutter war Preußin, meine Großmutter eine Württembergerin, und meine Urgroßmutter kam aus AnhaltZerbst. Meine Frau, die Zarin, war eine Prinzessin von HessenDarmstadt; folglich haben meine Söhne noch weniger russisches Blut in den Adern als ich. Wenn ich König Wilhelm von Preußen mit Cousin anrede, ist das keine leere Hoffloskel.« »Ich bin sicher, Majestät, daß die Welt versteht, warum Sie Preußen in diesem Sieben-Wochen-Krieg unterstützt haben.« »Das ist mehr, als man von Wilhelm sagen kann. Er ist ein alter Mann, und das einzige, das er sich ersehnt, ist ein friedliches Alter. Aus diesem Grund hat er die Zügel seinem ränkeschmiedenden Kanzler überlassen. Jetzt hat Bismarck Österreich gedemütigt und Preußen zum bedeutendsten aller deutschen Lande gemacht. Schleswig-Holstein und Hannover hat er sich bereits einverleibt. Außerdem kann er damit rechnen, daß sich auch jene anderen Staaten – Hessen, Baden und Sachsen – seinem Staatenbund anschließen werden, die der Idee des Deutschen Reiches früher ablehnend gegenüberstanden. Demnächst wird Bismarck versuchen, das Elsaß an sich zu bringen und damit den Franzosen die deutsche Überlegenheit unter die Nase zu reiben. Er findet bestimmt irgendeinen Vorwand für einen Krieg mit Frankreich. Innerhalb des nächsten Jahres, möchte ich mal sagen. Gewinnt er diesen Krieg, wird von mir erwartet, daß ich mich für meinen Cousin Wilhelm freue und ihn nicht länger König, sondern Kaiser nenne. Aber« – Alexander hielt beschwichtigend eine Hand hoch, als hätte -1358-
Florian zur Unzeit applaudiert –, »ich kann nicht die Tatsache übersehen, daß Preußen gleich auf der anderen Seite der polnischen und lettischen Grenze Rußlands liegt. Falls und sobald mein Cousin Kaiser eines geeinigten und mächtigen Deutschen Reiches ist, wird er für mich zu einem höchst unbequemen Nachbarn werden.« »Wollen Sie damit sagen, Majestät, daß Sie bei einer Auseinandersetzung zwischen Preußen und Frankreich die Franzosen unterstützen werden?« »Sie werden ja wohl nicht erwarten, daß ich diese Frage direkt beantworte.« Alexander lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen zusammen und sagte: »Frankreich ist ein Pöbelhaufe, ist es immer gewesen. Die Franzosen sind immer dann ganz sie selbst, wenn sie als Mob auftreten. Ihre Herrscherhöfe und Ratsversammlungen sowie ihr Klerus sind nichts anderes als nur besser gewaschener Pöbel. Louis Napoleon ist nichts weiter als ein opportunistischer Emporkömmling. Trotzdem hat er die Kaiserkrone aus dem Sumpf des Republikanertums herausgeholt.« »Deshalb empfinden Sie für ihn so etwas wie kaiserliche Solidarität.« »Wenn ich das Russische Reich erhalten will, muß ich mich damit beschäftigen, welches Schicksal andere Reiche erleiden. Wenn Bismarck die europäischen Staaten wie Schachfiguren hin- und herschiebt, gefährdet er damit die Idee der Monarchie. In Frankreich wimmelt es von Kommunarden, die nur auf die Gelegenheit warten, den Thron wieder einmal zu stürzen. Bei mir in Rußland gibt es die im Schatten verborgenen Nihilisten und den Kult der Volksfreiheit, die für die gleiche Art von Umsturz eintreten. Daß ich die Krepostnoyi befreit habe, hat ihrer Begierde, kaiserliches Blut fließen zu lassen, keinen Dämpfer aufgesetzt. Inzwischen haben russische Emigranten in Westeuropa etwas gegründet, das sie eine Populistische Partei nennen. Auch sie predigen die Revolution, und das in sicherer -1359-
Entfernung vor meinem Zugriff. Unsere jungen Leute, die im Ausland studieren, werden mit radikalen Ideen infiziert; wenn sie heimkommen, tragen sie alle die Keime dieser ansteckenden Krankheit in sich. Bringt Preußen Frankreich im Krieg eine Niederlage bei, haben die französischen Kommunarden ihren Vorwand, sich gegen Louis Napoleon zu erheben. Das könnte in fast jedem Königreich oder Kaiserreich – meines eingeschlossen – wieder Revolutionen bedeuten, wie anno 1848.« »Wenn ich Ihre Absichten richtig deute, Majestät, möchten Sie sich aus einem Krieg zwischen Preußen und Frankreich heraushalten – gleichwohl jedoch versuchen, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Mächten zu erhalten, so daß keiner von ihnen in Europa die Oberhand gewinnt.« »Richtig. Für meine Zwecke kann ich von Glück sagen, daß die Franzosen so gern Schneeammern mögen.« Florian blinkerte. »Wie bitte?« »Die größten und schmackhaftesten Vögel ihrer Art. Davon gibt es bei uns in den Bergen mehr als genug, und so beliefern wir damit regelmäßig die Pariser Märkte. Sie werden gerupft und ausgenommen und dann – in Haferstroh verpackt – in Weidenkörben verschickt; dadurch wird verhindert, daß die Vögel gequetscht werden.« »Tut mir leid, Majestät, aber ich kann nicht ganz ...« »Jede Zollbehörde an jeder Grenze von hier bis Frankreich ist äußerst wachsam, was Schmuggelgut betrifft. Deshalb werden die meisten Waren, die die Grenzen passieren, gründlich durchsucht. Allerdings haben die Zollbeamten sich so sehr an unsere in Haferstroh verpackten Vögel gewöhnt, daß sie sie routinemäßig durchlassen. Und zwischen dem Hafer lassen sich chiffrierte Nachrichten verbergen, die von den Agenten meiner Dritten Abteilung in Paris herausgesiebt werden. Auf diesem Wege ist es mir bisher gelungen, Louis Napoleon meine Nachrichten zu übermitteln, ohne daß mein Cousin Wilhelm und -1360-
sein Wachhund, Kanzler Bismarck, es gemerkt hätten. Nicht einmal Napoleons Minister und Ratgeber haben eine Ahnung davon, ja, nicht einmal meine eigenen Diplomaten in Paris und anderswo.« »Genial, Majestät!« sagte Florian und fragte sich, warum der Zar ihm das alles erzählte. »Leider weiß Louis Napoleon meinen Rat nicht immer zu schätzen und versäumt es, die Maßnahmen zu ergreifen, die ich empfehle. Vermutlich kann ich ihm das noch nicht einmal verargen. Ich selbst wäre ähnlich mißtrauisch, wenn ausländische Geheimagenten mir irgendwelche Ratschläge übermittelten. Kämen diese Botschaften jedoch von dritter und nachweislich desinteressierter Seite ... und ich kann mir nichts politisch Harmloseres vorstellen, als Ihren Circus, Herr Florian. Man hat Sie sagen hören, Ihr nächstes Ziel solle Paris sein. Wann gedenken Sie, dorthin aufzubrechen?« Florian war bestürzt. Er hatte die Bemerkung mehr als einmal gemacht, konnte sich jedoch nicht erinnern, daß auch nur bei einer einzigen dieser Gelegenheiten ein Fremder in Hörweite gewesen wäre. Gleichwohl faßte er sich und sagte: »Ich habe noch keine festen Pläne, Majestät. Wir werden Sankt Petersburg nicht vor den Weißen Nächten der Mitternachtssonne verlassen. Wahrscheinlich werden wir also erst im Hochsommer abreisen, wenn der Winter wieder näherkommt. Aber ich habe noch nicht einmal über unsere Route nachgedacht.« »Von hier über Land nach Paris zu reisen, wäre außerordentlich mühselig und dürfte scheußlich lange dauern. Stellen Sie sich doch mal vor, Sie führen per Schiff und liefen einen der westlichen Ostseehäfen an.« »Nun, wir sind bereits einmal mit einem Handelsschiff gereist. Aber jetzt haben wir uns dermaßen vergrößert und ist unsere Ausrüstung so sperrig geworden ...« »Ein Linienschiff könnte Sie ohne weiteres aufnehmen.« -1361-
Wieder blinkerte Florian. Der Zar erklärte sich näher. »Sämtliche Regierungschefs der Welt sind eingeladen worden, im November an der feierlichen Eröffnung des Suez-Kanals teilzunehmen oder einen Vertreter zu schicken. Mein Gesandter wird im September von hier abreisen, und selbstverständlich schicke ich ihn mit großem Gefolge, wie es sich gehört – an Bord meines neuesten dampfgetriebenen Schlachtkreuzers, der Pye’rr Velik. Ihr Circus könnte ihn bis – sagen wir – Kiel in Schleswig-Holstein begleiten.« »Euer Majestät machen uns da ein äußerst großzügiges und sehr verlockendes Angebot. Aber wenn Ihr Kriegsschiff ganz um Europa herum nach Ägypten läuft, warum können wir dann nicht an Bord bleiben bis ... sagen wir, Le Havre, von wo aus es nicht mehr so weit bis nach Paris ist?« »Weil ich Sie – rund heraus gesagt, Herr Florian – bitten würde, für die Passage zu bezahlen, in gewisser Weise wenigstens. Dazu gehört, daß Sie aus deutschen Landen kommend nach Frankreich einreisen.« »Ich war davon ausgegangen, Majestät, daß wir irgendeine Nachricht für Sie überbringen sollten. Sollen wir wirklich unterwegs für Sie spionieren? Ich fürchte, darin sind wir allesamt ungeübt ...« »Ich verlange nichts weiter, als daß Sie die Augen offen halten. Sollte niemand sonst das können, Ihr ehemaliger Colonel Edge kann das bestimmt. Ich würde ihm und Ihnen vorher sagen, wonach Sie Ausschau halten sollten.« »Nun ...« »Selbstverständlich werden Sie sich das überlegen und mit Colonel Edge durchsprechen wollen. Allerdings wäre es mir lieber, nicht allzu viele von Ihren Leuten erführen die Einzelheiten meines Vorschlags.« »Ich verspreche, äußerste Diskretion walten zu lassen, Majestät.« -1362-
»Sie werden viel Zeit haben, es sich zu überlegen, ehe wir uns wiedersehen – was am besten auf gesellschaftlicher Ebene geschähe, genauso wie heute abend. Was hielten Sie davon, wenn Sie vor meinem Hofstaat dann eine Vorstellung mit Ihrem Circus geben, wenn wir in einen unserer Sommerpaläste übergesiedelt sind? Sie erwähnten die Weißen Nächte. Lassen Sie uns die Galavorstellung auf den längsten Tag des Jahres festlegen.« Alexander lehnte sich zu einem Tisch hinüber, auf dem ein Tischkalender lag. »Der neunte Juni? Dann wird der Hof in Peterhof sein. Würde Ihnen das passen?« »Außerordentlich, Majestät.« »Sie können mich dann wissen lassen, ob Sie mein Angebot annehmen und per Schiff Weiterreisen wollen. Sollte das der Fall sein, würde ich Ihnen und Colonel Edge gewisse Botschaften und einige wenige Instruktionen übergeben. Außerdem erhalten Sie dann von mir ein sehr überzeugendes Empfehlungsschreiben an Seine Kaiserliche Hoheit, Louis Napoleon. Das sollte Ihnen helfen, in Paris Ihr Glück zu machen, Herr Florian. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie gleichzeitig auch den Gang der Weltgeschichte beeinflussen könnten. Zum Besseren, wie ich denke.« Der Zar erhob sich; Florian tat desgleichen. »Gehen Sie schon vor, mein Herr. Den Weg zurück in den Ballsaal werden Sie wohl allein finden. Von jetzt an sollte man uns möglichst wenig zusammen sehen.« Unter etlichen Verbeugungen zog Florian sich zurück, verließ die Tür zwischen den beiden immer noch zur Salzsäule erstarrt dastehenden Wachen der Grenadiere hindurch. Er ging denselben Weg zurück, den er heraufgebracht worden war, bis er in einen Korridor gelangte, in dem weder Wachen noch Diener noch sonst wer zu sehen war. Dort machte er – noch sehr munter für einen Mann seines Alters und seiner Statur – einen Luftsprung und knallte dabei die Hacken zusammen.
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8 Eines Tages Mitte Mai kam Wassili Marchan mit einem Wagen voller frisch aussehender Mädchen mit großen Augen auf den Festplatz gefahren – seinen Platzanweiserinnen/Tanzmädchen. Jedes der Mädchen hatte, eingeschlagen in ein viereckiges, verknotetes Tuch sein Kostüm dabei. Sie sprangen vom Wagen herunter und sahen sich, offenbar erfreut um. »Ich habe sie hergebracht, damit sie sich mit Ihrem Circus bekannt machen, Gospodm Florian«, sagte Marchan. »Vielleicht möchte Ihr Dirizher ihre Musik mit ihnen durchnehmen. Sonst, tak, brauchen Sie sich keine Gedanken um sie zu machen – nicht einmal zu ernähren und unterzubringen brauchen Sie sie. Sie essen daheim bei ihren Eltern und dort schlafen sie auch.« »Ausgezeichnet. Doch ehe wir unseren Handel abschließen, Gospodin Marchan, sagen Sie mir eines. Werden ihre Eltern ihnen erlauben, bis nach Peterhof zu reisen?« »Agaä. Man hat Ihnen also die Gnade erwiesen, eine Galavorstellung am Zarenhof zu geben! Da, soweit dürfen die Mädchen. Das sind ja nur dreißig Werst von hier. Das schaffen Sie mit der Eisenbahn an einem Tag hin und zurück. Das ist die erste Eisenbahnstrecke, die in Rußland überhaupt gebaut wurde – klar, sie dient ja auch der Bequemlichkeit des Zaren.« »Aber wir werden per Wagen hinfahren – um in Parade in Peterhof einzuziehen. Und schon ein paar Tage vorher aufbrechen und Vorstellungen in den Dörfern oder Ortschaften geben, die an der Strecke liegen.« »Zwischen hier und Peterhof gibt es nur Prival, und dort werden Sie bestimmt nicht auftreten wollen. Der ewige Wind, der vom Finnischen Meerbusen herüberweht, würde Ihr Chapiteau wegreißen.« »Ach, unsere Zelte sollen sowieso hierbleiben, denn wir -1364-
werden ja wieder herkommen, um die Sommersaison vollständig auszunutzen. In Peterhof – und in Prival – werden wir Freiluftvorstellungen geben. Mein Zeltmeister und Ingenieur arbeiten bereits an Extramasten, -schuhen und – absegelungen, damit wir Trapez, Hochseil und Longe aufspannen können.« »Dann werde ich den Mädchen klarmachen, daß sie einige Tage außerhalb von Piter sein werden. Ich bin überzeugt, wenn die Eltern hören, daß die Vorstellung auf ausdrücklichen Wunsch des Zaren stattfindet, erlauben sie ihnen das.« »Vielen Dank, Gospodin. Und hier kommen Ihre Kim-Brüder. Seien Sie gut zu ihnen; es sind brave Burschen.« Die vor Freude völlig aufgeregten und strahlenden Koreaner verstauten ihre Sachen in Marchans Wagen und machten dann lebhaft die Runde, um jedem die Hand zu schütteln und sich vor jedem vom FLORILEGIUM zu verneigen, selbst vor den Böhmen, und um immer und immer wieder zu sagen: »Anyonghi kesipsio.« Die weiblichen Circusangehörigen schüttelten den Kims nicht nur die Hand, sondern gaben ihnen auch noch einen Kuß auf die Wange und sagten: »Auf Wiedersehen! Viel Glück! Und gute Heimreise!« Als der Wagen mit den immer noch winkenden Koreanern davonrumpelte, nahm Ioan Petrescu sich der neuen Mädchen an, um sich um ihre Kostüme zu kümmern. Erst am nächsten Tag kam Hannibal, der jetzt die Maringotte, die er zuvor mit den Kims geteilt hatte, ganz für sich allein hatte, mit einem halbvollen Sack zu Florian und sagte: »Sahib, dies’ Chinamänner ha’m was zurückgelass’n. ‘n Sack von diese Makkaroni, die sie dauernd gegess’n ha’m.« »Grundgütiger Himmel, wenn sie die seit Italien mit sich rumgeschleppt haben, müssen die voll von Mehlwürmern und verschimmelt sein. Trotzdem vielen Dank, Abdullah. Ich fahre später sowieso in die Stadt und werd’ sie dann beim CINIZELLI abgeben, falls sie noch nicht abgereist sind.« -1365-
Doch sie waren bereits fort. Nur ein alter Dvornik war als Wachmann zurückgeblieben, und der war Kalmücke und konnte kaum russisch. Mit wedelnder Handbewegung wies er auf das leere Innere des Circusbaus und sagte: »Podi k’ Krimu.« »Podi, ja?« sagte Florian. »Gospodin Marchan hat keine Zeit verloren. Moment – was hast du da gesagt? Zur Krim? Du meinst doch wohl, nach Korea, alter Mann.« »Korea? Du verrückt, Gospodin? Kein Mensch geht Korea. Marchan Sommer immer auf Krimu.« »Hoffentlich hat er uns nur mit gleicher Münze heimgezahlt«, sagte Florian später grummelnd zu Edge. »Wir haben Marchan um seinen Kraftmenschen gebracht. Und ganz offensichtlich hat er vom ersten Augenblick an, da er den Tausch vorschlug, gelogen.« »Nun, du hast gesagt, diese Kims müßten halb um die Welt. Nur, daß sie jetzt die längere Hälfte vor sich haben. Jedenfalls kehren sie nicht wieder zurück nach Westen ... mit uns Spionen.« Fast erbost sagte Florian: »Sag doch, Aufklärungsdienste leisten, nicht spionieren. Ich begreife wirklich nicht, warum du dagegen bist, daß ich das Angebot des Zaren annehme. Großer Gott, Mann, solche Aufklärungsdienste hast du doch schon in zwei Kriegen geleistet.« »Meinst du nicht, zwei Kriege genügen für ein Leben?« »Verflucht! Vielleicht helfen wir, einen zu verhindern!.« »Was uns Kopf und Kragen kosten kann. Aber hör zu, Governor, du bist es, der die Entscheidung treffen mußt; wir anderen richten uns danach. Ich möchte bloß, daß meine Gegenstimme fürs Protokoll festgehalten wird.« Die Tage wurden immer länger – unnatürlich viel länger, wie es den meisten Circusangehörigen vorkam. Um den ersten Juni (nach dem russischen Kalender) herum tauchte die Sonne erst -1366-
kurz vor Mitternacht unter den Horizont – und diese Periode nannten die Tanzmädchen die Zeit der ›Mitternachtssonne‹ – und verharrte dann nur gerade lange genug unterm Horizont, daß die Stadt in einem langen Zwielicht und einer sehr kurzen Nacht Ruhe fand. Richtig dunkel wurde es jedenfalls erst kurz nach halb ein Uhr morgens für drei Stunden, ehe es wieder heller wurde. Ganz in der Frühe und ganz spät an diesem Einundzwanzigstundentag warfen die Menschen einen unglaublich langen, dünnen schwarzen Schatten, so als schleppten sie gestürzte Kirchtürme mit sich herum. Ging der Mond auf, wurde er stets von der ganz in seiner Nähe stehenden Sonne vergoldet; manchmal sogar Zinnober-, Scharlach- oder blutrot überhaucht. Die Petersburger nutzten die Vorteile der langen warmen Tage und lauen weißen Nächte. Fast zu jeder Stunde wimmelte es auf den Straßen und den Prospekti von Spaziergängern. Die Angehörigen der Oberklasse, die den Winter über auf der eher geschützten Morskaya flaniert hatten, beanspruchten jetzt den breiten und luftdurchfächelten Newski-Prospekt und trugen dort eine nicht länger unter Pelzmänteln versteckte Vielfalt von eleganten Kleidern, kostbaren Schmuck und schöne Frisuren zur Schau – und die Herren Backenbärte, Schnauzer, Knebel und zum Teil exzentrische Rauschebärte von solcher Länge, daß sie unter dem Halstuch festgesteckt wurden. An der Promenade am Newa-Ufer standen Angler und lehnten sich mit ungewöhnlich langen Ruten übers Geländer. Dabei standen sie häufig bis zu den Knöcheln im ›Sommerschnee‹, den watteähnlichen weißen Flughaaren der Samen jener Pappeln, welche die Promenade säumten. Jüngere Petersburger schwammen im Fluß, ohne sich freilich allzuweit vom Ufer in die recht strudelige Strömung hinauszuwagen. Mehrere Nächte hintereinander sahen die Artisten, wenn sie nach der Spätvorstellung das Chapiteau verließen, am Ufer Freudenfeuer flackern. Scharen junger Männer und Frauen in alten Kleidern, -1367-
doch mit Kränzen im Haar, sprangen über diese Feuer hinweg in die Newa. Florian erkundigte sich bei den Tänzerinnen nach dem Sinn dieses Tuns und übersetzte ihre Antwort für den Rest der Truppe: »Ein alter Brauch, sagen sie. Es handelt sich um Junggesellen und unverheiratete Frauen. Jeder der Kränze, die sie aufhaben, ist durch irgendeine Besonderheit gekennzeichnet und leicht wiederzuerkennen. Tauchen sie ins Wasser ein, lassen sie ihre Kränze davonschwimmen und bei Morgengrauen – also in ein paar Stunden – machen sie sich flußabwärts auf die Suche danach. Jeder kann – behaupten die Mädchen wenigstens – aufgrund der Lage und des Zustands seines Kranzes erkennen, ob er oder sie nach Ablauf dieses Jahres immer noch unverheiratet sein werden.« »Vielleicht sollten ein paar von uns sich daran beteiligen«, murmelte Clover Lee an Monday gerichtet. Doch falls sie es taten – keiner von ihnen verriet, was dabei herauskam. Das warme Wetter brachte der von Sümpfen umringten und unter viel Regen leidenden Stadt eine Heimsuchung besonderer Art: unglaubliche Mückenschwärme. Manchmal sah es so aus, als klatschte das Publikum im Circus unentwegt, so sehr schlugen sie nach den Plagegeistern. Die Seiltänzer und Parterreakrobaten, die sich besonders auf ihre Arbeit und ihr Gleichgewicht konzentrieren mußten, konnten überhaupt nur arbeiten, wenn sie sich zuvor mit einer insektenabweisenden, von Ioan aus Kampferöl für sie hergestellten Salbe eingerieben hatten. »Kein Wunder, daß der Zar überall Sommerresidenzen hat, bloß nicht hier in Sankt Petersburg«, meinte Yount knurrend, nachdem er seinen kahlen Schädel so oft und so wütend beklatscht hatte, daß er ganz taumelig war. »Ja«, sagte Katalin. »Ich nehme auch an, daß der Seewind dort am Meerbusen die Insekten vertreibt. Nun, wir werden das -1368-
bald genau wissen, Obie. Morgen brechen wir nach Peterhof auf.« Die Racklos arbeiteten fast die ganze Nacht hindurch und brauchten dabei nur während der dunkelsten zwei Stunden Laternen, die Seile, das Trapez und die Longe abzubauen sowie die Piste hochzunehmen und alles in den Materialwagen zu verstauen, was in Peterhof gebraucht werden würde. Das Chapiteau sowie das Gradin ließen sie ebenso stehen wie Stall-, Sideshow- und Garderobenzelte. Drei Böhmen wurden abkommandiert, sich rund um die Uhr als Wache abzulösen. Außerdem ließ Florian sämtliche Fahrzeuge zurück, die für den Transport oder als Unterkünfte für die Artisten nicht gebraucht wurden, den Roten Wagen eingeschlossen. »Aber wie soll ich in Prival Karten verkaufen?« wollte Gavrila besorgt wissen. »Es wäre vergebliche Liebesmüh, das auch nur zu versuchen«, sagte Florian. »Wir werden eine Freiluftvorstellung geben, und jeder, der zusehen will, kann das tun. Es macht mir nichts aus, einmal eine Gratisvorstellung zu geben. Es wird für die meisten von uns, die bisher nur unter der Kuppel des Chapiteaus gearbeitet haben, das erstemal sein, daß sie es unter freiem Himmel tun müssen. Betrachten wir das also als Probe. Damit sollte eigentlich jedes Unglück ausgeschlossen sein, wenn wir im Park von Peterhof auftreten. Man kann nur hoffen, daß es weder in Prival noch in Peterhof regnet.« Der Regen blieb aus, doch es hatte in der letzten Zeit dermaßen gegossen, daß die Straße von Piter nach Prival eine fünfzehn Werst lange Schlammpiste war. Der Circus machte keine Parade, sondern hatte Mühe, überhaupt voranzukommen. Manchmal war der Schlamm so wässrig, daß die Wagen bis zur Radnabe darin einsanken, und Peggy und Mitzi mußten sie nicht selten hinausschieben. Manchmal war der Schlamm aber auch klebrig; dann wurde er an den Rädern immer dicker und schwerer, so daß sie anhalten und die Räder erst sauberkratzen -1369-
mußten. Jörg Pfeifer, der wie jeder andere gesunde Mann in der Karawane dabei mitmachen mußte, sagte: »Der Zar hat seine Eisenbahn; deshalb ist es ihm scheißegal, in welchem Zustand sich die Straße befindet, die das gemeine Volk benutzen muß.« Als es weiterging, sagte Edge zu der neben ihm sitzenden Sunday: »Jetzt, wo wir dies Nordland ohne Schneedecke vor uns sehen, kann man erkennen, daß es im Grunde ein erdfarbenes Gebiet ist, nicht wahr? Wo der Schlamm nicht braun ist, ist er schwarz oder ockergelb. Und wo der Boden nicht verschlammt ist, besteht er aus Sand. Sogar die Kleidung der Menschen ist erdfarben. So ein Bauer ist von einer Vogelscheuche nicht zu unterscheiden, höchstens wenn er geht.« »Fällt dir nicht noch was anderes auf, Zachary?« sagte Sunday. »Kein Bauernhaus ist von einem Garten umgeben oder hat Blumenkästen vorm Fenster. Und selbst die Wildblumen sind selten, dazu winzig und blaß. Du hast recht, es ist ein sandiges Land.« Der Uhrzeit nach hätte es Nacht sein müssen, als sie Prival erreichten, aber selbstverständlich stand die Sonne noch hoch am Himmel. Der Name Prival bedeutet nichts weiter als »Haltestelle«; denn dies war der Ort, an dem die zwischen Sankt Petersburg und Peterhof hin- und hermarschierenden Truppen für gewöhnlich Pause machten, um sich zu erfrischen, zu übernachten oder sich möglicherweise mit willigen Frauen zu vergnügen, falls sie dermaßen verzweifelt waren, daß ihnen die hageren oder beleibten Frauen mit den nichtssagenden Kuhgesichtern, der schlammigen Hautfarbe und sonst von echtem Schlamm bedeckten Leibern zusagten. Für den Circus konnte es nur von Vorteil sein, daß der Platz in der Ortsmitte durch die häufigen Exerzierübungen der Truppen einen festen Boden inmitten eines ausgedehnten Schlammsees bildete. Florian richtete sich daher in seiner Kutsche auf und verkündete den versammelten und stumpf dreinblickenden Privalern, nach Einbruch der Dunkelheit werde der Circus hier eine Vorstellung -1370-
geben, falls sie Lust hätten, noch solange aufzubleiben. Bis dahin, sagte er, werde seine Truppe mit Freuden für eine gute Mahlzeit zahlen. Es gab eine Messe für die durchziehenden Soldaten, und die Circusleute aßen dort – erst die Artisten, während Goesle, Beck und Banat die Racklos beim Aufbau ihres ersten Freiluftcircus beaufsichtigten. Sie setzten die gebogenen Teilstücke zu einer richtigen Piste zusammen und verteilten darin eine Streu aus Stroh; drum herum bauten sie die karbidbetriebenen Scheinwerfer und anderen Lampen auf. Gusztäv Jaszi maulte angesichts des ihm vorgesetzten Essens und sagte auf magyarisch: »Ich würde lieber draußen schuften, statt mir diese Ürülek reinzuwürgen.« Man hatte der Truppe das gleiche Essen vorgesetzt, das man den durchziehenden Soldaten servierte und das die Leute hier Tag für Tag selbst aßen – kurz gesagt, die einzige Mahlzeit, die sie ihnen vorsetzen konnten: Buchweizengrütze, gekochter Kohl, Schwarzbrot, Salzgurken und Tee oder Kwas. »Du solltest weder Scheiße noch vor allem eine Speise darin sehen, sondern nichts anderes als ein Mittel zum Überleben«, sagte Ioan in derselben Sprache. »Um die Fahrt bis Peterhof zu überstehen – denn dort werden wir wieder schlemmen.« Die gesamte Einwohnerschaft von Prival blieb auf und hockte sich rund um die Piste, um der Vorstellung zu folgen – obwohl sie dies mit demselben Stumpfsinn taten, den sie der Darbietung einer Exerzierübung entgegengebracht hätten: Kein einziges Mal klatschten sie Beifall oder lachten sie. Den Artisten war das ziemlich egal; sie mußten sich an die neuen Umstände anpassen. Colonel Ramrod mußte zum erstenmal in seiner Laufbahn als Kunstschütze der Abdrift durch den Wind Rechnung tragen – er war überzeugt, daß es Maurice und Sunday am Trapez sowie Daphne und Yount auf ihrem Hochrad, ja sogar der kleinen Grille in ihrer rollenden Kugel darin nicht anders erging. Nur -1371-
Pavlo Smodlaka wirkte übererregt und war außerstande, sich an die neuen Bedingungen zu gewöhnen. Die Nacht war wegen der vom Finnischen Meerbusen herüberwehenden Brise nicht warm, doch Pavlo schwitzte im Rampenlicht, brachte seine Befehle für die Hunde, seine Albino-Kinder und seine Frau nur zögerlich und nach Worten suchend hervor und schaute immer wieder zum Himmel hinauf, der sich im Osten glutvoll rötete. Doch Terry, Terrier und Terriest brachten ihre Nummer flott und munter hinter sich, wie sie es ohne Befehle vermutlich auch getan hätten. Da die Zuschauer so apathisch waren und die Leute von der Sideshow schon oft im Freien aufgetreten waren, ließ Florian keine Pause machen und ließ bis zum Großen Finale durcharbeiten, das zur Begleitung von ›Bozhe Tsara Krani‹ absolviert wurde, dessen russischen Text Rouleau extra auswendig gelernt hatte. Trotzdem raffte sich keiner der Zuschauer auf, aus Achtung vor dem Zaren aufzustehen. Florian selbst stolzierte vorneweg und klatschte laut dabei in die Hände. Dergestalt angestachelt, kam denn doch etwas Leben in die Privaler, und sie klatschten halbherzig mit. Als Goesle langsam die Scheinwerfer erlöschen ließ und die Artisten auseinandergingen, rafften sich auch die Muzhiks hoch und schlichen sich zu ihren Izba-Hütten; dabei herrschte eine Atmosphäre, als wären sie von einer schweren Prüfung befreit. »Merde alors«, brummelte Rouleau. »Hoffentlich ist unser Publikum im Palast nicht genauso stumpfsinnig.« »Keine Bange«, sagte Willi, »Bauern sind schon un merdier, gewiß. Aber in Peterhof spielen wir nicht vor Bauern. Ah, regardez – der Mond geht auf. Es ist Vollmond heute nacht, und ein blutroter dazu!« »Horch!« sagte Rouleau. »In der Ferne heult ein Wolf.« Dieser kummervolle, unglaublich in die Länge gezogene Klageton war kaum verklungen, da wurde er echogleich erwidert, und das laut und ganz aus der Nähe. Im selben -1372-
Augenblick fingen die Elefanten an zu trompeten, die Raubkatzen zu fauchen und die Pferde zu wiehern. Rouleau rief: »Putain! Der hier muß gleich neben dem Festplatz stehen – hinter den Tieren, vielleicht.« Gemeinsam mit Willi lief er zu den Wagen hinüber, die fast so etwas wie eine Wagenburg bildeten. Auch andere liefen herzu oder lehnten sich neugierig aus den Fenstern ihrer Maringottes. In einem der Wohnwagen waren in dem von drinnen herausfallenden Lampenlicht zwei miteinander ringende Gestalten zu erkennen. Edge war als erster da und atmete erleichtert auf, als er sah, daß es sich um Gavrila handelte, die versuchte, ihre Tochter zurückzuhalten, die offenbar versuchte, ins Dunkel zu entschwinden. »Wohin willst du, Kind?« wollte Edge wissen. »Und was ist hier eigentlich los, Gavrila?« Das verzerrte Gesicht der Frau war tränenüberströmt. »Sava will fort und ihren Vater suchen.« »Jules, halte das Mädchen fest. Schön, Gavrila, aber wohin ist ihr Vater denn?« »Der Mond ...« schluchzte sie. »Was? Ach, komm schon, Gavrila!« »Wir haben Vollmond. Pavlo machen Wolfsgeheul. Läuft hinaus in die Nacht. Velja konnte ich nicht zurückhalten; er hinter ihm her, um ihn zurückzuhalten. Ist entsetzlich, Zachary! Jedesmal bei Vollmond, selbst in der Stadt, wird Pavlo neudoban – so merkwürdig.« »Sie hat recht«, erklärte Florian. »Ich habe ihn schon einmal so weglaufen sehen.« »Verdammt!« fluchte Edge. »Jetzt fällt es mir wieder ein – daß die öle Mag mir gesagt hat, ich sollte aufpassen – irgend was würde er anstellen. Der Wahnsinnige glaubt, ein Werwolf zu sein. Was machen wir jetzt, Governor?« -1373-
»Alle ausschwärmen!« befahl Florian den vielen Circusleuten, die sich inzwischen versammelt hatten. »In Richtung auf den aufgehenden Mond. Seht euch vor, daß ihr nicht in irgendeinem Morast versinkt. Soll Pavlo weglaufen, wenn er will – aber den Jungen, den findet und bringt ihn her! Es gibt ja wirklich Wölfe da draußen.« Bis auf Edge verschwanden alle Männer in der Nacht; dieser wollte sich erst Waffen holen. Auch die Einwohner von Prival waren durch den Lärm wach geworden, und eine Schar von halbangezogenen Muzhiks stand blöde stierend da. Florian berichtete von dem Mann mit den Wahnvorstellungen und bat, ob sie bei der Suche helfen könnten. Doch sie stierten ihn nur weiterhin blöde an, woraufhin er noch hinzusetzte: »On sam voöbrayet soboy oborotyen.« »Oborotyen!« wiederholten die Muzhiks wie aus einem Mund und zeigten zum erstenmal so etwas wie eine menschliche Regung – eine Mischung aus Ehrfurcht, Schrecken und – höchst sonderbar – einem fast fröhlichen Eifer. Gleichwohl liefen sie nicht gleich auf den aufgehenden Mond los, sondern kehrten zunächst in ihre Hütten zurück, kleideten sich vollständig an und kehrten dann mit Knüppeln, Sensen, hölzernen Mistgabeln und – letzteres sehr vernünftig – brennenden Laternen bewaffnet zurück. Der Dorfschulze war zudem mit einem kleinen Dolch bewaffnet, den er Florian vorwies mit dem beruhigend vorgebrachten Wort: »Syeryebro.« »Silber? Mein Gott, bringt den Mann bloß nicht um! Er bildet sich doch bloß ein, er ist ein Werwolf. Bildet sich das nur ein! Voöbrayet voöbrayet.« Die Bauern zuckten mit den Schultern, als wollten sie sagen: ›Das überlaß nur uns!‹ und machten sich mit ihren Waffen und Laternen auf den Weg. Florian blieb zurück, versuchte, Gavrila und Sava zu beruhigen, und scheuchte alle anderen zurück in ihre Maringottes. Der echte Wolf heulte in weiter Ferne von Zeit zu Zeit immer noch den scharlachroten Mond an, doch eine -1374-
Antwort daraufwar kein einzigesmal zu hören. Jetzt wünschte Florian geradezu, Pavlo würde wieder Laut geben. Das mochte zwar seinen Frauen in die Knochen fahren, dafür aber den Suchtrupps helfen, ihn zu finden. Etwa eine Stunde verging, und jetzt wollte auch die Sonne wieder aufgehen. Der Tag graute also bereits, als einer von den Privalern von der Menschenjagd zurückkehrten, an Florian herantrat und ganz vorsichtig sagte: »Est’ sumashedshiy.« Drängend fragte Gavrila: »Florian, heißt das, sie haben Pavlo gefunden? Oder Velja?« »Wahrscheinlich Pavlo. Dieser hier hat eben gesagt: ›Den Irren‹. Ihr beide geht jetzt hinein und schließt ab. Und öffnet keinem Menschen außer mir.« Florian wartete, um sich zu vergewissern, daß sie gehorchten, dann folgte er dem Muzhik. Sie entfernten sich ein gutes Stück von Prival, und es wurde hell genug, daß der Führer seine Laterne ausblasen konnte. Sie stießen auf die anderen Privaler, die auseinanderwichen und eine Gasse bildeten, damit Florian Pavlo sehen konnte. Er lag auf dem morastigen Boden auf dem Rücken, den Silberdolch bis ans Heft in der Brust. Die irre blickenden Augen hatte Pavlo immer noch weit aufgerissen; sie schienen noch zu funkeln, und die Zähne hatte er wie zu einem wölfischen Knurren gebleckt. Es war nur sehr wenig Blut um die Einstichwunde in seiner Brust zu sehen, doch seine Zähne, die Lippen und der Bart leuchteten von verklebtem Blut und anderem, so als hätte er im Sterben Blut gespuckt und Teile seiner Innereien herausgewürgt. Der Dorfschulze erklärte Florian gerade, was passiert war, als es plötzlich im Gebüsch in der Nähe raschelte und Edge, in jeder Hand einen schußbereiten Revolver, heraustrat. Nachdem er die Situation erkannt hatte, entsicherte er die Revolver, ließ sie an der Seite herunterhängen, trat noch ein paar Schritte näher und sah steinernen Gesichts auf den toten Pavlo hinab. -1375-
»Ich hatte ihnen eingeschärft, sie sollten ihn nicht töten«, sagte Florian. »Aber sie behaupten, er wäre auf sie zugerannt – aus dem Gebüsch heraus, aus dem du eben gekommen bist –, mit gefletschten Zähnen und habe die Finger wie Wolfspfoten gekrümmt. Es wäre ihnen gar nichts anderes übrig geblieben, als ihn umzubringen, sagen sie. Einer hat ihn mit einer Keule besinnungslos geschlagen und der Dorfschulze ihm dann gekonnt den Dolch ins Herz gestoßen. Alle danken sie Gott, daß es ein silberner Dolch war. Ich weiß nicht, ob ich ihnen die Hölle heiß machen soll oder ...« »Du solltest lieber jedem von ihnen eine Goldmedaille überreichen«, sagte Edge. Er hob eine der Waffen und feuerte Schüsse ab. »Damit sollten die anderen bald hier sein.« »Warum sie herbeirufen? Der Junge ist immer noch irgendwo da draußen.« »Das ist er nicht. Er liegt dort im Gebüsch.« Florian wollte hinstürzen, doch Edge hielt ihn zurück. »Geh nicht hin und sieh ihn dir nicht an, Governor. Ich wünschte, mir wäre dieser Anblick erspart geblieben. Himmel, er sieht aus, als ob ein richtiger Wolf ihn zerfleischt hätte.« Florian starrte Edge an, schluckte ein paarmal, stieß schließlich einen Stoßseufzer aus und schaffte es zu sagen: »Nun, ehe die anderen ihn finden, sollten wir dafür sorgen, daß es so aussieht, als wäre das wirklich geschehen.« So wurde Pavlo das Gesicht in Ordnung und der Leib in Unordnung gebracht: Sie schlossen ihm die irre blickenden Augen ebenso wie seinen zum Fauchen aufgerissenen Mund, und rieben ihm mit einer Handvoll Blätter Blut und andere Substanzen von den Lippen und aus dem Bart. Dann zog Edge ihm den Dolch aus der Brust und hackte zur Verblüffung der umstehenden Muzhiks blindlings auf den regungslos daliegenden Pavlo ein, so daß seine Kleider sich mit Blut vollsaugten und nicht mehr ohne weiteres zu erkennen war, was -1376-
es mit der tiefen Wunde wirklich auf sich hatte. Die Bauern hielten inzwischen vermutlich alle diese Ausländer für irre; gleichwohl gab einer bereitwillig seinen schäbigen Filzumhang her, als Florian ihm einen Gold-Imperial dafür bot. Edge nahm den Umhang, verschwand damit zwischen den Büschen und kehrte nach einiger Zeit wieder zurück, auf dem Arm ein schlaffes kleines Bündel, das er weder jetzt noch später irgendwelchen Blicken preisgab. Als die anderen vom Circus eintrafen, zeigten sie ihnen nur Pavlos Leiche und erklärten, der Wolf habe sowohl den Vater wie den Sohn zerfleischt. Die Männer nickten traurig. Yount und einer der Jäszis hoben Pavlo auf, während Edge immer noch Velja auf dem Arm trug. So kehrten sie dann zurück nach Prival. Als Florian sich vor der Maringotte der Smodlakas zu erkennen gab und eingelassen wurde, bat er Sava, eine Weile draußen zu warten; dann brachte er Gavrila die Nachricht so schonend, wie möglich, und mit derselben gnädigen Lüge bei. Sie erbleichte, setzte sich unvermittelt auf dem Lager auf und tastete fahrig nach dem Fläschchen mit dem Riechsalz, auf das sie offensichtlich schon früher zurückgegriffen hatte. Florian zog eine Flasche Wodka aus der Tasche, die er vorsorglich mitgenommen hatte, und während Gavrila abwechselnd am Riechsalz schnüffelte und einen tüchtigen Schluck nahm, fuhr Florian fort: »Es läßt sich einfach nicht feststellen, meine Liebe, wen von deinen unglücklichen Mannsbildern der Wolf als ersten angefallen hat. Allerdings würde ich annehmen, daß er es erst auf den Kleinen abgesehen hatte, auf den hinter seinem Vater herlaufenden Velja. Als Pavlo die Schreie hörte, muß ihm schlagartig klargeworden sein, in welchem Wahn er sich befand; er machte kehrt und versuchte, dem wütenden Tier den Jungen zu entreißen – und das hat ihn dann selbst das Leben gekostet.« Unter größten Mühen brachte Gavrila hervor: »Dann – am Ende seines Lebens – war er nicht Wahnsinniger sondern ein Held.« -1377-
»So scheint es, meine Liebe, genauso scheint es.« Lange und ausdrucksvoll sah sie ihn an; Florian hatte Mühe, sich unter ihrem Blick nicht zu winden oder ihren Augen nicht auszuweichen. Schließlich sagte sie: »Und der Wolf – wo ist der jetzt?« »Der – hm – Wolf? Nun, der ist entflohen. Ist vor dem Muzhik geflüchtet, der die Leichen entdeckte. Verfolgt hat er ihn nicht, weil er Angst hatte, das Tier könnte Tollwut haben. Erst ein Kind und dann einen ausgewachsenen Mann anzugreifen!« »Und doch läuft er vor dem nächsten ausgewachsenen Mann davon«, sagte Gavrila wie benommen. Florian versuchte, die Wahrscheinlichkeit seiner Erzählung noch zu untermauern, doch sie schüttelte nur den Kopf. »Egal. Du, geh jetzt bitte! Schick Sava herein zu mir! Ich will versuchen, es ihr beizubringen.« Selbiges tat Florian, und nachdem er aus Hochachtung vor Gavrila erst eine Weile gewartet hatte, schickte er Agnete und Meli hinein, den trauernden Smodlakas beizustehen und sie nicht allein zu lassen. Das FLORILEGIUM blieb lange genug in Prival, so daß alle an der Verfolgung Beteiligten ein paar Stunden schlafen konnten. Dann setzten die Böhmen den Abbau der Masten und der Piste fort und verstauten alles Gerät wieder in den Wagen. Agnete suchte Florian auf und sagte: »Gavrila trauert zwar um ihren Sohn und ist untröstlich. Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber meiner Meinung nach findet sie, daß der Wolf das irgendwie wiedergutgemacht hat, indem er sie und Sava von dem schrecklichen Pavlo befreite.« »Es braucht dir nicht peinlich zu sein, das auszusprechen, Fräulein Aal. Ich glaube sogar, daß viele von unseren Kollegen der gleichen Meinung sind wie du. Können wir denn irgendwas für die arme Frau tun?« »Sie hat darum gebeten, daß Velja nicht an diesem schrecklichen Ort bestattet wird. Was Pavlos Leichnam betrifft, -1378-
so hat sie nichts gesagt. Und sie hofft, daß diese Tragödie dich nicht dazu bringt, die Parade abzublasen, mit der wir in Peterhof einziehen wollen.« »Tapfere Gavrila! Eine richtige Circusfrau! Sag ihr, wir werden Parade machen. Ich bin bereits am anderen Ende von Prival gewesen und habe mir die Straße angesehen. Sie ist sehr gut mit Faschinen und Bohlen befestigt, eine Art Knüppeldamm. Und bestelle Gavrila, daß, wenn wir nach Peterhof kommen, ich Zar Alexander um die Erlaubnis bitten werde, Velja an einer besonders schönen Stelle im Park zu begraben. Und noch was, Fräulein Aal. Rede es ihr aus – notfalls hindere sie mit Gewalt daran – zu versuchen, ihren Sohn noch ein letztesmal zu sehen. Sag ihr, es ist besser, sie behält ihn so in der Erinnerung, wie er war, als sie ihn das letztemal sah.« Am Spätnachmittag des achten Juni erreichte die FLORILEGIUM-Parade mit schrill pfeifender Dampforgel und plärrender Blasmusik, tänzelnden Pferden, wie Gummibälle in die Luft schnellenden Terriern und über die eigenen Füße stolpernden Clowns den Eingang von Peterhof. Mit Ausnahme von Gavrila und Sava posierten alle Artisten in ihren buntesten Kostümen auf ihren Wagen. Clover Lee trug sogar ihren flatternden Umhang aus lebendigen weißen Tauben. Peterhof wurde von keinerlei Mauern eingeschlossen und wies auch keinerlei Tore auf. Daß sie überhaupt angekommen waren, merkte Florian daran, daß der Knüppeldamm sich plötzlich zu einer gut gepflasterten Allee verbreiterte, die durch eine Ortschaft hindurchführte, welche gut und gern zehnmal so groß war wie Prival und aus Häusern bestand, die weit größer waren als die Privaler Izbas-Hütten. Am anderen Ende des Ortes stand eine hübsche Torhüterkate – auch diese freilich ohne großartiges Tor –, und danach verzweigte sich die Allee in viele befestigte Fahrdämme und Kieswege. Florian ließ seine Kutsche vorm Torwärterhaus halten, woraufhin der Torwärter heraustrat, grüßte und laut über die Musik hinweg auf russisch schrie: -1379-
»Willkommen, Gospodin Florian und Ihr gesamter Tsvetüshchiy- Bukyet. Sie werden erwartet.« »Vielen Dank, guter Mann«, rief Florian laut zurück. »Welcher Weg führt zum Schloß?« »Zum Schloß, Gospodin? Es gibt hier nicht ein Schloß, sondern deren zweiundvierzig.« »Ach? Dann gehören wohl auch diese hier dazu.« Florian wies auf die Häuser der hinter ihnen liegenden Ortschaft. »Polno! Das sind bloß die Unterkünfte, Schulen und Wirtschaftsgebäude für die tausend Dienstboten in den verschiedenen Schlössern.« »Nun, wo genau wir erwartet werden, weiß ich nicht.« Der Torhüter zählte sie mit den Fingern schnippend nacheinander ab. »Nu, da ist das große Palais, das Monplaisir, der Bauernhof, die Kate, die Eremitage, das Chäteau de Marly ...« »Dann, nehme ich an, wird der Zar uns wohl im großen Palais erwarten.« »Wenn Sie möchten, fahre ich mit und zeige Ihnen den Weg.« Mit einer Handbewegung forderte Florian ihn auf, auf dem Kutschbock Platz zu nehmen; dann nahm die Parade immer noch plärrend und pfeifend und Purzelbäume schlagend ihren Fortgang durch die freilich völlig menschenleere Allee. Diese führte durch einen großen Park, in dem der Torhüter und Führer ihnen Baumgruppen von Ahornen, Kastanien, Linden und Blütensträuchern zeigte und benannte. In sie eingebettet zwischen Rasenflächen oder neben Teichen, in denen sie sich spiegelten, standen prachtvolle Gebäude, die zum Teil bescheidene Namen trugen, aber selbst alles andere als bescheidene Ausmaße hatten. Die ›Kate‹ zum Beispiel war ein Palais aus Pergolen, Fenstern mit Glasmalereien darin, weißen Marmorterrassen, Baikonen und Treppenanlagen. Die Eremitage -1380-
verdiente ihren Abgeschiedenheit verratenden Namen nur insofern, als sie von einem Wassergraben umgeben und von einer Zugbrücke bewacht wurde. Monplaisir war ein riesiges, dabei wunderbar zartes Bauwerk, das vornehmlich aus vielen, vielen Fensterflächen bestand, die aus unzähligen, zart in allen Regenbogenfarben schillernden Butzenscheiben bestanden. Fast jedes Gebäude wurde gekrönt von dem schmiedeeisernen Doppeladler, dem Wappentier des Russischen Reiches. »Geht man aber um eines dieser Standbilder auf dem Dach herum, Gospodin«, erklärte ihr Führer, »werden Sie drei Köpfe zählen. Das hat man gemacht, damit der Adler – aus welcher Richtung man ihn auch immer betrachtet – stets stolz den Doppelkopf reckt.« Jedes Palais wies vorn zumindest einen Springbrunnen auf. Der Brunnen der Kreisenden Sonne versprühte von goldener Scheibe ein blitzendes, spiralförmiges Sonnenrad aus Wasser; der Weizengarbenspringbrunnen ließ Wasserfontänen in die Höhe schießen, die oben auseinanderstrebten, so daß sie in der Tat an Korngarben gemahnten; und der Glockenbrunnen ließ ganze Wasservorhänge herunterstürzen, welche die geschwungenen Umrisse von vier riesigen durchsichtigen Glocken nachzeichneten. »Die Hauptschlösser«, sagte der Führer, »werden in der Saison von der Kaiserlichen Familie und ihren engeren Verwandten bewohnt. Die weiter draußen gelegenen und kleineren Paläste sind für entfernt verwandte Großfürsten, Tanten, Vettern und Kusinen da. Jedesmal, wenn die Zarin erklärt: ›Morgen frühstücken wir alle in der Chinesischen Pagode‹ – oder der ukrainischen Datscha oder irgendeinem anderen Haus –, wagt das keiner abzulehnen. Da müssen die entfernteren königlichen Verwandten schon früh morgens von ihren Palästen in sämtlichen Ecken dieser siebentausend Morgen großen Parkanlage über viele Werst angaloppiert kommen.« Den Circusleuten fielen bereits bei der Parade die Augen aus -1381-
dem Kopf. Dann jedoch lenkte ihr Führer die Wagenkolonne um das große Palais herum zur Vorderfront, wo sie baß erstaunt stehenblieb und die Musikanten unvermittelt aufhörten zu spielen, als wäre ihnen der Schrecken in die Glieder gefahren, und Florian ausrief: »Mein Gott! Und wir haben uns eingebildet, auch früher schon Paläste gesehen zu haben!« – womit er zum Ausdruck brachte, was jeder einzelne von seiner Truppe empfand. Schon allein die Größe des Bauwerks war beeindruckend: über dreihundert Meter maß das aus rosenrotem, von weißen Pilastern gegliederte, drei Stock hohe mächtige Gebäude mit hohen Fenstern, Bögen und Giebelfeldern bis hinauf zu dem rostroten Mansardendach. Die ganze Vorderfront entlang zog sich eine tiefe Terrasse aus schimmerndem, weißen Marmor. Doch nicht minder spektakulär war der Blick, den man vom Schloß aus hatte. Von der Höhe der Terrasse an fiel der Boden nach Norden hin ab, und unterhalb der Balustrade führten zwei Treppen hinunter, die wie für Titanen gebaut schienen, nur, daß sie nicht für Fußgänger gemacht waren. Jede dieser Treppen maß von oben bis unten zwölf Meter und war gleichfalls zwölf Meter breit, bestand aber nur aus sechs Treppenstufen, über die hinweg spiegelnde Wasserflächen sich in die Tiefe ergossen; dies Wasser wurde noch ergänzt durch Fontänen, die von bronzevergoldeten Statuen und Basreliefs mit links und rechts der Treppe hingelagerter Najaden und Nymphen ausgingen. Das gesammelte Wasser ergoß sich schließlich in eine Folge von granitenen Becken, ein jedes groß wie ein schöner Teich, um die herum noch mehr vergoldete Statuen prangten: Delphine, Tritone, Löwen, Perseus, Gladiatoren und eine nackte Venus Kallipygos – von denen die meisten wiederum Wasserfontänen in die Höhe schießen ließen. Im fernstgelegenen und größten der Becken ragte in der Mitte ein vergoldeter, doppelt mannshoher Samson, der mit bloßen Händen einem dazu passenden -1382-
gewaltigen Löwen das Maul aufriß; und aus dem himmelwärts gerichteten Rachen eben dieses Löwen schoß die größte Wassersäule von allen empor, eine Fontäne von fast zwanzig Metern Höhe. »Eine Symphonie in Wasser!« murmelte Florian bewundernd. »Was für ein ungeheures hydraulisches System dahinter stecken muß!« »Gar keines«, sagte der Führer. »Das ganze ist so sinnreich angelegt, daß alles mittels Schwerkraft funktioniert: die Kaskaden, die Springbrunnen, die Fontänen und überhaupt die ganzen Wasserspiele.« Hinter dem Samson-Becken floß das gesammelte Wasser nunmehr geruhsamer in einem breiten, granitgefaßten Kanal weiter, der schnurgerade und von einer Reihe Fußgängerbrücken überspannt fast einen ganzen Kilometer in die Ferne führte, bis er sich in eine Meeresbucht ergoß, an deren Horizont man als verschwommene blaue Linie die Küste von Finnland erkennen konnte. Wo der Kanal in den Meerbusen mündete, lag eine Dampfbarkasse, an deren Heck die Flagge der Kaiserlichen Kriegsmarine – blaues Kreuz auf weißem Grund – flatterte. »Immer, wenn der Zar auf Peterhof weilt«, sagte ihr Führer, »steht ein Schiff bereit, ihn im Notfall schnellstens nach Sankt Petersburg zu bringen. Und – ahem – da wir gerade von Seiner Kaiserlichen Majestät sprechen, Gospodin –, Ihre Majestät stehen dort und warten geduldig auf Sie.« »Ach du liebe Zeit!« sagte Florian und ließ den Blick von der Parklandschaft unter ihm zurückschweifen zum Schloß. Zar Alexander, die Zarin und zahlreiche Damen und Herren ihres Gefolges standen auf den Treppenstufen vorm Hauptportal des großen Palais. Florian sprang vom Bock seiner Kutsche herunter, eilte hinüber, riß schwungvoll den Zylinderhut vom Kopf, verneigte sich tief vor dem Zaren und der Zarin und grüßte das Kaiserpaar gleichsam stellvertretend für das ganze -1383-
FLORILEGIUM. Während Florian sich noch in Förmlichkeiten erging, nahmen die anderen Truppenmitglieder neben den Wagen Aufstellung und verneigten sich vor der Gesellschaft auf der Schloßtreppe. In ihren grellfarbenen, billigen und freizügigen Kostümen widerstrebte es ihnen, sich allzusehr den vornehm gekleideten Damen und Herren des Hofstaates zu nähern. Als Florian nach einer etwas längeren Unterhaltung mit dem Zaren und der Zarin zur Truppe zurückkam, befanden sich in seiner Begleitung zwei Palastbedienstete; als erstes sprach er mit Dai Goesle. »Unsere Vorstellung werden wir morgen im Oberen Park geben, der hinter dem Schloß liegt. Allerdings erst spät abends, wenn es dunkel ist; wir brauchen uns mit dem Aufbau morgen nicht zu beeilen. Diese Stallknechte werden den Kutschern die Remisen zeigen und ihnen helfen, die Tiere zu füttern und zu tränken. Danach bringen sie die Böhmen und Carls Musikanten zum Essen in die Küche.« Beim Sprechen zog Florian Goesle ein wenig von den anderen Circusleuten fort. »Überlaß das deinen Leuten und zieh dich um – du sollst in kaiserlichem Stil mit uns speisen.« Dann senkte Florian vertraulich die Stimme und sagte: »Aber nach dem Diner – meinst du, du treibst genug anständiges Holz auf, um noch vor morgen früh einen kleinen Sarg für Velja zusammenzuzimmern?« »Sicher. Aber ... nur für das Kind? Und was ist mit seinem Pa?« »Um den kümmere ich mich selbst.« Dann kehrte Florian zurück zu den anderen und sagte: »Ihr müßt nicht unbedingt gleich alles auspacken; holt nur Eure Abendgarderobe hervor, ehe die Maringottes abgestellt werden. Ihre Majestäten haben jedem eine Zofe oder einen Kammerdiener zugeteilt. Sie werden euch ins Schloß bringen und euch beim Ankleiden helfen.« Ganz zuletzt ging Florian zum Wohnwagen der Smodlakas, in -1384-
dem Gavrila und Sava seit ihrer Abfahrt in Prival allein gesessen hatten. Ihnen sagte er das gleiche. »Danke, aber ich glaube, wir nicht hungrig heute«, sagte Gavrila. »Und sind auch auf fröhliche Gesellschaft nicht gerade versessen. Wir bleiben heute nacht hier, wenn du erlaubst.« »Wie du möchtest, meine Liebe. Ich werde dir von einer der Zofen ein paar kleine Zaküska-Leckereien bringen lassen, falls ihr doch Hunger bekommt. Ich hoffe, ihr seid morgen in besserer Verfassung. Den Zaren habe ich bereits um einen Begräbnisplatz für den kleinen Velja gebeten, und Alexander ist mehr als großzügig gewesen. Er weist uns nicht nur eine Grabstätte zu, sondern stellt uns auch noch seinen Hofkaplan und die Kapelle für die Aussegnung zur Verfügung.« »Ja, wir werden da sein«, sagte Gavrila und tupfte sich mit dem Taschentuch die Augen, die fast genauso rosa aussahen wie die ihrer Albinotochter. Was die Bestattung ihres Gatten betraf, so stellte sie keinerlei Fragen; und Florian sagte auch nichts.
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9 Als die Circusleute den Speisesaal betraten, waren sie geblendet, als wären sie unvermittelt in gleißendes Rampenlicht getreten. Alles in dem großen Raum war weiß oder transparent und wurde womöglich noch heller durch die immer noch hoch stehende Sommersonne, deren Licht durch die durchscheinenden weißen Vorhänge der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster hereinflutete. Die Wände waren mit weißer Seide bespannt, das Lindenholz des Parketts war gebeizt, die Stukkaturen an Wänden und Decke – Tiere, Cupidos, Blumen und Früchte – bestanden aus kreideweißem Gips. An den unzähligen Lüstern und Wandleuchtern hingen Kristallklunker, die leicht lavendelfarben getönt waren, damit man sie überhaupt wahrnahm. Das Tafellinnen der drei langen Tische und das Porzellan der dreißig Gedecke sowie die Schalen mit den Nelkengestecken in der Mitte waren alle weiß. Ein Orchester aus Streichern, ganz in Weiß – Perücke, Rock, Kniehose und Strümpfe – spielte leise in einer Ecke. »Gott sei Dank diesmal kein Eisblock!« murmelte Daphne, als sie sich zum Essen niederließen. Der Raum wies eine Besonderheit auf, die den Neulingen bereits in den anderen Zimmern und Korridoren aufgefallen war, durch die sie auf dem Weg hierher gekommen waren. Jeder Raum im großen Palais wies eine so enorme Deckenhöhe auf, daß der Widerhall nicht von einer Wand zur anderen zurückgeworfen wurde, sondern vom Boden zur Decke ging und wieder zurück. Das hatte die eigentümliche Wirkung, daß Schritte oder das Schurren von Stuhlbeinen auf dem Parkettboden hohl und gedehnt klangen, wohingegen jedes etwas über dem Fußboden erzeugte Geräusch – die Musik der Streicher, die Tischunterhaltung gedämpft klang und man gut hinhören mußte. Obwohl die jüngst dazugekommenen Mitglieder des -1386-
FLORILEGIUM sich mit ihrem Tischherrn russisch unterhalten konnten, klang das, was die Tänzerinnen sagten, womöglich noch gedämpfter als das Geplapper der Ausländer. Das mochte an der Tatsache liegen, daß diese Russinnen aus dem einfachen Volk in Gegenwart ihres allmächtigen Souveräns nicht lauter zu sprechen wagten, vielleicht aber auch daran, daß es ihnen peinlich war, keine luxuriösen Abendroben anzuhaben, sondern nur ihre Sarafän- Festtagskleider. Nachdem die Zarin Maria Alexandrowna mehrmals vergeblich versucht hatte, einem der Mädchem mehr als schüchternes Gemurmel und verlegenes Schlucken zu entlocken, wandte sie sich dem auf der anderen Seite neben ihr sitzenden Florian zu und erkundigte sich, wo er denn sein Russisch gelernt habe. »Ich habe mal eine russische Frau gehabt, Majestät. Oder vielmehr, man hat sie nachsichtig meine Frau genannt. Denn das sollte ich freimütig bekennen, daß ich – wie auch mit meinen anderen Frauen – niemals in aller Form mit ihr getraut worden bin.« »Okh, dieses unmoralische Künstlervolk!« tadelte die Zarin, fragte dann jedoch: »Ob sie wohl wieder in Rußland ist, was meinen Sie? Möchten Sie sie gern wiedersehen? Die Dritte Abteilung würde sie bestimmt rasch für Sie ausfindig machen.« »Den Gedanken verfolgen Sie bitte nicht weiter, Madame! Da könnte ich mich genausogut dem Kult der Groß-Siegel-Skoptsyi in die Arme werfen. Auch in Ungarn bin ich die ganze Zeit sprichwörtlich auf Zehenspitzen gegangen aus lauter Angst, noch eine andere Verflossene aufzuwecken, die mir dort auflauern könnte. Genauso werde ich übrigens auch in Schleswig-Holstein auf Zehenspitzen gehen, bloß um einer gewissen Dänin nicht zu begegnen.« Just in diesem Augenblick ging Zar Alexander vorüber – er machte wiederum die Runde und nahm an jedem der verschiedenen Tische einen Happen zu sich –, und als er Florian Schleswig-Holstein erwähnen hörte, blieb er kurz stehen und -1387-
klopfte ihm verschwörerisch auf den Rücken, ohne freilich irgend etwas zu sagen. Er verlor überhaupt kein Wort über den Abend, an dem er ihm im April unter vier Augen ein gewisses Angebot gemacht hatte. Die kaiserliche Familie und die anderen Gäste schienen geneigt, nach dem Diner weiter sitzenzubleiben und zu plaudern. Doch viele vom Circusvölkchen hatten die Nacht zuvor nur wenig geschlafen und tagsüber eine lange Fahrt hinter sich gebracht. Deshalb bat Florian ihre Gastgeber um die – dann auch gnädig gewährte – Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Die meisten Artisten gingen gleich in den ihnen zugewiesenen Gästezimmern zu Bett, doch Florian und Edge blieben noch länger auf, bis die Dunkelheit sich vollständig herabgesenkt hatte und der Mond noch nicht aufgegangen war. Dann erst begaben sie sich in die Wagenremise und holten aus einem der Gepäckwagen den in eine Persenning gewickelten Leichnam Pavlo Smodlakas heraus. Gemeinsam trugen sie ihn um einen Flügel des Palais herum, an Kaskaden vorbei, bis sie die Nordterrasse hinter sich hatten. Sie mußten ihre Last mehrere Male absetzen, um wieder zu Atem zu kommen, und mehr als einmal begegneten sie patrouillierenden Wachen. Diese waren offensichtlich viel zu überrascht, um sie laut anzurufen, als sie zwei in Abendanzug gekleidete Herren um diese frühe Morgenstunde erblickten, die eine zusammengerollte Persenning trugen. Doch Florian schaffte es jedesmal, heiser, außer Atem und in russischer Sprache zu erklären: »Wir haben was für die morgige Vorstellung vorzubereiten, Chasovoy«, woraufhin noch jede Wache sie achselzuckend ziehen ließ. »Ich komme mir ein bißchen albern vor, so etwas in vollem Wichs zu machen«, sagte Edge völlig außer Atem, als sie wieder einmal hielten. »Aber darin fallen wir nicht auf«, japste Florian, »falls wir von irgend jemand vom Palais aus gesehen werden. Außerdem – wetten, daß wir die elegantesten Leichenträger sind, die ein -1388-
Werwolf je gehabt hat.« Schließlich ließen sie ihre Bürde ohne Umstände einfach dort ins Wasser gleiten, wo das Becken mit dem Samson in der Mitte in den Kanal überfloß, und sahen ihr nach, wie sie in Richtung Meerbusen davonschwamm. »Nun, das hätten wir! Gott sei Dank, daß wir ihn los sind!« sagte Edge. »Und du meinst, es entdeckt ihn nicht zufällig irgendein Wachoffizier, wenn er an der Barkasse vorübertreibt?« »Das bezweifle ich. Und wenn er ihn doch sähe, bezweifle ich, daß er Alarm schlägt. Woher kann er wissen, ob Pavlo aus dem Newa-Delta kommt oder von hier? Und die Newa treiben genausoviele Leichen runter wie jeden anderen großen Strom in Europa. Komm, wir haben uns jetzt unseren Schlaf verdient.« Am nächsten Morgen warfen die Circusleute sich wieder in ihren Sonntagsstaat und wurden, nachdem sie auf dem Zimmer gefrühstückt hatten, von ihren Dienern in den Kirchenflügel des Schlosses geführt. Gavrila und Sava schlossen sich ihnen an, und obgleich Gavrila keine schwarze Trauerkleidung besaß, hatte sie von irgendwoher Schleier für sich und Sava beschafft. Die Aussegnung fand nicht im weiträumigen Mittelschiff der Schloßkirche statt, sondern in einer kleinen Seitenkapelle. Der Zar und sein ältester Sohn, ja, sogar einige seiner Gäste, die nicht zum Familienkreis gehörten, nahmen gleichfalls daran teil. Der Hofkaplan las die Totenmesse, und zwischen den einzelnen Teilen des Rituals ertönte leise Orgelmusik. Goesle hatte einen guten Sarg gezimmert, und Edge hatte Velja eigenhändig und ohne fremde Hilfe hineingelegt und den Deckel zugenagelt. Es war keine Zeit geblieben, das rohe Holz zu beizen oder zu streichen, weshalb die Dienerschaft den Sarg mit Blumenschmuck zugedeckt hatten. Als die Circusleute nur einen Sarg vorm Altar erblickten, blickten sie fragend zu Florian hinüber. Der jedoch wirkte so unbekümmert, als hätte Pavlo sich in Luft aufgelöst, so daß niemand eine Bemerkung machte. Der Kaplan kürzte die Messe -1389-
rücksichtsvoll ab, denn es konnten ohnehin nur wenige der Trauergäste den Riten der russischorthodoxen Messe folgen. Hinterher reichte der Zar Gavrila und der Zarewitsch Sava den Arm und geleiteten sie zur Seitentür der Kapelle hinaus. Draußen wartete ein Zug des Leibregiments sowie die Musiker von gestern abend, diesmal jedoch in Schwarz gekleidet. Den Trauerzug führte der Priester an; ihm folgten Yount und die Jäszi-Brüder, die den kleinen Sarg trugen, sowie Gavrila und Sava in Begleitung des Zaren und des Kronprinzen. Den Beschluß bildeten die Artisten und die prächtig uniformierte Ehrengarde, die alle feierlich zum Takt von Chopins Trauermarsch einherschritten. In der Nähe der AdamsFontäne war bereits ein Grab ausgehoben worden. »Von dort kann der Knabe die Allee hinunterblicken«, sagte Zar Alexander, »und in der Ferne den Finnischen Meerbusen sehen.«. Da am Grab selbst der Priester nochmals sprach und wiederholt das Kreuzeszeichen darüber schlug und auch die erste Handvoll Erde hinabwarf, murmelte Florian seinen lateinischen Epitaph nur für sich allein und für diejenigen, die nahe bei ihm standen. Danach löste sich die Trauergemeinde schnell auf: die Leibgardisten marschierten davon, die Musiker verschwanden, und die meisten Artisten gingen zum Festplatz zurück. Florian und noch einige schlenderten mit den Alexanders – pere et fils – über die Kieswege, wo diese sie auf einige Besonderheiten des Unteren Parks aufmerksam machten. Als die Gruppe sich einem Hain junger Eichen näherte, in dessen Mitte ein Baum von leuchtenden Tulpen umringt war, fragte Jörg Pfeifer: »Ist das nicht widernatürlich, Euer Majestät? Tulpen, die noch im Juni in Blüte stehen?« »Gehen Sie nur hin und sehen Sie sich diese aus der Nähe an«, sagte der Zar. Vater und Sohn schlugen die Hand vor den Mund, weil sie sich das Lachen kaum verkneifen konnten. Und dann brachen sie in prustendes Gelächter aus. Denn als Pfeifer -1390-
sich zu den Blumen hinunterbeugte, schoß ihm aus den Blüten heraus ein Wasserstrahl entgegen; ebenso kamen aus den Zweigen des Baums Wasserstrahlen, die sich über ihn ergossen, als stünde er unter einer Dusche. Jörg prustete, fluchte und wankte von dem künstlichen Baum und den Blumen fort und ließ sich auf eine nahestehende Parkbank fallen. Daraufhin lachten Zar und Zarewitsch womöglich noch lauter, denn die Bank ließ im selben Augenblick aus Sitzfläche und Rücklehne Wasserstrahlen hervorschießen, so daß Pfeifer nun bis auf die Haut naß war, ehe er aufspringen und sich in Sicherheit bringen konnte. Als er zu der Gruppe zurückkehrte und dabei die Teile seines Anzugs, die er packen konnte, auswrang, machte Jörg gute Miene zum bösen Spiel und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Als der Herrgott Ihre Majestät schuf, brachte Er die Welt um einen vielversprechenden Clown.« »Ach, an mir ist dieses Lob verschwendet, Herr Pfeifer. Diese durch Ihr Körpergewicht zum Leben erweckten Automaten – die sind auf Anordnung von Peter dem Großen geschaffen worden.« Edge befand sich in diesem Augenblick auf dem Festplatz im Oberen Park, in dem riesigen, aus Rasenflächen und Teichen bestehenden Hofgeviert, das vom Hauptteil des Schlosses und den beiden nach Süden gerichteten Seitenflügeln eingefaßt und dadurch vor den vom Meer herüberwehenden Winden geschützt war. Dort besprach er sich mit Carl Beck und jetzt auch mit Dai Goesle, der selbstverständlich eingeweiht werden mußte, als es darum ging, die Überraschung vorzubereiten. »Ich habe die Fäden eingeweicht und wieder getrocknet«, sagte Edge, »und außerdem habe ich haufenweise Kerzen mitgebracht. Die müssen wir jetzt bloß aufstellen. Die Frage ist nur – ziehen wir das Spektakel gleich zu Beginn der Vorstellung ab?« »Nein!« erklärte Beck. »Erst die Tänzerinnen. Heute abend tanzen sie zu den Klängen der ›Wolgafischer‹. Und dazu brauchen sie die Scheinwerfer.« -1391-
»Wie wär’s denn, wenn wir es folgendermaßen machten«, schlug Goesle vor. »Sobald die Mädchen mit ihrem Tanz fertig sind, lösche ich die Scheinwerfer. Dann liegt die Manege im Dunkeln, sobald Bumbum für die Parade die russische Hymne spielt.« »Einverstanden«, sagte Edge. »Und im selben Augenblick reißt du, Carl, das Streichholz an. Wenn alles wie geplant läuft, ist das der Beginn der glanzvollsten Vorstellung, die wir je gegeben haben.« »Ja, ja«, sagte Beck. »Aber jetzt entschuldigt mich, bitte. Ich muß den Gasentwickler fertig machen.« »Du willst den Ballon aufsteigen lassen?« fragte Edge. »Aber sobald Jules über das Schloßdach hinausgelangt, wird ihn der Nordwind mitreißen. Und hier findet er bestimmt keine Gegenwinde, die ihn zurückbringen, in welcher Höhe auch immer. Da müssen wir ihm bis Kiew hinterherjagen.« »Nein, nein. Er soll ja bloß an den Haltetauen hochsteigen. Und zwar viele Male auf und ab – und jedesmal mit einem anderen Passagier aus der Herrscherfamilie in der Gondel.« Mit diesen Worten trollte Beck sich. »Sensationsaufstieg für die Zuschauer«, murmelte Edge. »Keine schlechte Idee.« Dann betrachtete er noch einmal kritisch all die Dinge, die er für seine Überraschung brauchte, und sagte zu Goesle: »Hier sind wir jedenfalls vorm Wind geschützt; nur auf kleine Windstöße und Böen müssen wir gefaßt sein. Wie wär’s mit Schutzschirmen für die Kerzen?« Goesle rief: »Verdammt, Zack, Mann, das sind doch Tausende! Und soviel Blech zuzuschneiden ...« »Das muß nicht sein, Stitches. Wenn deine Racklos alles aufgebaut haben, schick sie runter zum Strand. Dort müßte es Muscheln geben ... jede Menge Schalen von Miesmuscheln, Venusmuscheln, was du willst.« »Ich bin verdammt froh, daß wir das nicht jeden Abend -1392-
machen«, brummelte Gasle. »Aber, na gut. Für dies eine Mal – einverstanden!« « Im selben Augenblick trat Florian aus der rückwärtigen Tür des Hauptgebäudes und rief Edge, um ihm zu sagen: »Der Zar möchte noch einmal über seinen Vorschlag sprechen. Ich muß mich jetzt entscheiden. Da du sozusagen die loyale Opposition vertrittst, meine ich, solltest du dabei sein.« So stiegen sie gemeinsam die Marmorstufen der Treppe hinauf und gingen durch die Portraitgalerie ins östliche Arbeitszimmer hinüber. Draußen standen Soldaten der Kaiserlichen Wache, doch drinnen wartete allein der Zar. Florian sagte: »Ich habe meinen Stellvertreter mitgebracht, Majestät, weil ich unmöglich eine Verpflichtung dieser Art für meine Leute eingehen kann, ohne daß er einverstanden ist. Und Colonel Edge erklärt rundheraus, daß er etwas dagegen hat, als Spion verpflichtet zu werden.« »Okh, Shpion!« sagte Alexander lachend. »Njet, njet!« Dann sprach er deutsch weiter: »Sagen Sie dem Colonel, daß ich von niemandem von Ihnen verlange, als Spion zu arbeiten. Erstens werden Sie nicht direkt für mich etwas tun. Und zweitens, wenn ich wirklich Informationen aus dem Ausland brauchte, könnte ich diese auch ohne Spione erhalten.« Nachdem Florian das für Edge gedolmetscht hatte, fuhr der Zar fort: »Spione brauche ich nur hier in meinem eigenen Land; und hier in Rußland erledigt die Dritte Abteilung den größten Teil davon für mich. Selbstverständlich haben sie ein wachsames Auge auf die Mitglieder meines Kabinetts, auf hohe Offiziere und alle meine Verwandten. Palastrevolten hat es in der Vergangenheit durchaus bei uns gegeben. Außerdem beobachten die Agenten auch die Volksmassen, denn die Russen der Unterklasse sind die heimlichtuerischsten, mißtrauischsten und vertrauensunwürdigsten Menschen, die man sich vorstellen -1393-
kann. Aber Ausländer? Pah! Die sind, was ihre Geheimnisse und Intrigen betrifft, von einer geradezu frevelhaften Unbekümmertheit; da braucht man keine Spione, sondern nur einen Beobachter, der ein ungetrübtes Auge und einen klaren Kopf behält; dann durchschaut er alle ihre Ränke, erkennt, was bei ihren Beratungen herauskommt und dröselt ihre Chinoiserien auf. Seit der Zeit Peters des Großen haben wir Herrscher Rußlands die Ausländer nie anders erlebt – und uns das zunutze gemacht. Zum Beispiel, was Chinoiserien betrifft ...« Alexander stand auf, gab den beiden durch eine Handbewegung zu verstehen, sitzen zu bleiben, und trat an eine der Wände des Arbeitszimmers. Diese waren bedeckt mit Seidenstickereien, die offensichtlich aus dem Fernen Osten stammten und Genreszenen aus China zeigten. Mit den Fingern trommelte der Zar an eine dieser Seidenarbeiten und sagte: »Zu Peters Zeiten kannten nur die Chinesen die Kunst der Porzellanherstellung. Porzellan war in ganz Europa so selten, daß es höher geschätzt wurde als heute Diamanten und Smaragde. Kleine Scherben wurden in Gold gefaßt und als Schmuck getragen. Die Chinesen weigerten sich standhaft, die Methoden der Porzellanherstellung an irgendwelche Europäer weiterzugeben. Doch ein Russe, ein heller Kopf, der ohne besonderen Plan China bereiste, fand heraus, wie der Prozeß abläuft. Im Laden eines Seidenhändlers sah er einige Ballen Seidentapeten zum Verkauf stehen, auf denen jeder einzelne Schritt der Porzellanherstellung abgebildet war. Ein Kind hätte alles herauslesen können. Der Reisende mit dem scharfen Blick kaufte das Gewebe, schickte es an Peter den Großen, und so wurden sie zum Lehrbuch der russischen Porzellanhersteller. Später schmückten sie dann diese Wände. Sie, meine Herren, sind in diesem Augenblick davon umgeben. Und das Geschirr, von dem Sie essen, ist russisches Porzellan.« »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen, Euer Majestät«, sagte Florian. »Aber was für Zufallsentdeckungen könnten Sie in -1394-
deutschen Landen von uns erwarten?« »Wenn Bismarck es als nächstes auf das Elsaß abgesehen hat, muß er sich auf seiner Seite der Grenze bereits darauf vorbereiten. Der Chef seines Generalstabs, von Moltke, wird demnächst mit Waffen- und Munitionstransporten sowie Truppenbewegungen beginnen. Zählen Sie sie. Vielleicht geschieht das alles aber auch bei Nacht, damit niemand etwas davon mitbekommt. Doch ein Circus lagert nachts häufig am Straßenrand, nicht wahr? Ein Bataillon oder ein Regiment, das an Ihrem Lager vorübermarschiert, würde Ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit zollen als einem – verzeihen Sie den Vergleich – einem Zigeunerlager.« »Das ist zweifellos wahr, Majestät.« »Nun müßte aber sogar ein professioneller Spion Köpfe zählen, wenn er die Stärke einer solchen Einheit wissen möchte. Artillerie und andere Waffen müßte er sich genauer ansehen, um sie beschreiben zu können. Aber ich bin mir ganz sicher, daß Colonel Edge so etwas auf einen Blick erkennt.« »Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß«, sagte Edge. »Und vorausgesetzt, es gelingt uns, solche Informationen zu erlangen – was sollen wir damit tun?« »Sie sich genau einprägen«, sagte der Zar. »Jedenfalls nichts aufschreiben. Gibt es diese Information nur in Ihrem Kopf, bleibt sie selbst bei einer Durchsuchung Ihrer Wagenkolonne durch Schildwachen, Grenzschützer oder andere unentdeckt.« »Und dann?« »Wenn Sie in Paris eingetroffen sind, übermitteln Sie diese Informationen niemand anderem als Kaiser Louis Napoleon persönlich, und auch ihm nur unter vier Augen. Nicht einmal die alte Schreckschraube Eugenie, unter deren Fuchtel er steht, darf davon erfahren.« Edge meinte skeptisch: »Und wie machen wir das, Majestät? Spazieren wir einfach in seinen Thronsaal rein und bitten um -1395-
eine Privataudienz? Wir Zigeuner?« »Warum nicht? Er wird sich wißbegierig Ihren Bericht anhören jedenfalls, nachdem er diesen Empfehlungsbrief gelesen hat, den ich für Sie geschrieben habe.« Alexander nahm einen großen Pergamentbogen von seinem Schreibtisch und reichte diesen Florian. »Und der wird nicht von irgendwelchen übereifrigen Beamten entdeckt werden, sondern Sie halten ihnen den Brief direkt unter die Nase. Wahrscheinlich hilft er Ihnen sogar an den diversen Grenzen, so wie der Brief der Kaiserin Elisabeth Ihnen die Einreise in meinen Herrschaftsbereich erleichtert hat.« »Sie finden höchst schmeichelhafte Worte für uns, Majestät«, sagte Florian entzückt. »Louis Napoleon sollte uns mit offenen Armen aufnehmen – als Circus –, selbst dann, wenn wir keine Geheiminformation mitbringen.« »Außerdem ist an dem Brief mehr, als Sie oder irgendein Beamter bemerken können. Geschrieben wurde er nach meinem Diktat von einem französischen Sekretär. Und nicht einmal der weiß, was ich später zwischen die Zeilen geschrieben habe.« »Eine Geheimnachricht, Majestät?« sagte Florian und betrachtete das Schriftstück von allen Seiten. »Unsichtbare Tinte?« »Die beste, die es gibt«, sagte der Zar mit einem gewissen Stolz. »Mein eigener Urin. Der trocknet unsichtbar auf dem Pergament, doch weiß Louis Napoleon, daß Hitze ihn braun färbt. Deshalb Vorsicht: Bitte, halten Sie den Brief, wenn Sie ihn an Grenzübergängen vorweisen, niemals in die Nähe eines Ofens oder einer Lampe.« »Wir werden sehr genau aufpassen und ihn hüten wie unseren Augapfel.« Angelegentlich sagte der Zar: »Noch fehlen meine Unterschrift und mein Siegel. Denn noch weiß ich nicht, wie Sie sich entschieden haben.« -1396-
Florian sah Edge an, der sagte: »Wenn es um das geht, was du mir gesagt hast, Governor – nämlich um die mögliche Vermeidung eines Krieges –, dann ziehe ich meinen Einspruch zurück.« Florian verneigte sich tief vor Alexander und sagte: »Wir werden, wie Euer Majestät es ausgedrückt hat, Euer Majestät Beobachter mit dem ungetrübten Blick sein.« Der Zar nickte, nahm das Pergament wieder an sich, setzte sich an den Schreibtisch mit dem Schreibgerät darauf. Er wählte eine Feder, tauchte sie ins Tintenfaß, setzte mit Schwung und Schnörkel seinen Namen unter den Brief, streute Sand darüber und blies diesen wieder herunter. Dann zündete er einen roten Lackstock an, ließ etwas davon auf das Pergament tropfen, nahm einen Brocken dunkelblauen Lapislazuli mit goldfarbenen fynteinsprengseln und drückte das Ende mit dem eingeschnittenen Wappen in den heißen Siegellack. Er besah sich den Abdruck, reichte Florian den Brief wieder und riß dann den Lapislazuli auf, um zu zeigen, daß er auch noch etliche Reinigungsinstrumente enthielt wie Zahnstocher und Ohrlöffel, nahm letzteren heraus, lehnte sich auf dem Sessel zurück und kratzte müßig in seinem behaarten Ohr herum. »Noch eines, Majestät«, sagte Florian und rollte das Pergament sorgfältig zusammen. »Colonel Edge und ich wissen, daß wir Wort halten werden – doch wie steht es mit Ihnen? Schließlich könnten wir uns mit diesem Brief ein Entree beim französischen Hof verschaffen und dem Kaiser gar nichts erzählen oder ihm lauter Lügen auftischen. Gehen Sie mit Ihren Hilfsagenten immer so vertrauensselig um?« »Njet«, sagte der Zar mit wegwerfender Gebärde. »Selbstverständlich vertraue ich Ihnen, meine Herren. Trotzdem werden Sie mir gestatten, eine Vorsichtsmaßnahme zu ergreifen. In Kiel wird sich Ihnen noch eine Artistin anschließen.« »Wie beliebt?« -1397-
»Ach, eine sehr angenehme junge Dame aus guter Familie. Diese Dame wünscht aus persönlichen Gründen aus Rußland auszuwandern. Folglich dürfen Sie von Kiel an auf ihre Dienste zählen und brauchen ihr noch nicht einmal etwas zu bezahlen! Sie verfügt über ein eigenes Einkommen.« »Aber ... aber was kann sie? Was ist ihre Spezialität?« »Ich denke, das wird Ihnen klar sein, sobald Sie sie das erstemal zu Gesicht bekommen. Sie ihrerseits wird jede Rolle annehmen, die Sie ihr zuteilen.« »Hm ... hm ... aber warum schließt sie sich uns nicht schon vorher an? Schon in Piter, damit wir ihre Nummer in unser Programm einfügen können?« »Sie hat doppelten Grund, in ihrer Heimat nicht öffentlich aufzutreten. Sie wird in Kiel zu ihnen stoßen, meine Herren. Und jetzt wird es wohl Zeit, daß wir uns zum Essen umkleiden.« »Verflixt!« sagte Florian mit unterdrückter Stimme, als er zusammen mit Edge das Schloß verließ. »Das gefällt mir gar nicht, daß er uns da eine überzählige Kraft aufs Auge drückt.« »Naja, du hast ja praktisch darum gebettelt, als du ihm sagtest, daß er uns schließlich nicht völlig trauen könnte. Ich bin bloß froh, daß er nicht von uns verlangt hat, wir sollten Geiseln hierlassen, um das zu garantieren.« Florian seufzte. »Nun, wir werden das beste draus machen. Wie immer, wir werden sehen, wie es sich unterwegs entwickelt.« Die Unterhaltung durch den Circus begann an diesem Abend, noch ehe das Abendessen vorüber war. Die höflichen und leisen Tischgespräche wurden von einer schrillen weiblichen Stimme unterbrochen, die sich plötzlich über irgendwas beschwerte und durch die Größe des Raums kein bißchen gedämpft wurde. Das Gezeter ließ alle anderen verstummen und sich den Hals ausrenken. Fitzfarris hatte seine Kleine Miß Mitten aus der Tasche gezogen und erging sich – den Kopf in den Nacken -1398-
geworfen, um das Auf und Ab der Echowirkung voll auszunutzen – in einem komischen Streit, den er in einer Mischung aus auswendig gelerntem Französisch und Deutsch und ein paar russischen Einsprengseln abhaspelte. Den ganzen quengeligen Wortwechsel bekamen zwar nur wenige in dem riesigen Speisesaal mit, doch versetzte er sie alle in eine ausgelassene Stimmung. Nach dem Essen schlenderten die hohen Herrschaften und ihr Gefolge zum Festplatz im oberen Park, wo auf sie der prall gefüllte Ballon wartete. Den ersten Aufstieg unternahm Rouleau mit Clover Lee als Passagierin; er sollte zeigen, wie sicher die Saratoga war. Carl Beck ließ seine Böhmen das Haltetau fest belegen, als der Ballon über die Dachhöhe des Schlosses hinausgelangt war und der Wind ihn nach Süden entführen wollte. Der Zarewitsch Alexander ließ es sich trotz der ängstlichen Einwände seiner Mutter nicht nehmen, als erster aus der Familie an einem ›Flug‹ teilzunehmen. Als er – völlig begeistert von dem Erlebnis und dem Blick, den man von oben hatte – wieder aus der Gondel stieg, folgten alle anderen seinem Beispiel, sogar seine Mutter. Als alle an die Reihe gekommen waren und aus der Dämmerung Dunkelheit wurde, waren nicht nur die Racklos völlig ausgepumpt von der Anstrengung, die Saratoga immer wieder herunterzuholen, sondern auch das Gas im Ballon war soweit abgekühlt, daß er erschlaffte, Falten bekam und Mühe beim Aufsteigen hatte. Beck lehnte höflich ab, daß jemand ein zweitesmal aufstieg, und Rouleau riß an der Leine, so daß der Ballon in sich zusammenfiel und wieder in seinem Wagen verstaut werden konnte. Die Dienerschaft hatte inzwischen Stühle aus dem Schloß herbeigeschafft – alle möglichen thronartigen Sessel für die Zarenfamilie sowie Chippendalestühle für die Gäste – und stellte diese nunmehr in angemessener Entfernung von der Piste und der Kapelle auf. Die Vorführung war von der Eröffnung an spektakulär; schwungvoll warfen die Tänzerinnen die Beine. Alle zusammen -1399-
sprangen sie wiederholt in die Luft, um dort mit den Fingerspitzen die Zehen zu berühren und zwar entweder bei zusammen nach vorn hochgerissenen oder weit auseinander zur Seite gespreizten Beinen. Befanden die Mädchen sich nicht in der Luft, sondern auf dem Boden, gingen sie in die Hocke und schwenkten die Beine von einer Seite zur anderen oder tanzten mit überwältigendem Tempo den V’prisyädku, bei dem die Beine abwechselnd vorschnellten oder angewinkelt wurden. Stampften sie im Rhythmus auf, zertraten sie zwar nur die Manegenstreu, doch schaffte Abdullah es mit seiner Baßtrommel, das entsprechende Geräusch zu erzeugen. Zum Schluß machten die Mädchen schweißglänzend und mit zitterndem Lächeln vor Zar und Zarin immer wieder einen tiefen Knicks. Goesle drehte das Gasventil zu, um die Scheinwerfer zu dämpfen und ganz abzudrehen. Es wurde stockdunkel auf dem Festplatz. Ein Moment verging, dann riß Beck ein Zündholz an. Im flackernden Licht dieses einzelnen Flämmchens gab er mit dem Taktstock das Zeichen für das ›Bozhe Tsara Krani‹. Gleichzeitig ging von der einen kleinen Flamme ein kleiner Blitz aus, der in Windeseile um die Piste herum und einen der hohen Masten hinauflief, über das Hochseil hinüber und den anderen Mast wieder hinunter. Kaum war der Flammenblitz herumgejagt, da erlosch er auch schon, ließ jedoch unzählige brennende Kerzen zurück, die wiederum die in das Wachs gesteckten Muscheln leuchten ließen. Das Pistenrund sowie der Umriß des um ihn herumführenden Ganges, die beiden Masten in der Mitte und das zwischen ihnen aufgespannte Seil wurden durch die vielen kleinen Lichter sichtbar. Das erlauchte Publikum brach in donnernden Applaus aus und klatschte zum Takt der russischen Nationalhymne in die Hände. Dieweil kam Florian an der Spitze der Parade des gesamten FLORILEGIUM aus dem Dunkel herausmarschiert und führte den Circus zwischen den beiden Kerzenkreisen auf dem Boden um die Manege herum. -1400-
Als der zweimalige spektakuläre Umzug abgeschlossen war, huschten ein paar Racklos hin und her, um Goesles Scheinwerfer wieder zu entzünden. Andere löschten so unauffällig wie möglich die Kerzen auf dem Boden und kletterten die Masten hoch, um die daran festgesteckten Kerzen zu entfernen; schließlich schüttelten sie auch noch die am Hochseil festgeklebten Kerzen herunter. Colonel Ramrod kehrte mit seinen Pferden in das Rampenlicht zurück und führte seine Freiheitsdressur vor. Dem folgten Florian, Fünffünf, das Kesperle und Emeraldina mit ihrer witzigen, auf deutsch vorgetragenen Clownsnummer. Und als Quakemaker Brutus über sich hinwegsteigen ließ, fand Florian die erste Gelegenheit zu sagen: »Colonel Ramrod, man hat mir gesagt, die herrliche Illumination zu Anfang sei dein Werk gewesen. Wie bist du darauf gekommen?« »Es ist nicht meine Erfindung. Ich hab’s in der Stadt in einer Kirche gesehen, und da habe ich es bloß nachgemacht. Bumbum hat mir geholfen herauszufinden, wie man das macht. Ich brauchte nichts weiter als Baumwollfäden, die mit Vitriol und Salpetersäure getränkt wurden dadurch wurde praktisch Zündschnur daraus. Dieser Faden wurde um jeden Docht jeder Kerze gewickelt; zusätzlich wurde jeder Docht noch in Petroleum getaucht, damit er im Nu Feuer fing. Bloß eines, Governor sag bitte nicht, daß wir das jetzt vor jeder Vorstellung wiederholen wollen. Da würden Stitches und seine Böhmen einfach nicht mitmachen!« Das FLORILEGIUM erntete mit jeder Nummer lauten Applaus, und die Artisten legten ihr ganzen Können hinein, spielten alles aus, was sie sich jemals erarbeitet hatten, und boten so manches Neue dazu. Die Jäszi-Brüder ritten zum erstenmal in Dreierpyramide die Ungarische Post, wobei die beiden Untermänner jeweils auf einem galoppierenden Pferd und der Obermann auf ihren Schultern standen, während -1401-
sämtliche Pferde des FLORILEGIUM zwischen den beiden nebeneinander gehenden Pferden hindurchzogen. Die Kleine Syverchok ließ ihre Verzauberte Kugel mehr Drehungen und Hopser vollführen als je zuvor. Terry, Terrier und Terriest sprangen als Troika aufgemacht in die Manege – wobei der mittlere Hund einen hochragenden Dugä-Bügel trug – und zogen in einem kleinen Streitwagen die kleine Sava hinter sich her. Auch wenn das Lächeln, das sie zur Schau trug, aufgesetzt war, leitete Gavrila die Hunde munter durch das gesamte Repertoire. Als Florian die Pause ansagte, bedeutete das für die Zuschauer gerade genug Zeit, um sich eine Zigarette anzuzünden, während die Racklos im Manegenrund Sir Johns Plattform aufbauten – dann ging es gleich mit der Sideshow weiter. Seine Bauchrednernummer hatte er bereits vorgeführt, und er hatte nur noch ein Kind der Nacht, das er ausstellen konnte, doch zeigte sich das Publikum von Melis MedusaScharade durchaus angetan und genoß offensichtlich ebenso Syverchoks lustige Parodie einer ›Freiheitsdressur‹ mit Rumpelstilzchen und die laszive Art, mit der Meli mit ihrer Python, dem Drachen Fafnir, rang. Geradezu bestürzt waren die Zuschauer allerdings, als Sir John ihnen den einzigen Kollegen vorführte, den sie auf gesellschaftlicher Ebene noch nicht kennengelernt hatten – ›Kostchei Byesmyertni‹ –, der mühselig hinter der Kapelle aus dem Dunkel trat und sich im gleißenden Scheinwerferlicht langsam vorbeugte, um sein grausam zugerichtetes Gesicht zu zeigen, das diesmal allerdings noch grausiger wirkte als sonst. Kostcheis Augen waren wie zwei glühende Kohlen, als er den Zaren anfunkelte, der Rußlands Strafgesetze diktierte und – wenn auch ohne es zu wissen – die Ursache dafür war, daß Kostchei heute so aussah, wie er aussah. Dier zweite Programmhälfte begann mit ›Mademoiselle Butterflys‹ Trapeznummer, der sie nur einen kleinen, aber wirkungsvollen zusätzlichen Dreh gab. Als Sunday die -1402-
Strickleiter zu ihrem Abgangssteg hinaufkletterte, trug sie eine gelbe Rose im Haar. Oben angelangt, richtete sie sich auf, posierte anmutig und hielt mit einer Hand leicht ihre Balancierstange, und Beck gebot seinen Musikanten mit einer Handbewegung Schweigen. Durch Goesles Scheinwerferstrahl deutlich vom Nachthimmel abgehoben, zupfte Sunday ein Blütenblatt nach dem anderen von ihrer gelben Rose. Langsam schaukelnd fiel es in die Tiefe, drehte sich, wirbelte herum, entschwand aus dem Scheinwerferstrahl, tauchte aufleuchtend wieder auf, als das Rampenlicht es erfaßte, und landete schließlich im Stroh der Manege. Und hätte Florian noch so eindringlich geredet, nie hätte er den Zuschauern die Entfernung zwischen dem Mädchen in der Höhe und ihnen unten auf dem Boden so deutlich machen könne. Sobald das letzte im Stroh gelandet war, hob die Kapelle zu ›There Is But One Girl‹ an, schwang sich Sunday hinaus ins Leere und hielt das Publikum vor Bewunderung für ihren Wagemut die Luft an. Als die Vorstellung schließlich mit dem Finale endete – wobei die Kapelle neuerlich ›Bozhe Tsara Krani‹ spielte und Monsieur Roulette den Text sang –, stand das Publikum respektvoll und ehrfürchtig – mit Ausnahme selbstverständlich des Zaren, der ja besungen wurde – auf. Dann waren die Zuschauer nicht mehr zu halten und mischten sich unter die verschwitzten und schwer atmenden, aber triumphierenden Artisten, um ihnen die Hand zu schütteln und sie mit Komplimenten zu überhäufen. »Sie hatten recht, Herr Florian«, sagte Alexander. »Alle anderen Erwägungen einmal beiseite – Louis Napoleon sollte Ihren Circus als Circus willkommen heißen. Ich gratuliere Ihnen zu dem überwältigenden Können, das Ihre Leute bewiesen haben. Ehe Sie morgen weiterziehen, möchte ich ihnen als Zeichen meiner Anerkennung noch ein paar Kleinigkeiten überreichen.« Als sich am nächsten Morgen nach dem Frühstück die Wagenkolonne formierte, nahm die gesamte Truppe auf der -1403-
großen Marmorterrasse Aufstellung. Zar und Zarin gingen die Reihe ab und verteilten Geschenke, die sie Tabletts und Körben entnahmen, die ihnen von Dienern nachgetragen wurden. Die Geschenke waren weit ausgefallener als alles andere, was sie bislang bekommen hatten. Jede der Frauen erhielt ein Osterei aus Gold und Email, getreue Nachbildungen jener, die vor einem Jahrhundert von dem legendären Goldschmied Katharinas der Großen, Posier, gefertigt worden waren. Die Eier ließen sich öffnen und enthielten: ein Fläschchen Parfüm, Rouge, ein paar herzförmige Schönheitspflästerchen, Puder und eine winzige Puderquaste. Die Männer erhielten einen Brocken Moosachat, der an einer Seite glatt geschliffen war und ein naturgetreues ›Landschaftsbild‹ zeigte, das von der eigenen Körnung des Steins gebildet wurde. Auch diese Steine waren aufzumachen und bargen in ihrem Inneren Zahnstocher, Ohrlöffel und Pinzette, alles aus Gold. Banat und die anderen Böhmen wußten gar nicht, wie ihnen geschah, als auch sie ein Geschenk erhielten, und zwar jeder einen Pelzhut aus feingelocktem Astrachanfell. »Am elften September«, sagte der Zar, als er Florian zu einem kurzen letzten Gespräch beiseite nahm, »feiern wir das Fest des heiligen Alexander Newski. Das ist gleichzeitig mein Namenstag und damit ein öffentlicher Feiertag. Dies soll der Tag sein, an dem Sie Sankt Petersburg verlassen. Die meisten Petersburger werden sich auf dem Platz vor dem Winterpalais versammeln, um den Feierlichkeiten zu folgen; folglich werden nicht so viele Leute auf der Straße sein und sehen, wie Sie abziehen. Einer meiner Adjutanten wird Ihre Wagenkolonne zu einem Quai am Fluß führen, von dem aus Sie an Bord des Linienschiffs Pyetr Velik gehen. Leben Sie also wohl, Herr Florian – und viel Glück! Dosvidänya!« Diesmal ohne Parade, dafür aber mit der größtmöglichen Geschwindigkeit sich bewegend, war die Karawane gegen Mittag bereits wieder in Prival; niemand jedoch hatte Lust, sich -1404-
an dem Ort, wo so Schreckliches passiert war, aufzuhalten und so fuhren sie einfach nur durch. Da es seit einigen Tagen nicht mehr geregnet hatte, war die Straße hinter Prival nicht mehr völlig verschlammt, sondern wies nur an einigen Stellen morastige Lachen auf, die freilich leicht zu umgehen waren. So waren sie bereits am Abend wieder auf dem Festplatz in Sankt Petersburg. Die nächsten drei Monate vergingen ohne aufregende Zwischenfälle. Die Artisten arbeiteten zweimal pro Tag und verbrachten einen Großteil ihrer Zeit wie immer beim Proben und der Vervollkommnung ihrer Nummern. Die Clowns übten ein neues Entree ein, bei dem sie dem Anschein nach unbeholfen durcheinanderkollerten. Gavrila brachte ihren Hunden neue Tricks bei, und das versuchte auch Pemjean mit seinen Raubkatzen und Bären. Monday probte neue komische Sprünge auf dem Hochseil, und Ioan vergrößerte die Garderobe der Artisten mit neuen Kostümen und war bemüht, die alten noch zu verschönern. Goesle und seine Zimmerleute fertigten lustig angemalte Aufsätze aus Laubsägearbeiten, die sich bei den Paraden auf die Dächer der Maringottes, Käfigund Gerätewagen aufsetzen, bei der normalen Reise jedoch abnehmen ließen. Die Platzanweiserinnen, die keine Lust hatten zu arbeiten, wenn sie nicht mußten, beschäftigten sich in der Freizeit damit, in leerstehenden Wagen oder wenig besuchten Ecken im Park zahlreichen Junggesellen unter ihren Kollegen von den Jäszi-Brüdern bis zu den Böhmen zu Diensten zu sein. Dem Müßiggang warf sich jedenfalls keiner in die Arme. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger. Gegen Ende August schien die Sonne sich am Morgen nur widerwillig über den Horizont zu erheben und stieg nur halb bis zum Zenit, ehe sie sich wieder an den Abstieg machte. Am letzten Tag des August schickte Florian die Klebekolonne aus, die Stadt mit Plakaten vollzukleistern, auf denen verkündet wurde, die letzte Vorstellung des FLORILEGIUM werde am neunten September -1405-
stattfinden. »Gut, gut!« sagte Florian, als er sich im Kontor die Bücher ansah, und rieb sich zufrieden die Hände. »Selbst nach Abzug der Kosten für die Bahnfahrten und die Luxushotels verlassen wir Rußland wesentlich reicher, als wir es bei unserer Einreise waren.« Als er nach dem neunten September die Platzanweiserinnen oder Tanzmädchen auszahlte, erhielt jedes von ihnen noch einen Bonus, weil sie bis zur Rückkehr von Marchans Circus ohne Engagement waren. Am Morgen des elften war das FLORILEGIUM abfahrbereit, und das war gut so, denn der Abgesandte des Zaren traf kurz nach Tagesanbruch ein. Es handelte sich um einen ergrauten Komandor der Kaiserlichen Marine mit einem Zweispitz auf dem Kopf, wie Nelson ihn berühmt gemacht hatte, und der Maat, der auf dem Kutschbock saß, trug einen geteerten Zopf, der mindestens so alt war wie Nelson. Als Florian den Komandor begrüßte und ohne Umschweife sagte: »Fahren Sie voran, Herr Komandor«, sagte dieser: »Zunächst aber habe ich etwas abzuliefern, Gospodin. Und zwar nur an Sie persönlich.« Florian bat ihn in den Kontorwagen, wohin ihnen der Maat mit einem Beutel folgte, der offenbar sehr schwer war, denn er landete mit einem Plumps auf dem Boden des Roten Wagens. Der Komandor wies seinen Untergebenen mit einer Handbewegung hinaus und sagte zu Florian: »Mit den besten Empfehlungen Seiner Majestät. Der Zar meint, es könnten Ihnen unerwartete Ausgaben entstehen, wo Sie auf sein Geheiß unterwegs sind. Davon möchte er Sie im voraus befreien.« »Grundgütiger Himmel!« murmelte Florian, beugte sich hinab, nestelte den Beutel auf und war dermaßen überwältigt, daß er fast mit dem Kopf zuerst darin gelandet wäre. »GoldImperiale! Das müssen ja mindestens zehntausend Rubel sein!« Dann jedoch faßte er sich wieder und sagte nur: »Seine Majestät sind berühmt für ihre Großzügigkeit den Künsten gegenüber. Bitte übermitteln Sie ihm meinen Dank, Komandor!« -1406-
»Wenn Sie sie nur zuvor sicher verstauen«, sagte der Offizier, »können wir losfahren.« »Hier ist der Beutel sicher, bis wir an Bord sind. Fahren wir!« Die Kutsche führte die Kolonne durch die nahezu menschenleeren Straßen, wobei sie die Innenstadt möglichst mieden. Sie folgten dem Obwodniy-Kanal, fuhren über eine kleine Brücke auf die Ryezvi-Insel hinüber und folgten einer Straße, die sie am äußersten Rand der Insel bis zu den Gutuyevsjaya-Quais brachte; weiter kamen Hochseeschiffe nicht an die Stadt heran. Hier lag die Pyetr Velik vor Anker, doch wurden die Kessel bereits beheizt, so daß das Ladegerät mit Dampfkraft betrieben werden konnte. Wie die Pflichttreu wurde auch das Linienschiff von Schiffsschrauben angetrieben, war aber doppelt so groß und makellos sauber. Auf dem Vorschiff und achteraus drohten ungeheure Kanonenrohre, doch wurde deren Mündung von einer Kappe verschlossen, da das Schiff sich auf einer friedlichen Mission befand. Deshalb waren auch die Munitionskammern des Kreuzers leer, so daß sowohl die frei laufenden als auch die Käfigtiere des FLORILEGIUM sowie die meisten Wagen und Maringottes unter Deck untergebracht werden konnten. Nur wenige Fahrzeuge mußten an Deck festgezurrt werden. Die Unterbringung an Bord des Kriegsschiffes war selbstverständlich spartanisch und beengt, doch ließ es für diese Reise die meisten Marinesoldaten an Land, so daß es genügend Offiziersunterkünfte gab, um die Frauen unterzubringen – vier von ihnen mußten sich eine Kabine teilen. Die Männer mußten mit den Kojen der Mannschaftsunterkünfte vorlieb nehmen, doch gab es wenigstens zwei abgetrennte Schlafkammern für Artisten und Racklos. Bis auf die Kammern für den Kapitän und die höheren Offiziere, wurde nur einem der männlichen Passagiere eine Kammer über Deck zugeteilt, und zwar einem Grafen Gendrikow und seinen drei Adjutanten. Die Übernahme der Ladung und das Verstauen verlief so -1407-
reibungslos, daß die Pyetr Velik schon am frühen Nachmittag ablegen konnte und vier Stunden später an dem backbord gelegenen Peterhof vorüberdampfte. Das große Palais war für die Passagiere leicht zu erkennen. Am nächsten Morgen gehörte das Land an eben dieser Seite zu der russischen Provinz Estland, und zwei Tage später ließ der Kreuzer den Finnischen Meerbusen hinter sich und dampfte in die offene, graue und trübe Ostsee hinaus. Das Wetter hielt die Circusleute davon ab, sich an Deck zu begeben. Die Unterkünfte unter Deck verließen sie nur ab und zu, um sich die Füße zu vertreten und frische Luft zu schnappen – dabei erschien Florian häufig mit dem Grafen Gendrikow, den er nach Ägypten ausfragte, das der Graf gut kannte – falls das FLORILEGIUM später einmal dorthin gehen sollte. Die Böhmen kamen überhaupt nur an Deck, um den gesammelten Kot der Tiere über Bord zu werfen; sonst hielten sie sich unter Deck auf und vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen. Die Verpflegung an Bord eines Schiffes der Kaiserlich Russischen Marine war gleichfalls langweilig und bestand zur Hauptsache aus Salzheringen, gebratenem Käse und gekochtem Kohl. Sie nahmen jedoch diese Unbequemlichkeiten klaglos hin, weil Florian ihnen versicherte, daß die Reise kaum länger als eine Woche dauern werde. Im übrigen verlangte Florian während der Reise nur eine Arbeit, die aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfiel. Sobald er eine Möglichkeit dazu fand, berichtete er Edge von dem unerwarteten Reichtum, der ihnen vom Zaren zuteil geworden war, und sagte: »Dies Geld möchte ich beiseite legen – es soll gewissermaßen unseren gemeinsamen Michelebeutel bilden und nur für Notfälle da sein. Allerdings muß es sehr gut versteckt werden. Wenn wir irgendwelche Grenzen passieren, kann ich zwar über unser anderes Geld Rechenschaft ablegen, indem ich unsere Bücher vorlege. Aber einen Beutel voller russischer Imperiale – das läßt sich nur schwer erklären und fordert zu -1408-
einer Konfiszierung geradezu heraus. Wo, meinst du, wäre es am besten versteckt?« »Das ist leicht, Governor. Verstaue es unter der Streu von Maximus’ Käfigwagen. Den Zollbeamten, der freiwillig dort nachsieht, möchte ich mal sehen.« »Ausgezeichnete Idee. Sprechen wir gleich mit dem Zeltmeister und Le Demon Debonnaire.« Nachdem Goesle außen am Käfigwagen Maß genommen hatte, kletterte er gemeinsam mit Pemjean hinein; Pemjean lenkte Maximus ab, während Goesle ein Loch in den Boden schnitt. Zwei Tage später kletterte die beiden neuerlich hinein. Goesle paßte einen Kasten in das Loch ein, brachte den Beutel mit den Goldstücken darin unter und legte das herausgeschnittene Teil gleichsam als Deckel darüber. Wenige Tage später ließ Florian alle Artisten und Racklos sich nach dem Abendessen an Deck versammeln. Als sie alle beisammen waren, sagte er zu ihnen: »Falls irgend jemand von euch Kalender führt aufgepaßt. Heute haben wir nicht mehr den russischen achtzehnten September, sondern den dreißigsten September nach westlichem Kalender. Der Kapitän hat mir mitgeteilt, daß wir morgen, am ersten Oktober, in Kiel landen werden.«
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10 Als die PyetrVelik einen Wagen des FLORILEGIUM nach dem anderen auf dem Quai absetzte, sagte Florian: »Wo bleibt denn die sogenannte Artistin, die uns der Zar aufs Auge gedrückt hat?« »Ich bezweifle, daß sie sich hier im Hafengebiet aufhält«, sagte Edge. »Das ist nicht der richtige Ort für eine Dame.« Der Kieler Hafen war nichts als Rauch, Dampf, Geschäftigkeit und Lärm. Schiffe liefen ein und liefen aus, Schiffe übernahmen oder löschten Ladung, Dampfer tuteten, Ankerketten rasselten und Winden quietschten. Dampfkräne arbeiteten mit erschreckendem Geklirr, dampfgetriebene Gabelstapler versperrten den Quai mit großen Haufen Gütern. Die eisenbeschlagenen Pferde und die eisenbereiften Räder schwerer Frachtkarren rumpelten und ratterten über das Kopfsteinpflaster. Mochte es auch nicht der richtige Ort für eine Dame sein – sie kam dennoch. »Ich fress’n Besen!« sagte Edge, als die wirklich außergewöhnliche Dame mit Hilfe eines Spazierstocks die Gangway von der PyetrVelik herunterkam. Sie hatte gewartet, bis alle Circusangehörigen und alle Tiere und jedes Stück Ausrüstung unten auf dem Quai standen – und war somit die letzte, die an Land ging. ten, um zu baden und sich frisch zu machen, versammelte die Gesellschaft sich im Speisesaal und wurde mit Olga Somowa bekannt gemacht: »... ein Erster-MaiGeschenk des Zaren«, wie Florian sie vorstellte. Fitzfarris war hocherfreut, ein so überragendes neues Exponat für seine Sideshow zu haben. Nachdem er sie begrüßt hatte, nahm er Florian beiseite und sagte: »Wie wär’s, wenn wir sie ›Olga, die Menschenfresserin von der Wolga‹ nennen?« »Bitte, Sir John«, sagte Florian mit schmerzlich verzogenem Gesicht. »Nehmen Sie etwas Rücksicht auf Ihre Würde als Frau. -1410-
Ich würde vorschlagen, daß wir sie – zumindest, solange wir in deutschen Landen sind – ›Brunhilde‹ nennen.« »Gut, gut«, sagte Fitz. »Aber wo steckt Ioan? Ich habe nämlich eine Idee, was das Kostüm der Brunhilde betrifft.« Während er sich auf die Suche machte, trat Kostchei der Todlose an Florian heran und sagte vertraulich auf russisch: »Nenne die Riesin, wie du willst, Gospodin, aber Olga Somowa ist auch nicht ihr richtiger Name. Sie ist die Prinzessin Raissa Yusupowa.« »Grundgütiger Himmel! Wirklich? Woher willst du das wissen?« »Die Yusupows sind eine der bekanntesten Familien Rußlands. Und du mußt zugeben, Raissa stellt ein überragendes Mitglied dieser Familie dar. Verzeih die Anspielung.« »Der Zar hat gesagt, sie komme aus einer guten Familie.« »Und dazu einer, die reicher ist als der Zweig der Romanows, dem er selbst entstammt. Die Yusupows sind unermeßlich reich.« »Wenn das stimmt – wieso will sie dann ins Ausland, um sich einen Mann zu suchen? Ihr Geld und ihre Abstammung würden doch ausreichen, jeden russischen Adligen dazu zu bringen, beide Augen zuzudrücken, was ihre – ahem – überwältigende Statur betrifft.« »Daran zweifle auch ich nicht«, sagte Kostchei trocken. »Aber vielleicht möchte die Prinzessin Yusopowa von einem Mann umworben werden, der keine Ahnung von ihrem Reichtum und ihrer hohen Stellung hat. Sogar von einem Bürgerlichen – sofern er sie nur um ihrer selbst willen begehrt.« »Du hast recht. Das war dumm und gefühllos von mir. Eine große Frau hat vermutlich auch ein großes Herz.« Willi Lothar kam zurück, als sie alle beim Abendessen saßen. Er trat sofort an den Tisch, an dem neben Florian auch Edge, -1411-
Daphne und Olga saßen, wurde der Riesin förmlich vorgestellt, war jedoch nicht bei der Sache, so daß er ihr nur die Hand küßte, ehe er mit einiger Dringlichkeit berichtete: »Herr Direktor, ich habe enttäuschende Neuigkeiten zu melden. Es spielt bereits ein Circus hier in Kiel – der CIRCUS RENZ aus Berlin.« »Man kann nicht alles haben. Und Kiel ist keine besonders reizvolle Stadt. Mir wird es nicht leid tun, wenn wir gleich weiterreisen.« »Aber es werden uns auch noch andere Standorte verlorengehen. Ich habe festgestellt, daß es hier im Norden einen ganzen Haufen Circusse gibt, die hier ihre letzten Herbstvorstellungen geben, ehe sie für den Winter nach Süden ziehen. Neben dem RENZ noch den Circus STRASSBURGER, CIRCUS KRONE, CARMO und SARRASANi. Wo sie sich im Moment genau aufhalten und wann sie spielen, habe ich noch nicht herausgefunden. Aber wir sind von lauter Konkurrenz umgeben.« »Hm«, machte Florian. »Ich habe natürlich nicht die geringste Lust, auch nur gegen einen von ihnen anzukämpfen. Aber genausowenig möchte ich ihnen allen voraus nach Süden vorstoßen und in den Städten absahnen, die auf ihrer Route liegen. Lassen Sie mich überlegen. Wenn der CIRCUS RENZ hier in Kiel spielt, wäre der nächste logische Standort Hamburg. Vielleicht liegt dann das weiter westlich gelegene Bremen nicht auf ihrer Route. Fahren Sie gleich morgen nach Bremen und versuchen Sie, das rauszukriegen. Wir werden uns dort treffen. Wenn in Bremen lange kein Circus gespielt hat und die Stadt auch nicht von einem der anderen bespielt wird, werden wir dort aufbauen und spielen. Sonst ziehen wir einfach weiter.« »Bremen ist fünfundzwanzig Tagesreisen von hier entfernt«, sagte Willi. »Folgen Sie mir gleich nach?« »Nun, nicht gerade auf dem Fuß. Wir müssen morgen mit der Wagenkolonne noch durch den Zoll. Suchen Sie sich jetzt einen -1412-
Tisch, Willi, und essen Sie mal was Anständiges. Damit endlich der Nachgeschmack der Salzheringe verschwindet.« Als Willi ging, sagte Edge zu Florian: »Während du mit den Leuten vom Zoll beschäftigt bist, werde ich mich mal im Hafen umsehen. Wenn ich schon die Augen offenhalten soll, könnte es ganz interessant sein herauszufinden, was hier so angelandet wird.« Dann wandte er sich an Olga und sagte mit leicht spöttischem Unterton: »Ihrem Puppenspieler können Sie vom Empfang des Hotels aus telegraphieren, Miß Somowa. Und ihm versichern, daß wir unseren Teil der Abmachung halten.« Die Riesin errötete, sagte jedoch nichts. Daphne verstand überhaupt nicht, was diese dunkle Bemerkung zu bedeuten hatte und sah Florian fragend an. Doch der klärte sie auch nicht auf, woraufhin auch sie einfach nichts sagte. Während jeder Übernachtung auf der Fahrt nach Bremen, sei es in einem Gasthaus oder einfach am Straßenrand, arbeitete Ioan an dem Kostüm für Brunhilde. Das Auffälligste daran war der Helm. In einem der Gasthäuser besorgte Ioan sich einen Blechtopf, der – wenn sie das Haar offen trug – recht gut auf Olgas Kopf paßte. Goesle nahm die Griffe ab, und den Rest polierte er, so daß er edel schimmerte. Einige Abende später, als die Karawane in der Nähe eines Bauernhofes lagerte, lieh Fitzfarris sich von Carl Beck eine kräftige Bügelsäge aus und verschwand damit im Dunkeln. Bei seiner Rückkehr wirkte er – was sonst nie bei ihm der Fall war unruhig und nervös; das legte sich erst, als sie am nächsten Morgen wieder aufgebrochen waren und etliche Kilometer hinter sich gebracht hatten. Am Abend dieses Tages befestigte er zu beiden Seiten des Topfhelms ein schön geschwungenes schwarzes Kuhhorn. Zum Helm passend nähte Ioan ein Gewand aus schwerem Silberboucle, das an ein Kettenhemd erinnerte; vorn waren zwei ausgestopfte, steife und mit blitzendem Silber geschmückte, an eine Walküre gemahnende Brustpanzerungen angebracht, die Olgas ohnehin eindrucksvollen Bumit den Bären mit Stummheit -1413-
geschlagen, wie ich vorhin in meiner Ansage gesagt habe.« »Ach«, sagte Olga und verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich dachte, diesen Bären bänden Sie nur den Zuschauern auf, so wie bei mir das mit der Prinzessin. Richtig, mit mir hat der Mann noch nie gesprochen. Aber mir ist, als hätte ich ihn schon mit anderen reden sehen.« »Das war zweifellos nichts als Pantomime«, sagte Fitz und ging, dem Todlosen zu empfehlen, auf der Hut zu sein, wenn die Riesin in der Nähe wäre. Schon nach einer Woche in Bremen gab Florian Anweisung, den Circus abzubauen und weiterzuziehen. Da sie immerhin bei jeder Vorstellung ausverkauft gewesen waren und alle Circusleute die alte Hansestadt mochten, begehrten einige von ihnen auf und wollten von Florian wissen, warum er es so eilig habe. »Es gibt zwei gute Gründe«, sagte er. »Erstens möchte ich, daß wir vor Einbruch des Winters möglichst weit im Süden sind. Aber zweitens und noch wichtiger ist es, daß unser eigentliches Ziel Paris ist. Wir müssen uns dort richtig eingerichtet haben, bevor der Winter zuschlägt und uns unbeweglich macht. Und was ich ganz und gar nicht wieder hören möchte, das sind irgendwelche Widerworte gegen meine Entscheidungen.« So folgte der Circus einer Zickzackroute in den Süden, gab nur hier und da ein kurzes Gastspiel und schaffte dazwischen lange Etappen. Während sie unterwegs waren, hielt Edge wie verlangt die Augen offen. Man sah tatsächlich Militäreinheiten auf dem Marsch oder auf der Eisenbahn. Edge zählte sie, so gut es ging, und prägte sich die verschiedenen Abzeichen ein in der Erwartung, daß Louis Napoleons Offiziere nach seiner Beschreibung Armeen, Korps, Divisionen und Regimenter identifizieren könnten, zu denen sie gehörten. Häufig verlief die Landstraße neben einem Bahndamm; ab und zu rollte ein Zug mit Güterwagen vorüber, unter dessen Persenning man -1414-
militärische Ausrüstung erkennen konnte; wozu manches diente, wußte Edge häufig zu deuten. Mehr als einmal kam es vor, daß Edge – gleichgültig, ob er in einem Gasthaus schlief oder in seiner Maringotte am Wegesrand – mitten in der Nacht die Augen aufmachte, das Hufgeklapper vieler Pferde vernahm und überschwere Räder knirschen hörte; dann stand er auf, kroch, ohne gesehen zu werden, so nahe wie möglich heran, um festzustellen, was hier vorüberzog. Das FLORILEGIUM ließ häufig größere Städte links liegen, um statt dessen in einer Kleinstadt in der Nähe zu gastieren – in Hildesheim statt in Hannover, wo der CIRCUS KRONE bereits einen Festplatz angemietet hatte; in Darmstadt statt in Frankfurt, wo in Kürze der CARMO erwartet wurde. Die kurzen Gastspiele und die langen Etappen auf der Landstraße waren den Reisenden nicht so lästig wie die häufigen und langwierigen Unterbrechungen der Fahrt, zu denen es kam, weil man ständig eine der vielen Landesgrenzen passieren mußte. Der Weg von Bremen nach Hildesheim führte erst durch das Großherzogtum Oldenburg, später durch das ehemalige Königreich Hannover, das seit kurzem zu einer preußischen Provinz geworden war – und wieder mußte die Circuskolonne samt allem Firlefanz, den sie mitführte, sich einer preußisch genauen Inspektion unterziehen; das erforderte jedesmal eine preußisch detaillierte Dokumentation und hatte schließlich die preußisch widerwillig erteilte Erlaubnis zur Folge, die Grenze überschreiten zu dürfen. Die Fahrt von Hildesheim nach Kassel bedeutete nur den Übergang in eine weitere preußische Provinz – Kurhessen –, doch hätte der Circus genausogut aus Feindesland kommen können, denn auch hier mußten sie sich demselben Ritual unterziehen. Ging es dann weiter von Kassel nach Darmstadt, das zum unabhängigen Großherzogtum Hessen gehörte, kamen sie wirklich aus einem Land, das die Hessen Grund hatten zu hassen – jenes Preußen, das begierig darauf wartete, Hessen zu schlucken –, so daß das FLORILEGIUM an -1415-
dieser Grenze eine womöglich noch gründlichere, mißtrauischere Befragung und Durchsuchung über sich ergehen lassen mußte. Die nächste Etappe führte nach dem im Großherzogtum Baden gelegenen Karlsruhe, und wieder war die Grenze ein großes Hindernis ... »Himmelherrgott noch mal!« fluchte Clover Lee. »Jeder von uns schleppt schon Berge von irgendwelchen Dokumenten mit sich herum, die Petrus ausreichen würden, uns fraglos ins Jenseits einzulassen!« »Immer mit der Ruhe, Mädchen!« sagte Florian beschwichtigend. »Das hier ist die letzte Grenze, die wir in deutschen Landen überschreiten. Außerdem: Stell dir doch mal vor, welche Scherereien man uns hätte machen können, wenn man wirklich gewollt hätte – und zu welchen Verzögerungen das geführt hätte! –, wenn wir nicht mit dem eindrucksvollen Empfehlungsschreiben des Zaren hätten winken können!« Mit weitausholender Gebärde wie ein Fechtmeister präsentierte er selbiges dem badischen Wachtposten, der ihnen den Weg versperrte. Auch Karlsruhe durfte sich nicht länger als eine Woche am FLORILEGIUM erfreuen, da befahl Florian Goesle und Banat: »Kappt die Absegelungen, Jungs – es geht weiter!« Diesmal wurde Willi nicht vorausgeschickt. Die Karawane bewegte sich in südlicher Richtung durch den Schwarzwald – der seinem Namen um diese Jahreszeit alle Ehre machte, so dunkel sah er unter dem düsteren grauen Himmel mit den tiefhängenden Wolken aus. In Freiburg wurden sie vom ersten Schnee dieses Winters überrascht. Sie verbrachten eine Nacht in einem behaglichen Gasthaus, und am nächsten Tag ging es nicht in südlicher Richtung weiter; durch den immer noch fallenden Schnee wandte Florian sich westwärts. Gegen Mittag erreichte die Karawane eine Brücke, die über einen breiten Fluß führte, an dessen diesseitigem Ende ein Wachhaus stand, aus dem jedoch kein Grenzwächter trat, um ihnen den Weg zu versperren. Das -1416-
andere Ende der Brücke war im Schneetreiben nicht zu erkennen, doch Florian richtete sich auf, zeigte nach vorn und rief den hinter ihm kommenden Reisenden zu: »Das hier, meine Lieben, ist der Rhein. Erblickt ihr die Flagge, die dort drüben weht, dann ist es die Tricolore. Ich als Elsässer heiße euch in meiner Heimat willkommen. Auf nach Frankreich!«
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LA FRANCE
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1 Als die Wagenkolonne sich dem elsässischen Ende der Brücke näherte, tauchte im Schnee eine von einem Palisadenzaun umgebene Gruppe von Gebäuden auf – fast so etwas wie eine in Richtung Deutschland waffenstarrende, von Soldaten wimmelnde Festung. Als die Karawane innerhalb der Festungsmauern stehenblieb, nahm Florian seinen Armvoll Papiere auf: die Konuitenbücher der Artisten, den Brief von Zar Alexander, die russischen Pässe, die jeder von ihnen jetzt besaß, sowie alle möglichen anderen Unterlagen als da waren: preußische Visa, hessische Visa und so weiter, um all dies den Beamten des Bureau d’Immigration auf den Tisch zu legen. Doch noch ehe er das tun konnte, kamen Pemjean und LeVie und reichten ihm jeder noch ein kleines Büchlein, wobei Pemjean sagte: »Hier, Monsieur le gouverneur, Sie müssen auch noch unsere Binnenpässe vorweisen.« »Binnenpässe? Was, zum Teufel ist das?« »Damit wird uns gestattet, innerhalb Frankreichs zu reisen«, sagte LeVie. »Wie bitte? Ein Franzose braucht die Erlaubnis, sich frei innerhalb seines Vaterlandes zu bewegen? Das höre ich zum erstenmal!« »Wahrscheinlich eine Neuerung, seit du das letztemal hier warst«, sagte Pemjean. »Nicht zu glauben!« »Und doch ist nicht daran zu rütteln. Hat ein Ausländer es erst mal geschafft, nach Frankreich einzureisen, besitzt er praktisch mehr Bewegungsfreiheit als ein Franzose.« Kopfschüttelnd und den Stapel Papiere unterm Arm begab Florian sich in das Amtszimmer. Dort jedoch gab er sich putzmunter und sagte freudestrahlend zu dem Beamten, dem er die Dokumente hinlegte: »Bonjour, Monsieur le Fonctionnaire! -1419-
Wie schön, endlich wieder daheim zu sein! Auf französischem Boden zu stehen und mit einem Franzosen französisch zu sprechen. Die geliebte Tricolore über sich flattern zu sehen. Und die süße Luft des Elsaß zu atmen. Die ...« »Assez!« fiel ihm der Beamte ins Wort. »Nicht einer dieser ausländischen Pässe hat ein Einreisevisum für Frankreich. Warum haben Sie sich die nicht auf dem Weg hierher von irgendeinem französischen Konsulat besorgt?« »Das ist allein meine Schuld, denn ich bin ja der Chef dieses Unternehmens, Monsieur. Offenbar gibt es eine Menge neuer Vorschriften, seit ich ...« »Nichtwissen schützt vor Strafe nicht.« »Je suis desole. Aber dies hier ist doch das Bureau d’Immigration. Deshalb können doch zweifellos Sie, Monsieur, uns das erforderliche Visum ausstellen.« Florian blickte sich in der Amtsstube um, in der vier oder fünf weitere Beamte müßig herumlungerten, und sagte: »Aber vielleicht störe ich ja auch bei dringenden anderen Geschäften.« »Das tun Sie in der Tat«, versetzte der Beamte bissig. »Wir haben Befehl, ständig auf der Hut zu sein vor irgendwelchen feindseligen Machenschaften dieser Boches auf der anderen Seite des Flusses. Und wie soll ich aufpassen, wo ich doch in Papierkram förmlich ertrinke? C’est insupportable.« Wenn auch widerstrebend, machte er sich träge an die Arbeit. Stumpfsinnig und in aller Ruhe blätterte er das Konuitenbuch eines jeden Artisten durch, und nur wenn er nichts Abträgliches unter den zahllosen vielsprachigen Eintragungen darin fand, drückte er den Visumstempel in den russischen Paß des betreffenden Artisten. Wiewohl nicht dazu aufgefordert, nahm Florian Platz und wartete. Als der Mann zu Florians eigenem Konuitenbuch kam, sagte er maliziös: »Wie Sie selbst schon sagten, Monsieur, sine! Sie gebürtiger Elsässer. Warum besitzen Sie dann keinen französischen -1420-
Binnenpaß? Wenn ich wollte, könnte ich Anklage wegen Rechtsbruch gegen Sie erheben – weil Sie von der Mitte der Brücke an ohne Binnenpaß gereist sind.« »Ich bin viele Jahre im Ausland gewesen und hatte ja keine Ahnung, daß ...« »Nichtwissen schützt vor Strafe nicht.« »Aber ich bin überzeugt, Monsieur le Fonctionnaire, Sie können mir einen solchen Binnenpaß ausstellen.« »Oui, oui«, sagte der Mann erbittert. »Doch bedeutet das nur noch mehr Arbeit für mich! Dabei soll meine ganze Aufmerksamkeit und mein ganzes Können auf die Bedrohung durch die Boches gerichtet sein! Aber sei’s drum, Monsieur, bitte bringen Sie mir zwei Zeugen, die für Ihre Unbescholtenheit, finanzielle Unabhängigkeit und Rechtschaffenheit bürgen.« Voller Verachtung warf er einen Blick durchs Fenster auf die Circus-Karawane. »Nur, von dieser Ausländer-Canaille kommt niemand dafür in Frage.« »Unter dieser Canaille«, knurrte Florian, »befinden sich zwei französische Bürger.« »Untertanen.« »Zwei französische Untertanen von untadeligem Ruf. Ihre Binnenpässe liegen Ihnen vor.« Die Nase rümpfend, sagte der Beamte: »Dann werde ich mit ihnen vorlieb nehmen müssen.« So schworen Pemjean und LeVie mit erhobener Hand, daß Florian nicht die Absicht habe, Napoleon III. zu stürzen, gröbliche Unanständigkeiten zu verüben oder der öffentlichen Wohlfahrt zur Last zu fallen. Sie unterschrieben auch diesbezügliche Aussagen und konnten gehen. Dann erst machte der Beamte sich aufseufzend daran, umständlich Florians Binnenpaß auszustellen. Dies endlich erledigt, unterschrieb und stempelte er das Papier -1421-
und schob es zusammen mit den anderen Pässen und Konuitenbüchern über den Tisch. Florian nahm sie und sagte zuckersüß: »Gestatten Sie mir, Monsieur, Sie zu Ihrer Tüchtigkeit und Gewissenhaftigkeit zu beglückwünschen.« Der Mann stutzte, war aber gleichwohl geschmeichelt. »Sie sind der lebende Beweis für eine Theorie, der ich schon lange anhänge – daß nämlich der Diensteifer stets in umgekehrten Verhältnis zur Bedeutung des Amtes steht.« »Ah, merci, monsieur. Die Bedeutung des Amtes, jawohl. Merci beaucoup. Seien Sie mir nicht böse, ja? Bon voyage, monsieur, et bonne chance.« Erst nachdem Florian den Zöllnern im Büro nebenan beweisen konnte, daß die Einwanderungspapiere der Truppe in Ordnung waren, rafften sie sich auf, die Wagenkolonne nach Dingen abzusuchen, die sie mit einer Einfuhrsteuer belegen oder ganz zurückweisen konnten. Da alles darauf hindeutete, daß sie genauso stur wären wie der Beamte von der Einwanderungsbehörde, sorgte Florian dafür, daß wiederum Willi und sein Gepäck als erstes durch den Zoll kamen, und schickte ihn mit einer genauen Anweisung voraus: »Bei diesem Schnee und mit dieser Verzögerung werden wir anderen Colmar heute abend nicht mehr erreichen, aber Sie werden es schaffen. Versuchen Sie, den Champ de Mars im Zentrum der Stadt als Festplatz anzumieten.« Dann drehte Florian sich zu Edge um, der sich nicht sonderlich erfolgreich mit den Zollbeamten herumschlug. »Komm, Governor, mach du mal weiter. Mein Französischlehrer hat mir nie die Flüche beigebracht, die ich hier brauchte. Diese schikanösen Burschen wollen alles beschlagnahmen, von Fitz’ Auerhahn bis zu meinen eigenen Gewehren und Pistolen. Sie behaupten, in diesem Lande gäbe es bereits genug coqs de bruyere, und Zivilisten dürften keine -1422-
Waffen haben. Verdammt, ich hatte immer gedacht, die russischen und preußischen Grenzer wären das Widerlichste, das man sich denken kann, aber diese hier ...« »Laß mich mal, my boy.« Damit wandte er sich brüsk an die Zollbeamten und erklärte munter: »Allons donc, Messieurs les Douaniers, c’est assez cet enculage de mouches!« Erst gaben sie sich beleidigt, als ihnen auf so wenig zartfühlende Weise erklärt wurde, sie sollten mit ihren albernen Einwänden aufhören. Doch dann hielt ihnen Florian den Brief von Zar Alexander unter die Nase, was bei ihnen weit mehr Eindruck machte als bei dem Einwanderungsbeamten. »Bitte, nehmen Sie zur Kenntnis, Messieurs, daß wir zur Audienz bei Seiner Majestät, dem Kaiser, erwartet werden. Es wird ihn zweifellos interessieren zu erfahren, mit welcher Herzlichkeit wir in seinem Reich empfangen worden sind.« Florian erging sich des längeren und breiteren in dieser Tonart; möglich auch, daß etwas Geld den Besitzer wechselte, doch schließlich durfte die gesamte Circuskarawane die Reise fortsetzen, durften sie alles behalten und brauchte niemand irgendwelche Steuern zu zahlen. Die anfänglich wenig schmeichelhafte Meinung der Circusleute von Frankreich änderte sich schlagartig, als der nächste Tag strahlendem Sonnenschein brachte. Ehe sie ihr Lager am Straßenrand aufgaben, legten die Artisten ihre schönsten Manegenkostüme an und hüllten sich dann in Pelze oder andere Mäntel. Der Professor der Dampforgel machte Feuer unterm Kessel, Goesle steckte die neuen Dachaufsätze auf die Wagen, Becks Musikanten holten ihre Instrumente hervor, und Hannibal zog den Elefanten und dem Kamel Füßlinge aus Schafsfell an. Als sie dann endlich losfuhren, spannte sich über ihnen ein tiefblauer Himmel, und die Felder glitzerten unter der dichten Schneedecke wie im Märchen. Als die Karawane sich Colmar näherte, wurde die Straße von Trauerbuchen mit violetter Rinde gesäumt, an deren Hängezweigen der Schnee haftete, daß sie aussahen wie Standbilder aus Marmor und -1423-
Amethyst. Als die Stadt selbst dann in der Ferne auftauchte, machte sie einen überaus einladenden Eindruck – spitz in den Himmel ragende Kirchtürme und andere Türmchen und Türme, die sich über die strohgedeckten Dächer erhoben, die ein so ehrwürdiges Alter aufwiesen, daß viele einen Senkrücken oder Buckel aufwiesen. Die Wagenkolonne blieb stehen, die Artisten warfen die wärmenden Hüllen ab – die Sonne gestattete dies mittlerweile –, die Musikanten nahmen auf ihrem Wagen Platz, und der Professor machte die Kesselventile der Dampforgel auf. Laut, lustig und farbenprächtig war die Parade, mit der das FLORILEGIUM in seine erste französische Stadt einzog. Während sie zwischen den ersten auseinandergezogenen Häusern dahinrollten – aus denen Hausfrauen mit großen Augen hervorquollen, die sich die Hände an der Schürze abtrockneten, und eine große Zahl von Kindern, gleichfalls mit großen Augen in Kittelchen und Holzpantinen sie umringten –, wartete Willi bereits auf sie, schwang sich auf den Kutschbock und nahm neben Florian Platz. »Das mit dem Champ de Mars hat nicht geklappt, Herr Direktor. Möglich, daß das früher, als Sie das letzte Mal hier waren, ein weiter Platz war – heute jedenfalls ist es ein dicht mit großen Bäumen bepflanzter Park mit abscheulichen Statuen darin.« »Das sollte mich nicht wundern«, sagte Florian ein wenig betrübt. »Schließlich hat sich vieles verändert seither.« »Dafür habe ich die Erlaubnis bekommen, in dem kleineren Jardin Mequillet aufzubauen, falls Sie wissen, wo der liegt.« »Selbstverständlich weiß ich das. Das ist eine sehr gute Lösung. Vielen Dank, Willi.« Florian führte die Parade durch alle Straßen, die nicht zu schmal waren; ein ganzer Rattenschwanz aufgeregter Kinder schloß sich ihnen an, doch waren auch einige Erwachsene -1424-
darunter. Colmar war ein urgemütliches, malerisches Städtchen. Bis auf die rechtwinkligen öffentlichen Gebäude schienen die Häuser sonst so gut wie keine gerade Linie oder einen rechten Winkel aufzuweisen. Nicht nur senkte sich häufig der Dachfirst und wölbten sich Mauern vor oder wiesen Einbuchtungen auf – die Häuser insgesamt erinnerten an Hefeteig in den unterschiedlichsten Stadien des Aufgehens. Die Fenster waren klein und viele rund, wobei letztere mit halbmondförmigen Fensterläden ausgestattet waren. Bei manchen Häusern waren über dem niedrigen Türsturz Jahreszahlen eingemeißelt; ein Gasthaus samt Stallung zum Beispiel stammte aus dem Jahre 1529. Schmale Kanäle, auf denen weiß wie der Schnee am Kanalufer majestätisch Schwäne schwammen, durchzogen die Stadt. Schließlich machte die Parade in dem kleinen Park, den Willi hatte anmieten können, halt, und die Böhmen fingen sofort an abzuladen und das Chapiteau aufzustellen. Viele Colmarer blieben, um dabei zuzusehen. Florian bat Edge und LeVie, sobald sie sich wieder in Straßenkleidung geworfen hätten, ihn bei einem Spaziergang zu begleiten. Als Florian und die Gefährten, die er dazu aufgefordert hatte, den Park verließen, waren sie zu fünft, denn so wie Daphne es sich nicht nehmen ließ, ihn zu begleiten, schloß sich Nella LeVie an. »Ich hätte mir nie träumen lassen«, sagte Florian, »daß ich in meiner Heimat Nachhilfeunterricht brauchen würde. Und doch ist genau das der Fall und der Grund, weshalb ich mich an dich wende, Maurice. Als ich keine Ahnung von den Binnenpässen hatte, ging mir auf, daß ich vom modernen Frankreich nur wenig weiß. Louis Napoleon und ich sind zwar gleichaltrig, und in meiner Jugend, als er anfing, Ansprüche auf die Nachfolge seines berühmten Onkels anzumelden, habe ich seinen Werdegang – wie er ins Exil geschickt und eingekerkert und dann wieder in Gnaden aufgenommen wurde – ebenso voller -1425-
Interesse verfolgt wie seinen Aufstieg zum Princepresident. Seit er durch Volksentscheid zum Kaiser der Franzosen wurde, bin ich nicht mehr in Frankreich gewesen. Deshalb sag mir bitte, Maurice, alles, was du über den Mann weißt.« »Was das betrifft, möchte auch ich einige Fragen stellen«, sagte Edge. »Jeder kennt den großen Napoleon I. Heute jedoch sitzt ein Napoleon III. auf dem französischen Thron. Von einem Napoleon II. habe ich nie etwas gehört.« Florian sagte: »Das war Bonapartes Sohn – ein Cousin des jetzigen Kaisers. Der war beim Sturz seines Vaters noch ein Kind und starb jung, weshalb er nie regiert hat. Eigentlich könnte Louis sich zu recht ›der Zweite‹ nennen, aber dem steht etwas entgegen, worüber man sich allgemein lustig macht und weshalb er Napoleon der Dritte heißt. Als er sich darum bewarb, zum Kaiser gemacht zu werden, befahl er jeder Stadt, Banner herauszuhängen ... so ...« Florian kniete nieder und schrieb mit dem Finger in den Schnee: VIVE NAPOLEON!!! »Und da hat man die drei Ausrufungszeichen dahinter fälschlich als römisches Zahlwort ›Drei‹ gelesen.« »Alors«, sagte LeVie, während die anderen kicherten. »Kaum war Louis Kaiser geworden, sah er sich nach einer passenden Kaiserin um. Dabei hoffte er auf jemand etwa aus dem Hause Hohenzollern, doch lehnten die alten Familien ihn selbstverständlich als Emporkömmling ab. Da gab er sich mit der Spanierin Eugenie, Gräfin von Montijo, zufrieden – schön wie eine Porzellanpuppe, aber im Kopf auch genauso hohl. Nun ist Dummheit bei einer Frau zugegebenermaßen oft eine Tugend – eh, Nella?« Sie kicherte, machte einen Schmollmund und kniff ihn in den Arm. »Aber nicht bei einer Kaiserin, die großen Einfluß auf einen Kaiser ausübt. Nun leidet Louis seit vielen Jahren an Blasenstein, ist vorzeitig gealtert, ein langweiliger und energieloser Tattergreis – nicht mal mehr der Schürzenjäger, der er in der ersten Zeit als Kaiser war –, während Eugenie immer noch leichtfertig und unbesonnen ist und sich ständig in -1426-
Staatsangelegenheiten einmischt.« »Besonders klug bin ich ja vielleicht nicht«, murmelte Nella, »aber meine Nase in die Angelegenheiten anderer stecken, das tue ich nie.« »Eugenie ist eitel und herrschsüchtig. Und Louis berechenbar wie ein Metronom«, fuhr LeVie fort. »Laßt mich das an einem Bild deutlich machen. Eugenie läßt sich von ihrem Friseur nicht frisieren – was er mehrmals am Tag tun muß –, es sei denn, er näherte sich in Kniehosen und mit Kavaliersdegen an der Seite. Und Louis? Der besteht darauf, daß der Efeu an den Mauern eines jeden seiner Schlösser in gleichmäßigen Wellen gezogen und geschnitten wird.« »Ja«, sagte Florian. »Damit hast du es gut illustriert.« »Manche Leute reden von Eugenie und Louis per ›Loquèle et Lourdeur‹.« Florian lachte, doch Daphne verstand nicht und sagte: »Das zu verstehen, reicht mein Französisch nicht aus.« »Nun«, sagte Florian, »eine freie, aber zutreffende englische Übersetzung wäre Twitter and Thud, ›Quasseltüte und schwerfälliger Klotz‹.« Die Gruppe hatte sich dem Champ de Mars genähert, und Florian sagte: »Willi hat recht. Das hier ist ein regelrechter Park samt Springbrunnen, Statuen, und dabeiwar es mal ein baumloser Exerzierplatz. Wie ich sehe, steht da ein Denkmal für General Rapp ... und eines für Admiral Bruat. Rapp war mal Flügeladjutant des ersten Napoleon, falls es euch interessiert, und Bruat ein Held des Krim-Krieges. Zwei Colmaraner, die es zu was gebracht haben.« Je weiter die vier Florian durch die immer enger werdenden Straßen folgten, desto bombastischer wurden seine Fremdenführersprüche und desto vehementer vollführte er mit dem Zylinderhut in der Hand weitausholende Gesten; es war wie eine Parodie auf seine eigene Ansage als Sprechstallmeister. -1427-
»Freunde! Messieur et mesdames! Gemeinsam haben wir die Höfe von Kaisern und Königen besucht. Wir sind über das Forum gezogen, auf dem einst mächtige Caesaren regierten. Und jetzt, Ladies and Gentlemen, ist es mir ein inniges Vergnügen, Sie an jenen Ort zu führen, der in ganz Europa am meisten Ihrer angelegentlichen Bewunderung und Verehrung bedarf. Hier, meine sehr verehrten Damen und Herren ...« Sie befanden sich in einer Straße, die kaum breiter war als eine Gasse. Florian fuchtelte mit dem Hut in der Luft umher und zeigte auf ein altes, zweistöckiges Haus mit Stuckfassade und einem niedrigen Dachfenster. »Hier ... Rue du Lycee Nr. 8, hochverehrtes Publikum, stehen Sie vor dem bescheidenen Geburtshaus und der Stätte der Knabenjahre des weltberühmten Circusdirektors und Theatermannes ...« Er holte Atem und schloß dann fast schüchtern: »... Ihr sehr ergebener ...« Seine Gefährten stießen Laute der Überraschung, des Entzückens und sogar der Ehrfurcht aus. »Jawohl«, sagte Florian leise, »das ganze Haus scheint in einzelne Wohnungen aufgeteilt zu sein. Als ich ein Knabe war, befand sich im Erdgeschoß die Werkstatt eines Flickschusters. Der Schuster und seine Familie wohnten im ersten Stock – das Dachgeschoß hatten sie vermietet. Und dort lebten wir – eine bessere Wohnung konnten wir uns nicht leisten. Mein Vater steckte mich nicht, wie die meisten Väter es taten, bereits im Alter von acht oder neun Jahren in die Weberei. Irgendwie schaffte er es, genug Francs zusammenzukratzen, um mich aufs Lycee des Jesuites zu schicken – dahinten, am Ende der Straße – , wo ich das bißchen an formaler Bildung erwarb, das ich mir jemals angeeignet habe.« »Wenn ein General und ein Admiral eine Statue verdient haben«, sagte Daphne, »sollte dein Geburtshaus zumindest eine Bronzetafel schmücken – das ist das allerwenigste.« »Ach, meine Liebe, dieses Viertel hier ist berühmt wegen anderer Dinge. Colmar ist heute eine ganz schön große Stadt, -1428-
doch stehst du genau auf jener Stelle, wo sie geboren wurde – als kleiner römischer Außenposten namens Columbarium.« Florian hielt inne. »Wir wären schneller in Paris gewesen, wenn wir schon bei Straßburg über den Rhein gegangen wären. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, noch mal hierherzukommen und die Stätten meiner Kindheit wiederzusehen.« Er schniefte kaum merklich. »Ich hatte sogar gehofft, den einen oder anderen Spielgefährten meiner Kindertage wiederzusehen und ... mein Gott, ist das möglich? Kestenbaum?« Aus der Straße waren sie hinausgetreten auf den kleinen Platz vor dem Lycee. Die pergamentenen Lider geschlossen, die adernüberzogenen knotigen Hände über dem Griff des Krückstocks übereinandergelegt, saß ein verschrumpelter, weißbärtiger alter Mann auf einer Bank und genoß die Nachmittagssonne. »Himmel!« entfuhr es Daphne leise. »Wenn das ein Spielkamerad von dir ist, Florian, mußt du viel viel älter sein, als du aussiehst.« »Nein, nein, natürlich war er das nicht. Ein Erwachsener, der nebenan lebte, ein Gerber. Kestenbaum. Lucien Kestenbaum, sind Sie das?« Der alte Mann schlug die trüben Augen auf. Dann klappte sein zahnloser Kiefer herunter, und er krächzte: »Eh?« »M’sieu Kestenbaum, je in’appelle Florian. Vous rappelezvous du temps passe? Florian! Me remettezvous?« »Ah ... ah, oui. Der junge Herr Florian.« Sein Atem ging pfeifend; offenbar lachte er. »Le petit Balg Florian du numero huit. Je me rappeile parfaitement les alten Zeiten.« Kestenbaums Rede war ein solcher Mischmasch aus Deutsch und Französisch, wobei er auch noch seine französischen Wörter mit deutschem Akzent aussprach und umgekehrt, daß weder Daphne noch Edge ihm folgen konnten. LeVie schaffte das -1429-
irgendwie und übersetzte: »Der alte Mann sagt, in der Tat, erinnere er sich an den Lausejungen Florian aus dem Haus Nummer acht. Und jetzt fragt er: ›Sehen Sie ihn manchmal, Monsieur? Wie geht es ihm? Hat er es zu was gebracht? Ma foi, wir hatten die größten Hoffnungen für ihn.‹« Schamlos tupfte Florian sich die Augen, lehnte sich dann vor, schob sein Gesicht ganz nahe vor das des alten Mannes und sagte laut: »C’est moi, in’sieu. C’est Florian. Je suis cet Florianlä. Moi. Ici.« »Horreur! Mais non!« rief der alte Mann entsetzt aus, fuhr zurück und riß die rotgeränderten Augen auf. »Chose fausse! Florian, il est ein Jüngling,fort et rejoui.« »Er will es einfach nicht glauben«, sagte LeVie. »Florian, sagt er, sei ein putzmunteres Jüngelchen.« »Vous ete ein garstiger alter Kauz aux cheveux gris!« ereiferte sich speichelsprühend Kestenbaum. »Menteur! Schwindler!« LeVie fuhr fort: »Er sagt, dieser Fremde, der ihn da anspreche, sei ein Betrüger, ein Hochstapler, ein häßlicher alter Knacker mit grauem ...« »Aufhören!« flüsterte Nella voller Mitleid und legte LeVie die Hand auf den Arm. »Sag nichts mehr. Il Signor Florian sieht in diesem Augenblick ja wirklich ganz alt aus!« Wütend schwenkte Kestenbaum den Krückstock und fuhr fort, sich zu ereifern. Florian murmelte noch ein paar Worte, steckte ihm eine Eintrittskarte für das FLORILEGIUM in die Tasche seines abgetragenen alten Rocks und ging. Schweigend entfernten sich die anderen, dann stieß Florian einen Seufzer aus und sagte: »Dieser junge Florian – hat er es zu was gebracht? Hat er die großen Hoffnungen erfüllt, die in ihn gesetzt wurden? Oder ist -1430-
er bloß alt geworden? Für Circusleute gibt es weder Gedenktafeln noch Denkmäler, soviel ist mal sicher!« Daphne, die neben ihm ging, lehnte sich hinüber und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Edge sagte: »Denk dran, was Cato gesagt hat, Governor, als jemand ihn fragte, warum Rom ihm kein Standbild errichtet hätte.« Auf dem Rückweg zum Jardin Mequillet begegneten sie mehreren ihrer Böhmen, die Plakate vom FLORILEGIUM anbrachten und zwar deutschsprachige Plakate, die von der Tour des Circus durch Österreich und Bayern übriggeblieben waren. Die Colmaraner drängten sich darum, lasen und redeten darüber. »Dabei fällt mir was ein«, sagte Florian. »Geht ihr nur weiter; ich suche noch eine kleine Druckerei. Hier im Elsaß tun die deutschen Plakate und Programmhefte zwar ihren Dienst, aber wenn wir weiterziehen ins eigentliche Frankreich hinein, brauchen wir neue. Ach, und wenn ihr zum Festplatz kommt, sag doch Bumbum, er soll mit seiner Kapelle ›Partant pour la Syrie‹ üben. Das soll von nun an unsere Melodie für die Parade sein.« Wiewohl keiner von den fünf am nächsten Tag den alten Kestenbaum in der Nachmittagsvorstellung sah – er hätte durchaus unbemerkt bleiben können, denn wegen Überfüllung mußten sie sogar Leute zurückschicken beziehungsweise auf die Spätvorstellung vertrösten. Und wie Daphne Florian gegenüber bemerkte, klatschte und jubelte das Publikum, wie es das beim Wiedererscheinen der beiden anderen Helden der Stadt -General Rapp und Admiral Bruat – bestimmt nicht getan hätte. Die nächsten Vorstellungen des FLORILEGIUM waren gleichfalls ausverkauft. Zu den Einwohnern von Colmar gesellten sich jetzt auch Leute vom Land – und sie waren nicht minder begeistert, denn die Artisten waren fest entschlossen, der Heimatstadt Florians eine Vorstellung zu bieten, die der vor Alexander II. in nichts nachstand – oder der, die sie vor -1431-
Napoleon III. zu geben hofften. Bei jedem Auftritt brachte Mademoiselle Butterfly – die jetzt »Mademoiselle Papillon« hieß – jenen dem Spannungsaufbau dienenden Trick mit den Blütenblättern, die lautlos die lange Strecke vom Abgangsbrett bis zum Manegenboden heruntergegaukelt kamen, ehe die Musik dann losbrach und Sunday mit dem Trapez ins Nichts hinausschoß. In der Sideshow sorgte Sir John dafür, daß Prinzessin Brunhilde jetzt mehr tat als nur groß und aufrecht dazustehen und sich anstaunen zu lassen. Sie führte nunmehr einen Scheinkampf mit Grille aus – die hier Grillon hieß – und in dessen Verlauf die Riesin ihr langes Schwert handhabte und die Zwergin mit einem Dolch herumfuhrwerkte, der nicht größer war als eine Hutnadel. Nur eine einzige Nummer wurde nicht ausgewalzt, sondern im Gegenteil verkürzt: die Klischnigg-Nummer von Miss Eel, jetzt »Mademoiselle Anguille«. Agnete arbeitete immer noch mit unglaublicher Biegsamkeit und geschmeidiger Anmut, doch konnte sie ihre schlangenhaften Körperverrenkungen nur kurze Zeit vorführen; dann brauchten ihre gepreßt arbeitenden Lungen eine Ruhepause. Auch konnte sie die Hustenanfälle, die sie hinterher quälten, nicht mehr verheimlichen, in deren Verlauf Yount sie nur in den Arm nehmen, ihr unbeholfen auf den Rücken klopfen und besorgt dreinschauen konnte. Florian behauptete, in Colmar keinen einzigen Menschen mehr gesehen zu haben, den er aus seiner Knabenzeit kannte. Edge jedoch meinte, das sei vielleicht gelogen, bloß um nicht noch einmal der Hochstapelei bezichtigt zu werden. Allerdings ließ sich auch nicht leugnen, daß Florians verschiedene Ausweise im nahegelegenen Park-Hotel, in dem Willi Zimmer für die Artisten genommen hatte, vom Empfangschef genauso kommentarlos entgegengenommen und durchgelesen wurden wie die aller anderen Circusangehörigen und Florian weder von den Zimmermädchen noch von den Kellnern im Speisesaal bevorzugt behandelt wurde. Im Circus sprang kein einziger -1432-
Gaffer je auf, um ihn mit fröhlichen Rufen zu begrüßen, und man hörte auch von niemand, daß der in flammenden Lettern über dem Eingang zum Chapiteau prangende Name irgendeine Erinnerung an einen gleichnamigen jungen Colmaraner wachgerufen hätte. Gleichviel, es sei weder Melancholie noch das angekratzte Selbstbewußtsein, sagte Florian, nur sein drängender Wunsch, möglichst schnell weiterzukommen nach Paris, das ihn nach einer Woche Colmar den Befehl zum Abbauen geben ließ. So rollte die Wagenkolonne des Circus in westlicher Richtung quer durch Haut-Rhin, dann durch die Departements Vosges, Háute-Marne und Cóte-d’Or, und überquerte unterwegs Flüsse, deren Namen zumindest den gebildeteren unter ihnen bekannt waren – die Mosel, die Saóne, die Marne und den noch nicht sonderlich eindrucksvollen Oberlauf der Seine – sowie eine ganze Reihe weniger bekannter Flüsse. Das FLORILEGIUM gab nur kurze Gastspiele, ließ aber ziemlich häufig die Saratoga aufsteigen. Vier Tage spielten sie in Epinal, zwei Tage in dem kleinen Kurbad Bourbonnesles-Bains – und das vornehmlich, um Carl Beck eine Freude zu machen, damit dieser seine freien Stunden dazu benutzen konnte, sich in den heißen Solebädern zu aalen – und dann jeweils ein paar Tage in Langres und Chátillon. Diese Orte waren jeweils drei bis vier Tagereisen voneinander entfernt, doch die Reise ging im allgemeinen problemlos vonstatten. Es gab ein paar steilere Strecken, doch im allgemeinen führte die Straße durch ein Gebiet aus welligem Acker- und Weideland. Wo dieses nicht mit Schnee bedeckt war, war es hell- bis dunkelbraun, und alles, was die Menschen in diesem Gebiet aufs Land gesetzt hatten, schien eigens ausgesucht, mit diesen Farben zu harmonieren. Die kleinen Pferde auf den Weiden waren dunkelbraun und hatten falbfarbene Mähnen und Schweife. Rinder und Schafe dieser Region waren ebenso unerklärlich wie einheitlich cremefarben. -1433-
Die Bauernhäuser, Scheunen und Stallungen waren durchwegs von einem warmen Braunton, und die Dächer mit graubraunem Stroh gedeckt. Die Dörfer – im allgemeinen rund ein Dutzend Häuser, die sich um einen einzelnen Kirchturm drängten waren vornehmlich braun bis graubraun, und die größeren Städte, in denen der Circus haltmachte – entweder, um zu übernachten oder für den nächsten Tag aufzubauen –, bestanden gleichfalls vornehmlich aus rötlichfarbenem Stein; die Dächer allerdings waren mit rotbraunen Ziegeln gedeckt, die wie Zungen geformt und dergestalt übereinandergelegt waren, daß jedes Haus wie mit Fischschuppen gedeckt aussah. Da es in diesen Ortschaften selten vorkam, daß eine solche Horde von Reisenden sie heimsuchte, gab es keine größeren Hotels, und die Circusarigehörigen verteilten sich auf mehrere Gasthäuser. Diese sahen sich stets bemerkenswert ähnlich und schienen durch die Bank von einer imposanten Witwe mit knarrendem Korsett geführt; die Dame gebot unweigerlich über ein Personal, das aus einer Schar draller Töchter bestand. Ein Ehegespons war niemals auszumachen, und auch von irgendwelchen Söhnen oder männlichen Angestellten sah man nichts, höchstens einmal einen alten Mann, der sich um Hof und Stallungen kümmerte. Die Kammern, in denen man in diesen Gasthäusern schlief, waren in der Regel bescheiden, häufig bäuerlich oder noch primitiver eingerichtet. Nie jedoch wäre es einer der Mesdames l’Aubergistes in den Sinn gekommen, sich dafür zu entschuldigen. Jede Gasthausbesitzerin empfing die Gäste stets so, als wären diese Bittsteller und sie die Kaiserin Eugenie persönlich – freilich niemals so kaiserlich, daß eine von ihnen es je versäumt hätte, le quibus im voraus zu fordern. Das erledigt, geleitete sie die Gäste in ihre Zimmer, die aufgrund irgendeiner allen diesen Gasthäusern gemeinsamen Baumeisterschrulle unweigerlich am Ende eines langen, dunklen Korridors lagen. Auf dem Weg dorthin pflegte Madame die Dochte in den Wandleuchtern zu entzünden und sie hinterher, -1434-
auf dem Rückweg, wieder auszublasen – und ihren Gästen streng anzuraten, die Kerzenstummel zu benutzen, die auf ihrem Nachttisch lägen, wenn sie zum Abendessen hinunterkämen oder den außerhalb des Hauses gelegenen hangar d’aisance aufsuchen wollten. »Governor, es widerstrebt mir zwar, dies von deinen Landsleuten sagen zu müssen«, brummte Fitzfarris, nachdem ihm wegen irgendeines belanglosen Fehlverhaltens von der Wirtin heftige Vorwürfe gemacht worden waren, »aber sie sind humorlos wie die Bibel und so unfreundlich wie Advokaten.« »Komm, komm, Sir John«, sagte Florian. »Die einfachen Leute in Frankreich sind freundliche, charmante und warmherzige Menschen – es sei denn, sie ärgerten sich über irgend etwas, sagen wir mal, den Zustand der Nation oder vielleicht auch die Unfähigkeit der Regierung. Oder die Herablassung, mit der gesellschaftlich über ihnen Stehende sie behandeln und die einen schon fuchsen kann. Oder die Unverschämtheit, mit der gesellschaftlich unter ihnen Stehende auftreten. Oder das Vorhandensein von Ausländern in ihrer Mitte. Oder wenn jemand schlecht französisch spricht – und das tut jeder, der zehn Kilometer weiter südlich, nördlich, östlich oder westlich des eigenen Geburtsortes zur Welt gekommen ist. Auch können sie unglücklich sein, weil sie nicht genug verdienen, oder wütend darüber, eine Gelegenheit ungenutzt gelassen zu haben, aus irgendeinem Geschäft nicht noch einen Sous mehr herausgequetscht zu haben. Franzosen können aber auch noch aus allen möglichen anderen Gründen unausstehlich sein. Und es versteht sich von selbst, daß sie aus einem oder mehreren oder allen diesen Gründen ewig verstimmt sind. Der einfache Franzose ist, kurz gesagt, auch nicht anders als der einfache Mann oder die einfache Frau überall auf der Welt.« Florian konnte großmütig sein, denn er hatte gerade gut gespeist und rauchte behaglich eine gute Zigarre. Alle Circusleute mußten zugeben, daß das Speisezimmer eines -1435-
Landgasthofs auch nur zu betreten, genügte, sämtliche Mängel ihrer Unterbringung aufzuwiegen. Man atmete die durcheinanderwirbelnden Aromaschwaden von Wein, Knoblauch, schmelzender Butter, Holzrauch, geschnittenen Zwiebeln, Möbelwachs, Zigarrenrauch, kräftigem Kaffee und sogar den Geruch frischer Druckerschwärze auf den Zeitungen, die von den anderen Gästen gelesen wurden – wobei dies Monsieur le maire oder Monsieur le notaire des Ortes sein konnten, gekleidet in schwarzen Gehrock und gelbe, an den Zehen modisch geschnäbelte Schuhe –, beleibten Männern, deren Anwesenheit garantierte, sich in einem Raum aufzuhalten, in dem man vorzüglich speiste. Die drallen, rotgesichtigen, als Kellnerinnen dienenden Töchter der Wirtinnen mochten ohne jede Anmut mit dem Tablett von der Küche zum Tisch des Gastes watscheln – doch auf Zehenspitzen dahingleitende Nymphen mit einem Füllhorn im Arm konnten keine köstlicheren Speisen auftischen. Der Wein mochte in einem Holzkrug kommen, gleichwohl war es stets ein guter Tropfen. Mochte der erste Gang auch in hölzernen Kummen gereicht werden – es handelte sich unweigerlich um eine Bouillon, durchsichtig wie heller Topas, oder eine bronzebraune Zwiebelsuppe. Selbst wenn der Hauptgang nur ein einfacher Potaufeu war, den man mit glanzlosem Zinnlöffel aus grobem Steinzeug aß – aber was für ein Potaufeu! Dazu gab es das unvergleichliche, knusprige französische Weißbrot mit der goldgelben Butter, die immer entfernt nach Haselnuß schmeckte. Als Nachtisch gab es dann einen cremigen Coulommier-Käse, ein paar grüne Mandeln, einen Becher schwarzen Kaffees, der einem die Augäpfel aus den Höhlen treten ließ, und vielleicht noch einen Zwetschgenliqueur. Die Stadt Auxerre im Departement Yonne stellte den Endpunkt der schnurgerade nach Westen führenden Route des FLORILEGIUM dar – von nun an ging es in nordwestlicher -1436-
Richtung weiter. Florian, den jeder zurückgelegte Kilometer, mit dem sie sich Paris näherten, aufgeregter und unruhiger werden ließ – euphorischer, als seine Kollegen ihn jemals erlebt harten –, erklärte, dies sei ein bedeutender Meilenstein ihrer Reise, und Auxerre verdiene, daß sie hier Parade machten. Vor den Toren der Stadt war die Luft bitterkalt, weshalb die Artisten ihre Kostüme unter dicken Decken und Pelzen verbergen mußten. Doch kaum war die Prozession durch das prachtvoll von einem Glockenturm überragte Stadttor hindurch, wurde die Luft wie durch Zauberhand plötzlich so warm, daß sie ihre Hüllen abwerfen und sich in der glitzernden Schönheit ihrer Trikots und Kostüme zeigen konnten. Der Temperaturwechsel, dahinter kamen sie rasch, war die Folge einer architektonischen Besonderheit und hatte mit Zauberei nichts zu tun. Auxerres Straßen waren unten auf Straßenebene schon sehr eng, wurden aber immer enger, je mehr es in die Höhe ging, denn die Fassaden der Häuser stellten so etwas wie umgekehrte Treppenstufen dar, wobei jede Stufe über die daruntergelegene hinausragte, bis die Häuser ganz oben mit dem First nahezu aneinanderstießen. Dadurch wurden die Straßen fast zu Tunnels, die die Winterkälte draußen hielten und die Wärme, die Öfen und Herde der Häuser ausströmten, bewahrten. Willi war ihnen vorausgeeilt, und nachdem die Parade von den Leuten in jeder Straße, die sich durchfahren ließ, bejubelt worden war, führte er sie zu dem Festplatz, den er am Flußufer angemietet hatte. Das Chapiteau wurde hochgezogen, die Stadt mit Plakaten bepflastert, und am nächsten Tage bereiteten die Bewohner von Auxerre dem FLORILEGIUM einen Empfang, der noch wärmer war als die Temperatur auf der Straße. Es machte Florian ausgesprochen Freude, in dieser Stadt ein Gastspiel von drei Tagen zu geben, doch er sagte auch: »Von hier an folgen wir der Yonne flußabwärts. In drei Tagen werden wir Montereau erreichen, wo wir aufbauen werden – zum letztenmal in der Provinz, denn bei Montereau mündet die -1437-
Yonne in die Seine. Und folgen wir dem Lauf der Seine, bringt uns das nach drei Tagen dorthin, wovon jeder Circusartist auf Erden träumt: nach Paris, meine Freunde! Endlich nach Paris!«
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2 Die Bekanntschaft des ersten Parisers machten sie noch vor ihrer Ankunft in Paris. Auf dem Festplatz von Montereau, wo das FLORILEGIUM drei Tage lang spielte, trat ein kleiner, schmächtiger, äußerst gutgekleideter Herr mit gewachstem und spitz gezwirbeltem Kinn- und Lippenbart und schwarzen, blitzenden scharfen Augen – eines mit einem quadratischem Monokel bewehrt – an Rouleau heran und sagte auf französisch: »Monsieur Roulette? Ich habe von den verschiedenen Ballonfahrten hier in der Provinz gehört; deshalb bin ich eigens aus Paris gekommen, um einen Landsmann von mir zu begrüßen und kennenzulernen, der gleichfalls Ballonfahrer ist. Ich bin Nadar.« »Bonjour, Monsieur Nadar. Tut mir leid, aber ich bin kein Franzose, sondern ein kreolischer Amerikaner, und mein richtiger Name ist Jules Rouleau.« »Eh bien, mein nom du metier ist Nadar. Eigentlich heiße ich Felix Tournachon.« »Und Ihr Metier ist die Luftschiffahrt?« »Ach, ich mache vieles. Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mir als Photograph, doch lieber bin ich Luftschiffer. Manchmal ist es mir gelungen, die beiden Berufe miteinander zu kombinieren. Ich glaube, ich bin der erste, der jemals aus der Luft photographiert hat. Den Are de Triomphe, meine ich – was gar nicht so einfach war, das werden Sie verstehen, bei der langen Belichtungszeit auf einer so schwankenden Plattform. Ich habe bestimmt zwei Dutzend Platten verpatzt, ehe mir eine Aufnahme gelang.« Wenn Monsieur Nadar ein typischer Pariser war, zu diesem Schluß kam Rouleau, dann war ein Pariser außerstande, eine einfache Frage einfach zu beantworten. Er befrachtete jede Feststellung mit einer Fülle zusätzlicher Informationen, nach -1439-
denen überhaupt nicht gefragt worden war. Allerdings barg Nadars Geschwätzigkeit, zumindest für einen Ballonfahrerkollegen, viel Interessantes, denn er fuhr fort: »Vor ein paar Jahren habe ich den größten gasgefüllten Ballon gebaut, den es jemals gegeben hat – Le Geant nannte ich ihn. Der trug nicht nur eine einfache Gondel, sondern praktisch eine zweistöckige Hütte, ganz aus Weidengeflecht. Beim ersten Aufstieg fuhren außer mir noch ein Dutzend Menschen mit, darunter die Princesse de la Tour d’Auvergne.« »Mon dieu, monsieur! Verglichen mit Ihnen bin ich nichts weiter als ein Dilettant.« »Naja. Als ich das zweitemal mit Le Geant aufstieg, machte ich zwei Fehler. Erstens nahm ich meine Frau mit. Und dann kam es zu einer sehr unsanften Landung. Helas, Madame Nadar zwang mich, den Ballon aufzugeben; seither bin ich nicht mehr aufgestiegen. Ein peinliches Eingeständnis für den Gründer der Societe d’encouragement de la locomotion aerienne. Wir sind nur wenige Mitglieder – ich, Flammarion, die Brüder Godard –, und ich glaube, heute gibt es in ganz Frankreich nicht einen gasgefüllten Ballon mehr. Deshalb bieten Sie einen höchst willkommenen Anblick an unserem Himmel.« »Leider werden Sie hier keinen Aufstieg erleben, Monsieur Nadar. Wir konnten die für den Gasentwickler notwendigen Chemikalien nicht bekommen. Aber selbstverständlich werden wir in Paris starten, und es ist mir eine Freude, Sie einzuladen mitzufliegen, wann immer Sie wollen.« »Ich nehme die Einladung dankbar an.« Leicht pikiert setzte Nadar noch hinzu: »Dann hätte ich Paris überhaupt nicht zu verlassen brauchen? Ich bemühe mich, das so selten wie möglich zu tun, denn ich verabscheue gleichermaßen das flache Land, Fahrten mit der Eisenbahn und winterliche Kälte. Bloß, um heute von meinem Haus zur Gare de Lyon zu fahren, mußte ich meinen Kammerdiener vorausschicken, ein Abteil für mich -1440-
zu finden, und dann zwei oder drei dicke Gepäckträger hinzuschicken, die mir das Abteil vorwärmen sollten.« Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte Rouleau: »Derlei Mißhelligkeiten brauchen Sie sich nicht zu unterwerfen, wenn Sie zurück wollen nach Paris, Monsieur. Sie können mit mir und unserem Vorausreisenden, Baron von Wittelsbach, fahren, und zwar in seinem eigenen Wagen. Wir fahren noch heute nachmittag los, und der Baron ist immerhin so rundlich, daß er die Kutsche, wie ich meine, entsprechend Ihren Erfordernissen anwärmen dürfte. Kommen Sie, ich mache Sie miteinander bekannt.« Willi war gerade in einer Unterhaltung mit Edge und Florian begriffen. Als Rouleau Nadar vorstellte, brauchte man Florian nicht erst zu erklären, wer er war. »Aber natürlich! Der berühmte Photograph der Berühmtheiten! Ich habe viele Ihrer Arbeiten gesehen und bewundert, Maitre Nadar. Doch was führt Sie hierher? Haben Sie der Atelierphotographie Lebewohl gesagt und nehmen Sie jetzt bukolische Szenen auf? Genrestudien aus dem Bauernleben?« »Da sei Gott vor!« rief Nadar dermaßen entsetzt, daß ihm das Monokel herunterfiel, das ihm an einem Band um den Hals hing. »Einmal, ein einziges Mal, nur habe ich in les Halles eine reizvolle Frau vom Land gesehen und sie gebeten, mir Modell zu sitzen. Sie hat es abgelehnt. Und wissen Sie, warum? Sie war fest überzeugt, daß die Kamera durch ihre Kleider hindurch sehen könnte! Non, non, messieurs! Da lobe ich mir die dekadenteste Herzogin oder die schamloseste Kurtisane – bloß verlangen Sie nicht von mir, die reinen und verklemmten Bäuerinnen abzulichten, die glauben, Schönheit sei etwas Unanständiges. La plus belle ist in den Augen der Leute vom Land la poubelle.« Müßig meinte Edge: »Ich habe hier in der Provinz nicht viele -1441-
junge Bäuerinnen gesehen, die ich als plus belle betrachten würde; wie kommen also die Bauern dazu, sie für Mist zu halten?« »Ach, mon colonel, jedes einigermaßen schöne Mädchen vom Land strebt heutzutage in die Stadt. Sehen Sie, die meisten der großen Pariser Kurtisanen kommen aus kleinsten Verhältnissen und schafften ihren Aufstieg über alle möglichen Schlafzimmertreppen. La Jeanne aux violettes war Flaschenwäscherin in einer Weinkellerei; heute ist sie berühmt dafür, Flaubert zu seinem Salammbo inspiriert zu haben und ist im Moment die Maitresse des reichen Monsieur Barouche. Blanche d’Antigny war die Tochter eines einfachen Arbeiters; heute badet sie täglich in Champagner. Juliette la Marseillaise, die als Gastgeberin häufig nichts weiter anhat als ihre langen blonden Zöpfe, begann ihr Leben als Wollzupferin. Vielleicht interessiert es Sie, Colonel, schon aus beruflichen Gründen zu erfahren, daß die berühmte Marguerite Bellanger ursprünglich Zirkusreiterin war. Später genoß sie als Margot die Lustige in etlichen Kasernen einen vorzüglichen Ruf bei den Soldaten. Später wurde oft behauptet, sie nimmt eine außerordentlich wichtige Position unter dem Kaiser ein. Voila! Und heute besitzt sie ein Landhaus in der Rue des Vignes.« »Hm ...«, machte Edge wie benommen angesichts einer solchen Fülle unverlangter Informationen. »Donc, jedes andere nichtssagende weibliche Wesen versucht das gleiche, und so kommt es, daß die leichten Mädchen vom Land in die Stadt strömen. Sie kleiden sich, wie sie finden, betont modisch – in Russischblau oder Magentarot – und stecken sich das Haar zum Tirebouchon hoch, den Eugenie populär gemacht hat, und beim Gehen ziehen sie das Bein nach wie Alexandra, die Prinzessin von Wales. Dabei ist dieser ganze modische Firlefanz in Paris längst passe. Eugenie trägt ihr Haar längst als Chignon, den sie mit Gold bestäubt. Aber Goldstaub können sich die Landpomeranzen selbstverständlich nicht -1442-
leisten. Auch können sie sich nicht mehr als ein Glas Cassis oder Absinth leisten, über dem sie dann stundenlang in den Kneipen am Boulevard des Italiens hocken, immer in der Hoffnung, von irgendeinem Prinzen oder Pascha oder Gesellschaftslöwen entdeckt zu werden. Die Bistros nennen sie verächtlich Grogchasseuses, Schnapsjägerinnen. Und wenn das Schloß das Hirn, Notre-Dame das Herz und les Halles der Bauch von Paris sind, dann ist der Boulevard des Italiens zweifellos der Kitzler von Paris. Sie brauchen nur die Zincs dieses Boulevards abzuklappern, Colonel Edge, wenn Sie eine leichte Eroberung suchen.« »Daran bin ich nicht sonderlich interessiert. Und im übrigen bin ich selbst ein unbedeutender Mensch.« »Das spielt keine Rolle. Die Landpomeranzen sind so rührend darauf erpicht zu lernen, wie man sich in der städtischen Gesellschaft bewegt, daß sie sich für jeden einigermaßen passablen Mann in die Horizontale begeben. Jemand hat mal beschrieben, wie ein Tag im Leben eines solchen Mädchens verläuft: s’habiller, babiller, se deshabiller.« Florian fiel Nadar bei der eigenen Babillage ins Wort und sagte: »Der Colonel, der Baron und ich haben gerade darüber gesprochen, wo wir in Paris den Circus aufbauen können. Vielleicht würde der Kaiser in dieser Frage gern ein Wort mitreden, denn immerhin überbringen wir ihm ein Empfehlungsschreiben seines kaiserlichen Gegenstücks, des Zaren Alexander von Rußland. Gehe ich fehl in der Annahme, daß Sie gut bekannt sind mit Louis Napoleon?« »Durchaus nicht, durchaus nicht«, sagte Nadar mit dem Air übertriebenen Ennuis. »Vermutlich möchten Sie wissen, ob er wirklich so degeneriert ist, wie im allgemeinen gesagt wird. Oui, Louis ist eine Hure.« Nadar gähnte gelangweilt hinter vorgehaltener behandschuhter Hand. »Allerdings keine der großen Huren.« -1443-
»Worauf ich hinauswollte, ist folgendes, Monsieur.« Florian ließ sich nicht von dem abbringen, was er sich vorgenommen hatte. »Darf ich davon ausgehen, daß Sie jederzeit Zugang zu Seiner Majestät haben? Dann könnten Sie vielleicht ...« »Selbstverständlich habe ich das. Schließlich bin ich Hofphotograph. Ich habe jedes Mitglied der Kaiserlichen Familie aufgenommen, ganz zu schweigen von den verschiedenen Mätressen Seiner Majestät. Manche davon, um den verehrenswürdigen Victor Hugo in abgewandelter Form zu zitieren: visage masque, con á nu – und manche kein bißchen masque. Auf einer Portraitstudie habe ich die Comtesse de Castiglione aufgenommen; sie lehnt sich auf den schwarzen Satinlaken ihres Pfühls zurück und trägt einen gedankenverlorenen Ausdruck zur Schau – sonst nichts. Seine Majestät waren dermaßen erfreut über das Bild, daß Sie es ihr mit eigenhändiger Widmung schickten: ›Ich küsse Sie auf alle vier Backen‹.« Willi Lothar und Jules Rouleau sahen Nadar entgeistert und bewundernd zugleich an, als er mit bravouröser Unbekümmerntheit fortfuhr, delikate Geschichten zu erzählen. Doch Florian unterbrach ihn abermals, fast verzweifelt diesmal: »Ich dachte, Monsieur, Sie könnten die Freundlichkeit besitzen, den Baron Louis Napoleon vorzustellen – ihn gewissermaßen unter Ihre Fittiche nehmen. Willi kann unser billet d’introduction überreichen und Seine Majestät dadurch vielleicht bewegen, dem Circus einen besseren Festplatz zuzuweisen, als wir ihn sonst jemals erwarten dürften.« »Aber gern doch, es wird mir ein Vergnügen sein – schon aus Dankbarkeit für die Fahrt und für die liebenswürdigen Gefährten, die mich mit zurücknehmen wollen in die Stadt.« So beeilte Florian sich, den Brief des Zaren zu holen, und Edge wies einen Böhmen an, die Kalesche anzuspannen, während Nadar den wie gebannt lauschenden Willi und Jules -1444-
weitere Anekdoten erzählte. »Seine Majestät könnten sogar aus lauter Boshaftigkeit geneigt sei, Ihnen zu gestatten, den Circus im Park einer gewissen Dame aufzubauen, mit der er in letzter Zeit nicht mehr so recht zufrieden ist. Selbige war früher so raffiniert, sich niemals auf einem anderen Lager auszustrecken als auf einem aus Rosenblättern oder aus Hundert-Franc-Scheinen. Sie behauptete, so überempfindlich zu sein, daß sie mit nichts Kräftigerem masturbieren könne als einem Malerpinsel aus feinstem Zobelhaar. Auch stand sie in dem Ruf, eine höchst wählerische Dame von hohen moralischen Grundsätzen zu sein, die nie zwei Liebhaber auf einmal hätte. Letzthin jedoch braucht sie immer mehr und immer gröbere Stimulantien, bis sie sich jetzt, wie es heißt, von ihrem Arzt für immer goldene Ringe durch die Schamlippen und jede ihrer Brustwarzen hat ziehen lassen, an denen ihre Liebhaber zupfen und zerren und drehen ...« Florian kehrte mit der Pergamentrolle zurück, die Willi mitnehmen sollte. Gleich darauf stand die Kalesche bereit. Nadar brabbelte immer noch wie ein Wasserfall, freilich jetzt, da er einstieg, von etwas anderem. »... seine lebenslange Vorliebe für die Bedienung von hinten hat den Schließmuskel des armen Marquis dermaßen erschlaffen lassen, daß er heutzutage keinen Stuhl mehr halten kann. Er wagt es nicht einmal, seine Gemächer zu verlassen, um auch nur einen kleinen Spaziergang durch seinen Park zu machen. Seine arme Marquise, die sich einst in dem Ruf sonnte, die erste Liebe ganzer Generationen von Schuljungen gewesen zu sein, kennt heutzutage nur noch einen einzigen Tröster ...« »Mein Gott«, flüsterte Edge Florian zu. »Ist dieser Nadar nun ein Geschichtenerzähler, mit dem die Phantasie durchgeht? Oder ist Paris wirklich so, wie er es darstellt? Das reinste Sodom und Gomorrha?« -1445-
Nadars Stimme verlor sich, während die Kalesche dahinrollte. »... Eau de Cologne behauptet sie. Aber jeder weiß, daß es holländischer Genever ist ...« Achselzuckend sagte Florian: »Es sind über zwanzig Jahre her, daß ich zuletzt in Paris war.« Sinnend zupfte er an seinem kleinen Bart. »Was die Sünde Sodoms betrifft, so nimmt die Bibel ja kein Blatt vor den Mund. Nur habe ich mich immer gefragt, was sie denn in Gomorrha gemacht haben. Ich nehme an, das werden wir bald erfahren.« Vier Tage später führte er das FLORILEGIUM über den Quai de Bercy auf dem Ostufer der Seine. Doch selbst nachdem es von einem Wagen zum anderen weitergesagt worden war – »Wir haben soeben die Stadtgrenze zwischen Charenton und Paris überschritten« –, konnte keiner von der Truppe auch nur das geringste erkennen, was nach der glanzvollen Weltstadt aussah, die sie alle fieberhaft erwarteten. Es lag kein Schnee, und es schneite an diesem Tag auch nicht, doch der Himmel hing bleiern und düster über ihnen. Auch der Fluß war von einem trüben Grau, und selbst links und rechts davon dehnte es sich nur grau: Rauchschwaden und davor verschleiert Fabrikgebäude mit großen Schloten, verwahrloste Schiffswerften, schmierige Mauern, schmutzige Viehgehege, stinkende Abfallhaufen, strengriechende Schlachthöfe und graue, unerfreuliche, schmierige Hütten und Verschlage. Die Menschen, die herausgeschlurft kamen, um schweigend die vorüberziehende Circuskarawane anzustarren, waren grau – grau das Haar und grau auch die Hautfarbe, grau von ihren selbstgeschneiderten Kleidern bis zu den Holzpantinen. Selbst die Kinder mit den hohlen Wangen, tief in den Höhlen liegenden Augen und aufgetriebenen Bäuchen waren dermaßen von Ruß, Industriedünsten und allem möglichen anderen Dreck überkrustet, daß sie genauso grau aussahen wie ihre Altvorderen. Florian sagte zu der neben ihm sitzenden Daphne, die über -1446-
ihrem Kostüm einen Zobelpelz trug: »Mit der Parade werden wir warten, bis wir aus les bas quartiers heraus sind.« »In England nennen wir so was Slums«, sagte sie und sah die Kinder mitleidig an. »Was du nicht sagst ... Donnerwetter, diese Brücke gab es früher hier nicht.« Wo der Pont National auf das Seineufer traf, mußte Florian Snowball abrupt anhalten, damit die wie eine Spielzeugeisenbahn wirkende Petite Ceinture schnaufend und ratternd vorüberrollen konnte auf ihrer mit unzähligen Haltestellen versehenen Ringstrecke um Paris herum. Die Bahn folgte dabei der früheren äußeren Stadtmauer. »Du wirst so manches Neue in Paris sehen«, sagte Daphne. »Und feststellen, daß vieles Altvertraute verschwunden ist. Der Baron Haussmann ist in seiner Neugestaltung der Stadt ziemlich rigoros vorgegangen; manche Stadtteile sind immer noch eine Baustelle, ähnlich wie in Wien. Zumindest hat er sämtliche Elendsviertel im Innenstadtbereich geschleift, selbst wenn dabei das eine oder andere Wahrzeichen mit draufgegangen ist. Dafür gibt es neue Boulevards, neue Plätze, neue Parks und neue Brücken.« Sie lachte. »Aber die älteste Seinebrücke heißt auch heute noch Pont Neuf.« Die Wagen, Maringottes und Tiere des FLORILEGIUM zogen jetzt über den Quai de la Rapee, und das Stadtbild war nicht mehr ganz so trist. Auf dem anderen Seineufer ragte die gewaltige Gare d’Orleans; Rauch und Dampf von vielen einlaufenden und abfahrenden Zügen wölkte darüber empor; andere Züge warteten auf Abstellgeleisen oder wurden von einem Gleis auf das andere geschoben. Landeinwärts auf ihrer Seite standen vielstöckige Wohngebäude aus Ziegeln oder anderen Steinen; die Bewohner traten ins Freie oder rissen selbst an diesem kalten grauen Tag die Fenster auf, um die vorüberziehende Circuskarawane besser sehen zu können. Die -1447-
Bewohner der unteren Stockwerke wirkten gesund und schienen anständig gekleidet; diejenigen, die aus den Fenstern weiter oben hinauslehnten, weniger. LeVie erklärte Nella, überall in Paris, selbst in den elegantesten Wohnvierteln, wären die unteren Stockwerke die teuersten, weshalb sie von den wohlhabenderen Familien aus den besseren Kreisen bewohnt würden. Die oberen Etagen, zu denen man nur über Treppen hinaufgelange, kosteten je nach der Höhe immer weniger, so daß die ärmsten und gesellschaftlich überhaupt nicht ins Gewicht fallenden Mieter immer im obersten Geschoß wohnten – und damit, selbst wenn sie diesen Umstand nicht zu schätzen wußten, stets über den besten Blick und die frischeste Luft geboten. Wo der Quai über den Kanal des Port de Plaisance hinüberführte, der sich von der Seine bis zur Place de la Bastille hinzog, ließ Florian die Wagenkolonne halten und rief: »Von hier an machen wir Parade!« Die Musikanten holten ihre Instrumente hervor, die sie sorgfältig im Warmen gehalten hatten – insbesondere solche mit metallenem Mundstück –, und der Professor machte die Ventile des Kessels seiner Dampforgel auf. Die Artisten nahmen ihre Plätze auf den verschiedenen Wagen ein und setzten sich in Positur, doch wie schon früher bei ähnlichen Gelegenheiten, wenn es bitterkalt gewesen war, schlugen sie den Pelzmantel abwechselnd zu und machten ihn nur vorübergehend wieder auf, um die Leute auf der Straße einen flüchtigen Blick auf ihre Glitzerkostüme oder ihre nackte Haut werfen zu lassen. Jetzt, zum Geplärre der Musik, ging es munterer voran über den Quai Henri IV, der weiter nach rechts hinüberrückte, weil die Seine hier um die beiden großen Inseln mitten im Strom herumfloß. »Die Ile Saint-Louis und die Ile de la Cite«, sagte Sunday. »Früher war ganz Paris nicht größer als sie.« »Das hört sich an, als ob du schon mal hiergewesen wärest«, sagte der neben ihr sitzende Edge. -1448-
»Das kommt nur von Jules’ Unterricht«, sagte sie bescheiden. »Von allen Ländern Europas hat er stets Frankreich und hier Paris immer wieder durchgenommen. Ich bin froh, endlich hier zu sein, und kann es noch immer nicht recht glauben.« Das Stadtzentrum war genauso von Rauch überlagert wie es die Außenbezirke gewesen waren, doch endlich konnten die Neuankömmlinge seine Umrisse erkennen. Sunday fuhr fort, Edge die verschiedenen Gebäude und Landmarken zu zeigen, die sie von den Geographie- und Geschichtsbüchern her kannte – oder aus Rouleaus Beschreibungen –, die abgeflachten Türme von Notre Dame mitten im Fluß, auf dem linken Seineufer die womöglich noch höher ragende Kuppel des Pantheon und dahinter das höchste aller Pariser Bauten, den kuppelüberragten Invalidendom. Auf der anderen Seite, dem rechten Seineufer, ragte weithin sichtbar und auch sonst unverkennbar der kegelförmige Hügel des Montmartre in die Höhe, doch zeichnete sich dieser durch nichts weiter aus als durch ein Gewirr kleiner Häuser und ländlicher Windmühlen. Je weiter die Parade über den Quai führte, der stets neue Namen trug im Moment war es der Quai de l’Hótel de Ville –, desto dichter und chaotischer wurde der Straßenverkehr, wozu die Parade, die sich näherte, jetzt das ihrige beitrug. Die Polizisten an jeder Straßenkreuzung mußten aufgeregt auf der Trillerpfeife blasen und mit den Armen fuchteln, um andere Wagen und Karren zurückzuhalten, die an ihnen vorbeizogen, und viele der Pferde scheuten oder stiegen wiehernd im Geschirr angesichts der Elefanten oder der Witterung der Raubkatzen. Manch ein Polizist schüttelte drohend die Faust in Richtung auf Florian und fluchte: »Demerdetoi?« und »Foutez le camp!«, andere hingegen winkten die Parade gutmütig vorüber. Als der Straßenverkehr immer dichter wurde, insbesondere dort, wo ganze Kolonnen von Pferdefuhrwerken und Menschenströme sich von den Brücken auf die Quais ergossen, mußte die Circuskarawane immer häufiger halten und auf eine -1449-
Lücke warten. Und es ergab sich immer eine. Kein Polizist an einer Straßenkreuzung konnte das Geplärre der Kapelle und das Gejaule der Dampforgel lange ertragen, sondern tat alles in seiner Macht stehende, um den buntscheckigen Troß möglich schnell loszuwerden. Als der Circus auf dem Quai du Louvre in einen Stau geriet, scherte eines der Gefährte plötzlich mutig aus der Kolonne aus und drängelte sich unmittelbar hinter Florians Kutsche in die Schlange der Wartenden. Es handelte sich um Willis Kalesche, aus der hastig Rouleau ausstieg, ehe die Parade weiterging, um neben Florian und Daphne in der Kutsche Platz zu nehmen. »Wohin soll es jetzt gehen, Monsieur Roulette?« fragte Florian. »Bieg’ vom Quai ab und fahr’ auf die Place de la Concorde, umrunde die einmal und fahre dann die Champs-Elysees hoch.« »Na, das hätte ich auch von mir aus getan. Wo sollte ein Circus in Paris sonst Parade machen? Ich möchte wissen, wohin letztendlich.« »Der Kaiser hat uns allergnädigst einen Festplatz im Bois de Boulogne angewiesen ...« »Was? Ganz draußen im Wald?« »Möglich, daß das in deiner prähistorischen Jugend mal ein Wald war, mon vieux. Aber heute, nach dem, was die Einheimischen die ›Haussmannisierung von Paris‹ nennen, ist der Bois ein Park mit Rasenflächen, Teichen und Seen, Reitund Fahrwegen, Pavillons und Denkmälern. Genauso schön wie der Prater.« »Soso. Naja, das hätte ich mir denken können.« »Das Chapiteau sollen wir – höchst passend, wie ich finde – bei dem kleinen Gedenkstein aufschlagen, der die Stelle bezeichnet, an der vor fast zweihundert Jahren zum erstenmal ein freischwebender Ballon aufgestiegen ist. Ganz in der Nähe des Fahrdamms, auf dem die elegante Welt zu den Rennplätzen -1450-
von Auteuil und Longchamps fährt. Und außerdem ganz in der Nähe eines Sees, den wir als Tränke für unsere Tiere benutzen können.« »Gut gemacht«, sagte Florian. »Und habt ihr auch schon Hotelzimmer für uns gebucht?« »Hm, ja ...«, sagte Rouleau ein wenig vorsichtig. »Als wir das letztemal in die Hauptstadt eines Imperiums einzogen, warst du es, der darauf bestand, daß Willi nur das beste wählte; deshalb haben wir das hier auch getan. Dies Hotel, Florian, mußt du erst gesehen haben – sonst glaubst du es nicht. Aber warte – auch die Preise mußt du sehen! Es handelt sich um das neue Grand Hotel du Louvre am Boulevard des Capucines.« »Oh ...!« rief Daphne begeistert. »Das war gerade im Bau, als ich das letztemal hier war. Ist es wirklich so protzig, wie es damals zu werden versprach?« »Protzig! Das trifft den Nagel auf den Kopf. Alles Plüsch, Mahagoni und blitzendes Messing. Das Personal trägt Korksohlenschuhe, damit man es möglichst nicht hört. Man ruft es auch nicht per Klingelzug herbei, sondern drückt auf einen Knopf, der irgendwie mit einem elektrischen Apparat in Verbindung steht. Doch das non plus ultra an Luxus ist der Aufzug! Den dürfen nur die Gäste benutzen, doch kommen die Leute aus aller Herren Länder, bloß um ihn zu bestaunen.« »Ein Aufzug?« sagte Florian. »So was wie ein Kran oder eine Winde? Wenn man dich so reden hört, stellt man sich so etwas wie einen Ballon im Hausinneren vor.« »So was Ähnliches ist es auch. Kein Gast des Grand Hotel braucht mehr Treppen zu steigen, es sei denn, er braucht Bewegung. Der Aufzug ist eine kleine, an Seilen hängende Kammer; und die Seile werden von irgendeiner Dampfmaschine auf- und abgerollt. Betrittst du den Aufzug im Erdgeschoß, wirst du sanft in die Höhe gehoben bis zu der Etage, zu der du willst. Oder von einem der oberen Stockwerke bis zum Erdgeschoß -1451-
hinuntergelassen. Phantastisch!« »Hört sich an, als ob Willi eine gute Wahl getroffen hätte«, sagte Florian. »Wo wir doch so gut wie Gäste des Kaisers sind, steht uns auch die allerbeste Unterbringung zu.« »Dabei fällt es mir ein«, sagte Rouleau und zeigte zu den Tuilerien hinüber, an denen sie gerade vorüberfuhren. »Seine Majestät wünscht, dich und Zachary zu sehen – und zwar, sobald du den Aufbau des Unternehmens deinen Untergebenen überlassen kannst.« »So? Dann hat er euch also gnädigst empfangen?« »Mais oui! Nadar hat es fertiggebracht, uns noch am Tag unserer Ankunft hier eine Audienz zu verschaffen. Louis Napoleon hat uns mit großer Hochachtung behandelt. Aber dann – komisch –, nachdem er den Brief von Zar Alexander gelesen hatte, trat er damit an einen Kamin heran; hat ausgesehen, als wollte er ihn verbrennen. Willi und ich fragten uns schon, ob irgend etwas darin seinen Unmut erregt hätte, doch war das offensichtlich nicht der Fall. Er las ihn nur noch einmal durch und sagte uns den Festplatz im Bois zu. Außerdem wies er seine Kammerherren an, dafür zu sorgen, daß wir alles bekämen, was wir brauchten. Dann sagte er uns, Monsieur le Proprietaire Florian et Monsieur le Directeur Edge möchten ihm – so seine Worte – sobald als möglich ihre Aufwartung machen.« Es war die längste Parade, die das FLORILEGIUM je gemacht hatte – sowohl was die Strecke als auch die Zeit anging, die sie dafür benötigten; was zum Teil daran lag, daß Paris überhaupt so groß ist, zum Teil aber auch daran, daß sie durch die verkehrsreichsten großen Straßen führte. So riesig die Place de la Concorde auch ist, und obwohl der Wagenverkehr im Kreisverkehr entgegen dem Uhrzeigersinn herumführte, und welche Mühe sich die geplagten Polizisten auch für den Circus gaben – es ging nur im Schneckentempo vorwärts. Die Circuskolonne mußte den Platz zu drei Vierteln umrunden, ehe -1452-
sie in die Avenue des Champs-Elysees abbiegen konnte; und da wiederum drei Viertel aller Pariser Pferdefuhrwerke hier abbogen, kam man auch hinterher kaum schneller voran. Die Musikanten hatten sich beim langsamen Umrunden des Platzes eine längst fällige Atempause gegönnt, nahmen jedoch ihr Spiel mit viel Schwung wieder auf, als sie die breite Prachtstraße zwischen den Doppelreihen der kahlen Kastanienbäume hinaufrollten. Jenseits der Bäume, manchmal hinter kunstvoll geschmiedeten Gittern, manchmal auch inmitten kleiner Rasenflächen oder Gärten, standen fast Seite an Seite die wuchtigen, architektonisch jedoch kunstvollen Palais von Angehörigen des Königshauses und des Hochadels, und daneben wieder die kleineren aber nicht minder reizvollen Landhäuser nicht ganz so hochgestellter Adliger oder gar nur des Geldadels. Die Kälte konnte die elegante Welt von Paris nicht davon abhalten, ihre nachmittägliche Promenade auf den ChampsElysees zu genießen manche zu Fuß auf den breiten Bürgersteigen unter den Kastanienbäumen, andere hingegen in den elegantesten Equipagen, die die Circusleute jemals auf so engem Raum zusammen gesehen hatten. Da fuhren viersitzige Kutschen, Broughams und leichte Viktorias, rassige SpiderPhaetons und kutscherlose, von zwei Reitern gelenkte vierspännige Daumonts und Coupes, altmodische zweirädrige Karren und die neuen viersitzigen Landauer mit dem flachen, schalenförmigen, schön abgefederten Kutschkasten mit Seiteneinstieg und offenem Verdeck. Ein kleiner Wagen – ein Stanhope mit besonders hohen Rädern – war nicht sehr elegant und trug an den Wagenschlägen links und rechts sowie an der Rückseite Werbeaufschriften : La Capote CONVERTIBLE de M. l’Inventeur Dauzat, und der Kuscher – vermutlich M. Dauzat – betätigte alle paar Minuten eine klobige Drehvorrichtung, um das Verdeck seines Stanhope hochzukurbeln oder hinunterzulassen und damit aller Welt vor Augen zu führen, wie -1453-
einfach das Hochklappen oder Hinunterlassen seines Verdecks wäre wenn man es denn nicht schwierig und umständlich nennen wollte. Spaziergänger und Fahrer waren süperb gekleidet. Die Herren trugen Zylinder mit hochgewölbter Krempe, Paletots mit Pelzkragen und glänzende Lackschuhe mit Gamaschen. Die meisten Damen trugen das Haar wie Kaiserin Eugenie zu einem Chignon hochgenommen – entweder als kleinen geschlungenen Knoten unter einem weitausladenden Hut, oder als großen Knotenwulst, auf dem oben nur ein untertassengroßes Hütchen saß. Waren die Damen nicht vollständig in Zobel, Nerz oder andere feine Rauchwaren gehüllt, bestanden ihre Mäntel und das, was man von ihrem Rock zu sehen bekam, aus Stoffen und Farben, die nach französischen Feldzügen, Schlachten und sogar nach ihren Gegnern benannt waren: Shanghai, Pekin- und Canton-Stoffe in den Farben Solferinorot, Krimwasserblau, Bismarckbraun und Preußischblau. Doch am erstaunlichsten gekleidet waren die Kinder, von denen einige in ziegengezogenen Karren neben ihren Eltern oder Gouvernanten herfuhren. Kleine Jungen und Mädchen trugen schiffchenartige Glengarry-Mützen und Tartan-Stoffe, Miniatur-Plaids in Schottenmuster über der Schulter und darunter Schottenröckchen – oder manche Knaben auch Hosen mit engen Beinlingen aus Schottenstoff –, und ein paar hatten sogar langhaarige Felltaschen vom Gürtel herunterhängen und oben im Kniestrumpf einen Spielzeugdolch stecken. »O ja«, sagte Rouleau, als Daphne meinte, diese Mode habe es, als sie zuletzt in Paris gewesen, nicht gegeben. »Die Kindermädchen, die zu einigen dieser Rangen gehören, sind bestimmt Schottinnen. Alles Schottische ist im Moment genauso sehr in Mode wie in Sankt Petersburg.« »Das wundert mich«, sagte Florian. »Sonst sind Franzosen nicht geneigt, irgendwelche Modetorheiten aus irgendeinem anderen Land zu übernehmen. Darin sind sie sonst eigen – fast -1454-
schon exzentrisch –, in den Dingen, denen sie besondere Beachtung schenken. Da gab es zum Beispiel den großen französischen Dichter Lamartine. Der war nicht nur Dichter, sondern ein Universalgelehrter: Literat, Diplomat, Gesetzgeber; um ein Haar wäre er Präsident der Republik geworden. Und weshalb bewundern ihn seine Landsleute am meisten? Wegen seiner wohlgeformten Hände und Füße.« Amüsiert schüttelte Florian den Kopf. »Es würde mich nicht im geringsten wundern, wenn unser französisches Publikum am heftigsten, sagen wir, eine Hyäne beklatschte oder die Teufelsgeige der Kapelle, oder einen ganz bestimmten Circusmast.« Die Parade dauerte an – über den Chaillot-Hügel die Avenue ganz bis nach oben, zur Place de l’Etoile, dem großen offenen ›Stern‹, dessen zwölf Zacken die zwölf Avenuen waren, die von dort aus hügelab verliefen und in deren Mitte der Are de Triomphe stand. Die Circuskarawane verließ die ChampsElysees und wandte sich nach rechts, um sich dem langsam im Uhrzeigersinn weiterrückenden Strudel anzuschließen, der sich um den Triumphbogen herum drehte. Florian führte die Prozession zwei Drittel um den großen Platz herum und bog dann neuerlich nach rechts ab in den achten Sternzacken, die Avenue du Bois de Boulogne. Diese war nicht sonderlich belebt oder gar vom Wagenverkehr verstopft, weshalb der Circus hier schneller vorankam und schließlich an die Porte de la Muette gelangte, einstmals ein Tor in der alten Stadtmauer und jetzt der Eingang zum Bois. Rouleau zeigte Florian den Gedenkstein, der die Stelle des historischen ersten Ballonaufstiegs markierte, denn dieser war klein und leicht zu übersehen. Der Circus fuhr auf die weite Rasenfläche, die Kapelle hörte auf zu spielen, die Dampforgel verstummte nach einem letzten Schnaufer, und die Kutscher fuhren Wagen und Maringottes hin und her, um das übliche Lager hinter dem Chapiteau zu bilden. »Ihr solltet nicht einmal daran denken, noch heute -1455-
aufzubauen«, sagte Florian. »Ihr braucht bloß ein paar Wagen leerzumachen, in denen wir ins Hotel fahren können. Willi, Sie zeigen ihnen den Weg, sobald sich alle umgekleidet haben, ja? Und wenn alle sich im Hotel eingefunden haben, Monsieur Demon Debonnaire, würdest du dann mit Abdullah und seinen Hilfskutschern zu den Hallen gehen? Zeige ihnen, wo sie Futter und Korn bekommen – und du selbst, besorg Fleisch für deine Raubkatzen oder sonstiges Futter für deine eigenen Tiere. Colonel Ramrod, wir werden Louis Napoleon einen Besuch abstatten. Wenn Paris sich seit meinem letzten Aufenthalt nicht allzusehr verändert hat, kenne ich eine kürzere Route zurück zu den Tuilerien. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto früher können wir uns zusammen mit den anderen ausruhen.«
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3 In flottem Trab ging es mit der Kutsche über die Kieswege, vorbei an den Statuen und Springbrunnen und den wenigen abendlichen Spaziergängern durch den öffentlichen Teil des Tuilerien-Parks, bis sie am Eingang zum Schloßgarten von einer Schildwache angehalten wurden. Als Florian seinen Namen nannte, verschwand der Wachtposten in seinem Häuschen, in dem er offensichtlich einen Telegraphenapparat hatte, denn er trat umgehend wieder heraus, präsentierte mit seiner Muskete und ließ die Kutsche weiterfahren. Auch links und rechts vom Schloßeingang standen Wachen, während ein Lakai die Treppen heruntereilte, um Snowballs Zügel zu ergreifen. Als Florian und Edge die breite Freitreppe betraten, wartete in reichbestickter, scharlachroter Livree mit dem Zeichen seines Amtes, dem riesigen Schlüssel an goldener Kette um den Hals, der Großkämmerer des Schlosses auf sie, der Herzog de Bassano persönlich, der bis auf die Leitung großer Hofbälle und empfange alle anderen Obliegenheiten seinen Unterkämmerern überließ. Den ganzen Weg über Höflichkeiten von sich gebend, führte er sie über verschiedene Treppen und Korridore bis zu Louis Napoleons Arbeitszimmer. Der Kaiser stand bei ihrem Eintritt sogar auf. Er hätte ein etwas beleibter älterer Bruder von Monsieur Nadar sein können, denn er trug den gleichen gewachsten und hochgezwirbelten Schnurr- und Kinnbart wie dieser und hatte das Haar über den Ohren leicht toupiert. Das Weiß seiner Augen hatte einen leichten Gelbstich, und er stand in gebeugter Haltung da. Sein Anzug war wie der Nadars vorzüglich geschnitten und bestand aus dem besten Kammgarn und weißem Leinen, doch er strahlte kaum etwas Herrscherliches aus; er hätte genausogut ein Bürger auf dem Weg in die Kirche sein können. »M’sieu Florian, Colonel Edge, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Er zeigte auf zwei gepolsterte Stühle und -1457-
nahm selbst rasch wieder Platz. Bei seinem eigenen Sessel handelte es sich um einen neuen, mit vielen Zwickeln fest gepolsterten Confortable, ein Lederfauteuil. Steif hob er die Beine, um sie auf einen dazu passenden Lederpuff zu legen. »Ich hoffe, sie verzeihen mir die Dringlichkeit, mit der ich Sie hergebeten habe, aber ich wollte zumindest einmal allein mit Ihnen reden.« Edge hätte gedacht, daß ein Kaiser Unterredungen unter vier Augen führen könne, wann immer er wolle, doch Louis fügte vielsagend hinzu: »Meine Frau, die Kaiserin, kann jeden Tag von den Feierlichkeiten zur Einweihung des Suez-Kanals zurück sein.« Sein Arbeitszimmer war ein Raum von männlicher Herbheit, der freilich altweiberhaft überheizt war. Die Wände bestanden fast zur Gänze aus Bücherregalen, die nur dort unterbrochen wurden, wo ein riesiger Schreibtisch für den Kaiser und ein kleiner für seinen Sekretär standen. In der Mitte des Raums prangte eine Divanjardiniere, ein Rundsofa, das um einen Pflanzenkübel herum gebaut war; bei den Pflanzen handelte es sich um weiße Rosen und weißen Flieder – beide in voller Blüte. Falls die Blumen dufteten, wurde dies überdeckt von einem anderen, unangenehmen Geruch, der den Raum erfüllte – was sich von selbst erklärte, als Louis eine Zigarette in eine goldene Zigarettenspitze steckte und sie ansteckte und im Laufe ihrer Unterhaltung eine nach der anderen rauchte; denn die Zigaretten waren mit einer Art Asthmalinderungsmittel getränkt und rochen abscheulich. Mochte die Unterredung auch dringlich sein, begann sie doch mit unverbindlichem Geplauder. Der Kaiser sagte: »Am Nachmittag habe ich Ihre Parade vorbeiziehen sehen, Messieurs. Die Kapelle spielte ›Partant pour la Syrie‹.« »Was sollten wir unter den Fenstern des Schlosses anderes spielen?« sagte Florian lächelnd. »Was anderes als die beliebteste Melodie Frankreichs?« -1458-
»Frankreichs, ja, aber nicht meine. Ich hasse dieses verdammte Lied.« »Ach ...?« sagte Florian. Diesmal verließ ihn seine Schlagfertigkeit. »Wenn das so ist ...« »Vielleicht wissen Sie nicht, daß es meine Mutter war, die es komponiert hat«, fuhr Louis fort. »Vielleicht ist es ganz gut; ich kann das nicht beurteilen, denn ich bin völlig unmusikalisch. Doch meine Mutter, die Königin Hortense, habe ich gehaßt, und jetzt erinnert mich das Lied ständig an sie. Es ist unmöglich, liebevolle Erinnerungen an eine Mutter zu hegen, die einem einen Bastardhalbbruder beschert und dem eigenen Vater – ihrem Mann – den Balg eines anderen Mannes zumutet. Zum Glück sind die beiden – der Bastard und sie – inzwischen tot. Einer Konvenienzlüge zufolge war er der Duc de Morny; einmal hat er mit diesem Juden Offenbach bei der Komposition einer Operette für einen Hofball zusammengearbeitet – und dafür gesorgt, daß sie von Sticheleien und Spitzen nur so strotzte. Seither kann ich auch Offenbachs Musik nicht mehr ausstehen.« »Wenn das so ist, Majestät, werden wir das Stück selbstverständlich aus unserem Repertoire streichen und ...« »Bloß nicht! Kein Mensch kann die Kapellen und Orchester Frankreichs davon abhalten, diese Melodien zu dudeln – oder die Menschen, die Lieder zu singen. Da können Sie sie genausogut auch spielen.« Um die Unterhaltung auf ein unverfänglicheres Thema zu bringen, erlaubte Edge sich unter Hinweis auf die Jardiniere die Bemerkung, noch nie zuvor habe er Rosen und Flieder mitten im Winter blühen sehen. »Das ist auch nur im Treibhaus möglich«, sagte der Kaiser. »In künstlicher Wärme und völliger Dunkelheit, damit sie weiß gebleicht werden. Leider ist es so, daß sie – verpflanzt man sie ins Freie – wieder die gewöhnlichen, jeder Verfeinerung baren Farben zeigen.« -1459-
Da auch dieses Thema für den Kaiser etwas Niederdrückendes zu haben schien, kam Florian auf den Grund ihres Besuches zu sprechen. »Sie haben den Brief des Zaren gelesen, Sire ...« »Oui.« Er streckte die Hand über den Schreibtisch und nahm ihn auf, was zur Folge hatte, daß er einige Spielkarten durcheinanderbrachte, die in einer komplizierten Patience ausgelegt worden waren. Louis überflog das Pergament, zwirbelte seine Schnurrbartspitzen und sagte mit einem schiefen Lächeln: »Jeder andere Monarch in Europa redet mich der Tradition entsprechend mit Monsieur, mon frere, an, nur Alexander weigert sich immer noch, meine Legitimität anzuerkennen; seine Briefe beginnen stets mit: Mon eher ami. Aber ich bin nicht beleidigt. Im Gegenteil. Es ist mir sogar lieber so. Seine Freunde wählt man sich selbst aus, und ich weiß nur zu gut, daß er sich seine Brüder nicht selbst aussuchen kann.« Louis lehnte sich zurück, so daß er fast auf seinem Fauteuil lag. »Nun, der Brief, der ja nur Tarnung ist, ist ein einziger Lobgesang auf Ihren Circus, das wissen Sie ja wohl. Hoffentlich gefällt Ihnen der Festplatz, den ich Ihnen habe anweisen lassen.« Florian versicherte ihm, dies sei so. Louis fuhr fort, nochmals die Hilfe seiner Kammerherren anzubieten, wenn es um irgendwelche anderen Dinge gehe, die der Circus brauche. Außerdem sprach er eine Einladung für die gesamte Truppe aus, am nächsten großen Diner teilzunehmen, das freilich erst nach der Heimkehr Ihrer Majestät, der Kaiserin Eugenie aus dem Ausland geplant sei. Florian nahm dankbar im Namen des gesamten FLORILEGIUM an. »Und jetzt«, sagte der Kaiser, »kommen wir zur Sache. Sie sind sich ja wohl auch darüber im klaren, daß zwischen den Zeilen mit unsichtbarer Tinte noch etwas geschrieben stand.« Er machte eine Pause und sagte dann stirnrunzelnd und recht verdrießlich: »Alexander erteilt mir dauernd Ratschläge, weigert -1460-
sich jedoch, mir das Rezept für diese nützliche Geheimtinte zu geben.« Auch Florian und Edge zogen es vor, ihm dieses nicht zu verraten. »Diesmal rät er mir in seiner Geheimbotschaft nur zur Vorsicht, ja, er sagt mir rundheraus, ich solle mit Preußen keinen Krieg anfangen, mit welchen Provokationen diese Boches mich auch immer dazu verleiten mögen. Wirklich, Messieurs, das ist doch ziemlich das gleiche, als wenn man mir sagte, ich solle nicht aus dem Fenster dort springen, denn es liegt drei Stockwerke über dem gepflasterten Hof. Ich habe nicht die geringste Absicht, das zu tun, davor braucht man mich nicht zu warnen. Allerdings halte ich eine Lage für denkbar – nehmen wir an, ein Feuer, das in diesem Stockwerk des Schlosses wütet –, die mich zwingen würde, bon gre, mal gre aus dem Fenster zu springen. Da nützten mir weder der gesunde Menschenverstand noch gute Ratschläge.« Florian murmelte, gewiß, solche Notsituationen seien denkbar. »Allerdings fügt der Zar noch hinzu, Sie, Colonel Edge, könnten mir zusätzliche Gründe nennen, nicht in den Krieg zu ziehen. Bitte, tun Sie das.« »Euer Majestät werden sich Notizen machen wollen«, sagte Edge. »Möchten Sie einen Sekretär ...« »Das schreibe ich mir selbst auf.« Der Kaiser griff zum Schreibtisch hinüber, um Bleistift und Papier zu nehmen, verwarf den ersten Bogen, auf dem er offensichtlich festgehalten hatte, wieviele Patiencen er gewonnen und verloren hatte. »Vorläufig, Messieurs, bleibt alles, was gesprochen wird, entre nous.« So rasselte Edge aus dem Gedächtnis herunter: Welche Truppenverbände er östlich des Rheins sich habe bilden oder marschieren sehen, wobei er jede Einheit auf die einzig ihm -1461-
mögliche Weise identifizierte, nämlich aufgrund ihrer Zusammensetzung – Infanterie, Kavallerie, Artillerie, Nachschub – sowie der Abzeichen, die jede Einheit an Wagen oder Uniformen trug. Er führte seine Zahlenschätzungen über Mannschaftsstand und Offiziere einer jeden solchen Einheit auf, wo sie stünde oder wohin sie offensichtlich marschiert wäre und welche Vorräte sie mitführte, woran man ablesen könne, wie lange sie im Feld zu sein erwarteten. Er sagte, mit welchen leichten Waffen Infanterie und Kavallerie ausgerüstet waren, welche Kanonen fahrbare Lafetten aufwiesen und wieviel Munition sie, je nach Munitionswagen oder -kisten, für diese Geschütze wohl mitführten. Er beschrieb zwei Depots, die offensichtlich Nachschublager darstellten und die er gesehen hatte, und entwickelte danach die mutmaßlichen Nachschubvorbereitungen, die die Preußen träfen, um ihre Truppen in beträchtlicher Entfernung von der Heimatgarnison zu unterhalten. Louis Napoleon notierte sich alles, unterbrach Edge nicht, sondern nickte gelegentlich nur anerkennend, und Florian betrachtete seinen Freund mit rückhaltloser Bewunderung. »Von allerhöchster Bedeutung«, sagte Edge, »ist meiner Meinung nach die Ausrüstung. Infanterie und Kavallerie der Preußen und offensichtlich auch ihre Verbündeten sind mit Hinterladern bewaffnet – dem Dreyse-Zündnadelgewehr oder karabiner. Auch bei sämtlichen Geschützen, die ich gesehen habe, handelt es sich um Hinterlader, die aus hartem Kruppstahl bestehen. Hier in Frankreich – zum Beispiel am Grenzposten bei unserem Grenzübertritt am Rhein, wo ja vielleicht auch die Preußen übersetzen könnten – habe ich nur Vorderladergewehre und kanonen gesehen. Schlimmer noch, Majestät, die Kanonen Ihrer Armeen sind alle aus Bronze. Sie müssen noch aus der Zeit des Krim-Kriegs stammen.« »N’importe pas«, sagte der Kaiser hochtrabend, »wir rüsten unsere Truppen nach und nach mit Hinterladern von Chassepót -1462-
aus. Doch das hat keine Eile, denn wir fürchten keine Einzelkämpfe von Soldaten, die mit Gewehren aufeinander schießen. Wir fürchten nicht einmal die stählerne Artillerie. Wir haben die neuen Mitrailleuses von Montigny. Die werden Sie noch nicht gesehen haben, Colonel, weil wir sie möglichst geheim halten, bis sie das erstemal zum Einsatz kommen.« »Mitrailleuses?« sagte Edge. »Pardon, Majeste.« Dann wandte er sich an Florian und fragte auf englisch: »Wenn ich mich recht erinnere, heißt mitraille soviel wie Hagelgeschoß oder Kartätsche. Jawohl, es ist fast das gleiche wie im Spanischen: metralla.« Florian konnte nur mit den Achseln zucken, so daß Edge sich wieder Louis zuwandte und sagte: »Bei allem Respekt, Majestät, an der Mitraille ist wirklich nichts Neues. Wirksam ist sie nur auf kurze Entfernung, wenn man in eine dicht gedrängte Einheit hineinschießt und ...« »Der Name ist irreführend, Colonel. Und das in voller Absicht, um den Feind zu täuschen, falls er davon hören sollte. Bei Monsieur Montignys neuem Gewehr handelt es sich um eine auf weite Entfernung zielsichere Schnellfeuerwaffe. Geschossen wird mit Kugeln, die aus vorher geladenen Scheiben in siebenunddreißig gebündelte Läufe geschoben werden, wobei das Laufbündel durch eine Handkurbel gedreht wird. Die Läufe feuern in schneller Folge und spucken einen tödlichen Kugelregen aus. Dagegen kommen keine Truppen an, mögen ihre Handfeuerwaffen noch so gut sein.« »Wie käme ich dazu, Euer Majestät Worte anzuzweifeln«, sagte Edge diplomatisch, »denn schließlich habe ich Monsieur Montignys Erfindung noch nicht in Aktion gesehen. Immerhin kenne ich eine ähnliche Waffe, wie Gatling sie erfunden hatte. Der stammte aus Carolina, doch waren wir Konföderierten froh, daß er sein Maschinengewehr den Yankees anbot und wir uns nicht damit zu belasten brauchten. Das Gatling hatte nur zehn Läufe, aber es kam dauernd zu Ladehemmungen. Grauenhaft, sich vorzustellen, was bei siebenunddreißig ...« -1463-
»Ich habe das Montigny-Maschinengewehr feuern sehen«, erklärte Louis steif. »Es funktioniert.« »Trotzdem muß ich Euer Majestät eines sagen.« Edge ließ sich nicht beirren. »Mit keiner per Hand gekurbelten Waffe läßt sich wirklich genau zielen. Und je länger die Geschoßbahn, desto breiter und zufälliger werden die Kugeln gestreut. Das ist kein Sturm, sondern ein Gesprenkel.« »Ich habe mir eine Notiz zu Ihren kritischen Anmerkungen gemacht«, sagte der Kaiser nunmehr pikiert. »Ich werde meine Waffentechniker eine Expertise anfertigen lassen. Gibt es noch etwas, das Sie mir mitteilen möchten?« »Ja, Sire. Die Preußen haben auch eine Geheimwaffe. Zumindest bezweifle ich, daß Sie davon wissen. Ich habe sie auch nur flüchtig zu sehen bekommen.« »Qu’estce qu c’est?« »Kein Ding, Majestät, sondern ein Mensch. Die Preußen scheinen den amerikanischen General Philip Sheridan auf ihrer Seite zu haben.« Jetzt betrachtete Louis Napoleon Edge nicht mehr pikiert, sondern unverkennbar bestürzt. Florian erging es nicht anders. »Ich habe ihn an einem der Nachschublager, von denen ich Ihnen berichtet habe, kurz gesehen. Er trug zwar keine Uniform, aber ich kann den gedrungenen kleinen Schuft unmöglich verwechselt haben. Drei oder vier preußische Generale zeigten ihm alles, und keiner von ihnen achtete auch nur im geringsten auf den harmlosen Circus, der gerade vorüberrollte. Ich war völlig von den Socken, Little Phil zu sehen, doch er selbst wäre noch mehr von den Socken gewesen, hätte er in diesem Augenblick aufgeblickt und mich einen Circuswagen durch Kurhessen lenken sehen – mich, einen Konföderierten, gegen den er im Shenandoah-Tal gekämpft und der beim Waffenabliefern in Appomattox direkt neben ihm gestanden hat.« -1464-
Der Kaiser sagte kaum vernehmlich: »C’est incroyable.« »Das letzte, das ich von Sheridan hörte, war, daß er Militärgouverneur von Missouri war und den Indianern dort das Leben zur Hölle machte. Zuvor war er Militärgouverneur des armen, besiegten und geschundenen Louisiana gewesen, und den Leuten dort hat er das Leben dermaßen zur Hölle gemacht, daß sogar Präsident Johnson erschrocken war und den Hund hat mit Gewalt versetzen lassen. Vielleicht ist Little Phil ja beurlaubt und macht sich einen Spaß daraus, den Preußen unter der Hand zu helfen. Vielleicht hat aber auch sein ehemaliger Kommandeur und jetziger Präsident, Ulysses Grant, ihn aus irgendwelchen windigen Gründen herübergeschickt. Aber soviel steht fest für mich. Wenn Phil Sheridan den Preußen als Berater dient, kann ich nur hoffen, daß Frankreich nicht gegen die Preußen in den Krieg zieht. Sollte es aber doch soweit kommen, hoffe ich zu Gott, daß Frankreich nicht verliert, denn nichts tut Sheridan lieber, als auf jemand herumzutrampeln, der ohnehin schon am Boden liegt – und genau das zu tun, wird er den Preußen raten.« Eine Minute herrschte Schweigen im Raum. Dann erklärte Louis geradezu bösartig: »Dieses Cochon hat mich schon einmal in Schwierigkeiten gebracht und mir Knüppel zwischen die Beine geworfen. Jedenfalls habe ich allen Grund, ihn zu verabscheuen. Kaum einen Monat nach Appomattox, von dem sie sprachen, Colonel Edge, hatte dieser Sheridan eine Division amerikanischer Truppen an der mexikanischen Grenze stehen, die bedrohliche Gesten und Ausfälle in Richtung auf die Monarchie machte, die ich dort zu errichten versuchte. Washington ließ mir heftige Drohungen und Ultimaten zugehen. Nun, Maximilian war unfähig, Mexiko gegen eine amerikanische Invasion zu verteidigen, und ich selbst konnte von dieser Seite des Atlantiks kaum einen solchen Feldzug befehligen. Außerdem muß ich offen sagen, daß – nachdem die Südstaaten unterlegen waren – -1465-
das mexikanische Unternehmen sich kaum noch für mich lohnte. Denn eigentlich hatte ich es nur unternommen, um ein Faustpfand in der Hand zu haben und zum Teil auch, um meiner Frau, der Kaiserin, zu gefallen. Eugenie ist Spanierin, wie Sie zweifellos wissen; sie träumt noch immer spanische Träume von einer Eroberung Mexikos.« Aufseufzend verstummte er. Nach einigem Grübeln fuhr er dann fort: »Das Unternehmen hätte glücken können. Man hätte es wagen sollen. Wenn nur die Konföderierten den Krieg gewonnen hätten, Colonel, wäre es jedenfalls vom Erfolg gekrönt gewesen. Die Konföderierten Staaten von Amerika hätten dann an ihrer Hintertür ein Volk gehabt, so fest und freundlich wie Frankreich selbst, einen Verbündeten, der der Konföderation geholfen hätte, die Nordstaaten und schließlich auch Kanada wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen. Doch was für einen mexikanischen Nachbarn haben die Vereinigten Staaten heute? Was hat ihnen ihre Einmischung eingetragen? Als Ergebnis von Washingtons Drohungen und Sheridans bedrohlichem Aufmarsch an der Grenze habe ich meine französischen Truppen abgezogen und die noch in den Kinderschuhen steckende Monarchie nicht weiter unterstützt. Maximilian wurde überwältigt und hingerichtet; seine Kaiserin ist heute eine tobende Irre, und Mexiko versinkt wieder im Chaos von Republikanertum und Revolutionen – Verheerungen, von denen es sich vielleicht nie wieder erholt. Wie Sie sehen, schulde ich General Sheridan noch Vergeltung für seinen Teil bei dem Debakel.« Mit der Faust hieb Louis Napoleon auf die Armlehne seines Fauteuils. »Und jetzt – schmiedet dieser fils de putain wieder Ränke gegen mich? Unmittelbar hinter meiner elsässischen Grenze? C’est intolerable!« Doch plötzlich hellte sich sein rot angelaufenes Gesicht wieder auf, und gleich danach strahlte er. Abrupt lehnte er sich vor und grinste Edge verschwörerisch an. »Wie steht’s, -1466-
Colonel? Hätten Sie Lust, nochmals gegen Sheridan zu kämpfen? Und ihn diesmal zu besiegen?« »Das reizt mich nicht, Euer Majestät, aber trotzdem vielen Dank.« Aus Louis’ Grinsen wurde ein böses Gefunkel, und seine Stimme bekam etwas Schrilles. »Es gilt im allgemeinen als unhöflich – oder unklug –, einem Kaiser unumwunden einen Korb zu geben, Colonel Edge.« »Verzeihen Sie mein ungeschliffenes Benehmen, Majestät. Aber ich bin nicht Eurer Majestät Untertan und habe auch so vermutlich gegen internationales Kriegsrecht verstoßen, indem ich Ihnen die Informationen lieferte, die ich soeben ...« »Und Sheridan? Was macht der! Foutre! Wenn Bismarck und sein General von Moltke die Dienste eines Ausländers in Anspruch nehmen können – wer will mir verdenken, daß ich das gleiche tue? Ich werde mich mit dem Marechal MacMahon beraten, welches Offizierspatent man Ihnen geben kann. Im Rang etwas über einem Oberstleutnant, würde ich meinen.« Diesmal wandte sich Edge rüde, das heißt, ohne den Kaiser vorher um Erlaubnis zu bitten, an Florian und sagte auf englisch: »Ich habe es dir ja gesagt – irgend jemand riskiert Kopf und Kragen bei dieser Sache, verdammt noch mal!« Florian rollte ausdrucksvoll die Augen, doch Edge kümmerte sich nicht darum. »Ich weiß nicht, was ich tue, wenn ich noch mal in einen gottverdammten Krieg hineingezogen werde, und besonders in einen, der ...« »Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche, Colonel«, sagte Louis, gleichfalls auf englisch, »ehe Sie etwas Unbedachtes sagen, das Sie hinterher bedauern würden. Im Laufe meiner verschiedenen Exile habe ich einige Jahre in London gelebt und – allerdings nur für kurze Zeit – auch in New York. Wahrscheinlich kann ich genauso fließend englisch fluchen wie Sie.« -1467-
»Majestät, in welcher Sprache auch immer – ich muß jede weitere Verwicklung ablehnen. Zu mehr als dem, was ich getan habe, bin ich nicht bereit.« »Moment! Eben sprachen Sie von einem gottverdammten Krieg. Aber es gibt keinen gottverdammten Krieg. Mit Ihnen als Gegenmittel gegen diesen kriegswütigen Sheridan – wenn Sie uns helfen, seine Gedanken zu lesen, im voraus zu wissen, welchen Rat er den Preußen geben wird –, vielleicht würde sich damit ein gottverdammter Krieg vermeiden lassen.« »Majestät«, sagte Edge ganz auf der Hut. »Genau dasselbe Argument habe ich schon von Zar Alexander gehört – und ehrlich gesagt ist das der einzige Grund, warum ich mich so weit auf alles eingelassen habe, wie ich das getan habe. Ich bitte, mich zu entschuldigen, aber ich habe den Krieg und jedes Gerede über den Krieg satt bis obenhin!« »Nun, ja«, sagte der Kaiser und spreizte die Finger. »Ich will mich nicht aufdrängen. Gebe Gott, daß es keinen Krieg gibt; dann wäre die Unterhaltung, die wir soeben geführt haben, rein theoretisch gewesen. Kommt es jedoch trotzdem zu einem Krieg, dann werden – davon bin ich überzeugt – alle meine Untertanen sich um die Trikolore scharen.« Er stand auf, um sie per Handschlag zu verabschieden. Dabei fügte er noch hinzu: »Und alle guten Männer, die die Gastfreundschaft und die Wohltaten der Trikolore genießen.« »Das hat er nicht nur so dahingesagt«, meinte Florian, als er zusammen mit Edge wieder in der Kutsche saß und sie zum Schloßpark hinausfuhren. »Ich nehme an, in einem nationalen Notstand könnte er in der Tat eine Aushebung befehlen. Du könntest gefährdet sein, Zachary, denn schließlich bist du so etwas wie ein Staatenloser. Ich bezweifle, daß der amerikanische Konsul hier sich für einen ehemaligen Konföderierten stark ins Zeug legen würde. Ich habe kaum jemals erlebt, daß amerikanische Konsulate etwas für standhafte Amerikaner getan hätten.« -1468-
Edge knurrte nur. »Verstehe mich recht, Zachary«, fuhr Florian fort, als er in die Rue des Pyramides einbog. »Ich empfehle dir ja nicht, dies oder jenes zu tun. Ich weise dich nur auf etwas hin, das du wahrscheinlich ohnehin weißt: daß Freiwillige immer unvergleichlich viel besser fahren als Leute, die man mit Gewalt in eine Uniform steckt. Der Kaiser hat dir praktisch einen Marschallstab angeboten. Kennst du eigentlich die Geschichte des Grafen Rumford?« »Nein.« »Der stammte aus Massachusetts und hieß ursprünglich Benjamin Thompson, war während der amerikanischen Revolution Royalist, kämpfte als Colonel bei der britischen Kavallerie, wurde deshalb geadelt und hieß später Sir Benjamin. Dann trat er in bayerische Dienste, erst als Armeeoffizier, später als Minister für dies und das – und wurde zum Grafen ernannt. Rumford, also ganz unbayerisch, nannte er sich nach der Heimatstadt seiner Frau in New Hampshire. Wie du siehst, kann man es weit bringen im Dienst ausländischer Fürsten. Dabei hat der Graf von Rumford seine eigentlichen Interessen nie vernachlässigt und seine wissenschaftlichen Experimente immer fortgeführt, genauso, wie du weitermachen könntes als Circus ...« »Weiter will ich gar nichts sein! Jedenfalls will ich mit den Kriegen anderer Leute nichts zu tun haben.« »Gewiß, du hast mehr als genug davon gehabt, stimmt schon. Allerdings würde ich meinen, daß dich das dem Krieg gegenüber eher gleichmütig sein ließe. Oder eher ungeduldig, so wie ein Pferd von der Feuerwehr, das hört, wie die Glocke Alarm läutet und es gar nicht erwarten kann, angeschirrt zu werden.« »Zum Teufel damit, Florian!« Edge drehte sich auf der Kutschbank um und sah ihn direkt an. »Vor langer Zeit habe ich -1469-
dir mal erzählt, wie die Comanchen-Kavallerie bei Tom’s Brook kehrt machte und das Weite suchte. Nun, bei dieser Flucht bin ich nicht neutraler Zuschauer gewesen. Ich war einer von denen, die kehrt machten und flohen. Manchmal erlebe ich das in meinen Träumen heute noch. Ich werde mich nie in eine Situation bringen, in der mir das noch einmal passieren kann.« Florian fuhr weiter, hinüber zu der breiten Avenue de l’Opera, die von schimmernden Lampenkugeln gesäumt war. Erst als sie in diese Straße einbogen, ergriff er wieder das Wort: »Sergeant Yount auch?« »Da mußt du ihn schon selber fragen. Ich war damals viel zu beschäftigt, um irgend etwas mitzubekornmen, und in all den Jahren seither habe ich ihn nicht danach gefragt. Obie würde den Marschallstab vielleicht annehmen, den der Kaiser ihm bietet, falls du möchtest, daß einer von uns ihn bekommt. Und wahrscheinlich würde er seine Sache besser machen als ich.« »Zachary, du wirst mich niemals davon überzeugen, daß du ein Feigling bist. Ich habe erlebt, wie du Bewaffneten entgegengetreten bist ... mit einer Tragödie fertig geworden ... furchtbarem Herzeleid ... Und außerdem warst du, wenn ich mich recht erinnere, als dieses Fiasko passierte, erst Captain. Bei Kriegsende warst du aber Oberstleutnant. Du wirst den Rest der Zeit also nicht gerade in einem Versteck zugebracht haben.« »Ich brauchte aber auch niemals wieder eine Kavallerieattacke zu reiten, und so weiß ich nicht, ob ich noch ein zweitesmal gekniffen hätte. Nachdem die fünfunddreißigste unehrenhaft aufgelöst wurde, haben Obie und ich die letzten sechs Monate des Krieges damit verbracht, um das Grabenwerk von Petersburg herum Routinepatrouille zu reiten. Und uns wie jeder andere dort bemüht, nicht von irgendeinem Artilleriegeschoß oder der Kugel eines Heckenschützen getroffen zu werden. Viele hat es trotzdem erwischt, und das ist der Grund, weshalb man mich befördert hat. Wegen übergroßer -1470-
Ausfälle anderer Offiziere, nicht wegen irgendwelcher Heldentaten.« »Trotzdem, es hat ja Heldentaten gegeben – vor der Auflösung. Du hast niemals damit geprahlt, aber deinen eigenen Angaben zufolge war die Comanche-Kavallerie ...« »Sans peur et sans reproche. Stimmt schon. Jeder einzelne von uns hatte allen Grund, den Kopf hoch zu tragen. Vorher. Wenn ich heute von jenem schändlichen Haufen träume, wache ich auf und lasse alle anderen Erinnerungen wach werden, putze sie an meinem eigenen Ärmel blank und bemühe mich, sie so hell erstrahlen zu lassen, daß sie alle anderen Erinnerungen in den Schatten stellen. Vielleicht tun sie das sogar. Und wenn man eines gegen das andere abwägt, war ich vielleicht wirklich kein Feigling. Und wenn das stimmt, brauche ich keine neuen Heldentaten, um das zu beweisen. Und du kannst sicher sein, daß ich es nie mehr riskieren werde, daß es noch einmal zu einem Tom’s Brook kommt.« Beide schwiegen, bis die Kutsche schließlich Ecke Boulevard des Capucins und Rue Scribe vor dem Grand Hotel du Louvre vorfuhr. Dort herrschte ein beträchtliches Durcheinander von Droschken und anderen Pferdegefährten. Wie zuvor in den Tuilerien, gab es auch hier Lakaien, die vorschossen und die Pferde bei den Zügeln packten, um die Privatwagen der Gäste zu übernehmen und irgendwo in einer Remise unterzubringen. Florian und Edge betraten die gewaltige, hohe und im Glanz des Reichtums schimmernde Hotelhalle und sahen sich erfreut um: überall standen Topfpalmen und schwellende Sitzgelegenheiten, auf denen makellos gekleidete Gäste saßen. All dies bildete einen überzeugenden Gegensatz zu den Provinzgasthäusern, in denen sie in letzter Zeit übernachtet hatten. Ja, das Grand Hotel war wirklich das großartigste Hotel, in dem sie bisher abgestiegen waren. Willi wartete in der Halle, und als er sich näherte, fragte Florian: »Sind alle untergebracht, Lothar?« -1471-
»Alle bis auf Kostchei den Todlosen und die Königin Brunhilde. Beide waren nicht zu bewegen, die Räume zu akzeptieren, die ich für sie reserviert hatte. Beide bestehen darauf, sich weiterhin auf dem Festplatz zu verstecken und bei den Böhmen zu bleiben. Ich nehme an, sie glauben, unter der eleganten Welt und in dieser Umgebung unangenehm aufzufallen. Kostchei ist gleich im Bois geblieben, aber die Riesin sitzt hinter diesen Palmen dort. Sie möchte mit beiden Herren ein Wort reden, ehe sie wieder fortgeht.« »Verdammt! Die beiden hätten sich inzwischen an ihre Mißgestalt gewöhnen sollen; merkwürdig, daß sie sich immer noch genieren. Nun, komm, Zachary!« Sie ließen Willi stehen und suchten sich den Weg durch plaudernde, rauchende und lachende Menschengruppen. »Olga möchte bestimmt ihren letzten telegraphischen Bericht an den Zaren loswerden.« Auf dem Weg durch die weite Halle kam Edge nur langsam voran, so daß er Fetzen der Unterhaltung um ihn herum aufschnappte und zu dem Schluß kam, daß Nadars geistreiche, spröde und boshafte Art zu plaudern nur ein Vorgeschmack auf das war, was in Paris an Gesprächen gang und gäbe war. »... Beklagte sich in seinem Club über seine Frau. Er sagte, sie sei geistlos, verschwenderisch, eine keifende Xanthippe et ainsi de suite. Da stand einer seiner Freunde auf und erklärte: ›Ich kann nicht zulassen, mon ami, daß Sie meine maitresse auf diese Weise herabsetzen.‹« Ein gertenschlanker junger Mann mit gelbem Haar, das mittels Brennschere gekräuselt war, erzählte einem anderen gertenschlanken jungen Mann mit lebhafter Gestik: »... viel zu hinfällig, um noch attraktiv zu sein für Liebhaber. Deshalb lebt er zurückgezogen in seinem Landhaus und nennt sich vornehm le reclus de Passy. Wir anderen aber, mein Lieber, sitzen da und kugeln uns und nennen ihn le reclus de Passe ...« Eine Frau in vorgerückten mittleren Jahren, jedoch gut gegen -1472-
den Verfall kalfatert und emailliert, sagte gerade zu einem gespannt lauschenden Herrentrio: »... eine ziemlich durchwachsene Vergangenheit, um es mal nachsichtig so auszudrücken. Doch mir hat sie geschworen, ihrem zukünftigen Mann vor der Hochzeit alles zu gestehen.« »Quelle candeur!« sagte einer der Herren. »Quelle folie!« rief der zweite. »Quelle memoire!« murmelte der dritte. Tief in einem kleinen Palmenhain versteckt saß Olga auf einem Eckdivan, doch selbst hier im Verborgenen war sie bemüht, den Hals zwischen die Schultern zu ziehen, um kleiner zu wirken. »Gospozhya Somowa«, wandte Edge sich an sie, »ich habe alle meine Erkenntnisse an Louis Napoleon weitergegeben, und er scheint geneigt, Alexanders Rat zu folgen. Ist das alles, was Sie melden müssen, oder soll ich Ihnen noch genau sagen, worin unsere Unterhaltung bestanden hat?« »Nyet, Gospodin. Es wird dem Zaren genügen zu erfahren, daß Sie Ihre Verpflichtung verabredungsgemäß erfüllt haben. Ich werde den Empfangschef bitten, meine Nachricht telegraphisch zu übermitteln.« »Soweit ich weiß, Gospozhya, sind auch Sie damit aller Verpflichtungen dem Zaren gegenüber ledig. Heißt das, daß Sie unsere Truppe jetzt verlassen wollen?« »Nun ...«, sagte sie unentschlossen. »Sir John hat mich gebeten, in seiner Sideshow mitzuwirken, bis er eine andere Abnorm... – bis er Ersatz für mich gefunden hat. Das werde ich gern tun.« Ihr Lächeln hatte etwas zage Zitterndes. »Ich hatte keine weiteren Pläne gemacht, es ging mir nur darum, Rußland zu verlassen. Wohin ich gehe und was ich machen werde, darüber bin ich noch zu keinem Entschluß gekommen.« »Wir werden tief betrübt sein, wenn Sie uns verlassen, Olga«, -1473-
sagte Florian freundlich. »Aber wenn Sie gehen, so hoffe ich, gehen Sie stolz erhobenen Hauptes und verstecken sich nicht in irgendwelchen Ecken, als schämten Sie sich Ihrer königlich junonischen Gestalt.« Sie schaffte es, ein wenig zu lachen. »Es liegt ja nur daran, daß die Franzosen so klein sind. In Rußland gab es jedenfalls ein paar Männer, die nicht wesentlich kleiner waren als ich. Aber hier komme ich mir vor wie ein Leuchtturm, der ein Fischerdorf überragt.« »Die Brunhilde der Heldensage hat sich vermutlich genauso gefühlt. Sagen Sie sich doch einfach, Sie sind eine Brunhilde unter den Zwergen, und blicken Sie hochmütig auf sie herab. Dann werden sie zu Ihnen aufschauen – und zwar voller Bewunderung, und sich nicht über Sie lustig machen.« »Sie können bisweilen ein sehr weiser Mann sein, Gospodin Florian«, sagte sie dankbar. »Ich will’s versuchen. Doch ein paar Nächte wenigstens brauche ich, um allen Mut zusammenzunehmen; lassen Sie mich solange auf dem Festplatz bleiben.« »Ganz wie Sie wollen, meine Liebe.« Florian schnippte mit den Fingern nach einem Hotelpagen und schickte ihn, eine Mietdroschke bereitzustellen, sobald Olga ihre Meldung nach Sankt Petersburg abgeschickt habe. Dann ließen Florian und Edge sich von Willi die Zimmerschlüssel geben und fuhren mit dem einzigartigen und berühmten Aufzug des Grand Hotel zu ihrem Stockwerk hinauf. Wie zu jeder Stunde, drängten sich die Gäste – und die Gäste von Gästen –, die alle einen Vorwand gefunden hatten, in dem kleinen ledergepolsterten Kabäuschen mit den vergoldeten Wandleuchtern in die Höhe zu schweben. Die Männer, die außer Edge und Florian mitfuhren, bemühten sich, nonchalant und blase auszusehen, doch eine Frau krallte sich an ihrer Gefährtin fest und quietschte, an den professionell unerschütterlichen -1474-
Liftboy gewandt, mädchenhaft: »Nicht so schnell!« Ihr Gepäck war bereits oben. Florian und Edge wuschen sich rasch und fuhren dann mit dem Aufzug wieder hinunter in den Speisesaal im Mezzanin. Fast die gesamte Truppe hatte bereits zu Abend gegessen, doch die Abteilungsleiter warteten noch auf ihren Herrn Direktor. So nahmen Florian, Edge, Fitzfarris, Beck, Goesle und Lothar an einem großen Tisch Platz, um ein ebenso epikureisches wie gargantueskes Mahl zu sich zu nehmen und dabei zu planen, wie man das Gastspiel hier in Paris zu gestalten gedenke. Beim Aperitif sagte Florian: »Zeltmeister Goesle, laß deine Racklos morgen die ganze Stadt mit Plakaten pflastern. Sie sollen gleich nach dem Aufbau damit anfangen. Dazu brauchen sie vermutlich drei oder vier Tage; gib also auf den Plakaten an, daß wir morgen in fünf Tagen Premiere haben werden.« »Ay. Die Zeit bis dahin können wir gut gebrauchen. Um manches von den Geräten, die unter der langen Reise gelitten haben, wieder herzurichten und auf Hochglanz zu bringen.« »Sehr gut«, sagte Florian. »Oberingenieur, schaffe du alles Nötige für einen Aufstieg der Saratoga an – und zwar einen guten Vorrat. Und in deiner Eigenschaft als Kapellmeister möchte ich dir noch einen Auftrag geben. Gerade heute abend habe ich erfahren, daß der Kaiser von dem Marsch ›Partant pou la Syrie‹, den wir bisher immer bei der Parade und dem Finale gespielt haben, nicht gerade begeistert ist. Denk bitte darüber nach, was man an seiner Stelle spielen könnte, und übe das mit deinen Leuten ein.« Beck dachte nach, und als die Schnecken serviert wurden, kam er mit einem Vorschlag: »Für die Parade am Anfang der Vorstellung vielleicht etwas aus Aubers Ouvertüre zum Fra Diavolo. Und beim Finale möglicherweise die schmissigeren Teile aus seinem ›Grand Pas Classique‹. Das ist fröhliche Musik, sehr französisch. Und der alte Maitre Auber muß -1475-
inzwischen längst gestorben sein und kann keine Einwände mehr erheben. Proben werden wir das bei Standkonzerten in öffentlichen Parks. Das ergibt zusätzlich Reklame für den Circus.« Bei der Salade vichyssoise sagte Willi: »Ob der Herr Hofkompositeur Auber tot ist, weiß ich nicht. Aber wir sollten darauf gefaßt sein, eine Reihe von anderen Komponisten, Malern, Bildhauern und Dichtern auf unserem Festplatz zu sehen, die häufig den Circus zum Thema wählen. Monsieur Nadar scheint sie alle zu kennen und hat versprochen, sie zu unseren Vorstellungen zu bringen. Er sagt, all die anderen Circusse hingen ihnen zum Halse heraus; denn die treten schon zu lange in Paris auf.« Bei Entenbraten, Spargel und Pátes cuites sagte Fitzfarris: »Ich würde gern mehr über die anderen Circusse erfahren. Fast an jeder Straßenecke hier gibt es eine Art große Rundpfeiler, die offenbar nur aufgestellt sind, um mit Plakaten bepflastert zu werden, was sie auch alle sind. Eines von den Plakaten, die ich gelesen habe, warb für einen CIRQUE D’HIVER. Soweit ich es rausbekommen habe, gibt dieser Circus eine Vorstellung unter dem Thema ›Robin des Bois‹, was, wenn ich richtig übersetze, ›Robin aus den Wäldern‹ oder ›Waldvögelchen‹ heißt.« »Das ist die französische Version von Robin Hood«, sagte Florian beim Endiviensalat. »Und die großen runden Dinger, Sir John, sind öffentliche Bedürfnisanstalten – Pissoir genannt. Jawohl, der CIRQUE D’HIVER tritt jeden Winter auf – im Sommer wird daraus der CIRQUE D’ÉTÉ; das Unternehmen ist, solange ich zurückdenken kann, eine Pariser Institution gewesen. Es besitzt sogar einen eigenen Festbau, wie der CINIZELLI in Sankt Petersburg. Aber ich habe keine Ahnung, wieviele andere standortfeste Circusse es hier sonst noch gibt.« »Ich habe nachgeforscht«, sagte Willi. »Mal abgesehen von kleinen Unternehmen wie dem TEMPLE DE MAGIE, in dem der alte Robert-Houdin seine Zauberkünste vorführt, und -1476-
Deburaus Ein-Mann-Clown-Show in den Fantaisies Parisiennes gibt es noch drei andere, die mit uns konkurrieren. Alle drei gehören Monsieur Degeau, und alle drei sind speichelleckerisch so benannt, daß sie der Kaiserfamilie schmeicheln: CIRQUE DE L’EMPEREUR, CIRQUE DE L’IMPERATRICE und CIRQUE DU PRINCE IMPERIAL. Auch sie spielen in Festbauten, sind aber nach Monsieur Nadars Aussage nur mittelmäßig. Das Programm variieren sie nur dadurch, daß sie gelegentlich Nummern untereinander austauschen.« »Trotzdem sollten wir sie uns genau ansehen«, sagte Edge, als eine Apricot mousse vor ihn hingesetzt wurde. »Bloß um zu sehen, wie wir im Vergleich zu ihnen abschneiden. Sie schicken bestimmt auch Spione zu uns.« »Ja«, sagte Florian. »Wir sollten das sogar noch vor unserer Premiere machen. Hinterher haben wir ohnehin zu wenig Zeit. Allerdings braucht keiner von uns sie sich alle anzusehen. Sir John, übernimm du bitte den CIRQUE D’HIVER, und du, Colonel Ramrod, den CIRQUE DE L’EMPEREUR. Die anderen beiden übernehme ich. Hinterher vergleichen wir unsere Eindrücke. Und jetzt, meine Herren ... da ist der Kaffee. Ich schlage vor, wir gönnen uns auch noch ein paar exzellente Trichinopoly-Cigarren und den altehrwürdigsten Cognac, den der Sommelier unter den Spinnweben seines Weinkellers findet. Gemeinsam werden wir dann das Glas erheben, sante sagen und auf unseren Erfolg auf dem Gipfel der Welt anstoßen.«
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4 Sobald Florian am nächsten Morgen auf dem Festplatz Kostchei begegnete, machte er ihm genauso wie tags zuvor Brunhilde Vorwürfe, warum er es abgelehnt habe, zusammen mit den Kollegen im Grand Hotel abzusteigen. »Verdammt, Kostchei – oder Shadid –, du hast dieselben Rechte wie jeder andere Artist. Und wenn das Hotel dir in irgendeiner Weise das Gefühl gibt, du wärest dort unwillkommen, drohe ich, daß wir alle ausziehen und ...« »Ni mudi«, unterbrach Kostchei ihn so unbekümmert, wie ihm das mit seiner gequälten Stimme möglich war. »Es geht nicht um meine eigenen Empfindlichkeiten. Ich möchte nur nicht, daß sich all den feinen Leuten, die dort wohnen, bei meinem Anblick der Magen umdreht ...« Jetzt wurde er seinerseits unterbrochen. Florian und er hatten russisch miteinander gesprochen und nicht bemerkt, daß noch jemand in der Nähe war. Doch plötzlich ragte drohend Olga über ihnen auf, starrte angestrengt Kostchei an und schob Florian zwar nicht geradezu unsanft, aber doch entschlossen zur Seite. »Timofei?« sagte sie in fragendem Tonfall atemlos, voller Hoffnung und doch so, als könne sie es nicht glauben. »Okh, t’fu propast ...«, sagte der Mann grollend und wandte sein schrecklich zugerichtetes Gesicht ab. »Es ist deine Stimme, wenn auch verändert, Bist du Timofei?« rief die Riesin mit versagender Stimme und ließ die Augen keinen Moment von ihm. Der Verstümmelte sagte nichts, sondern sah nur flehend Florian an. Doch von dem wurde ihm keine Hilfe zuteil, denn auch Florian starrte ihn entgeistert an. »Du leugnest es nicht?«, sagte die Frau und brach in Tränen aus. »Du bist Timofei Somow.« »Nyet«, sagte er schließlich mit noch erstickterer Stimme als -1478-
gewöhnlich. »Timofei Somow – das war ich mal. Heute bin ich Kostchei Byesmyertni, der viele Male umgebracht wurde, doch niemals starb.« »Timofei ... Timofei«, schluchzte sie. »Wie hast du nur ...? Dann ist das also der Grund, warum du in meiner Gegenwart nie gesprochen hast. Und es war auch kein Kampf mit irgendwelchen Bären, nicht wahr? Wie bist du so zugerichtet worden?« »Das habe ich mir selbst zuzuschreiben.« »Was? Aber wieso denn? Was ist passiert?« Sie wischte sich die Tränen von den Wangen, doch neue liefen herab. »Ich weiß nur, daß du fort bist ... ich habe gewartet ...« »Ich bin fortgegangen, um reich zu werden«, sagte er entmutigt und verzweifelt. »Und da bin ich zu dem geworden, was ich heute bin.« Sie zwinkerte. »Um reich zu werden?« »Um deiner wert zu sein. Denn du warst die Prinzessin Raisa Vasiliyewich Yusopowa und ich nur Timofei Somow.« »Ach, Liebster«, sagte sie leise und schlang dann ihre Arme um seinen verkrümmten Leib. »Hast du es denn nicht gewußt? Weißt du es denn immer noch nicht? Warum, meinst du, habe ich den Namen Somowa gewählt?« Lautlos und auf Zehenspitzen entfernte Florian sich. Die anderen Artisten probten tagsüber zwar fleißig, nutzten jedoch ihre freie Zeit am Abend, um einige der Vergnügungen zu genießen, die Paris zu bieten hatte. Die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten vertagten sie auf später und besuchten statt dessen Balletts, Kabarets und Theater, deren Vorstellungen sich später mit denen des FLORILEGIUM überschneiden mußten. Da ihnen vor ihrer eigenen Premiere nicht viel Zeit blieb, besuchten sie an einem Abend manchmal drei Unterhaltungsstätten nacheinander. -1479-
Ein paar von den Männern – sowie einige Böhmen – unternahmen ein paarmal das, was Fitzfarris eine ›JunggesellenSause‹ nannte. Ihr erster Ausflug dieser Art galt einem kleinen Cafe namens Alcazar, um sich les deshabillees anzusehen, die Stücke mit Titeln wie »Mimis Bad« und »Fifi bei der Toilette« aufführten. Wenn die Mannsbilder gehofft hatten, schöne nackte Frauen zu sehen, so wurden sie enttäuscht. Die Soubretten waren zwar recht hübsch, aber das ›Ausziehen‹ in einer Nummer, die sich »Lulu geht schlafen« nannte, beschränkte sich darauf, daß Lulu vollständig bekleidet auf die Bühne kam und dann in ein Nachthemd schlüpfte, das die Ausmaße eines Zeltes hatte und genauso undurchsichtig war; zu suggestiver Musik und unter verführerischen Windungen entledigte sie sich ihrer anderen Kleider darunter und ließ dabei kein anderes nacktes Fleisch als das von Gesicht und Händen sehen. Als nächstes besuchten Fitzfarris und Anhang den BalMabille, welcher Darbietungen des aus Algerien importierten, ebenso ausgelassenen wie frivolen Chahut-Tanzes versprach, der besser unter dem Pariser Argot-Wort für ›Tollerei‹, Cancan, bekannt ist. Die Musik war durchaus lärmig, und die Tänzer – Männer wie Frauen – warfen völlig hemmungslos und so, als hätten sie keine Knochen im Leib, die Beine in die Höhe. In der Tat reckten die Mädchen dabei die Beine unglaublich hoch – trugen jedoch entgegen dem, was getuschelt wurde, rüschenbesetzte Pantaletten unterm Rock. Als die Junggesellenhorde das Mabille verließ, stimmten sogar die Jäszi-Brüder und die Böhmen mit Fitzfarris überein, daß noch jedes lebende Bild, das er im Anbau zeige, aufreizender sei als alles, was sie bisher in Paris geboten bekommen hätten. Um ihre Enttäuschung zu beschwichtigen, kehrten die Männer in einer Schenke ein, die auf dem Wirtshausschild fröhlich Au Rendezvous des sportifs hieß, sich dann jedoch als übelste Spelunke dieser Art entpuppte, wo man nur in Blechbechern zu trinken bekam und selbst diese an den -1480-
Zinktresen angekettet waren, damit sie nicht gestohlen würden. Dort kosteten die Männer ein weiteres Importgut als Algerien, einen Absinth genannten Fusel. Wieder waren sie einer Meinung: es war, als trinke man Hustensaft – doch etliche von ihnen mußten auf dem Heimweg von den anderen gestützt werden. Die zur Truppe gehörenden Frauen gaben sich weniger groben Unterhaltungen hin und lauschten den beiden größten Opern-Diven der Zeit: Adelina Patti in La Traviata und Christine Nilsson in Mefistofele. Außerdem sahen sie sich die neue, jedoch bereits gefeierte junge Schauspielerin Sarah Bernhardt an, die im erfolgreichsten Stück der Saison, Le passant, einen schwarzen Sängerknaben spielte. Schon frühzeitig fanden die Frauen auch zu den vielstöckigen Magasins du Printemps, ganz offensichtlich dem Modell für das Kaufhaus Magyäruhaz Pärizsi, in dem ihnen in Pest die Augen übergegangen waren. Das Printemps stellte jedoch eine womöglich noch umfassendere Ballung aller möglichen Läden unter einem Dach dar. Das Kaufhaus war das prächtigste Geschäftshaus in ganz Paris; selbst das Äußere war ein phantastischer Traum aus Kuppeln, Statuen, glasierten Ziegeln und Vergoldungen. Clover Lee war es, die dann nicht weit vom Printemps entfernt die verschiedenen ›Passagen‹ der Stadt entdeckte. Vor Haussmann waren das früher wohl nur enge Gassen gewesen, von denen eine Reihe kaum Besseres gewesen waren als Abstellplätze für Mülltonnen, alles mögliche sperrige Gelump und Betrunkene, die hier ihren Rausch ausschliefen. Seit neuestem jedoch waren sie elegant gepflastert, mit verglasten Rundbögen überdacht und von Gaslaternen an den Wänden erhellt – und bargen von einem Ende bis zum anderen eine Fülle fashionabler Juwelierläden, Antiquariate mit seltenen Büchern, Kunstgalerien, Handschuhmacher, Schneiderateliers und dergleichen. Florian, Edge und Fitzfarris nutzten einen Teil ihrer Freizeit, -1481-
um die anderen Circusunternehmen in Paris zu besuchen – und dabei festzustellen, daß sie keine Konkurrenz waren, die man zu fürchten hätte. Ihr augenblickliches Programm bestand zur Hauptsache aus Nummern der Stehendreiterei und ziemlich lahmen Tierdressuren. Das ›Robin Hood-Spektakel‹ des CIRCQUE D’HIVER entpuppte sich als nichts weiter denn eine ziemlich unfertige Wild West-Show, nur daß die Reiter darin grüne Kostüme trugen und beim Dahinstürmen Langbogen in die Luft reckten, als wären sie Rothäute. »Ziemlich schlecht besucht außerdem«, fügte Edge hinzu. »Das Publikum überhaupt nur Plebs auf den billigsten Plätzen. Die übrigens nur aus kleinen Hockern bestanden; Gott sei Dank, daß wir nicht solche Dinger haben. Gefällt dem Publikum eine Nummer nicht, sollen sie mit den Hockern nach den Artisten schmeißen.« Woanders sah es nicht besser aus. Auch der CIRQUE DE L’IMPERATRICE, so wußte Florian zu berichten, hatte als Hauptattraktion nur ein paar Affen in langen Damenkleidern zu bieten, die auf dem Rücken der Pferde eine Quadrille tanzten. Im CIRQUE DU PRINCE IMPERIAL wurden acht Pferde von Affen geritten, die als Jockeys verkleidet waren. Edge wußte bei seiner Rückkehr vom CIRQUE DE L’ÉMPEREUR zu berichten, der Schlußakt, also der Höhepunkt des ganzen Programms, werde von einer akrobatische Kunststücke vorführenden veritablen Geiß bestritten. »Recht gute Kunststücke«, gab er zu. »Aber wenn der Kaiser die jemals sieht, täte der Manager gut daran, sich einen anderen Namen für sein Unternehmen zu suchen.« »Nun«, sagte Florian, »im Moment sieht es aus, als wären wir der einzige richtige Circus in der Stadt. Zumindest solange, bis der große Hochseilartist Blondin oder der womöglich noch größere Trapezkünstler Leotard ihre Auslandstourneen beenden und heimkehren nach Paris falls überhaupt. Tun sie das, würde ich jeden anderen Circusdirektor überbieten, um uns ihrer -1482-
Dienste zu versichern und sie unter Vertrag zu nehmen, doch bis dahin, meine Herren, sollten wir fabelhafte Geschäfte machen. Gavrila verkauft seit unserer Ankunft im Roten Wagen Eintrittskarten; unsere ersten vier Vorstellungen sind bereits ausverkauft.« Ab und zu hatte einer von der Truppe, wenn er die Stadt auf eigene Faust erkundete, das eine oder andere hübsche Erlebnis. Der ungarische Cimbalom- oder Hackbrettspieler, Gombocz Elemer, trieb sich eines Abends in der Umgebung von Notre Dame herum, wo es Straßensänger, Leierkastenmänner, Stelzenläufer, und ambulante Händler mit Eßwaren, Getränken, Gipsmadonnen, Rosenkränzen und Ablichtungen des Abendmahls gab. Ein Blinder spielte Xylophon, und zwar so schlecht, daß seine auf dem Pflaster umgedreht hingelegte Mütze nur die wenigen Lockmünzen enthielt, die er selbst hineingetan hatte. Elemer dachte einen Moment nach, trat dann hinter das Xylophon, nahm dem Mann die kleinen Schlegel aus der Hand – woraufhin dieser hilflos blökende Protestlaute ausstieß – und begann so frenetisch, laut und harmonisch zu spielen, wie nur je auf seinem eigenen Cimbalom. Ein Spaziergänger nach dem anderen blieb stehen, sah neugierig hin, lächelte dann über den glücklich die Schlegel wirbelnden Elemer und den völlig verdatterten Mann mit dem Pappschild »Aveugle« – ›Blind‹ auf der Brust. Als Elemer eine perlende Version des ›Ave Maria‹ herunterklapperte und klimperte, begann es Sous fast ebenso schnell in die Mütze zu regnen, wie er den Holzstäben Arpeggios entlockte. Eine ganze Traube von Zuhörern umringte ihn, als er mit einigen Stücken aus Messen von Bach und Liszt weitermachte, die er freilich weniger getragen als vielmehr jubelnd und schmissig vortrug. Als die schäbige Mütze die Masse der Geldstücke nicht mehr fassen konnte, hörte Elemer auf zu spielen, die Leute applaudierten und ließen ihn hochleben, und Elemer reichte Mütze wie Schlegel dem blinden Mann zurück. Als der Bettler -1483-
das Gewicht der Mütze spürte, breitete sich ein beseligtes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Doch dann streckte er die Hand aus, um seinen Wohltäter am Gehen zu hindern; Elemer blieb stehen, um das Dankeschön des Mannes entgegenzunehmen, doch der Blinde winselte nur: »M’sieu, wollen Sie mir nicht eine Kleinigkeit dafür geben, daß ich Ihnen mein Xylophon geliehen habe?« Am selben Abend begleitete Florian Daphne und Clover Lee zur Premiere eines neuen Balletts. Sie zogen ihre beste Abendgarderobe an und nahmen sich eine Droschke, um zur Opera in der Rue le Peletier zu fahren, wo die Fassade mit Plakaten vollgekleistert war, auf denen es hieß: »Premiere! COPPELIA ou ›La Fille des yeux en email!« Kurz nachdem der Vorhang aufgegangen war und den Blick auf den heimeligen Marktplatz einer Kleinstadt freigegeben hatte, kam die bezaubernde junge Heroine Swanhild aus der Tür eines der Kulissenhäuser herausgetanzt. Als sie in einen anmutigen langsamen Walzer hineinschwebte, reckten Florian und Clover Lee den Hals, sahen angestrengt hin und flüsterten dann: »Ist das denn nicht ...? Das ist doch jemand, den wir schon mal gesehen haben.« »Ja, in der Tat. Aber wo?« Verwirrt löste Daphne den Blick von der Ballerina und schaute sie an. »In Rom!« sagte Clover Lee. »Richtig«, bestätigte Florian. »Das ist die hübsche kleine Protege des Ballettmeisters, bei dem du Stunden genommen hast.« »Maestro Ricci. Aber das Mädchen hatte einen Namen, so lang wie mein Arm.« »Giuseppina Bozzacchi«, sagte Daphne, nach einem Blick auf den Programmzettel. -1484-
»Richtig«, antwortete Clover Lee. Und setzte dann mit einem gewissen Neid hinzu: »Jetzt sehe sich das mal einer an! Gibt ihr Debüt als Primaballerina, und das bei der Premiere eines brandneuen Balletts! In Paris!« »Schade, daß wir den Namen nicht auf den Plakaten wiedererkannt haben«, sagte Florian. »Wir hätten Blumen mitbringen sollen. Nun, wir können nach der Vorstellung hinter die Bühne gehen und ihr gratulieren. Vielleicht erinnert sie sich noch an uns.« »Aber selbstverständlich erinnere ich mich«, sagte die rosig glühende Giuseppina auf französisch, als Florian und die beiden jungen Frauen sich endlich durch die Schar derer hindurchgekämpft hatten, die ihr Glück wünschten. »Ihr beiden seid vermutlich die einzigen Menschen in Paris, die mich jemals als Sommerblüte gesehen haben.« »Und da warst du noch eine von vielen«, sagte Florian, und küßte ihr die Hand. »Jetzt aber bist du geworden, was Signor Ricci dir schon vorausgesagt hat: la prima di tutte, und hast einen Stern über der Tür deiner Garderobe. Nach der Reaktion der Zuschauer zu urteilen, liegt dir bald ganz Paris zu Füßen. Himmel, ein Dutzend Vorhänge, und die vielen Blumen, die man dir auf die Bühne geworfen hat! Und all das mit wieviel Jahren?« »Oh là, monsieur! Nächsten Geburtstag werde ich siebzehn.« »Helas, une ancienne!« sagte Florian in gespielter Verzweiflung. »Trotzdem, ich hoffe und erwarte, daß Sie wie die Taglioni auch in den Vierzigern noch die premiere danseuse sind.« Für jemand, der fast noch ein Kind war, war Giuseppina von einem Feingefühl, das das einer erwachsenen Frau sein konnte. Clover Lee, mindestens mehrere Jahre älter als sie, betrachtete die vielen Blumengebinde und Sträuße, die die Garderobe füllten, mit einem sehnsüchtigen Blick, so als sei der Ruhm an -1485-
ihr bereits vorbeigegangen. »Ich habe bei Ihnen abgeguckt, Mademoiselle«, wandte das Mädchen sich strahlend an Clover Lee, die völlig durcheinander zu sein schien. »Erinnern Sie sich noch, daß Maestro Ricci mich in den Circus schickte, Ihnen zuzusehen? Nun, ganz besonders habe ich mir eine Fouette gemerkt, die Sie auf dem Pferd ausführten. Sie mußten mehr als vorsichtig vorgehen, weil Sie ja die Beine immer in die Richtung werfen mußten, in die das Pferd galoppierte.« »Krrr ... oui.« »Ja, aber haben Sie mich denn nicht heute abend eben diesen Schritt tanzen sehen? An der Stelle, wo Swanhild so tut, als wäre sie eine Puppe, die zum Leben erwacht? Und als der Puppenmacher Coppelia das Tänzerische einhaucht, genau da mache ich Ihre konzentrierte Schrittfolge nach, um ihre uhrwerksmäßige Präzision zu verdeutlichen.« »Nun ...«, sagte Clover Lee wieder heiter. »Das freut mich. Ich selbst tanze jetzt auch ein paar Volkstänze auf dem Pferderücken. Vielleicht kann ich Ihnen da ein paar von den komischen Schritten abgucken, die Sie in Coppelias spanischem Bolero und dem Schottentanz bringen?« »Mais certainement«, sagte das Mädchen lächelnd. »Pour vos beaux yeux en email de saphir.« Trotzdem fand Clover Lee gleich am nächsten Tag wieder Gelegenheit, vor Neid zu erblassen. Es war der Tag vor der Eröffnungsvorstellung des FLORILEGIUM, und Edge erlaubte ihr nur eine kurze Probe, damit Bubbles und sie selbst möglichst viel Zeit hätten, sich auszuruhen. Clover Lee badete also, wechselte die Kleider und ging spazieren. Und während sie durch die Abteilungen des Printemps schlenderte und die Arkaden der Passage des Princes passierte, hörte sie die Leute immer wieder von der etonnante petite Giuseppina reden. Vielleicht trug das dazu bei, daß Clover Lee später am -1486-
Nachmittag so in die Luft ging, als die gewöhnlich makellosen Dienste des Grand Hotel einmal versagten. »Schau dir das an!« rief sie klagend der Garderobiere Ioan zu. »Mein bestes und neuestes Trikot und der Rüschenrock. Knallrot waren sie, als das Zimmermädchen sie zum Waschen forttrug. Und jetzt, schau! Blasses Altrosa!« »Pierde! Verhunzt!« stimmte Ioan ihr kopfschüttelnd zu. »Keine Zeit, neues Kostüm zu machen vor Vorstellung morgen.« »Und ich wollte, daß alle nur mich ansehen!« rief Clover Lee schniefend, um dann loszufauchen: »Rosa! So wenig auffällig wie ein Babyschutenhütchen!« »Schlimmes Versehen. Wäscherin hat vielleicht eau de javelle benutzt.« »Ach was – Lauge hat sie genommen! Nicht nur ausgebleicht ist es, sondern auch noch geschrumpft und fast durchsichtig geworden. Ich passe kaum noch selbst hinein; für Brustband und Cachesexe ist praktisch kein Platz mehr darunter. Man wird jede Rundung, jede Falte und jedes Knubbelchen sehen, das ich habe. Immerhin werde ich in diesem bonbonfarbenen Trikot nicht wie ein Baby aussehen.« »Sei doch froh, in Rosa kriegst du rosige Brustwarzen und ein rosiges Dreieck«, sagte die praktisch veranlagte Ioan. »Aber vielleicht solltest du doch besser was anderes anziehen.« »Einen Teufel werde ich tun! Ich hatte mir fest vorgenommen, dies hier für die Eröffnungsvorstellung zu tragen, und jetzt werde ich es auch tun. Werde ich morgen wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet, kann das verdammte Hotel die Geldbuße für mich zahlen!« »Verdammt«, sagte Yount am nächsten Tag zu Florian, als die ersten Zuschauer auf dem Festplatz eintrafen. »Miz Smodlaka hat ja wohl nur an die Reichen und Honoratioren Karten verkauft!« Die Leute waren in der Tat dandyhaft aufgedonnert, -1487-
als ob sie das Prix-Lutece-Rennen in Longchamps besuchten, und viele fuhren in glänzenden Privatkutschen vor. Yount fuhr fort: »Governor, du solltest wohl mal nach’n paar Racklos schicken, daß die tut de suut Lakai spielen!« »Was Lakai spielen?« Yount machte ein stolzes Gesicht. »Hätt’ nie gedacht, Governor, daß ich ’ne Sprache sprech’, die du nich’ kannst! Hab’ aber jetzt von mir aus französisch gelern’. Mit Hilfe von Sunday Simms’ Französischbuch. Tut de suut bedeutet soviel wie blitzschnell, sofort.« »Ah, ja, natürlich. Ich war in Gedanken gerade woanders. Und vielen Dank, Monsieur le Tremblementde-Terre, aber der Chef der Racklos, Banat, hat bereits Anweisungen gegeben, wie mit den Pferden und Wagen der Gaffer umzugehen ist. Dein Bestreben, dich zu vervollkommnen, ist äußerst lobenswert. Wo wir gerade davon sprechen – wie geht es Mademoiselle Anguille?« »Ich glaub’, die paar Tage Ruhe hier haben ihr gut getan. Jedenfalls hat sie fest vor, ihre Nummern jede Vorstellung vorzuführen. Sie sagt, sie hat jetzt genug vom Krankspielen.« »Das zu hören, freut mich. Aber paß gut auf sie auf. Sorge dafür, daß sie sich nicht übernimmt.« Bis jetzt hatte man sich beim FLORILEGIUM noch nicht geeinigt, welche Schausteller den Zugang zum Chapiteau säumen und die Budenstraße bilden sollten. Doch am Premierentag waren alle möglichen fliegenden Händler und Schausteller zusammengekommen: Männer mit fahrbaren Verkaufsständen und Garküchen, Schnellzeichner und Scherenschnittkünstler, Drehorgelspieler, Feuerschlucker, Gaukler im Kindesalter, die tanzten, während einer von ihnen die Judenharfe spielte, Musikanten jeder Art und jeder Stufe des Könnens, unter anderem Elemers blinder Xylophonspieler. Die Musikanten gaben bald auf und zogen ab, da sie gegen das -1488-
lautstarke Gejaule der Dampforgel einfach nicht ankamen. Goesle und Rouleau mischten sich unter den Rest und suchten solche aus, denen sie gestatten wollten zu bleiben. Einen der sensationelleren Feuerschlucker ließen sie neben dem Eingang zum Chapiteau Aufstellung nehmen, wo bisher der Gierige Grieche als Wahrzeichen gedient hatte. Sie ließen die Verkäufer der besseren Leckereien und Getränke und die Händler mit den besseren ›Pfeifen‹ die Budenstraße bilden. Jede Art von Parasiten jedoch, die dem Ruf des Circus abträglich sein könnten, sowie Bettler, die nichts weiter vorzuweisen hatten als ihre Schwären und Mißbildungen, scheuchten sie einfach davon. Um zwei Uhr mittags lag das Innere des Chapiteau nur in Halbdämmer getaucht da und es war keineswegs dunkel; trotzdem hatte Florian angeordnet, daß die Piste, die Masten, der Ausleger der Longe und das Hochseil wieder mit Kerzen gespickt würden, wie sie das in Peterhof getan hatten. »Das heute ist unsere Premiere in Paris, Leute, und damit nicht weniger als eine Galavorstellung vor dem Zaren!« Als Bumbum das Zeichen zum Einsatz gab, kam Thunder im Galopp hereingeprescht und wirbelte Colonel Ramrod mit seinem Kavalleriesäbel in der Luft herum – und Bumbum hielt ein Zündholz an die improvisierte Zündschnur. Knisternd und aufflackernd wurden aus der Vielzahl der Kerzen gerade Linien, Kreise und schwungvolle Bogen aus tropfenförmigen Flämmchen, und der Rest der Truppe marschierte zur Parade ein. Unter großem Applaus verschwanden die letzten Darsteller und Tiere durch die Gardine, und einige der spärlicher bekleideten Künstler liefen in die Umkleidezelte, um sich in etwas Wärmendes zu hüllen, doch kehrten sie alle schleunigst wieder zurück in den Sattelgang. Selbst diejenigen, die erst in der zweiten Programmhälfte Auftritt hatten, gingen nicht wie sonst auf und ab oder dösten oder vertrieben sich auf andere Weise die Zeit. Sämtliche Artisten drängten sich hinter der -1489-
Gardine und lauschten gespannt, wie das Publikum auf die einzelnen Nummern ansprang. Darin bildeten auch die Racklos in ihrem schwarzen Overall keine Ausnahme, die für gewöhnlich nur stumpf auf ihr Stichwort warteten, um Requisiten, Käfige oder Geräte aufzubauen. Alle, die sich im Sattelgang drängten, konnten zu ihrer Freude miterleben, wie die Zeltbahnen des Chapiteau bei den wiederholten anhaltenden Beifallsexplosionen und den »Bis-Bis«-Rufen der Zuschauer erzitterten. Als die Freiheitspferde von »Colonel Retouloir« am Ende der Nummer genau in der Reihenfolge der auf ihre Schabracken gestickten Nummern herausgaloppiert kamen – und ihnen tosender Beifall folgte –, kam unmittelbar hinter ihnen auch Florian zum Vorschein und befahl den Böhmen, die Tiere wieder hineinzutreiben. So hörten die Lauscher im Sattelgang noch größeren Applaus aufbranden, als die Pferde nochmals gruppenweise nebeneinander oder einzeln hintereinander die Manege durchliefen, stiegen und ihre Courbettesprünge machten, um dann wieder in genauer Reihenfolge hintereinander her zu galoppieren. Als die Pferde mit donnernden Hufen hinter der Gardine verschwanden, verschwand unter tiefen Verbeugungen auch »Colonel Retouloir« mit ihnen und hatte kaum Zeit, zu verschnaufen, da er mit der Trillerpfeife den nächsten Darsteller aufrufen mußte. »Jetzt bin ich dran«, sagte Fünffünf, und jemand rief: »Sie sollen platzen vor Lachen, Weißclown!«, als er radschlagend in die Manege wirbelte, um sein komisches Entree mit Florian zu absolvieren, und mit donnerndem Beifall begrüßt wurde. »Ich glaube«, sagte Emeraldina vorsichtig, »wir schlagen ein!« »Un’ ob, Ma’amk sagte Abdullah, das Gesicht zu einem Grinsen verzogen, das nichts war als Ebenholz und Elfenbein. »Horcht nur! Der Clown hat die Gaffer soweit, daß sie sich’n Bauch vor Lach’n halt’n. Diese Vorstellung kriegt Überlänge, -1490-
soviel is’ mal sicher!« Als Terry, Terrier und Terriest nach ihrer Nummer zur Gardine hinausgehopst kamen, ließen Gavrila und Sava sie nur einmal im Kreis herumspringen, dann mußten sie kehrt machen und wie Bälle federnd ihre Nummer noch einmal wiederholen. Daran schloß sich die kombinierte Kraftmensch-undKlischnigg-Nummer an, und nach der Reaktion zu urteilen, hätte sie noch endlos weitergehen können, doch pfiff der Sprechstallmeister sie aus Rücksicht auf Mademoiselles zarten Gliederbau schließlich ab. Dabei ließ sie nicht die mindeste Schwäche erkennen, als sie sich geschmeidig aus dem Chapiteau hinausdienerte. Ihr folgte der Kraftmensch mit dem Elefanten Brutus. Dem Herkules jedoch zitterten diesmal so sichtbarlich die Knie, daß jemand aus dem Publikum hinter dem Bebenmacher herrief: »Hallo, Monsieur Kniebeben!« »Du hast gut reden«, sagte er keuchend und nach Luft japsend. »Die öle Peg hier ... die hat schon ganz komisch geguckt ... die Gaffer haben sie soviele Male ... über mich hinwegmarschieren lassen ... Uff! Hör nur, Agnete ... wir sollen noch mal wieder raus!« »Ikke lunkent«, sagte Mademoiselle Anguille mit leuchtenden Augen, geröteten Wangen und fast so etwas wie Ehrfurcht in der Stimme. »Besser als jedes Publikum, das wir bisher hatten, diese Pariser. Unsere Vorstellung gefällt ihnen.« »Mais pourquois pas?« sagte Monsieur Roulette und gähnte übertrieben. Doch Sir John Fitzfarris jubelte ohne falsche Scham: »Himmelherrgott noch mal! Wir haben Erfolg – und das in Paris! Da soll noch mal jemand kommen und uns Schmiere oder kleine Klitsche nennen! Die Zeiten sind vorbei!« Während der Trapeznummer hörten die Kollegen im Sattelgang neben Applaus und Hochrufen auch so etwas wie wütendes Protestgeschrei, und sie fragten sich, ob etwas -1491-
schiefgelaufen wäre. Doch als Maurice LeVie und Mademoiselle Papillon endlich zur Gardine herausgetanzt kamen, lachte er und Sunday konnte sich vor Aufregung kaum fassen: »Das hättet ihr sehen müssen! Die Gaffer zwangen mich mit ihrem Beifall praktisch, so lange oben auf der Schaukel zu bleiben, daß Maurice schon Angst hatte, ich würde ohnmächtig werden. Deshalb kam er als Pete Jenkins rausgewatschelt, und sämtliche Zuschauer sprangen auf und beschimpften ihn wütend. Als Zachary und die Racklos so taten, als versuchten sie, ihn zu fangen, kamen ein paar wildentschlossene Männer aus dem Publikum, um ihnen zu helfen. Maurice blieb nichts anderes übrig, als die Longe hinaufzuklettern, sonst hätten sie ihn wirklich verprügelt und hinausgeworfen.« »Doch als ich meine Landstreicherlumpen auszog«, sagte LeVie, »mußte das Publikum so sehr über sich selber lachen, daß sie eine Wiederholung verlangt hätten ... falls man die Überraschung hätte wiederholen können.« »Das war bei mir nicht anders«, sagte die kleine Grillon regelrecht etwas wehmütig, nach ihrer Nummer im »Globe Enchante«. »Aber wenn ich die Kugel geöffnet habe, heraussteige und den Applaus entgegennehme, kann ich die Menge nicht ein zweitesmal bezaubern.« Inzwischen war es so weit, daß jede Nummer, die verlängert oder wiederholt werden konnte, von den Zuschauern solange beklatscht wurde, bis man ihnen den Gefallen tat, wie »Abdullah le Hindou« bestätigte, als er schweißtriefend aus der Manege kam. »Die ha’m mich fast alles in Reichweite jonglier’n lassen, was es gab – bis auf die beid’n Elefant’n. Un’ die ›JazzyBrothers‹, die sin’ gejumpt wie die Teufel, bis die Gäule japst’n. Diese Jazzies wer’n wirklich nie müde.« »Ich hatte schon Angst, daß die Pariser meine Nummer langweilig finden würden«, sagte Daphne, die diesmal unter -1492-
dem Namen »Madame Patineuse« aufgetreten war. »Schließlich sind Rollschuh und Hochrad hier nichts Neues. Aber vom Rollschuhtanz waren sie ganz hingerissen, besonders, als der Bär dazukam. Und mein Rumkarriolen mit dem Veloziped und Obie auf der Schulter. Ich glaube, wenn die Racklos die Flammen nicht schon gelöscht hätten – er hätte den Sprung in das brennende Faß wiederholen müssen.« Die zweite Programmhälfte wurde von »Le Demon Debonnaire« damit eröffnet, daß er Maximus, Radscha, Rani, Schiwa, Kewwydee, Kewwydah sowie Brutus und Caesar durch jeden Trick führte, den sie je gelernt hatten – und sie dann auf allgemeine Aufforderung hin das ganze noch einmal wiederholen mußten. Als er schließlich völlig ausgepumpt hinter ihnen durch die Gardine wankte und die Böhmen mit den angehalfterten oder in ihrem Käfig hockenden Tieren ihm folgten, wandte er sich an die im Sattelgang wartenden Kollegen und sagte: »Tiens, sogar den Reifen für die Raubkatzen mußte ich zweimal anstecken. Und jetzt, par Dieu, sind wir alle – die Tiere genauso wie ich – mehr debiffe als debonnaire.« Mademoiselle Cendrillon wurde durch den Beifall des Publikums gezwungen, so lange auf dem Hochseil zu bleiben, daß der kecke Schornsteinfeger sich genötigt sah, ein paar neue Sprünge, ulkige Possen und Stellungen gleichsam aus dem Ärmel zu schütteln. Als die Gaffer beim Spiegelentree am Schluß förmlich von den Sitzen fielen und sich bei den grotesken ruckhaften Bewegungen von Fünffünf und dem Kesperle vor Lachen kaum noch halten konnten, übertrafen die beiden Clowns sich selbst, und als sie zeitgleich und spiegelbildlich jeder den anderen nachmachten, gelangen ihnen Haltungen und Bewegungen, die alles übertrafen, was sie bisher geprobt oder überhaupt versucht hatten. Selbst der Sprechstallmeister, der ungläubig die Augen aufriß, kam zu dem Schluß, die beiden Clowns müßten Gedankenlesen können. Die Reaktion der Zuschauer auf jede einzelne Nummer im -1493-
Chapiteau, aber auch der Sideshow im Anbau hatte alle Beteiligten elektrisiert und zu Höchstleistungen angespornt, daß jeder einzelne sich vorkam wie der Star des Circus schlechthin. Doch der ganze Applaus wirkte wiederum halbherzig, verglichen mit den Beifallsstürmen und den Hochrufen, die Clover Lee mit ihrer Stehendreiterei erntete, die keineswegs einen besonders herausgehobenen Platz im Programm einnahm, sondern etwa in der Mitte der zweiten Programmhälfte an die Reihe kam. Als Florian durch sein Megaphon ansagte: »Et maintenant ... la Procession des Nations!« kam Clover Lee auf Bubbles hereingaloppiert, hatte diesmal ein rotweißblaues Kostüm an und trug die phrygische Mütze der Liberte auf dem Kopf: »La belle France!« Schon da setzte der Applaus mit großer Stärke ein und brandete dann bei jeder ihrer Verwandlungen – ›Liesse de l’Ecosse‹ und ›Luxe d’Espagne‹! – immer lauter auf, so daß Florians Megaphonkommentare fast nicht mehr zu hören waren. In Schottenschiffchen, Plaid über der Schulter und Schottenrock und danach im Stierkämpferkostüm eiferte Clover Lee den Spitzentänzen der Coppelia so gut nach, wie es ihr auf dem ständig sich bewegenden Rücken des galoppierenden Pferdes möglich war. Die Heiterkeit der Menge steigerte sich fast bis zum Massenparoxysmus, als sie – bei der Ankündigung: »l’Equestrienne americaine, Mademoiselle Clover Lee!« – ihre letzte Vermummung abwarf und in ihrem so ziemlich alles enthüllenden rosa Trikot und dem Tüllröckchen dastand. Doch war es nicht ihr nahezu nackter Zustand, der das Publikum erregte, denn sie gab den Leuten kaum eine Chance, genauer hinzusehen. Die Racklos standen schon mit Girlanden und Bandeaus bereit, und sie wurde zu einem verschwommenen rosa Wirbel, als sie sprang, drunterdurchtauchte und ihre Salti vorführte. Als sie die Nummer mit einem Rundritt abschloß, in der sie nur aufrecht dastand, während der ihr folgende -1494-
Taubenschwarm sie umflatterte, riß Clover Lee diesmal die Arme nicht in Siegerinnenpose hoch. Statt dessen ließ sie ein paar Tauben sich auf ihren Händen niederlassen und benutzte die zitternden Flügel, das zu bedecken, was sonst allzu auffällig und schamlos zu sehen gewesen wäre. Während der ganzen Vorstellung war dies das einzige Mal, daß die Zuschauer die Blumen herausholten, die sie dabeihatten – um diese Jahreszeit teure Treibhausblüten – und ließen sie in solcher Fülle auf die Reiterin herniedergehen, daß sie den Reitweg außen um die Piste herum wie mit einem Teppich bedeckten. Als Clover Lee immer weiter ihre Runden drehte und Tauben sich auf ihren Schultern und dem leuchtenden Haar niederließen und gleichsam ein Schleier aus Tauben hinter ihr herflatterte, zermalmten die Hufe ihres Pferdes die Blumen und zerrieben sie zu einer Duftessenz, die den allgemeinen Circusgeruch um eine neue, bisher unbekannte Note bereicherte. Clover Lee strahlte nunmehr übers ganze Gesicht wie zuvor Giuseppina, als sie immer wieder vor die Gardine gerufen worden war, und ließ jede Bemühung um so etwas wie Sittsamkeit endgültig fahren, als sie ihre wie erstarrt dasitzenden Tauben fahren ließ, um den Zuschauern mit beiden Händen Kußhände zuzuwerfen. »Verdammt, Governor«, sagte Fitzfarris und mußte das sehr laut sagen, um bei dem allgemeinen Tumult gehört zu werden, »ich hatte schon daran gedacht, ein paar von den CancanTänzerinnen zu engagieren, bei uns die Ouvertüre zu tanzen. Aber die würden sich neben Clover Lee wie Betschwestern ausnehmen.« Kopfschüttelnd schrie Florian zurück: »Ioan Petrescu hat mir versichert, Clover Lee hätte ihre Reize nicht mit Absicht enthüllt. Und man hat’s ja gesehen, sie hat alles getan, sie nicht auszunutzen. Nein, es ist keine Lüsternheit, die dies Publikum außer Rand und Band bringt. Es ist ganz einfach so, daß Clover Lee und ihre Nummer ihnen gefällt! Offenbar besser als alles -1495-
andere. Wie ich gesagt habe, bei diesen Franzosen weiß man nie genau, woran ihre Phantasie sich besonders entzündet.« Nach dem großen Finale drängten die meisten Männer im Publikum, aber auch eine ganze Reihe Frauen nochmals in Sir Johns Anbau; alle versuchten, unter den ersten zu sein, die Amazone Pucelle in den Fängen des Drachen Fafnir zu erleben. Die ersten paar Dutzend Gaffer, die sich im Zelt drängten, sorgten dafür, daß die Jungfrau und die Python die Schändung fast so lange in die Länge zogen wie eine Verführungsszene in einer Oper – bis die draußen Wartenden anfingen ungeduldig zu werden und laut murrten, woraufhin das Mädchen sich Fafnir mit ziemlich unmädchenhafter Abruptheit ergab. Im Chapiteau beeilten die Racklos sich, neue Kerzen anzubringen und sie mit der Zündschnur zu verbinden; das Entzünden der Kerzenketten sollte bei Beginn der Abendvorstellung noch einmal wiederholt werden. Draußen trafen auch schon die ersten Wagen und Kutschen von Besuchern mit Eintrittskarten für die Spätvorstellung ein. Einige der Neuangekommenen bewunderten gemeinsam mit etlichen Gaffern von der Nachmittagsvorstellung die Saratoga. Der Ballon war noch nicht zur Gänze gefüllt und sah eher karotten- als birnenförmig aus, aber immerhin stand er aufrecht da, wobei der scharlachrotweißgestreifte eigentliche Ballon mit der Gondel darunter neben dem weithingestreckten weißgrün gestreiften Chapiteau eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Ausrufungszeichen aufwies. Florian ging mit der Flüstertüte über den Festplatz und verkündete, Monsieur Roulettes Ballonaufstieg werde in Kürze stattfinden; allen Besuchern, welche die Nachmittagsvorstellung gesehen hätten, stehe es frei zu bleiben und sich auch dieses Spektakel anzusehen. »Ich jedenfalls werde mir das bestimmt nicht entgehen lassen«, sagte Nadar, der plötzlich aus der Menge auftauchte und Florian beim Arm nahm. »Jules hat doch hoffentlich nicht vergessen, daß er mich zum Aufstieg eingeladen hat?« -1496-
»Das hat er bestimmt nicht, Monsieur. Sein Aufstieg gewinnt doch enorm an Prestige, wenn Sie mir gestatten bekanntzugeben, daß auch Paris’ eigener weltberühmter Ballonfahrer mit an Bord sein wird.« »Nur zu! Und solange wir darauf warten, Monsieur Florian, würden Sie so gut sein, Ihre Abteilungsleiter und die wichtigsten Artisten zusammenzurufen. Einige meiner Freunde haben sich die Premiere zusammen mit mir angesehen und möchten Sie alle jetzt gern kennenlernen.« Florian holte Edge, Beck und Fitzfarris. Monsieur Nadar sagte er, die Artisten würden sich ihnen anschließen, sobald sie ihre Kostüme ausgezogen und sich in Zivil geworfen hätten. »Mais non, monsieur!« rief ein kleiner alter Mann, der jetzt neben Nadar stand. »Die anderen, nun gut, aber nicht l’aphrodisiaque Mademoiselle Clover Lee! Die dürfte ohnehin nie etwas anderes tragen als ihr Trikot. Und immer in Rosa und so durchsichtig wie heute!« Nadar lachte und sagte: »Maitre Auber hat immer noch ein Auge für die Schönheit und versteht zu würdigen, was aphr...« Taktlos entfuhr es Carl Beck: »Auber? Mein Gott! Sie sollten längst tot sein.« »Ich bedaure, Sie in der Hinsicht enttäuschen zu müssen, Monsieur.« »Das ist ... ich meine ...«, sagte Beck in dem Bemühen, seinen Fauxpas wieder gutzumachen. »Natürlich hätten wir nicht Ihre Musik gespielt, ohne Sie vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Wenn Sie noch am Leben wären.« »Wenn wir so alt sind wie er, sollten wir alle noch leben«, sagte Nadar. »Wissen Sie, Messieurs, vor kurzem war ich im Musikzimmer des Maitre anwesend, als er mit dem bildschönen Sopran Bernardine Hamaker Arien aus seiner Oper Le Philtre probte. ›Didine‹, sagte er, ›halte du die Melodie, während ich nur den Teil der linken Hand spiele.‹ Und sie stand da und sang, -1497-
während le vieux ihr die Rechte unter den Rock schob. Und sie da und dort zum Höhepunkt brachte.« »Erstaunliche Konzentration, die diese Frau hat«, sagte der alte Mann. »Hat die ganze Zeit über nicht einen einzigen Ton ausgelassen.« »Sie aber auch nicht«, sagte Nadar. »Ich frage Sie, Messieurs, wie finden Sie diesen Mann? Mit achtundachtzig immer noch lubrique!« »Ich bin keine achtundachtzig«, sagte Auber fest. »Ich bin viermal zweiundzwanzig.« »Aber ... die Musik?« Beck hakte nach. »Sie haben nichts dagegen, daß wir sie spielen, Herr Kompositeur?« »Nicht das mindeste. Ich fand Ihre Art der Darbietung sehr ... angeregt. Was die Kinder meines Geistes betrifft, kenne ich keine Eifersucht. Manche Komponisten sind das, natürlich. Hier haben wir einen von denen. Gut, daß Sie seine Melodien nicht gespielt haben. Darf ich vorstellen? Mein confrere, le Maitre Jacques Offenbach.« Der Komponist sah nicht im mindesten so fröhlich aus wie seine Musik; er machte vielmehr ein hölzernes Gesicht. Als die Artisten ihm namentlich vorgestellt wurden, war sein Nicken kaum mehr als eine Andeutung, so als gälte es, das Pincenez nicht verrutschen zu lassen. Nachdem alle bekundet hatten, wie erfreut sie seien, seine Bekanntschaft zu machen, erwiderte er nicht besonders freundlich: »Ich muß Ihnen freimütig sagen, Messieurs, daß ich nur hier bin, weil Felix mich dazu gedrängt hat. Wirklich ... ein amerikanischer Circus ...« Ihm fehlten die Worte, und er machte nur eine Geste des Überdrusses und des Abscheus. Edge fragte: »Was genau mißfällt Ihnen, Monsieur Offenbach? Amerikaner oder Circusse?« »Beide. Da Sie danach fragen, Colonel Edge, will ich es Ihnen sagen. Und ehe Sie fragen, warum, werde ich Ihnen auch das -1498-
sagen. Zwei Amerikaner haben mir ein Stück gestohlen, der Melodie einen abscheulichen englischen Text unterlegt und einen vulgären Circussong daraus gemacht. Dabei handelte es sich um das chef-motif meines Papillon. Jetzt ist ›The Daring Young Man on the Flying Trapeze‹ daraus geworden. Ich hoffe aufrichtig, daß ich – und meine Anwälte – nicht hören, daß Sie das verdammte Stück spielen.« »Da können Sie ganz beruhigt sein, Monsieur«, versicherte Edge ihm zuckersüß – um dann mit dem Dolch hinterherzustoßen. »Seine Majestät hat uns wissen lassen, am liebsten wäre es Ihr, wir würden überhaupt nichts von Ihnen spielen.« Offenbach fiel das Pincenez von der Nase. »Ah, Maitre Auber!« rief ein anderer Mann und trat auf sie zu, ein sehr soigniert aussehender Herr mit einer diamantenen Krawattennadel und Platingriff an seinem Stock. »Als ich vorige Woche hörte, Sie seien unpäßlich, habe ich mir erlaubt, Ihnen ein paar von meinen Treibhaustrauben zu schicken. Ich dachte, Weintrauben müßten leicht zu essen sein für einen zahnlosen alten Gourmand. Allerdings habe ich nie ein Dankeschön von Ihnen gehört. Haben sie Ihnen nicht geschmeckt?« »Nein, das haben sie nicht, James«, sagte Auber mürrisch. »Ich mag meinen Wein nicht in Pillenform.« »Undankbarer!« sagte der Neuhinzugetretene liebevoll. »Nun, dann werde ich Ihnen eine Kiste von meinem besten schicken – auf Flaschen aufgezogen.« Der Mann wandte sich Florian zu und sagte: »Mir haben die exercises du cirque viel Spaß gemacht, Monsieur le Proprietaire vielleicht würde auch Ihnen das flüssige Produkt meiner Weinberge Freude machen.« »Selbstverständlich, Monsieur«, sagte Florian. »Es ist mir immer ein Vergnügen, die Bekanntschaft eines guten Tropfens zu machen.« »Nur guter Tropfen, wie? Nun, man ist allgemein der -1499-
Meinung, daß mein Cháteau Lafite keinen schlechten Medoc produziert.« »Grundgütiger Himmel!« sagte Florian. »Gestatten Sie, daß ich vorstelle«, sagte Nadar. »Das hier ist Baron James Rothschild.« »Es ist mir eine Ehre«, sagte Florian. »Uns allen ist es das. Wenn Sie Ihren Lafite-Rothschild keinen schlechten Medoc nennen, so ist das, als ob man den Are de Triomphe kein schlechtes Verkehrshindernis nennte.« Die anderen Circusangehörigen trafen einzeln oder zu zweit und zu Ehren der Besucher in ihren besten Ausgehanzügen ein; dabei konnten sie nur kurz bleiben und mußten sich gleich hinterher wieder für die Manege umkleiden. Alle waren sie nach dem grandiosen Erfolg der ersten Vorstellung bester Stimmung, daß selbst der hölzerne Offenbach ein wenig lockerer wurde. Auber krallte sich sofort Clover Lee, nahm sie beiseite und sprach auf das angeregteste und mit großen Gesten auf sie ein – wahrscheinlich ging es um ihr Kostüm. Auch noch andere aus Nadars Bekanntenkreis trafen ein, darunter ein noch ziemlich junger Mann, der eine Skizze dabei hatte, die er während der Vorstellung gemacht hatte. Es handelte sich um eine Kohlezeichnung der »Mademoiselle Cendrillon« auf dem Seil, und jetzt blickte der junge Künstler unsicher von Sunday zu Monday Simms, die nebeneinander standen. Schließlich zuckte er mit den Achseln, lachte und drehte das Bild so hin, daß sie es sehen konnten. »Das bin ja ich!« kreischte Monday. Und ihre Schwester zischte ihr ins Ohr: »C’est moi.« »Dann sei es das Ihre, Mademoiselle – mit den tief empfundensten Empfehlungen«, sagte der Künstler und überreichte es Monday mit einer tiefen Verbeugung. »Meine Herren!« wisperte diese überwältigt. »Hab’ noch nie’n Bild von mir gehabt.« Sie faßte die Signatur ins Auge. -1500-
»Ha’m Sie viel’n Dank, M’sieu Door.« »Dore. Allerdings müssen Sie aufpassen, Mademoiselle, denn die Holzkohle schmiert genauso leicht wie Ihr Ruß-Makeup. Sollten Sie die Zeit finden, mich in meinem Atelier zu besuchen« – er überreichte ihr seine Visitenkarte –, »es wird mir ein Vergnügen sein, etwas Fixativ darüber zu blasen, damit es erhalten bleibt.« Nadar beglückte die Gruppe trotz der Tatsache, daß sie jetzt aus so unterschiedlichen Elementen bestand, mit weiteren Kostproben seines Eingeweihtenklatsches und nahm dabei kein Blatt vor den Mund: »Haben Sie die Comtesse Walewska im Publikum gesehen? Möchte mal wissen, ob sie irgendwas gesehen hat. Von der Vorstellung mitbekommen, meine ich. Wenn sie diesen glasigen Blick bekommt und kerzengerade dasitzt und die eine Hand unter ihrem Mantel oder ihrem Muff verborgen hält, weiß man, daß sie sich die Spritze in den Hintern jagt. Angefangen hat es bei der guten Dame, daß sie Opiumtinktur trank, ihr Frauenleiden zu lindern. Später brauchte sie dann stärkere Opiumpräparate, bis sie schließlich zu reinem Opium und zu Gott weiß was sonst noch griff. Dabei legt sie größten Wert darauf, daß die Einstiche ihr nicht die Arme verunstalten; deshalb schießt sie sich ihre Dosis in den After, und ich für mein Teil finde, sie macht das in der Öffentlichkeit wirklich sehr diskret.« Fitzfarris war in einer Unterhaltung mit einem jungen Mann begriffen, den Nadar ziemlich durchtrieben als »Monsieur Renoir« vorgestellt hatte, »der früher Fächer und Jalousien bemalt hat und heute nackte Frauen pinselt.« Offensichtlich war Fitz zu dem Schluß gekommen, ihn fragen zu können, wo man ein paar Cancan-Tänzerinnen für den Circus engagieren könne – und zwar solche, die vielleicht nicht ganz so prüde wären wie die, die er bisher gesehen hatte. »Versuchen Sie’s in den Folies Bergere, Monsieur«, sagte Renoir. »Das ist ein neues Cafe-Revue und daher besonders -1501-
bemüht, Gäste anzulocken und in den Ruf der Verruchtheit zu gelangen. Deshalb suchen sie Soubretten, die – nun ja – ein bißchen mehr von sich zeigen, als man woanders zu sehen kriegt. Es versteht sich von selbst, daß die Mädchen, die in den Folies eingestellt werden, keine – wie soll ich’s sagen? – nun ja, keinerlei Vorurteile haben dürfen. Außerdem werden sie so jämmerlich schlecht bezahlt, daß Sie sie zweifellos von dort wegengagieren können, ohne daß Sie das allzuviel kostet.« »Aufgepaßt«, sagte jemand in der Gruppe in warnendem Tonfall. »Da kommt Verlaine.« »Ah, le poete maudit«, sagte Nadar. »Großer Gott!« murmelte Rothschild. »Betrunken und verlottert wie gewöhnlich. Gestatten Sie, daß ich mich verabschiede, Mesdames et Messieurs. Paul will sich bestimmt Geld leihen und hängt nun mal dieser chinesischen Überzeugung an, daß jeder, der einem anderen das Leben rettet, hinterher verpflichtet ist, bis an sein selig Ende für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. Hier, Felix« – der Baron steckte Nadar eine Rolle Scheine zu – »retten Sie ihn diesmal.« Mit diesen Worten verdrückte er sich. Als der sehr junge Mann auf die Gruppe zuwankte, war er in der Tat angetrunken; und außerdem die schlampigst angezogene Person, die sich heute nachmittag überhaupt auf dem Festplatz hatte blicken lassen. Fast konnte man von verwahrlost reden. Nadar stellte ihn einfach damit vor, daß er nochmals laut seinen Namen wiederholte und dann eine gedrängte Beschreibung seiner Person gab: »Das Werk dieses Dichters kann man in keinem zivilisierten Land veröffentlichen ...« »Ne faites pas attention«, sagte Verlaine nuschelnd und an niemand im besonderen gerichtet. »Mein Verlag sitzt in Belgien.« »Genau, wie ich gesagt habe. Aus diesem Grunde übt der -1502-
junge Paul noch einen zweiten Beruf aus. Er genießt einen so schlechten Ruf, daß er nicht weiter besudelt werden kann und man auch das allerschlimmste von ihm glaubt. Droht jemand ein Skandal und steht der gute Name irgendeines Herrn auf dem Spiel, braucht er Paul nur eine Kleinigkeit zu bezahlen, und er nimmt Schimpf und Schande für ihn auf sich.« »Ich habe ein neues Gedicht geschrieben«, sagte Verlaine und hatte einen Schluckauf. »Jeder großzügige Herr hier in der Runde, der einen kleinen Obolus zu entrichten bereit ist, wird darin riichf namentlich erwähnt werden.« Er stellte sich in Positur und rezitierte mit gleichbleibender Stimme: Jesuisfoutu.Tum’asvaincu.Je n ’aime plu que ton gros cu Tant baise, leche ... »Jesus«, sagte Nadar. »Hier, nimm!« Damit steckte er Verlaine Rothschilds Geld zu. »Nenn keinen einzigen namentlich.« »Ahh ...«, machte der Dichter hingerissen, schnalzte mit der Zunge und begann die Scheine zu zählen. Plötzlich stand Rouleau in seinem gelbgrünen Akrobatentrikot in ihrer Mitte und verkündete fröhlich: »Die Saratoga ist aufstiegsbereit. Sie auch, Monsieur Nadar?« »Und ob ich das bin! Bringen Sie mich fort aus dieser scheußlichen Umgebung!« Lachend begaben sie sich alle zum Startplatz, und die Menge auf dem Festplatz drängte sich so nahe, wie die Vorsicht es zuließ. Florian hielt eine blumige Rede mit vielen Anspielungen auf die großen Söhne Frankreichs, die Gebrüder Montgolfier, die Erfinder des Heißluftballons. Hinzu kamen viele Komplimente an die wagemutigen Nachfolger der Montgolfiers, les messieurs Roulette et Nadar. Die beiden Herren verneigten sich und wurden mit Hurrarufen begrüßt; dann kletterten sie in die Gondel. Für diesen Aufstieg hatte Bumbum einmal nicht seine Kapelle um sich versammelt, sondern selbst den Platz des -1503-
›Professors‹ an der Dampforgel eingenommen. Er begann den Einstieg in Le Phenix so unvermittelt, schmissig und laut, daß alle zusammenzuckten und auch die Saratoga einen Satz machte, als die Racklos die Ankertaue losließen. Die Saratoga jedoch stieg und stieg. Da sie sich von dem im spätnachmittäglichen Schatten daliegenden Bois de Boulogne emporhob und in die letzten Strahlen der untergehenden Sonne geriet, schien das Scharlachrot noch glutvoller zu leuchten als sonst und das Weiß sich vor dem sich verfärbenden Himmel leuchtend abzuheben. Wieder löste sich ein lautes Hurra aus den Kehlen der Zuschauer. »Ein glatter Aufstieg, Governor«, sagte Goesle. »Heute, mein lieber Stitches, war das ein glatter Aufstieg für uns alle«, sagte Florian beglückt.
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5 Bei der Abendvorstellung brachte Clover Lee die Menschen mit ihrer Nummer vor Begeisterung wieder zur Raserei. Es konnten unmöglich so viele Zuschauer sein, die die Vorstellung ein zweites Mal sahen, als daß sie ihre Begeisterung für die Kunstreiterin den anderen hätten vermitteln können. Trotzdem erntete sie abermals den meisten Beifall, mußte wiederholen und war die einzige, die in einem Blütenmeer versank. Clover Lee war sich nicht sicher gewesen, ob es ihr skandalöses Kostüm war, das sie am Nachmittag so beliebt gemacht hatte, doch gab es eine Circus-Maxime, die da besagte: Nie etwas verändern, das einem Glück gebracht hat. Infolgedessen hatte sie sich beeilt, das rosa Trikot und das Tüllröckchen auszuspülen und es zur Abendvorstellung wieder anzuziehen. Auch diesmal tat sie alles, um die Wirkung ihres unbeabsichtigt frivolen Auftretens so gering wie möglich zu halten, ständig in Bewegung zu bleiben und ihre Scham hinter den flatternden Tauben zu verstecken. Doch tat das auch diesmal den Beifallsstürmen keinen Abbruch. »Es ist schon so, wie ich gesagt habe«, meinte Florian an sie gerichtet, als sie an diesem Abend endlich die Manege hatte verlassen dürfen. »Man weiß nie, woran die Phantasie und die Begeisterung der Franzosen sich entzündet. Sie finden dich einfach toll, Mädchen! Sie lieben dich! Ich würde vorschlagen, daß du dir sofort ein etwas weniger hautenges Trikot von Ioan machen läßt – aber sorge dafür, daß alles im gleichen rosa Ton gehalten ist.« Genau das tat Ioan. Clover Lee konnte Brusttuch und Cachesexe anlegen, die schamhaft alles verhüllten, was sie selbst ihre »Rundungen, Falten und das Knubbelchen« nannte. Gleichwohl – der Begeisterung der Zuschauer tat dies wiederum keinen Abbruch. Binnen weniger Tage machte Clover Lee die Entdeckung, daß sie nicht nur auf dem Festplatz und in der -1505-
Manege volkstümlich war. Wenn sie einen freien Nachmittag damit zubrachte, in den Pariser Läden und Passagen zu stöbern – und das anonym im Straßenkleid –, kam es immer wieder vor, daß sie die Leute von »l’etonnante Giuseppina« schwärmen hörte, doch bekam sie jetzt auch bewundernde Bemerkungen über »la fantastique Clover Lee« zu hören. Das war für sie Berühmtheit genug, um sie insgeheim glücklich zu machen, doch eines Vormittags – etwa eine Woche später –, als sie in den Gängen der Magasins du Printemps umherschlenderte, entdeckte sie, daß ihr so etwas wie eine Huldigung zuteil geworden war. Sie lief stehenden Fußes zurück ins Grand Hotel, wo Florian und Rouleau in der Halle saßen, rauchten und sich unterhielten. »Offenbach möchte also wieder freundschaftliche Beziehungen zu uns aufnehmen?« »Ja. Er kam, um uns zu sagen, wir könnten seine Musik spielen; und ehe er wieder ging, hat er praktisch darum gebettelt, daß wir es tun. Alles mit Ausnahme der ›Daring Young Man‹ Parodie von ...« »Florian! ... Jules!« Clover Lee war ganz außer Atem. »Ratet mal, was passiert ist! Im Printemps .. in einem Schaukasten ... haben sie ein herrliches Abendkleid ausgestellt ... in meiner rosa Farbe ...« »Nun, nun«, meinte Florian nachsichtig. »Wenn du es unbedingt möchtest, meine Liebe ... du kannst es dir ja doch wohl leisten und brauchst dazu nicht meine Erlaubnis ...« »Nein, nein, nein!« Sie rang nach Atem und lachte zugleich. »Weißt du noch, Jules? Vor langer Zeit ... noch zu Haus’ in Virginia ... weißt du noch, daß du mir da mal von dem großen Trapezkünstler Leotard erzählt hast ... und daß so viele Dinge nach ihm benannt wurden ...?« »Richtig«, sagte Rouleau. »Grade neulich habe ich auf der Speisekarte eines Restaurants eine Pate Leotard gesehen.« -1506-
»Und daß ich sagte ... wenn ich in Frankreich mal berühmt würde ... daß sie dann was nach mir benennen würden? Erinnerst du dich?« Fragend sahen Florian und Rouleau sie an. Clover Lee löste die Spannung nicht sofort, sondern rang immer noch nach Atem. Dann erst konnte sie in angemessen würdiger und eindrucksvoller Weise berichten: »Das Abendkleid in dem Schaukasten im Printemps – unten hat man ein kleines Plakat hingestellt, auf dem steht: robe de soir, brocart de couleur á la mode ›Clover Pink‹« »Nein!« sagten beide wie aus einem Mund. »Einfach so. Auf englisch. Clover Pink. Und darunter in kleinerer Schrift, vermutlich für alle, die nicht wissen, was es bedeutet: couleur de rose de trefle – ›Kleeblütenrosa‹.« »Grundgütiger Himmel!« sagte Florian. »Ja, wenn das stimmt, Mädchen, hast du uns eine Anerkennung verschafft, die weit über eine Galavorstellung vor gekrönten Häuptern hinausgeht.« Sie lachte freudig und lief leichtfüßig hinüber zum Aufzug, um die Neuigkeit oben zu verbreiten. Florian sagte zu Rouleau: »Hoffentlich bildet das gute Kind sich da nichts ein und handelt es sich nicht um einen Zufall. Schließlich sind Kleeblüten nun mal rosa.« Doch stellte sich heraus, daß es sich nicht um eine Selbsttäuschung handelte. Das Printemps spielte gleich nach den vornehmen Couturiers die Rolle eines Vorreiters, Verbreiters und häufig auch Anregers beliebter Moden. Es dauerte keine Woche, und Boutiquen in allen besseren Vierteln von Paris stellten Kleider, Peignoirs, Schals oder Handschuhe in eben dieser Pastellfarbe aus, die allgemein als Clover Pink oder sogar als Clover Lee Pink bezeichnet wurde; da der Begriff bald Allgemeingut geworden war, erübrigte sich eine Übersetzung ins Französische schon nach kurzer Zeit. In den kommenden Wochen sprang die Farbe auch auf andere Dinge außer -1507-
Kleidungsstücken über. Das eleganteste Lederwarengeschäft der Stadt, die Sattlerei Hermes et Fils, hatte eine Satteltasche im Schaufenster stehen, die per Hand in einem Leder von der typischen Hermes-Farbe caramel gearbeitet war – dekoriert jedoch war die Tasche auf einer Satteldecke in Clover Pink. Die Kunstgalerie Busse stellte in ihren Fenstern eine Reihe von Aquarellen von Constantine Guys aus: lauter Circusmotive. Den Hintergrund der üppigen Rahmen bildeten Satinbahnen in der Farbe Clover Pink. Der Perückenmacher Raymond Pontet stellte im Schaufenster eine ausgefallene Kostümball-Perücke in der Farbe Clover Pink aus, und die Epicerie Fauchon – gleichsam das Printemps der Lebensmittelgeschäfte – bot neben Ortolanen aus Italien, Trüffeln aus dem Perigord, Pate de fois gras aus Straßburg und ähnlichen Delikatessen – nicht nur cloverpinkfarbenen Räucherlachs an, sondern sogar cloverpinkfarbene Bonbons und Petits fours. Im Speisesaal des Hotel Grand wurde jedem vom FLORILEGIUM eines Abends ein neues Dessert gereicht, eine Kreation des Chef de sucrerie: ein cloverpinkfarbenes Erdbeer-Mousse. Die Zuschauer auf dem Gradin boten nunmehr mit ihren Hüten, Mänteln, Blusen und Schals bei jeder Vorstellung ein cloverpinkgesprenkeltes Bild, und auf den Straßen von Paris war Clover Lee eine der wenigen, die nicht zumindest irgend etwas in Pink trug. Sie weigerte sich entschieden, die Farbe, die zu ihrem Wahrzeichen geworden war, irgendwo anders als in der Manege zu tragen. Von der ersten Vorstellung in Paris an hatte Clover Lee kleine Angebinde und Einladungen von einigen Herren unter den Zuschauern erhalten, doch das war auch woanders schon so gewesen. Nach jeder Vorstellung brachte Banat oder einer seiner Böhmen ihr Blumen oder Pralinenschachteln mit beiliegenden kurzen Botschaften in die Garderobe. Zwei oder drei der ersten Essens- oder Theatereinladungen nahm sie an, fand aber, daß die Herren eine Gegeneinladung nicht wert seien. Als jedoch ihr Clover Pink zur Modefarbe der Saison wurde, trafen auch -1508-
kostspieligere Geschenke ein – mal ein Schmuckstück, mal ein Flacon mit teurem Parfüm oder eine Kiste mit erlesenen Weinen; die Rückklappe der beigelegten Umschläge schmückten oft eingeprägte Kronen, Wappen oder andere Adelsattribute. Früher wäre Clover Lee auf Einladungen in solchen Umschlägen geflogen, jetzt jedoch lehnte sie nur dankend und in bedauerndem Ton ab und überlegte dabei, wie ihre schwindelerregende Beliebtheit am besten genutzt werden könne. Eines Morgens fuhr sie ins Hotel Crillon, in dem Giuseppina Bozzacchi wohnte. Die beiden jungen Frauen sprachen lange und ausgiebig miteinander, denn wie sich herausstellte, wurde auch Giuseppina mit Einladungen überschüttet, die von Namen mit Adelsprädikat unterzeichnet waren – und wußte gleichfalls nicht, welche sie – falls überhaupt – annehmen sollte und welche nicht. Danach trat Clover Lee an Monsieur Nadar heran, der dem Festplatz des FLORILEGIUM fast täglich einen Besuch abstattete, und bat ihn um Rat. Nadar sah sich den Stoß Billets durch, den sie bisher erhalten hatte, und gab zu jedem einen kleinen Kommentar ab, und sei es auch nur ein verächtliches Naserümpfen. Dann teilte er sie in zwei Haufen auf. »Ein ungezügelter Libertin, dieser Comte Zichy.« Ins Kröpfchen. »Der hier wird, wenn Sie so wollen, nur eine hübsche junge Frau als Tarnung haben wollen, um Jagd auf hübsche junge Männer zu machen.« Ins Kröpfchen. »Ein notorischer Wüstling, dieser Charillan.« Ins Kröpfchen. »Dieser Persigny ist bereits verheiratet – er war hinter ihrem Geld her, sie hinter seinem Titel. Sollte er also jemals den Wunsch verspüren, Ihnen seinen Titel anzutragen, Cherie, wären Sie beide arm wie eine Kirchenmaus.« Ins Kröpfchen. »Und bei dieser Person hier, die ihr Billet mit ›Marquis de Persan‹ unterschreibt, handelt es sich in Wirklichkeit um die Marquise de Persan. Sie gehört zu dem Circle, der sich petit Eldorado de Saint-Germain nennt – in mancher Beziehung ein sehr -1509-
erlauchter Kreis, denn ihm gehören unter anderen die Fürstin Troubetskoi und die Comtesse d’Adda an –, aber ich glaube nicht, daß Sie dazugehören möchten.« Ins Kröpfchen. Nachdem Nadar gegangen war, stand Clover Lee mit einem schmalen Stoß von Umschlägen da, die, wie sie jetzt immerhin wußte, von Männern stammten, die zumindest heterosexuell und unverheiratet waren, über einen guten Leumund sowie mindestens über ein gewisses unbelastetes Vermögen verfügten. Kam von einem dieser Herren ein zweites Geschenk oder eine weitere Einladung, lehnte Clover Lee diese nunmehr nicht unbedingt sofort ab. Sie blieb mit Giuseppina in Verbindung, und so liefen die Boten zwischen dem Bois und der Opera beziehungsweise zwischen den Hotels der beiden hin und her und überbrachten Botschaften wie etwa die folgende: ›Ich habe zwei Anwärter auf ein Mitternachtssouper, einen unbedeutenderen Fürsten und einen Grafen. Würde einer von beiden Dir gefallen?‹ Im allgemeinen richteten es die beiden jungen Frauen, wenn sie Einladungen selbst von nachweislich akzeptablen Junggesellen annahmen, gern so ein, daß man zu viert ausging. Und das nicht so sehr um der Sicherheit oder auch nur des Anstands willen; Clover Lee wie Giuseppina waren vielmehr gemeinsam zu dem Schluß gekommen, daß ihr Ruf, unzugänglich und desinteressiert zu sein, dadurch nur gestärkt wurde und sie aus diesem Grunde bei den am meisten in Frage kommenden, reichen und titeltragenden Freiern um so gesuchter waren. In diesem Winter erhielten auch viele andere vom FLORILEGIUM Geschenke und Einladungen aus dem Publikum – und nicht nur die Frauen, sondern auch Männer, darunter einige, die solche Gunstbeweise sonst nicht kannten. So gewandte und fesche Artisten wie Jean-Francois Pemjean, Arpäd, Gustav und Zoltän Jäszi konnten fast nach jeder Vorstellung unter den unsterblich in sie verliebten Pariserinnen wählen. Aber selbst die älteren und weniger flotten Kollegen – -1510-
Jörg Pfeifer etwa, Carl Beck und Dai Goesle – hatten genügend Bewunderinnen, so daß ihre Freizeit voll ausgefüllt war. Der entschieden unschöne Gombocz Elemer war häufig auf den Boulevards zu sehen, wie er den eleganten Phaeton einer entschieden hübschen Matrone kutschierte, die liebevoll an ihn geschmiegt neben ihm saß. Der einfache böhmische Dampforgel-›Professor‹ wurde häufig von aufgeregten alten Jungfern zu irgendwelchen ›Musik-Soireen‹ eingeladen. Clover Lee jedoch war weiterhin diejenige, die die meisten bewundernden Blicke von Männern wie Frauen gleichermaßen auf sich zog. Und als das rauchgraue Bahrtuch des Winters sich von der Stadt hob, fiel es noch mehr auf, wie ungemein beliebt es war, Clover Pink zu tragen, denn diese Farbe paßte ausnehmend gut zum blaßrosa Morgendunst eines Pariser Frühlingsmorgens, zu den blaßblauen Nebeln, die über der Seine trieben, als das Wasser wieder wärmer wurde, und zu dem blaßgrünen Nebelgespinst, das ein feiner Abglanz von sprießendem Gras im Bois de Boulogne und den Blattknospen der Kastanienbäume an den Champs-Elysees war. Für Florian war ein Frühling in Paris nichts Neues, doch war seit seinem letzten, lange zurückliegenden Aprilbesuch etwas dazugekommen. Die Cafes, Kneipen und Restaurants machten nicht nur ihre Türen zur Straße hin weit auf, sondern ergossen sich gleichsam durch sie nach außen, indem sie so viele Tische und Stühle, wie sich an ihrer Vorderfront unterbringen ließen, auf den Bürgersteigen aufstellten, ohne den Fußgängerverkehr gänzlich zum Erliegen zu bringen. Florian bekundete Überraschung, und Nadar, der neben ihm ging, erklärte: »Angefangen hat das ganze mit der Großen Weltausstellung von siebenundsechzig, als so viele Ausländer und Leute aus der Provinz in die Stadt strömten. Sie kennen ja die Geldgier von Gastwirten. Die schafften einfach zusätzliche Tische und Stühle an und nahmen vom Bürgersteig vor ihrer Tür Besitz. Anfangs wurde viel darüber geflucht, von jeder armen Seele, die -1511-
gezwungen war, in die Pfützen des Rinnsteins auszuweichen, wo die Leute Gefahr liefen, daß ihnen ein Wagenrad oder ein Pferdehuf den Fuß zerquetschte. Inzwischen hat man sich längst damit abgefunden, und sie werden allgemein akzeptiert. Selbst ich muß zugeben, daß es sich bei mildem Wetter am Tisch eines Straßencafes bei Kaffee oder Liqueur höchst angenehm sitzt und man dort sehr schön eine Zigarre rauchen und seine Zeitung lesen, mit Freunden plaudern oder einfach die müßigen Künste des Flaneurs oder Observateurs kultivieren kann.« Gavrila Smodlaka und Katalin Szäbo hatten – aus unterschiedlichen Gründen – zuvor keinerlei Neigung verraten, neue Männer kennenzulernen, doch jetzt wagten sie sich – möglicherweise angeregt durch die genußsüchtige Fröhlichkeit ihrer Kollegen oder durch das frühlingshafte Paris selbst – aus ihrer selbstauferlegten Einsamkeit heraus. Jedenfalls nahm Gavrila, als sie von einem in mittleren Jahren stehenden Jugoslawen mit angenehmem Gesicht, der sie nicht nur auf serbokroatisch ansprach, sondern in ihrem kaj-Dialekt des Serbo-Kroatischen – »Mogu li da se predstavim, gospodja? Moje ime Jovan Maretic« – seine Einladung zum Abendessen an. Zwar hatte sie einige Bedenken, Sava unbeaufsichtigt allein zurückzulassen, doch das Mädchen sagte keß, sie sei mittlerweile zweifellos alt genug, allein gelassen zu werden und möglicherweise sogar selbst Bekanntschaften zu machen. So lag es nicht zuletzt vielleicht sogar an Savas Verhalten, daß Gavrila auch weiterhin ein- oder zweimal die Woche mit Gospodm Maretic ausging. Die kleine Katalin-Cricket-Grillon-Grille erhielt fast genausoviele Blumen, Pralinenschachteln und Billets wie der Star des FLORILEGIUM, Clover Lee. Katalin behielt sämtliche Geschenke und öffnete alle beigefügten Umschläge. Einige der darin enthaltenen Briefchen zerriß sie sofort; dabei sagte sie ihren neugierigen Kolleginnen nur, sie seien »ekelhaft«. Über andere lachte sie und zeigte sie herum; bei diesen handelte es -1512-
sich offensichtlich um die Krakel von halbwüchsigen Jungen, die glauben mochten, daß sie lediglich ein frühentwickeltes Mädchen ihres eigenen Alters wäre. Manche Billets hob Katalin zumindest kurzfristig auf, solange sie durch die Gardine des Chapiteau spähte und sich von dem Racklo, der das Angebinde gebracht hatte, den Absender zeigen ließ. Bei keinem handelte es sich um einen Liliputaner, wie sie selbst es war, doch den einen oder anderen dieser Männer fand sie offensichtlich ganz annehmbar; jedenfalls ließ Katalin sie von dem Böhmen auf den Platz hinter dem Zelt bringen. Dort, in gehöriger Entfernung von etwaigen Lauschern, pflegte sie dann kurz mit dem Betreffenden zu reden. Tat sie dies, malte sich bei einem Mann nach dem anderen Ungläubigkeit und Entsetzen auf dem Gesicht, und er eilte davon. Nur einer von ihnen floh schließlich nicht, und von ihm nahm sie eine Einladung zu einem Souper an. Danach folgte sie auch weiterhin seinen Einladungen: in die Opera, in Concert-Cafes und ins Theátre Lyrique. Florian, der genauso neugierig war wie alle anderen, fragte Katalin schließlich, warum von allen denen, mit denen sie gesprochen hatte, ausgerechnet dieser Herr Gnade vor ihren Augen finde. Die kleine Frau zögerte mit der Antwort, bis Florian schwor, es niemand sonst zu verraten. Dann sagte sie einfach: »Er ist impotent.« Selbst die rundliche und untersetzte, immer nur hinter den Kulissen tätige und nie in der Manege auftretende Ioan Petrescu hatte eine Romanze. Dai Goesle machte irgendwo die Bekanntschaft eines Spenglermeisters und brachte ihn mit auf den Festplatz; dieser Mann hatte einen Abtritt erfunden, der nicht allein auf einer in den Boden gegrabenen Grube beruhte, sondern auf einem Zinkbehälter, der irgendwelche Lösungsmittel enthielt. Ein solcher Donnerbalken, so erklärte Goesle Florian, brauche nicht so häufig versetzt zu werden; auch müsse die alte Grube nicht ständig zugeschüttet und eine neue gegraben werden; in dem Behälter mit den Chemikalien zersetze -1513-
sich ein Großteil des Kots und beraube ihn bis zu einem gewissen Grade auch des unangenehmen Gestanks. So kam es, daß Florian voller Begeisterung stolze sechs Stück von diesen Dingern bei Maitre Delattre in Auftrag gab – und zwar zum Gebrauch für Besucher wie Circusangehörige zugleich. Während der Spenglermeister den Bau der Behälter beaufsichtigte, lernte er Ioan kennen, und als die Donnerbalken endlich fertig waren, gingen die beiden trotz der beträchtlichen Sprachschwierigkeiten häufig miteinander aus. Fitzfarris hielt sich an den Rat des Malers Renoir, besuchte die Folies Bergere und nahm als Dolmetscher Maurice LeVie mit. Dadurch, daß sie in dem Cafe klug ein paar von den seit neuestem sehr gesuchten Circuskarten verteilten, gelang es ihnen, hinter die Bühne zu kommen, wo es keiner großen Überredungskünste und keines Winkes mit einer höheren Gage bedurfte, die hübschesten Mädchen der Folies-Truppe wegzuengagieren. Die drei versprachen außerdem, einige ihrer Freundinnen zusammenzutrommeln, die im Moment ohne Engagement wären oder woanders arbeiteten. (»Auf der Straße, zweifellos«, sagte LeVie auf englisch zu Fitzfarris, der erwiderte: »Zum Teufel, woher wir sie bekommen, ist mir schnuppe.«) Nach einer weiteren Auslese unter den zum Vorstellen gebetenen Mädchen präsentierte Fitz Florian eine Schar von zehn hübschen, gutgewachsenen und willigen Cancan-Tänzerinnen. Als Florian die Mädchen fragte, ob sie Konuitenbücher besäßen, stutzte er zunächst, als sie ihm statt dessen das in die Hand drückten, was sie ihre Bremes – oder ›Flundern‹ – nannten, die weißen Ausweise des Polizeipräsidiums, auf denen die Daten ihrer regelmäßigen medizinischen Untersuchungen vermerkt waren. »Nun«, sagte Florian, nachdem er die Mädchen zu Ioan geschickt hatte, damit diese sie mit Kostümen ausstattete, »sie mögen Huren sein, aber zumindest sind sie keine Poivrieres.« -1514-
»Wie bitte?« sagte Fitzfarris. »Sie sind Prostituierte, aber keine Pfefferstreuer. Sie werden keine ehern – peinlichen Infektionen unter unseren Leuten verstreuen.« »Und sehen dazu verdammt gut aus«, fügte Fitz hocherfreut hinzu. »Und was weit wichtiger ist, sie werden den Cancan bestimmt mit absolut nichts unterm Rock tanzen.« »Gemach, gemach, Sir John! Wenn du sie in deiner Sideshow auftreten lassen willst, können sie sich von mir aus anziehen oder ausziehen, was sie wollen. Doch sobald sie in der Manege tanzen, haben sie unten züchtig bedeckt zu sein. Ich werde unsere Garderobiere anweisen, dafür zu sorgen.« Ioan brauchte eine Woche, um die Kostüme der Tänzerinnen zu nähen. Im Stil waren sie sich alle gleich – eng anliegend und oben mutig tief ausgeschnitten, dazu knielange, wallende, volantbesetzte Röcke und viele Unterröcke –, doch bestand ein jedes aus zwei Farben, von denen sich unter den zehn Kostümen keine zwei glichen. Ließen die Mädchen also vor jeder Vorstellung die Röcke fliegen, ergab das ein berückendes Kaleidoskop von Farben. Ihr schwungvolles, von Rufen untermaltes und schmissiges Beinewerfen, ihre nach hinten durchgebogenen Leiber, ihr Einherstolzieren und die unvermuteten Spagats zu Maitre Offenbachs rüdem ›Cancan‹ aus Orpheus in der Unterwelt hätte erotisch auch nicht aufreizender wirken können, würden sie ihn splitternackt getanzt haben. Später, nach dem Ende einer jeden Nummer, begaben die Mädchen sich in Sir Johns Anbau zwecks einer Darbietung ›Nur für Männer(, die sich an das Lebende Bild von »Jungfrau in der Gewalt des Drachen Fafnir« anschloß. Zwischendurch bewiesen die Mädchen, daß Renoir recht hatte mit seiner Behauptung, sie hätten »keinerlei Vorurteile«, indem sie sich zu Kollegenrabatt – all jenen Männern der Truppe zur Verfügung stellten, die wie Hannibal, Banat und andere Böhmen keinerlei weiblichen Zuspruch vom Gradin erhalten hatten. Hinterher zogen sie ihre Zivilkleider an und verschwanden vom -1515-
Festplatz – entweder in ihre Wohnung irgendwo in der Stadt oder aber, um spätnachts noch auf den Strich zu gehen. Manche der flirtenden oder zudringlich werdenden Mannsbilder vom Gradin würden kaum Monsieur Nadars Billigung gefunden haben, hätten diejenigen Artistinnen, die ihren Schmeicheleien erlagen, vorher um seinen Rat nachgesucht. Eines Abends, als Jovan Maretic Gavrila nach einem Mitternachts-Souper bei Fouquet’s zurückbrachte ins Hotel, sagte sie ihm Gute Nacht und fuhr mit dem Aufzug nach oben – um umgehend wieder hinunterzufahren und noch rechtzeitig in die Halle zurückzukehren. Maretic war nämlich noch dabei, sich im Tabaklädchen eine Zigarre zu leisten. Sie lief auf ihn zu, packte ihn bei den Revers und sagte von Panik gepackt: »Sava! Mojj kci! Ona ne ovo u mojoj.« »Nicht auf ihrem Zimmer? Vielleicht ist sie nur irgendwo anders im Hotel.« »Ne, Jovan. Mantel und Muff fehlen auch.« »Vielleicht macht sie dann einen Spaziergang. Du mußt doch nicht gleich ...« »Es ist nach Mitternacht! Und sie ist erst elf!« »Trotzdem ... erst mal die Ruhe bewahren, Gavrila. Laß mich überlegen, was wir tun ...« Just in diesem Augenblick betrat Sava durch den Haupteingang von der Straße her die Halle. Zwar lächelte sie beseligt, doch galt dieses Lächeln niemand im besonderen. Sie war etwas unsicher auf den Beinen, und das Kleid wirkte, als wäre es hastig und mit fahrigen Bewegungen übergestreift worden. Gavrila und Jovan nahm sie erst wahr, als ihre Mutter ausrief: »Sava! Wo bist du gewesen?« »Ach, du, mati!« grüßte die Kleine sie mit der betonten -1516-
Herzlichkeit der Angesäuselten. Offensichtlich fiel es ihr schwer, ihre rosa Augen fest auf etwas zu richten. »Und Gospodin Maretic – hallo.« Mehr denn je war sie von wächserner Durchsichtigkeit, und ihr Atem roch nach Anis. »Ich war aus.« »Das sehen wir. Wo?« »Bei meinem Freund, Paul. Hab ich dir nie von Paul erzählt? Wir sind schon oft aus gewesen. Heute hat er mir ein feines Sirupgetränk spendiert. Drei oder vier Gläser voll.« »Ist Paul ein Junge?« »Wahrscheinlich nicht«, grunzte Maretic. »Sie riecht nach Absinth.« »Und heute hat er ein Gedicht auf mich geschrieben. Nur auf mich allein.« Sava kramte ein zerknittertes und mit Flecken übersätes Stück Papier hervor. »Willst du sehen, mati?« Erregt funkelte Gavrila den Zettel an. »Jovan, kannst du dies lesen?« Da viele Wörter durchgestrichen und andere dazwischengeschrieben waren, hatte er einige Mühe, das ohnehin trunkene Gekrakel zu entziffern. Dennoch las er laut ein paar Zeilen vor: »Mignons, páles, doux tetins d’enfant... d’elle pas encore en puberte«, doch dann schluckte er und las erst mal für sich weiter. »Und?« wollte Gavrila wissen. »Nun ja ...« Maretic hüstelte. »Wer immer es geschrieben hat, nun ja, er scheint, hm, das Kind genauestens zu kennen – den Körper des Kindes, meine ich.« »Sava!« stieß Gavrila heiser hervor. »Was ... was hast du mit diesem Mann getan?« »Bin in seine Wohnung mit ihm gegangen. Keine besonders schöne Wohnung. Haben süße Getränke getrunken.« Sie legte die Hand vor den Mund, um einen zarten Rülpser zu kaschieren, -1517-
brach dann in ein beseligtes Grinsen aus und flatterte mit ihren farblos weißen Wimpern, »Dann sind wir ins Bett gegangen und haben das gemacht, was du und Papa abends auch immer gemacht haben.« Gavrila bedachte Maretic mit einem gezwungenen Lächeln; dieser richtete den eigenen Blick auf eine ferne Ecke des Plafonds der Hotelhalle. Zage und doch voller Hoffnung sagte sie dann zu Sava: »Das kannst du nicht wirklich meinen. Ich bin eine erwachsene Frau, und dein Vater war ein erwachsener Mann.« »Paul ist auch ein erwachsener Mann. Aber erwachsene Frauen seien kurvenreich und behaart, sagte Paul. Und hat auch noch gesagt, erwachsener als jetzt wünschte er sich mich nicht. Und dann hat er noch gesagt, ich hätte alles gemacht, was eine erwachsene Frau nur machen kann.« Sava befleißigte sich eines Ausdrucks, der einer erwachsenen Frau angestanden hätte – nämlich dem durchtriebener und blasierter Selbstgerechtigkeit. »Und zwar gerade weil ich mich so sehr bemüht habe, genau das zu tun, was du mit Papa getan hast.« Diesmal sah Gavrila Maretic nicht verzeihungheischend an; sie ließ einfach die Schultern sacken und sah plötzlich alt aus. Verschwommen brummelte Sava weiter: »Paul sagt, er heißt genauso wie Papa. Das ist Französisch für Pavlo. Hast du das gewußt?« Unglücklich sagte ihre Mutter: »Das denkst du dir alles aus, Kind. Du bist doch nur ein Kind! Es ist unmöglich ... undenkbar ...« Wieder hüstelte Maretic und sagte: »Undenkbar, vielleicht, doch unmöglich nicht, wie ich zu meinem Bedauern sagen muß. Nach dem zu urteilen, was dieser Mann hier so in allen Einzelheiten ausmalt ...« Gavrila entriß ihm den Zettel, zog Sava beschützerisch an sich und fauchte förmlich: »Jovan, gehe jetzt, bitte! Ich werde diesen Zettel Gospodin Florian zeigen. Er wird wissen, was zu tun ist. -1518-
Aber gehe jetzt. Ich hatte gedacht, für immer mit den Männern fertig zu sein. Wäre ich das nur gewesen! Jetzt bin ich es wirklich. Zbogom, Jovan!« Verschlafen ahmte Sava ihre Mutter nach: »Zbo’m, Jovan.« »Gehen werde ich«, sagte Maretic und verneigte sich. »Aber nicht für immer. Ich sage dovidenja, nicht zbogom. Verzeih, daß ich es dir in einem so unpassenden Augenblick wie diesem sage, Gavrila, aber ich glaube, eure kleine Familie braucht einen Mann.« Am nächsten Morgen war wieder Monsieur Nadar auf dem Festplatz; Florian reichte ihm das zerknüllte Stück Papier, das Gavrila ihm zuvor gegeben hatte. Nadar klemmte sich das viereckige Monokel ins Auge, las das Gedicht und sagte: »Der Widerling Verlaine, kein Zweifel. Warum zeigen Sie es mir?« »Der Widerling Verlaine – wenn er es denn war, von dem dieses Gedicht stammt – hat gestern ein elfjähriges Kind vergewaltigt.« »Was Sie nicht sagen! Ein elfjähriges Kind? Junge oder Mädchen?« »Unser enfant des ombres. Das kleine Albinomädchen.« »Ein weibliches Wesen? Dann muß Paul sinnlos betrunken und verzweifelt gewesen sein. Möchten Sie, daß die Polizei unterrichtet wird? Ich kenne da einen hohen Beamten.« »Nein, nein. Ich wollte nur Klarheit über die Identität des Unholds haben. Und, bitte, Monsieur, bemühen Sie sich, über diesen unglücklichen Zwischenfall nicht zu reden. Sollte irgendeiner der anderen Männer unseres Unternehmens davon erfahren, würde Verlaine zur Strecke gebracht und abgeschlachtet werden. So, wie die Dinge stehen, würde ich ihn nur mit der Knute zerfetzen, wenn ich ihm das nächstemal begegne.« »Tarare, ami! Besudeln Sie Ihre gute Peitsche nicht und -1519-
riskieren Sie nicht, selbst einen Schlaganfall zu bekommen. Paul Verlaine schläft vielleicht mit allem, was warm ist und nicht weglaufen kann, aber des ephebes sind ihm da bei weitem am liebsten. Sie haben das Gedicht ja gelesen. Ganz offensichtlich hat er das Mädchen nur benutzt, weil ihr Körper so wenig Rundungen aufweist wie der eines Knaben. Aber jetzt, zut alors, hat er sie zur Frau gemacht. Von jetzt an hat sie etwas Abstoßendes für ihn und er wird ihr nicht mehr nahekommen. Das Kind braucht ihn nicht zu fürchten, und ihr anderen werdet ihn vermutlich nie wiedersehen.« Nadar sollte recht behalten. Verlaine wurde von keinem der Circusleute wieder gesehen, weder auf dem Festplatz noch sonstwo in Paris. Noch am selben Tag – Nadar hatte ihn kaum verlassen – kam Gavrila nochmals zu Florian, um ihm zu sagen: »Tut mir leid, Gospodin, daß ich heute morgen einen solchen Aufstand gemacht hab’. Das war, bevor Sava erwachte. Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen und mußte sich erbrechen – aber warum, daran erinnert sie sich nicht. Hat mich sogar gefragt, wieso sie wund war’ – da unten und etwas blute. Ich habe rasch geschwindelt. Hab’ ihr gesagt, sie hat gestern versucht Spagat zu machen wie Cancan-Tänzerin. Erstesmal im Leben, daß ich Sava angelogen habe.« »Jedoch durchaus zu recht, Gavrila. Das war schnell gedacht! Wie gut, daß das Kind keine Erinnerung an die jüngste Vergangenheit hat, was nichts Ungewöhnliches ist nach einem schweren Rausch. Bis zu welchem Augenblick gestern erinnert sie sich denn noch zurück?« »Sie betritt Wohnung von Mann namens Paul. Mehr nicht. Sie wacht in ihr’ eigenes Hotelzimmer auf.« »Dann sei froh, daß der Schuft sie erst betrunken gemacht hat, und enthalte dich jeder Anspielung auf das, was geschehen ist. Vielleicht vergißt sie mit der Zeit sogar den Mann und seinen Namen. Hoffentlich! Und bis dahin – laß sie erst mal im Bett -1520-
liegen, bis es ihr wieder besser geht; und du – geh jetzt zurück zu ihr und bleib bei ihr. Wir werden deine Hundedressur ausfallen lassen, bis wir ...« »Nein, Gospodin, ich arbeiten.« Gavrila errötete ein wenig. »Nicht alle Männer schlechte Menschen. Sehr guter Mann wacht im Moment über Sava. Besserer Vater als ihr eigener Vater je war.« Im Garderobenzelt, in dem die beiden Simms-Mädchen gerade ihre Kostüme für die Nachmittagsvorstellung des Tages zurechtlegten, fragte Sunday wie von ungefähr ihre Schwester: »Und wo hast du deine Freizeit in den letzten Tagen verbracht? Du gehst nicht mit den anderen Frauen in den Läden stöbern, und ich habe auch nicht gesehen, daß einer von den Gaffern mit dir angebändelt hätte.« Lachend sagte Monday: »Guck dir das mal an!« Sie griff nach ihrem Straßenmantel, entnahm ihm den wildledernen Michelebeutel, in dem es wohltönend klirrte, und entleerte ihn auf den Frisiertisch; ein Haufen Goldmünzen rollte heraus. »Außerhalb von’n Circus mach’ ich mehr Geld als drin.« »Himmel!« sagte Sunday und starrte sie an. »Wie denn?« »Weißtu noch, der Maler, der mein Bild gemal’n hat?« »Monsieur Dore, ja.« »Ich sag’ jetzt Gus zu ihm. Hab’ ihn in sein’ Wohnung aufgesucht, wie er mir gesagt hatt’, damit er was auf’as Bild streut un’ das nich’ mehr verschmiert. Seitdem hab’ ich ihn oft geseh’n, un’ viele von sein bildermalenden Kump’ls.« Sie kicherte. »Un’ sieh ha’m auch von mir viel gesehn.« »Monday!« »Gus malt Bilder für’n Buch; soll über’n Müßiggang von ’n König geh’n. Hab’ ich für all die fein’ Dam’n in’n Billern Modell gestand’n – mit toll’n Kostüm’n un’ so. Aber Gus seine Kump’ls – Edgar un’ Edward un’ August un’ Jean-Baptist – die -1521-
mal’n mich am liebst’n ohne was an – un’ besser bezahl’n tun die auch noch.« »Monday! Soll das heißen, du ziehst dich vor fremden Männern aus?« »Uh huh! Sie sag’n, sie sin’ ganz hin von mein’ Hautfarbe. Sie sag’n, es gibt nich’ viele Frau’n in Frankreich mit so’ner Haut.« »Woher willst du wissen, was sie sagen? Du kennst doch kaum mehr als ein halbes Dutzend französischer Wörter.« »Oui, oui«, machte Monday sarkastisch. »Ich brauch’ eig’lich auch nie mehr als das. Oui, oui. Aber die meisten von ihn’ könn’ bißchen Amerikanisch. Un’ soviel laß dir gesagt sein, Sis, die mach’n sich auch nich’ lustig über meins, wie du’s immer tust. Diese Herr’n find’, ‘n Südstaaten-Akzent is’ ladylike un’ süß.« »Dann müßte Hannibal Tyree Hahn im Korb bei ihnen sein. Aber lassen wir das. Ist denn nackt Modellstehen alles, was du getan hast? Alles, wofür sie dich bezahlt haben, meine ich?« »Hell, no!« schnaubte Monday. »Glaubstu ’n, die bezahlt’n mit Gold, bloß um mein’ braune Haut anzuseh’n? Die woll’n sie auch anfass’n.« »Und du läßt sie gewähren? Alle diese Männer, die du genannt hast?« »Naja, nich’ alle auf’n Mal. Manchmal sin’ da auch annere Frau’n, die dann mitmach’n.« Etwas vage setzte sie noch hinzu: »So oder so.« »Aber Monday, das ist ...« Hilflos wedelte Sunday mit den Händen. »Es wahl- und bedenkenlos, für Geld zu tun, aber das ist einfach ...« »Sei du nur ruhig! Glaub mir, ich hör’ auf, dich Sis zu nenn’ un’ fang’ aufer Stelle an, Auntie zu dir zu sag’n. Du hast kein’ Mann, der sonstwas tun würd’, bloß um dich auszuzieh’n, un’ deshalb willstu auch nich’, daß ich mich amüsier’.« -1522-
Aufseufzend sagte Sunday: »Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist das so.« »Bloß um dich rein un’ unschuldig zu halt’n für diesen Zachary Edge, der sowieso viel zu alt is’ für dich. Vielleicht isser für jede schon zu alt. Ich hab’ nie geseh’n, dasser sich irg’ndwelche Tussies vom Gradin geholt hat.« »Neulich abend ist er mit mir bei Vefour essen gegangen.« »Zusamm’ mit Mr. Florian un’ Daphne Wheeler. Na, wie romantisch find’ ich das denn!« Aus verengten Augen sah Monday ihre Schwester an. »Ich wer’ dir jetzt was zeig’n, was ich aufgehob’n hab’. Hab’s inner Maringotte. Bleib hier!« Schon nach wenigen Minuten war Monday wieder da. In der Hand hielt sie ein vergilbtes, zusammengefaltetes Stück Papier. »Weißtu noch, als Miss Auburn starb, da hat öle Zack ihr’n Kram verteilt, ja?« »Selbstverständlich weiß ich das. Ich habe ja noch die kleine Spieldose.« »Mir hater’n Bild gegeb’n, das sie hatte. Hat lange gedauert, bisich merkte, daß da was hintern Rahm’n gesteckt war. De öle Zack war damals wohl so durch’nander un’ hat ganz vergess’n, daß er’s dahingesteckt hatt’. Aber egal, ich denk’, Miss Auburn musses wohl geschrieb’n ha’m, als sie dachte, sie würd’ eines natürlichen Todes sterb’n – ich mein’, lange, bevor sie beschloß, sich umzubring’n.« Monday reichte Sunday das Blatt Papier, und diese sagte unsicher: »Wahrscheinlich war es doch wohl aber nur für Zacharys Augen bestimmt.« »Immerhin steht dein Nam’ drin. Wer also hätt’ mehr ’n Recht, es zu les’n als du?« Mit zitternden Händen faltete Sunday das Blatt Papier auseinander und las langsam laut einen Teil daraus vor: »... Zachary, ich hätte dir selbst von meinen Gefühlen schreiben -1523-
können, doch hat eine andere Frau es soviel besser getan als ich. ›Wenn ich gestorben bin, oh, Liebster, sing nie ein Klagelied um mich ...‹ « Sunday schniefte und las leise weiter, bis sie das Blatt bis zur Hälfte gelesen hatte. »›Natürlich ist es möglich, daß Du jemand außerhalb des Circus kennenlernst, vielleicht sogar eine vornehme große Dame ...‹« Ohne jedes Mitgefühl sagte Monday: »Wie die vornehme große Gräfin, von der er nich’ losgekomm’ is’.« Sunday blickte auf und sagte loyal: »Das lag nur daran, daß sie ihn so sehr an Autumn erinnerte.« Dann wandte sie sich wieder dem Brief zu: »Aber, Zachary, in unserer eigenen Truppe ...« – und verstummte und hielt die Luft an. »Habbich dir ja gesagt«, meinte Monday. »Diese Miss Auburn muß dich wirklich gern gehabt ha’m. Hab’ mein Lebtag nich’ erlebt, daß ’ne weiße Frau soviel Nettes über ’ne Farbige gesagt hätt’, un’ wenn sie noch so hellhäutig gews’n war’. Un’ sie dann ihr’m eig’nen weiß’n Mann angetrag’n.« Mit zitternder Stimme sagte Sunday: »Ich möchte mal wissen, ob Zachary dies jemals gelesen hat.« »Is’ ja doch wohl nich’ so, daß sie’s dahin gesteckt hat, wo ich’s gefund’n hab’. Sollas heiß’n, er hat nie was davon gesagt?« »Nein! Und tu du das bitte auch nicht, Monday. Bloß, gehören tut es wohl immer noch dir.« Sie hielt ihr den Brief hin. »Hell, was soll ich damit anfang’n? Ehrlich gesagt, hab’ ich ihn nur aus Trotz vor dir versteckt gehalt’n, weil noch nie jemand von mir gesagt hat, ich war’ brillant un’ hätt’n gutes Herz un’ all die annern Sach’n. Jetzt gehört es dir! Der Schrieb sollt’n ziemlich überzeug’ndes Argument sein, wenn du dir’n wirklich ang’ln wolltest – warum reißt du ihn kaputt?«
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6 »Na, endlich«, sagte Florian im Ton inniger Zufriedenheit, als er seinen Abteilungsleitern eine in erlesener Kalligraphie ausgefertigte Einladung zeigte, die ihm gerade von einem livrierten Boten überbracht worden war. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, Seine Majestät könnte uns vergessen haben. Aber wir sind alle eingeladen – mit Ausnahme der Racklos, versteht sich – und zwar mitsamt unseren Ehegesponsen oder anderen Gäste, die wir mitbringen möchten – zu einem Diner im Schloß von St.-Cloud. Am ersten Juni. Laut Oberkämmerer werden auch viele andere führende Persönlichkeiten der darstellenden Künste am Diner teilnehmen. Stellt doch bitte fest, wie viele genau mitwollen – Gäste von außerhalb eingeschlossen –, damit ich das dem Kämmerer mitteilen kann?« »Ich glaube«, sagte Willi, »jemand von uns sollte auch Monsieur Nadar einladen. Er wird uns nützlich sein, uns zu sagen, wer der eine oder andere von den übrigen Gästen ist.« »Womit du meinst, daß er uns den neusten und bösesten Klatsch über sie serviert«, sagte Florian lächelnd. »Ja, er muß unbedingt mitkommen. Also gut, geht hin und erklärt es den Kollegen. Bis zu dem großen Abend sind es zwar noch über drei Wochen hin, doch werden manche von den Damen mindestens soviel Zeit brauchen, um sich gebührend für das Ereignis auszustaffieren. Und du, Stitches – würdest du bitte Plakate in Auftrag geben, daß das FLORILEGIUM für diesen Tag geschlossen bleibt?« Als die anderen das Kontor verließen, verweilte Fitzfarris noch. »Ich hätte gern unter vier Augen mit dir gesprochen, Governor. Über die Cancan-Mädchen.« »Ach, du liebe Güte, ich fürchte, die wären bei einem GalaDiner genauso fehl am Platze wie die Böhmen.« -1525-
»Das versteht sich von selbst. Darum geht es nicht. Ich wollte dir nur sagen, daß die Mädchen geschlossen zu mir kamen, um eine höhere Gage zu verlangen.« »Was? Da zahlen wir ihnen um die Hälfte mehr als das, was sie in der schmuddeligen Revue verdient haben? Und durch ihre – naja – außerdienstlichen Aktivitäten, würde ich mal sagen, werden sie vermutlich noch mehr verdienen.« Fitzfarris sagte voller Unbehagen: »Stimmt schon, so war das eine Zeitlang, aber jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht recht, wie ich es dir beibringen soll, Governor, aber die Sprecherin der Mädchen sagte mir, sie wären ihrer zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten hier auf dem Festplatz verlustig gegangen. Sie behaupten nämlich, da wäre eine Amateur-Putain, die sich gratis jedem hingibt, der will.« »Himmel! Eine Amateurin schafft die Arbeit von zehn Professionellen? Aber ich habe auf dem Festplatz und hinterm Chapiteau keine gesehen, die auf den Strich geht.« Fitzfarris holte tief Atem und sagte: »Beschrieben wird die Konkurrenz als ›ce petit blanc ver‹. Und wenn ich das richtig verstehe ...« »›Die kleine weiße Made?‹ Grundgütiger Himmel, das könnte nur ...« »Ja. Für mich ist es ja auch unvorstellbar, aber die Mädchen behaupten steif und fest, daß es so ist. Bis jetzt habe ich weder Sava noch ihre Mutter zur Rede gestellt. Ich wüßte einfach nicht, wie ich das machen sollte. Und deshalb lade ich das ganze Problem bei dir ab. Tut mir leid.« »Das braucht dir nicht leid zu tun«, sagte Florian, machte aber gleichwohl ein unglückliches Gesicht. »Immerhin liegt die Rolle des Pater familias dieses Unternehmens nach wie vor bei mir. Aber hol mir mal rasch Gavrila.« Auch Edge wollte jemand unter vier Augen sprechen – und zwar Clover Lee, der er gerade die Neuigkeit mit dem -1526-
bevorstehenden Gala-Abend erzählt hatte. »Ich wußte bereits, daß so etwas geplant war«, sagte sie. »Ich habe ... nun ja, von einem Bekannten bei Hof davon gehört, der teilnehmen wird. Aber deshalb möchte ich dich jetzt um einen Gefallen bitten, Colonel Zack. Ich möchte gern, daß du ihn kennenlernst, und zwar außerhalb des Festplatzes – ehe ich ihn beim Diner Florian vorstelle. Ich habe gute Gründe, dich darum zu bitten.« »Schön. Wann und wo?« »Sunday hat mir erzählt, du hättest so ein Lieblings-Cafe, in dem du manchmal dein Mittagessen einnimmst.« »Stimmt, aber das ist kein Ort, um Gäste zu bewirten. Le Commerce, unten am Fischmarkt, bei les Halles. Wenn dein Freund so was wie ein Graf oder ein Herzog ist, wäre das kaum ...« »Das ist schon in Ordnung. Dort erkennt ihn bestimmt niemand. Morgen Punkt zwölf?« Kaum hatte Fitzfarris Gavrila gebeten, sich bei Florian zu melden – Gründe nannte er nicht –, da wurde er neuerlich mit einer Situation konfrontiert, die zumindest vorübergehend beunruhigend war. Denn als er Brunhilde und Kostchei von der kaiserlichen Einladung erzählte, baten beide, man möge sie entschuldigen – er mit der üblichen Begründung, er wolle nicht allen anderen den Appetit verderben, und sie, weil ihre Familie bei Hofe zu bekannt sei. Nicht die Absage war es, über die Fitz sich wunderte, sondern das, was hinterher kam, als die Riesin sagte: »Timofei und ich haben nichts dagegen, ab und zu allein zu bleiben; unsere eigene Gesellschaft genügt uns. Außerdem haben wir beschlossen, diesen Zustand des Beieinanderseins zu einem dauerhaften zu machen. Sir John, wir möchten heiraten.« Fitzfarris rechnete blitzschnell – fünfundzwanzig Prozent seiner Sideshow verloren. -1527-
»Nun«, sagte er unglücklich, »seit Sie bei uns sind, haben wir Sie Olga genannt. Aber selbstverständlch wissen wir, wer Sie in Wirklichkeit sind, Hoheit, und daß Sie eine reiche Frau sind. Nun, wir dürfen uns wohl nicht beklagen, daß Sie jetzt, wo Sie einen Gatten gefunden haben, ständig zusammen und allein sein wollen. Trotzdem, das FLORILEGIUM wird es bedauern, wenn Sie nicht mehr dazugehören.« »Okh, nyet, nyet!« rief Kostchei alarmiert. »Sie wollen uns doch nicht entlassen, bloß weil wir heiraten wollen?« »Nein, selbstverständlich nicht, wie käme ich dazu? Nur hatte ich gedacht, ihr beiden würdet jetzt hingehen, euch irgendwo ein Schloß kaufen. Und fürderhin glücklich und zufrieden und so weiter und so fort.« Brunhilde lachte erleichtert auf und sagte unbekümmert: »Herr und Frau Monstrum, die tief im Wald in einem düsteren Schloß hausen? Nein, das wäre uns denn doch ein bißchen zu einsam. Nyet, Sir John, wir haben Freunde gewonnen, die uns nicht als Ungeheuer betrachten. Und hier können wir andere Menschen sehen, ihnen Freude machen oder ihnen einen kleinen Kitzel bereiten, ohne uns mit ihnen gemein machen und so tun zu müssen, als wären wir wie sie. Genau dieses Leben möchten wir auch weiterhin führen, wenn Sie uns behalten.« »Und ob wir das wollen!« sagte Fitzfarris, nunmehr hocherfreut. »Was glaubt ihr, wie das groß in der Zeitung rauskommt und wir als FLORILEGIUM mit, wenn ihr beide heiratet. Ich bin überzeugt, Florian wird es sich nicht nehmen lassen, die tollste Hochzeit auszurichten, die man je ...« »Okh, bitte, nicht!« flehte die Riesin. »Damit würde das ganze ja zu einer Travestie. Außerdem würde meine Familie in Rußland sterben vor Verlegenheit, derartig in die Schlagzeilen zu geraten.« »Ach ja, da haben Sie wohl recht«, sagte Fitz, wenn auch etwas betreten. »Wie schade! Wir hätten die Hochzeit des -1528-
Kleinen Däumlings in den Schatten gestellt ...« »Wir wünschen keinerlei Festlichkeit, sondern eine ganz stille Hochzeit. Nur eine Trauung vorm Standesamt in irgendeinem Rathaus. Falls Sie das für uns einrichten könnten, Sir John, wir wären Ihnen sehr verbunden.« »Ja. Na gut. Ich werde mich umhören.« Gavrila kam in den Roten Wagen gewirbelt und sagte überschäumend: »John Fitz hat mir soeben die große Neuigkeit erzählt. Bitte, wird es gestattet sein, Gospodin Maretic dazu einzuladen?« »Aber natürlich. Übrigens wollte ich dich zum Teil wegen deines Freundes Maretic sprechen. Setz dich, meine Liebe.« Florian schob ein paar Sachen auf dem Schreibtisch vor ihm zurecht, dana begann er behutsam: »Die kleine Sava hat offenbar doch nicht alles vergessen, was in jener Nacht passierte, als sie, hm, entführt wurde. Ja, offenbar hat sie sogar Geschmack daran gefunden, ein paar von den Dingen, die sie gelernt hat, zu wiederholen.« Er zupfte an seinem schütteren Bart. »Aber eine Mutter erfährt so etwas wohl immer als letzte.« Zitternd riß Gavrila die Hand vor die zuckenden Lippen. Florian mußte fortfahren und ihr von dem erzählen, was die kleine Sava, wie man ihm hintertragen habe, treibe; immerhin unterließ er es, von ihrem offenbar grenzenlosen Appetit und der daraus resultierenden Auswirkung auf die Verdienstmöglichkeiten von sage und schreibe zehn Prostituierten zu sprechen. »Mit einem Böhmen, sagst du?« fragte Gavrila und hätte sich ums Haar übergeben. »Svetog Vlaha! Aber ... aber ... vielleicht, Gospodin ... vielleicht könntest du ihn rauswerfen? Einen solchen Mann ...?« Florian unterließ es klarzustellen, daß er dann die gesamten Racklos, die Musikkapelle und den Elefantenkutscher und wer weiß wen sonst noch würde hinauswerfen müssen. Statt dessen -1529-
sagte er: »Ich denke, diesmal ist es nicht die Schuld eines einzelnen Mannes. Diesmal ist es Savas Schuld. Oder, genauer gesagt, ihr Problem, ihr Leiden. Es liegt an dem, was die Ärzte Cytheromania nennen. Das Mädchen braucht jemand, der auf sie aufpaßt. Denn wenn sie sich Männern anbietet, dann muß man – angesichts ihres zarten Alters, ihrer verlockenden Taufrische und unleugbaren Einzigartigkeit – als Mann schon sehr stark sein, nicht darauf einzugehen.« Kläglich sagte Gavrila: »Ich kann nicht jeden Augenblick aufpassen.« »Das ist mir klar. Was mich auf Gospodin Maretic bringt. Du hast gesagt, er sei ein guter Mann, und nach allem, was ich von ihm gesehen und gehört habe, stimmte ich dem rückhaltlos zu. Hat er vielleicht jemals um deine Hand angehalten?« »So gut wie«, murmelte sie. »Wenn ich ihm das Gefühl gäbe einzuwilligen, würde er es tun.« »Warum tust du das dann nicht? Und willigst ein, wenn er dich bittet, seine Frau zu werden?« Sie machte ein fast genauso entsetztes Gesicht wie zuvor bei der Eröffnung von Savas unbesonnenem Verhalten. »Weil er nicht vom Circus ist. Er ist ein Blagajnik, ein Caissier, ein Bankangestellter. Er könnte niemals zum Circus gehen.« »Dann, fürchte ich, mußt du dir überlegen, ob es nicht von Vorteil wäre, wenn du den Circus aufgibst.« »Nachdem ich mein Leben lang dabei war?« rief sie klagend aus. »Ein furchtbarer Entschluß für jemand wie dich, ich weiß. Einer, der dein ganzes Leben umkrempeln könnte. Ich selbst möchte nicht mal im Traum an so was denken. Aber Maretic verdient als Bankangestellter offenbar nicht schlecht. Du brauchtest überhaupt nicht zu arbeiten. Und ein sicheres und etabliertes Leben sollte dich doch bald für den Verlust von Glitzerglanz, Sensationen und Applaus entschädigen.« -1530-
»Aber ... aber ... die Pasovi?« »Die Terrier? Hat Maretic was gegen Hunde?« »Nein, nein. Er mag sie!« »Nun, denn. Andere Familien haben Haustiere, die sie innig lieben. Ihr hättet eben ganz besonders talentierte Schoßhündchen.« »Mit einem Publikum, das aus einem einzigen Mann besteht.« »Jetzt mach aber mal einen Punkt, Weib! Es geht weder um dich, noch um die Hunde, weder um Zuschauer oder Circus. Es geht darum, was das beste für Sava ist.« »Ist richtig. Was selbstsüchtig von mir. Albern!« »Das Kind ist anders als alle anderen Menschen, und das schon von Geburt an – zumindest äußerlich. Sie hatte einen Vater, der nicht sehr liebevoll war und ein verdient schreckliches Ende gefunden hat. Zugleich mit ihm hat Sava ihren Bruder verloren, den einzigen anderen Menschen, der in ihrer unmittelbaren Lebenswelt genauso war wie sie. Der erste Mann, mit dem sie außerhalb des Festplatzes Freundschaft schließt, nutzt sie brutal aus. Kein Wunder, daß das Mädchen – nun ja – ungebärdig geworden ist. Aber mit allem könnte man sie versöhnen. Mit einem richtigen Zuhause, einer Familie, Schule, Sicherheit. Verstehe doch, ich befehle dir ja nicht zu heiraten. Und ich habe größtes Verständnis dafür, daß du zögerst, die einzige Art von Leben aufzugeben, die du kennst. Aber auch Gospodin Maretic hat mein Mitgefühl. Möglich, daß er mehr Verantwortung auf sich lädt, als ein typischer Bankangestellter normalerweise mit einer Eheschließung übernimmt. Gott sei Dank handelt es sich aber um einen wackeren Jugoslawen, der einiges aushalten kann, und nicht um einen verpimpelten Franzosen, der bei jeder Kleinigkeit in die Hose macht. Ich möchte dir nur nahelegen, Gavrila, einmal darüber nachzudenken, was das beste für dich ist. Und wenn das die Ehe ist, dann säume nicht allzu lange. Ich meinerseits werde -1531-
strikte Anweisung an alle geben: Hände weg von Sava! Das betrifft jeden Mann von unserer Truppe. Nur – Sava selbst kann ich weder etwas befehlen, noch kann ich sie kontrollieren. Das mußt du tun – und das hat unbedingt zu geschehen!« Clover Lee und ihr Freund trafen am nächsten Tag etwas verspätet im Cafe le Commerce ein, und so hatte Edge bereits einen Teller und eine Karaffe vor sich stehen und las beim Essen die einzige englischsprachige Pariser Zeitung, den Galignani’s Messenger. Die kleinen Tische auf dem Bürgersteig vorm Commerce standen dicht an dicht, und kein einziger war mehr frei. Wer nicht gerade laut redete oder lachte oder »Garcon« brüllte, der aß schmatzend fast ebenso laut – schlürfte Bouillon oder Zwiebelsuppe, brach krachend die Schalen von Krebsen, Hummern, Langusten und Krabben auf, ließ Besteck und Gedeck und Gläser klirren. Kellner schoben sich seitlich im Krebsgang mit hochgerecktem Tablett durch die Menge und riefen dabei laut: »Par’n, ’sieus, ’dames!«, rammten aber gleichwohl so manchen Ellbogen ihrer Gäste oder stießen mit ihrem Hut zusammen, daß er ihnen schief auf dem Kopf saß. Lärm und Gewühl endeten nicht am Rinnstein, denn man war in der Rue Coquilliere. Pferde- und Ochsenkarren rumpelten vorbei, hochbeladen mit eis- und salzgefüllten Fässern. Lastenträger machten nicht minder viel Lärm, denn sie trugen Holzschuhe und klapperten beim Gehen unter allen möglichen Lasten, von Körben voller Sprotten bis zu solchen mit ganzen Stören, die fast so groß waren wie sie selbst. Überdies bewarfen sie sich gegenseitig mit launigen Schimpfwörtern; nur wenn sie, was gelegentlich vorkam, einander anrempelten, kam es zu höchst unfreundlichen Verwünschungen. In den allgemeinen Ausdünstungen der Straße – einem Geruchsgemisch aus rohem Fisch, ausgewaschenem Gekröse, Schuppen und Schleim, Tang und Salzwasser – bildete das Commerce so etwas wie eine Geruchsoase, denn hier duftete es eher appetitlich nach gedünstetem Fisch, Wein, Kaffee, zerlassener Butter, Zwiebeln, -1532-
Kapern, Schalotten und Knoblauch, Knoblauch und noch mal Knoblauch. Edge rappelte sich eilends hoch, fummelte mit Zeitung und Serviette herum, ließ beides fallen, als Clover Lee mit einem gut aussehenden Herrn von vielleicht dreißig Jahren an seinen Tisch trat. Beide waren tadellos gekleidet, als gälte es, bei Hofe vorgestellt zu werden. »Zachary, darf ich dir meinen Freund Gaspard, Comte de Lareinty vorstellen? – Gaspard, das hier ist Colonel Zachary Edge.« Edge schluckte hinunter, was er im Mund hatte, murmelte: »Euer Gnaden«, und schüttelte dem Mann die Hand. »Nicht doch, Zachary. Nennen Sie mich Gaspard. Oder Jasper, wenn Ihnen die englische Version lieber ist. Schließlich bin ich fast schon so etwas wie ein angeheirateter Verwandter eurer Circusfamilie. Setzen Sie sich, setzen Sie sich. Beenden Sie Ihr Dejeuner.« Als gälte es, sich zu entschuldigen, wedelte Edge mit der Hand, zeigte auf die hektische und alles andere als elegante Umgebung und sagte: »Mein Lebtag hab’ ich nicht genug Austern kriegen können. Deshalb esse ich mich hier endlich einmal daran satt; nirgends in ganz Paris gibt es sie besser als hier.« Er zeigte auf seinen Teller, der gehäuft voll war mit halben Austernschalen, und zwar gefüllt mit den grünschillernden Köstlichkeiten der Fines de Ciaire, den mattgrünen Portugaises, silbrigen Belons und – vom Küchenchef aus Gründen des Farbkontrasts hinzugefügt – ein paar leuchtend orangefarbenen Miesmuscheln. Der Graf klemmte sich ein Monokel ins Auge, sah sich unter den alles andere als geschniegelten anderen Gästen um und sagte herablassend: »Un estaminet des piedshumides. Singulier, oui.« »Die Austern sehen gut aus«, sagte Clover Lee, als der Graf -1533-
ihr einen Stuhl unterschob. »Aber ich esse nie vor einer Vorstellung. Einen Aperitif vielleicht, Gaspard?« Der Graf hob die Hand und schnippte mit den Fingern, ohne auch nur aufzusehen. Möglich, daß man in diesem Milieu nicht erkannte, wer er war, doch während alle anderen ringsumher vergeblich ihr »Garcon!« hinausbellten, stand in seinem Fall der Kellner sofort an seiner Seite. Der Graf bestellte einen Absinth für sich selbst und einen wenig Berauschendes enthaltenden Cassis für Clover Lee. Edge beeilte sich mit seinen Muscheln, und so konnte der Kellner den Teller fortnehmen, als er die Getränke brachte. Der Graf gestaltete das Mischen zu einer kleinen Zeremonie, kippte elegant das kleine Glas des klaren Absinth in den Becher mit klarem Wasser und verfolgte, wie die Verbindung von beidem schillernd perlmuttfarben aufwölkte. Edge nahm einen Schluck von seinem Wein und sah Clover Lee aufmunternd an. »Nun, du wirst es schon erraten haben, Zack«, sagte sie ein wenig nervös. Dann rollte sie den Handschuh von ihrer Linken und zeigte den Ring mit einem Diamanten, so groß wie der Nagel eben dieses Fingers. »Gaspard und ich – wir haben uns verlobt.« Der Graf nippte an seinem Getränk und sagte gefühlvoll, so als habe er mit dem Gespräch zwischen den beiden und Edges Bewertung seiner Person nicht das geringste zu tun: »Ah! Wenn wir einmal ins Paradies eingehen, amis, werden wir feststellen, daß es nichts weiter ist als die Stunde des Aperitif – allerdings unendlich in die Länge gezogen.« »Das freut mich für dich, Clover Lee«, sagte Edge. »Ich wünsche dir Glück und viel Freude. Und Ihnen gratuliere ich, Gaspard. Doch meine Zustimmung braucht ihr nun wirklich beide nicht.« »Worum wir dich bitten möchten, Zachary«, sagte Clover Lee, »ist, gewissermaßen als Vermittler zu fungieren. Verstehst -1534-
du, Zack, als Comtesse de Lareinty, würde ich ... nun ja, den Circus verlassen müssen und mich in Paris niederlassen.« Affektiert meinte der Graf dazu: »Besser, mit dreißig in Paris sterben als anderswo hundert Jahre alt werden.« »Du möchtest also, daß ich es Florian beibringe?« sagte Edge. Und Clover Lee sagte: »Von allen Kollegen bin ich länger dabei als alle anderen, Jules und Hannibal ausgenommen. Deshalb fürchte ich, der gute alte Governor könnte es mir übelnehmen.« »Helas«, sagte der Graf, »aber jeder Mann muß früher oder später durch seine mauvais quart d’heure hindurch.« »Ja«, meinte Edge. »Vielleicht bereitet es Florian auch eine böse Viertelstunde. Aber du weißt ja, Clover Lee, er hat nie etwas anderes als das beste gewollt für jeden von uns. Und er weiß schließlich, wie sehr dir daran gelegen war, einen ...« »Oh là!« kam es von Clover Lee beschwingt und doch etwas überstürzt, um allem zuvorzukommen, was Edge vielleicht noch hätte sagen können. »Ich war überwältigt, daß ein Mann mir einen Antrag machte, der nicht nur vornehm und gut und gutaussehend ist, sondern auch noch von adliger Abkunft. Eine solche Ehre hätte ich mir nie erträumt.« Und während sie das sagte, sah sie Edge durchdringend aus kobaltblauen Augen an. »Ich habe immer wieder versucht, Gaspard klarzumachen, daß ich einer solchen Ehre nicht würdig bin, daß ich nichts weiter als ...« »Sie ist außerordentlich freimütig und ehrlich gewesen, Zachary«, sagte der Graf, worauf Edges Brauen sich unwillkürlich ein wenig in die Höhe schoben. »Dabei habe ich ihr ein paar Beispiele aus der Vergangenheit aufgezählt. Die Comtesse de Chabrillan war einst genauso wie Clover Lee eine Circusreiterin – beim CIRQUE FRANCONI! Und die Marquise de Caus war und ist immer noch Opernsängerin – la Diva Patti! Nun sind diese Frauen durch eigene Arbeit reich und haben sich -1535-
ihre titeltragenden Ehemänner gekauft. Aber diese hier ...« – er legte liebevoll die Hand auf die ihre – »ich will Ihnen genau wiederholen, was sie gesagt hat. Sie sagte: ›Ich bin nichts weiter als eine arme Jungfrau, Euer Gnaden. Die Unschuld, die Sie bewundern, ist alles, was ich als Mitgift in die Ehe einbringen kann.‹« »Ah«, sagte Edge. Er wußte partout nicht, was er dazu sagen sollte, und diesmal bohrte sich Clover Lees Blick nicht in seine Augen. »Doch so sehr ich Clover Lees Können und die Anmut bewundere, mit der sie sich im Circus bewegt«, fuhr der Graf fort, »und ihren rechtmäßig erworbenen Ruhm – sie braucht nicht in der Öffentlichkeit weiter aufzutreten, und sie kann es nicht. Um ihren Marquis de Caux zu unterhalten, ist la Patti gezwungen, das zu tun. Ich jedoch bin finanziell glänzend abgesichert. Was jedoch noch wichtiger ist: Meine Familie steht ziemlich im Licht der Öffentlichkeit, und ich selbst nehme im Gefolge Seiner Majestät eine hervorragende Stellung ein ...« Er zuckte vielsagend mit den Achseln. »Gaspard ist Flügeladjutant Seiner Majestät«, erklärte Clover Lee. »Ich verstehe die Situation«, sagte Edge. »Caesars Frau etc. etc. Aber Gaspard, wenn Sie einen so hohen militärischen Rang einnehmen – und überall von Krieg gemunkelt wird –, ist es da wirklich der richtige Augenblick, an eine Heirat zu denken? Sie wäre eine Art Faustpfand des Schicksals.« Verbindlich meinte Gaspard: »Ich bin Franzose, mon colonel. Tod? Gefangenschaft? Ein Franzose, der sich ergibt? Niemals! Da lauf ich vorher weg.« Hatten die bisherigen hochtrabenden Äußerungen des Grafen bei Edge nicht sonderlich verfangen – diese Erklärung ließ ihn schmunzeln. Unglücklicherweise bewirkte dies wie üblich, daß Edge ingrimmig aussah, so, als hätte er den frivolen Ausspruch -1536-
ernstgenommen. Woraufhin wiederum der Graf ein wenig gekränkt aussah und steif sagte: »Aber ich habe doch nur gescherzt, Colonel.« »Ach, das hat er schon verstanden, Gaspard«, sagte Clover Lee lachend. »Der Colonel sieht immer dann besonders häßlich aus, wenn er sich diebisch über was freut. – Dann haben wir also deinen Segen, Zachary?« »Vorbehaltlos. Und jetzt sollten wir beide uns wohl besser zum Festplatz aufmachen, um uns umzuziehen. Den Governor knöpf ich mir bei nächster Gelegenheit vor.« Er wartete, bis Florian es sich nach dem Finale allein in seiner Maringotte bequem machte, um es ihm beizubringen. »Ich weiß nicht, wie glücklich Clover Lee sein wird«, fügte Edge noch hinzu, »mit einem Jasper, der irgendwo ein Kasper ist und dessen Beitrag zur Unterhaltung vornehmlich aus geistreichen oder banalen Sprüchen besteht. Aber sie hat sich immer nach einem wohlhabenden, titeltragenden Mann gesehnt – und in diesem Fall trifft wohl beides eindeutig zu.« »Es sei mir fern, einer wahren Liebe im Weg zu stehen«, sagte Florian mit etwas verkniffenem Mund. »Doch nachgerade habe ich das Gefühl, das ganze FLORILEGIUM fällt auseinander, und alle Kollegen suchen das Glück am häuslichen Herd. Offenbar bist du dir nicht darüber im klaren, daß es da noch ein paar andere Fälle gibt.« Er erzählte Edge von Kostcheis und Brunhildes Plänen, von dem Problem mit Sava und der Möglichkeit, dieses dadurch zu lösen, daß Gavrila heiratete. »Würde mich nicht wundern, wenn als nächste unsere Garderobiere käme, um mir zu sagen, sie kündige und werde Madame Spenglermeister Delattre. Oder daß Monsieur Roulette und Baron Wittelsbach kommen und erklären, sie wollten einen gemeinsamen Hausstand gründen.« »Hör schon auf, so zu tun, als wäre das das Ende der Welt, Governor. Ich gehe davon aus, daß wir – wenn es nötig sein -1537-
sollte – überall ein paar neue Talente auftreiben können.« »Damit hast du wohl recht«, sagte Florian schicksalsergeben. »Auf jeden Fall läuft ohnehin keiner vorm Diner davon. Danach sehen wir weiter.« Das Schloß von St.-Cloud war nur wenige Kilometer vom anderen Ende des Bois de Boulogne entfernt. Die Circusleute fuhren im Gesellschaftsanzug in Mietdroschken dorthin. Das sogenannte Schloß war nun überhaupt nicht mit dem majestätischen Bauwerk im Tuilerien-Park zu vergleichen, sondern nur ein riesiges, urgemütliches, auf einem Hügel inmitten eines ausgedehnten Parks gelegenes Landhaus, von dem aus man ganz Paris überblicken konnte. Als die Circusleute im Halbdämmer aus den Wagen stiegen, zeigten sie sich gegenseitig die Gebäude, die sie aus dieser Entfernung erkennen konnten wie Notre Dame, das Pantheon, den Invalidendom und ihr eigenes Chapiteau im Bois. »Sie müssen mir verzeihen, mein lieber Florian«, sagte der Kaiser, als er die Artisten begrüßte, »daß ich Sie solange vernachlässigt habe. Aber ich war den ganzen Winter und Frühling über damit beschäftigt, mich höchst beklemmenden Staatsgeschäften zu widmen.« »Nicht beklemmenden, sondern bedrückenden«, korrigierte die Kaiserin ihn in ziemlich scharfem Ton. Eugenie war fast zwanzig Jahre jünger als Louis Napoleon, gerade in der zweiten Hälfte der Vierziger und immer noch eine hübsche Frau, wenn auch auf eine harte, spröde Weise, so, als wäre sie gerade eben gelackt worden. Wenige Schritte hinter ihr stand – wie überhaupt das ganze Fest über – ein kräftiger, breitschultriger Nubier in goldbestickter Livree. Louis und Eugenie stellten die Circusleute den einzigen anderen anwesenden Familienmitgliedern vor: dem erst vierzehn Jahre alten Kronprinzen, Eugene Louis, der jedoch schon ziemlich erwachsen wirkte und geschliffene Manieren vorwies, -1538-
und dem dicklichen, glatzköpfigen und mit Hängebacken ausgestatteten Cousin des Kaisers, Fürst Jeröme Napoleon. Die Gäste begrüßten die hochgestellten Persönlichkeiten mit Verbeugung oder Knicks und redeten die Prinzen korrekt als »Kaiserliche Hoheit« bzw. »Hoheit« an. Monsieur Nadar jedoch war in diesen Kreisen so zu Hause, daß er nur den Kaiser und die Kaiserin förmlich anredete; den jungen Prinzen nannte er »Lou-Lou« und den älteren Fürsten »Plon-Plon«. Plonplon reagierte nur höchst oberflächlich auf die Vorgestellten, stürzte sich dann jedoch auf Clover Lee. Diese hatte sich ausnahmsweise entschieden, die außerhalb des Festplatzes nach ihr benannte Farbe zu tragen und war strahlend in eben jenes Clover-Pink-Brokatkleid gewandet, das sie ursprünglich im Printemps entdeckt hatte. »Mademoiselle«, sagte der Fürst und verneigte sich so tief, daß seine fleischige Nase fast in der Spalte ihres Dekolletes versank. »Ich habe mir drei Ihrer Vorstellungen angesehen und war jedesmal hingerissen – Sie haben mich auf ewig bezaubert und mich zu Ihrem Sklaven gemacht. Ich habe darauf bestanden, daß meine Cousine mir Sie heute abend zur Tischdame gibt.« »Aber an der ersten Tafel möchte ich doch die Tischordnung umstoßen«, sagte Eugenie, die von Edge rücksichtsvollerweise bei der Vorstellung auf spanisch angeredet worden war. Sie winkte dem riesigen schwarzen Diener hinter ihr und sagte: »Scander, der Colonel sollte ursprünglich Mademoiselle Leblanc zur Tischdame haben. Bitte, stellen Sie seine Tischkarte jetzt zu dem Gedeck rechts neben mir.« Und zu Edge gewandt, meinte sie kokett: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Monsieur le Colonel, mit einer langweiligen spanischen Matrone zu plaudern, statt mit einer überaus schönen jungen Schauspielerin. Ihr Charme wäre in bezug auf Leonide ohnehin verschwendet. Sie ist noch langweiliger als ich es bin und selbst dann unzugänglich, wenn Sie sie doch verzaubert hätten; sie ist nämlich bereits die Geliebte des Duc d’Aumale. Doch jetzt -1539-
kommen Sie; ich möchte Sie den anderen Gästen vorstellen.« Eugenie führte ihre Gäste in einen großen Salon mit riesigen Fenstern, die auf das in der Dämmerung versinkende Paris blickten; eine Milchstraße aus zahllosen Lichtpunkten blinkte vor dem violetten Samt der Nacht auf. Zu den anderen Gästen gehörte eine Reihe von Herzögen, Grafen und Marquis, von denen einige in Begleitung von Frauen erschienen waren – »nicht notwendigerweise ihren eigenen«, wie Nadar sotto voce bemerkte. Auch Künstler gehörten zu den Eingeladenen. Da war die Schauspielerin Leonide Leblanc, mehr wegen ihrer sinnlichen Schönheit bekannt als wegen ihres schauspielerischen Könnens. Dann die knabenhafte, krusselhaarige Sarah Bernhardt, die scharfe Getränke liebte und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Außerdem die überaus füllige Adelina Patti, der ständig die Brüste aus ihrer Decolletage á la baignoire herauszuhüpfen drohten. Dann Hortense Schneider, Star fast aller Operetten von Offenbach, die jetzt aber die Blüte ihrer Jahre bereits hinter sich hatte. Und nicht zuletzt die blutjunge, sehr hübsche Giuseppina Bozzacchi, die sofort herbeigeeilt kam, um Clover Lee in die Arme zu schließen. Während Kaiser und Kaiserin leutselig und formlos alle möglichen Leute miteinander bekanntmachten, hüpfte und wogte der Raum voller Menschen in Verbeugungen und Knicksen, so daß die ganze Versammlung einer bewegten See glich. Wie erwartet, lieferte Nadar dieweil jedem, der gerade in seiner Nähe stand und sich dafür interessierte, prägnante Charakterisierungen der Gäste. »Was Hortense Schneider betrifft, so gibt es da eine amüsante Anekdote. In ihrer Blütezeit hatte sie einen Spitznamen weg, der sich auf die le Passage des Princes genannte Ladenzeile bezog, weil sie dort im horizontalen Gewerbe nicht nur Louis Napoleon zu Diensten gewesen war, sondern auch dem Khediven von Ägypten, Zar Alexander von Rußland und weiß der Himmel wieviel gekrönten Phallussen sonst noch. Nun, einst weilte der -1540-
Khedive Ismail zur Kur in Vichy, langweilte sich und trug seinem Sekretär auf: ›Laß die Schneider kommen!‹ Da der Sekretär neu in seiner Stellung war, bestellte er Adolphe Schneider, den Rüstungsindustriellen, der Ägypten fast alle Waffen lieferte. Adolphe kam mit dem ersten Zug angereist, wurde vom Gefolge des Khediven in Empfang genommen, in eine von Blumen überquellende Suite geleitet und in ein duftendes Bad geführt. Nach einer angemessenen Pause trat Ismail ein, er selbst parfümiert und gepudert und bereit für ein Schäferstündchen. Und im Schaumbad sich aalend lag dieser nackte, fette, mit einem Schnauzbart wie ein Walroß ausgestattete alte Adolphe. Ich hätte alles drum gegeben, eine Fliege an der Wand zu sein.« Fitzfarris war es, der lachend fragte: »Und was geschah?« Nadar zuckte mit den Achseln. »Für einen Ägypter bewies Ismail fast französisches Sangfroid. Er erteilte Schneider auf der Stelle einen Riesenauftrag für die Lieferung neuer Waffen. Was hätten Sie denn gemacht?« Nadar war jedoch keineswegs der einzige, der schweifwedelnd oder stichelnd wie eine Wespe dahinplapperte. Klatsch war offensichtlich das Herzstück des allgemeinen Geplauders bei Hofanlässen. »... jeder, aber auch wirklich jeder gluckst noch heute vor Vergnügen darüber, wie sie sich das Großkreuz der Legion d’Honneur verdient hat. Mit dem Duc de Loury verließ sie heimlich den Ballsaal und kehrte nach etwa einer Stunde mit seinem Orden geschmückt zurück, der sich, ohne daß sie es bemerkt hätte, in den Bändern ihres Mieders verfangen hatte. »La Legionnaise de Deshonneur« wird sie heute genannt. Selbst von ihrem Gatten.« »... hat für jeden Wochentag einen anderen Liebhaber, und jeder hat sein Teil zu ihrem Unterhalt beizutragen. Herzog Mittwoch zahlt ihr die Miete, Graf Donnerstag die Weißnäherin. -1541-
Marquis Freitag sorgt dafür, daß ihr Weinkeller gefüllt bleibt und so fort. Monsieur Samstag ist jemand, der nicht gerade vermögend ist – nur ein drittrangiger Operntenor –, aber auch er muß sich den Zugang zu ihr erkaufen. So pedikürt er sie höchstpersönlich und befreit sie von Hornhaut und Hühneraugen.« »... hat ihre Karriere im gemeinsten Hafenbordell begonnen. Heute gibt sie fünftausend Francs im Monat allein für die Reinigung ihrer Chantillyspitzen aus.« »... Als Carpeaux sie bat, ihm für eine Skulptur Modell zu sitzen, willigte sie nur unter der Bedingung ein, aufrecht zu stehen. Carpeaux sagte ihr, das wäre eine äußerst ermüdende Haltung und fragte, warum sie darauf bestehe, so viele Sitzungen hindurch zu stehen. Sie sagte: ›Das ist direkt eine Erholung‹.« »Würden Sie bitte mitkommen, Messieurs?« forderte Louis Napoleon Florian und Edge auf. »Ich möchte Ihnen etwas ganz besonders Kurioses zeigen, ehe wir zum Essen gerufen werden.« Als die beiden zusammen mit ihm eine Treppe hochstiegen, fragte der Kaiser wie beiläufig: »Nun, Colonel Edge, weisen Sie die Vorstellung, wieder zum Waffenhandwerk zurückzukehren, immer noch von sich?« »Jawohl, Majestät, immer noch.« Louis Napoleon führte sie durch einen Flur und stieß die Tür zu einem durch Lampen erleuchteten Raum auf, in dem es scharf nach Chemikalien roch und der nach einer Mischung aus Atelier, Laboratorium und Werkstatt aussah. Die Einrichtung bestand vornehmlich aus Staffeleien, Dreifüßen und Werkbänken, wobei letztere mit allen möglichen Apparaturen und Maschinenteilen übersät war. »Wir nennen dies das Spielzimmer eines Erwachsenen«, sagte der Kaiser lächelnd. »Der Kasten dort drüben, zum Beispiel, ist Plon-Plons neuestes Spielzeug, der Dubroni-Apparat. Mein -1542-
Cousin glaubt, er wird damit zu einem noch bedeutenderen Photographen als Nadar – fragen Sie mich nur nicht, wie er das anstellen will. Ich weiß nur, daß er ständig irgendwelche merkwürdig riechende Flüssigkeiten in die Öffnungen gießt. Der andere komplizierte Gegenstand war Plon-Plons bisheriges Steckenpferd. Gekauft hat er es von einem Scharlatan, der es Wasserstoff-Sauerstoff-Mikroskop nannte. Eine Zeitlang war Plon-Plon unausstehlich, ging mit einer Nadel herum und piekste den Leuten in die Fingerkuppe. Unterm Mikroskop verglich er dann die Blutstropfen von, sagen wir, einem unverheirateten Mädchen mit denen einer verheirateten Frau, und die eines asketischen Mönchs mit denen eines stadtbekannten Wüstlings ...« »Sehr interessant, Majestät«, sagte Florian bemüht, interessiert zu klingen. »Und das hier, l’appareil Casilli, ist mein neuestes Spielzeug. Dabei ist es eigentlich alles andere als ein Spielzeug, sondern vielmehr eine geniale und nützliche Erfindung. Maitre Casilli nennt es einen Pantelegraph. Würden Sie es glauben, Messieurs? Mit dieser Vorrichtung kann ein prefet de police das gezeichnete Konterfei eines Verbrechers oder ein Faksimile seiner Handschrift an die Prefecture eines jeden anderen Pariser Arrondissements übermitteln ja, in ganz Frankreich und – dank der Überseekabel – sogar an die Polizeistationen der gesamten westlichen Hemisphäre. Stellen Sie sich das vor! Eine Skizze, ein Krakel, läßt sich in die Punkte und Striche des Morsealphabets übersetzen, übermitteln und wieder zur ursprünglichen Gestalt zusammensetzen. Kein Verbrecher wird es fürderhin schaffen, sich dadurch der Gerechtigkeit zu entziehen, daß er einfach über die Stadtgrenzen hinaus flieht – oder in ein anderes Land geht. Er kann erkannt und von jedem Polizeibeamten überall auf der Welt arretiert werden.« »Sehr interessant, Majestät«, sagte Florian. Doch Seine Majestät selbst schienen plötzlich jedes Interesse -1543-
an diesem elektrischen Wunder zu verlieren. Er trat an eine gewöhnliche Staffelei und zog an einer Schnur, woraufhin sich über die ganze Länge der Staffelei eine Landkarte entrollte. Es handelte sich um eine großformatige Karte Ostfrankreichs sowie der angrenzenden deutschen Staaten. »Noch eines meiner Steckenpferde, Messieurs.« Er zündete sich eine seiner Asthmazigaretten an und zeigte damit auf die Landkarte. »Ich studiere die verschiedenen Gebiete des Kaiserreiches und versuche, die Gefahren abzuschätzen, die ihm drohen, und bemühe mich, mir darüber klarzuwerden, wie verwundbar wir sind. Vielleicht hätten Sie, Colonel Edge, die Güte, mir Ihre Überlegungen zu etwas mitzuteilen, das mir in jüngster Zeit Sorge macht. Mein Militärattache in Berlin hat mir eine verschlüsselte Nachricht zukommen lassen. Seine Spione sind zu dem Schluß gekommen, daß der preußische General von Moltke über vier Armeen verfügt, jeweils 100000 Mann stark. Mein Attache ist der Meinung, daß von Moltke im Kriegsfall gleichzeitig erstens im Elsaß in westlicher Richtung über den Rhein und zweitens über die lothringische Grenze nach Süden vorrücken würde.« Die Gesten, mit denen der Kaiser solche Vorstöße umriß, hinterließen dünne Schwaden von Zigarettenrauch – Pulverdampf über einem imaginären Schlachtfeld. »Eine Zangenbewegung, sozusagen, wobei er aus zwei Richtungen auf die Stadt Nancy vorstoßen würde. Damit würde er schließlich den ganzen Nordostzipfel Frankreichs abbeißen. Was halten Sie davon, Colonel?« Lange schaute Edge auf die Karte und rieb sich nachdenklich das Kinn. Schließlich nickte er. »Das scheint zu meinen eigenen Beobachtungen zu passen.« »Und könnten Sie mir auch sagen, wie einem solchen Angriff am besten zu begegnen wäre?« »Majestät, ich war früher nur taktischer Kommandeur einer Einheit, kein Stratege. Immerhin könnte ich Ihnen sagen, wie Jubal Early es gemacht hätte. Oder Phil Sheridan, was das -1544-
betrifft.« »Leider will es der Zufall nun mal, daß von Moltke General Sheridan als Ratgeber zur Seite hat. Ich jedoch habe – helas! – keinen General Early. Und – helas de beaucoup – Sie wollen mit militärischen Dingen partout nichts mehr zu tun haben.« »So ist es, Majestät!« »Aber ich habe etwas vergessen!« rief der Kaiser und schien plötzlich jedes Interesse an der Karte verloren zu haben. »Ich habe Ihnen gar nicht gezeigt, wie phantastisch der Pantelegraph von Casilli funktioniert.« Er nahm sie beim Arm und schob sie wieder hinüber an den Tisch, auf dem dieser Apparat stand. »Um zweifelsfrei sicherzugehen, daß er auch wirklich funktioniert, wollte ich bei meinem Experiment absolut Fremde verwenden. Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, Monsieur Florian, daß ich mir zu Übungszwecken Leute Ihres Circus herausgepickt habe. Dabei war der einzige Grund, daß sie noch nie in Paris gewesen sind, verstehen Sie? Und damit für die Pariser Polizei Unbekannte.« Florian und Edge sahen ihn schweigend und verblüfft zugleich an, während er unter einem Stoß Papier auf dem Tisch herumsuchte. »Das Bureau des Procurateur General hat daher einen Mitarbeiter abgestellt, der über ein beachtliches Zeichentalent verfügt; er hat während der Vorstellung im Circus gesessen und immer wieder Skizzen verschiedener Artisten angefertigt – von Männern, die er rein willkürlich aussuchte. Nur die Männer, Messieurs; die Ritterlichkeit verbietet es, die Nase in das Privatleben von Damen zu stecken, selbst von Damen, die öffentlich auftreten. Der Agent gestand nach der Vorstellung, ein Bewunderer dieser männlichen Artisten zu sein, und erbat sich von ihnen ein Autogramm nebst ein paar eigenhändig geschriebenen Worten. Später war ich persönlich in der Prefecture de Paris zugegen, als diese Skizzen und Autographen -1545-
mit dem wunderbaren Apparat von Casilli in alle Länder übermittelt wurden, in denen Sie mit ihrem Circus auf Tournee waren. Und was ist dabei herausgekommen ...? Ah, ja, da sind sie ja.« Er suchte zwei Blätter aus dem Stapel heraus, den er durchsucht hatte, und legte sie den verdutzten Florian und Edge vor. Bei einem der Bilder handelte es sich, wiewohl alles nur skizzenhaft angedeutet war, um das zerstörte und nasenlose Gesicht Kostcheis des Todlosen; der Krakel in kyrillischen Buchstaben darunter war wohl seine Unterschrift. Das andere Bild war nicht auf den ersten Blick zu erkennen; dafür ließ die Unterschrift keinen Zweifel zu: John Fitzfarris. Und dann war es ganz offensichtlich auch er – und zwar mit seiner kosmetischen Maske. Ganz beiläufig fuhr der Kaiser fort: »Die tüchtige Dritte Abteilung in der Staatskanzlei meines Freundes, Alexanders von Rußland, hat den Mann Timofei Somow als jemand identifiziert, der Falschgeld verbreitet hat und daraufhin ausgepeitscht, verstümmelt und verbannt wurde. Leider gebieten die Amerikanischen Staaten bei weitem nicht über eine ähnlich tüchtige Dritte Abteilung. Die Reaktion aus Washington ließ ziemlich lange auf sich warten. Gleichwohl schienen die Behörden zu meinen, daß der andere Mann, Fitzfarris, für verschiedene Gerichte interessant ist – und zwar für die Zivilgerichtsbarkeit im Norden und die Militärgerichte im Süden –, weil er verdächtig ist, in verschiedenen Fällen Betrügereien verübt zu haben – und zwar unter Ausnutzung der Post und was nicht sonst noch – das habe ich vergessen.« Florian räusperte sich, doch seine Stimme war immer noch belegt, als er sagte: »Somow hat sein Verbrechen gesühnt, Majestät, und Fitzfarris ist inzwischen ein ganz anderer Mensch geworden.« Louis Napoleon machte ein unsäglich gekränktes Gesicht. »Mon eher ami, daran zweifle ich nicht im geringsten! Sonst -1546-
würden Sie doch nicht mit solchen Männern umherreisen! Sie wollen mir hoffentlich nicht irgendwelche niedrigen Motive unterstellen, als ich dies triviale Experiment machte! Bitte, glauben Sie mir, ich war nicht schlecht erstaunt über das, was dabei herauskam. Vorsichtshalber habe ich, dessen können Sie versichert sein, Monsieur Florian, den Präfekten angewiesen, alle damit zusammenhängenden Unterlagen zu versiegeln.« »Nicht aber, sie zu vernichten«, sagte Edge mit gepreßter Stimme. »Wollen auch Sie mir andere Motive unterstellen, Colonel? Sie müssen begreifen, daß nicht einmal ich mich in die offiziellen Aufgaben der Polizei einmischen kann. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, sich gründlich über alle in Paris lebenden Menschen zu informieren, bei denen auch nur die entfernteste Möglichkeit besteht, daß sie irgendwann einmal eine Gefahr für den öffentlichen Frieden oder die Sicherheit des Staates sein könnten. Falls es zum Beispiel zu einem Krieg kommen sollte.« »Und in solchen Zeiten könnten solche Menschen eine Gefahrenquelle sein«, sagte Edge. »Es sei denn, jemand anders bürgte für sie. Zum Beispiel damit, daß er sich, sagen wir, einverstanden erklärte, beim Führen des Krieges mitzuwirken. Falls es jemals zu einem Krieg kommen sollte.« »Da haben Sie’s«, sagte der Kaiser leutselig. »Falls. Wir haben beide falls gesagt. Und jetzt kommen Sie, Messieurs. Gehen wir zu Tisch.«
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7 Als die Diener den Kaiser die Treppe herunterkommen sahen, ließ der Kämmerer einen Gong ertönen, und der allgemeine Lärm verebbte, als die Menge paarweise in den Speisesaal hinüberging. Eugenie ging an Edges Arm, Hortense Schneider an dem von Louis Napoleon, Clover Lee an dem von Fürst Jerome und Katalin mit hochgereckter Hand an dem von Prinz Eugene, so daß zumindest ihre Finger den Arm des jungen Kronprinzen erreichten. An der Tafel, deren Kopfenden Kaiser und Kaiserin einnahmen, wies Louis Napoleon die Gäste sofort und stolz an, sich ihr Gedeck anzusehen, ehe ihnen die Speisen vorgelegt würden. Teller, Untertassen, Schalen und anderes Eßgerät, ja sogar Weinpokale und Wasserbecher bestanden aus einem Metall, das glänzte wie auf Hochglanz poliertes Zinn. »Das ist ja erstaunlich leicht, Majestät«, sagte der ältliche Marquis de Gallifet und hob verwundert einen Teller in die Höhe. »Woraus ist es denn, Majestät?« »Aus einem Metall, das man erst seit kurzem zu raffinieren versteht. Seltener noch als Gold. Bis jetzt bin ich der einzige Mensch auf Erden, der ein vollständiges Eßservice daraus besitzt. Das Metall nennt sich alumine.« »Laissez donc«, murmelte die blutjunge Marquise de Gallifet. Sie kicherte und wagte ein ungehöriges Wortspiel. »Und ich dachte, alumine wäre ein gefäßverengendes Mittel, das lâches Frauen benutzten, um ihre lâches Körperteile zu straffen und so zu tun, als wären sie noch jungfräulich.« Louis Napoleon warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Alumine-Salze oder Alaun werden in der Medizin als Heilmittel verwendet, das stimmt schon, doch das Metall selbst ist bis jetzt nur ein Kuriosum aus dem Laboratorium gewesen. Bei der Herstellung dieses kaiserlichen Eßgeschirrs hat man es -1548-
zum erstenmal praktisch verwendet.« Wie praktisch es sei, diese Frage war später Gegenstand allgemeinen Streites; die meisten fanden, es sähe nicht besonders edel aus und doch waren sie sich alle darüber einig, daß es jeder Speise und jedem Getränk einen metallischen Beigeschmack verleihe. Eugenie und Edge unterhielten sich leise auf spanisch, und vielleicht war die Kaiserin in ihrer Muttersprache nicht ganz so diskret, wie sie es sonst womöglich gewesen wäre. Zunächst erklärte sie ihm vertraulich, daß die »bedrückenden Staatsgeschäfte«, die Seine Majestät so viele Monate hindurch beschäftigt hatten, vornehmlich darin bestanden hätten, daß er aus Schwäche einen großen Teil seiner eigenen Macht an »dieses verdammte linksgerichtete Pack von der Dritten Partei« abgetreten habe. »Wir entwickeln uns Hals über Kopf zu nichts weiter als einem parlamentarischen Kaiserreich«, erklärte sie voller Bitterkeit. »Ich will nicht so einfach abgesetzt werden wie meine Cousine Isabella in Spanien. Lieber wäre ich eine kleine Verkäuferin auf der Rue de Rivoli als lediglich die Galionsfigur eines Kaiserreichs wie Victoria. Seit Louis mit seinen Blasensteinen zu tun hat, wird er immer laxer, langweilig, furchtsam und läßt jeden Unternehmungsgeist vermissen.« Beschwichtigend sagte Edge: »Seguro no totalmente, Vuestra Majestad.« Er war nur teilweise diplomatisch; denn er dachte auch an die keineswegs von Zaghaftigkeit zeugende Drohung, die der Kaiser oben ausgesprochen hatte. »¡Sí, totalmente!« Eugenie war nicht davon abzubringen. »Er geht nicht einmal mehr zu seinen Maitresses. Und was die widerwärtigen Drittparteiler betrifft – Ollivier, Gramont, Gambetta – und den ungehobelten Pöbel von der Straße, der für das Republikanertum streitet, und die unflätigen Karikaturen Seiner Majestät – und meiner Person –, die ständig in Witzblättern wie La Vie Parisienne erscheinen jeder andere Monarch würde doch längst die Guillotine schmieren! Und -1549-
diesen verdammenswerten Subversiven die Welt auf dem Kopf stehend zeigen! Aber er doch nicht!« Sie hielt inne, um völlig verwirrt auszurufen: »¿Qué pútrida purgacion es este?« Die Lakaien hatten allen anderen den Fischgang vorgelegt – nur der ewig präsente schwarze Scander der Kaiserin hatte das bei ihr besorgt: Steinbutt in irgendeiner sämigen Sauce. Sie hatte davon gekostet und das Gesicht verzogen. Edge nahm einen Happen von dem, was auf seinem Teller lag; es schmeckte süß, bonbonsüß. Auch die meisten anderen am Tisch betrachteten ihren Heilbutt äußerst mißtrauisch und sahen dann einander fragend an. Nur der Kaiser schien nichts Besonderes bemerkt zu haben und langte herzhaft zu. Völlig aufgelöst kam der Kämmerer des Speisesaals an den Tisch gelaufen, das Gesicht bleich und Schweißperlen auf der Stirn. »Ach, Eure Majestäten!« rief er klagend und händeringend; es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in Tränen ausgebrochen. »Ein Souschef, der noch in die Lehre geht, hat einen schrecklichen Fehler begangen. Statt der Sauce hollandaise für den Steinbutt hat er die für die Kirsch-Charlotte gedachte Eiercreme darübergegossen. Unverzeihlich, unverzeihlich! Eure Majestäten, Euer Gnaden.« Völlig außer sich schnippte er mit den Fingern: »Garcons! Fort damit!« »Unsinn!« sagte der Kaiser gelassen. »Ich finde, es schmeckt gar nicht schlecht.« Unbeirrt fuhr er fort zu essen: »Reicht doch einfach die Hollandaise zur Charlotte.« Von Entsetzen gepackt, fuhr der Kämmerer zurück, die anderen Gäste verdrehten die Augen und wandten sich wieder dem Fisch zu, und Eugenie stieß halblaut einen unsäglichen spanischen Fluch aus. »Da sehen Sie’s selbst!« sagte sie zu Edge. »Der alte Trottel findet sich mit allem ab. Ich bin es wieder, die dafür zu sorgen hat, daß der Lehrjunge zusammen mit seiner eigenen Eiercreme gekocht wird. Dann verflucht man mich wieder und nennt mich -1550-
l’inquisiteur espagnol. Wie oft ich das nicht hinter meinem Rücken höre! Ich sage Ihnen, Senor Coronel, es gibt für Louis nur einen Weg, seine kaiserlichen Rechte und Machtbefugnisse zurückzuerobern und Liebe und Bewunderung seiner Untertanen zurückzugewinnen. Dieser Weg besteht darin, Krieg zu führen und diesen Krieg zu gewinnen. Fortuitamente haben wir den vollkommenen Vorwand für eine Kriegserklärung an Preußen.« Edge gab nachsichtig zu bedenken, daß es für einen Krieg nie so etwas wie einen vollkommenen Vorwand geben könne. »Doch, doch! Seit Königin Isabella aus Spanien geflohen ist, diskutieren die Spanier, streiten sich und greifen zum Volksentscheid, um zu bestimmen, was für eine Art Regierung sie haben wollen. Nun haben sie sich klugerweise für die Wiedereinführung der Monarchie entschieden und halten jetzt nach einem akzeptablen neuen Mann auf dem Thron Ausschau. Es gibt mehrere Kandidaten. Aber die Preußen – können Sie sich eine solche Unverfrorenheit vorstellen? – bieten den Spaniern einen ihrer hassenswerten Hohenzollern an!« »Ich habe in der Zeitung darüber gelesen. Neulich erst. Einen Prinzen Leopold, hieß es.« »Einen Cousin König Wilhelms! Begreifen Sie, was die Preußen wollen? Uns umzingeln! Uns einen Dolch in den Rücken stoßen! Doch das wird nicht passieren. Wenn mein kaiserlicher Gatte, wenn das Corps Legislatif, wenn überhaupt kein Franzose das hat, was die Franzosen le cran nennen, ihren Meerrettich – es decir, los cojones, verzeihen Sie den Ausdruck –, dann werde ich verhindern, daß ein Hohenzoller sich mit seinem fetten teutonischen Culazo auf dem Thron meiner Heimat Spanien breitmacht!« »Sie wären bereit, dafür bewußt einen Krieg anzuzetteln, Majestät?« »Und ob ich dazu bereit wäre! Vergessen Sie nicht, ich bin nicht nur eine Kaiserin, Senor Coronel, ich bin auch noch eine -1551-
Mutter. Ich darf nicht nur an Frankreich oder Spanien oder an Louis Napoleon Bonaparte oder auch nur an mich selbst denken. Ich muß an die Dynastie denken.« Sie senkte die Stimme, sprach aber gleichwohl immer noch mit der Gereiztheit einer Bärenmutter. »Wenn es keinen Krieg gibt, wird mein Sohn niemals Kaiser.«
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8 Als Jovan Maretic Florian ankündigte, daß er Gavrila und ihr Kind der Nacht nun endlich heiraten werde, erwiderte der immer ökonomisch denkende Florian: »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte – es gibt noch andere aus unserer Truppe, die daran denken zu heiraten. Vielleicht gelingt es mir, alle Epousailles gleichzeitig vollziehen zu lassen und erspare damit jedem eine Menge de fil rouge et de routine.« »Ist mir egal, ob durch päpstliches Dekret oder von einfachem Standesbeamten – Hauptsache, geschieht.« »Ich werde alles in die Wege leiten, das verspreche ich. Kommen Sie heute abend zu uns ins Hotel, Gospodin.« Er ließ alle Abteilungsleiter im Rauchsalon des Grand Hotel, zu dem Damen keinen Zutritt hatten, zusammenrufen und verkündete: »Gavrila Smodlaka und ihr Freund Maretic werden heiraten. Also müssen wir das Kind der Nacht und die Hündchennummer aus unserem Programm streichen. Außerdem werden wir unseren Star, die Stehendreiterin, an den Comte de Lareinty verlieren, den ihr ja, wie ich annehme, gestern abend alle kennengelernt habt. Des weiteren heiraten wollen Brunhilde und Kostchei der Todlose – aber die wollen bei uns bleiben. Außerdem hat Ioan Petrescu mir gerade mitgeteilt, ihr Monsieur Delattre habe ihr einen Antrag gemacht ...« »Ach y fi«, murmelte Goesle. »Da muß irgendwas in der Luft liegen, hier in Paris – daß man sich so sicher sein kann.« »Mir hat noch keine einen Antrag gemacht«, brummte Beck. »Nun«, sagte Florian, »auch du kannst Monsieur Delattre haben – in gewisser Weise, jedenfalls. Er hat sich erboten, seine Arbeit als Spengler aufzugeben und sich uns anzuschließen, falls wir ihn haben wollen ... Ehe ich annahm, wollte ich erst dich fragen, Chefingenieur.« »Was?« rief Beck. »Er würde zu uns kommen? Im Ernst? -1553-
Dann sage ich Ja. Ja, gewiß! Er kann den Gasentwickler übernehmen, jetzt, wo Jules zweimal die Woche mit der Saratoga aufsteigt. Manchmal müssen auch Reparaturen an den Pfeifen der Dampforgel vorgenommen werden. Und er kann sich darum kümmern, daß die Donnerbalken immer tadellos in Schuß sind. Ja, den können wir gebrauchen.« »Ich hatte gehofft, daß du das sagen würdest. Sonst würden wir nämlich unsere unschätzbare Garderobiere verlieren.« Fitzfarris sagte: »Governor, wegen der Eheschließung vom Todlosen und der Riesin habe ich mich schon mal umgehört. Und da du mir gesagt hast, die Polizei interessiere sich für Kostchei, hatte ich mir gedacht, daß es am besten ist, wir erledigen das irgendwo, wo die Sache nicht soviel offizielle Aufmerksamkeit erregt. Deshalb sind Zack und ich über die Stadtgrenzen hinausgegangen – nach Montmartre.« »Da gibt es überhaupt keine Probleme«, sagte Edge. »Der Bürgermeister höchstpersönlich will es sich nicht nehmen lassen, die beiden zusammenzugeben. Schnell und unauffällig. Jedenfalls denke ich, daß kein Mensch in Paris sich groß darum kümmert, was irgendwo im achtzehnten Arrondissement passiert.« »Sehr gut«, sagte Florian. »Würdet ihr beiden dann noch einmal an Monsieur le Maire herantreten? Und ihn fragen, ob er bereit ist, vier Paare auf einmal zu trauen?« »Vier Paare?« Edge und Fitz waren perplex. »Warum nicht? Würdet ihr einem Hund den Schwanz scheibchenweise coupieren, weil es dann weniger wehtut?« »Aber wer sind die vier?« Fitzfarris zählte die Paare an den Fingern ab. »Da wären Brunhilde und Kostchei, Ioan und Pierre, Gavrila und Jovan ...« »Und Clover Lee und Gaspard.« »Was? In dem schäbigen kleinen Bureau?« sagte Edge. »Die -1554-
jedenfalls wollen doch bestimmt mit allem Pomp und Pauken und Trompeten heiraten.« Florian schüttelte den Kopf. »Der Graf hat mir gestern gestanden – und Clover Lee hat offensichtlich nichts dagegen –, daß er seine Familie, was seine Eheschließung betrifft, im unklaren lassen und vor ein fait accompli stellen möchte. Er beteuert, dann gäbe es hinterher die Hochzeit in Weiß und eine grande fete im Schloß der Familie.« Florian seufzte. »Hoffentlich steht der Start ins Eheleben für die Comtesse de Lareinty nicht von vornherein unter einem Unstern.« »Nun, wenn sie unbedingt wollen ...«, sagte Edge. »Fitz, wir reiten gleich morgen früh hin. Wenn der Bürgermeister einverstanden ist, Governor, können wir alle Lämmer noch vor Vorstellungsbeginn morgen zur Schlachtbank führen.« Am nächsten Tag verließen sämtliche Angehörigen des FLORILEGIUM mit Ausnahme der Racklos den Festplatz. Die Kasse im Roten Wagen übernahm Aleksandr Banat, falls irgendwelche Gaffer vorzeitig Eintrittskarten kaufen wollten. Selbstverständlich wollten alle Artisten und anderen Circusleute an der Massenhochzeit teilnehmen. Deshalb erwies es sich als notwendig, jeden Anschein einer Parade zu vermeiden, um in den Straßen keinerlei besondere Aufmerksamkeit zu erregen. Die Hauptakteure des großen Ereignisses schickte Florian in getrennten Fiakern fort; dann kamen Gruppen der Kollegen in anderen Droschken sowie seine eigene Kutsche. Die Wagen verließen den Festplatz nicht alle auf einmal, sondern in Abständen nacheinander und schlugen unterschiedliche Routen vom Bois bis zur Butte Montmartre ein. Treffen sollten sich alle am Fuß eben dieses Hügels, an der Place Blanche, wo die Pflasterung der Pariser Straßen aufhörte und die Wagenkolonne einen Feldweg hinauffuhr, der sich zwischen verstreuten einzelnen Behausungen hindurchwand – ein paar bescheidenen, mit rötlichem Kalkanstrich versehenen Bauernkaten –, vorbei an den baufälligen Türmen von Windmühlen mit immensen, aus -1555-
Balken mit Segelleinen bestehenden Flügeln, die sich quietschend in der leichten Brise hier oben drehten, und den Ziegen und Kühen, die auf den kümmerlichen Grasflächen weideten, die zwischen den zutage tretenden Kalkfelsen und den zerspellten Bäumen wuchsen. Als sie die Hälfte des Wegs hügelan geschafft hatten, hielten sie vor der Mairie von Montmartre, einem Bürgermeisteramt, das nicht eindrucksvoller war als jedes andere Gebäude in dieser Gegend. Die vier glücklichen Paare wurden selbstverständlich nicht alle gleichzeitig getraut; dafür hätte allein der Raum im Amtszimmer des Bürgermeisters nicht gereicht. Auf jeden Fall war nicht genug Platz für alle Hochzeitsgäste, und so mußten viele sich damit begnügen, auf dem Korridor vorm Bürgermeisterzimmer zu warten, auf den ausgetretenen Treppenstufen oder gar draußen vorm Haus selbst, wo sie sich zum Fenster hineinbeugten. Selbst diese Vorzugsplätze mußten sie noch mit Schreibern, Greffiers und anderen Subalternbeamten aus den anderen Amtsstuben teilen, die alle Ärmelschoner trugen, sich verkleckste Federhalter hinters Ohr geklemmt hatten, die Hälse verrenkten und während der ganzen Feierlichkeiten beifällige Laute von sich gaben – vornehmlich dadurch, daß sie an den Zähnen saugten. Das Circusvölkchen war im Sonntagsstaat erschienen und der allein machte sie in diesem alles andere als eleganten Viertel zu einem aufsehenerregenden Haufen; manche von ihnen wären jedoch überall eine Sensation gewesen. Edge und Fitzfarris hatten Monsieur le Maire offensichtlich im voraus gewarnt, was für absonderliche Typen sich unter denen befanden, die seiner Dienste harrten, denn er schaffte es, sich keinerlei Überraschung, Erschrecken oder Nervosität anmerken zu lassen, als plötzlich die berühmte Clover-Pink-Dame und der erste Adlige des Kaiserreiches vor ihn hintraten oder als er sich einer schönen titanischen Braut gegenübersah, die einen flitzbogenhaft nach hinten durchgebogenen, nasenlosen -1556-
Bräutigam überragte oder als er entdeckte, daß die Braut womöglich noch blaublütiger war als der französische Graf oder als die Ehrenjungfer dieser Braut sich als hübsche Liliputanerin erwies, die der Braut kaum bis zum Knie reichte. Als wären dies Dinge, die ihm jeden Tag widerführen, bediente der Bürgermeister sich nur routinemäßiger dramatischer Betonungen und Gesten, als er jedem Paar den dispense de bans sowie den pacte de mariage vorlas, welcher eine automatische Einbürgerung als Französin jener Bräute nach sich zog, die französische Untertanen ehelichten, ein absolutes Scheidungsverbot und so weiter – und jedes Paar hinterher murmelte: »Ich habe verstanden«; »Ja, das werde ich« und »Ja, ich will«. Bei jeder Trauungszeremonie stand Florian als symbolischer Vater der Braut zur Seite, diente Sava als Blumenkind, das den Frischvermählten Blumen streute, und Nella als Brautjungfer bei Ioan wie Daphne bei Gavrila und Sunday bei Clover Lee. Die Bürgermeisterin erfüllte ihre Routineverpflichtungen, indem sie bei jeder Zeremonie aufs neue mütterliches Schniefen und Augentupfen zelebrierte und hinterher als Trauzeugin fungierte, welche die Heiratsurkunden mit unterschrieb – und sich dabei so teilnahmslos gab, als handelte es sich bei den Versammelten um nichts anderes denn Ziegenhirten und andere Bauerntölpel aus der Gegend oder die womöglich noch tiefer stehenden hier ansässigen Maler, Bildhauer und Poeten. Als alles erledigt war – die Heiratsurkunden unterschrieben, gestempelt und mit Wachssiegel versehen waren – und Monsieur le Maire die Bräute und Madame la Maire (mit Ausnahme Kostcheis, der sich gleich nach draußen verdrückt hatte) die Bräutigame geküßt hatten, warfen die Circusleute drinnen Reis und Konfetti und selbst die Schreiberlinge aus den Amtsstuben zerrissen Löschpapier in kleine Fetzen und streuten sie als glückverheißende Zeichen über die Frischvermählten. Als diese die Mairie verließen, wurden sie draußen nochmals von -1557-
Konfettiregen und Küssen ihrer Kollegen begrüßt. Dann stiegen die acht – selbst die völlig ungläubige Clover Lee – zur bescheidenen kleinen Kirche St-Pierre empor, die allein und verlassen über dem Kamm der Butte aufragte, um dort eine Kerze zu entzünden und ein Gebet um Segen für die Zukunft zu sprechen. Für die Kutschpferde war dieser Aufstieg zu steil, deshalb mußten Bräute und Bräutigame zu Fuß hinaufgehen, und die Prinzessin Yusupowa-Somowa mußte ihrem frisch angetrauten Gemahl den ganzen Weg über die Hand ins Kreuz legen, weil bei dieser Steigung immer Gefahr bestand, daß der rückwärts Durchgebogene hintenüberfiel. Als die Gesellschaft wieder beisammen war, brachte die Wagenkolonne sie nur ein kurzes Stück wieder den Hügel hinunter, wo sie am Moulin de la Galette hielt, der einzigen Windmühle, deren Segeltuchflügel völlig eingerollt waren und sich nicht drehten. Laut den Schriftzügen, die frisch an den Zaun und an die lehmbeworfene Wand gemalt waren, hatte der Eigentümer der Galette, »M. Debray« die Mühle in ein »Saloncabinetcafe« umgebaut, in dem alles angeboten wurde, von der Biere bis zum Siam. »Siam?« las jemand in fragendem Tonfall. »Ein Art Kegeln«, sagte Florian. »Aber wir sind nicht zum Spielen hier. Ich habe das Lokal für das Hochzeitsmahl gemietet.« So nahmen alle an den Tischen im mauerumringten Hof Platz, und Madame Debray waltete ihres Amtes in einer Küche, die einst die Mahlstube im Erdgeschoß des Mühlenturms gewesen war, während Monsieur Debray und eine Anzahl von kleinen Debrays hin und her eilten und herbeitrugen: Omelettes, Suppenterrinen, Crepinettes und Kaffee sowie heiße Schokolade, goldgrünen Muscadet-Wein und – nicht zu vergessen – die Spezialität des Hauses, Galettes. (»Da brat mir doch einer ’n Storch!« sagte Yount glücklich. »Gute alte amerikanische Maiskuchen!«) Der alte, holzverkleidete -1558-
Mühlenturm und die langen stillgelegten Flügelbalken ruckten und knarrten, als behage ihnen der Ruhestand überhaupt nicht, doch vermochten diese Geräusche der Ausgelassenheit keinen Dämpfer aufzusetzen. Zumindest der größte Teil des Geplauders klang fröhlich. Fitzfarris fuchste es immer noch, daß man die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen sollte, diese einzigartige Massenhochzeit in der Zeitung auszuschlachten, und Florian sagte nicht ohne eine gewisse Wehmut zu Clover Lee: »Ich nehme an, Comtesse, daß man unsere Vorstellungen heute auspfeifen, uns mit Obst und Gemüse bepfeffern und jedenfalls nicht mit Blumen bewerfen wird, wenn die Gaffer die pinkgekleidete Stehendreiterin nicht zu sehen bekommen, die seit Monaten die Hauptattraktion nicht nur des Circus, sondern von ganz Paris gewesen ist.« »Es ist ein schönes Gefühl, mit Gräfin angeredet zu werden – aber doch nicht von meinem Ziehvater«, sagte sie liebevoll. »Und hör auf, so zu quengeln. Du hast immer noch den besten Circus in ganz Paris. Außerdem hast du selbst gesagt, Modetorheiten kämen und gingen in Paris. Wer weiß, vielleicht ist Clover Pink während unserer dreitägigen Pause schon ganz aus der Mode gekommen.« Nach dem Essen brachten die Kutschen die gesamte Gesellschaft bis hinunter an den Fuß des Hügels und hielten in der Place Blanche nochmals an, galt es doch, sich von denen zu verabschieden, die das FLORILEGIUM verließen. Die Siebensachen der frischgebackenen Comtesse de Lareinty waren vom Kammerdiener des Grafen bereits aus ihrem Hotelzimmer und ihrer Maringotte auf dem Festplatz abgeholt und zur Gare St. Lazare geschafft worden, wo die beiden Jungvermählten noch heute den Zug besteigen wollten, der sie zu ihren Flitterwochen nach Deauville am Meer bringen sollte. Gospodin Maretic fuhr mit der frischgebackenen Gospodja nebst Gospodjica Maretic in seine Wohnung in einem ziemlich -1559-
bürgerlichen Viertel auf dem linken Seineufer, um sie daran zu gewöhnen, ehe sie mit ihren Habseligkeiten und den Hunden endgültig aus der Maringotte auszogen und zu ihm kamen. Brunhilde und Kostchei kehrten zum Festplatz zurück, um zu arbeiten wie an jedem anderen Tag auch, doch die jungvermählte Madame Delattre nahm sich noch einen Tag frei, um ihrem Pierre zu helfen, alles zu packen, was sich in seiner Spenglerei und in seiner Wohnung draußen im Stadtviertel Marais noch an Mitnehmenswertem fand. Nachdem die Droschken jener, die fortzogen, davongerollt waren, fuhren die anderen, abermals auf unterschiedlichen Wegen, in den Bois zurück. Als Florian und Edge bis zum Boulevard de Courcelles gekommen waren, liefen dort Zeitungsjungen aufgeregt hin und her, winkten mit der Zeitung und riefen lauthals: »Querelle á Prusse!« Florian ließ Snowball lange genug halten, um hinunterzulangen und eine Zeitung zu kaufen. Er überflog die Titelseite, verzog das Gesicht, reichte das Blatt weiter an Edge und sagte: »Nun, die Kaiserin hat dir gegenüber durchaus kein leeres Stroh gedroschen. Preußen hat in der Tat seinen Prinzen Leopold als neuen König von Spanien vorgeschlagen, und Frankreich schreit Zeter und Mordio, die Nominierung müsse zurückgezogen werden. Die Lage sei höchst angespannt. – Hü!« trieb er sein Pferd an. »Nous verrons.« Bei beiden Vorstellungen dieses Tages ließ der Sprechstallmeister le Demon Debonnaire seine Dressurnummern ganz besonders in die Länge ziehen, um das Fehlen der Terrierdressur auszugleichen, und Monday verlängerte ihre Hohe Schule auf Thunder, damit der Wegfall von Clover Lee nicht so auffiel. Niemand im Publikum warf mit faulen Eiern und die Blumen, die die Gaffer mitgebracht hatten, wurden jetzt Mademoiselle Papillon und Maurice LeVie zugeworfen. Zwar erkundigten sich einige Gaffer, was denn aus »la fille de rosedetrefle« geworden sei, doch niemand beschwerte sich, um -1560-
ihre Darbietung gebracht worden zu sein. Binnen weniger Tage bestätigte sich Clover Lees Meinung über die Pariser Modetorheiten und die Kleidungsstücke in Clover Pink begannen in den Auslagen der Geschäfte ebenso zu verschwinden wie bei den Frauen auf der Straße selbst. Dieser modischen Erscheinung folgte auf dem Fuße eine andere, die von der Oberschicht »l’art pugilistique« genannt wurde und von den unteren Schichten »la boxe«. Das Preisboxen, noch vor kurzem als eine der nationalen Abartigkeiten des perfiden Albion verteufelt, war jetzt Hauptgesprächsthema an jedem Tresen und Cafehaustisch. Fast jedes Theater mit Ausnahme der erhabenen Opera errichtete auf der Bühne ein durch Seile abgetrenntes Geviert, nahm Berufsboxer und Ringrichter unter Vertrag und führte die Kämpfe nach den englischen Queensberry-Regeln durch, wozu gehörten: zeitlich genau begrenzte Runden, Boxhandschuhe und das Verbot jeglichen Einsatzes von Füßen. Noch die einfachsten Tavernen und Kleinkunstbühnen rückten ihre Tische dichter zusammen und machten in der Mitte Platz für ein durch Seile abgetrenntes Kampfgeviert, das sie un ring de boxe nannten. Lastenträger von den Märkten und andere Typen von der Straße machten den Oberkörper frei und lieferten Schaukämpfe, die eine Kombination von »la boxe« und »savate« waren – Kämpfe mit bloßen Fäusten und Stiefeln mit messingverstärkter Spitze oder Holzpantinen, und das in mörderischen ›Runden‹, die nur dadurch endeten, daß einer der Kämpfenden zu Boden ging –, wobei wenn der Gegner besinnungslos am Boden lag, ein paar Franc dem Sieger als Preis winkten. In Anerkennung dieser neuesten Modetorheit ließ Sprechstallmeister Colonel Ramrod den parodistischen Preiskampf Auferstehung feiern, den die längst verblichenen Clowns Ali Baba und Zanni zum besten gegeben hatten. Die Rollen dieser beiden übertrug er jetzt Ferdi Spenz und Nella Cornelia, und die Zuschauer nahmen diese Nummer mit noch -1561-
größerer Heiterkeit auf, als das früher der Fall gewesen war; schließlich ging es jetzt darum, daß eine stramme hübsche Frau einen etwas mickerigen Mann vermöbelte, wobei der Weißclown Fünffünf wieder cholerisch und völlig wirkungslos den Ringrichter spielte. »Nein, nein, Mam’selle Emeraldina! Wer schlägt denn schon einen Mann, der am Boden liegt!« Woraufhin sie das Kesperle quer durch die Manege segeln ließ und sich dann breit grinsend ihrerseits auf den Boden legte, bis er sich wieder hochrappelte und versuchte, ihr die Demütigung heimzuzahlen – und die Gaffer auf dem Gradin hielten sich den Bauch vor Lachen. Auf den Straßen berichteten die Zeitungsverkäufer weiterhin über einen vergleichbaren Streit in der internationalen politischen Arena. »Retraite de Prusse!« lautete der jüngste Ruf, diesmal ein fröhlicher, denn Bismarck hatte sich französischem Druck gebeugt und den Hohenzollernprinzen als Kandidaten für den spanischen Thron zurückgezogen. Doch mußte sich Frankreich ganz allgemein, die Städte aber besonders, mit einer anderen Heimsuchung herumschlagen. Das Sommerwetter und die günstige Witterung sowie der blaue Himmel waren anfangs begeistert begrüßt worden. Doch die Hitze wurde von Tag zu Tag unerträglicher, bis daraus eine heiße und unbewegte Dürreperiode wurde. Begonien, Päonien und Fuchsien der Champs-Elysees welkten dahin und verloren ihre leuchtenden Farben. Die Kastanienbäume, die die Bürgersteige säumten, ließen schlaff die Blätter hängen und verzagt die Blüten herunterregnen. Edge kletterte vor jeder Nachmittagsvorstellung die Strickleiter bis zum Abgangssteg des Trapezes hinauf – seit Autumn ihm seinerzeit gezeigt hatte, wie man das machte, war er darin sehr gut – und kam eines Tages von dort oben wieder herunter und erklärte Florian, sowohl die Trapeznummer von Maurice und Sunday als auch Mondays Hochseilnummer müßten gestrichen werden. -1562-
»Sie werden uns sonst dort oben ohnmächtig«, sagte er. »Ehe diese Wahnsinnshitze nicht vergeht, Governor, laß’ ich keinen Menschen mehr in die Kuppelhöhe hinaufklettern – jedenfalls nicht während der Nachmittagsvorstellung.« »Ich werde dem Sprechstallmeister nicht widersprechen«, sagte Florian, machte jedoch ein besorgtes Gesicht. »Wir werden den Rest der Nummern noch mehr in die Länge ziehen. Doch das läßt sich nicht mit jeder machen. Dies verdammte Wetter verlangt dem armen Fräulein Aal Unmögliches ab. Ihr Klischnigg wird immer schmerzvoller für sie. Ich denke ernstlich daran, sie auf Urlaub in die Berge zu schicken. Aber dann würde der Bebenmacher bestimmt mit wollen.« Ergeben stieß er einen Seufzer aus. »Naja, doch es gibt Schlimmeres, über das wir uns Sorgen machen müssen.« Er faltete eine Ausgabe von Le Monde auseinander, die er unterm Arm getragen hatte, und ließ alle die Schlagzeile lesen: NOUVELLE DEMANDE PAK FRANCE! »Um was geht’s diesmal?« fragte Edge. »Die neueste Forderung, die Frankreich an Preußen stellt, ist eine ›Garantie‹, daß es den Prinzen Leopold nie wieder als Kandidaten für den spanischen Thron aufstellen. Zum Teufel mit alledem! Damit verlangen sie doch, daß Preußen sich erniedrigt – und das ziemlich sinnlos. Möchte mal wissen, ob es an der Hitze liegt, daß alle so gereizt sind. Oder spiegelt das Wetter nur die Tatsache, daß bei diesem Streit unter Monarchen alles am Überkochen ist?« »Himmel, ich kann dir sagen, was es ist«, sagte Edge. »Das sind alles nur die Machenschaften der Kaiserin Eugenie. Die kann einfach niemand in Ruhe lassen.« Die Sommerhitze wurde immer schlimmer, und Edge mußte zuletzt die Racklos anweisen, die Rundleinwand des Chapiteau zumindest während der Nachmittagsvorstellung hochzurollen, damit niemand von den Zuschauern ohnmächtig wurde. Wieder -1563-
ein oder zwei Tage später kam Florian von einer Fahrt in die Stadtmitte zurück und berichtete: »Das Carnavalet-Museum hat draußen ein Riesenthermometer aufgebaut, das achtunddreißig Grad Celsius anzeigt. Nach der amerikanischen Zählweise wären das genau einhundert Grad Fahrenheit. Unerträglich!« »Nun«, sagte Edge, »Maurice und Sunday und Monday werden mich dafür wohl umbringen, aber ich werde sie von jetzt an auch in der Abendvorstellung nicht mehr mitmachen lassen.« »Unerträglich ist auch, daß unser Programm so dünn geworden ist«, sagte Florian. »Wir brauchen einfach mehr Nummern. Du und Sir John, ihr beide werdet nochmals alle anderen Circusse abklappern, euch noch einmal ein Bild über das Können ihrer Leute machen und sehen, ob es sich lohnt, den einen oder anderen abzuwerben. Nummern der Pferdedressur, oder auch anderer Tiere – denkt mal ernstlich darüber nach –, bloß mit Affen kommt mir bitte nicht! Ich weigere mich nach wie vor, Affen in meinem Circus zu haben.« So machte Edge sich am nächsten Tag in der drückenden Hitze nochmals auf, dem CIRQUE DE L’EMPEREUR einen Besuch abzustatten. Unterwegs stieß er wieder auf einen Zeitungsjungen, der nur ein einziges Wort schrie: »Insulte! – Beleidigung!« Neugierig gemacht, kaufte er diesmal den Quotidien de Paris und las im Weitergehen. Er brauchte keine sonderliche Angst zu haben, mit anderen Fußgängern zusammenzurasseln, denn in dieser mörderischen Hitze waren nur wenige Menschen unterwegs. Das am fettesten gedruckte Wort auf dem Titelblatt war dasselbe, das der Junge hinausgeschrien hatte: »Insulte!« Der preußische Kanzler von Bismarck hatte der letzten französischen Forderung ein entschiedenes Nein! entgegengehalten – er werde den Franzosen nicht versprechen, den Prinzen Leopold nie wieder als Kandidaten für die -1564-
spanische Krone ins Spiel zu bringen. Und diese knallharte Weigerung der Boches, hieß es im Quotidien, sei eine Beleidigung der guten französischen Absichten, des altruistischen Wunsches Frankreichs, den Frieden zu bewahren, des französischen Stolzes, der französischen Wirtschaftsinteressen, der Ehre und der Stellung Frankreichs unter den europäischen Mächten, des Wagemutes der französischen Männer und des sanften Wesens der französischen Frauen ... Fehlen nur noch die französischen Saucen, dachte Edge, als er die Zeitung vor einem Gemüseladen in einen Abfalleimer steckte. Als Edge auf den Festplatz zurückkam, las Sunday gerade laut aus einer Zeitung vor und übersetzte für die sie umringenden Kollegen einen Leitartikel aus der heutigen Ausgabe von Le Gaulois: »... Wenn Frankreich Preußen nicht zwingt, seinen Forderungen nachzugeben, gibt es keine Frau in Europa mehr, die bereit wäre, den Arm eines Franzosen zu nehmen ...« Florian, der sich unter Sundays Zuhörern befand, blickte auf und sah Edge erwartungsvoll entgegen. »Nichts zu machen, Governor«, sagte Edge. »Im ganzen CIRQUE DE L’EMPEREUR nichts, das wir gebrauchen können.« »Offenbar kein Glückstag für uns«, sagte Florian und machte ein langes Gesicht. »Tut mir leid, aber da war ein Lakai aus den Tuilerien da. Du sollst sofort vor Seiner Majestät, Louis Napoleon, erscheinen.« »Ach, verdammt. Aber ich habe so etwas erwartet. Ich kann es mir nicht leisten, eine Vorstellung zu verpassen. Er kann warten, bis ...« »Nein, nein, mein Junge. Läßt du ihn bis morgen warten, weiß er, daß du ihn absichtlich hängen läßt. In welcher Stimmung er im Moment auch immer sein mag – besser wird sie dadurch -1565-
jedenfalls nicht. Ich werde wieder deine Aufgaben als Sprechstallmeister übernehmen, und irgendwie werden wir es schon schaffen, auch noch deine Nummer als Kunstschütze auszufüllen, falls du bis dahin nicht zurück sein solltest. Geh jetzt und sieh zu, was der Kaiser will.« »Ich weiß, was er will«, knurrte Edge. »Aber ich bin verdammt sicher, daß ich nicht in diesen Krieg ziehen werde – und wenn noch so viele französische Frauen mir ihren Arm nicht mehr reichen wollen, ich tue es nicht.«
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9 »Ah, unser zaudernder Kavalier«, sagte Louis Napoleon, als der Kammerdiener Edge ins Arbeitszimmer eintreten ließ. Außer dem Kaiser waren noch zwei Personen anwesend, Kaiserin Eugenie und zu Edges Überraschung Gaspard de Lareinty. Doch dann fiel ihm ein, daß Gaspard einer der Flügeladjutanten des Kaisers war. »Majestäten, Euer Gnaden«, sagte er und verneigte sich vor ihnen. Der Kaiser kam ohne Umschweife zur Sache. »Hätten Sie moralische Bedenken, mon colonel, über die Kriegführung auch nur zu diskutieren?« »Nein, Majestät.« »Großartig«, sagte Louis trocken. »Gaspard, die Karten, wenn ich bitten darf.« Während de Lareinty die Landkarten an verschiedenen Kartenständern entrollte, fragte Edge: »Dann gibt es also wirklich Krieg, Sire?« Noch ehe der kaiserliche Gatte antworten konnte, zischte Eugenie: »Urteilen Sie selbst. Unser Agent auf der anderen Seite der Grenze hat uns gemeldet, daß die Telegraphenleitungen in alle Himmelsrichtungen heißlaufen und die Zivilisten in Preußen sowie seine Alliierten aufgerufen werden, sich bereitzuhalten, daß die Landwehr mobil macht, die Lebensmittel für die Zivilbevölkerung rationiert werden und so weiter. Außerdem hat dieser schreckliche Bismarck vor seinem speichelleckerischen Parlament eine Rede gehalten, in der er die Franzosen als dumm und feige beleidigt hat. ¿Eh, Senor Coronel? ¿Le gusta esta mierda?« »Aber ich bitte dich, meine Liebe«, sagte Louis. »Keinen Unflat! Wir wollen uns nicht auf das Niveau dieser Barbaren begeben! Jawohl, Colonel Edge, in Anbetracht aller relevanten -1567-
Umstände habe ich König Wilhelm heute telegraphisch meine formale Kriegserklärung übermittelt.« Er seufzte. »Wenn Sie sich jetzt bitte die Karten ansehen wollen! Wie die Boches an unserer Grenze aufmarschiert und in Stellung gegangen sind, habe ich Ihnen bereits gezeigt. Gaspard, würden Sie bitte die Aufstellung unserer eigenen Streitkräfte darlegen?« Sein Offiziersstöckchen zum Zeigen nutzend, erklärte der Graf: »Zwischen Metz und der Grenze haben wir unter dem Kommando von Marechal Bazaine fünf Armeekorps stehen, und unter dem Kommando des Marechal MacMahon bei Strasbourg zwei weitere Armeekorps. Das hier sind die vordersten Stellungen unserer Artillerie, Kavallerie und Infanterie. Hier, hier und hier stehen unsere Reserveeinheiten. Jede unserer Infanteriekompanien hat übrigens ein Peleton mit schweren Waffen und jede Korporalschaft innerhalb dieses Peletons wiederum ist mit einer Montigny-Mitrailleuse bewaffnet, mit der wiederum den vorrückenden Schützen Schnellfeuerschutz gegeben werden kann.« »Irgendwelche Bemerkungen, Colonel?« fragte der Kaiser. Edge trat nahe an die Karten heran, ging von einer zur andern und studierte sie sehr genau, während die Kaiserin ungeduldig mit dem Fuß wippte und Louis sowie de Lareinty ruhig warteten. Schließlich sagte Edge: »Ich kann nur wiederholen, Majestät, daß ich kein Stratege bin; und fern sei es einem Colonel im Ruhestand, die Pläne Ihrer Feldmarschälle erraten zu wollen. Wenn es Ihnen jedoch nur um taktischen Rat geht ...« »Ich bitte darum.« »Nun, ich nehme an, daß die Preußen hoffen, ihre formidable moderne Artillerie zum Einsatz zu bringen, um Ihre Einheiten durch Trommelfeuer zu demoralisieren und zu dezimieren – und das lange, bevor Ihre Männer auch nur die Spitzen der preußischen Pickelhauben zu sehen bekommen. Deshalb ...« »So schnell sind Franzosen nicht zu demoralisieren«, fiel -1568-
Eugenie ihm schneidend ins Wort. »Außerdem haben auch wir Kanonen.« Alle drei Männer bedachten sie mit einem ärgerlichen Blick, und Edge sagte betont geduldig: »Ein Artillerieduell zwischen Vorderladern aus Bronze und den preußischen Hinterladern aus Stahl wäre für die Franzosen eine Katastrophe. Selbst wenn Ihre Kanonen dieselbe Reichweite und Zielgenauigkeit besäßen wie die der Preußen – was nicht der Fall ist –, und selbst wenn sie sich genauso schnell nachladen und wieder abfeuern ließen wie die preußischen – was nicht geht –, würden sie bald wegen Überhitzung ausfallen. Unterdessen wäre Ihre Infanterie und Kavallerie gelähmt – sie könnten durch dieses Sperrfeuer von hochexplosiven Geschossen, die von beiden Seiten abgefeuert werden, einfach nicht vorrücken. Sie würden ein unbewegliches Ziel abgeben oder – was wahrscheinlicher ist – auseinanderlaufen und versuchen, sich in Sicherheit zu bringen.« »Aber mit Artillerie allein hat man noch nie eine Schlacht gewonnen«, gab Lareinty zu bedenken. »Irgendwann müssen die Boches von ihrem Bombardement ablassen, weil sie ja selber vorrücken wollen.« »Jawohl, sobald alle Ihre Fußsoldaten auseinandergelaufen sind oder Deckung suchen, wenn die Pferde Ihrer Kavallerie in Panik geraten und sich alle Ihre Verbände auflösen«, sagte Edge. »Jawohl, wenn das der Fall ist, würden die Preußen vorrücken.« »Ah, aber wir haben die Mitrailleuses!« rief gurrend der Kaiser. »Damit können wir den Gegner so lange in Schach halten, bis wir uns gesammelt und neu formiert haben.« »Die Mitrailleusen hätten zunächst zweifellos verheerende Auswirkungen auf die gegnerische Infanterie«, sagte Edge diplomatisch. »Aber taktisch, denke ich, bewirken sie nichts. Die preußischen Soldaten werden sehr bald dahinterkommen, -1569-
daß diese Maschinengewehre nur Garben streuen können, daß man mit ihnen nicht genau zielen kann – daß man eigentlich nur von einer Zufallskugel getroffen werden kann. Dann werden sie weiter vorrücken, und zwar weit siegessicherer als selbst gegen veraltete Musketen ... mit Scharfschützen dahinter.« Zornig funkelte Eugenie ihn an. »Das ist der reinste Defätismus! Sie verunglimpfen unsere tapferen Männer und unsere hochmodernen Waffen. Das ist Aufwiegelei und Zerrüttung der Wehrkraft und ...« »Chut, madame!« sagte Louis mit einiger Schärfe. »Könnte sein, daß das, was er sagt, ganz vernünftig ist. Lassen Sie ihn bitte fortfahren! Colonel Edge, Sie haben uns unmißverständlich gesagt, was wir nicht tun können. Haben Sie irgendwelche Vorschläge, was wir tun könnten?« Edge vertiefte sich nochmals in die Karten. »Was Strasbourg betrifft, offen gestanden, keine. Dort wird es ganz darauf ankommen, ob Ihr Marschall MacMahon vorhat, über den Rhein zu setzen, ehe die Preußen das tun. Doch hier oben im Nordosten« – er zeigte auf Lothringen – »stehen Sie und die Preußen sich auf einem ziemlich ebenen Terrain gegenüber, auf dem es kein Hindernis für eine plötzliche Attacke gibt. Ich würde meinen, daß die Kruppkanonen bereits auf Ihre vordersten Linien gerichtet sind ...« Er sah zu Lareinty hinüber, der nickte und sagte: »Davon gehen auch wir aus. Und unsere Kanonen zielen selbstverständlich bereits auf ihre Stellungen.« »Dann würde ich vorschlagen, die Zieleinstellung zu ändern und vor allem die preußische Artillerie aufs Korn zu nehmen. Auch würde ich einen plötzlichen Ausfall wagen. Wenn Sie sofort Feindberührung suchen, machen Sie den Vorteil der Artillerie zunichte. Ein plötzlicher Vorstoß – Ihre Infanterie rückt direkt auf die feindlichen Linien vor, während Ihre Kavallerie auf den Flanken angreift. So schnell können die -1570-
Preußen ihre Geschütze nicht auf diese vorrollende Flut von Männern einstellen. Ihre eigene Artillerie jedoch kann sie mit Granatfeuer eindecken. Es steht zu erwarten, daß der Gegner dann seine Kavallerie vorschickt, um die Speerspitze Ihrer Infanterie stumpf zu machen. Deshalb sollten Sie dafür sorgen, daß ihre Mitrailleusen bereit sind und sich auf den Gegenangriff einstellen; zumal großen Zielen wie etwa Pferden gegenüber könnten sich die weitgestreuten Geschoßgarben der Maschinengewehre als durchaus wirkungsvoll erweisen. Während dieses Schnellfeuer die Reihen der Preußen niedermäht oder zurückwirft, kann Ihre eigene Infanterie und Kavallerie ungehindert vorrücken.« Er hielt inne und zuckte leicht verächtlich mit den Schultern. »Von da an wäre es selbstverständlich kein Kampf zwischen modernen Waffen mehr, sondern ein ganz altmodischer Kampf Mann gegen Mann.« Eugenie stieß ein mehr als leicht verächtliches Schnauben aus. »Und wie würden wir vor den Augen der Welt dastehen?« wollte sie wissen. »Die gesamte technologie de plus modernes beiseitezulassen und zu kämpfen wie die Franken im dunklen Mittelalter? Jede moderne Nation würde uns auslachen!« Edge wagte zu sagen: »Kein Mensch, Madame, hat über einen Franken namens Charlemagne gelacht.« Dann sagte er zum Kaiser: »Einem Truppenkommandeur mit der Erfahrung Ihrer Majestät brauche ich wohl kaum zu sagen, daß auf einer Karte manches leicht aussehen kann, sich aber in der Realität des Kampfes ganz anders darstellt. Vielleicht unternimmt der Gegner etwas völlig Unvorhersehbares, oder das Wetter schlägt um ... und die vielgepriesenen Mitrailleusen könnten versagen.« Der Kaiser knurrte: »Sie können es nicht lassen, immer auf derselben Sache herumzuhacken.« »Wenn jedoch«, fuhr Edge fort, »die Taktik, die ich vorgeschlagen habe, erfolgreich ist, sollte man die Stellungen der Preußen nicht nur durchbrechen, sondern gleich weiter -1571-
vorstoßen. Jedenfalls würde ich mich nicht damit aufhalten, die versprengten Preußen hinter mir zusammenzutreiben und gefangenzunehmen, oder den Soldaten Gelegenheit geben, zu plündern oder ihren Sieg zu feiern – ich würde alles daran setzen, ihre Stadt Saarbrücken einzunehmen.« Er zeigte auf die Karte. »Lassen Sie nur Ihre Artillerie auf dem Schlachtfeld zurück. Die Kanoniere sollen ihre veralteten Geschütze stehenlassen und die erbeuteten Kruppkanonen umdrehen, um die Befestigungsanlagen dieser Stadt zu bombardieren, noch bevor Ihre angreifenden Verbände sie erreicht haben.« Edge hielt inne und spreizte die Hände. »Aber solche großangelegten Strategien sind Sache Ihres Generalstabs.« Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Der Kaiser und der Graf dachten offenbar angestrengt nach, wohingegen die Kaiserin eher trotzig dreinblickte. Dann wandte Louis Napoleon sich an de Lareinty: »Qu’en pensezvous, Gaspard?« »Ce me semble pratique, Majeste.« »Aussi á moi. Reiten Sie selbst hin und sagen Sie Bazaine das. Ich möchte die Meldung nicht chiffrieren oder einem Kurier anvertrauen. Wiederholen Sie die Vorschläge des Colonejs dem Marechal gegenüber in allen Einzelheiten – aber nur als Vorschlag, bitte! Woher sie stammen, brauchen Sie nicht zu verraten. Soll Achille, wenn er möchte, denken, dies wäre die einhellige Meinung des Generalstabs. Und machen Sie ihm klar, daß es ihm freisteht, sie zu befolgen oder nicht, ganz wie er will. Aber reiten Sie sofort hin.« »Ich bin schon unterwegs, Sire!« erklärte der Graf munter. Dann verneigte er sich vor dem Kaiser und der Kaiserin und sogar vor Edge und eilte hinaus. »Verflixt!« murmelte Edge. »Und ich wollte ihn fragen, wie ihm das Eheleben gefällt.« »The marital life must take second place to the martial life«, sagte der Kaiser auf englisch selbstgefällig, als hätte er ein -1572-
allgemeingültiges Epigramm von sich gegeben. »Und jetzt, Colonel, möchte ich Sie noch einmal fragen – sind Sie noch immer nicht bereit, in französische Dienste zu treten? Um vielleicht Befehlshaber jener Kavallerie zu sein, die von Metz bis Saarbrücken vorprescht ... wozu sie, Ihrer Meinung nach, in der Lage ist.« »Das ist sie bestimmt, Majestät – und zwar auch ohne mich. Ich danke Ihnen nochmals für die unschätzbare Ehre, die Sie mir antragen, doch ich muß immer noch ablehnen. Ich bin längst zu alt für so etwas und besitze keinerlei brennenden Ehrgeiz mehr, nochmals ins Feld zu ziehen.« »Wieso denn das?« sagte Louis Napoleon. »Ich werde an die Front gehen, und ich bin bestimmt zwanzig Jahre älter als Sie. Mein Sohn wird mit mir kommen, und der ist fast dreißig Jahre jünger als ...« »Lou-Lou?« rief Eugenie entsetzt. »Du wirst doch nicht ...« »Madame!« schnitt er ihr kalt das Wort ab. »Dies mag zwar weitgehend Ihr Krieg sein, doch führen muß ich ihn. Und le Prince Imperial wird seine Feuertaufe erhalten.« »Aber er ist doch erst vierzehn! Er ist noch ein Kind!« »Könnte sein, daß dies der einzige Krieg ist, den er in seinem Leben führen wird. Jeder Mann sollte seinen Stahl zumindest durch einen Krieg härten und wetzen. Eugene Louis wird nicht der Gelegenheit beraubt werden, an diesem einen teilzunehmen.« »Es ist schon heller Wahn, daß Sie daran denken mitzumachen: Ein alter, kränklicher Mann, der schwergepeinigt herumschlurft. Was können Sie schon ausrichten ...« »Ich danke Ihnen für Ihre Fürsorglichkeit als Ehefrau, Madame!« »Aber warum den Jungen! Denken Sie an die Nachfolge, Louis! Wenn ihm was zustößt ...« -1573-
»Das wird nicht geschehen – es sei denn, auch mir stößt etwas zu. In welchem Fall meiner Meinung nach Prinz Plon-Plon per Akklamation Kaiser wird.« »Großer Gott!« »Und in welchem Fall Sie, Madame, Ihre Tage als Kaiserinwitwe beenden, bewundert und verehrt von allen, weil Sie Ihre beiden Männer dazu bewegen konnten, aus tiefer Liebe zu Ihnen in einem Krieg zu fallen, den Sie unbedingt haben wollten. Reden wir nicht mehr davon. Wir bringen einen nichtsahnenden Zeugen in Verlegenheit, wenn wir weiter schmutzige Familienwäsche waschen.« Der Verweis war überflüssig; Eugenie war vor Wut puterrot angelaufen, und es hatte ihr die Sprache verschlagen. Louis Napoleon wandte sich wieder Edge zu. »Als ich Sie heute rufen ließ, mon colonel, war ich entschlossen, Druck auf Sie auszuüben. Ich hätte Sie vor die Wahl stellen können: entweder, Sie nehmen ein Offizierspatent an, oder Sie werden für die Dauer des Krieges interniert. Oder ich hätte Chantage anwenden und drohen können, gegen Ihre fragwürdigen Kollegen vorzugehen. Außerdem hätten Sie als in Frankreich ansässiger Ausländer in Kriegszeiten zum einfachen Wehrdienst einberufen werden können – noch schlimmer, ich hätte Sie in ein Strafbataillon stecken können. Doch ich werde nichts dergleichen tun.« »Dafür bin ich Ihnen dankbar, Majestät, aber auch neugierig. Warum werden Sie das nicht tun?« »Zum Teil deshalb, weil Sie aufbauende Kritik geübt und mir möglicherweise einen wertvollen Rat gegeben haben. Gewinnen wir den Krieg, s’il plait á Dieu, werden Sie für uns gekämpft haben, als hätten Sie persönlich auf dem Schlachtfeld gestanden. Verlieren wir ihn jedoch, á Dieu ne plaise, werde ich schwerlich Ihnen die Schuld dafür geben, geschweige, Sie dafür bestrafen können. Außerdem ist dieser Krieg – und daran werde ich von -1574-
der zänkischen Sorge meiner Frau um die Dynastie immer wieder erinnert – weitgehend eine Familienangelegenheit. Ich habe kein Recht, einen Fremden gegen seinen Willen hineinzuziehen. Gehen Sie also in Frieden, mon colonel; mögen Sie mehr Frieden genießen, als ich ihn je erlebt habe!« Auf dem Rückweg zum Bois erlebte Edge, wie die Straßen, obwohl die Nacht nur wenig Abkühlung gebracht hatte, voll von Menschen waren. Erregt debattierten sie miteinander, Zeitungsjungen liefen zwischen ihnen hin und her, wedelten mit ihren Zeitungen in der Luft umher und brüllten lauter denn je: »Guerre!« – »La Guerre Declaree!« Edge machte sich nicht die Mühe, eines der Blätter zu kaufen, doch auf dem Festplatz schien jeder – Gaffer wie Artisten gleichermaßen – Zeitung zu lesen; denn er war gerade während der Pause zurückgekommen. Florian war ausgesprochen erleichtert, als er hörte, daß sein Sprechstallmeister vom Militärdienst befreit sei. Er zeigte auf die Schlagzeilen und meinte: »Nicht nur ist Louis Napoleon gegen den guten Rat von jedem, angefangen beim Zaren bis hinunter zu unserem, von Eugenie gedrängt und aufgestachelt worden, in diesen Krieg zu ziehen; es ist auch noch so, daß er – und nicht König Wilhelm – den Krieg erklärt hat. Falls Frankreich unterliegt, wird die Schuld daran ausschließlich Louis zugeschoben werden – genauso, wie Zar Alexander befürchtet hat.« »Na, jedenfalls liegt die Schuld zur Abwechslung nicht bei mir. Ich werde mich damit begnügen, auf Kürbisse und Unterteller und dergleichen zu ballern. Ich will gleich mein Kostüm anziehen, damit ich noch heute abend damit anfangen kann.« Zehn Tage nach der Kriegserklärung zog Seine Majestät, Kaiser Louis Napoleon, seine Galauniform an – und Seine Kaiserliche Hoheit, Prinz Eugene Louis, eine Miniaturausgabe derselben –, und die beiden bestiegen den Zug nach Metz, wo der Kaiser persönlich das Kommando an der immer noch -1575-
ruhigen nordöstlichen Front übernehmen sollte. Damit seine Abreise ohne Pomp und öffentliche Teilnahme vonstatten ging, ließ Louis Napoleon seinen Privatzug im Bahnhof von St.-Cloud halten und bestieg ihn dort. Infolgedessen hatten die meisten Pariser keine Ahnung von seiner Abreise, bis die Abendzeitungen verkündeten, Kaiserin Eugenie werde während der Abwesenheit Seiner Majestät Regentin von Frankreich sein und der Abgeordnete Emile Ollivier während dieser Zeit als Premierminister die Regierungsgeschäfte übernehmen. Viele Franzosen murrten darüber – daß die nominelle Gewalt einer Frau übertragen worden war und die Zügel der Regierung in den Händen des nicht von allen geliebten Olliviers lagen –, doch die meisten fühlten sich eher angerührt von den Abschiedsworten, die Eugenie den Zeitungen zufolge zu ihrem Sohn gesagt haben soll: »Tu deine Pflicht, Lou-Lou!« Noch am selben Tag fuhr eine geschlossene Clarence aus Mahagoni mit vier zueinander passenden Braunen davor auf den Festplatz des FLORILEGIUM. Die Wagenschläge schmückte das Wappen der de Lareinty, und der Lakai half einer hinreißend in Seidenroben und Spitzen von Worth gekleideten, blonden jungen Frau beim Aussteigen. »Clover Lee!« Einige begrüßten die junge Frau mit einem erfreuten »Clover Lee!«, während andere dagegen sich – wenn auch von einem Ohr bis zum anderen grinsend – verneigten oder einen Knicks machten und sie mit einem süffisanten »Euer Gnaden« empfingen. Dann jedoch erstaunte die junge Frau die ehemaligen Kollegen, von ihrem Kutscher und Lakaien ganz zu schweigen. Als hätte sie durch die Hitzeperiode den Verstand verloren, begann Clover Lee, sich auf der Stelle zu entkleiden und jedes Kleidungsstück, dessen sie sich entledigte, in den Kutschwagen zu werfen. Nachdem sie sich des letzten Obergewands entledigt hatte, stand sie im Goldglitzer ihres fleischfarbenen Kostüms da – einem ihrer alten Oberteile aus der Zeit vor dem Clover Pink -1576-
und einem dazu passenden Trikot. Schließlich schleuderte sie auch noch ihre extrem spitzen Schuhe aus Dongolaleder von den Füßen, sprach ein paar Worte mit dem Lakaien, und während der Vierspänner mit ihren Kleidern davonrollte, tanzte sie barfuß auf Florian zu. Bewundernd sagte dieser: »Madame la Comtesse, Sie haben nicht vergessen, wie man einen hinreißenden Auftritt inszeniert.« Sie sagte: »Teufel, dahin geht die Gräfin« mit wedelnder Hand zeigte sie auf das elegante Gefährt. »Im Moment bin ich wieder die einfache Clover Lee. Ich würde wieder gern arbeiten – eine Zeitlang, wenigstens. Solange Gaspard fort ist.« »Selbstverständlich bist du hier willkommen, mehr als willkommen, das weißt du ja. Aber willst du das auch wirklich? Ich weiß, der Graf ist aus beruflichen Gründen abwesend, aber was ist mit seiner Familie? Werden die nicht ... na ja ...« »Empört sein?« sagte Clover Lee munter. »Daß Edith de Lareinty ihre Reize öffentlich zur Schau stellt? Nun, das wären sie vermutlich – doch bis jetzt wissen sie weder von einer Edith noch von einer Clover Lee. Gaspard und ich waren noch in Deauville, als der Kaiser ihn nach Paris zurückrief. Daher habe ich bis jetzt noch niemanden aus der Sippe kennengelernt, nicht einmal meine Schwiegermutter. Schließlich kann ich nicht einfach hinfahren, mich vorstellen und ihnen sagen, allein die Daumen zu drehen, langweilte mich. Bis sie wissen, wer ich bin, und von mir erwarten, daß ich mich benehme wie eine richtige Gräfin, nun ... ach, was soll’s? Warum soll ich nicht machen, was ich möchte, und mich amüsieren?« »Ich wäre der letzte, dir davon abraten zu wollen. Unsere Truppe ist ziemlich zusammengeschrumpft und selbst die hungrigsten engagementlosen Artisten werden einen Teufel tun, vor dem Kriegsende nach Westeuropa zu kommen. Von der heutigen Abendvorstellung an gehörst du wieder zum Circus. -1577-
Frage Colonel Ramrod, wo er deine Nummer einfügen will. Und falls du irgendwelche Kostümwünsche hast – wende dich an Madame Delattre. Ich selbst werde das Hotel inzwischen bitten, ein Zimmer für dich freizuhalten; und heute abend werden wir deine Rückkehr feiern.« Clover Lee wurde von allen Circusangehörigen, die ihr Eintreffen nicht miterlebt hatten, überschwenglich begrüßt und selbst Bubbles wieherte vor Begeisterung. Gleich danach wurde sie von ihren weiblichen Kollegen entführt – außer Hörweite der Männer –, die sie kichernd ausfragten, wie es denn sei, mit einem Grafen verheiratet zu sein, wie es ihr in Deauville gefallen habe, wie man sich denn vorkomme, wenn man von Worth eingekleidet werde etc. etc ... Nachdem sich die Neugierde etwas gelegt hatte, nahm Monday Simms Clover Lee beiseite – außer Hörweite der anderen Frauen –, um ihr eine Frage von so intimer Natur zu stellen, daß sie nicht recht wußte, wie sie eigentlich fragen sollte. »Hat dein Mann ...? Du weißt schon, als du un’ er ...? Ich mein’, war er wütend, daß du keine ...« »Daß ich keine Jungfrau mehr war?« sagte Clover Lee lachend. »Aber Mädchen, natürlich habe ich vorher dafür gesorgt, daß er es nicht merkt.« »Hastu? Aber wie! Du machst mir doch nix vor, oder?« »Nicht im geringsten. Vor langer Zeit, nach meinem allerersten Mann – das war noch in Italien –, hat mir die gute alte Maggie Hag gesagt, wie ich mich für die Hochzeitsnacht zu präparieren hätte.« »Wastu nich’ sagst! Tu mir’n Gefall’n un’ sag mir, wie. Da is’ zwar kein Gatte nich’ in Sich’, aber für alle Fälle. Ich bin da unt’n ausgeleiert, wie Mammy gews’n sein muß, nachdem sie uns drei kleine Niggerlein auf einmal rausgepreßt hat!« »Einverstanden.« Clover Lee sah sich verschwörerisch um. »Nun, als erstes gehst du los, und kaufst dir Rasierzeug eines -1578-
Mannes. Als ob du’s einem Mann schenken würdest, aber das nur, damit der Verkäufer nicht weiß, wozu du’s wirklich brauchst. Dann wirfst du alles weg, was da drin ist – Pinsel, Rasiermesser, Seife, alles – bis auf den Blutstiller oder Alaunstift, wie er manchmal genannt wird. Wenn es dann soweit ist ...« Während Clover Lee die Stimme senkte, gingen Mondays Augenbrauen in die Höhe. »Unser Kaiser übernimmt in Metz das Kommando«, übersetzte Sunday ein paar Tage später einer Gruppe von Circus-Leuten aus Le Siecle. »Er befiehlt, sofort weiter vorzustoßen auf ... Terre-Sarre? Was ist das?« »Auf deutsch heißt das Saarland«, sagte Jörg Pfeifer. »Auf der anderen Seite der lothringischen Grenze.« »Naja, so jedenfalls lauten die Überschriften«, sagte Sunday und wandte sich dem eigentlichen Artikel zu. »Zweiter August. Blitztelegramm unseres unerschrockenen Kriegskorrespondenten von der Front. Nach dem brillant entscheidenden Befehl Seiner Majestät, Kaiser Louis Napoleon, hat das gewaltige Zweite Französische Armeekorps heute unter dem Kommando des stets zupackenden Generals Frossard und an den Flanken unterstützt von Teilen des tapferen Dritten und Fünften Armeekorps damit begonnen, vom Departement Moselle aus unerbittlich bis ins gegnerische Territorium von Terre-Sarre vorzustoßen, wo die den Verteidigungsring bildenden Artilleriestellungen der Zweiten Preußischen Armee überrollt wurden und ihre Reiterschwadronen und Infanteriebataillone sich in heilloser Flucht befinden ... Puh! Und das alles ein Satz.« »Ich fress’n Besen!« murmelte Edge. »Sie tun’s!« Alle wandten sich ihm zu, woraufhin er überstürzt hinzufügte: »Falls man einem Zeitungsbericht glauben darf.« Bei diesem konnte man das offensichtlich. Wiewohl es erst Mittwoch war, wurde ganz Paris vom triumphierenden -1579-
Glockengeläut einer jeden Kirche in der Stadt geweckt. Menschenmassen strömten auf die Straße, um den Zeitungsjungen die noch druckfeuchten Blätter aus der Hand zureißen. »Grande victoire!« brüllten die Jungen begeistert, und »Prussienne defaite!« Die Balkenüberschriften lauteten unterschiedlich: CAPITALE DE TERRESARRE SAISIE! und: C’EST Á NOUS, LA CITE SAARBRÜCKEN! Den darunterstehenden Berichten konnte man die Einzelheiten entnehmen. Die Preußen waren so überstürzt und in heilloser Flucht davongerannt, daß ihre Pioniere noch nicht einmal Zeit gefunden hatten, die Brücken über die Saar zu sprengen. Die tapferen Franzosen waren geradenwegs in die Stadt Saarbrücken einmarschiert und hatten sowohl die eigentliche Stadt als auch den Hauptvorort von St. Johann nunmehr fest in der Hand. Außerdem – so urteilten die unerschrockenen Korrespondenten mehrerer Zeitungen, wobei einer wie der andere das Wort ›unerbittlich‹ benutzten – solle der vernichtende Vorstoß der Franzosen von dort weitergehen bis zur nächsten größeren Stadt, Kaiserslautern »dans le cceur du pays des boches«. Als hätte das stürmische Glockengeläut einen lange schlafenden Wettergott geweckt, wurde die erbarmungslose Hitze, die die Stadt seit über einem Monat im Würgegriff gehabt hatte, endlich gebrochen. Ein plötzlich sich erhebender Ostwind ließ Abfälle und Zeitungen, Hüte und lockere Dachschindeln durch die Straßen wirbeln und sorgte dafür, daß plötzlich Leben in die Racklos des FLORILEGIUM kam und sie sich beeilten, die fünf Zelte mit zusätzlichen Absegelungen zu verankern. Der Wind trieb vom östlichen Horizont Wolken herüber, die sich dort aufgetürmt hatten und jetzt den ausgebleichten Himmel füllten. Sobald diese Wolken die Stadt bedeckten, kam es zu sintflutartigen Regenfällen. Wieder liefen die Böhmen herzu, diesmal, um sämtliche Absegelungen zu straffen, als die ausgedörrte Leinwand sich mit Wasser vollsaugte und die Bahnen anfingen durchzuhängen. -1580-
Doch statt daß der Wolkenbruch der Begeisterung der Pariser einen Dämpfer aufsetzte, sahen diese darin nur einen weiteren Anlaß zum Jubel. Sie eilten weiterhin hinaus auf die Boulevards, klopften sich gegenseitig auf die Schulter, spendierten sich ein Glas Wein und marschierten in Gruppen herum, die ›Partant pour la Syrie‹ grölten und Fähnchen in den Farben des Kaiserreichs schwenkten, wobei diese freilich ziemlich schlaff herunterhingen. Längst vor Vorstellungsbeginn war das Chapiteau des FLORILEGIUM voll, und viele, die Karten haben wollten, mußten fortgeschickt werden. Die Abgewiesenen zuckten nur fröhlich mit den Achseln, stapften durch den Regen und suchten andere Circusse oder Theater oder Cafes auf oder verzogen sich einfach in die billigen Kneipen und Spelunken, um sich zu betrinken, denn an diesem Tage feierte ganz Paris. »Na, offensichtlich haben sie einen Grund zum Feiern«, sagte Edge. »Der alte Louis Napoleon scheint den Krieg gut im Griff zu haben.« »Und solange er sich da gut macht, wird ganz Frankreich ihn in den Himmel heben«, sagte Florian. »Aber nur genau so lange, wie er das tut. Die Franzosen sind berühmt für ihren Wankelmut und ihre Unbeständigkeit. Sie sind aufbrausend und nicht besonders loyal. Sobald ihre Armeen einen Rückschlag erleiden, oder der Kaiser die Lage verkennt, wird das Volk genauso laut nach seinem Fell schreien – oder seinen Kopf fordern. Aber ich will nicht pessimistisch sein.« Doch der nächste Tag brachte ein böses Erwachen. Die Zeitungen, die den Einmarsch der Franzosen im Saarland mit Worten wie ›unerhört‹ und ›unaufhaltsam‹ gefeiert hatten, spielten in den Morgenblättern des Donnerstag vorsichtig auf ›Schwierigkeiten‹ und ›impechements‹ oder Fehlverhalten an. Der Regen, der so beglückend über Paris niedergegangen war und immer noch fiel, fiel – freilich weniger beglückend – auch auf der Walstatt. Infolgedessen hatten sich die Straßen, über die die Franzosen nach Saarbrücken vorgerückt waren, und die -1581-
Straßen, die nach allen Richtungen aus dieser Stadt hinausführten, in einen Morast verwandelt, und es war weniger so, daß die Franzosen die Stadt besetzt hielten, als daß sie darin festsaßen. In den Nachmittagsausgaben des Donnerstags sangen die Zeitungen nicht mehr das Lob der französischen Armee, ihrer Offiziere und ihres kaiserlichen Oberkommandierenden, sondern warfen mit Worten wie »inefficacite« und »defaut de prevoyance« um sich. Wie sich jetzt herausstellte, war die französische Invasion allzu gut verlaufen, bedauerlicherweise freilich ohne hinreichende Planung, um nach erfolgreichem Abschluß auch durch den Nachschub abgesichert zu werden. Die kämpfenden Einheiten waren ihrem Commissaire, dem Proviantmeister und den Nachschubkolonnen weit vorausgeeilt, und diese Wagenkolonnen, die kilometerweit hinter der kämpfenden Truppe zurücklagen, saßen bis zum Bauch der Pferde und den Radachsen im aufgewühlten Straßenschlamm fest. Die siegreichen Soldaten konnten sich und ihre Pferde dadurch ernähren, daß sie die benötigten Dinge bei der Zivilbevölkerung konfiszierten, doch was die Munition für ihre Waffen betraf, so war das schwieriger. Allmählich sickerte durch, daß die Franzosen während ihres Vorstoßes verschwenderisch mit Blei und Pulver umgegangen waren. Insbesondere die vielgerühmten Montigny-Mitrailleusen, so wußten die Korrespondenten zu berichten, hatten Unmengen an Munition verbraucht. So saßen die Besetzer in Saarbrücken nicht nur fest, sondern hatten überdies auch nicht die Munition, um ihre Stellung dort verteidigen zu können. Immer noch füllten Menschenmassen die Pariser Straßen, um den Zeitungsjungen jede neue Ausgabe sofort bei Erscheinen aus den Händen zu reißen – nur das Liedergegröle und das Fähnchenschwenken hatte aufgehört. Statt dessen hörte man immer häufiger, wie darüber gemurrt wurde, daß es anmaßend vom Kaiser gewesen sei, den Generalen das Kommando -1582-
abgenommen zu haben, die vielleicht wußten, wie man einen Krieg führte – wovon Louis Napoleon nachweislich nichts verstand. »Was hab’ ich dir gesagt?« wandte Florian sich an Edge. »Und was hätte ich ihm sagen sollen?« fragte Edge, wiewohl vornehmlich für sich selbst bestimmt. »Und lassen Sie sich niemals von Ihrem Nachschub abschneiden, Majestät? Himmel, das weiß doch jeder frischgebackene Leutnant!« Freitag morgen hatte der Regen aufgehört, die Sonne ging über einem erfrischend kühlen Tag auf, die Stadt war blitzblank saubergewaschen, und die Blütenfülle auf den Champs-Elysees bot sich in neuer Farbenpracht dar. Doch die Menschen machten noch immer finstere Gesichter, denn die Nachrichten an diesem Vormittag waren alles andere als erfreulich. Die Zeitungen berichteten, auch an der Front im Osten habe der Regen aufgehört und wären die Straßen hinreichend getrocknet, so daß die Truppen sich wieder in Bewegung setzen könnten. Leider stoße ein ausgeruhtes preußisches Heer, das Erste Armeekorps, von einem Ort namens Merzig aus nach Süden vor und werde Saarbrücken erreichen, bevor irgendwelche französischen Verstärkungen oder Versorgungskolonnen in der Stadt eintreffen könnten. Infolgedessen seien die Besetzer der Stadt von einem Augenblick auf den anderen wieder ausgerückt, um nicht eingeschlossen zu werden – sie zögen sich auf dem Weg, den sie gekommen wären, über die Grenze hinweg wieder auf ihre Stellungen vor Metz zurück. Diese Meldung war an sich schon schlimm genug, doch enthüllten die Zeitungen an diesem Nachmittag – im Ton unmißverständlicher Verachtung, voller Hohn und unter Zuhilfenahme vieler Ausrufungszeichen –, die Franzosen hätten Saarbrücken so überstürzt verlassen, daß auch ihre Pioniere sträflich versäumt hätten, die Brücken hinter sich zu sprengen. »O verflucht!« stöhnte Edge. »Dann können die Preußen einfach wieder einziehen, ohne sich auch nur die Stiefel naß zu -1583-
machen. Du kannst Gift drauf nehmen, daß sie sich diese Stadt nicht noch einmal durch ein Überraschungsmanöver wegnehmen lassen. Was die Franzosen damit erreicht haben, ist nur, daß der Gegner jetzt um so mehr auf der Hut ist. Da hätte der Kaiser besser daran getan, seine Männer in der Garnison exerzieren zu lassen. Oder diese verdammten Mitrailleusen auseinanderzunehmen und Bajonette draus zu machen.« Doch die Nachmittagsblätter von Sonntag, dem sechsten August, brachten bessere Neuigkeiten aus einem anderen Teil Frankreichs, und diese waren dazu angetan, die Pariser wieder aufzuheitern und sie vergessen zu lassen, was an günstigen Gelegenheiten im Saarland verspielt worden war. »Autre bataille, autre victoire!« schrien die Zeitungsverkäufer, und die Leute rissen ihnen die Blätter aus der Hand. Die neue Schlacht war von zwei Verbänden von Verbündeten der Preußen entfacht worden, dem Fünften und Elften Bayerischen Armeekorps, die schon tags zuvor über den Nordabschnitt der elsässischen Grenze hinweggestürmt waren, doch hatte Marechal MacMahon sein französisches Erstes Armeekorps bereits in Stellung gebracht, um sie aufzuhalten; außerdem eile das Siebte Armeekorps zur Verstärkung von Colmar heran. Laut den letzten telegraphisch übermittelten Communiques der unerschrockenen Zeitungskorrespondenten schlachteten die Franzosen die bayerischen Boches zu Tausenden ab. Und wieder marschierte die Pariser Bevölkerung grüppchenweise durch die Straßen und sang und tanzte; Hunderte von ihnen feierten die ganze Nacht hindurch. Dabei wußte die französische Regierung ebenso wie die Zeitungsredaktionen, daß diese ersten Berichte aus dem Elsaß irgendwie verstümmelt übermittelt und falsch gedeutet worden waren und die Feiernden auf der Straße in Wirklichkeit eine danse macabre aufführten. Premierminister Ollivier und die verschiedenen Zeitungsredaktionen hatten später Telegramme erhalten, in denen die vorherigen richtiggestellt bzw. ihnen -1584-
regelrecht widersprochen wurde – doch solche hochgestellten Persönlichkeiten waren nicht allzusehr darauf erpicht einzugestehen, daß die ungestüme Verkündung eines großen Sieges übereilt und ein schrecklicher Fehler gewesen war. Erst mit den Frühausgaben der Sonntagszeitungen erfuhr Paris die Wahrheit: Es waren die Bayern, die die Franzosen vernichtet hatten. Von den siebenunddreißigtausend Mann, die Marechal MacMahon im Elsaß in die Schlacht geworfen hatte, waren an diesem Tag zwanzigtausend gefallen. Schlimmer noch, als MacMahon in seiner Verzweiflung das Fünfte Armeekorps des Generals de Failly zur Verstärkung angefordert hatte, war dieses bei seiner Ankunft zu dem Schluß gekommen, es könne doch nichts mehr machen, und hatte sich zurückgezogen, ohne auch nur einen einzigen Schuß abzufeuern. Das gesamte Fünfte Armeekorps sowie die aufgeriebenen Reste des Ersten und Siebten Armeekorps befanden sich im Moment auf heilloser Flucht nach Westen, die Dritte Armee der Boches setzte ihnen nach, und nichts könnte sie mehr davon abhalten, die Mosel zu erreichen. Auf diese Meldungen hätten die Pariser auf ganz unterschiedliche Weise reagieren können – voll stolzer Trauer um diejenigen, die tapfer kämpfend gefallen waren, voller Verachtung und Scham um jene, die das Hasenpanier ergriffen hatten, oder auch voller Besorgnis um das Schicksal der anderen französischen, um Metz herum stationierten Armeen, die jetzt Gefahr liefen, von dem auf die weiter südlich gelegene Mosel zustoßenden Gegner in die Zange genommen zu werden. Die Pariser jedoch entschieden sich, voller Zorn auf die Täuschung durch die Regierung zu reagieren, die die Katastrophe geheimgehalten hatte, solange es ging. Vor dem Hótel de Ville versammelte sich ein wütender Mob, der sich auch nicht auflöste, nachdem er seinen Gefühlen Luft gemacht hatte, sondern immer größer, lauter und häßlicher wurde, je mehr Menschen sich ihm anschlossen. Ehe dieser -1585-
Sonntag vorüber war, wurden Verlautbarungen gedruckt und an jedem öffentlichen Platz angeschlagen; die Zeitungen brachten Sonderausgaben heraus. Emile Ollivier war als Premier- und Kriegsminister zurückgetreten, und Ihre Majestät, die Regentin, hatte den Comte de Palikao zu seinem Nachfolger ernannt. Ollivier war nichts weiter als Anwalt und Politiker gewesen. Der alte Graf hingegen war ein vieldekorierter Haudegen, der als ehemaliger Kavalleriegeneral großen Respekt genoß. Der Mob, der vor dem Hótel de Ville beratschlagte, kam zu dem Schluß, daß die Regierung wieder in starken und redlichen Händen liege, löste sich ruhig auf, und alle gingen nach Hause.
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10 Für die nächste Woche etwa konnten weder die Pariser Zeitungen noch die Regierung mehr als vage Bulletins über den Fortgang des Krieges veröffentlichen. Das lag weder an so etwas wie Scheu oder Doppelzüngigkeit seitens der Behörden, sondern einfach daran, daß die Kämpfe an vorderster Front, Vorstöße, Rückzüge, Vor- und Rückmärsche derart hin- und herwogten, sich mit einer solchen Schnelligkeit vollzogen und in ihr Gegenteil umschlugen und oft ein solches Durcheinander schufen, daß es die Korrespondenten verwirrte und selbst die Verbindungsoffiziere der französischen Armee nicht immer mitkamen. Marschall MacMahon zog sich immer weiter nach Westen zurück, sammelte unterwegs seine arg mitgenommenen und verstreuten drei Armeekorps, mußte sich aber trotzdem häufig auch mit Rückzugsgefechten gegen das ihn verfolgende Dritte Armeekorps der Boches zur Wehr setzen. Dieses Dritte Armeekorps jedoch schien ihn mühelos vor sich herzutreiben und es sich sogar leisten zu können, einen nicht unbeträchtlichen Teil seiner Verbände abzukommandieren, um die elsässische Hauptstadt Strasbourg zu belagern. Louis Napoleon instruierte MacMahon daher, sich hundertsechzig Kilometer nach Westen zurückzuziehen, bis nach Chälons an der Marne; der Kaiser selbst, der Kronprinz und ihr Gefolge bestiegen den Zug, um dort zu ihm zu stoßen. Die offizielle Erklärung dafür lautete dahingehend, daß Louis Napoleon und MacMahon gemeinsam die Kampfkraft der durch die Niederlage und den Rückzug geschwächten Verbände bündeln, stärken und mit neuem Leben erfüllen wollten. Unter den Parisern jedoch machte eine ganz andere Geschichte die Runde, die höheren Orts in die Welt gesetzt worden war: Daß nämlich der Kaiser in Wirklichkeit die Armee und seine eigene Person hatte heimbringen wollen bis nach Paris und von diesem Vorhaben nur durch ein Telegramm -1587-
der Kaiserin Eugenie abgehalten worden war, in dem sie ihm streng befahl, ein Mann zu sein und den näherrückenden Boches irgendwo vor seiner Hauptstadt die Stirn zu bieten. Der Marechal Bazaine schien unterdessen, nachdem er Saarbrücken fast genommen hatte, nicht recht zu wissen, was er mit seinen fünf Armeekorps machen sollte und verharrte in der Gegend von Metz, während König Wilhelm und General von Moltke auf dem anderen Saarufer ihre Truppen zusammenzogen. Der fünfzehnte August, ein Montag, hätte der größte sommerliche Festtag in Frankreich sein sollen – die Feiern zur Erinnerung an die Geburt des großen Napoleon. Wie in jedem Jahr, war auch diesmal alles vorbereitet, um die Ville Lumiere mit einer runden Million zusätzlicher Gaslampen an Häuserfassaden, Standbildern und Denkmälern noch strahlender zu machen, als sie es sonst schon war – zwölftausend solcher Lampen sollten allein die Umrisse des Are de Triomphe nachzeichnen. An quer über die Avenuen gespannten Seilen hingen riesige dunkelgrüne Banner mit dem schön gestickten großen N, Adlern mit ausgebreiteten Schwingen und goldenen Bienen darauf. Kapellen, Orchester und Chöre hatten geübt und standen bereit, Straßenverkäufer hatten sich mit allen möglichen Waren eingedeckt, von Blumen und Süßigkeiten bis zu billigen Zweispitzhüten á la Napoleon, und die Cafes hatten womöglich noch mehr Tischchen und Stühle auf den Bürgersteig hinausgestellt. »Während der Fete Nationale«, hatte Florian seinen Leuten erklärt – zu denen auch der Neuling Delattre gehörte, der, wenn es auf dem Festplatz nichts zu spenglern gab, den Kartenverkauf im Roten Wagen übernommen hatte –, »spielen alle Theater, Kleinkunstbühnen und ähnliche Unternehmen traditionellerweise gratis. Wir werden uns dieser Sitte an beiden Tagen mit beiden Vorstellungen anschließen.« Unseligerweise brachten die Frühausgaben der Zeitungen am -1588-
Morgen des fünfzehnten August wieder schlechte Nachrichten. Diesmal hatten die Korrespondenten von der Front im Nordosten zur Abwechslung einmal einen ausführlichen Bericht über die jüngste Schlacht – und Frankreichs jüngste Demütigung – geschickt. Der Marechal Bazaine war im Verlauf eines (neuerlichen) Stellungswechsels seiner fünf Armeekorps über eine Hügelkuppe hinweg unversehens von der zweiten Preußischen Armee angegriffen worden. Die Kämpfe waren heftig gewesen, und die Franzosen hatten »sich bewährt«, so daß die Verluste des Gegners etwa den eigenen gleich gewesen seien: beide Seiten hätten Verluste von jeweils viertausend Gefallenen oder Verwundeten zu beklagen. Gleichwohl hätten die Franzosen, als die hereinfallende Dunkelheit ihnen das erlaubte, die Gelegenheit ergriffen, sich den Kämpfen zu entziehen und zu fliehen, um unter dem Schirm der schweren Geschütze der Festung Metz Schutz zu suchen. Premierminister de Palikao kam durchaus zu Recht zu dem Schluß, daß es unpassend wäre, wenn Paris gleichzeitig den Geburtstag des großen Napoleon und die Nachricht eines neuerlichen französischen Rückzugs feiere und hatte angeordnet, die Festbeleuchtung der Hauptstadt nicht anzuschalten, und seine Mitbürger ersucht, sich bei dieser fragwürdigen Gelegenheit jeglicher ausgelassenen Festlichkeiten zu enthalten. So zogen die Menschen nicht jubelnd durch die Straßen, aber zu Hause blieben sie auch nicht. Mehrere tausend Pariser gingen auf die Avenues und Boulevards und vereinigten sich zu etwas, das verdächtig nicht nach einer spontanen, sondern zuvor abgesprochenen Demonstration aussah – sie schwenkten nämlich nicht die Trikolore, sondern die rote Fahne der Revolution, sangen die ›Marseillaise‹ und skandierten kaiserfeindliche Parolen. »Was geht da vor?« fragte Yount, als er das sah. »Das müssen wohl die Pariser Kommunarden sein«, sagte Florian. -1589-
»Und was, zum Teufel, sind Kommunarden?« Daphne lachte und zitierte: »Was ist ein Kommunarde? Einer, der sich danach sehnt...« Yount verstand nicht, woraufhin sie erklärte: »Ein Engländer hat sie vor langer Zeit mal in Knittelversen beschrieben. Die kann ich heute noch auswendig: Was ist ein Kommunarde? Einer, der sich danach sehnt, – Ungleichen Verdienst zu gleichen Teilen aufzuteilen..» Ob nun Faulpelz, Nichtskönner oder beides, jedenfalls ist er bereit, Seinen Penny rauszurücken und dafür deinen Schilling einzusacken, Auch Florian mußte lachen, und da Yount immer noch nicht zu verstehen schien, erklärte er: »Die Kommunarden sind die Extremisten unter den vielen, die möchten, daß Frankreich wieder eine Republik wird. Die Republikaner ganz allgemein möchten sämtliche Titel und Privilegien der Herrscherfamilie sowie des höheren und niederen Adels abschaffen. Die Kommunarden bestehen darauf, nicht nur die Stände abzuschaffen, sondern überhaupt alle anderen Unterschiede – Reichtum, gesellschaftliche Stellung und so weiter. Keiner sollte reicher sein als irgendein anderer und ein Fischhändler aus den halles genauso geachtet sein wie ein Professor von der Sorbonne.« »Wäre das denn so schlecht?« fragte Yount. »Daran wäre nichts weiter auszusetzen, wenn alle das wollten. Aber die Kommunarden sind nun mal genauso wie religiöse Fanatiker felsenfest davon überzeugt, die Wahrheit gepachtet zu haben, so daß sie Ungläubige nicht dulden. Hätten sie die Gelegenheit dazu, würden die Kommunarden jedermann ihre Art von Verheißenem Land aufzwingen – und zwar nicht durch Überzeugung oder freie Wahlen, sondern durch Gewalt. Ich persönlich würde eine Hölle, die ich mir aussuchen kann, einem Himmel vorziehen, in den ich zwangsweise hinein muß.« An diesem Tag zeigten die marschierenden Massen sich nicht gewalttätig. Nachdem sie es schließlich müde geworden waren -1590-
umherzustapfen, die roten Fahnen zu schwenken und laut hinauszuschreien, was sie vom Kaiser, der Kaiserin und der ganzen ständischen Gesellschaft hielten – zu der praktisch alle anderen in Paris gehörten –, verzogen sie sich in die Cafes, Theater und Circusse und genossen die Gratisunterhaltung, die ihnen dort geboten wurde. Immerhin schien Premierminister de Palikao diese versteckte Bedrohung durch die Kommunarden durchaus ernstgenommen zu haben. Am nächsten Tag klebten überall in der Stadt Plakate, auf denen stand, daß der französische Premierminister nach telegraphischer Konsultation mit Seiner Majestät einen Militärgouverneur für die Stadt Paris ernenne, der für die Dauer des Krieges für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung und das Wohlergehen der Bevölkerung verantwortlich sei. Die Pariser murrten wie immer, doch konnten sich nicht einmal die Kommunarden allzusehr beschweren, denn bei dem Mann, der hier zum Gouverneur ernannt wurde, handelte es sich um General Louis Trochu, der weithin als ein liberaler Mann galt. Dann trafen noch beunruhigendere Nachrichten von der Front im Nordosten ein. Marschall Bazaine, der soviel Zeit damit vergeudet hatte, seine Truppen in und um Metz herum unentschlossen von einer Stellung in die andere zu schicken, hatte sich endlich zu einer Entscheidung durchgerungen. Da nunmehr die gesamte Zweite Preußische Armee vor Metz stehe, habe er beschlossen, abzurücken und nur eine ausreichende Besatzung in den Befestigungsanlagen der Stadt zurückzulassen. Der überwiegende Teil seiner Streitmacht solle sich in Chälons mit den Verbänden des Kaisers und des Marechal MacMahon vereinigen; dort sollten die vereinten Heersäulen sich nach Norden und Süden auseinanderziehen und einem weiteren preußischen Vordringen eine unüberwindliche Schlachtlinie entgegenstellen. Doch die Preußen hatten den Abzug von Metz vorausgesehen. Als französische Truppen am 16. August die Straße nach -1591-
Westen entlangmarschierten, wobei zwei ihrer Kavalleriedivisionen die Spitze des Verbandes bildeten, waren sie erst sechzehn Kilometer vorgerückt, als sie auf die gegnerische Kavallerie stießen – und zwar auf gleichfalls zweiDivisionen. Kavallerie griff Kavallerie an – das heißt: zweitausend Reiter gegen zweitausend Reiter. Die Schlacht wühlte eine so gewaltige Staubwolke auf, daß hüben wie drüben alles durcheinander geriet: Da schlugen zwei Berittene mit ihrem Säbel aufeinander ein, bis einer zu Tode getroffen vom Pferd sank, während um sie herum Scharen anderer Reiter in dieser und jener Richtung durcheinanderritten und nach einer gegnerischen Einheit Ausschau hielten, um sie anzugreifen, wobei es mehrmals vorkam, daß sie um ein Haar Gruppen ihrer eigenen Seite angegriffen hätten. Sowohl die französischen als auch die preußischen Kommandeure beeilten sich unterdessen, jeden verfügbaren Infanteristen und Artilleristen in den Kampf zu werfen, den sie auftreiben konnten. Zwischen neun Uhr morgens und sieben Uhr abends wurde die verbissenste Schlacht des ganzen Krieges ausgetragen, wobei auf preußischer Seite schließlich siebenundvierzigtausend Schützen, achttausend Berittene und über zweihundert Geschütze gegen dreiundachtzigtausend französische Schützen, achttausend Berittene und vierhundert Kanonen sowie vierundzwanzig Mitrailleusen im Einsatz waren. Sowohl was die Zahl der Schützen als auch der schweren Geschütze betrifft, waren die Preußen unterlegen, doch wurde dieser Mangel durch das schnellere und zielgenauere Feuer ihrer Zündnadelgewehre wettgemacht. Als die Schlacht in Staub, Pulverdampf und zunehmender Dunkelheit zu Ende ging, hätte man es einen französischen Sieg nennen können, denn die zahlenmäßig unterlegenen Preußen ließen aus reiner Erschöpfung vom Kämpfen ab, wohingegen die Franzosen noch genug Energie besaßen, sich zu bewegen. Doch der einzige Schritt, den sie unternahmen, war neuerlicher -1592-
Rückzug – zehn Kilometer zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie bewältigten eine langgezogene Hügelkette, und erst als diese zwischen ihnen und dem Gegner lag, legten auch sie sich in dem dahintergelegenen Tal zur Ruhe. Immerhin waren sie so Hals über Kopf zurückgegangen, daß alle Einheiten durcheinander geraten waren und sich miteinander vermischt hatten; in der Dunkelheit war es unmöglich, die ursprüngliche Ordnung der Verbände wiederherzustellen. Selbst als ihre Offiziere Feldwachen aufstellten, die das Auftauchen der Boches melden sollten, waren diese Offiziere dermaßen desorientiert, daß viele von ihnen ihre Wachen nach Norden und Osten aufzupassen anwiesen, obwohl sie die gesamte Streitmacht des Gegners im Westen und Süden hinter sich gelassen hatten. Diese traurigen Nachrichten brachten die Kommunarden wieder auf die Straße; diesmal schlossen sich ihnen auch sonst besonnenere Bürger an. Horden von Männern und Frauen wälzten sich durch die gesamte Innenstadt, drängten sich vorm Hótel de Ville und machten ihrer Empörung über den Kaiser, seine Marschälle und andere Offiziere ebenso Luft wie über das schmachvolle Abschneiden ihrer eigenen Söhne und Männer auf dem Schlachtfeld, die sie vor noch nicht einem Monat mit Gesang und Hochrufen in den Krieg verabschiedet hatten. Auf diese geballte Ladung von Kritik und Verunglimpfung reagierten der Premierminister de Palikao und Gouverneur Trochu damit, daß sie Plakate mit unwirksamen Durchhalteparolen und Bitten um Geduld ankleben ließen. Insgeheim waren sie bereits mit ganz anderen Maßnahmen beschäftigt. Zu denen, die das als erste registrierten, gehörte Dai Goesle. Er hatte einen Spaziergang durch den Bois de Boulogne gemacht, kam dann aber eiligst zurück auf den Festplatz und berichtete Florian: »Einen Augenblick habe ich geradezu gedacht, wir kriegten Konkurrenz, Governor. Eine Wildwest-Show! Beim heiligen -1593-
Dafydd! Komm und sieh dir’s an!« Etliche andere folgten ihnen, und tatsächlich, auf der anderen Seite des Sees waren rauhgekleidete Männer zu Pferde dabei, eine Viehherde auf die Rasenflächen des Bois zu treiben. Doch waren es viel zu viele Tiere für einen Circus, und hinter den Rindern kamen auch noch ganze Herden von Schafen, auch sie von Berittenen mit Hunden herbeigetrieben. Sie alle kamen die nördlichen Parkwege herunter und waren offensichtlich über das weniger dicht besiedelte, Puteaux genannte Stadtgebiet hierher getrieben worden, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Florian überlegte, was dieses ungewohnte Bild zu bedeuten haben mochte, und sagte: »Sieht ganz danach aus, als ob General Trochu die Vorräte der Stadt aufstockt, um sie unabhängig von der Versorgung von außerhalb zu machen, für den Fall, daß die Preußen bis hierher vorstoßen. Und vielleicht hat er gute Gründe anzunehmen, daß sie das sogar schaffen.« Mit einem Ruck fuhr er zu Hannibal Tyree herum und sagte: »Abdullah, nimm dieses Geld. Und schnapp dir Böhmen und Wagen. Fahrt zu les Halles und kauft von unseren üblichen Lieferanten soviel Hafer und Heu, wie ihr kriegen könnt, und Fleischabfall für die Raubkatzen, nicht nur frisches, sondern auch getrocknetes oder geräuchertes. Solches Futter wird bestimmt bald knapp werden, fahr deshalb sofort los.« Hannibal nahm viele Francs mit und kehrte mit reichlichen Vorräten zurück, berichtete jedoch, er hätte alles Geld ausgegeben. »Die Futtermittelhändler ha’m schon die Preise hochgesetzt, Sahib.« »Das war nicht anders zu erwarten«, sagte Monsieur Nadar, als er Florian im Kontorwagen einen Besuch abstattete. »Die Preise werden sogar noch weiter in die Höhe gehen. Einem Franzosen ist jedes Mittel recht, seine Kunden zu schröpfen, vor allem dann, wenn es sich um Ausländer handelt – aber auch seine französischen Landsleute.« Gleichmütig setzte er dann -1594-
noch hinzu: »Sie können sich drauf verlassen: Wenn die Boches Frankreich nicht zugrunde richten, tun es die Franzosen.« Binnen weniger Stunden wußte ganz Paris über den Viehauftrieb Bescheid, gab Trochu jede Heimlichtuerei auf, und die Viehhirten trieben ihre Tiere geradenwegs über die Boulevards von Paris und über die Seine-Brücken, um auch noch die Weidemöglichkeiten des auf dem linken Seineufer gelegenen Jardin du Luxembourg zu nutzen. Inzwischen zog halb Paris los, um sich mit Lebensmitteln, Kleidung, Wein, Lampenöl und trotz der Tatsache, daß es Mitte August war, sogar Zudecken für den Winter und Kohle einzudecken. Selbstverständlich hatten die Käufer Läden und Verkaufsstände noch gar nicht erreicht, da hatten die Verkäufer bereits ihre üblichen Preisschilder entfernt und die Waren mit halsabschneiderischen Preisen ausgezeichnet; die besten und auch sonst nur schwer erhältlichen Waren hatten sie für sich selbst oder für ganz besondere Kunden beiseitegelegt. Die Schlange stehenden Käufer schrien Zeter und Mordio und verfluchten die Verkäufer, nahmen jedoch, was sie bekommen konnten – wobei es häufig zu Rangeleien um ein begehrtes letztes Stück auf dem Regal kam –, und sie zahlten die verlangten Preise. Am nächsten Tag hatten alle, die überhaupt etwas zu verkaufen hatten, vom Kommis im vornehmen Printemps bis zum letzten Straßenhändler mit einer Schiebkarre, sämtliehe Preise nochmals erhöht, was bedeutete, daß man von Habsucht zu Raffgier übergegangen war. Das stachelte die Kommunarden neuerlich dazu an, ihr Kriegsgeschrei auszustoßen. Als sie jetzt durch die Straßen der Innenstadt zogen, wechselten ihre düsteren Drohungen gegen den Kaiser und seine Speichellecker ab mit Verwünschungen der »hartherzigen kapitalistischen Bourgeoisie!«, und es dauerte nicht lange, da hatten sie auch das noch ausgeweitet und brüllten, die raffgierigen Händler müßten samt und sonders »dreckige Youpins« sein, ein Schrei, der selbst von der -1595-
verteufelten Bourgeoisie übernommen wurde. Man grölte es auf der Straße, und in moderaterer Form konnte man es selbst an den Tischen der Cafehäuser von vorgeblich vernünftigen Gemäßigten und unverbesserlichen Kaisertreuen bis zu leidenschaftlich antikommunardisch eingestellten Konservativen hören: »á bas les youpins!« »So ist’s richtig, die Schuld immer nur den Jidden, den Itzigs und Abrahams in die Schuhe schieben!« empörte sich Nadar. »Egal, ob die Barbaren vor der Tür stehen, das kümmert doch die Franzosen nicht! So unanständig die Franzosen sich auch gegenseitig behandeln, eine Entschuldigung dafür finden sie immer! Einfach, indem sie die Youpins zum Sündenbock stempeln!« »So ist das schon immer gewesen, Monsieur«, erklärte Maurice LeVie müde. »Und nicht nur in Frankreich – leider!« Von Stund an ließ sich ein als solcher erkennbarer Jude nur noch selten auf der Straße blicken. Die Cafes in der Rue Cadet, früher für die Pariser Diamantenhändler geselliger Treffpunkt wie auch der Ort, an dem Geschäfte abgeschlossen wurden, hatten plötzlich keine Kundschaft mehr. Jacques Offenbach verließ Paris, reiste überstürzt nach Italien ab und fiel damit einer doppelten Verdammnis durch die Franzosen anheim: zum einen, weil er in der Stunde der Not die Stadt verlassen hatte, und zum anderen, weil er darin bisher gewissermaßen zum Inventar gehört hatte. Die Pariser, die so lange Zeit hindurch den Mann und seine Musik bejubelt hatten, benutzten plötzlich verächtlich den Namen von ihm, mit dem er geboren war: Jacob Eberst, und erinnerten sich plötzlich daran, daß sein Vater nicht nur Jude gewesen war, sondern Kantor in der Synagoge, und zwar einer Kölner und mithin preußischen Synagoge. Militärgouverneur Trochu mußte schließlich der Aufgebrachtheit über diesen einen Juden Rechnung tragen und tat das, indem er ein Aufführungsverbot über alle seine Werke verhängte, unter dem Vorwand, Offenbachs leichtfertige -1596-
Operetten hätten »die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit von der Wirklichkeit abgelenkt«. Sich mit der Wirklichkeit abzugeben, war unangenehm. Inzwischen waren wieder mehrere Schlachten geschlagen worden, vor den Toren von Metz, bei Colombey-Nouilly, Mars la-Tour und Vionville sowie Gravelotte und Saint-Privat, und alle hatten sie mit katastrophalen Niederlagen für die Franzosen geendet. Marschall Bazaine hatte sich – mit Ausnahme der zahllosen Toten, Verwundeten und in Gefangenschaft Geratenen – in die Stadt Metz geflüchtet. Die siegreichen Preußen hatten die Stadt frohgemut eingeschlossen und versuchten erst gar nicht, sie einzunehmen, sondern hielten die französischen Truppen darin eingeschlossen wie in einer Flasche. Metz zu belagern, kostete die Preußen nicht besonders viele von ihren Soldaten; dem Rest ihrer Streitkräfte stand es jetzt frei, ungehindert durch die französischen Herzlande weiter vorzustoßen, was zu tun sie sich augenblicklich anschickten. Diese Nachricht rief in Paris die bisher schlimmste Panik hervor und hatte Aufruhr, Tumulte und Wutausbrüche zur Folge. Zu dem Mob, der randalierend durch die Straßen zog, gehörten selbstverständlich auch die Kommunarden, aber auch desillusionierte, verängstigte und erzürnte Bürger jeder Klasse, jeden Alters und Geschlechts, jeden Berufs und jeder politischen Ausrichtung. Sie rissen die Fahnen mit den goldenen Bienen herunter, meißelten die hübschen steinernen Ns weg, welche die öffentlichen Gebäude und Denkmäler zierten, und warfen die Fenster des Hótel de Ville sowie der Gebäude ein, in denen weniger wichtige Ministerien untergebracht waren. Die Zeitungen wiederholten die jüngsten und sardonischsten Verdammungen Louis Napoleons: »Erst hat der Kaiser die Regierung in Paris im Stich gelassen und dann in Metz die Armee! Jetzt ist erstere geschwächt und letztere verloren!« Die Ärmeren unter dem randalierenden Mob machten ihrer Wut über noch etwas anderes Luft: Die Preise für alles, was in -1597-
Paris für Geld zu haben war, hatten inzwischen so schwindelnde Höhen erreicht, daß nur noch die Reichen es sich leisten konnten, sich satt zu essen und anständig zu kleiden. Der Militärgouverneur hatte die Stadt mit vierzigtausend Rindern und zweihunderttausend Schafen im Bois und im Jardin du Luxembourg vor jeder Not retten wollen; hinzu kam, daß die Lagerhäuser mit Mehl, Kohle und Munition bis unters Dach gefüllt waren. Warum, so wollten die Leute wissen, sorgte der Gouverneur jetzt nicht dafür, daß diese Grundnahrungsmittel unter die Familien aufgeteilt wurden, die es sich nicht leisten konnten, so etwas zu kaufen? Trochus Reaktion auf dieses Ansinnen sollte nicht hinausposaunt werden, wurde jedoch zufällig von einigen mit angehört und machte sofort in ganz Paris die Runde. »Diese verdammten unbotmäßigen Städter! Ach, was gäbe ich um ein paar gute, gehorsame Bauern, die nicht lesen und nicht schreiben können!« Das einzige, was er unternahm, war, die Notvorräte zu sichern, indem er jede Herde und jedes Lagerhaus rund um die Uhr von einer Kette von Schildwachen bewachen ließ. Um das zu tun, mußte er die Bürgerwehr – oder das, was höhnisch »la Garde Sedentaire« genannt wurde, die Garde, die nur auf dem Hosenboden hockt mobil machen, Männer zwischen einunddreißig und sechzig, zu alt für den regulären Militärdienst, doch unter Kriegsrecht sehr wohl aushebbar. Die meisten der zur Verfügung stehenden Männer waren den Sechzig näher als den Dreißig und meldeten sich nur widerwillig zum Dienst, wobei ihr Sold aus nicht mehr denn einer Flasche Wein und dreißig Sous pro Tag bestand. Doch nachdem sie mit Hilfe ihrer Uniform zur Respektsperson geworden waren, standen sie eifrig Wache und trugen Waffen, so daß der Pöbel keinen Versuch unternahm, Rinder oder Schafe fortzutreiben. Während die Massen laut schreiend marschierten und aufrührerische, zornige Revolutionsparolen an die Wände der Regierungsgebäude pinselten, vollzog sich auf den Straßen noch -1598-
ein anderer, stillerer und weniger auffälliger Verkehr: Der Adel und das reiche Bürgertum trafen auf ihre Art Vorbereitungen gegen etwaige Not. Die reichen Männer trugen ihr Vermögen in französischen Franken zu den jüdischen Diamantenhändlern und Geldwechslern – die zwar untergetaucht waren, aber ohne große Mühe ausfindig gemacht werden konnten – und tauschten die Banknoten entweder in die leicht zu verbergenden und bei sich zu tragenden Diamanten oder gegen ausländisches Geld ein (preußisches eingeschlossen), was beides nicht den erwarteten Kursschwankungen unterlag. Reiche Frauen trugen ihren Schmuck, die Pelze und Kunstgegenstände zu den städtischen Montsde-Piete. Diese Leihhäuser, bisher darauf spezialisiert, den Armen für ihre versetzten Habseligkeiten – von billigen dünnen Eheringen bis zu Matratzen – ein paar lumpige Francs, wo nicht gar nur elende Sous zu geben, sahen sich nun genötigt, gegen notwendigerweise ansehnliche Summen echte Wertgegenstände als Pfand anzunehmen. Dabei ging es den Frauen weniger um das Geld, das ihnen ausbezahlt wurde, als vielmehr darum, ihre Wertsachen gleichsam unter staatlichen Schutz zu stellen, bis die Zeit der Gefahren vorüber war und die Sachen eingelöst werden konnten. Nur nahmen so viele die Montsde-Piete in Anspruch, daß die Regierungsgelder – ursprünglich gedacht, den Armen in der Not zu helfen – rasch dahinschmolzen. Gouverneur Trochu mußte anordnen, daß die Leihhäuser fürderhin keinen Gegenstand mehr annahmen, dessen Wert fünfzig Francs überstieg. Jetzt murrten nicht nur die Armen über die Einschränkungen, die Trochus Kriegsrecht mit sich brachte, sondern auch die Oberschicht. Die Unterschicht überhäufte ihn mit Unflat; die gebildeteren Schichten nannten ihn fortan Gouverneur Trop Chu. Sunday Simms war nicht wenig stolz darauf, wie fließend französisch sie inzwischen sprach, gestand jedoch ihrem alten Lehrer, Jules Rouleau, die tiefere Bedeutung dieses Beinamens begreife sie nicht. -1599-
»Aha!« sagte Rouleau. »Ich habe dir ja immer gesagt, du sollst besonders die unregelmäßigen Verben lernen. Chu lautet das Partizip Perfekt von choir, was soviel bedeutet wie ›fallen‹, ›unterliegen‹.« »Ja, und? Dann hieße Trop Chu wohl ›Gouverneur TiefGefallen‹, oder?« »Nun, drück’s etwas volkstümlicher aus: ›Gouverneur Unschlüssig‹, ›Nachgiebigkeit‹ oder ›Der unter Druck klein beigibt‹.« Während sie noch redeten, kam mühselig am Stock und einen Arm in einer Schlinge ein junger Mann in Capitaine-Uniform über den Festplatz auf sie zugehumpelt. Verblüfft sah er sich um und wandte sich dann an Sunday und Rouleau, ob es hier wohl eine Comtesse de Lareinty gebe. »Warten Sie einen Moment, Capitaine«, sagte Sunday, damit er nicht bis hinters Chapiteau zu humpeln brauchte. »Ich hole sie schnell.« Als die beiden jungen Frauen erschienen, bedeutete Rouleau, der sich mit dem Besucher unterhalten hatte, Sunday per Kopfrucken, sie solle mitkommen und Clover Lee allein mit ihm lassen. »Madame ... Euer Gnaden ...«, sagte der junge Offizier mit verständlichem Zögern, richtete er seine Worte doch offenbar an eine nur mit dem Allernötigsten bekleidete Gräfin, wobei dieses Allernötigste vornehmlich aus Flitterkram bestand. »Sie ... Sie sind Edith de Lareinty? Gaspard hat oft damit dicke getan, er habe eine wunderschöne Circusartistin geheiratet, doch haben wir ihm nie recht geglaubt.« »Das hätten Sie ruhig tun können«, sagte Clover Lee strahlend. »Er hat es tatsächlich getan. Und ich bin diese Edith, die er geheiratet hat.« »Je, nun. Ich wurde als Invalide nach Hause geschickt, verstehen Sie«, sagte der Capitaine immer noch zögernd. »Und -1600-
bekam den Auftrag, Ihnen etwas von ihm auszurichten.« »O Gott! Ich meine ... tut mir leid, daß Sie verwundet wurden. Aber wie geht es meinem Gaspard? Ihm ist doch hoffentlich nichts zugestoßen?« Der Captain schluckte und sagte: »Ihm wird nie wieder etwas zustoßen können, Euer Gnaden.« Clover Lee wollte lächeln, dann blinzelte sie und bewegte mehrere Male die Lippen, ehe sie herausbrachte: »Er ist ...? Soll das heißen, daß er ...?« »Er ruht nun in dem wohlverdienten Biwak des Soldaten. Wir haben ihn in Chálonssur-Marne zur letzten Ruhe gebettet.« Clover Lees Augen füllten sich. »Wie ... wie hat das geschehen können? Ich dachte immer, ein Flügeladjutant tue Dienst in einem Hauptquartier, und das befinde sich stets sicher hinter der Front, wie die Generale und der Kaiser.« »Sie müssen verstehen, Euer Gnaden, daß Gaspard letzthin Augen und Arme und Beine für Seine Majestät hat sein müssen. Dem Kaiser machen seine inneren Organe dermaßen zu schaffen, daß er jetzt nicht einmal ein Pferd mehr besteigen kann. Deshalb mußte Gaspard sämtliche Aufgaben eines Verbindungsoffiziers übernehmen, was bedeutet, daß er sogar sehr oft an der vordersten Front und allen Gefahren ausgesetzt war, die damit verbunden sind. Es war die Kugel eines Heckenschützen, die ihn fällte. Ich bedaure, daß ich Ihnen so traurige Nachricht über ...« »Nein, nein. Es war gut von Ihnen zu kommen«, sagte Clover Lee, und die Augen liefen ihr über. Mit dem Handrücken wischte sie sich das Gesicht ab. »Ich ... ich danke Ihnen, Capitaine.« Der junge Offizier warf einen flehentlichen Blick in Richtung auf die etwas weiter entfernt stehenden Rouleau und Sunday, woraufhin diese rasch herbeieilten. Als Sunday den Arm um sie legte, um sie davonzuführen, damit sie sich allein ihrem Schmerz überlassen konnte, versuchte Clover Lee noch durch -1601-
ihre Tränen hindurch zu lachen und sagte mit gebrochener Stimme: »Ich weiß noch ... wie Gaspard einmal scherzte: Ich und fallen? Verwundet werden oder in Gefangenschaft geraten? Niemals! Ich bin Franzose, ich werde einfach weglaufen ...« »Bitte, Monsieur«, sagte der Capitaine, als er und Rouleau allein waren. »Der Graf hat noch lange genug gelebt, um dies hier zu diktieren und zu unterschreiben.« Er suchte linkisch mit der stockbewehrten Hand in der Tasche seines Uniformrocks und zog dann einen versiegelten Umschlag hervor. »Würden Sie dies bitte Madame la Veuve de Lareinty aushändigen, wenn sie etwas gefaßter ist?« »Warum bleiben Sie nicht und sehen sich als unser Gast unsere Vorstellung an, mon Capitaine? Dann können Sie die Gräfin selbst bewundern und ihr den Brief hinterher persönlich übergeben.« »Aber Monsieur, sie wird doch nicht etwa ...« »Bleiben Sie und überzeugen Sie sich. Der Graf hat nicht gekniffen. Sie wird das auch nicht tun.« Selbstverständlich drückte sie sich nicht, sondern legte eine makellose Leistung hin; ihrem Lächeln und ihrer Lebhaftigkeit war nichts anzumerken, und ihr Pferd Bubbles sowie ihren Baldachin aus Tauben hatte sie jederzeit unter Kontrolle. Nachdem sie sich verneigt und Rouleau ihn in den Sattelgang gebracht hatte, konnte sie den Capitaine sogar tapfer anlächeln. Der junge Offizier reichte ihr die letzte Nachricht ihres gefallenen Gatten und sagte: »Es war herrlich, Ihr Können zu erleben, chere Madame. Kein Wunder, daß der Graf verzaubert von Ihnen war. Eine köstliche Darbietung, etwas, wovon ich den Kameraden unbedingt erzählen muß – Gaspards und meinen –, wenn ich wieder zurückkehre in den Dienst. Falls ich das tue. Und sofern sie dann noch am Leben sind.« Clover Lee wartete bis zum Vorstellungsschluß und ging dann -1602-
mit dem Brief zu Florian im Roten Wagen. »Ich kann zwar die Unterschrift des armen Gaspard lesen, obwohl sie ziemlich krakelig ist. Aber mit meinem Französisch ist nicht viel Staat zu machen – doch das gilt auch für die Handschrift, wer immer dies für ihn geschrieben hat. Ich wollte dies weder Sunday noch Jules zeigen; könnte ja sein, daß er wirklich nur für mich bestimmt und sehr gefühlvoll ist. Wäre das der Fall, würden Sunday oder Jules nur anfangen zu heulen. Würdest du ihn mir bitte vorlesen?« Florian überflog die beiden Seiten und sagte dann: »Eine weibliche Handschrift. Offenbar hat er ihn einer Krankenschwester diktiert, und die stand vermutlich unter Druck und mußte schnell schreiben. Daher die krakelige Schrift. Aber Intimes steht nichts darin, meine Liebe; es ist alles sehr sachlich.« Clover Lee sah ein wenig niedergeschlagen aus, als sie das hörte. »Vergiß nicht, der Mann lag im ... ihm blieb nicht viel Zeit. Deshalb beschränkte er sich auf das Notwendige, und selbst das muß ihn noch heldenhafte Überwindung gekostet haben. Gewiß hätte er noch ein paar zärtliche Worte angefügt, wenn ihm das möglich gewesen wäre.« »Ach, das ist schon in Ordnung«, sagte Clover Lee mit belegter Stimme. »Schließlich waren wir nicht lange genug zusammen, als daß er ... was ich sagen wollte, ist: Es war keine große Leidenschaft. Es tut mir leid, daß er ums Leben kommen mußte, aber ich empfinde keinen wirklich großen Verlust.« »Nun, wo er nicht mehr ist, wird dir gar nichts anderes übrig bleiben, als dich dem Rest der Familie von dir aus vorzustellen und ...« »Und zur Beglaubigung meine Heiratsurkunde vorweisen? Wozu sollte das gut sein? Ich wäre trotzdem eine Fremde für sie, ein Eindringling. Außerdem wird Gaspards Tod sie ohnehin tief treffen. Ich möchte den Schock nicht noch vergrößern, indem ich ihnen eröffne, daß er ihnen eine Circusreiterin als -1603-
Witwe hinterlassen hat.« »Deine Haltung ist sehr nobel. Aber du hast noch nicht einmal gefragt, was in diesem Brief nun drinsteht. Nichts Gefühlsseliges, gewiß, aber sehr viel, das von einem hohen Maß an Generosität zeugt. Der Brief enthält eine bewundernswert genaue Aufstellung seiner Besitztümer, Liegenschaften und Anrechte.« »O Gott, ich möchte doch wegen seiner Anteile am Familienvermögen keine Scherereien haben! Nein, ich hatte den Spaß, für eine kurze Spanne Zeit Gräfin zu sein; das habe ich genossen und mich darin gesonnt. Damit kann ich zu Recht behaupten, erreicht zu haben, was ich mir vor langer Zeit vorgenommen hatte. Jetzt werde ich einfach fortfahren, die zu sein, die ich wirklich bin. Das zu tun, was ich am besten kann, und was mir am meisten Spaß macht.« »Deswegen bleibst du aber doch die Comtesse de Lareinty und hast ein Anrecht auf alles, das mit diesem Rang verbunden ist. Du kannst ohne weiteres auf Gaspards Anteil am Familienerbe verzichten und brauchst trotzdem nie im Leben wieder einen Finger krumm zu machen. Er war bereits im Besitz eines nicht geringen eigenen Vermögens – das von seinen Großeltern mütterlicherseits an ihn gefallen ist. Und mit diesem Briefe vermacht er all dies dir. Defacto handelt es sich um ein handschriftliches Testament, das seitens seiner Blutsverwandten nicht anzufechten ist.« »Oh!« »Interessiert es dich nicht? Hier werden Bankkonten aufgezählt, Investitionen, Einkommen von verschiedenen Pächtern, ein Cháteau in Puyde-Dome ...« »Wenn das die Runde machte, würden alle titeltragenden Habenichtse des gesamten französischen Adels herbeieilen, um die Witwe zu trösten wie die Stechmücken. Im übrigen, so wie dieser Krieg verläuft, wird wohl alles verloren sein, was -1604-
Gaspard jemals besessen hat. Bitte, Florian, laß uns diesen Brief einfach geheim halten – es sei denn, ich hätte irgendwann Grund, Gebrauch davon zu machen. Bis dahin bleibe ich weiterhin Clover Lee, Kunstreiterin.« Lange, liebevoll und bewundernd sah Florian sie an. »Ich weiß noch, wie du als kleines schlaksiges Mädchen warst – wie ein neugeborenes Füllen – und genauso ausgelassen und munter. Du bist gereift, bist zu einer sehr vernünftigen jungen Frau herangewachsen. Die ein Adelsprädikat mehr verdient als so manche Aristokratin, die ich gekannt habe. Ich würde rückhaltlos stolz und froh darüber sein, nur ...« »Nur was? Möchtest du mich wieder munter und ausgelassen und töricht?« »Oh, nein, nein.« Er seufzte. »Es ist nur so, daß durch dein Erwachsenwerden ich daran erinnert werde, daß ich alt geworden bin.« Wieder gerieten die Kriegsnachrichten, die in Paris veröffentlicht wurden, nur skizzenhaft, als der Kaiser und Marechal MacMahon ihre Armee aus Chälons hinausführten, um den in Metz eingeschlossenen Bazaine zu entsetzen – und dann kam es derart Schlag auf Schlag, daß die Korrespondenten kaum Schritt damit halten und unterwegs Gelegenheit finden konnten, ihre Berichte telegraphisch zu übermitteln. Doch die knappen Bulletins, die in der Hauptstadt eintrafen, waren entmutigend. Die französische Armee brachte nur zwei Drittel der Strecke zwischen Chälons und Metz hinter sich, da wurde ihr der Weg abgeschnitten. Die einzige größere Stadt auf der Strecke war Verdun, das die Armee als Sammelpunkt am Ufer der Maas hatte benutzen wollen. Doch die vorausgerittenen Kundschafter der Kavallerie mußten melden, daß Verdun bereits vom Feind umzingelt war und belagert wurde; daß der Rest der preußischen Streitkräfte an Verdun vorbei weiter vorstieß und jetzt bereits ein ganzes Stück westlich der Stadt stand. MacMahon ließ also alle Hoffnung fahren, Metz zu entsetzen -1605-
oder Hilfe von ihm zu bekommen. Es blieb nichts anderes übrig, als ein Ablenkungsmanöver zu unternehmen: die Franzosen wandten sich der Maas entlang nach Norden und ließen es absichtlich zu Scharmützeln mit den Preußen kommen, um auch diese zu bewegen, sich nach Norden zu wenden und ihnen zu folgen – was sie zumindest zeitweilig davon abbringen mußte, geradenwegs in westlicher Richtung auf Paris zuzumarschieren. In den Berichten, die die Pariser Zeitungen erreichten, erwiesen die Korrespondenten sich, was sonst überhaupt nicht ihre Art war, respektvoll in ihren Kommentaren über die Befehlshaber dieser einzigen französischen Armee, die noch im Feld stand. Das Wenige, das getan werden könne, so die Reporter, werde tapfer von MacMahon getan. Der Kaiser, so hieß es, leide offensichtlich schreckliche innere Schmerzen, die daher rührten, daß er ständig unterwegs sei; gleichwohl harre er standhaft bei seinen Truppen aus; nie komme ein Wort der Klage über seine Lippen. Nicht einmal dieser Hauch von Lob wurde Louis Napoleon in seiner Hauptstadt zuteil. Proteste und Demonstrationen in Paris gingen ungeschwächt weiter. Auf Häuserwänden tauchten boshafte Karikaturen des Kaisers ebenso auf wie ins Lächerliche gezogene Darstellungen des napoleonischen Adlers, der einen blutüberströmten Soldaten in den Fängen hielt und die Unterschrift trug: ›Le dernier vol de l’aigle‹. Dabei handelte es sich um ein ziemlich geistreiches Wortspiel, wie Pemjean erklärte, als er und etliche andere Circusleute auf eines dieser Adlerbilder stießen; denn dernier könne ebensowohl ›letzter‹ wie ›verrucht‹ heißen; vol bedeute eigentlich ›Flug‹, im Straßenjargon jedoch auch ›Diebstahl‹. Während die aufgebrachten Menschenmassen die Regierungsbehörden des Hótel de Ville und des Palais Bourbon nach wie vor mit Steinen und Unrat bewarfen, suchten sie zum erstenmal auch die Tuilerien heim, drängten so nahe an das Schloß heran, wie die Wachmannschaften es zuließen, und schrien der »spanischen -1606-
Inquisitorin« dabei Schmähungen zu – jener Frau, die ganz Frankreich – und das war nun keineswegs vollständig aus der Luft gegriffen – für diesen Krieg verantwortlich hielt. Selbst auf FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM hatte der Aufruhr in der Stadt seine Auswirkungen. Als erstes wurden die Nachmittagsvorstellungen gestrichen, denn die potentiellen Zuschauer waren den ganzen Tag über damit beschäftigt, in der Stadt zu randalieren. Nur die Abendvorstellung wurde gegeben; denn nach den ermüdenden Demonstrationen, doch stolz auf die öffentlichen Unmutsbekundungen, waren die Mensehen bereit, sich unterhalten zu lassen und dabei zu entspannen – und waren dankbar, daß das FLORILEGIUM nahezu das einzige Unternehmen in ganz Paris war, das seine Eintrittspreise nicht erhöht hatte. Premierminister de Palikao und Militärgouverneur Trochu taten ihr möglichstes, den Groll der Massen zu beschwichtigen und ihre Befürchtungen zu zerstreuen, doch das war bestenfalls sehr wenig, und erreicht wurde damit überhaupt nichts. Die Behörden konnten immer wieder nur berichten, daß die Boches bis jetzt in Schach gehalten würden und Paris selbst auf ihren Vorstoß gut vorbereitet sei. Es lägen genug Lebensmittel, Vorräte und Munition in den Lagerhäusern, so betonten sie immer wieder, die Stadt einen ganzen Monat zu versorgen. Auf den regierungsamtlichen Plakaten hieß es, die Bürgerwehr habe inzwischen eine Stärke von zweihunderttausend Mann erreicht; außerdem seien die Gardes Mobiles – also ausgebildete Milizeinheiten – aus allen Vororten und umliegenden Städten in der Hauptstadt konzentriert, so daß nochmals hunderttausend Verteidiger hinzukämen. Des weiteren seien spontan Freiwilligeneinheiten aufgestellt worden, und das in Kreisen, wo man das niemals für möglich gehalten hätte; diese würden jetzt zu richtigen Kämpfern ausgebildet. Es gab die Legion des Volontaires, in der sämtliche polnischen Emigranten -1607-
zusammengefaßt wurden, Les Amis de France, die sich ausschließlich aus belgischen, englischen und italienischen in der Stadt ansässigen Bürgern rekrutierten, und sogar Les FrancTireurs de la Presse, eine Einheit, die sich aus Journalisten, Dichtern, Romanciers und Feuilletonschreibern zusammensetzte, Menschen, die sich nicht damit zufrieden gaben, über den Krieg nur zu schreiben, sondern ihn auch am eigenen Leibe erleben wollten. Derlei Verlautbarungen wurden von den Massen mit gutmütigem Hohn und Spott aufgenommen. Jeder wußte, daß Reservisten, Bürgerwehrleute, reaktivierte Veteranen und ungare halbwüchsige Freiwillige zu nicht viel mehr taugten als dafür, aufgeblasen herumzustolzieren und sich auf dem Exerzierplatz zu tummeln. Auf die Garde Mobile münzten die Leute die spöttische Bezeichnung ›les moblots‹. Was die Ausländer betraf – und auch noch Schriftsteller, merde alors! –, wer, der seine fünf Sinne beisammen hatte, werde wohl um Paris kämpfen? Selbst unter den Beamten, die diese spontan aufgestellten Verteidigungseinheiten öffentlich lobten, bemerkte man so etwas wie eine kaum unterdrückte Belustigung. Als Gouverneur Trochu einen Massenvorbeimarsch all dieser irregulären Verbände über die Champs-Elysees anordnete, konnten die Zuschauer auf den Bürgersteigen ihre Belustigung über den bunt zusammengewürfelten Haufen und die Parodie einer Parade kaum verhehlen. Trochus herrlich zweideutiges Lob für die Truppen, nachdem der Vorbeimarsch vorüber war, wurde von allen anderen in der Stadt begeistert aufgenommen und wiederholt: »Mes soldats, nie zuvor ist irgendeinem General ein Schauspiel vorgeführt worden, wie ihr es soeben geboten habt.« Wenige Tage später verstummte auch das spöttische Lachen. Der Mob wälzte sich immer noch durch die Straßen, doch schauten die Menschen jetzt verbissen und finster drein und hatten an ihrer Aufmüpfigkeit keinen rechten Spaß mehr. -1608-
MacMahons Armee, so berichteten die Zeitungen, sei die Maas entlang soweit nach Norden vorgerückt, wie es möglich war, ohne französisches Territorium zu verlassen und über die Grenze in Belgien einzufallen. Um den 31. August hatte er die Truppen um die Stadt Sedan herum gesammelt, um dort den Preußen die Stirn zu bieten – und der Kaiser selbst war in die Stadt hineingetragen worden, weil er auf die Hilfe von Chirurgen angewiesen war. Die erschreckend überlegenen Streitkräfte des Gegners wurden angeführt vom Kronprinzen Friedrich und Kronprinz Albert von Sachsen sowie von Moltke und den Generalen Böse, Manteuffel, Zastrow und Goeben. Sämtliche hochgestellten Persönlichkeiten des Gegners mit Ausnahme Bismarcks waren versammelt, um beim Versetzen des Todesstoßes dabei zu sein; in der Person des amerikanischen »Beobachters«, General Philip Sheridan, hatten die Löwen sogar einen aasfressenden Schakal mitgebracht. Durch eine der ersten von den Preußen in den frühen Morgenstunden des ersten September abgefeuerten Granaten wurde Marechal MacMahon verwundet, und das Oberkommando ging an General Auguste Ducrot über. Die vom General trotz seiner saftigen Soldatensprache zum Ausdruck gebrachte Ansicht über die Situation wurde per Telegraph getreulich nach Paris übermittelt: »Nous sommes dans un pot de chambre, et nous y serons emmerdes. – ›Wir sitzen in einem Nachttopf und werden darin unter Scheiße begraben werden‹.« Die braven Pariser Bürger beschmierten sofort die Häuserwände mit Karikaturen von Louis Napoleon, wie er ohne Hose auf einem Nachttopf hockt. An den Boulevards und längs der Galerien hatte es bestimmte elegante Boutiquen gegeben, die sich alle durch etwas Besonderes ausgezeichnet hatten und seit Jahren stolz mit ihren Firmenschildern und Schaufenstern warben. Jetzt kratzten die Besitzer die Inschriften weg oder überdeckten den in Goldbuchstaben prangenden Ehrentitel: Hoflieferant Seiner Majestät, des Kaisers. -1609-
Es müssen spannungsgeladene zwei Tage gewesen sein, ehe Paris erfuhr, was danach in Sedan passierte. Doch gegen Nachmittag besagten 1. Septembers lagen siebzehntausend französische und neuntausend preußische Soldaten tot, sterbend oder schwerverwundet in den Außenbezirken der Stadt. Hektische und verwirrte Kämpfe waren immer noch im Gange, als gegen vier Uhr der französische General Wimpffen zufällig einen Blick nach hinten auf die Straße warf, die er verteidigte, und erschrocken feststellte, daß eine weiße Flagge am höchsten Kirchturm flatterte. In der Annahme, es handelte sich um die Verzweiflungstat irgendeines von Panik ergriffenen Einwohners, eilte Wimpffen persönlich zurück in die Stadt, an das Krankenlager, auf dem schmerzgepeinigt Louis Napoleon lag, und flehte den Kaiser an, sich persönlich auf den Wällen der Stadt zu zeigen, um seinen verzweifelt sich wehrenden Soldaten Mut einzuflößen. Der Kaiser suchte schwach und traurig Ausflüchte: Die Schlacht sei vorüber, sagte er. Er habe der Regentin und dem Premierminister von Frankreich bereits telegraphiert, er ergebe sich zusammen mit seiner Armee. Die weiße Flagge der Kapitulation wehe auf seinen eigenen Befehl hin vom Kirchturm; dort solle sie bleiben; das Töten und Sterben solle ein Ende haben. Doch die aus Sedan hinausführenden Telegraphenleitungen waren unterbrochen, entweder absichtlich von den Belagerern, oder aber per Zufall durch eine Granate. So standen Louis Napoleon, Prinz Lou-Lou und ihr Gefolge unter Hausarrest, die französische Armee hatte sich bedingungslos ergeben und war entwaffnet worden – wobei die Sieger allen Offizieren großmütig gestatteten, ihren Degen zu behalten –, ehe die preußischen Pioniere die Telegraphenleitungen flickten und die letzte Meldung des Kaisers am dritten September endlich Paris erreichte. Längst ehe die Zeitungen davon erfuhren und die furchtbare Nachricht veröffentlichten, war diese irgendwie von jemand aus -1610-
dem Amt des Premierministers weitergegeben worden und hatte sich schneller in der gesamten Stadt verbreitet als Morsetasten sie hätten wiederholen können. So kam es, daß sich im Park der Tuilerien eine unübersehbare Menschenmenge versammelte, dem Kordon der Wachen bedrohlich nahe rückte, donnernd mit den Stiefeln aufstampfte und im Sprechchor rief: »Decheance! Decheance!« ehe ein Bote vom Hótel de Ville unbemerkt und über das Museum des Louvre eine persönliche Nachricht ins Schloß brachte, damit Kaiserin Eugenie einen Blick auf das Telegramm ihres Gatten warf. »Die Armee ist geschlagen. Außerstande, unter meinen Soldaten den Tod zu finden, habe ich mich in Gefangenschaft begeben müssen, um die Armee zu retten. Napoleon.« Das Tosen vor dem Schloß – »Vom Thron stürzen! Umsturz! Abdanken!« – ging die ganze Nacht weiter. Falls welche aus der Menge heimgingen, um zu schlafen, fiel das nicht weiter auf, weil es reichlich Ersatz für sie gab. Am nächsten Tag, dem 4. September, konnte in ganz Paris oder in den am weitesten draußenliegenden Vororten kaum jemand im Haus bleiben, weil selbst die Landbevölkerung in die Stadt drängte. Vom Festplatz des FLORILEGIUM aus beobachteten die Circus-Leute fassungslos, wie alte Bauern mit einem Hals, faltig wie eine Quetschkommode, muskulöse junge Knechte und Bäuerinnen mit fleischigem Gesicht und in rauher, selbstgewebter Kleidung mit Holzpantinen an den Füßen, manche von ihnen mit tückisch aussehenden Sensen und Sicheln bewaffnet, zu Fuß oder auf Bauernwagen mit Maultieren oder Ochsen davorgespannt, von Westen her durch den Bois de Boulogne gezogen kamen, nicht einmal einen neugierigen Blick für den Circus mit seinem Chapiteau übrighatten, sondern unbeirrt in Richtung Stadtzentrum weitermarschierten. Gegen Mittag drängten sich Stadt- wie Landbevölkerung auf den Straßen, bildeten in den Tuilerien-Gärten, auf der Place de la Concorde, um das Palais Bourbon und das Hótel de Ville herum eine undurchdringliche -1611-
Menschenmenge. Im Hótel de Ville beratschlagten mit finsterer Miene der französische Premierminister und der Militärgouverneur von Paris. Das Französische Kaiserreich hatte zwei große Armeen in den Kampf geschickt; die eine hatte sich nutzlos in der Festung Metz verbarrikadiert, und die andere hatte sich – samt dem Kaiser – bei Sedan ergeben. Zwischen der Maas und dem Gebäude, in dem sie beide saßen, gab es keine organisierte Streitmacht, sich den Boches in den Weg zu stellen. Draußen skandierte die Menge unaufhörlich: »Republique! Republique!« Zuletzt ließ General Trochu – Der Gouverneur, Der Immer Nur Nachgibt – gegen Mittag die Anführer der verschiedenen republikanischen Gruppierungen ins Rathaus kommen, von den gemäßigten Drittparteilern bis zu den extremistischen Kommunarden, und alle diese Männer rangen miteinander über die Frage, wie man auf schnellstem Wege eine neue Regierung bilden könne und wer von ihnen daran beteiligt sein sollte. In der Zwischenzeit war draußen ein junger Kommunarde an der Fassade des Hótel de Ville hochgeklettert, um die Trikolore von der dort ragenden Fahnenstange herunterzuholen. Eine rote Fahne mitzunehmen, hatte er vergessen, so riß er nur den weißen und den blauen Teil der alten Fahne ab und verknotete den roten Streifen mit der dafür vorgesehenen Fahnenleine. Gleichzeitig kam es zu drei weiteren Ereignissen. In den Tuilerien hastete Kaiserin Eugenie, bis eben noch Regentin von Frankreich, in bescheidenes Schwarz gekleidet und dicht verschleiert durch den Privatgang vom Schloß zum Louvre, stieg die Stufen des Museums hinunter und trat durch eine Seitentür hinaus auf die Place St. Germain l’Auxerrois. Unbemerkt schlüpften die beiden Frauen durch die Menge und winkten nach einem ganz gewöhnlichen Wagen. Die Zofe hatte fünfhundert Franc dabei, und das Gepäck der Kaiserin bestand beim Verlassen des Schlosses aus nichts weiter denn zwei Taschentüchern. -1612-
Zweihundertundzwanzig Kilometer weiter im Nordosten, in Sedan, half der Prince Imperial Eugene Louis, seit kurzem Kronprinz von Frankreich, seinem schnaufenden und ächzenden Vater einen preußischen Militärwagen besteigen und sagte ihm dann Lebewohl. Zwei preußische Wachen nahmen im Kutschwagen Louis Napoleon gegenüber Platz, ein preußischer Kutscher schlug auf die Pferde ein, und für den Kaiser begann die sehr sehr lange Fahrt fort von Frankreich – nach Kurhessen, in das Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel, in die Gefangenschaft. Gleichfalls in Sedan setzte König Wilhelm für das Herrenhaus in Berlin, die Erste Kammer des preußischen Landtags, eine Empfehlung auf, General von Moltke zum Grafen zu ernennen, während der General selbst jene Befehle ausgab, die alle seine Armeen in westlicher Richtung mit dem Ziel Paris in Marsch setzten. Der nur als »Beobachter« fungierende General Philip Sheridan gab diesbezüglich einige Ratschläge, die später von anderen anwesenden Offizieren wiederholt und weitergegeben wurden, bis sie schließlich die Ohren eines Korrespondenten der Zeitung Le Gaulois erreichten. Da er Zivilist war und nicht an den Kämpfen teilgenommen hatte, wurde der Journalist nicht daran gehindert, seinen Beruf auch weiterhin auszuüben, und kein preußischer Offizier versuchte Zensur auszuüben, als er telegraphisch nach Paris meldete, was Sheridan von Moltke vorgeschlagen hatte: »Teilen Sie an die Armee soviele schmerzhafte Schläge wie möglich aus, dann lassen Sie die Zivilbevölkerung dermaßen leiden, daß sie ihre Regierung zwingen muß, um Frieden zu bitten. Dem Volk darf nichts bleiben – nichts außer den Augen zum Weinen.«
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11 »REPUBLIK AUSGERUFEN! So lautet die Überschrift«, sagte Sunday, als sie einer Gruppe von Artisten im Kostüm die Nachricht übersetzte. Nachdem sie den Bericht überflogen hatte, faßte sie den Inhalt so gut wie möglich zusammen: »Erst hat man dem Premierminister de Palikao für die Dauer des Krieges diktatorische Vollmachten angeboten. Doch er hat abgelehnt und statt dessen vorgeschlagen, einen Nationalen Verteidigungsrat zu bilden. So also wird sich in Zukunft die Regierung nennen. Bis der Kriegsnotstand vorbei ist und durch Wahlen überall im Land der Wille des Volkes ermittelt werden kann.« »Himmel, was das Volk will, ist doch jetzt schon sonnenklar«, sagte Fitzfarris. »Was sie jedenfalls nicht wollen, ist ein Kaiser. Ich war vorhin in der Stadt und bin an den Tuilerien vorbeigekommen. Die sind über und über mit sarkastischen Parolen beschmiert wie: ›Nationaleigentum‹, ›Eintritt frei‹ und ›Zimmer zu vermieten‹.« »Solange der Kriegsnotstand andauert«, fuhr Sunday fort, »fungiert General Louis Trochu als amtierender Präsident, ist Monsieur Jules Favre amtierender Außenminister, Monsieur Leon Gambetta amtierender Innenminister und Monsieur Adolphe Thiers amtierender Präsident der Deputiertenkammer.« Sie lachte. »Ich weiß zwar, wer der Präsident ist der alte ImmerNachgeber –, aber von den anderen habe ich noch nie gehört.« »Die meisten sind ehemalige Deputierte und Drittparteiler«, sagte Pemjean. »Gott sei Dank ist kein fanatischer Kommunarde dabei. Ich würde meinen, daß Präsident Trochu weiterhin beweglich bleibt und nur eine Galionsfigur abgibt. Der Außenminister wird dem Volk gegenüber als Sprecher der Regierung fungieren und die eigentliche Macht wird in den Händen von Minister Gambetta liegen.« -1614-
»Offenbar gehen deine Überlegungen in die richtige Richtung«, sagte Sunday, die die Zeitungsberichte immer noch weiter durchflog. »Hier ist eine lange Rede von Monsieur Favre an die Öffentlichkeit abgedruckt.« Grinsend reckte sie beim Übersetzen in gespielt heroischer Geste die geballte Rechte: ›»Wir werden keinen Handbreit unseres Territoriums und keinen Festungsstein hergeben ...‹ Offenbar wiederholt er das unzählige Male immer in anderen Worten.« »Dann ist entweder Favre nicht zurechnungsfähig«, sagte Jörg Pfeifer, »oder er hält sein Volk für unzurechnungsfähig. Jeder weiß doch, daß die Preußen schon halb Frankreich durchquert haben. Und französische Festungen fallen links und rechts.« Ein plötzlicher Trillerpfeifenton ließ die Gruppe zusammenzucken. »Uff!« sagte Clover Lee. »Stellen wir uns zur Parade auf, oder Zachary nimmt uns alle in die Mangel.« Nachdem die Vorstellung an diesem Abend vorüber war und alle anderen zu einem späten Abendessen oder ins Hotel zogen, saßen Florian und Edge noch im Kontorwagen, tranken Wein, rauchten, und Edge meinte: »Gut übrigens, daß wir noch den Schriftzug KONFÖDERIERTER AMERIKANISCHER CIRCUS an den Wagen und über dem Chapiteau-Eingang stehen haben. Der Mob auf der Straße soll vor Wut geplatzt sein, als er hörte, daß es ein Yankee war, der die Kaiserin außer Landes gezaubert hat.« Florian gluckste. »Ausgerechnet ihr amerikanischer Zahnarzt!« Dann sagte er nüchtern: »Jawohl, die aufgebrachten Massen hätten Eugenie mit Wonne genauso einen Kopf kürzer gemacht wie seinerzeit Marie Antoinette. Jetzt sitzt sie sicher in England, und die Kopfjäger sind frustriert. Deshalb wird es zweifellos eine ganze Weile eine antiamerikanische Stimmung geben.« »Meinst du nicht, wir sollten machen, daß wir hier -1615-
rauskommen, solange das noch geht? Schließlich haben wir alles erreicht, was wir wollten, Governor. Paris ist der Gipfel, den wir erreichen wollten – das Mekka eines jeden Circus in der Welt –, und wir sind hergekommen, wir haben unseren Triumph ausgekostet. Wir haben die französische Umgangssprache sogar um ein neues Wort bereichert: Clover Pink. Und haben einen Haufen Geld verdient. Bleiben wir jetzt, oder machen wir, daß wir rauskommen, ehe die Preußen einmarschieren?« »Ich glaube, die Preußen werden bloß kommen, um eine Weile die Boulevards auf- und abzumarschieren. Um genauso wie du eben sagen zu können, daß sie erreicht haben, was sie sich vorgenommen hatten. König Wilhelm liegt ja nicht mit dem französischen Volk als solchem im Streit. Sein Ziel war es, der Macht des französischen Kaisers ein bißchen die Zügel anzulegen, und jetzt hat er ihn ganz zum Teufel gejagt. Jetzt gibt es zwischen England im Westen und Rußland im Osten keine Großmacht mehr außer Preußen und seine Verbündeten. Wilhelm – oder genauer gesagt, sein Kanzler – hat alles, was er wollte: einen Staatenbund der Deutschen, dem von keinem anderen europäischen Volk der Rang streitig gemacht werden kann. Da bleibt der neuen Regierung von Frankreich gar nichts anderes übrig, als um Frieden zu bitten. Der Präsident der Deputiertenkammer ist bereits nach Wien, Florenz und vielleicht Sankt Petersburg abgereist, um die anderen Staatsoberhäupter zu bitten, als Vermittler akzeptable Friedensbedingungen zu erreichen.« »Nun«, sagte Edge, »nicht jeder in Paris glaubt so optimistisch an einen frühen Waffenstillstand. Weißt du, wobei sie jetzt gerade sind? Ihre Armee haben die Preußen zum Teufel geschickt, doch die französische Kriegsmarine hat bis jetzt keine einzige Schramme abgekriegt. Deshalb schaffen sie die Schiffskanoniere aus Dieppe und Calais herbei, um die Geschütze der Forts rund um Paris zu bemannen.« »Es schadet ja nichts, gegen einen Angriff auf die Stadt -1616-
gewappnet zu sein, selbst wenn es dazu nie kommt. Ein waffenstarrender Verteidigungsring um die Hauptstadt verhilft Frankreich bei den etwaigen Friedensverhandlungen bestimmt zu einer besseren Ausgangsposition. Wenn Thiers bei seinen Bemühungen nicht vollständig Schiffbruch erleidet, werden Wilhelm und seine Truppen nur herkommen, um eine Art Siegestanz zu tanzen, während die Verträge unterzeichnet werden.« »Dann bleibt das FLORILEGIUM also?« »Ich halte das für das beste, Zachary. Selbst wenn ich übertrieben optimistisch bin – selbst wenn diese Regierung sich bei den Verhandlungen mit denn Gegner als unfähig erweist, falls es ihr nicht gelingt, einen Frieden zu erreichen, und wenn sie bedenkenlos weiter Krieg führt wenn wir hierbleiben, ist das weniger riskant, als wenn wir auf die Landstraße gehen. Wohin sollten wir auch? Ob nach Osten oder Westen – überall marschieren Truppen beider Armeen und kommt es zu Scharmützeln, ganz zu schweigen von den üblichen Horden von Freibeutern und Plünderern, die weder vor Freund noch Feind haltmachen. Ich glaube, unsere Circuskolonne wäre draußen auf offener Straße weit mehr in Gefahr als hier im Bois de Boulogne.« »Wahrscheinlich hast du recht.« »Und dann muß man auch noch anderes bedenken. Das jetzt sind wirklich dunkle Tage für die Pariser, und sie haben sich uns gegenüber, was die Zuschauerzahlen betrifft, höchst generös verhalten. Ich meine, wir sind es ihnen einfach schuldig hierzubleiben. Seit Offenbachs Operetten der Bannstrahl traf, hat kein anderes Theater von der Opera bis zum Odeon es gewagt, irgendwelche leichtgewichtige Stücke oder Operetten aufzuführen. Selbst die Comedie Française spielt ausschließlich düstere Heldendramen oder verquälte Tragödien. Wir bieten fast als einzige in der ganzen Stadt so etwas wie unbeschwerten Spaß. Und es ist ja kein Zufall, daß wir dadurch immer -1617-
ausverkauft sind. Falls die Sieger einmarschieren, zieht sich jeder Pariser Circusbesucher mit Trauerflor in seine vier Wände zurück und bläst Trübsal. Jedenfalls können wir dann darauf hoffen, daß uns statt dessen die Preußen beehren. Sie haben uns ja auch gemocht, als wir in ihren Landen gastierten.« Die Zeitungen brachten von Tag zu Tag neue Hiobsbotschaften. Die preußischen Truppen setzten ihren Vormarsch auf Paris fort, allerdings mehr mit verbissener Entschlossenheit als einfach ungestüm voranstürmend. Nachdem sie die drei größten Städte östlich von Paris – Chálons, Reims und Troyes – unterworfen hatten, teilten die preußischen Armeen sich, um die Hauptstadt weiträumig einzukesseln. Dabei nahmen sie mühelos weitere kleine Städte ein – Sens im Süden, Compiegne im Norden – und ließen immer ausreichend Truppenverbände zurück, um jene Städte zu isolieren, die Widerstand leisteten – Chartres im Süden, Amiens im Norden –, während ihre Hauptverbände einfach weiterzogen, um Paris gleichsam eine eiserne Schlinge um den Hals zu legen, diese dann behutsam zuzuziehen und von allen Seiten näher an die Stadt heranzurücken. Der reisende Emissär, Thiers, hatte mit seiner Mission, bei den ausländischen Mächten Fürsprache zu erbitten, keinen Erfolg. Einmütig lehnten sie es ab, für eine fragwürdige selbsternannte ›Regierung‹ den Vermittler zu spielen. Das einzige nicht Bedrückende, das in jenen Septembertagen in den Pariser Zeitungen erschien, waren die Leserzuschriften – deren Verfasser zum Teil angesehene Wissenschaftler waren – und in denen genialverrückte Methoden und ›Erfindungen‹ vorgetragen wurden, mit denen man den Preußen bei ihrem Eintreffen die Stirn bieten könnte. Ein Briefschreiber schlug vor, da es sowohl an Gewehren als auch an Säbeln mangele, solle man eine Fabrik aufmachen, um hölzerne Lanzen zu fertigen, wie man sie einstmals bei den Ritterturnieren verwendet hatte. Ein anderer schlug vor, an jede Pariserin einen Fingerhut -1618-
auszugeben, der mit einer Giftnadel bewehrt sei; pikse sie damit einen zudringlichen Boche, könne sie mit der Giftnadel daran gleichzeitig die eigene Ehre als auch die Stadt verteidigen. Im übrigen sei jedes Gift hierfür brauchbar, doch schlage er, schrieb der Verfasser, als besonders wirksam acide prussique – Blausäure – vor, was wohl sonst! Etliche Patrioten machten den Vorschlag, lodernde Wellen von ›Griechischem Feuer‹ die Seine hinabzuschicken, und noch andere meinten, man solle den Seine-Fluß selbst als Waffe benutzen, das Wasser dort vergiften, wo der Fluß die Stadt verlasse; damit werde man die Boches samt ihren Pferden vernichten, wenn sie flußabwärts davon tränken. Wieder andere hielten es für eine gute Idee, wenn es zum Schlimmsten käme, die Löwen, Tiger und anderen wilden Raubtiere der Menagerie im Jardin d’Acclimatation freizulassen. Am 16. September war die Stadt von drei Seiten eingeschlossen – von Taverny im Nordwesten bis herum nach Lagny im Osten und Villeneuve im Süden. Nicht wenige Menschen verließen Paris mit Karren, Kutschen oder Leiterwagen über die immer noch offenen Straßen nach Westen. Eine der letzten Personen, denen es gelang, in die Stadt hineinzuschlüpfen, war der Deputierte Adolphe Thiers, der von seiner erfolglosen Friedensmission zurückkehrte. Zwei Tage später standen die Preußen in Argenteuil, einem Vorort etwas nördlich der eigentlichen Stadt Paris, in Le Bourget sowie an der S-Kurve der Marne östlich von Charenton – und hatten nicht nur im Südwesten der Stadt Versailles eingenommen, sondern schlugen auch noch arroganterweise im Schloß ihr Hauptquartier auf. Am 20. September trafen sich die beiden die Stadt umzingelnden Armeen westlich von Paris in St. Germainen-Laye. Die gesamte Stadt war von einem Belagerungsgürtel umschlossen, der an keiner Stelle weiter als fünfzehn Kilometer von Notre Dame entfernt war. Es folgte eine spannungsgeladene Zeit, in der jeder auf den -1619-
endgültigen Angriff wartete. Etliche Tage hindurch wirkte Paris wie eine Geisterstadt; fast die gesamte Bevölkerung blieb in ihren Häusern. Auf der Straße sah man nur Patrouillen der Sedentaires und Moblots, die Einbrecher, Plünderer und feindliche Bombenleger ebenso von ihrem Tun abhalten wollten wie Spione, die für den Feind Informationen sammelten, oder ähnliche vaterlandslose Gesellen. Florian gehörte zu den wenigen, die immer noch behaupteten, daß die Preußen die Stadt nicht zerstören wollten, sondern einfach abwarteten, bis sie sich ergab. Da jedoch alle anderen öffentlichen Versammlungsorte in Paris angesichts des erwarteten Sturms die Fensterläden dichtgemacht hatten, und sich die Einwohner in ihren vier Wänden verkrochen, setzte auch das FLORILEGIUM seine Vorführungen aus. Für den Fall, daß Florian doch unrecht behielt, ordnete Edge gewisse Vorsichtsmaßnahmen an. Schließlich, so argumentierte er, liege der Circus auf einer der exponierteren Stellen am Stadtrand – denn inzwischen hatte der Gegner den Hügel und das Schloß von St.-Cloud besetzt, von wo aus sie über die dazwischenliegenden fünf Kilometer Vororte, Seine und Bois hinwegblicken und den Festplatz gut einsehen konnten. Infolgedessen lud Edge alle seine Waffen mit scharfer Munition, dazu sogar Florians uralte Schnappschloßbüchse, und teilte die verschiedenen Feuerwaffen an die Männer aus, die am besten damit umgehen konnten, und das waren außer ihm selbst Yount, Fitzfarris und die drei Jäszi-Brüder. Diese sechs kampierten zusammen mit sämtlichen Böhmen – die mit Schmiedehämmern, Äxten und Zeltankern bewaffnet waren – auf dem Festplatz, während alle anderen sicherer und behaglicher in ihrem Hotel mitten in der Stadt untergebracht blieben. Ab und zu hörte man Kanonendonner aus der Stadt oder von außerhalb; die Bürger fuhren jedesmal erschrocken zusammen. Dabei stammten diese Schüsse von dem Ring von Forts um -1620-
Paris herum und wurden nur abgefeuert, um dem Gegner zu signalisieren, daß die Stadt gerüstet sei, sich zu verteidigen. Die Preußen hatten ihre Stellungen ein gutes Stück außerhalb der Reichweite dieser alten Vorderlader aus Bronze bezogen; aus diesem Grund schossen die Befehlshaber dieser Forts nur gelegentlich einen Schuß ab, um Munition zu sparen für eine Zeit, in der sie vielleicht mehr damit bewirkten. Von den Forts ausgeschickte Kundschafter kehrten mit der Nachricht zurück, die Boches schafften ihre eigene Artillerie aus dem Osten heran und bauten die Geschütze auf und diese schweren Hinterlader aus Stahl nun besaßen genug Reichweite, die Forts zu bestreichen, ohne ihrerseits von den französischen Kanonen getroffen werden zu können. Doch für den Moment ließen die Boche-Kanoniere sich nicht herab, auf das ohnmächtige Gebell der französischen Kanonen zu antworten. Aus dem Hótel de Ville ergoß sich ein ständiger Strom von Zeitungsnachrichten und Plakaten, in denen die Pariser beschworen wurden, Ruhe zu bewahren, den Mut nicht zu verlieren und nicht auf Gerüchte zu hören, sondern nur den offiziellen Verlautbarungen Glauben zu schenken – und standhaft auf die Entsetzung durch jene französischen Armeen zu hoffen, zu der es ja einmal kommen mußte, wo in den Provinzen doch diese neuen Armeen aufgestellt würden. Eine kurze Zeit erfuhr die Pariser Öffentlichkeit in der Tat etwas von dem, was sich draußen im Lande ereignete. Man gab jetzt bekannt, daß die Ingenieure der Regierung – ehe die Preußen die Stadt eingeschlossen und alle anderen Verbindungslinien mit der Außenwelt gekappt hatten – im Bett der Seine insgeheim eine Telegraphenleitung verlegt hatten. Diese reichte weit über den Belagerungsring hinaus in den Süden, und so gab es in der Tat eine – verschlüsselte – Kommunikation zwischen dem Hótel de Ville und Geheimagenten draußen. Freilich gab die Regierung selbstredend nur solche Nachrichten an die Bürger weiter, die zu Hoffnungen berechtigten wie zum Beispiel: die Beteuerung, daß -1621-
eine ganze Reihe von französischen Städten – Chartres, Tours, Amiens, Le Mans, Strasbourg und andere – sich immer noch gegen die Angriffe der Preußen wehrten. Ein Großteil des verfügbaren Raums in der Zeitung und an den Häusermauern wurde dafür verwendet, die Pariser mit dem weithin hallenden Kriegsschrei von General Antoine Chanzy aufzumuntern, der fieberhaft dabei war, in Orleans eine neue Loire-Armee aufzustellen: »Die Boches haben nur Paris; wir haben immer noch Frankreich.« Der Unterwassertelegraph funktionierte jedoch nur ein paar Tage; dann entdeckten die preußischen Pioniere die Leitung, holten einen Teil hoch und zapften sie an. Entweder, weil sie die Meldungen nicht dechiffrieren konnten, oder – was wahrscheinlicher war – weil sie dazu zwar durchaus in der Lage waren, jedoch feststellten, daß die in die Stadt gelangenden und aus ihr herauskommenden Meldungen für sie nutzlos waren, kappten sie die Leitung. Fürderhin mußten die Pariser nun auch auf die Meldungen verzichten, die von ihrer Regierung als zuträglich für sie befunden wurden, und waren ganz auf Gerüchte angewiesen, und deren gab es viele. Die Verbreitung mancher von ihnen unterband die Regierung schleunigst und mit fester Hand, andere hingegen ließ sie sich verbreiten, ohne einen Kommentar dazu zu geben; die Weitergabe mancher förderte sie zweifellos, weil sie sie »gut für die öffentliche Moral« fand. Eines der ersten Gerüchte, die aufkamen – nachdem die Stadt seit über einer Woche eingeschlossen war, der Gegner jedoch bisher nicht gewagt hatte, sie zu stürmen –, besagte, die Boches verlängerten die Spannung absichtlich, voller Bosheit und List in der Erwartung, daß den Parisern die Nerven durchgehen würden, so daß sie dann, wenn der Sturm wirklich losging, nur ein hilfloser Haufe von Hysterikern wären. Die Regierung unternahm nichts, um dieses Gerücht zu unterbinden, denn schließlich konnte dies sehr wohl zutreffen; statt dessen ermunterte sie die Bürger zu beweisen, daß sie nicht -1622-
demoralisiert waren und niemals sein würden. So wagten die Leute sich wieder aus den Häusern auf die Straße. Erst machten ein paar wenige Cafes wieder auf, dann stellten viele von ihnen die kleinen Tischchen wieder auf den Bürgersteig; auch manche Stätten der Unterhaltung machten ihre Pforten wieder auf; es gab sogar einige Leute, die zum FLORILEGIUM hinauskamen und nachfragten, wann der Kartenverkauf denn weiterginge. Niemand machte sich vor, daß das Pariser Leben genauso weitergehen würde wie zuvor; dafür war man wohl allgemein der Meinung: Warum nicht solange so weiterleben, wie dies möglich sei – vor dem unvermeidlichen Ansturm der Boches. So machten auch die Kaufleute ihre Läden oder Verkaufsstände wieder auf und man sah die Händler mit ihrer Schiebkarre auf der Straße – nur mit dem Unterschied, daß sie jetzt keine horrenden Preise mehr für ihre Waren verlangten. Ganz im Gegenteil, die Preise waren niedriger als je zuvor, und auch diese gingen von Tag zu Tag mehr herunter, während die Spannung immer größer wurde. Die Ladenbesitzer erklärten mit überaus patriotischer Miene und Opferbereitschaft, sie würden ihre Regale ja viel lieber leeren und dafür ihre geliebten Mitpariser mit dem Nötigsten versorgen, auch wenn sie dadurch persönlich Verluste machten, statt mit irgendwelchen preußischen Kunden zu tun zu haben, sollte die Stadt besetzt werden. Was die Ladenbesitzer verschwiegen, war, daß sie etwaige preußische Besatzer nicht als Kunden erwarteten, sondern als Plünderer, die sich gratis bedienten. Die Gier der Ladenbesitzer, soviel Waren in Bares umzusetzen, solange das überhaupt möglich war, mochte jedoch auch auf einem anderen Gerücht beruhen. Wenn es der Regierung gelungen sei, heimlich eine Telegraphenleitung zu legen, so fragten die Leute sich, ob sie dann nicht auch heimlich einen Tunnel hätten graben können, der von der Stadt unter den feindlichen Linien hindurch führte und durch den man notfalls Schlachtvieh, Geflügel, Obst und Gemüse hereinbringen könnte, -1623-
um die Stadt vor dem Hungern zu bewahren. Die Zeitungen machten sich über diese Vorstellung lustig, würde die Verwirklichung doch ein Projekt von der Größenordnung des oft diskutierten Kanaltunnels bedeuten, zu dem man Jahre brauchen würde – noch dazu, wo alles in größter Heimlichkeit geschehen müßte. Trotzdem glaubten viele Pariser eigensinnig weiter daran, und manche suchten sogar nach dem Tunneleingang. Noch zwei weitere Gerüchte ließ die Regierung unwidersprochen die Runde machen. Bei dem einen ging es darum, daß die Versailles besetzt haltenden Boches die Häuser plünderten, sämtliche Männer zur Zwangsarbeit versklavten und alle Frauen vergewaltigten – unter anderem die frommen Schwestern der Gemeinden von Notre Dame und St. Louis und sämtliche Kunstschätze des Schlosses sowie des Trianons nach Berlin abtransportierten. Bei dem zweiten Gerücht ging es um das Kanonenboot Farcy, das die Kriegsmarine unmittelbar vor der Blockade der Stadt flußaufwärts verholt hatte. Paris brauche die Boches überhaupt nicht zu fürchten, hieß es in dieser Geschichte; denn das Kanonenboot könne ungehindert auf allen Flußschleifen der Seine ebenso manövrieren wie auf dem Ourcq-Kanal und auf der durch Charenton führenden Marne. Es könne nahezu ohne Hilfe von den Kanonen der Forts jede preußische Artilleriebatterie von Argenteuil bis St.-Cloud und Meudon kaputtschießen und so weiter. Diese Vorstellung hatte für die Bürger zweifellos etwas Tröstliches – diejenigen ausgenommen, die an den Quais entlangspazierten bis zu der Stelle, wo die Farcy festgemacht hatte und dort die eine gedrungene Haubitze sahen, welche die ganze Bewaffnung des kleinen Schiffes ausmachte. Monsieur Roulette hatte die Saratoga des FLORILEGIUM seit dem 6. August nicht mehr aufsteigen lassen. An diesem Tag hatte Florian einen Ballonaufstieg befohlen, um dazu beizutragen, die Nachricht vom ›Sieg‹ Marschalls MacMahon im Elsaß zu feiern – die sich im Nachhinein freilich als falsch -1624-
herausgestellt hatte. In den nächsten anderthalb Monaten hatte die Saratoga zusammengefaltet unter der Persenning im Ballonwagen verborgen gelegen; man hatte einfach gehofft, daß Paris ihr Vorhandensein vergessen würde und niemand auf die Idee kam, sie für irgendwelche Kriegseinsätze oder nur als Quelle erstklassiger Seide zu requirieren. So war es kein Wunder, daß die Artisten, als sie an einem goldenen Morgen Ende September aus ihrem Hotel herauskamen, angenehm überrascht waren, einen weiteren Ballon am Himmel zu sehen. Dieser stand weit entfernt im Südosten der Stadt und trieb auch nicht frei in der Luft, sondern schien verankert und als Beobachtungsposten zu dienen. So gut sie es auf diese Entfernung ausmachen konnten, war er ungefähr genauso groß wie die Saratoga, jedoch von ausgebleicht gelber Farbe. Nicht zu erkennen war, ob er auf der französischen oder preußischen Seite der Belagerungslinie stand, und so begaben Florian und Edge sich in Monsieur Nadars Photographische Werkstatt. »Mais oui. Es handelt sich um meine Celeste«, erklärte Nadar stolz und fuhr dann in gewohnt geschwätzigem Ton fort: »Um Ihre Saratoga hätten Sie nie Angst zu haben brauchen, mes amis. Wann immer die Behörden ›Ballon‹ denken, denken sie natürlich augenblicklich auch ›Nadar‹! Ich habe den Gardes Mobiles drei meiner Ballons zur Verfügung gestellt, die ich lange Zeit hindurch in einer Halle gelagert hatte. Sie waren alle in ziemlich schlechtem Zustand, und die Celeste ist der einzige, den die Zeugmeister vom Arsenal haben soweit flicken und mit Lack überziehen können, daß er einsatzfähig ist. Das wurde selbstverständlich unter meiner Oberaufsicht vorgenommen, aber trotzdem überstürzt – aufs Geratewohl, fürchte ich – gemacht, der Ballon mit Leuchtgas von der Gare de Lyon gefüllt und dann am Quai de Bercy an einem Halteseil hochgelassen, um festzustellen, ob die Beobachter, die in der Gondel sitzen, -1625-
erkennen können, was die Boches südlich von Charenton machen und ob sie sich eventuell auf die Erstürmung der Stadt vorbereiten. Eh bien, trotz aller Hast ist die Celeste immer noch ziemlich epuisee, und ich gestehe, überglücklich zu sein, daß ich nicht oben drinsitze. Der Beobachter, fürchte ich, wünscht vermutlich, er säße nicht darin. Die einzigen Meldungen, die er aus der Gondel hinuntergeworfen hat, seit er oben ist, besagen, daß die Boches unten absolut nichts tun, nur zu ihm hinaufzeigen und gelegentlich einen Gewehrschuß auf ihn abfeuern. Er steht jedoch viel zu hoch, als daß Kugeln ihn erreichen könnten. Wovor er jedoch Angst hat, das ist eine Crise de nerfs. Pah! Ich an seiner Stelle hätte viel mehr Angst davor, daß die alten Leinenseile der Haltereifen brüchig sind, daß sie reißen könnten und die Gondel herunterfällt.« »Aber die Boches tun absolut nichts, wie?« murmelte Florian. »Genau, wie ich vorhergesehen habe. Sie haben überhaupt nicht vor, die Stadt zu stürmen, sondern können einfach dasitzen und abwarten, bis Paris die Vorräte und die Geduld ausgehen und sich aus reiner ennui ergibt. Na, schön. Um unsererseits ein wenig dazu beizutragen, l’ennui zu vertreiben, wird der Circus seine Vorstellungen wieder aufnehmen.« »Und ich«, sagte Nadar, »arbeite zusammen mit einem Kollegen, Monsieur Dagron, an einer Erfindung, die für den Krieg nützlich sein könnte. Unser Beitrag zur Vertreibung von l’ennui.« »Nom de Dieu!« stöhnte Rouleau. »Doch hoffentlich nicht eine von diesen verschrobenen Ideen wie dem Griechischen Feuer und acide prussique!« »Nein, nein«, sagte Nadar lachend. »Es handelt sich um eine überaus praktische Erfindung im Bereich der Photographie. Doch werden wir nicht groß damit angeben, ehe wir sie nicht vervollkommnet haben.« »Ich freue mich schon darauf«, sagte Florian. »Und, -1626-
Monsieur, da Sie so enge Beziehungen zum Militär haben, sind Sie vermutlich die zuverlässigste Informationsquelle von ganz Paris. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns über jede neue Erkenntnis unterrichten würden, die unser Geschäft beeinträchtigen könnte.« »Das will ich gewiß gern tun«, sagte Nadar. Doch konnten die Circusleute die nächsten und nichts Gutes verheißenden Umstände ein paar Tage später selbst erkennen. Auf der anderen Seite des Sees vom Festplatz aus gesehen, wo die Rinder und Schafe gehütet wurden, ritten die Hirten umher, trennten etwa zwei Dutzend der fettesten Rinder vom Gros der Herde, trieben sie am Circus vorüber aus dem Bois hinaus über die Place de la Muette offensichtlich zu den Halles. »Die Vorräte der Stadt werden offenbar bereits knapp«, meinte Edge dazu. »Wenn sie jetzt schon ihre Reserven angreifen!« »Und bei einer Stadt von dieser Größe reichen solche Reserven nicht lange«, sagte Florian. »Sind sie aufgebraucht, bleibt der Stadt nichts anderes übrig als zu kapitulieren, womit dann dieser Krieg zu Ende wäre.« »Die Vorräte könnten länger reichen, als du meinst, Governor«, sagte Sunday. »Hast du nicht die Nachmittagszeitungen gelesen?« Sie reichte ihm ihre Ausgabe von Le Moniteur. »Die Regierung beginnt mit der Rationierung des zur Verfügung stehenden Fleisches. Damit streckt man den Vorrat natürlich, aber jeder wird einen gerechten Anteil bekommen. Jeder bekommt eine Lebensmittelkarte, von der jeweils ein Streifen bei der wöchentlichen Zuteilung abgerissen wird.« »Klingt ganz vernünftig«, sagte Edge. »Nein, verdammt noch mal!« fluchte Florian. »Das klingt alles danach, als ob die Regierung vorhätte, das Waffenstrecken so lange wie möglich hinauszuschieben.« -1627-
»Wenn es das ist, was die Leute wollen«, sagte Sunday, »und wenn sie bereit sind, den Gürtel enger zu schnallen – was ist dann dagegen einzuwenden?« »Je länger die Preußen warten müssen, meine Liebe, desto härter fallen die Friedensbedingungen aus. Vielleicht werden sie es auch leid zu warten – vergiß nicht, daß es Frankreich war, das den Krieg erklärt hat – und kommen auf den Gedanken, Rache zu nehmen.« Sunday wandte sich Edge zu. »Du hast doch Erfahrung mit Belagerungen, Zachary. Richmond, Petersburg. Wie schätzt denn du die Chancen für Paris ein?« »Nun, wenn die Franzosen auch nur ein bißchen Ähnlichkeit mit den Konföderierten haben, wird es nicht die Versorgungslage sein, die die Menschen dazu bringt nachzugeben. Da würden sie eher den Gürtel solange enger schnallen, bis die Schnalle das Rückgrat schrammt ... Aber der Winter steht vor der Tür, und der Winter bringt Krankheiten. Lebensmittel lassen sich notfalls durch alles mögliche ersetzen. Aber Medikamente nicht.« »Hier steht«, sagte Florian und las aus der Zeitung vor, »daß jeder Haushaltsvorstand bei der Prefecture Lebensmittelkarten für sämtliche Familienmitglieder beantragen soll. In unserem Fall bin ich wohl der Haushaltsvorstand für die ganze Circusfamilie. Deshalb werde ich mit den Ausweispapieren aller hingehen. Da wir aber im Hotel noch immer sehr gut verpflegt werden, brauchen wir die Fleischrationen nicht und überlassen sie unseren Raubkatzen und Bären. Aber nicht nur Fleisch dürfte bald knapp werden; laßt uns also unser anderes Futter sparen. Normalerweise würde ich einen hübschen Park ja nicht entweihen, aber wenn Rinderherden der Regierung im Bois de Boulogne weiden, können unsere Tiere das auch. Abdullah soll mit seinen Leuten unsere Zug- und Manegenpferde nach jeder Spätvorstellung rausführen, dazu natürlich die Elefanten – angehalftert, wo das nötig ist; sollen sie sich doch an Gras und -1628-
Sträuchern sattfressen.« »Richtig, Governor«, sagte Edge. Nachdem Florian davongegangen war, sah Edge Sunday anerkennend an und sagte: »Miss Butterfly, du überraschst mich immer aufs neue. Als du Virginia verließest, hättest du Richmond und Petersburg nicht einmal richtig schreiben können, ja, hattest du vermutlich noch nicht mal davon gehört – ganz zu schweigen davon, daß sie von den Yankees belagert wurden.« »Ich lese viel in Geschichtsbüchern, das weißt du doch. Und nicht nur über Europa. Ich möchte auch was von dem Land wissen, aus dem ich komme – genausoviel wie über die Länder, in denen ich jeweils bin.« »Aber kein Buch hat dir verraten, daß ich in diesen Städten war.« »No, well ...« Sie wandte den Blick von ihm ab und sagte etwas verlegen: »Du weißt ja, was so alles geredet wird. Jeder hat davon gehört, daß du eine Bestallung in der Armee des Kaisers abgelehnt und dich geweigert hast, jemals wieder zur Waffe zu greifen. Und manche haben sich da gefragt, ob du womöglich ...« Sie sah ihn wieder offen an. »Ich aber war mir sicher, daß du kein Feigling bist. Aber ... nun ja ... ich sollte das zwar nicht zugeben, aber ich habe Obie gefragt. Danach, wie du dich in deiner Soldatenzeit gemacht hast. Daher weiß ich, daß du schon mal eine Belagerung mitgemacht hast. Obie hat mir alles erzählt – auch das, was du unten in Mexiko gemacht hast. Wie du zwei Kavalleristen ohne Pferd gefunden hast, die in einen Hinterhalt geraten und verwundet worden waren, und denen du dann dein eigenes Pferd gegeben hast und zurückgeblieben bist und die Mexikaner abgewehrt hast, so daß sie sich in Sicherheit bringen konnten; und dann hast du noch weitergeschossen, auch nachdem du selbst was abbekommen hattest, bis andere dich herausgehauen haben. Und daß das dir die Verdienstmedaille eingetragen hat, außerdem die Empfehlung deines Colonels, dich in der Offiziersschule -1629-
aufzunehmen und ...« »Whoa, whoa. Alles schön und gut – aber das ist Vergangenheit. Warum sollte es dir etwas ausmachen, ob ich feige war oder nicht?« »Das tut es letzten Endes ja auch nicht. Ich würde dich trotzdem lieben. Ich möchte nur alles über den Mann erfahren, den ich ...« »Sunday ... Sunday ...«, sagte er aufseufzend und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht nur alt genug, um dein Vater zu sein, jetzt hast du mir auch noch ins Bewußtsein gerufen, daß ich Menschen umgebracht habe, als es dich noch nicht mal gab.« »Wäre ich nicht geboren worden, hätte ich dich nie kennengelernt. Und seit ich dich kenne, bin ich so schnell wie möglich erwachsen geworden. Vielleicht, Zachary – vielleicht können wir von jetzt an miteinander Schritt halten.« Fast wie zu sich selbst, sagte Edge: »Da ist noch was anderes.« Dann drehte er sich um und schaute über die Stadt hinweg zum Montmartre hinüber. »Erst letzte Nacht habe ich geträumt ... wir ständen dort drüben zusammen, und sie zeigte mir Sehenswürdigkeiten. Wie sie das immer tat, wenn wir irgendwo in der Höhe standen ... dem Schiefen Turm von Pisa, dem Stephansdom in Wien. Es war ein reiner sonniger Frühlingstag, und sie trug dies gelbe Kleid, das sie hatte. Ich sagte zu ihr, schau, wir sind endlich da, in Paris, jetzt können wir noch einmal ganz von vorn anfangen. Aber sie sagte, nein. Traurig sagte sie das – sie wollte es ja nicht sagen –, aber sie hat Nein gesagt, und ich konnte nicht begreifen, warum. Im Traum, verstehst du, erinnerte ich mich nicht; sie aber wohl. Sie wußte, daß sie tot war.« Sunday blinkerte sehr rasch mit den Lidern, um den Schleier vor den Augen zu vertreiben, so als sähe Edge sie nicht an, und dann schluckte sie ein paarmal, ehe sie leise sagen konnte: »Ich würde mich nie in deine Erinnerungen hineindrängen. Oder in -1630-
deine Träume. Oder dein Intimstes. Ich würde nur da sein, wenn du mich wolltest.« Und als Edge sich endlich nach ihr umdrehte, war sie fort. Während Florian und die meisten normalen Haushaltungsvorstände von Paris sich beeilten, ihre Lebensmittelkarten zu beantragen, vollzogen die Pariser Kaufleute und Händler wieder eine Kehrtwendung. Als klar wurde, daß die Stadt der Belagerung widerstehen wollte und daß über die bereits in der Stadt befindlichen Vorräte hinaus nichts weiter vorhanden war, änderten die Händler – und nicht nur die Metzger, sondern die Verkäufer aller anderen Lebensmittel, die von Kleidung, Brennstoffen und anderen Waren – neuerlich die Preise, und sie kletterten in ungeahnte Höhen. Da die Regierung auch finanziell ziemlich bedrängt war, verteilte sie die gehorteten Vorräte nicht einfach an die Bevölkerung, sondern verkaufte sie an die Wiederverkäufer, und zwar zu den Preisen, die wiederum sie bekommen konnte, befand sich dementsprechend also in einer moralisch ziemlich schwachen Position, irgendwelche Privatpersonen anzuprangern, die Preistreiberei betrieben. Das Ergebnis war, daß von nun an die Ärmeren immer weniger und weniger von immer schlechteren Waren erhielten, während diejenigen, die es sich leisten und die geforderten Preise bezahlen konnten, feststellten, daß die Belagerung sie zwar sehr teuer zu stehen kam, sie aber keine Not zu leiden brauchten. Cafes und Restaurants servierten den Gästen, was diese sich leisten konnten – vom reinsten Spülwasser in den billigsten Spelunken bis zum filet mignon das vielleicht nur ein kleines bißchen zäh war – bei Vefour, im Jockey Club und im Grand Hotel du Louvre. Während der Nachmittagsvorstellung stand Florian eines Tages hinter der Gardine und sah »le Demon Debonnaire« zu, wie er Brutus und Caesar durch ihre Brücken-Nummer führte, als Nadar neben ihm auftauchte und fragte: -1631-
»Monsieur Florian, haben Sie vielleicht irgendwelche Angehörigen irgendwo im Ausland, die sich um Ihre Sicherheit hier in Paris sorgen könnten?« »Wie bitte? Nein, habe ich nicht. Keine Menschenseele. Wieso fragen Sie?« »Ich dachte, vielleicht würden Sie ihnen gern irgendeine Nachricht zukommen lassen. Durch die erste Luftpost der Welt.« »Wie beliebt?« »Die Post funktioniert ja weder per Kutsche noch per Eisenbahn. Die Boches haben Paris’ einzige Telegraphenleitung, die uns mit der Außenwelt verband, gekappt. Die Regierung fürchtet, daß unsere Isolation sich vielleicht schlimmer auf die öffentliche Stimmung auswirken könnte als irgendein anderer Mangel. Sie wissen ja, daß die Franzosen immer miteinander reden müssen.« Sein eigener Redeschwall wurde gerade in diesem Augenblick durch den Applaus unterbrochen, den das Publikum Pemjean, Peggy und Mitzi spendete. Florian zog Nadar aus dem Chapiteau hinaus. Rouleau stand draußen, und als er den Besucher sah, kam er herbei. Nadar wandte sich an beide Männer, als er sagte: »Da die Boches nichts anderes tun, als den Beobachter zu beobachten, hat unser Postminister, Monsieur Duroux, seine Hand auf die Celeste gelegt und will sie, mit Post beladen, über die feindlichen Linien hinweg irgendwo in die nicht von den Preußen besetzte Provinz schicken. Beim größten Teil des Postgutes handelt es sich selbstverständlich um offizielle behördliche Mitteilungen, aber Bürger, die bereit sind, einen hohen Tarif dafür zu bezahlen, können auch persönliche Briefe mitschicken.« »Und wohin in den unbesetzten Provinzen?« fragte Rouleau. »Alors, das ist schwer zu sagen. Sie haben gewiß längst -1632-
gemerkt daß bei uns die Westwinde vorherrschen, und das würde einen Aerostat auf die von den Preußen besetzten Gebiete zutreiben. Die Ballonpost, wie Monsieur Duroux sie benannt hat, muß einen Ostwind abwarten. Und ich als fachmännischer Berater bei diesem Vorhaben werde den richtigen Tag und die richtige Stunde ermitteln, indem ich aus Ölpapier hergestellte, notfalls entbehrliche Miniaturballons aufsteigen lasse. Gelingt es dem Luftschiffer, über die feindlichen Linien nach Westen zu fliegen und irgendwo an einem sicheren Ort weit dahinter zu landen, kehrt er natürlich nicht zurück. Es müßte schon Zufall sein, wenn er irgendwo in der Nähe einer Gasquelle landete.« »Nun, das ist eine geniale und kühne Idee«, sagte Florian, »doch meine ich, die Sache ist nicht recht zu Ende gedacht. Sie haben einen Ballon, der auch nur einen einzigen Flug machen kann – den Hinflug –, um die Post dann vielleicht in einem Bauerndorf abzuliefern, wo kein Mensch des Lesens und Schreibens mächtig ist ...« »Aber sobald er sicher hinter den preußischen Linien ist, kann der Luftschiffer ja mit seiner kostbaren Last über Land Weiterreisen – sagen wir: zu General Chanzy in Orleans – oder bis zur nächsten größeren Stadt, die mit dem Rest Frankreichs und der Welt in Verbindung steht.« »Und was dann?« fragte Rouleau. »Es besteht doch keinerlei Möglichkeit, irgendwelche Mitteilungen hierher zu machen. Sie werden nicht einmal wissen, ob Ihr Einwegballon mit dem Postbeutel irgendwo sicher gelandet ist.« »Aha! Jawohl, das doch!« sagte Nadar und hielt einen Finger in die Höhe. »Der Luftschiffer der Celeste wird eine Anzahl Brieftauben mitnehmen. Eine oder mehrere von ihnen sollten es schaffen, hierher zurückzufliegen und uns die gute Nachricht zu überbringen. Inzwischen wird der zweite meiner Ballons instand gesetzt und flugfertig gemacht. Verläuft der erste Flug erfolgreich, wird es noch einen geben und hinterher noch viele mehr. Mein dritter Ballon wird im Moment sorgfältig -1633-
auseinandergenommen, so daß die Zwickel als Muster für andere dienen können. Man ist gerade dabei, ein ganzes Regiment von Näherinnen zusammenzustellen; mit ihnen werden wir die Gare d’Orleans von einem Bahnhof in eine Ballonfabrik verwandeln. Warum auch nicht: es laufen weder Züge ein noch aus, doch Leuchtgas kann der Bahnhof liefern. Diese in Massenfertigung hergestellten Ballons werden aus billigem Material gemacht – für die Ballonhülle nehmen wir Kaliko, und für Netze und Seile Hanf; Seide steht uns nicht genug zur Verfügung –, und der liebe Himmel mag wissen, aus was die Klappenventile und das andere Zubehör bestehen werden, das von zwangsrekrutierten Mechanikern mit ungeübten, klobigen Fingern gefertigt wird. Doch die in Massenproduktion gefertigten Aerostats sollen ja nicht mehrmals benutzt werden, sondern brauchen nur jeweils einen Flug zu überstehen.« »Und wieder sage ich: genial!« sagte Florian. »Trotzdem sehe ich immer noch nicht, wo der Vorteil liegt, wenn man Briefe und offizielle Mitteilungen nur aus der Stadt hinaus bringen kann, aber keinesfalls etwas hereinkommt. Eine Brieftaube, die zurückkehrt, kann – was? transportieren, doch gewiß nicht mehr als das Gewicht eines einzelnen Briefes.« »Fünfzig Gramm. Hier nun kommt die Erfindung ins Spiel, von der ich früher gesprochen habe und an der Monsieur Dagron und ich gemeinsam gearbeitet haben. Wir photographieren eine beschriebene Seite. Dann nehmen wir die Negativplatte und verkleinern sie mit Hilfe einer Linse fast auf Stecknadelkopfgröße, um sie dann auf ein lichtempfindliches Reispapier zu projizieren. Auf einem einzelnen, glatten, nahezu gewichtlosen Stück Reispapier, das nur so groß ist« – er rahmte mit den Fingern ein kleines Rechteck ein – »können wir in gedruckter und verkleinerter Form eine ganze Pariser Zeitung wiedergeben, oder das Entsprechende an persönlichen Briefen, chiffrierten Regierungsdokumenten, was immer Sie wollen.« -1634-
»Aber wer kann das lesen?« »Jeder – mit Hilfe einer Laterna magica und eines Vergrößerungsglases. Klappt es mit der ersten Ballonpost, fliegt bei der zweiten Monsieur Dagron mit. Er wird sich bei der Regierungsdelegation in Tours einquartieren und dort mein Verbindungsmann sein; gleichzeitig wird er das Verfahren jedem anderen Photographen in Frankreich beibringen. So können unsere die Stadt verlassenden Aerostats sämtliche Post und Nachrichten aus Paris hinausbringen, und die heimkehrenden Brieftauben können eine ganze Menge hierherbringen. Zwei oder mehr Vögel werden zweifellos Duplikate angeschnallt bekommen, um den Verlust durch Raubvögel, Jäger und Zufälle auszugleichen ...« »Phantastisch!« murmelte Rouleau. »Das neue Jargon-Wort für sowas ist elefantasque«, sagte Nadar lächelnd und wies zurück in die Manege, wo er gerade Brutus und Caesar gesehen hatte. »Möglicherweise inspiriert vom Elefantenhunger, den die Leute haben. Ein weiteres neues und beliebtes Jargon-Wort ist Queue.« »Queue?« »Queue. Nach dem Schwänzchen des Buchstabens. Ist damit nicht vollkommen die Schlange wiedergegeben, in der man in jedem Laden und vor jedem Stand manchmal stundenlang anstehen muß, wenn man überhaupt irgend etwas ergattern will? Übrigens, ich muß sagen, daß weder Ihre Elefanten noch Sie selbst unter dem Lebensmittelmangel zu leiden scheinen.« »Wir kommen zurecht«, sagte Florian. »Es ist zwar sündhaft teuer, im Grand Hotel zu leben und unsere Lebensmittelrationen für die Tiere abzuzweigen – und das, ohne jemals unsere Eintrittspreise zu erhöhen –, aber wir tun es. Ich kann nur hoffen, daß die Tatsache, daß wir so gut leben, diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, durch die Spannung und die Heiterkeit, die wir ihnen so preiswert liefern, entschädigt -1635-
werden. Und vielen Dank, Monsieur, daß sie mir das mit la queue erzählt haben. Wenn dies Wort jetzt so volkstümlich geworden ist, muß ich es in eines unserer komischen Entrees einarbeiten.«
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12 Zu denen, die die ersten langsamen Schritte der Celeste auf ihrer epochemachenden Reise mitbekamen, gehörten die Nachtmenschen von Paris – Lastenträger auf dem Gemüsemarkt, Huren und Obdachlose, die im Müll nach Verwertbarem suchten. Der Ballon war über Nacht gefüllt worden; danach hatte man die mit vielen Extrasandsäcken beschwerte Gondel auf einem kräftigen Brauereiwagen verkeilt. Vor Morgengrauen begannen vier Kaltblüter damit, das Gefährt samt Gondel und Ballon quer durch den gesamten Nordteil der Stadt zur Butte de Montmartre zu schaffen. Dem Wagen mit dem Ballon folgte eine Kutsche, in welcher der Postminister und sein Chefberater in Sachen Ballonpost, Monsieur Nadar, und der erfahrenste Luftschiffer saßen, der sich freiwillig für diese Mission zur Verfügung gestellt hatte, ein gewisser Monsieur Mangin; dazu als interessierter Beobachter Monsieur Rouleau vom FLORILEGIUM. Außerdem befand sich in der Kutsche noch ein kleiner Transportkasten mit sechs Brieftauben, die verschlafen flatterten und gurrten, sowie ein Jutesack mit hundertfünfundzwanzig Kilogramm Depeschen vom Hótel de Ville – hoffnungsvoll adressiert an die Regierungsbehörden in Tours. Monsieur Mangin hielt ein paar seiner Sondervorkehrungen für die Fahrt auf dem Schoß: einen Korb mit belegten Broten und Wein, einen Taschenkompaß sowie ein Aneroidbarometer. Der Kutsche wiederum folgte ein weiterer Pferdewagen, auf dem etwa ein Dutzend der kräftigsten Lastenträger saß, die man in les Halles hatte auftreiben können, denn die Brauereigäule konnten den rollenden Untersatz der Celeste nur zur Hälfte die steil ansteigende Straße nach Montmartre hinauf schaffen. Von dort an setzten die Lastenträger ihr Gewicht und ihre Muskelkraft ein, um die mit Sandsäcken gefüllte Gondel weiterzutransportieren und trugen sie – wobei der eigentliche -1637-
Ballon über ihnen hüpfte und wogte – den Rest der Strecke zu dem kahlen Platz vor der Kirche St. Pierre hinauf. Mangin begleitete die Träger und paßte auf, daß der Boden der Gondel nicht über hochstehendes Felsgestein rutschte oder das Haltenetz sich nicht in Baumästen oder Windmühlenflügeln verhedderte. Nadar hingegen, Rouleau auf den Fersen, eilte weiter bis dorthin, wo seine Helfer seit Tagesanbruch die Versuchspapierballons hatten aufsteigen lassen, wobei einige davon ungehindert hatten fortfliegen dürfen, andere jedoch von Schnüren gehalten wurden. Erfreut konnte Nadar Mangin berichten, als er und die Träger es bis auf die Kuppe des Hügels hinauf geschafft hatten: »Die Bedingungen sind günstig, mon confrere. In der Höhe zwischen tausend und fünfzehnhundert Metern herrscht eine Ostströmung. Sie müssen also mindestens auf tausend Meter hinaufgehen, ehe Sie über feindliches Gebiet hinwegfliegen, um außerhalb der Reichweite ihrer Gewehre zu sein. Da das merdeux Leuchtgas so wenig Auftrieb hat, wollen wir auf keinen Fall, daß Sie abtreiben, bevor Sie diese Höhe erreicht haben; deshalb werden wir Sie an einem Halteseil hochlassen. Hier auf der Hügelkuppe befinden wir uns in rund hundert Metern Höhe. Wenn Sie merken, daß das Seil nicht weiter nachgibt, wissen Sie, daß wir neunhundert Meter abgespult haben; Ihr Aneroid sollte dann annähernd tausend Meter anzeigen. Ist das der Fall, lösen Sie das Halteseil und gehen, falls möglich, noch höher hinauf. Danach, mon ami, sind Sie und die Celeste ganz auf sich allein gestellt. Gott sei mit Ihnen!« Der Start ging ohne große Feierlichkeit vonstatten; nur der Postminister sah sich bemüßigt, die ganze Zeit über respektvoll in Habachtstellung dazustehen und militärisch grüßend die Hand an die Stirn zu legen. Die Gondel war am Ende des Seils festgemacht, das auf einer fest im Boden verankerten eisernen Winde zu einer dicken Rolle aufgerollt war. Die Extrasandsäcke wurden fortgenommen und dann das Seil abgehaspelt. Der -1638-
Ballon stieg fast senkrecht empor, und Nadar zählte, wie oft die große Kurbel der Winde von den Händen seiner Helfer gedreht wurde, wobei er wegen der leichten Seitenneigung und der Ausbuchtung des Seils etwas an Länge zugab. Schließlich rief er: »Halt!« Es dauerte gar nicht lange, und der Ballon über ihnen machte einen stürmischen Satz in die Höhe und trieb dann in westlicher Richtung davon. Und noch einen Moment später kam das Halteseil heruntergerauscht und schlug auf dem Boden auf, so daß der Herr Minister seinen militärischen Gruß aufgeben und würdelos zur Seite springen mußte, um nicht getroffen zu werden. Während der Ballon nach Westen davonsegelte, verfolgte Nadar ihn mit einem Feldstecher. Die anderen auf der Hügelkuppe hörten in der Ferne Gewehrfeuer aufknistern; dann schossen die Kanonen von Fort Valerien weit draußen eine ganze Anzahl von weithin hallenden Schüssen auf den Gegner ab, doch das nur, um die Gewehrschützen beim Zielen zu stören. Nadar sagte: »Mangin wirft noch mehr Ballast ab, um weiter an Höhe zu gewinnen.« Dann kicherte er und sagte: »Außerdem läßt er noch was runterfallen«, und reichte den Feldstecher weiter an Rouleau. Jules stellte die Linsen auf den nunmehr in weiter Ferne dahintreibenden blaßgelben Ballon ein und sagte verwirrt: »Was ist das? Er wirft doch nicht etwa Konfetti auf die Preußen hinab?« »Es sind viertausend Visitenkarten von mir«, sagte Nadar stolz. »Ich dachte, die salauds sollten wissen, wer zumindest zum Teil für diesen grand coup d’eclat verantwortlich ist.« Hinterher eilten Nadar, Duroux und Rouleau gemeinsam den Hügel hinunter, sprangen in die Kutsche und suchten in der Rue de Berne das Haus eines älteren Taubenzüchters auf, der einige seiner Brieftauben für das Unternehmen zur Verfügung gestellt hatte. Sie wären sofort zum Dach hinaufgestiegen, hätte der alte Mann nicht erklärt: »Patience, messieurs, Ihr Bote kann bis jetzt noch nicht einmal gelandet sein. Vertreiben wir uns bis dahin -1639-
die Zeit; Bleiben Sie, meine Frau wird Ihnen ein Frühstück vorsetzen.« Selbiges geschah, obwohl es keine besondere Mahlzeit war. Mittlerweile wurden alle Grundnahrungsmittel auf Regierungsanordnung hin gestreckt und gepanscht – der Kaffee mit gebrannten Eicheln versetzt, die petit pains mit einem Mehl gebacken, das ›offiziell‹ eine Mischung aus Weizen, Hafer und Reis war, jedoch mehr nach Heu schmeckte und sich auch so kaute. Dann erst stiegen die Herren zusammen mit dem alten Mann aufs Dach hinauf, und nahmen ungeduldig zwischen Taubenschlägen, Schornsteinröhren und Wäscheleinen Platz. Dort warteten sie bis nach Mittag, stiegen dann wieder zu einer aus Sägemehlwürsten, weiterem Strohbrot und etwas sehr saurem Wein bestehenden Mahlzeit hinunter, kehrten wieder zurück aufs Dach und warteten – jetzt schon ziemlich besorgt –, bis schließlich gegen Sonnenuntergang die erste Taube flatternd daheim landete. Der alte Mann griff sie sich, nahm sie behutsam von der Stange und holte sie aus dem Schlag heraus, löste die kleine an ihrem Bein festgeschnallte Blechröhre und überreichte diese mit einer Verbeugung dem Postminister. Duroux machte das Röhrchen mit leicht zitternden Fingern auf, rollte die winzige Papierrolle auf und las mit einem triumphierenden Lächeln im Gesicht: »›Sicher gelandet elf Uhr Craconville, nahe der Eure‹ – Mein Gott, er hat kaum drei Stunden gebraucht, um über achtzig Kilometer zurückzulegen! ›Weiterreise auf Muli Rouen, von dort Eisenbahn Tours.‹ Vive la Republique! Messieurs, mes amis, die Ballonpost ist ein Erfolg!« »Wirklich ein Erfolg«, sagte Rouleau, als er zum Festplatz zurückkam und von den Ereignissen des Tages berichtete. »Kurze Zeit später traf eine zweite Taube ein; sie trug ein Doppel der Nachricht. Mangin sollte bei der Landung drei Tauben fliegen lassen und drei aufheben, um sie von Tours aus -1640-
loszulassen.« »Wir alle haben die Celeste über uns hinwegfliegen sehen«, sagte Agnete. »Def var vaeldig, Jules, aber bei weitem nicht so prächtig wie die Saratoga.« »Dafür hat die Saratoga auch noch nie eine so lange Reise gemacht«, sagte Rouleau ein wenig wehmütig. »Und war auch nicht in einer so wichtigen Mission unterwegs wie dieser.« »Quatsch! Bloß nicht eifersüchtig sein«, sagte Willi. »Der Ballon und du, ihr seid auch noch nie beschossen worden.« Zwei Tage darauf sahen die Circusleute einen dritten Ballon in großer Höhe über den Bois hinziehen. Nadar hatte nicht einmal abgewartet, daß Mangins restliche Tauben aus Tours eintrafen, ehe er den zweiten seiner wieder hergerichteten alten Ballons, die Neptune, starten ließ. Diesmal hatte er es besonders eilig, hatte die Gondel doch neben dem Luftschiffer, der sich freiwillig gemeldet hatte, Nadars Photographenkollegen Dagron mit seinem Verkleinerungsapparat an Bord. Die erste Brieftaube, die im heimischen Schlag wieder auftauchte, brachte die gute Nachricht, daß die Neptune sicher in Mantes gelandet sei – also gleichfalls am Eure-Fluß und weit hinter den preußischen Linien. Als schließlich die anderen Tauben Nachricht aus Tours brachten, daß beide Luftschiffer, Dagron und die ganze Post aus Paris eingetroffen seien – und daß Dagron sich beeile, seinen Apparat aufzubauen, um Zeitungen und Briefe so zu verkleinern, daß sie in die Stadt hinein gebracht werden könnten –, startete Nadar noch einen Ballon. Er hatte keinen alten und erprobten mehr, den er schicken konnte. Der großartig Les Etats-Unis genannte war das erste der Hals über Kopf gefertigten Massenprodukte aus Kaliko aus der neuen ›BallonFabrik‹ in der Gare d’Orleans. Wenigstens handelte es sich bei dem Luftschiffer, der sich freiwillig gemeldet hatte, um einen Experten – Louis Godard, für seine Leistungen in der -1641-
Ballonfahrt nicht minder berühmt als Nadar selbst. Godard erfüllte seine Mission mit den Etats Unis auch glänzend, landete sicher wie die anderen nahe der Eure, und wie die anderen vor ihm reiste auch Godard über Land weiter nach Tours. Doch jetzt gab es keine erfahrenen Luftschiffer mehr in Paris; das Kommando über den nächsten Kaliko-Ballon, der nach Westen aufbrach, die Villede-Florence, führte ein gewisser Gaston Tissandier, ein geschätzter Chemiker zwar, aber als Luftschiffer ein Neuling. Es war hinterher unklar, ob Tissandier bei seinen Aufstiegsmanövern die Klappenventile falsch bediente oder ob der Florence mitten im Flug eine Naht platzte; denn der Bericht des Kapitäns über den Unfall war hastig und verkürzt, ja, kaum leserlich mit der linken Hand hingekritzelt worden. Fest stand nur, daß die Florence viel zu früh und ausgerechnet in der Nähe eines Lagers hessischer Soldaten wieder aufprallte. Tissandier hatte sich beim Sturz nur den rechten Arm gebrochen und sogar Zeit gefunden, linkshändig seine Nachricht hinzukritzeln und die Taube in die Luft zu werfen, doch dann kamen die Hessen, um ihn und die achtzig Kilogramm Ballonpost, die er dabei hatte, zu konfiszieren. Die Pariser Zeitungen, die lebendige, ja überschwengliche Schilderungen über die erfolgreichen Ballonfahrten gebracht hatten, ließen über diesen Fehlschlag kein Wort verlauten. Nadar jedoch kam persönlich auf den Festplatz des FLORILEGIUM, um Rouleau und Florian davon zu berichten, was der Villede-Florence widerfahren sei. »Ich finde, ich bin es Ihnen schuldig, offen zu sein«, sagte er, »denn ich bin auch gekommen, um Sie, Monsieur Rouleau, zu bitten, sich selbst, und Sie, Monsieur Florian, die Saratoga freiwillig zur Verfügung zu stellen.« Rouleau wirkte interessiert, doch Florian runzelte die Stirn, so daß Nadar sich beeilte fortzufahren: »Nicht für die Ballonpost, Messieurs. Damit können wir mit wenig vertrauenerweckenden Aerostats und unerfahrenen Aeronautes Risiken eingehen. Nein, ich bitte Sie, -1642-
uns Ihr Aerostat und Ihre Habilite für eine weit wichtigere Mission zur Verfügung zu stellen. Eine, bei der wir uns keinen Fehlschlag leisten können.« »Könnten Sie sich nicht etwas genauer ausdrücken?« fragte Florian. »Die heute eingetroffenen Tauben haben die ersten Beispiele dessen gebracht, was Dagron und ich Micromessages getauft haben. Die morgigen Zeitungen werden die ersten Meldungen aus der Außenwelt bringen, die wir seit Beginn der Belagerung bekommen haben. Um das zu beweisen, werde ich Ihnen schon im voraus einige Neuigkeiten verraten. Die italienische Armee hat Papst Pius Rom weggenommen, und König Vittorio Emanuele hat Rom zur neuen Hauptstadt des vollständig vereinigten Italien erklärt. Prosper Merimee ist in Cannes gestorben, und in Bayern hat Richard Wagner soeben die Tochter von Franz Liszt geheiratet.« Florian stellte belustigt fest, daß Nadar wie alle Franzosen den Namen Liszt wie Lits aussprach, meinte jedoch nur: »Wir danken Ihnen für die Neuigkeiten, wenn ich auch nicht begreife, was die mit uns zu tun haben ...« »In den Micromessages sind aber auch bestürzende Neuigkeiten enthalten, was den Fortschritt des Krieges und das allgemeine politische Klima draußen in der Provinz betrifft. Ich darf zwar keine Staatsgeheimnisse verraten, doch soviel kann ich sagen. Die schwächliche Delegation der Regierung in Tours ist unfähig, die Kräfte des unbesetzten Frankreichs um sich zu scharen, um unsere neue Republik zu stützen. Jemand aus Paris, aus dem Hótel de Ville, jemand Hochstehendes im Nationalen Verteidigungsrat muß aus Paris hinausgebracht werden, damit er für ganz Frankreich sichtbar ist und die Zügel in die Hand nehmen kann.« »Buchstäblich hinausgeflogen werden?« rief Jules Rouleau. »Der alte Präsident Trochu?« -1643-
»Nein, der Präsident hält seine Anwesenheit hier für das Überstehen der Belagerung für unabdingbar. Das kann uns nur recht sein, ami.« Er lachte und konnte der Versuchung des Wortspiels nicht widerstehen: »Sie wollen doch nicht erleben, daß Ihr wunderschöner Ballon trop chu vom Himmel fällt, oder?« Rouleau und Florian lachten pflichtschuldigst. »Und Außenminister Favre weigert sich, diese Aufgabe zu übernehmen; er gesteht schändlichst, daß ihn das schiere Entsetzen packt bei der Vorstellung, die Erde zu verlassen. Deshalb wird der Innenminister, Gambetta, das machen.« »Nach dem, was ich auf der Straße so mitbekomme«, sagte Florian, »würde es niemand etwas ausmachen, wenn er vom Himmel herunterfiele.« »Leon Gambetta ist kein sonderlich beliebter Mann, stimmt, und auch nicht liebenswert. Doch wenn jemand es schafft, die Strömungen innerhalb der Regierung zu integrieren, dann er. Nun will ich Ihnen auch gern gestehen, Freund Jules, daß Sie ihn nach wenigen gemeinsam mit ihm in einer Ballongondel verbrachten Stunden verabscheuen werden. Trotzdem bitte ich Sie – fleht die Republik Sie an –, diesen Flug zu unternehmen. Sie haben einen robusten Seidenballon, der wesentlich vertrauenswürdiger ist als unsere zusammengeschusterten Fabrikerzeugnisse aus Kaliko. Außerdem haben Sie den Wasserstoffentwickler, und so wird die Saratoga wesentlich beweglicher und manövrierfähiger sein als unsere mit trägem Leuchtgas gefüllten Plumpsäcke.« Rouleau sah Florian an und schob fragend die Augenbrauen in die Höhe. »Nun ...«, sagte Florian. »Wir haben im Moment ja keine Verwendung für die Saratoga und werden sie auch nicht wieder haben, ehe nicht Frankreich wieder in seinen Normalzustand zurückgekehrt ist. Also gut. Ich werde Ihnen die Saratoga leihweise zur Verfügung stellen. Doch wenn du deine Dienste freiwillig anbietest, Monsieur Roulette, dann ist das einzig und -1644-
allein deine Sache.« »Ach, ich bin schon dazu bereit«, sagte Rouleau, kräftig bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, daß er im Grunde scharf auf diese Aufgabe war. Er sagte sogar bescheiden: »Aber vom Luftschiffer hängt soviel für diesen Flug ab, Monsieur Nadar, daß ich gern hinter Ihnen zurückstehen will; denn Sie sind mir als Aeronaut weit überlegen.« Nadar machte ein gekränktes Gesicht. »Wofür halten Sie mich, Monsieur? Es wäre mir zwar ein Vergnügen, gegen Madame Nadars lästiges Verbot aufzumucken, der Luftschiffahrt gänzlich zu entsagen. Aber ich würde mir nie herausnehmen, das Luftschiff eines Kollegen zu entwenden – und ihn um den Ruhm zu bringen, es zu einem so tollkühnen patriotischen Wagnis zu benutzen.« »Nun«, sagte Florian, »da dies möglicherweise auf lange Zeit der letzte Aufstieg der Saratoga in Paris sein wird, sollten wir ein tolles Spektakel daraus machen.« So kam es, daß an einem strahlend blauen Oktobermorgen, während ein aufgeblasener Kalikoballon der Ballonpost von Brauereipferden langsam von der Gare d’Orleans zur Butte Montmartre gezogen wurde, gleichzeitig eine farbenprächtige Circusparade lärmend vom Bois de Boulogne aus demselben Ziel zustrebte. Nur die Tiere in den Käfigwagen sowie die meisten Racklos blieben im Bois zurück. Wie üblich, führte Florian in seiner Kutsche die Parade an und gleich dahinter kam Bumbum mit seinen Musikanten auf dem Kapellenwagen. Die Artisten auf den nachfolgenden Wagen trugen alle ihr Manegenkostüm. In der Mitte des Zuges schritten die beiden Elefanten. Brutus zog den Ballonwagen mit der noch zusammengelegten Saratoga darin, während Caesar die beiden Gasentwickler als Tandem hinterherzog. Die Reiter des Circus – Colonel Ramrod, Clover Lee, Monday und die Jäszi-Brüder – folgten, wobei der Colonel und Monday ihre Reittiere elegant tänzeln ließen, während Clover Lee, Arpäd, Gusztäv und Zoltän -1645-
aufrecht stehend immer wieder schwierige Posen einnahmen. Abdullah, Fünffünf, Emeraldina und das Kesperle waren zu Fuß, machten Überschläge und Flic-Flacs, trieben radschlagend ihre Possen und führten immer wieder kleine akrobatische Übungen vor. Daphne schoß auf ihren Rollschuhen hin und her, während der Bebenmacher auf seinem Einrad dahinkarriolte, wobei beide immer wieder zwischen den einzelnen Abschnitten der Kolonne hin- und herflitzten, sich unter die Zuschauer auf dem Bürgersteig wagten und manchmal sogar in eine Ladentür hineinrollten. Die Dampforgel bildete die Nachhut und fauchte und schnaufte dermaßen laut, daß man sie sogar in St.-Cloud noch hören mußte und die Preußen dort sich gewiß gefragt haben, was für Tollheiten ihre eingekesselten, doch besiegbaren Gegner jetzt schon wieder vollführten – wobei sie den Kalikoballon über die Dachfirste hüpfen und wieder untertauchen sahen, und das alles offenbar zur Begleitung dieser stürmischen und grellen Musik. Am Fuß des Montmartre machte die Parade halt und stellte sich auf der Place Blanche auf, wobei Kapelle und Dampforgel sich abwechselten, um die große Menge der Schaulustigen, die sich ihnen angeschlossen hatte, zu unterhalten. Die Elefanten zogen dieweil ihre Wagen bis zur Mitte des Hügels hinauf. Dort begannen Rouleau und Beck mit den Böhmen die Saratoga auszulegen und die Gasentwickler zu laden. Nadars muskelstrotzende Lastenträger schafften inzwischen den Aerostat der Ballonpost an ihnen vorüber bis zur Hügelkuppe hinauf. Bei diesem Ballon handelte es sich um einen schmucklosen weißen Ball mit dem wenig kunstvoll darauf gepinselten Namen, George Sand. Er hätte sofort aufsteigen können, denn Nadars Helfer waren bereits zu dem Schluß gekommen, daß der Wind oben genau aus der richtigen Richtung kam. Doch hatte Nadar angeordnet, daß beide Ballons zusammen aufsteigen sollten, und für diesen Zweck zusätzliche Seilwinden aufgebaut; denn er sagte sich, ein Doppelstart könne -1646-
die Gewehrschützen der Belagerer nur verwirren. Während die Saratoga immer praller wurde, unterhielt sich Rouleau mit dem Luftschiffer der George Sand, einem Monsieur Revilliod, sowie seinen beiden Passagieren, Minister Gambetta und dessen Sekretär, Monsieur Spuller. Die beiden Herren trugen schwere Pelzmäntel und konnten ihre Angst nicht ganz verbergen, als sie nervös die beiden Luftschiffe betrachteten und besorgt die Fracht inspizierten und nochmals inspizierten: Beutel mit Kleidung und persönlichen Habseligkeiten, Mappen mit offiziellen Papieren, einen Ballen politischer Flugschriften, Körbe mit belegten Broten und Wein und eine Transportkiste mit sechs Brieftauben darin. Leon Gambetta war in Person genausowenig anziehend wie sein Ruf – untersetzt, aufgeschwemmt, bärtig, von dunkler, olivgrüner Hautfarbe; er sah genauso aus wie das, was er war: der Sohn eines aus Genua eingewanderten Krämers. Eine Weile fragte sich Rouleau immer wieder, wieso ein Mensch es fertigbrachte, die beiden zu weit auseinanderstehenden Ballons auf einmal nervös betrachten zu können, bis ihm aufging, daß Gambetta links ein Glasauge hatte, das sich erschreckend unabhängig von seinem gesunden Auge bewegte. Als die Saratoga endlich prall gefüllt war, sich aufgerichtet hatte und neben der George Sand an ihren Leinen zerrte, waren auch die anderen Artisten den Hügel heraufgekommen. Nur der Todlose war unten geblieben, weil die steile Straße eine zu große Quälerei für ihn gewesen wäre. Die meisten Männer schüttelten Rouleau kräftig die Hand und klopften ihm aufmunternd auf den Rücken. Die Frauen – sowie Willi – schlossen ihn innig in die Arme und küßten ihn auf die Wange. Florian sagte mit gespielter Strenge: »Paß gut auf die Saratoga auf, Freundchen, bis du sie uns zurückbringen kannst oder wir zu dir kommen!« Rouleau sagte, er werde sie hüten wie seinen Augapfel, und versprach, über die Micromessage-Brieftauben von sich hören zu lassen. Dann -1647-
kletterte er in seine Gondel. Gambetta und Spuller taten es ihm – nervös oder nicht – nach. Das Gepäck wurde ihnen von den Racklos hineingereicht, und Rouleau verteilte es, um die Gondel gut auszubalancieren. Dann tauschten Rouleau und Revilliod einen Blick, der da besagte: »Fertig!«, nickten dann auch Nadar zu, der rief: »Allezhoup!«, woraufhin seine Männer anfingen, die Kurbeln der Winden zu drehen. Als die Halteseile sich entrollten und die Ballons nebeneinander in die Höhe stiegen, nahm Gambetta allen Mut zusammen, machte sich zwar noch kleiner als er war und umklammerte krampfhaft den Rand der Korbgondel, rief aber den unter ihm rasch kleiner werdenden Menschen zu: »Vive la France! Vive la Republique!« Auf der Place Blanche ließ die schaulustige Menge ein gewaltiges Hurra ertönen und donnerte die Dampforgel pfeifend und fauchend und mit einer Lautstärke, wie man es wohl noch nie gehört hatte, ›Champs de la Patrie‹ heraus. Als Nadar seinen Helfern an den Winden mit einer Handbewegung Einhalt gebot, stand ein jeder mit durchgebogenem Rücken fast wie Kostchei da und verfolgte den Doppelaufstieg. Gleich danach kamen die Halteseile heruntergerauscht, machten die Ballons einen Satz in die Höhe und trieben seitlich davon – wobei die beweglichere Saratoga mit dem größeren Auftrieb sofort höher stieg und schneller nach Westen davonsegelte als die George Sand. Wenig später wurde das Wummern der Dampforgel, das Geschrei der Menge und die schmetternden Klänge der Kapelle von lautem Kanonendonner von Fort Valerien übertönt, und als die Preußen ohnmächtig mit ihren Flinten ins Himmelsblau ballerten, war das überhaupt nicht zu hören. Die Circusleute waren den sporadischen Kanonendonner von den verschiedenen Pariser Forts ja gewohnt, doch hier auf der Höhe des Montmartre erreichte der Knall ihre Ohren mit einer so ungewohnten Lautstärke, daß sie zusammenfuhren. Sowohl der lehmige Boden des Hügels als auch die frische Luft ringsum -1648-
schienen bei jeder Detonation noch eine ganze Weile nachzubeben. Da alle angestrengt in die Höhe schauten, bemerkte niemand, wie Monday Simms mit einem beseligten Lächeln im Gesicht und glasigen Augen hingerissen ihre Schenkel aneinanderrieb. Beim Ballonstart war es fast Mittag gewesen, und so dauerte es bis zum späteren Abend, daß Nadar mitten während der Spätvorstellung mit der Nachricht ins Chapiteau kam, daß die ersten Tauben gelandet seien, sowohl die von der Saratoga als auch von der George Sand, und die Nachricht gebracht hätten, daß beide Ballons sicher gelandet wären. Als Florian unbedingt Einzelheiten erfahren wollte, sagte Nadar achselzuckend: »Eh bien, Monsieur Rouleau ist mit seiner Gondel leider im höchsten Wipfel einer Baumkrone gelandet. Er, Gambetta und Spuller mußten vor den Augen einer völlig verdutzten, bewundernd und belustigt dreinschauenden Bauernschar unter Zuhilfenahme ihrer Hände und Füße herunterklettern. Das wird Gambetta kaum gefreut haben.« »Ach, hol’s der Teufel!« fluchte Florian halblaut. »Monsieur Roulette ist das vermutlich entsetzlich peinlich.« »Das glaube ich ganz und gar nicht«, sagte Nadar und rieb sich vergnügt die Hände. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er Leon Gambetta schon nach kurzer Bekanntschaft hassen wird. Ich würde wetten, daß Rouleau ihn in voller Absicht mitten auf den Baum aufgesetzt hat. Immerhin sind sie ja alle ohne eine Schramme, wenn auch ein bißchen wenig würdelos heruntergekommen. Den Ballon haben sie dann auch noch heil und unversehrt geborgen; jetzt sind sie samt ihrem Luftschiff auf dem Weg nach Tours. Das gilt übrigens auch für den anderen Aeronaute, Revilliod und seine Ballonpost.« Florian wartete, bis die Nummer, die gerade an der Reihe war – Mademoiselle Papillon und Maurice LeVie am Trapez – zu -1649-
Ende war und die Artisten ihren Beifall entgegengenommen hatten –, dann trat er mit seiner Flüstertüte in die Manege, um die gute Neuigkeit hinauszuposaunen. Die Zuschauer klatschten, brachen in Hochrufe aus und trampelten mit den Füßen, so als wären sie Zeuge einer weiteren gewaltigen Circussensation geworden – und die Circusleute standen ihnen darin in nichts nach. So war die Stadt in bezug auf den Rest der Welt nicht taub und stumm. Die Ballonpost funktionierte besser, als selbst Minister Duroux es sich erhofft hatte. Alle drei oder vier Tage wurde ein Ballon aus der Stadt hinausgeschickt und brachten Brieftauben Micromessages von Dagron zu den Eingeschlossenen. Es gab fast wieder so etwas wie einen normalen Briefverkehr zwischen den Parisern und ihren Verwandten und Freunden draußen, und die Pariser Zeitungen konnten mit nicht allzu großer Verspätung Berichte über die Schlachten veröffentlichen, die in den verschiedenen Teilen Frankreichs gegen die Preußen geschlagen worden waren; dazu kamen Nachrichten aus der Provinz, ja, sogar aus dem Ausland, die zuvor irgendwo in Frankreich in anderen Zeitungen gestanden hatten. Ein Großteil der Nachrichten war schlecht – zum Beispiel, daß die Stadt Toul bereits am 18., Strasbourg am 21. September gefallen waren. Andere Neuigkeiten waren kaum minder deprimierend – so zum Beispiel die Enthüllung, daß die Boches, die Versailles besetzten, weder das Schloß noch das Trianon plünderten und auch keine frommen Schwestern oder andere Frauen mißbrauchten. Sie verhielten sich sogar vorbildlich, und die Versailler Ladenbesitzer verdienten so gut an ihrer preußischen Klientel, daß sie kein Hehl aus ihrer Verachtung des »stupide und obstinee« Pariser Widerstands machten. Manche Nachrichten aus dem Ausland waren nur interessant – daß der Arktisforscher Nordenskjöld in das eisbedeckte Innere Grönlands vorgedrungen war oder daß ein gewisser Schliemann -1650-
behauptete, in der Türkei die antike Stadt Troja auszugraben. Anderes hingegen konnte unterschiedlich aufgenommen werden – zum Beispiel die Nachricht, daß bei einer Wahl im Utah Territorium Frauen gewählt hatten und in Lexington, Virginia, der große General Robert E. Lee gestorben war. Der Winter hielt in Paris früh und streng Einzug. Schon in der zweiten Oktoberhälfte wurde es so kalt, daß in der Nacht des vierundzwanzigsten die eisblauen und eisgrünen Schleier des Polarlichts geisterhaft am Pariser Himmel waberten, ein Phänomen, das erlebt zu haben, sich nicht einmal die ältesten Bewohner erinnern konnten. Die Menschen drängten sich in dieser Nacht auf den Straßen, zeigten hinauf und redeten in ehrfürchtigem Ton über dieses Phänomen. Doch am nächsten Tag war der Himmel bedeckt und kalter Regen prasselte hernieder. Den Rest des Oktober wie auch den ganzen Winter wechselten sich Tage von schneidender Kälte mit etwas milderen ab, in denen nur ein kalter Nieselregen fiel. Bis auf gelegentlichen Rauhreif am Morgen gab es in diesem Winter weder Schnee noch Eis, sondern nur Kälte, Feuchtigkeit und dann wieder Kälte. Auf dem Festplatz des FLORILEGIUM konnte der Boden an einem Tag hart sein wie Schlacke, und bereits am nächsten Tag war er aufgeweicht. Die Racklos waren ständig damit beschäftigt, die Absegelungen zu spannen und zu lockern. Wie in jedem anderen Pariser Park stiegen auch vom Bois de Boulogne klamme graue, nach Schimmel riechende Nebel auf. Doch das war noch ein Wohlgeruch, verglichen mit den Pestgerüchen, die aus den häufig überfließenden Abwasserkanälen unter den Straßen der Stadt hochkamen. Jene Haushalte, die Brennmaterial gehortet hatten, hatten bald keines mehr, und die Regierung konnte ihre Kohlenvorräte nicht einmal in Hinblick auf beträchtlichen Gewinn verkaufen, weil die Kohle unter anderem gebraucht wurde, Gas für die Ballons der Ballonpost zu erzeugen. Viele der primitiveren Häuser waren überhaupt ohne Heizung und in den Ämtern durfte nicht -1651-
geheizt werden. Selbst so hochherrschaftliche Etablissements wie das Grand Hotel du Louvre boten nur ein Mindestmaß an Heizung und Warmwasser in den vier Stunden vor Mitternacht, damit ihre Gäste eine einigermaßen angenehme Zeit hatten, um sich umzukleiden, zu baden und zu Bett zu gehen. Die stolzeste Errungenschaft des Hotels, der dampfgetriebene Aufzug, stellte seine Arbeit auf unbestimmte Zeit ein. Schließlich gab das Ministerium für Natur- und Bodenschätze den Parisern Erlaubnis, Brennholz zu schlagen, wo immer sie es fanden. Zuerst waren die Straßenbäume dran. Während die Männer mit Säge und Axt an die Stämme gingen, kletterten Kinder über ihnen herum und trugen die Äste heim, die sie abbrechen konnten. Nachdem die Bäume gefällt, zerkleinert und nach Hause gebracht waren, kamen die Frauen und sammelten jeden abgebrochenen Zweig und jedes Stück Rinde ein. Sogar die altehrwürdigen Kastanienbäume, die den Champs-Elysees säumten, sowie die Linden im Jardin du Luxembourg und im Park der Tuilerien, verschwanden. Erst als auch hier nichts mehr zu holen war, eilten die Holzfäller in die weiter entfernten Parks wie den von Vincennes, Montouris, der Butte Chaumont und den Bois de Boulogne. Die Leute vom FLORILEGIUM, die ihren Bois liebten, waren froh, daß dieser wiewohl so groß wie alle anderen Parks zusammen – erst als letzter an die Reihe kam. Fast alle alten und großen Bäume mußten dran glauben, doch bestand ein großer Teil des ehemaligen Waldes aus Neuanpflanzungen, bei denen sich das Abholzen der dünnen Jungbäume und Sträucher nicht lohnte. Selbst in den deprimierendsten Tagen verließen die meisten Pariser häufig ihre kalten Wohnungen, wagten sich in das noch kältere und klammere Freie hinaus, um ein Theater oder einen Circus mit Festbau aufzusuchen. Das paßte zwar nicht zu dem vorherrschenden Elend sonst, doch taten die Menschen es nicht nur um des Amüsements willen, sondern auch, weil es wärmte, wenn viele Menschen in einem Raum beisammen waren. Die -1652-
Theater spielten immer noch nur ›tiefsinnige‹ Stücke und Opern wie Hernani und Le Prophete, und selbst die Circusse neigten zu erbaulichen Umzügen zu Pferde wie Der Cid schlägt die Mauren und Attacke der Leichten Kavallerie. Das Chapiteau des FLORILEGIUM mußte voll sein, wenn die Wärme sich darin ausbreiten sollte – aber das war es auch, denn jede Vorstellung war ausverkauft und voll von Menschen, die die schwerblütigen Propaganda leid waren und sich darauf freuten, einmal Spaß zu haben und abgelenkt zu werden. Florians Weigerung, sich dem jede Freude tötenden Klima der Zeit anzupassen, trug ihm nicht nur ein ständig ausverkauftes Haus ein, sondern auch neue Artisten. Clover Lees langjährige Freundin, die junge Giuseppina Bozzacchi, besuchte sie und berichtete, sie sei ohne Engagement und langweile sich; außerdem sei sie halb erfroren, da sie fast den ganzen Tag in ihrem Hotel, dem Crillon, saß, das gleichfalls an der Heizung sparte. Das Coppelia war beim ersten behördlichen Stirnrunzeln über Leichtfertigkeiten geschlossen worden, und andere Ballets wurden nicht gebildet, da diese Kunstform ihrer Natur nach offenbar unfähig sei, bedeutsames und Tiefsinniges‹ hervorzubringen. Giuseppina bot an, für den Circus jede Art von Tanz aufzuführen und sich ohne eine Gage sogar der Truppe der Cancan-Tänzerinnen anzuschließen, bloß um nicht einzurosten, sich jeden Nachmittag und Abend ein paar Stunden warmzuhalten und um sich außerdem weiterhin als Künstlerin zu fühlen. Florian hieß sie mit Freuden willkommen und bestand darauf, daß sie eine Gage annahm; außerdem werde er ihr Talent nicht gerade als Cancan-Tänzerin verplempern. Allerdings ließ sich im Sägemehl der Manege nicht gut Ballett tanzen, und so ersannen Florian und Kapellmeister Beck ein Entree, in dem Giuseppina wieder ein mechanisches Spielzeug darstellte. Auf den Plakaten und in der Manege angekündigt wurde sie als »Music-Box-Tänzerin«, und sie tanzte auf der Piste um die -1653-
Manege herum, wobei sie zur Musik des Cimbalonspielers Elemer fast unausgesetzt Spitzentanz machte. Trotz aller kriegsbedingten Depression hatten die Pariser die hübsche und begabte Giuseppina nicht vergessen und kein Jota von ihrer Verehrung für sie verloren; infolgedessen wurde ihr kleines Divertissement weit freudiger aufgenommen als alle ›schwerblütigen‹ Stücke, die in der Stadt gespielt wurden. Giuseppina wohnte weiterhin im Crillon so wie die anderen im Grand Hotel du Louvre, und niemand beschwerte sich über Einschränkungen und Sparmaßnahmen, die es dort wie hier gab. Nicht einmal die ältesten und gebrechlichsten Gäste des Grand murrten, die Treppen steigen zu müssen, statt mit dem Aufzug hinauffahren zu können, denn sämtliche ersten Hotels verlangten nunmehr so viel für die Mahlzeiten, daß die luxuriösen Zimmer im Vergleich dazu wenig kosteten. Und wer noch immer die Speisesäle beider Etablissements aufsuchte, bekam in der Tat noch zu essen, was längst nicht mehr alle Pariser von sich behaupten konnten. Auch wenn man aus den auf der Speisenkarte angezeigten Cotelettes de veau häufig doch das Fohlensteak herausschmeckte, es war immerhin noch Fleisch. Für diejenigen, die ihr Fleisch auf dem Markt kaufen mußten, war die Tagesration auf fünfzig Gramm pro Tag und Person gesunken; außerdem war Pferdefleisch nicht mehr nur das Armeleuteessen, sondern praktisch das einzige Fleisch, das man überhaupt noch bekommen konnte. Hier half die Regierung aus, denn sie verkaufte an die Pferdeschlachter alle Militärpferde, die für die Verteidigung nicht unbedingt gebraucht wurden; außerdem jene Pferde, die als mberflüssiger Luxus‹ aus den Stallungen der reichen Familien requiriert wurden, die die Stadt verlassen hatten und nicht protestieren konnten, sowie sämtliche Pferde, die einst die kaiserlichen Stallungen bevölkert hatten – unter anderem die beiden berühmten Traber, die Zar Alexander Louis Napoleon geschenkt hatte. -1654-
»Louis hat mir mal erzählt, daß diese beiden Pferde auf sechsundfünfzigtausend Franc geschätzt würden«, berichtete Florian. »Damit könnte man sich ein schönes Haus mit Grundstück kaufen. Jetzt landen sie zu dem von der Regierung festgesetzten Preis auf der Waage des Metzgers wie das Fleisch ausgemergelter Droschkengäule – also für fünfzig Centimes das Kilogramm.« Doch selbst zu diesem offiziell festgesetzten Preis – die Metzger verlangten unweigerlich mindestens das Vierfache – war Pferdefleisch für die ärmeren Familien, die früher kaum etwas anderes gegessen hatten, unerschwinglich. So verschwanden nach und nach herrenlose Hunde und Katzen von den Straßen ebenso wie unbeaufsichtigte andere Haustiere. Die Tauben und Sperlinge der Stadt, die jetzt kaum noch Bäume hatten, auf denen sie sich niederlassen konnten, fielen den Schlingen und Leimruten der Fallensteller zum Opfer. In dieser Zeit gingen außer queue noch zwei weitere Ausdrücke in den allgemeinen Sprachgebrauch über: Osseine und seine de la Seine, wobei nur letzteres etwas mit der Seine zu tun hatte. Osseine war ein vom Amt für Öffentliche Gesundheit als Fleischersatz für die Armen auf den Markt gebrachtes Produkt, das Minderbemittelte sich leisten konnten. Doch darin bestand auch sein einziger Reiz; denn es war nichts weiter als eine widerwärtige, aus Pferdehufen und knochen gekochte gallertähnliche Masse, die entweder als ekelerregender Olivenölersatz oder – in heißem Wasser aufgelöst – als eine Art Bouillon diente. Seine de la Seine bedeutete ungefähr das, wonach es sich anhörte: Abfischen der Seine mittels Schleppnetz. Wie in glücklicheren Tagen standen auch jetzt noch alte Männer oder andere Müßiggänger mit Angelruten an den Quais und an den Brückengeländern, doch wie immer, sie fingen nur selten etwas; jedenfalls konnte man sich nicht darauf verlassen und hatte auch bestenfalls nie mehr als einen einzigen Fisch am Haken. -1655-
Deshalb kamen jetzt entschlossenere Leute mit hausgemachten Netzen in der Hoffnung an das Seineufer, mehr zu fangen. Das gelang ihnen auch – zumindest eine Zeitlang, bis Treibeis die Seine heruntergeschwommen kam und ihnen die Netze zerriß –, doch was sie fingen, waren hauptsächlich Häslinge. Häslinge aber waren kaum ein großer Genuß und im Schnitt dazu so klein, daß – zog man Flossen, Schuppen, Innereien und Gräten ab – selbst ein großer Fang für eine mittlere Familie nur eine einzige Mahlzeit ergab. Die Neu-Fischer fanden es bald weniger mühselig und zudem ertragreicher, Haken oder Fallen mit Talg oder Osseine zu ködern und damit in den Abwasserkanälen oder den von Abfällen übersäten Seitengassen Jagd zu machen – und zwar auf Ratten. Sie taten es, und sie fingen welche, und manche, die etwas heikel waren, verkauften ihre Jagdbeute, um sich mit dem Erlös etwas anderes zum Essen zu kaufen. Viele Rattenfänger oder auch solche, die sie nur kauften, kochten die Ratten und erklärten, sie schmeckten weitaus besser als Häslinge, wären – was den Geschmack betrifft – mit Osseine nicht zu vergleichen und verdammt noch mal wesentlich schmackhafter als überhaupt nichts zwischen den Zähnen. Die Wärter des Jardin d’Acdimatation hatten ihre Raubkatzen und anderen Fleischfresser bislang immer mit Pferdefleisch gefüttert. Als dieses Fleisch jedoch auf den Tischen selbst der Luxus-Clubs und besseren Restaurants auftauchte, fütterten sie ihre Exoten mit Hunde- und Katzenfleisch. Als jedoch die Metzger, die auf Hunde- und Katzenfleisch spezialisiert waren, einen festen Platz auf den Pariser Märkten einnahmen, kam die Regierung zu dem Schluß, sie könne angesichts der hungernden unteren Klassen die nur dekorativen Zootiere nicht weiter unterhalten. Ein offizieller Erlaß wurde herausgegeben, die Tiere zu schlachten und zu verkaufen, die beiden Elefanten Castor und Pollux zuvor die Lieblinge ganzer Generationen von Pariser Kindern – nicht ausgenommen. Auf einen Streich floß -1656-
der Regierung ein erklecklicher Gewinn für die Stadtverteidigung in die Kasse; denn als diese Exoten versteigert wurden, boten die Metzger weit mehr als das, was der Jardin ursprünglich einmal für sie ausgegeben hatte. Hinterher wurde das Fleisch zu Preisen weiterverkauft, die sich nur die sehr reichen Haushalte und die teuersten Eßlokale leisten konnten. In der Oberschicht galt es als ausgesprochen schick, wie beiläufig sagen zu können: »Wir haben bei Voisin gestern abend Kamelhöcker-Salmis gegessen«, oder: »Der Graf und die Gräfin haben uns ein Elefantenrüssel-Emince vorgesetzt«, oder: »ZebuLende, Yak-Zunge, Kasuar-Galantine, Tiger-Civet« und so weiter, und das alles natürlich nur solange, wie die Köstlichkeiten aus dem Zoo vorhielten. Andere des haut monde hielten es für schicker und klüger, opportunistisch zu bekunden, daß ihr Herz ›beim Volke‹ sei. Sie drangen darauf, daß ihre Clubs oder Lieblingsrestaurants zumindest ein Gericht auf der Karte hatten, dessen Ingredienzien sich mit dem, was die Armen aßen, deckten – Pferd, Hund, Katze und sogar Ratte –, setzten sich entschlossen hin, um diese Dinge zu verspeisen, nicht jedoch ohne dafür zu sorgen, daß die Presse ausgiebig und in den höchsten Tönen davon berichtete und sogar eine Liste der schaurigen Gerichte abgedruckt wurde, die auf der Speisekarte gestanden hatten: Consomme de la moelle de cheval, rable de chien Alsatien au jus, saucisse de ratons aux fines herbes ... Selbstgefällig ließen sie sich dann darüber aus, daß ein Hunderücken genauso gut wie Hammel und ein Katzenpfeffer von einem Hasenpfeffer nicht zu unterscheiden sei, sich aus Ratten ein genauso schmackhaftes Ragout bereiten lasse wie aus Eichhörnchen, oder sie lobten die Zartheit von Pferde- und Maultiersteaks über den grünen Klee. Wenn derlei publizistisch weidlich ausgeschlachtete Herablassung dazu dienen sollte, ›das Volk‹ zu bewegen, sich mit seinem elenden Schicksal abzufinden, so gelang das mitnichten; denn in den ärmeren Vierteln agitierten weit -1657-
wirkungsvoller die Kommunarden. Jedesmal, wenn es ihnen gelang, eine Menge genügend aufzuwiegeln, daß diese die Kraft aufbrachte, einen Protestmarsch zu veranstalten, wurde dies getan. Die Kommunarden ließen es sich auch nicht nehmen, jedesmal den Mob zu mobilisieren, in den Vierteln der Oberklasse oder der Bourgeoisie die unheilverkündenden roten Fahnen der Revolution zu schwenken, ehe man vor dem Hótel de Ville zusammenströmte, um Schmähparolen gegen Präsident »Trop Chu« zu grölen und die »imitationimperialiste«Regierung ganz allgemein zu verteufeln. Einer der Marschierer, den bis jetzt nichts davon hatte abbringen können, an den ›Geheimtunnel‹ zu glauben, forderte lauthals, daß er auch benutzt werde und von außen Lebensmittel hereingebracht und kostenlos verteilt würden. Andere, für gewöhnlich selbst Agitatoren der Kommunarden, schrien ebenso gellend, der Tunnel werde ja durchaus genutzt, freilich nur, um die dekadenten begünstigten Wenigen mit Austern, Champagner und anderen Delikatessen zu versorgen. Diese Schreie heizten die Wut der Menge nur noch mehr an und stachelte sie auf, mit Steinen zu werfen. »Völlig irrational, völlig französisch«, sagte Florian trocken zu seinen Abteilungsleitern, als sie sich zur Beratung zusammensetzten. »Aber diese letzten Tollheiten, die die Stadt gepackt halten – die Laune der Plutokraten, sich am Fleisch von Dschungeltieren zu delektieren, sowie die wesentlich verständlichere Forderung des Proletariats, überhaupt etwas zu essen zu bekommen –, könnten Probleme für uns schaffen. Wie ich höre, verkaufen die anderen Circusunternehmen auch einen Großteil ihres Tierbestands – Exoten, Kuriositäten und sogar die Stars ihrer Dressurnummern, wobei ich nicht recht weiß, ob sie das tun, um bei den Reichen, die diese ausgefallenen Fleischsorten wollen, einen schnellen Gewinn zu machen, oder aber um in den Augen der hungernden Unglücklichen gut dazustehen – oder einfach und ehrlich deshalb, weil sie es sich -1658-
nicht mehr leisten können, ihre Tiere zu füttern.« »Gott behüte!« knurrte Beck. »Da steht auf der Speisekarte unseres Hotels bestimmt bald Pavianbraten.« Alle verzogen das Gesicht, und Florian fuhr fort: »Bis jetzt ist es Abdullah, le Demon Debonnaire und ihren Kutschern gelungen, unsere eigenen Tiere durchzubringen, nicht üppig zwar, aber ausreichend, und zwar mit dem Futter, von dem wir uns Vorräte angelegt hatten, dann durch die Rasenflächen hier im Bois und unseren eigenen Fleischrationen. Aber wo die Regierung und andere Circusse ihre Fleischfresser in eßbare menschliche Nahrung verwandeln, werden übereifrige Weltverbesserer nicht lange auf sich warten lassen; wir müssen darauf gefaßt sein, daß sie mit dem Finger auf uns zeigen und sich buchstäblich wie Neidhammel aufführen.« »Nun mal immer mit der Ruhe, Governor«, sagte Fitzfarris. »Ich weiß genau – noch von Baltimore her –, daß du dich’n Dreck um die Meinung von Weltverbesserern kümmerst.« »Stimmt, tue ich auch nicht. Ich würde viel lieber einen Eiferer schlachten als ein Pferd oder auch nur eine Maus von deinem Mäusespiel. Und ich möchte auch ebensowenig einen von unseren getreuen langjährigen Freunden, den Circustieren, opfern wie einen von unseren Artisten. Naja, wenn die Zeiten noch schlimmer werden, bin ich bereit, deinen hinfälligen alten Auerhahn an unsere Raubkatzen zu verfüttern – oder die Strauße oder Hyänen –, nur wäre das wirklich vergebliche Liebesmüh. Solche zähen Burschen wie die können nicht mal andere Tiere fressen. Nein, wir werden unsere Tiere behalten, solange wie wir selbst uns am Leben halten können.« »Lange geht das aber nicht mehr, Governor«, sagte Goesle. »Hannibal ist gerade von seiner Einkaufstour durch die Halles zurückgekommen. Er glaubt, und ich übrigens auch, daß der Futterhändler wie auch die anderen Geschäftsleute bald weder französische Münzen noch Papiergeld annehmen werden.« -1659-
»Wie bitte? Verdammt noch mal, warum nicht?« »Die augenblickliche Lage macht sie alle nervös. Sie behaupten, wenn die Unruhe des Volkes diese Regierung zu Fall bringt, ist der französische Franc bald nichts mehr wert. Und wenn die Boches die Stadt besetzen, so sagen sie, wird die preußische Mark die einzige harte Währung hier sein. Deshalb mißtrauen sie jetzt jeder Münze und jedem Papiergeld und warten ab, was wird.« »Das sind doch nur wieder Gerüchte!« »Aye, aber schlechte Nachrichten sprechen sich schnell herum.« »Was wollen sie dann haben? Mark etwa? Davon haben wir noch eine ganze Menge, die wir bisher nicht in Franc umgewechselt haben. Und außerdem auch noch ein ganz hübsches Sümmchen in Rubeln, Koronas und Kronen.« »Was sie wollen, ist Gold, Governor. Die einzige Währung, die alle Kriege und Revolutionen übersteht.« »Dann werden wir sie eben in Gold bezahlen. Im Versteck unter dem Fußboden von Maximus’ Käfigwagen ist noch das Geld vom Zaren. Dai, nimm dir ein paar von Imperialen. Jede davon ist ungefähr vierzig Franc wert; damit können wir eine ganze Zeitlang auskommen.« »Aye, aye, Governor!« Florian überlegte, runzelte einen Moment die Stirn und sagte dann: »Ich fürchte allerdings, das macht keinen guten Eindruck, wenn wir Gold ausgeben, um unsere Tiere am Leben zu erhalten. Aber wir sollten es trotzdem machen. Die meisten Pariser sind begeisterte Circusanhänger oder zumindest vernünftige Leute, die werden uns verstehen. Doch ganz oben und ganz unten stehen diejenigen, die ihre Stellung verteidigen und verherrlichen müssen. Oben an der Spitze die Regierung, die eifrig darauf bedacht sein muß, den Anschein aufrechtzuerhalten, als kümmere sie sich gleichermaßen um alle -1660-
...« »Nicht ganz alle«, sagte Willi. »Nur um diejenigen, die bei eventuellen Wahlen eine Stimme haben. Dazu gehören weder unsere Tiere noch die meisten von uns.« »Richtig«, sagte Florian. »Ganz unten stehen aber die Kommunarden. Die würden nichts lieber tun als einem bürgerlichen Betrug an den Massen‹ auf die Spur zu kommen, egal, wo, Hauptsache, sie können es für ihre Zwecke ausschlachten. Eines von den beiden Extremen – ganz oben oder ganz unten – könnte Druck auf uns ausüben, unsere Tiere auf dem Fleischmarkt zu verkaufen. Und Regierung wie Kommunarden könnten behaupten, es geschehe ›zum Wohle aller‹ und würden sich das als Verdienst anrechnen.« »Um Druck brauchen wir uns nicht zu kümmern«, sagte Fitzfarris, »wenn wir die Mehrheit der Bevölkerung auf unserer Seite haben.« »Vielleicht nicht. Aber wenn Druck nichts ausrichtet, könnten irgendwelche Fanatiker beschließen, das Schicksal unserer Tiere selbst in die Hand zu nehmen – besonders, wenn es ausgehungerte Fanatiker sind. Ich denke, wir täten gut daran, auf jede mögliche Entwicklung gefaßt zu sein. Wir sollten Wachen mit scharf geladenen Waffen aufstellen, die den Festplatz rund um die Uhr bewachen.« »Ist schon geschehen«, sagte Edge. »Hast du noch was auf dem Herzen, Governor?« »Für den Augenblick nicht. Ich denke ... es wird nicht mehr lange dauern ... und wir werden die Ballonpost auffordern müssen, uns für den Gefallen zu entschädigen, den wir ihnen getan haben. Aber das werde ich mit Monsieur Nadar besprechen, wenn er das nächstemal herkommt.« Die Ballonpost gehörte zu den wenigen Dingen in Paris, die immer noch ohne ernstliche Störungen funktionierten; jedenfalls kam es relativ selten zu Ausfällen. Als die Preußen erfuhren, -1661-
daß einer der Aerostats Minister Gambetta sicher aus der Stadt in die unbesetzten Provinzen gebracht hatte, erhielt Krupp in Essen einen Eilauftrag, und es sollte nicht lange dauern, bis es eine neue und eigens von Krupp für diesen Zweck gebaute Kanone gab – die erste, deren Geschützrohr sich fast senkrecht hochkurbeln ließ –, die ein Schrapnellgeschoß abfeuern konnte, das zumindest in der Theorie – erst in einer bestimmten Höhe detonierte, und der sechzehnte von Paris aus gestartete Ballon mußte sich seine Flugbahn über die Belagerungslinien hinweg durch plötzlich aufplatzende kleine schwarze Pulverdampfwölkchen bahnen. »Ich bin heilfroh, daß ich nicht als Kanonier an diesem Geschütz stehe«, sagte Yount, als er davon hörte. »Zeitzünder sind eine verflucht riskante Sache. Der Kanonier muß die Lunte bis zur Hälfte kappen, ehe er das Geschoß in die Kammer reinschiebt; und dann kann er nur hoffen, daß das funktioniert und er die Zündung nicht so kurz abgeschnitten hat, denn dann krepiert die Granate gleich wenn sie das Rohr verlassen hat. Alles in allem würde ich lieber vor dem Geschütz stehen als dahinter.« Der Postminister jedoch bewies mehr Respekt vor der neuen Abwehrkanone und befahl, daß Ballons von nun an erst nach Einbruch der Dunkelheit an den Start gingen. Das erwies sich als nicht sehr hilfreich für die Luftschiffer. Erstens mußten die kleinen Versuchsballons aus Papier bei Tageslicht aufsteigen, um sichtbar zu sein; die Windströmungen jedoch, die sie anzeigten, konnten nach Dunkelwerden ganz andere Richtungen eingeschlagen haben. Trotz der Dunkelheit war ein großer Ballon für einen Beobachter auf dem Erdboden nicht völlig unsichtbar. Für den Luftschiff er jedoch – und inzwischen handelte es sich nur noch um unerfahrene Freiwillige – war der Boden so schwer zu erkennen, daß man sich der eigenen Höhe nie ganz sicher sein konnte; manchmal wußte man auch nicht, in welcher Richtung man dahintrieb. Inzwischen feuerte die -1662-
Krupp-Kanone ein Schrapnell nach dem anderen in seine Richtung ab und zusätzlich krachten die Kanonen von Fort Valerien, um die preußischen Kanoniere abzulenken. Es war die Hölle für den Luftschiffer, der dem allen hilflos ausgesetzt war. »Trotzdem, ami«, sagte Nadar stolz, als er zusammen mit Florian eine Spätvorstellung im Circus verfolgte, »bedenkt man, wie impromptu die Ballonpost begonnen hat, und unter welchen Schwierigkeiten sie immer noch arbeitet« – er zählte sie an den Fingern auf –, »behelfsmäßig zusammengeschusterte Aerostats, die niemand jemals ausprobiert hat; Leuchtgas, ein geringer Auftrieb; die beschränkte Manövrierfähigkeit selbst noch unter den günstigsten Bedingungen; und der unerfahrene Pilot, der durch feindliches Feuer hindurch muß – zut alors, die Ballonpost kann mit bemerkenswert vielen Erfolgen aufwarten, während die Verluste sich in Grenzen halten.« »Ich hatte Sie schon bitten wollen ...«, hob Florian an. »Sie brauchen nicht zu bitten, mon vieux, ich will es Ihnen sagen. Bis jetzt haben wir nur vier Ballons verloren. Einer ist auf den Atlantik hinausgetrieben, und wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Drei sind in Feindeshand gefallen. Aber« – er hob einen Finger – »jedesmal nur aufgrund eines Versehens des Aeronaute oder eines technischen Fehlers – vom Gegner abgeschossen worden ist noch keiner. Die anderen sind alle irgendwo sicher und auf befreundetem Gebiet gelandet. Einer übrigens ziemlich weit weg von hier. Ehrlich gesagt, hat er einen neuen Rekord in der Ballonfahrt aufgestellt – rund viertausendzweihundert Kilometer, quer über die Nordsee bis nach Norwegen. Man kann wohl behaupten, daß der Aeronaute immer noch am Auftauen ist; gleichzeitig ist er aber ungeheuer stolz auf seine Leistung. Es wird sehr lange dauern, bis dieser Rekord gebrochen wird.« »Nun, was ich fragen wollte«, begann Florian aufs neue, unterbrach sich dann jedoch, um zu sagen: »Teufel! Einer Ihrer Ballons muß doch gerade aufsteigen.« Über die Musik der -1663-
Kapelle und über den Lärm der Menge hinweg konnte man es vom Fort Valerien her schießen hören; dann vernahm man die peitschenderen Detonationen der preußischen Abwehrkanone. »Oui«, sagte Nadar, »et regardezlá.« Verstohlen ruckte er mit dem Kopf, um Florians Aufmerksamkeit auf die in der Nähe stehende Monday Simms zu lenken. Sie wartete darauf, als Mademoiselle Cendrillon aufzutreten, stand jedoch mit geschlossenen Augen beseligt lächelnd und die Schenkel aneinander reibend da. »Ich habe einen Freund«, sagte Nadar, »der ist von Beruf Arzt. Er hat mir gesagt, vielen seiner Patientinnen ergehe das so, wenn die Kanonen donnern. Die Erschütterung oder Vibration ruft offensichtlich einen frisson sympathique in ihren delicates petites choses hervor. Manche Frauen, so sagt er, reagieren nur auf das Abfeuern einer ganz bestimmten von den Kanonen, so daß sie den verschiedenen Geschützen Kosenamen gegeben haben: Große Josephine, Großer Camille und dergleichen. Könnten Sie sich vorstellen, mon ami, daß das der Grund ist, warum wir Männer Krieg führen? Weil die Frauen uns dazu aufstacheln, ihnen diese Art von wollüstigem Schauder zu verschaffen?« »Das würde mich nicht im geringsten wundern. Nur, daß wir längst, ehe wir solche Geräusche erzeugen konnten, Krieg geführt haben.« »C’est vrai. Aber wir sprachen gerade von den Erfolgen der Ballonpost. Bis jetzt hat sie außer dem Minister Gambetta noch eine ganze Reihe anderer wichtiger Passagiere befördert, außerdem etwa eine Million Briefe, Zeitungen und Depeschen – und Hunderte von Brieftauben, von denen allerdings die meisten pflichtschuldigst mit ihrer Fracht von Micromessages zurückgeflogen sind. Übrigens, was sagen Sie zu den neuesten Nachrichten über Gambetta? Habe ich nicht gesagt, daß dieser Mann trotz des bedauerlichen Fehlens jeglichen gesellschaftlichen Schliffs eine ungeheure Energie besitzt? Zwölf neue Armeekorps hat er aufgestellt und ausgerüstet! Eine -1664-
ganze neue Loire-Armee.« »Bewundernswert, jawohl«, sagte Florian. »Ich weiß bloß nicht, was damit gewonnen sein soll. Eine Ihrer Brieftauben hat auch die Nachricht gebracht, daß General Bazaine Metz aufgegeben hat – und der war mit seiner ganzen Armee dort eingeschlossen. Die neue Loire-Armee mag das Gebiet halten, das sie jetzt hat, aber wo Bazaines Armee verlorengegangen ist, kann sie unmöglich den Boden zurückgewinnen, den die Boches ihnen genommen haben.« »Trotzdem! Je länger Frankreich Preußen Widerstand entgegensetzt, desto bessere Friedensbedingungen können wir aushandeln.« »Hoffen wir das beste«, sagte Florian nicht sonderlich hoffnungsvoll. »Das tapfere Durchhalten kommt Paris jedenfalls teuer zu stehen. Kälte und Feuchtigkeit sowie die immer schlechtere Versorgung rufen jetzt, wie ich höre, eine Menge Krankheiten hervor.« Nadar zuckte mit den Achseln. »Unter den gehobeneren Ständen nur des maladies de poitrine – Bronchitis und Grippe –, das ist auch nicht schlimmer als in jedem anderen Winter. Wie es heißt, sollen in der Unterschicht Epidemien grassieren. Man hört sogar von der Pest ... schlimmer noch, von der veröle. Aber was kann man schon von Menschen erwarten, die Ratten essen?« »Falls Pest und Blattern tatsächlich ausbrechen«, sagte Florian, »wird das möglicherweise in den ärmeren Vierteln geschehen; es ist aber durchaus möglich, daß sie sich weiter ausbreiten.« »Dann erhöhen Sie am besten Ihre Eintrittspreise«, sagte Nadar ungerührt. »Halten Sie la canaille draußen, damit sie ihre Keime nicht an Ihre bessere Kundschaft und Ihre Artisten weitergibt. Ich hoffe doch« – und mit diesen Worten trat er einen Schritt zurück –, »Sie haben bislang keine symptömes -1665-
epidemiques unter den Angehörigen Ihrer Truppe festgestellt, oder?« »Nein. Doch in einem Fall eine maladie de poitrine. Ich wollte Sie nach den Passagieren fragen, die die Ballonpost bisweilen mitnimmt. Eine unserer jungen Damen, Mademoiselle Knudsdatter – Sie kennen Sie ja – Miss Eel, unsere Kontorsionistin ...« »Ah, oui, und ich bin mir bewußt, daß sie schon immer etwas schwach auf der Brust war.« »Nun, dies elende Wetter bringt sie noch um, wenn es weiter andauert und sie weiterhin auftritt, was sie auf keinen Fall unterlassen will. Trotzdem habe ich – nach beträchtlicher Überredungskunst – ihren Mann bewegen können, einverstanden zu sein, daß sie hinausgebracht wird. Sie selbst hat auch nichts mehr dagegen, Paris zu verlassen, falls das möglich ist. Ich möchte sie gern in ein Sanatorium oder zumindest in die Berge schicken, wo sie klare Höhenluft atmen kann.« »Mais certainement«, sagte Nadar. »Die Ballonpost ist Ihnen und Ihrem Circus zu allergrößtem Dank verpflichtet. Das kann ich bestimmt leicht veranlassen ... falls sie bereit ist, die damit verbundenen Risiken auf sich zu nehmen.« »Ich denke, sie würde es vorziehen, vom Himmel zu fallen oder heruntergeschossen zu werden, als sich hier langsam die Luft abdrücken zu lassen. Und falls sie zufällig nach Skandinavien entführt wird – nun, einen heilsameren Ort gibt es gar nicht für sie.« »C’est deja fait accompli. Veranlassen Sie einfach, daß sie nur das Allernötigste mitnimmt; dann sorge ich dafür, daß der nächste aufsteigende Aerostat sie mitnimmt. Auch werde ich Sie umgehend informieren, wenn eine Taube Nachricht von ihrer glücklichen Landung und ihrem Aufenthalt überbringt. Sie und ihr Mann – das ist Monsieur Tremblement de Terre, nicht wahr? -1666-
– können hinterher mit der Ballonpost des billetsdoux miteinander tauschen. Ah, welch ein Segen für uns alle, daß es sie gibt!«
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13 Fräulein Aal gab am Nachmittag ihre Abschiedsvorstellung und übertraf sich selbst mit ihrer Gelenkigkeit, als hätte sie wirklich keine Knochen. Sie legte eine unglaubliche Leistung als Kautschukfrau hin was sie jedoch hinterher stoßweise nach Atem ringend zurückließ, so daß sie sich zum Beifall kaum verneigen konnte. Dann verabschiedete sie sich von den Kollegen. Yount fuhr sie in der Kutsche auf den Montmartre und half ihr bei dem mühseligen Aufstieg bis auf den Kamm des Hügels hinauf. Dort umarmten und küßten sie sich, beschworen einander, »gut auf sich aufzupassen«, bis Monsieur Nadar erklärte, der Wind wehe genau aus der richtigen Richtung, und der Abend dunkel genug für den Aufstieg war. Yount hob Agnete in die Korbgondel unter der braunen Birne des Ballons – alle wurden jetzt aus dunklem Kaliko gefertigt –, und das Halteseil wurde hochgekurbelt. Dann trat Yount – den Kopf im Nacken und die Hände wie zum Gebet zusammengelegt – einen Schritt zurück und verfolgte den dunklen Klecks, solange er zu sehen blieb, und merkte nicht einmal, daß das gekappte Halteseil heruntersauste und sich zu seinen Füßen ringelte. Als vom Ballon nichts mehr zu sehen war, blitzten dafür kleine Explosionslichter am Himmel auf, denen gleich danach das heisere Bellen einer preußischen Kanone folgte – woraufhin Yount die Hände nicht mehr betend zusammenlegte, sondern sie flehentlich rang – und gleich danach das Gewummere von den Forts einsetzte. Yount und Nadar warteten mit den anderen Leuten von der Ballonpost, bis der Lärm verstummte, was bedeuten konnte, daß der Aerostat entweder abgeschossen oder sicher über den Belagerungsring hinweggekommen war. Yount fuhr zum Festplatz zurück und Nadar in die Wohnung des Taubenzüchters, um die Ankunft der ersten Taube im heimatlichen Schlag abzuwarten. Yount erreichte den Festplatz rechtzeitig genug, um für die Spätvorstellung noch das -1668-
Leopardenfell anzulegen, machte dabei jedoch einen dermaßen verstörten Eindruck, daß seine Kollegen sich zusammentaten, um ihn aufzumuntern. »Es geht ihr bestimmt gut, Obie«, tröstete Sunday ihn. »Wesentlich besser, als wenn sie hiergeblieben wäre.« »Ich wünschte nur, ich wäre mit ihr gegangen.« Fitzfarris sagte: »Tja, das ging ja nun mal nicht, du Riese – selbst dann nicht, wenn der Ballon alle seine offizielle Fracht zurückgelassen hätte. Mein Gott, wahrscheinlich müßte man einen übergroßen Ballon bauen, um dich in die Höhe zu heben.« »Und wenn ihr beide in verschiedenen Ballons losgeflogen wäret, Obie«, sagte Edge, »würdet ihr jetzt auch an verschiedenen Stellen landen, und keiner wüßte vom anderen, wo. Könnte sein, daß ihr durch ganz Frankreich marschieren müßtet und doch nie wieder zusammenkämet. So könnt ihr einander mit Hilfe der Ballonpost und der Brieftauben wenigstens schreiben und bleibt in Verbindung.« »Da hast du wohl recht«, brummelte Yount. Dann tauchte er aus seiner Verzagtheit auf und sagte: »Weißt du was, Zack? Der ganze Hügel dort drüben sieht aus wie ein kanonenstarrender Bienenstock. Diese Bürgerwehren und Mobilots haben keineswegs die Hände in den Schoß gelegt, wie wir alle dachten. In den Bahnhöfen haben sie Fabriken eingerichtet wie die Ballonfabrik – und aus Schienen und Messingteilen Kanonen, Mörser und Munition gegossen. Nadar und ich haben uns mit ein paar von den Burschen unterhalten. Sie sagen, wenn es wirklich dazu kommt, dann ist die Butte de Montmartre die letzte Bastion von ganz Paris.« Als falle ihm das erst jetzt ein, fügte er noch hinzu: »Sie trugen alle rote Hemden und rote Halstücher zu ihrer Uniform.« »Verflucht!« sagte Florian. »Das hört sich aber gar nicht gut an. Wer weiß, vielleicht betrachten die Kommunarden diese Geschütze als ihr privates Waffenarsenal und den Montmartre -1669-
als ihre private Festung.« Edge fragte: »Hältst du es für möglich, daß sie so wahnsinnig sind, ihre eigene Stadt zu zerstören, bloß um den Preußen den Spaß nicht zu gönnen? Oder daß sie jeden Waffenstillstand, den die Regierung mit dem Gegner vereinbart, brechen? Daß sie weiterkämpfen würden? Oder was?« »Was weiß ich? Auf jeden Fall hatte die Neugestaltung von Paris zum Ziel, mit den schmalen verwinkelten Gassen aufzuräumen, in denen frühere Revolutionäre so gut Barrikaden errichten konnten. Haussmann hat lange, gerade Schneisen in die Stadt geschlagen – die großen Avenues –, damit die Regierungstruppen freies Schußfeld hätten, wenn es gälte, Aufstände niederzuschlagen. Sollten die Aufständischen jedoch diesen einen Hügel halten, der die ganze Stadt überblickt ...« Florian verzog das Gesicht und wusch sich gleichsam die Hände. »Aber wozu sich Sorgen über Dinge machen, die erst morgen kommen können. Heute abend müssen wir auftreten. Fangen wir also an!« Mochte Yount wegen Agnete noch so große Befürchtungen haben, bei der Arbeit ließ er sich das nicht anmerken, sondern absolvierte seine Nummer mit der üblichen Bravour und dem Können, wie man es bei ihm gewohnt war. Die Vorstellung war gerade beendet – das Chapiteau leerte sich, und die meisten Artisten beeilten sich, ins Hotel zu kommen, um noch etwas von der letzten Heizungswärme und dem letzten heißen Badewasser mitzubekommen –, als ratternd eine Droschke auf den Festplatz gefahren kam. Heraus sprang Nadar und rief: »Monsieur Tremblement de Terre, Kopf hoch! Die erste Taube ist diesmal schnell eingetroffen.« Er winkte mit einem dünnen kleinen Papierstreifen. »Voila, Ihre Dame ist sicher in der Nähe von Mezieres gelandet. Von dort kommt sie mit dem Zug überall hin.« Seufzend stieß Yount eine Unmenge Luft aus und sagte: »Damit ist mir eine größere Last von der Seele genommen, als -1670-
man mir jemals auf die Brust getürmt hat. Das tut gut!« Dann drehte er sich um und sagte überschwenglich: »Hey, Fitz, ich sag’ dir was. Ich weiß, eigentlich bist du an der Reihe, heute nacht Wachkorporal zu spielen. Ich nehm’s dir ab, und du gehst mit Meli ins Hotel.« So blieb Yount zusammen mit den bewaffneten Jäszi-Brüdern und den Böhmen die Nacht über auf dem Festplatz. Gegen Mittag des nächsten Tages, als die ersten Artisten wieder im Bois eintrudelten, eilte Yount Florian entgegen und sagte geheimnisvoll: »Ich muß dir was zeigen, Governor, ehe irgendeine von den Frauen davon erfährt. Komm mit ins Stallzelt.« Florian war in Begleitung von Pemjean gekommen, und so folgten ihm beide in die Menagerie. Dort schob Yount etwas Stroh beiseite und sagte: »Hast du jemals einen so plattgewalzten Menschen gesehen wie den hier?« »Bon Dieu de merde!« entfuhr es Pemjean beim Anblick der auf dem Bauch hingestreckten Leiche, die mit einer Hand immer noch ein gewaltiges Messer umklammert hielt. »Doch, das habe ich«, sagte Florian nüchtern. »Ich ahne schon, was passiert ist. Aber erzähle es mir trotzdem.« »Nun, wir sind immer davon ausgegangen, daß wir uns vor einem Mob schützen müßten, der über uns herfällt. Deshalb waren die Jungs in weiterem Umkreis um den Festplatz aufgestellt wie sonst auch. Daß sich ein einzelner hereinschleichen könnte, auf die Idee sind wir gar nicht gekommen. Aber dieser ist irgendwie hindurchgeschlüpft. Armes Schwein! Wahrscheinlich dachte er, er könnte sich’n Steak aus irgend’m Pferd rausschneiden oder was weiß ich. Jedenfalls hörten wir einen furchtbaren Aufruhr hier: Die Pferde wieherten, die Elefanten trompeteten und die Katzen fauchten. Da kamen wir alle angerannt und sahen gerade noch, wie Mitzi den Burschen mit dem Rüssel umschlang. Sie hat gar nicht erst -1671-
versucht, mit den Stoßzähnen auf ihn loszugehen.« »Das tun Elefanten nur selten, höchstens wenn sie gegeneinander kämpfen.« »Sie riß ihn in die Höhe und legte ihn sauber vor öle Peggy auf den Boden. Es sah aus, als ob sie’s geübt hätten. Und dann, ehe wir dazwischen gehen konnten, kniete Peggy einfach nieder, drückte dem Mann die Stirn auf den Leib und – mein Gott! – machte Kopfstand auf ihm. So einen Laut hast du noch nie gehört. Als ob man auf ein Wachtelnest mit Kücken drin träte – allerdings in das größte Nest, das man sich vorstellen kann. Knistern, Krachen und – platsch!« »Ich hab’s schon mal gehört. Und ich weiß, daß so was auch in anderen Circussen schon vorgekommen ist.« »Naja, und dann ist die öle Peggy wieder aufgestanden, die beiden -Mitzi und sie – haben sich mit dem Rüssel die Hand geschüttelt, und alle anderen Tiere haben sich beruhigt, ‘n paar von den Böhmen haben gekotzt und haben jetzt noch weiche Knie. Aber ich und Zoltän haben den Leichnam hier rübergeschleift auf die Seite und ihm das Messer in der Hand gelassen, falls du ihn der Polizei zeigen willst.« »Nein, ich denke, damit behelligen wir die Polizei erst gar nicht«, sagte Florian. »Wir sollten ihn eigentlich am Eingang aufhängen – zur Warnung für andere, sozusagen.« »Wir könnten ihn an die Raubkatzen verfüttern«, schlug Pemjean vor. »Das wäre dann die poetische Gerechtigkeit.« »Jesus, Demon!« sagte Yount. »Gleich hast du mich soweit, daß ich kotzen muß.« Pemjean wies achselzuckend auf den Toten. »Genauso wie er schluckt man seine Bedenken runter, wenn es sonst nichts zu schlucken gibt.« Florian meinte nachdenklich: »Wir können ihn unmöglich unter der Manege vergraben, weil die Elefanten sie nie wieder -1672-
betreten würden. Quakemaker, nimm dir ein paar Racklos, rolle ihn vorläufig in eine Persenning und verstecke ihn irgendwo. Nach Einbruch der Dunkelheit werfen wir ihn in eines der Löcher im Park, wo sie die Baumstubben gerodet haben. Und dann Erde drüber, daß keiner ihn sieht. Und schärfe den Wachen ein, von jetzt an auch auf Einzelgänger aufzupassen; was nicht heißt, daß es keinen Mob mehr geben wird.« Beim Verlassen des Stallzeltes sagte Pemjean: »Wildernde Mobs werden vielleicht bald das einzige sein, was wir noch zu sehen bekommen, Monsieur Florian – es sei denn, die verdammte Belagerung hört endlich so oder so auf. Früher sind die Leute zu uns gekommen, weil wir die einzige Abwechslung boten, die es gab. Jetzt jedoch, glaube ich, kommen sie, weil wir das einzige Unternehmen in ganz Paris sind, das noch Franc und Sous und Centimes annimmt. Und bei denen, die kommen, handelt es sich um diejenigen, die noch nicht zu geschwächt von Hunger und Krankheit sind, um den Weg hierher zu uns zu finden.« Das mochte stimmen, denn die Zuschauerzahl nahm immer mehr ab, langsam zwar, aber unaufhörlich, je weiter der unangenehme Winter fortschritt. Trotz immer strengerer Erlasse der Regierung fuhren Märkte und Geschäfte fort, ihre Waren zunächst denen zu verkaufen, die in Gold oder ausländischer Währung bezahlen konnten. Die Armen, die für den Lebensunterhalt nur die gewöhnlichen französischen Franc auszugeben hatten, mußten sich mit den Resten begnügen – sofern es solche gab. Die Ärzte und Apotheker in der Stadt waren genauso käuflich und behandelten zuerst die gut zahlenden Patienten und verkauften an sie auch die immer weniger werdenden Medikamente. Ob es stimmte oder nicht, daß die Reichen an nichts weiter litten als höchstens an Schwermut – daß sie sich der zur Verfügung stehenden Heilmittel bemächtigten, geschah letztlich nicht zu ihrem -1673-
eigenen Besten. Echte und bedrohliche Krankheiten – Diphterie, Typhus und Blattern – befielen die unterernährten Armen, um die sich niemand kümmerte. Aber da sie in den Armenvierteln von niemand bekämpft wurden, breiteten sie sich von dort ausgehend unaufhaltsam auch in die vornehmen Stadtbezirke aus. Als die Regierung die diversen ansteckenden Krankheiten, die drohten, sich zu einer echten Epidemie auszuweiten, nicht mehr übersehen konnte, versuchte das Gesundheitsamt es mit einem Mittel, das zumindest einfallsreicher war als das Aufstellen unsinniger Forderungen und Verbote. Während es praktisch unmöglich war, irgendwelche Nahrungsmittel in die Stadt einzuführen, war das mit den Medikamenten nicht ganz so. Mit der Ballonpost wurde um die notwendigsten Arzneien gebeten und gleichzeitig eine Methode vorgeschlagen, wie man sie hereinschicken könnte. Das geschah denn auch – das heißt, es wurden beträchtliche Mengen von Medikamenten in hohle Zinkballons eingepackt und diese von Orten weiter flußaufwärts in der Seine ausgesetzt. Die Preußen ließen anständigerweise die Metallkugeln durch ihre Linien hindurchtreiben. So kamen manche dieser medizinischen Vorräte wirklich an, allerdings nur ein Bruchteil dessen, was abgeschickt wurde. Zuviele von den Kugeln wurden vom Treibeis zerquetscht oder durchlöchert und zum Sinken gebracht. Andere schwammen durch ganz Paris hindurch weiter seewärts, weil das Eis die Netze zerriß, die die Stadt aufgespannt hatte, um sie aufzufangen. Eines Nachmittags erschien die junge Giuseppina nicht zur Vorstellung. Infolgedessen eilte Clover Lee gleich nach der Vorstellung ins Crillon, um nach ihr zu sehen. Als Clover Lee auf den Festplatz zurückkam und Florian im Kontorwagen aufsuchte, hatte sie Giuseppina nicht dabei und machte ein verwirrtes und besorgtes Gesicht. »Sie ist fort. Einfach fort. Und nicht nur, daß der Hotelmanager nicht sagen wollte, wohin sie gegangen ist – er -1674-
behauptet steif und fest, sie habe nie dort gewohnt! D äs ist eine gottverdammte Lüge, und das habe ich ihm auch ins Gesicht gesagt. Mein Gott, ich habe sie doch oft genug in ihrer Suite besucht. Was kann da los sein?« »Hm«, machte Florian. »Ist sie sich vielleicht nun doch mit einem dieser wohlhabenden Adligen einig geworden, die sie solange umworben haben? Kann doch sein, daß sie einfach durchgebrannt ist und aus irgendwelchen Gründen beschlossen hat, keine Spuren zu hinterlassen?« »Daran glaubst du doch selbst nicht, Florian. Pina gehört zur Truppe und würde so was nie tun, ohne vorher fristgerecht zu kündigen. Zumindest aber hätte sie es mir erzählt.« »Stimmt. Hört sich wirklich merkwürdig an. Warte mal!« Florian wühlte in seinen Unterlagen und fischte eine alte Ausgabe der Era heraus, die er durchblätterte: »Mir ist doch, als hätte ich es hier gelesen. Jawohl, ihre Agenten sind die Messieurs Paravidni and Warner, London, die hier in der Rue de la Paix eine Filiale haben. Eine Nummer ist zwar nicht angegeben, doch ist die Straße nur zwei Häuserblocks lang; du solltest also keine Mühe haben, sie zu finden.« Als Giuseppina auch zur Abendvorstellung nicht erschien, machte Clover Lee sich am nächsten Vormittag vom Hotel aus gleich auf die Suche nach der Agentur. Schon nach kurzer Zeit kehrte sie wieder zurück, einerseits in Tränen aufgelöst, andererseits aber vor Wut schäumend. »Wo ist Zachary?« wollte sie von Florian wissen. »Ich will, daß er sich eine Pistole umschnallt und mit mir noch mal hingeht. Kannst du dir das vorstellen? Der Hurensohn von der Agentur sagt, ja, er kenne die bezaubernde Signorina, sei sogar ein alter Bewunderer von ihr. Aber ihre Agentur habe sie nie gemanagt, und er habe auch keine Ahnung, wo sie sich aufhält! Noch eine gottverdammte Lüge! Wo bleibt Zachary denn?« »Gemach, gemach, meine Liebe! Ich gebe ja zu, das alles -1675-
wird immer geheimnisvoller, aber ich denke, eingehende Nachforschungen bringen uns weiter als rohe Gewalt. Und was die Nachforschungen betrifft, so laß uns Monsieur Nadar um Hilfe bitten. Der kennt doch in dieser Stadt alles und jeden.« Doch selbst Nadar brauchte fast eine Woche, ehe er hinter das Geheimnis kam; er sah traurig aus und trat vor Unbehagen von einem Fuß auf den anderen, als er Florian und Clover alles berichtete. Als hätte er Angst vor ihr, redete er sie mit ihrem Titel an: »Madame la Comtesse, ich muß mich für meine Landsleute entschuldigen. Von der Hotelleitung war es grausam, sich so zu verhalten. Aber Sie müssen verstehen ... ein erstklassiges Haus ... es muß auf seinen eigenen guten Ruf ebenso bedacht sein wie auf den seiner Gäste. Als Mademoiselle Bozzacchi daher plötzlich krank wurde und der Hausarzt sie untersuchte und erkannte, daß die Kleine an la petite veröle litt ...« »Pocken!« entfuhr es Florian, und Clover Lee hielt die Luft an. »Oui. Deshalb hat die Hotelleitung sie verständlicherweise gleich fortbringen lassen, und zwar heimlich und in aller Stille, damit die anderen Gäste keinen Verdacht schöpften. Und hat seither alles getan, die Umstände für sich zu behalten.« »O ja, sehr verständlich sogar.« Clover Lee knirschte mit den Zähnen. »Es hätte ihren Geschäften abträglich sein, sie hätten sogar Geld verlieren können. Typisch französisch! Und das einer Tänzerin, der vor noch nicht einem Jahr ganz Paris zu Füßen lag! Nun – wohin haben sie sie gebracht?« »Ins Frauenspital, La Salpetriere.« »In ein Krankenhaus?« »Nicht ganz, Euer Gnaden«, sagte Nadar kläglich. »Ein Krankenhaus dient der Behandlung und Heilung. La Salpetriere ist ein letzter Hort für die Unheilbaren.« -1676-
»Das ist ja ungeheuerlich!« fauchte Clover Lee. »Sie bringen mich sofort dorthin, Monsieur! Sie werden mich augenblicklich dort hinbringen!« »Es ist sehr weit von hier, Euer Gnaden. Es handelt sich schließlich um eine Quarantänestation, damit jede Ansteckung ausgeschlossen wird. Selbstverständlich bringe ich Sie hin, wenn Sie unbedingt wollen. Aber halten Sie das für klug? Sich der Ansteckung ...« »Bringen Sie mich hin! Sie können ja draußen warten. Und, Florian, wenn ich wiederkomme, gib mir jene Urkunde. Du weißt schon, welche ich meine.« Den Brief mit dem Testament des Comte de Lareinty in der Hand, wartete Florian, als Clover Lee ein paar Stunden später wieder in den Kontorwagen kam. Allerdings kam sie ohne Nadar und auch ohne Giuseppina. Außerdem hatte sie Tränenspuren im Gesicht. Deshalb sagte Florian nichts, sondern hielt ihr nur den Brief hin. Sie jedoch winkte kopfschüttelnd ab. »Ich brauche ihn nicht. Pina ist kurz vor meinem Eintreffen dort gestorben. Heute. An ihrem siebzehnten Geburtstag.« »Ich kann gar nicht sagen, mit welcher Trauer mich das erfüllt, meine Liebe.« »Und ist auch noch in einem Pesthospital gestorben! In einem Lazaretto, wie eine Bettlerin oder Aussätzige. Und das nur, weil sie zu krank war, um zu erkennen, was man mit ihr machte, und zu protestieren und auf einer Privatbehandlung zu bestehen. Möchtest du wissen, wie es dort zugeht? Eine der Pflegeschwestern hat mir gesagt, sie müßten den Franzbranntwein zum Einreihen mit Karbolsäure vermischen – damit ihn die Insassen nicht trinken!« »Es tut mir aufrichtig leid; den anderen wird es genauso ergehen. Wenn es bloß nicht so plötzlich passiert wäre! Wenn sie uns hätte Bescheid sagen können ...« »Nun, zumindest konnte ich mich um die sterblichen -1677-
Überreste kümmern. Da kann man sie jedenfalls nicht noch mal einfach fortbringen und womöglich auf einem Schindanger verscharren. Ich habe für eine anständige Beerdigung bereits alles in die Wege geleitet.« »Wir werden selbstverständlich alle daran teilnehmen, so als ob sie schon immer bei uns gewesen wäre. Vielleicht gibt es dir ein wenig Auftrieb, Clover Lee, wenn du folgendes überlegst. Vielleicht hätte Giuseppina die Blattern gar nicht überleben wollen. Man kann wohl davon ausgehen, daß sie hinterher ... nun, nicht gerade besonders schön ausgesehen hätte. Aber sag, warum sollte ich dieses Dokument für dich herausholen?« Clover Lee stieß ein bitteres Lachen aus. »Zu spät! Ich wollte damit an einen Teil von Gaspards Geld herankommen und das verfluchte Hotel kaufen und jeden, der dort arbeitet, hinauswerfen, vom Manager bis runter zu den Schuhputzjungen, und das Hotel dann Giuseppina schenken, damit sie daraus machte, was sie wollte. Aber jetzt ... ach, was soll’s!« Bewundernd starrte Florian sie an. »Ich glaube, du solltest das Papier wirklich nutzen. Nicht zu einer derartigen drakonischen Maßnahme vielleicht, aber um dir deinen Titel bestätigen zu lassen. Ich habe das früher behauptet und sage es jetzt noch einmal: Der Adel steht dir, meine Liebe. Du besitzt nicht nur ein edles Herz, du bist auch mit herrscherlichen Instinkten ausgestattet.« »Zur Hölle auch damit«, sagte sie wie benommen. »Wenn die Oberschicht Pina so leicht vergessen und im Stich lassen konnte und die Leute, die Geld verdienen müssen, Angst haben, daß ein sterbendes Mädchen ihnen nur hinderlich ist, dann will ich weder mit den einen noch mit den anderen etwas zu tun haben. Hätte ich den Mumm dazu, ich würde den Kommunarden helfen, sie alle aus dem Sattel zu heben.« »Sag das nicht, meine Liebe. Wenn du schon Adel und Bourgeoisie für schlecht hältst – ich hoffe, du machst nie -1678-
größere Erfahrungen mit der französischen Unterschicht. Aber im Moment tätest du gut daran, ins Grand zurückzukehren und dich auszuruhen. Du brauchst heute abend selbstverständlich nicht aufzutreten.« »Untersteh dich! Ich habe heute schon eine Vorstellung verpaßt. Das wäre Pina nie passiert, wenn es nur an ihr gelegen hätte. Daß ich weitermache, ist doch wohl das wenigste.« Sie brach in Tränen aus und stürzte zum Wagen hinaus. Sie war von den Tränen so geblendet, daß sie Edge weder sah noch grüßte, der gerade eintreten wollte. Er stand einen Moment in der Tür, sah ihr nach, drehte sich dann fragend zu Florian um, der sagte: »Unsere kleine Music-Box-Tänzerin ist tot. Clover Lee ist völlig gebrochen.« »Ich hatte gehört, wo sie hin ist. Tut mir aufrichtig leid. Mir hat die kleine Giuseppina gut gefallen, gleich damals schon, als wir sie in Rom kennenlernten. Und vielleicht sollte ich in einem solchen Augenblick nicht mit profanen praktischen Überlegungen kommen. Aber Clover Lee hat gerade eine Pockenstation besucht. Ich habe die Pocken mal leicht gehabt, deshalb bin ich heute immun dagegen, aber sonst ist das niemand. Und mag der liebe Himmel wissen, was für Krankheiten uns von den Gaffern zweimal täglich zugetragen werden. Meinst du nicht doch, Governor, daß es klüger wäre, wir würden den Laden dicht machen, bis die Welt wieder normal geworden ist? Ich frage ja bloß.« »Und meine Antwort lautet, nein – es sei denn, du und die anderen, ihr überstimmt mich, in welchem Fall ich mich der Mehrheitsentscheidung beugen würde. Wir mögen zwar ewige Zugvögel sein ohne eigene Heimat, aber – wenn du erlaubst, daß ich diese Vogelmetapher weiterführe wo immer wir landen, verbinden wir unser Geschick mit dem der heimischen Völker, für wie kurze Zeit auch immer und ob zum Guten oder -1679-
Schlechten. Die meisten Krankheiten, die umgehen, Zachary, befallen die Hungernden und die ohnehin schon Geschwächten. Wir jedoch sind immer noch anständig ernährt, und wir alle sind körperlich sogar kräftiger als die meisten normalen gesunden Menschen. Ich glaube nicht, daß wir irgendeiner der Infektionen so ohne weiteres zum Opfer fallen. Und vergiß nicht, daß wir einen der Lichtpunkte in dieser verlorenen Stadt bilden – und einen der wenigen warmen Aufenthaltsorte bieten. Wenn man mich nicht überstimmt, würde ich sagen, wir machen weiter, solange noch ein einziger Artist von uns imstande ist, seine Kunst zu zeigen – und auch nur ein einziger Gaffer draußen steht, um für die Vorstellung zu bezahlen.« »Es hat wirklich keinen Sinn, mit dir zu streiten, Governor. Du hast recht wie immer. Also, machen wir weiter und hoffen wir, daß sich alles zum Besseren wendet.« Doch das geschah nicht. Im Gegenteil, es wurde schlimmer. Seit der Belagerungsring um die Stadt von den Preußen geschlossen worden war, hatten die Verteidiger zwischendurch immer wieder versucht herauszufinden, wie stark die preußischen Linien wären. Kleine Kommandos – der regulären Verbände, nicht der Zwangsrekrutierten oder Reservisten – wurden ausgeschickt, an den verschiedensten Stellen einen Ausfall zu versuchen. Daraus waren häufig verbissene und blutige, jedoch immer nur kurze Scharmützel entstanden, denn die Franzosen hatten sich nach kurzer Zeit immer wieder in die Stadt zurückgezogen. Dabei hatte sich herausgestellt, daß die Preußen und ihre Verbündeten ihre Truppen ganz offensichtlich hatten auseinanderziehen müssen, um den fast hundert Kilometer langen Belagerungsring zu schließen, dieser jedoch keineswegs schwach war. Dann jedoch traf eine Brieftaube aus Tours ein mit der erhebenden Meldung, daß die von Gambetta neu aufgestellte Loire-Armee unter den Generalen Chanzy und Bourbaki von Orleans aus in Richtung Fontainebleau vorstoße. Präsident -1680-
General Trochu fand, wenn seine Pariser Truppen nur eine Bresche in die feindlichen Linien schlügen, die fünfzig Kilometer bis Fontainebleau marschierten und sich der anrückenden Streitmacht anschlössen, die vereinigten französischen Verbände es vielleicht schaffen könnten, den Blockadering vollständig zu sprengen. Deshalb ließ er jeden verfügbaren und zuverlässigen Mann am Südostrand der Stadt im Bois de Vincennes antreten und schickte sie über die Marnebrücken hinweg zum Sturm auf den vom Gegner gehaltenen Pariser Vorort Champigny. Das war für Paris der einzige Lichtblick in diesem dunklen Winter – der allerdings nur für kurze Zeit Hoffnungen weckte. Die französischen Soldaten kämpften tapfer und mit dem Mut der Verzweiflung, so daß sie am letzten Novembertag Champigny tatsächlich einnahmen. Dann zollten die hinausgeworfenen Boches ihren tapferen Gegnern das Kompliment, für den ersten Dezember um eine Waffenruhe zu bitten, damit beide Seiten ihre Gefallenen bestatten und ihre Verwundeten versorgen könnten – die Zahl der Toten bei Preußen und Franzosen zusammen belief sich auf mehrere Tausend! Die Franzosen waren einverstanden, und die Preußen rückten mit Krankenwagen und Sanitätern ihrer Feldlazarette vor, um ihre gefallenen und verwundeten Kameraden einzusammeln. Die Franzosen waren jedoch so unvorbereitet in diese Schlacht gezogen, daß die Pariser Compagnie de Transport Publique ihre Omnibusse und Kremser einsetzen mußte, diese Aufgabe für sie zu erledigen. Am nächsten Tag wurde der heftige Kampf wieder aufgenommen, und am Tag darauf mußten die Franzosen sich geschlagen geben. Was von ihnen noch übrig geblieben war, eilte in heilloser Flucht über die Marnebrücken zurück in die Stadt, und der nur für kurze Zeit aufgebrochene Belagerungsgürtel wurde wieder geschlossen. Im übrigen lag es nach neueren Meldungen, die die Brieftauben gebracht hatten, -1681-
klar auf der Hand, daß aus dem versuchten Entsatz durch die Loire-Armee ohnehin nichts geworden wäre, selbst wenn die Pariser den Durchbruch geschafft hätten. Denn die neugebildete Loire-Armee war auf ihrem Vormarsch nach Norden an der Maas auf eine Armee der Boches gestoßen, zerschlagen und in zwei Hälften gespalten worden, die beide Hals über Kopf flohen – die eine Hälfte unter General Chanzy Richtung Nordwesten, die andere unter General Bourbaki nach Südosten, und keiner dieser Verbände war auch nur in die Nähe von Fontainebleau gelangt. Nunmehr hatten die Verwegenheit und der Trotz, den die eingeschlossene Stadt zeigte, die Geduld der Preußen doch erschöpft, und so eröffneten sie jetzt mit ihren Langrohrgeschützen das Feuer, legten zunächst das Fort auf dem Mont Avrons in Schutt und Asche und bepflasterten dann die anderen Forts östlich und südlich von Paris mit ihren Granaten; wurden diese von ihren zermürbten Verteidigern verlassen, rückte der Belagerungsring immer näher an die eigentlichen Stadtgrenzen heran. »Verdammt!« fluchte Florian. »Ich hab’s ja gewußt: Wenn Paris eigensinnig weiter ausharrte, würden die Preußen einmarschieren und die Stadt nehmen.« »Nun, die Stadt selbst werden sie ja wohl vorläufig nicht beschießen«, sagte Edge. »Das machen sie nur mit den außenliegenden Forts.« »Was? Die Stadt beschießen?« sagte Florian und schien überrascht. »Ich meine, es wird wahrscheinlich zu Kämpfen Mann gegen Mann in den Straßen kommen. Die Boches werden doch nicht so barbarisch sein, die Stadt zu bombardieren? Granaten auf unbewaffnete Zivilisten niederregnen lassen? So etwas hat es doch noch nie gegeben! Das wäre ein Verstoß gegen jede humane Kriegsregel. Das wäre ein unerhörter Greuel!« -1682-
»Zum Teufel damit!« knurrte Yount. »Vielleicht hast du nie davon gehört, wie Sherman Charleston beschossen hat oder Meade Petersburg. Aber du hast doch selbst gesagt, was der Zivilbevölkerung im Shenandoah-Tal von ihrem Eigentum blieb, nachdem Little Phil hindurchgezogen war. Vergiß nicht, die Preußen haben Sheridan da draußen, und der achtet keine einzige Kriegsregel – egal, wer gegen wen Krieg führt, würde ich mal sagen.« »Himmel!« murmelte Florian. »Trotzdem werden sie vorläufig noch nicht damit anfangen, ihre Kürbisse in die Stadt zu schleudern«, sagte Edge nochmals. »Dafür gibt es viel zu viele offene Plätze und Parks, und die sind vom Winterregen alle aufgeweicht. Da würden die Granaten bloß in den Boden reinfahren und beim Explodieren nicht viel Schaden anrichten. Die Kanoniere werden auf einen Kälteeinbruch warten, damit der Boden gefriert und die Granaten beim Aufschlag losgehen oder abprallen, ehe sie explodieren und damit möglichst große Verheerungen anrichten.« »Himmel!« wiederholte Florian noch einmal halblaut. Edge sollte recht behalten. Die Beschießung ging weiter, konzentrierte sich jedoch auf die Forts. Die einzige Auswirkung auf die Stadt bestand darin, daß sie Monday Simms und anderen Frauen, die auf Erschütterungsstöße und Erbeben besonders empfänglich reagierten, wollüstige Schauer bescherte. Doch in der ersten Januarwoche änderte sich das Wetter. Der eintönige Wechsel zwischen kalten und regnerischen Tagen endete; der Himmel klarte auf und wurde eisblau, und die Luft blieb kälter als eiskalt. In den Parks und auf den Rasenflächen sowie den ungepflasterten Marktplätzen von Paris versank man nicht mehr im aufgeweichten Boden; er gefror zu einer eisenharten Fläche. Erst da richteten die Preußen ihre Geschützrohre zur höchsten Höhe auf, um die größte Reichweite – für ihre -1683-
Sechsundfünfzigpfünder bedeutete das rund sieben Kilometer – zu erzielen, und schossen ihre Granaten dann aufs Geratewohl ab. Eines der Geschosse, die Paris trafen, explodierte in der Nähe einer Gemeindeschule im Vaurigard-Viertel und durchschnitt eine kleine Schülerin glatt in der Taille, ohne daß ihre Schuluniform sonst darunter litt. Eine weitere schlug auf dem Friedhof von Montparnasse ein, ließ Grabsteine durch die Luft fliegen und zertrümmerte einige, ohne die dort Bestatteten weiter zu stören. Eine dritte riß einer alten Maroniverkäuferin den Kopf ab, und noch eine andere tötete sechs Leute, die nach ihrer Ration Strohbrot und Pferdehuf-Osseine Schlange standen. Doch die erste Beschießung tagsüber sollte wohl nur dazu dienen zu zeigen, wozu die Preußen imstande wären, wenn sie wollten. Später jedoch begannen sie ihr Stahlgewitter nie vor zehn Uhr abends und hielten es – bei einem Abschuß von einem Geschoß alle vier bis fünf Minuten nur etwa rund vier Stunden lang aufrecht. In diesen vier Stunden hielten sich die meisten Pariser in ihrer Wohnung auf, waren also davor sicher, daß ein Geschoß sie direkt traf und verwundete. Schlug ein Geschoß doch in einem Wohnhaus ein, riß es ein mächtiges Loch ins Dach oder eine Seitenmauer, doch war die Explosivkraft des Schwarzpulvers nicht groß genug, um im Inneren größeren Schaden anzurichten – oder an den Bewohnern, nachdem diese gelernt hatten, sich von den oberen Stockwerken, Fenstern und Außenwänden möglichst fernzuhalten. Da die Preußen ihre schweren Geschütze immer noch südlich und östlich der Stadt stehen hatten, schlugen die meisten Geschosse in Wohngebieten der Rive Gauche ein. Eine Granate, die auf der Place des Invalides explodierte, war die einzige, die annähernd im Stadtzentrum niederging, und nur wenige flohen über den Fluß und gingen um Auteuil nieder, also rund anderthalb Kilometer südlich vom Festplatz des FLORILEGIUM. So ergab es sich, daß die meisten Pariser sich nach anfänglichem Schock und Entsetzen darüber, daß man die Stadt -1684-
des Lichts so kränken und mißhandeln könne, die Kanonade mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen ließen. Schließlich forderte sie täglich weit weniger Opfer als die diversen Krankheiten und der Hunger. Straßenrangen eilten an die Stätte eines jeden neuen Einschlags und sammelten Granatsplitter, um sie als Souvenirs zu verkaufen. In den Familien der besseren Kreise erlaubten die Eltern ihren Kindern wohl als besondere Belohnung für braves Betragen, bis ›spät aufzubleiben und bei der Beschießung zuzusehen‹. Nur die Kommunarden weigerten sich, diese neue Belästigung gelassen zu betrachten. Sie lieferte ihnen nur wieder einen Grund, Scherereien zu machen; wieder wurden Volksmassen aufgewiegelt, mit Protestmärschen über die großen Avenuen zu ziehen, auf der Place de la Concorde durcheinanderzuwurlen und das Hótel de Ville einzukesseln. Sie bewarfen das Rathaus mit Steinen und Exkrementen, schmähten Präsident Trochu, seine ›neoimperialistische‹ Regierung und ihre Unfähigkeit, Paris entweder zu verteidigen oder aus der Stadt auszubrechen. Etliche Male schlossen sich diesen Massen auch bewaffnete Angehörige der Bürgerwehr und der Mobilots in Wachuniform an, nur daß sie hier auch noch rote Halstücher trugen; und bei einer Gelegenheit ließen sich die Männer von der Rhetorik ihres Anführers dermaßen hinreißen, daß sie auf die Fenster des Gebäudes feuerten. Die verteufelten Regierungsbeamten mußten ihre eigenen Truppen – regierungstreue Reguläre – anrücken lassen, um die Demonstranten zu vertreiben, was dadurch geschah, daß man auf sie schoß. Eine Reihe von Kommunarden und ihren Anhängern wurde getötet, was den Übriggebliebenen neuerlich Anlaß zu Gewalttaten gab. So gingen die Märsche und Demonstrationen weiter und störten den Frieden der Stadt nachhaltiger als die Beschießung durch den Gegner. Präsident Trochu unternehm von sich aus noch einmal eine Protesthandlung. Nachdem ein Geschoß auf das Hópital de Ste-1685-
Anne gefallen war, schickte er am nächsten Morgen unter der weißen Flagge einen Parlamentär ins preußische Hauptquartier in Versailles und verwahrte sich gegen eine solche Ungeheuerlichkeit. General von Moltke schickte den Boten mit einer kühlen Erwiderung zurück: Er hoffe, bald nahe genug an Paris herangekommen zu sein, daß seine Kanoniere die roten Kreuze besser erkennen und respektieren könnten. »Ich gehe jede Wette ein, daß das auf dieses Stinktier von Sheridan zurückgeht«, knurrte Yount, als Sunday davon aus der Zeitung vorlas. Die Artisten des FLORILEGIUM hatten sich nachgerade daran gewöhnt, daß Moltkes Geschütze in der zweiten Programmhälfte der Abendvorstellung alle paar Minuten bumbum machten, es dann gespenstisch und das Trommelfell erschütternd schwirrte und hinterher zur Explosion kam, manchmal so laut, daß selbst Becks Bläser und manchmal sogar die Dampforgel noch übertönt wurden. Doch nur ein einzigesmal kam es durch den Beschüß zu einer direkten Störung. Es war ein Abend in der zweiten Januarwoche, und die Vorstellung war fast vorüber. Mademoiselle Cendrillon absolvierte auf dem Hochseil unmittelbar vor dem Schlußakt ihre Nummer, als eine Reihe preußischer Geschütze ihre Schüsse nicht wie sonst im Drei- oder Vierminutenabstand abfeuerte, sondern unmittelbar nacheinander. Obwohl ziemlich weit entfernt, überlagerte dieser Kanonendonner die Straußsche Begleitung von Mondays Schornsteinfegerdarstellung. Das ungewöhnlich laute und langgezogene Donnergrollen ließ die gesamte Zuschauerschaft die an diesem bestimmten Abend etwa die Hälfte des Gradins füllte – die Augen nach Süden wenden und brachte Monday dazu, in ihren Sprüngen innezuhalten. Von den Gaffern bemerkte es möglicherweise keiner, doch der Sprechstallmeister und die anderen Circusleute, die unten in der Manege waren, sahen, wie Monday die Augen schloß und mit -1686-
bebenden Beinen in der Mitte des Seils stehenblieb. Denen, die sie kannten, war es klar, daß Monday sich bemühte, sich zu beherrschen, sich auf die Unterlippe biß und fest ihre vibrierende Balancierstange umklammerte, die aussah wie eine Kaminfegerbürste. Als das Echo der Schüsse erstarb und man die Musik wieder vernahm, schüttelte Monday den Kopf, als wollte sie ihn wieder klar bekommen, und schickte sich hastig, aber unsicher an, auf den Abgangssteg am Ende des Seils zuzulaufen. Doch während sie noch dabei war, das zu tun, hielt sie abermals inne, da sich jetzt das unheimliche Schwirren mehrerer durch die Luft fliegender Granaten vernehmen ließ – und wieder drehte das Publikum wie ein Mann den Kopf, um diesem Laut zu folgen, als könnte es die Geschosse tatsächlich durch den Nachthimmel fliegen sehen –, dann kam es zu den, wie es schien, minutenlang anhaltenden, erschreckend und in rascher Folge sich entwickelnden lauten Detonationen. Das war für Monday zuviel; ihr Gesicht war so ausdrucksleer, als wäre sie plötzlich eingeschlafen; ihr ganzer Körper zuckte, und sie fiel vom Seil. Zwei Männer schossen bereits durch die Manege. Der als Teufel herausgeputzte Demon Debonnaire war einen Schritt näher daran als der Sprechstallmeister, und so war er es, der die junge Frau mit seinen Armen auffing, was genügte, um ihren Fall zumindest ein bißchen abzufedern. Beide prallten gleichzeitig auf den Boden auf, Pemjean gleichsam alle viere von sich streckend, während Monday mit einem dumpfen Aufprall auf dem Rücken landete. Beim anhaltenden Echo der Explosionen war dieser Laut ebensowenig zu hören wie die Musik der Kapelle; vermutlich hatten sogar nur wenige der Zuschauer den Sturz überhaupt mitbekommen. Als Mondays zerdellter Zylinderhut lustig schaukelnd heruntergesegelt kam, gab Edge Bumbum bereits mit gekreuzten Armen das Signal weiterzuspielen und beugte sich über das dahingestreckt liegende Mädchen. Als das Publikum seine Aufmerksamkeit -1687-
wieder der Manege zuwendete, spielte die Kapelle bereits den obligaten ›Hochzeitsmarsch‹ und tollten Fünffünf, das Kesperle und Emeraldina in der Vorbereitung des Spiegelentrees wie ausgelassen durch das Sägemehl. Pemjean konnte ohne fremde Hilfe aufstehen und kniete mit Edge neben Monday nieder. Die junge Frau konnte kaum noch atmen, war aber bei Bewußtsein. Die Augen hatte sie aufgerissen, und auf ihrem rußgeschwärzten Gesicht malte sich ein Lächeln. Dann hob sie die Hände und strich beiden Männern beruhigend über die Wangen. Diese schoben die Arme unter sie, verschränkten die Hände und bildeten so einen Tragesitz. Während Florian sich mit der Flüstertüte beim Publikum für die »rücksichtslose Unterbrechung durch die Boches« bei Mademoiselle Cendrillons Nummer entschuldigte, trugen Edge und Pemjean -Sunday angstvoll hinter sich – Monday hinter die Gardine in den Sattelgang und dann ins Garderobenzelt der Damen. Als sie sie dort sanft auf eine Pritsche legten, war sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen und sagte fast träumerisch: »Das war der beste ... der beste, den ich je gehabt hab’ ...« Dann stieg ihr die Röte ins Gesicht, und sie sagte fast wütend: »Das mach’ ich jetzt nie wieder!« »Und das wird sie verdammt noch mal wirklich nie wieder können«, berichtete Edge Florian, nachdem er ins Chapiteau zurückgekehrt war. »Weder als Seiltänzerin arbeiten, noch dieses Schenkelreiben jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen. Ich glaub’ zwar, sie weiß es noch nicht, aber von der Hüfte an ist sie schlaff wie eine Leiche. Du tätest gut daran, bei den Gaffern nachzufragen, ob vielleicht ein Arzt darunter ist.« Mittels Handbewegung gab Florian der Kapelle und den Clowns zu verstehen, sie sollten Schluß machen – was Fünffünf und das Kesperle veranlaßte, auf beiden Seiten des Spiegelrahmens in ihrer komischen Pose zu erstarren. Dann gab Florian den Zuschauern bekannt, zwar habe Mademoiselle Cendrillon durch das von den Boches verursachte Mißgeschick -1688-
nichts weiter als einen großen Schock erlitten, doch wäre ihm selber wohler zumute, wenn ein Arzt das auch bestätigen könnte – falls zufällig ein Arzt unter dem geschätzten Publikum wäre – und wenn dieser so freundlich sein wolle. Von einem der Sitze erhob sich ein Mann mit einem kleinen schwarzen Köfferchen, und das Publikum applaudierte ihm, als er auf den an der Piste stehenden Florian zuging. Er stellte sich so laut vor, daß jeder im Chapiteau mitbekam, um wen es sich handelte – le DocteurMedicin Etienne Landgarten –, dann fügte er leise, so daß nur Florian es hörte, hinzu, er verlange, in Gold bezahlt zu werden, und zwar im voraus. Ohne ein Hehl aus seiner Verachtung zu machen, drückte Florian ihm zwei russische Imperiale in die Hand und winkte Edge, ihn zum Garderobenzelt zu bringen. Dort machte der Arzt sich gar nicht erst die Mühe, die Circusleute hinauszuschicken, die sich besorgt dort eingefunden hatten, und er verlangte auch nicht erst, daß seine Patientin sich entkleide, sondern stipste sie nur oberflächlich in die Seite. Dann richtete er sich auf und sagte auf englisch zu niemand im besonderen gewandt: »Sorgen Sie dafür, daß sie rücklings auf der Pritsche liegen bleibt. Binden Sie sie daran fest und halten Sie sie warm. Und dann bringen Sie sie ins Krankenhaus. Das Krankenhaus hat immerhin noch kräftiges Personal, wenn auch sonst nichts weiter, und dieser Patientin muß das Rückgrat mittels Zwangskorrektur geradegestellt werden. Und hinterher muß sie lange Zeit hindurch regungslos liegen. Weiter kann man nichts für sie tun. Adieu et bonne chance!« Er hatte es eilig, das Zelt zu verlassen, doch Sunday fragte: »Docteur, können Sie uns sagen, was ... was verletzt ist?« »Das könnte Ihnen jede Hebamme vom Lande sagen«, erklärte er hochmütig. »Zersplitterung des neunten und zehnten Rückenwirbels. Totale und unheilbare paraplektische Anästhesie, die später eine Atrophie der Gefäß- und Beinmuskeln zur Folge haben dürfte. Vermutlich kommt es -1689-
wiederholt zu Dyspepsie, schlimmstenfalls sogar zur Asphyxie. Wahrscheinlich kommt es auch zu Decubitus-Schwären, lebenslanger Fäkalimpaction und unvollständiger Miction. Angesichts solch ausgedehnter somatischer Mängel läuft sie Gefahr, daß es unwillkürlich zu selbstzugefügten Traumata kommt. Genügt das, Ihre Unwissenheit zu beheben, Mademoiselle?« Sunday konnte nur blinkern, doch Monday riß erschrocken die Augen auf, offensichtlich fassungslos, plötzlich so viele Leiden zu haben. Pemjean stieß einen unterdrückten Schrei aus und richtete sich neben der Pritsche, wo er gekniet hatte, zu seiner vollen Größe auf. Er packte den Arzt mit beiden Händen bei der Krawatte, zog diese fest zu und hob den Mann in die Höhe, daß seine Fußspitzen fast die Berührung mit dem Boden verloren. Wie ein echter Dämon funkelnd, sagte Pemjean mit tiefer Stimme, die jedoch einen wütenden Tiger das Fürchten gelehrt hätte: »Un poeme epique, Monsieur le Docteur. Doch jetzt, Sie petesec, wiederholen Sie das mal, so daß jeder das verstehen kann. Wie schlimm ist die Verletzung unserer Kollegin? Was können wir tun, um ihr zu helfen? Und wie sind ihre Heilungsaussichten?« Der Arzt konnte nur erstickte Laute ausstoßen, bis Pemjean ihn absetzte, ihn dabei jedoch noch immer fest bei der Krawatte gepackt hielt. »Alors«, krächzte der Mann und fuhr dann unter Schwierigkeiten, doch ängstlich bemüht fort: »Die ... Patientin ... hat sich zwei Rückenwirbel zertrümmert. Diese enthalten lebenswichtige Nerven, die unheilbar in Mitleidenschaft gezogen wurden. Damit diese Knochen wieder zusammenwachsen, muß sie während des gesamten Heilungsprozesses im Streckbett liegen. Die Knochen werden auch wieder heilen, nicht jedoch die Nerven. Sie wird später im Rollstuhl fahren können, aber von der Hüfte an abwärts wird sie -1690-
nie wieder irgend etwas fühlen oder sich bewegen können. Ihre unbenutzten Beine werden verkümmern. Da einige der in Mitleidenschaft gezogenen Nerven ihr Zwerchfell beeinflussen, wird sie manchmal Schwierigkeiten haben, Atem zu holen. Deshalb bedarf sie ständiger Pflege, ihre Lage im Bett oder Sessel muß verändert werden, damit sie nicht erstickt, aber auch, um das Wundliegen zu verhindern. Auch wird sie in den unteren Regionen des Körpers keinerlei Gefühl mehr haben; infolgedessen muß sie vor Verbrennungen oder Schnittwunden ebenso geschützt werden wie vor – hm – infektiösen Frauenkrankheiten, zu denen es kommen kann, ohne daß sie es merkt. Da ihr Verdauungsapparat von ihr nicht mehr kontrolliert werden kann, wird sie ... wird aller Kot herauströpfeln, der Darm sich jedoch nie vollständig leeren; infolgedessen wird sie Gefahr laufen, ständig von ihren eigenen Ausscheidungen vergiftet zu werden. Deshalb wird eine Krankenpflegerin ihr ständig Einlaufe machen müssen, damit ihr Darm sich leert, und muß Druck auf den Unterleib ausüben, um ihre Blase zu leeren ...« »Da wäre ich lieber tot ...«, rief Monday klagend aus. »Nein, das wärest du nicht«, sagte Pemjean zu ihr und schüttelte den Arzt tüchtig durch. »Sonst noch was? Reden Sie!« »Sonst nichts, sonst nichts, Monsieur. Kümmert man sich um diese Dinge, kann sie lange leben. Sie wird nicht gehen können, aber auch nicht vollständig gelähmt sein und – zumindest nach einem entsprechenden Eingriff – auch keine besonderen Schmerzen leiden. Bitte, darf ich jetzt gehen, Monsieur?« Pemjean hielt inne, so als überlege er. »Meine Raubtiere haben seit Wochen nichts Anständiges mehr zwischen die Zähne bekommen. Aber ich nehme an, einen solchen Abschaum wie Sie würden sie zurückweisen ... Oui – demerdetoi!« Und warf den Mann zum Zelt hinaus. »Gut gemacht, Jean-Francois«, sagte Edge zu ihm. »Sunday, -1691-
du bleibst hier bei deiner Schwester. Paß auf, daß sie warm eingepackt bleibt und nicht den kleinen Finger rührt. Banat wird einen Wagen herrichten, damit wir sie ins Hospital bringen können. Alle anderen, zurück jetzt ins Chapiteau für die Schlußparade. Und du, Monday, hör auf zu heulen! Du wirst doch wohl einem Quacksalber wie dem nicht glauben, oder?« »Yeesuh, Mr. Zack«, sagte sie schniefend. Sunday beugte sich über sie und flüsterte ihr etwas zu, woraufhin Monday noch hinzusetzte: »Und bevor du gehst, ... Mr. Demon ... ich hab’ dir immer noch nich Dankeschön gesagt.« Es war in der Tat das erstemal seit Sankt Petersburg, daß sie mit ihm redete. »Wärst du nich’ gewes’n, Mr. Demon, wär’ ich wahrscheinlich längst’ne tote Leiche.« »Ich war dir ja einen Gefallen schuldig, Cherie«, sagte er leise und ging davon. Kurze Zeit darauf fuhren Edge, Florian und Pemjean mit dem Wagen – Monday, neben der Sunday saß, lag auf der Pritsche hinten – zu einer kleinen, nicht weit vom Bois gelegenen Privatklinik, dem Centre Medical Marmottan. Die Pfleger trugen Monday vorsichtig hinein und ein Arzt genau das Gegenteil des Doktor Landgarten – tastete sie äußerst behutsam von Kopf bis Fuß ab. Als Doktor Tonnelier von ihrer Pritsche zurücktrat und sich nachdenklich über den Bart strich, murmelte Florian, so daß die anderen es nicht mitbekamen: »Monsieur le Docteur, es wurde etwas vorgeschlagen, das sich ›Zwangskorrektur‹ nennt. Wäre das sehr schmerzhaft für die junge Dame?« »Das wäre es in der Tat. Unglaublich schmerzhaft. So schmerzhaft, daß es selbst die kräftigsten männlichen Patienten dazu bringt zu schreien wie die Verdammten in der Hölle. Sind Sie, Monsieur, ein entschiedener französischer Patriot?« »Eh? Was hat das damit zu tun?« »Die sogenannte Zwangskorrektur ist etwas, das sich vom -1692-
Streckbett der mittelalterlichen Folterkammern nicht sonderlich unterscheidet. Das ist die französische Methode. Deshalb schwören die meisten französischen Chirurgen darauf und ziehen keine andere Methode auch nur in Erwägung. Doch hier am Marmottan – hoffentlich verletze ich damit nicht Ihre patriotischen Gefühle – sind wir für die menschlichere Methode, die von den – hm – gräßlichen Boches eingeführt wurde. Sie bezeichnen sie als ›Modellierverbesserung‹, wenn ich das Wort richtig ausspreche.« »Ja. Hm, oui. Modellierverbesserung.« »Richtig. Sie ist im Gegensatz zur französischen Methode völlig schmerzlos für den Patienten. Langwierig, das gebe ich zu, aber auch nicht langwieriger als die Nachwirkungen der französischen Methode. Eine durchaus sanfte Erfindung, n’estce pas?, zumal, wenn man bedenkt, daß sie von diesen bösen Boches kommt.« »Wenn sie ihren Zweck erfüllt und nicht schmerzt, hätte ich nichts dagegen, und wenn Attila sie höchstpersönlich entwickelt hätte.« »Da stimme ich Ihnen zu. Sie und die anderen Freunde von Mademoiselle können sogar dabei zusehen, wie das Verfahren eingeleitet wird sobald die Schwestern sie entkleidet und vorbereitet haben.« Monday wurde in ein Bett gelegt, über dem es eine sinnreiche Vorrichtung gab, die aus Schnüren, Drähten, Gewichten und Rollen bestand wie bei einem Flaschenzug und die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Longe im Circus aufwies. So wurde ihr Körper mit Hilfe einer behutsam arbeitenden, doch nicht nachlassenden Zugkraft zwischen ihrer gepolsterten Nackenstütze und dem gepolsterten Bügel über den Fußgelenken gestreckt. Der Arzt und seine Helfer nahmen das genaue Einstellen und Zurechtziehen der verschiedenen Drähte und der zahlreichen Polster und Keile unter ihr und rund um -1693-
ihren Körper herum sehr ernst. Doch Monday schrie kein einzigesmal auf; weder stöhnte sie noch beschwerte sie sich. Ein- oder zweimal lächelte sie sogar, und einmal murmelte sie: »So’n Gewese hat noch nie wer um mich gemach’.« Als er mit der Einstellung der Streckvorrichtung fertig war, erklärte Dr. Tonnelier: »Es werden von nun an ständig Anpassungen vorgenommen, einmal, um den Heilungsprozeß voranzutreiben, zum anderen aber auch, um der Patientin durch kleine Lageveränderungen etwas Erleichterung zu verschaffen. Die Modellierverbesserung dauert im allgemeinen vier bis sechs Wochen. Mademoiselle Simms ist jung, geschmeidig und gesund; ich nehme an, daß sie dieses Bett nach vier Wochen wird verlassen können. Aber – doch das wissen Sie wohl schon – laufen kann sie nicht, wird sie nie mehr können. Hat sie es erst bis zum Rollstuhl geschafft nun, von da an wird sie sich an das neue Leben anpassen und gewöhnen müssen. Das fällt dann nicht mehr in mein Fachgebiet als Chirurg. Da können ihr nur diejenigen helfen, die ihr lieb und teuer sind und ihr nahestehen.« »Wir haben verstanden«, sagte Sunday. »Dafür werden wir schon sorgen«, sagte Pemjean. Sunday blieb im Hospital, um ihrer Schwester in der ersten Nacht in der fremden Umgebung nahe zu sein. Die anderen fuhren zurück zum Festplatz. Auf der Rückfahrt sagte Pemjean noch einmal: »Ich war Monday einen Gefallen schuldig. Und habe lange um eine Versöhnung gebetet. Ich wünschte nur, es hätte nicht auf diese Weise geschehen müssen.« »Nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen, Jean-Francois«, sagte Edge. »Vor langer Zeit habe auch ich einmal eine Seiltänzerin geliebt. Ehe du zu uns kamst; du hast sie nie gekannt. Ich hatte immer eine furchtbare Angst, daß sie abstürzen könnte wie heute Monday. Heute wünschte ich, sie wäre doch abgestürzt – -1694-
jedenfalls wäre es besser gewesen als das, was ihr dann zustieß. Ich hätte lieber die Hälfte von ihr umsorgt und gehegt und gepflegt, statt sie ganz zu verlieren.« »Aussi moimeme«, sagte Pemjean: »Bitte, Monsieur le Gouverneur, du wirst Monday doch nicht entlassen? Jetzt, wo sie ...« »Was für eine ungeheuerliche Frage?« versetzte Florian mit Schärfe. »Selbstverständlich nicht!« »Dann möchte ich derjenige sein, der ihre Pflege übernimmt. Vielleicht hat sie mir das Unrecht verziehen, das ich ihr angetan habe trotzdem bin ich ihr immer noch etwas schuldig. Wenn sie es mir erlaubt, möchte ich mich mein Leben lang um sie kümmern.« »Nun«, sagte Florian und sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Wenn ihr beiden wieder dort anfangt, wo ihr aufgehört habt, möchte ich nur eines wissen ...« »Ob ich von der unaussprechlichen Krankheit geheilt bin?« sagte Pemjean mit schief verzogenem Gesicht. »Ganz sicher kann ich da noch nicht sein, Monsieur. Aber der erste Arzt hat trotz all seines Geseires in einer Hinsicht die Wahrheit gesagt: Monday fühlt da unten nichts mehr. Sie ist praktisch chátree – und da werde auch ich es sein. Möglich, daß ihr dieser schöne Aspekt des Lebens fehlen wird; mir natürlich auch. Aber immerhin sorgt das dafür, daß ich sie nie wieder so leiden lasse, wie ich es einmal getan habe. Selbst wenn ich so grausam sein wollte – aber das will ich wahrhaftig nicht.« »Wenn das so ist, sei sie dein«, sagte Florian. »Und ihr habt beide von ganzem Herzen meinen Segen.« Schweigend fuhren sie eine Weile durch die dunklen Straßen, auf denen zu dieser späten Stunde nicht einmal das Aufseufzen ferner Kanonen zu hören war. Dann sagte Florian wehmütig: »Ich hatte geschworen, daß das FLORILEGIUM solange spielt, wie auch nur ein einziger Artist dazu imstande wäre. -1695-
Allmählich frage ich mich, ob das Schicksal aus Bosheit entschlossen ist, mich bei diesem unüberlegten Schwur beim Wort zu nehmen und unsere Truppe so zusammenschmelzen zu lassen, daß tatsächlich nur noch ein Artist übrig ist. Es ist noch nicht lange her, da haben wir Miß Eel verloren ... die Signorina Giuseppina ... Monsieur Roulette und die Saratoga. Und jetzt Mademoiselle Cendrillon. Und gerade heute morgen hat Madame Alp mir anvertraut, sie wäre schwanger.« »Oui?« sagte Pemjean, und Edge fragte: »Madame Alp?« »Jawohl. Das wird sie nur für kurze Zeit außer Gefecht setzen – um die Zeit, da das Kind tatsächlich geboren wird. Bis dahin dürfte sie in der Sideshow einen womöglich noch mächtigeren Eindruck machen.« »Governor«, sagte Edge, »Madame Alp haben wir vor sechs Jahren in Baltimore zurückgelassen.« »Wie bitte?« Florian schien momentan verwirrt. »Habe ich Madame Alp gesagt?« Er kratzte sich den schütteren Bart und machte ein verlegenes Gesicht. »Du meine Güte! Vielleicht will das Schicksal andeuten, daß ich in den Ruhestand treten soll – indem es mich mit Senilität schlägt. Selbstverständlich meinte ich Prinzessin Brunhilde.« »Ah«, sagte Pemjean. »Und sie bekommt ein Kind? Quelles bonnes nouvelles!« »Jawohl. Sie und der Todlose sind außer sich vor Freude – wir sollten das alle sein, ihretwegen! Aber wie gesagt, man wird ihr ihren Zustand noch lange nicht ansehen; jedenfalls kann sie in der Sideshow immer noch auftreten. Allerdings muß sie ärztlich betreut werden, wenn ihre Zeit kommt – und sollte auch vorher schon einen Arzt aufsuchen. Und das bedeutet weitere Ausgaben, denn ich würde jeden Betrag bezahlen, sie davor zu bewahren, sich einem solchen Scharlatan wie diesem Dr. Lustgolden anzuvertrauen, oder wie immer er geheißen hat. Eines muß ich offen sagen, meine Herren. Ich mache mir doch -1696-
Sorgen, wer das alles bezahlen soll. Die Imperiale von Zar Alexander sind bald aufgebraucht. Gewiß, wir haben immer noch unsere Rücklagen in französischen Francs im Roten Wagen. Aber damit können wir im Moment so gut wie nichts anfangen, und wer weiß, ob sie jemals wieder einen Wert haben werden. Bleiben sie wertlos ...« aufseufzend schüttelte er den Kopf. »Dann, meine ich, wenn wir bedenken, wie klein unsere Truppe geworden ist, und daß das FLORILEGIUM bald verarmt sein dürfte – dann hat unser Circus seinen Kreis fast geschlossen. Dann sind wir bald wieder eine kleine Klitsche wie damals, Colonel Ramrod, als wir uns am Ufer des kleinen Baches in Virginia begegnet sind. Ja? Gut ... sag was.« »Ich denke nicht daran. Ich höre mir dein Gejammere keinen Moment länger an, Governor. Solange du mich noch mit meinem Circusnamen anredest, weiß ich verdammt gut, daß du deinen ewigen Optimismus noch nicht verloren hast. Oder deine Fähigkeit, wie ein Korken einen Wasserfall runterzuschwimmen. Und solange du die hast, geht es uns allen gut.« »Ach, ich danke dir für das Vertrauen, das du in mich setzt. Hoffentlich ist es gerechtfertigt. Ja, ja ... es gilt wieder einmal, die Probleme zu lösen, wie sie sich stellen. Wenn bloß dieser elende Krieg endlich vorbei wäre!«
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14 Der Krieg ging zu Ende – nicht von einem Tag auf den anderen und endgültig, sondern unter launischem Wiederaufflackern, wie das letzte Funkensprühen einer Reihe von Knallkörpern. Überall in Frankreich wurde noch gekämpft – in St. Quentin in der Picardie, bei Le Mans in Maine, bei Beifort im Elsaß –, als am achtzehnten Januar Wilhelm der Welt kundtat, er betrachte Frankreich als hinreichend erobert, seine Heere als siegreich und sein Volk in Europa als an der Spitze stehend. An diesem Tag und in einem Alter, in dem die meisten Monarchen wohl daran gedacht hätten, die Herrschaft ihrem Nachfolger zu übergeben und sich von der Last der Staatsgeschäfte zu befreien, war es der Dreiundsiebzigjährige nicht mehr zufrieden, nur König von Preußen zu sein, sondern ließ sich zum Deutschen Kaiser ausrufen. Selbiges geschah in Anwesenheit seines Sohnes, des Kronprinzen Friedrich, seines Kanzlers Bismarck, Moltkes und zahlreicher anderer Würdenträger, unter anderem des ihn bewundernden amerikanischen Generals Philip Sheridan. Als diese Nachricht Paris tags darauf mittels Brieftaube erreichte, meinte Florian gleichsam schicksalsergeben: »Nun, in Zukunft sprechen wir nicht mehr von Preußen, Hessen, Bayern und so weiter – fürderhin sind sie alle Deutsche. Und wieder landet der Spielball Elsaß auf der anderen Seite der Grenze. Wartet’s nur ab!« Der Rest von Paris nahm diese Meldung nicht so resigniert auf. Es war schon schlimm genug, daß Wilhelm sich auf geheiligtem französischem Boden hatte zum Deutschen Kaiser ausrufen lassen. Was für jeden Franzosen noch schockierender und entwürdigender war und sie zusätzlich verbitterte, war die Tatsache, daß dieses Ereignis ausgerechnet am Symbolort gallischer Größe, dem stolzen Schloß von Versailles, ja – quelle -1698-
horreur! – dort auch noch im ehrwürdigen Spiegelsaal stattgefunden hatte. Nun waren es nicht nur die ewig unzufriedenen Kommunarden, sondern alle Pariser Bürger, die von ihrer Regierung verlangten, daß sie etwas unternahm, irgend etwas tat! So kam es, daß sich die Überreste der regulären Truppen unter General Bergeret an eben diesem Tag zu einem letzten verzweifelten Aufbäumen aufrafften und nochmals versuchten, den deutschen Belagerungsring zu sprengen. Diesmal wurde der Angriff in westlicher Richtung vorgetragen, marschierten die Verbände durch den Bois de Boulogne, um die Seine in Richtung Buzenval zu überqueren, so als hätten sie vor, nach Versailles selbst vorzustoßen und sich dem hassenswerten Wilhelm persönlich zu stellen. Doch die Straßen auf dem anderen Seineufer waren seit Monaten nicht mehr benutzt worden – sie waren gefroren und spiegelglatt. Außerdem führten sie hügelan und mußten gleichsam erklommen werden. Nicht einmal die Kavalleriepferde schafften es, mit den Hufen auf der glatten Oberfläche Halt zu finden – die Kanonen und Munitionswagen wollten sich überhaupt nicht von der Stelle rühren. Die einzigen, die vorrückten, waren die armen Infanteristen, und zwar ohne jede wirksame Unterstützung durch Artillerie oder Kavallerie. Im kopflosen Bemühen, sie zumindest mit so etwas Ähnlichem wie Artillerie zu unterstützen, eilten die Pioniere voran und schleuderten – mit der Hand! – mit Zündschnur und kapsei versehene Stäbe eines neuen, Dynamit genannten Sprengstoffs von sich. Aber das Dynamit war genauso gefroren wie der Boden, auf dem es aufschlug, und explodierte nicht. Aus der Schlacht wurde ein wildes Durcheinander. Rund siebenhundert Deutsche fanden den Tod oder wurden verwundet, doch auf seilen der Franzosen waren es viertausend. Die Überlebenden trotteten über die Seinebrücken und durch den Bois am Festplatz des Circus vorüber zurück in die Stadt. Sie sollten nie wieder -1699-
einen Ausfall versuchen. Dieser letzte mißglückte Ausbruchsversuch lieferte den Kommunarden einen weiteren Vorwand, die Regierung als unfähig zu verteufeln und wieder den Mob zum Hótel de Ville ziehen zu lassen. Bei dem sich dort entfesselnden Tumult wurde neuerlich von der Schußwaffe Gebrauch gemacht, ein paar der Protestierenden blieben auf dem Boden liegend zurück, während der Rest rote Fahnen schwenkend, die Fäuste schüttelnd und mit den Gewehren fuchtelnd auseinanderlief. Die von außen durch eine Belagerung, von innen durch Aufruhr bedrängte Regierung erklärte sich endlich außerstande, die Hauptstadt der Französischen Republik zu halten. Am dreiundzwanzigsten Januar ritten der Außenminister, Jules Favre, und seine Haupthelfer unter militärischer Bedeckung und weißer Flagge von Paris nach Versailles, um das Oberkommando der vereinigten Heere des Deutschen Reiches um einen Waffenstillstand zu bitten, in dessen Verlauf die Bedingungen für die Kapitulation der Stadt ausgehandelt werden sollten. Die traurige Nachricht von der bevorstehenden Kapitulation ging mittels Ballonpost an die Rumpfregierung in Tours und von dort aus an das übrige Frankreich. Doch der Rest Frankreichs war niemals auch nur aufgefordert worden, die Autorität dieser selbsternannten Regierung anzuerkennen. Auch war es kein Geheimnis, daß es die meisten Franzosen in der Provinz gleichgültig ließ – sofern sie sich nicht geradezu die Hände rieben –, wann immer sie von einer Katastrophe, gleich welcher Art, hörten, die die eingebildeten und hochnäsigen Pariser befiel. Folglich brachte diese Meldung aus Paris keinen einzigen der französischen Soldaten, die außerhalb von Paris gegen die Deutschen kämpften, dazu, aus Verzweiflung oder lauter Mitgefühl die Waffen niederzulegen. Die Nachricht war sogar bis in die Schweiz und zu General Bourbaki vorgedrungen, der dort mit großen Teilen der Loire-Armee festsaß. Er hatte mit dieser Armee nichts weiter angefangen, als sich von den -1700-
Deutschen durch ganz Südost-Frankreich jagen zu lassen, bis er sie in Sicherheit geführt hatte. Statt die noch weitergehende Demütigung des Waffenstreckens über sich ergehen zu lassen – im übrigen gab es in der Schweiz auch keinen Gegner, dem man sich hätte ergeben können –, wählte er ein ehrenhafteres Ende für einen französischen Offizier und Gentilhomme. »›... und hat auch dies noch stümperhaft gemacht wie alles andere in diesem Krieg‹«, las Sunday aus dem Moniteur vor, sah dann auf und erklärte den lauschenden Kollegen: »Das sind nicht meine Worte, sondern so steht es in der Zeitung. Weiter geht es: ›Laut Brieftauben-Depesche hat der General sich eine Kugel in den Kopf gejagt. Diejenigen von uns, die schon immer den Verdacht hatten, daß Bourbakis Kopf sein am wenigsten lebensnotwendiges Organ ist, wird es nicht wundern, daß der General es schaffte, sich damit nur eine leichte Wunde beizubringen und sich bereits auf dem Wege der Besserung befindet.‹« Wieder sah Monday auf und sagte dann zu Florian: »Governor, du hast ja immer gesagt, daß die Franzosen ihre Anführer und Krieger nur solange achten, wie sie gewinnen.« »O je, ich fürchte, sie haben in diesem Krieg nur wenige Anführer gehabt, die sie achten konnten, und auch das nur für kurze Zeit. Und von den Kriegern, die Achtung verdienen, sind die meisten tot, die Armen.« Am achtundzwanzigsten Januar wurde der Waffenstillstand vereinbart, ohne diesen freilich zeitlich zu befristen. So konnte praktisch jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Paris – per Kutsche oder Wagen, zu Pferd oder zu Fuß – die Stadt verlassen und strömte hinaus aufs Land, wobei sie kaum einen Blick für die deutschen Wachtposten an den nunmehr nicht mehr versperrten Straßen hatten. »Das ist keine Massenflucht«, sagte Florian, als er die vielen westwärts durch den Bois ziehenden Menschen sah. »Sie tragen keinerlei Hab und Gut mit sich.« -1701-
»Was immer sie vorhaben«, sagte Edge, »was, meinst du, sollten wir tun? Abbauen und abhauen, solange es geht?« »Ich glaube, nein. Wir wissen ja nicht einmal, wohin wir uns am besten wenden sollten. Das nächstgelegene Land, in dem nicht Krieg geführt wird, sind die Niederlande – aber zwischen Paris und der Grenze wird immer noch gekämpft. Außerdem können wir unmöglich Mademoiselle Cendrillon im Hospital zurücklassen. Dem letzten Brieftaubenbericht zufolge war Miss Eel in Montreux in einem Sanatorium und hält sich Monsieur Roulette mit der Saratoga in Tours auf. Brechen wir auf, können wir ihnen nicht mitteilen, wo wir uns befinden und wo man wieder zueinander stoßen könnte. Nein, wir bleiben am besten hier, bis der Krieg endgültig vorbei ist.« Die Pariser hatten ganz offensichtlich das gleiche im Sinn, denn alle, die die Stadt verlassen hatten, kamen noch vor Dunkelwerden schwer beladen mit Schinken, Milch, Butter, langen Laiben richtigen Brotes, mit Bündeln Feuerholz und Kübeln voller Kohle und allen möglichen anderen Vorräten zurück, mit Dingen also, die sie lange hatten entbehren müssen. Auch an den folgenden Tagen zogen die Pariser wieder aufs Land hinaus, um sich zu verproviantieren – und das gleiche taten Hannibal Tyree, Jean-Francois Pemjean und ihre böhmischen Kutscher mit jedem verfügbaren leeren Circuswagen –, um mit Fleisch für Raubkatzen und Schlangen, Fisch und Honig für die Bären und Heu und Körnerfutter für die anderen Tiere sowie allem möglichen frischen Gemüse und langentbehrten Delikatessen für die Truppe wieder zurückzukehren. Hannibal und Pemjean klagten darüber, daß die Leute vom Lande genauso geldgierig feilschten und handelten wie die Pariser Händler – gottlob jedoch französische Francs als Bezahlung für die astronomischen Preise akzeptierten, die sie verlangten. Im Verlauf des Waffenstillstands konnte sich jeder in Paris wieder sattessen, kleiden und wärmen – zumindest jeder, der es sich leisten konnte. Was wiederum auf die Preise -1702-
für Pferdeund Hundefleisch, Häslinge und andere Notnahrung drückte, so daß die Ärmeren in Paris es sich immerhin leisten konnten, dem Verhungern zu entgehen. In dieser Zeit öffneten auch viele der Restaurants und MusikCafes ihre Pforten wieder, während das FLORILEGIUM seine Vorstellungen gab wie bisher, nur, daß das Chapiteau sich jetzt zunehmend wieder füllte. Etliche der Artisten traten in zwei, manchmal sogar in drei verschiedenen Rollen und Nummern auf, um für diejenigen einzuspringen, die in der Ferne weilten. Clover Lee ritt in Mondays Spanischem Kostüm die Hohe Schule – und das zusätzlich zu ihrer Stehendreiterei. Sunday arbeitete zusammen mit ihrem alten Partner Jörg Pfeifer wieder am Schrägseil, um die Hochseilnummer ihrer Schwester zu ersetzen. Fitzfarris erging sich in der Sideshow weitschweifig über die Schwangerschaft der Prinzessin Brunhilde – und forderte seine Zuhörer mit gedämpfter Stimme und in unheilsschwangerem Ton auf, sich auszumalen, wie denn der Wechselbalg aus einer Verbindung zwischen einer Riesin und dem schrecklichen Kostchei bei seiner Ankunft auf Erden wohl aussehen dürfte. Olga und Timofei ließen diese Peinlichkeiten mit dem Stoizismus der Circusleute über sich ergehen, doch dann schlug Fitz etwas noch Ungeheuerlicheres vor: »Hey, Prinzessin und Todlos – wie wär’s hiermit? Warum soll euer Sprößling sich nicht schon vor seiner Geburt seinen Unterhalt verdienen? Wir drehen den Gaffern Lotteriescheine an, für so etwas wie eine Art Tombola. Sollen sie doch den Geburtstag raten – oder besser noch: das Gewicht – wobei der Gewinner einen ganz großen Batzen von den Einnahmen bekommt. Himmel, vielleicht fällt uns sogar noch ein, wie sie raten können, wie das Kind aussehen wird ...« »Sir John«, erklärte Kostchei mit gedämpfter Stimme und ziemlich drohend, »noch ein Wort – und du kannst raten, wie du gleich aussehen wirst!« Beleidigt zog Fitz ab, und während er sich eine Art -1703-
Lothringisches Kreuz ausdachte, mit dem er die vom Coq de bruyere gelegten Eier schmücken wollte, schmollte er und erging sich in Selbstmitleid über das mangelnde Verständnis, das die Menschen seinem Bemühen entgegenbrachten, das beste für sie zu tun. Wahrscheinlich erging es Außenminister Favre genauso wie Fitzfarris. Die Waffenstillstandsverhandlungen zogen sich fast einen Monat hin, und in dieser Zeit muß Jules Favre zu der Überzeugung gekommen sein, der meistgehaßte aller Menschen zu sein. Jedesmal, wenn er nach Versailles zog, um leichtere Bedingungen auszuhandeln, wurde ihm von den Deutschen offen Verachtung entgegengebracht; denn sowohl Kaiser Wilhelm als auch Kanzler Bismarck wußten sehr wohl, wie unbeliebt die Regierung war, die er vertrat, von der brodelnden Unruhe in Paris und dem ständigen Streit zwischen den zahllosen republikanischen Gruppierungen ganz zu schweigen. Mit jedem seiner Vorschläge handelte er sich eine Absage ein: »Ihre Regierung ist nur kraft eines Hinterhofgezänks an der Macht. Wie können wir erwarten, daß sie sich an irgendeine Abmachung hält?« Und jedesmal, wenn Favre nach Paris zurückkehrte, begegnete ihm an fast jeder Straßenecke ein auf einer Gemüsekiste oder einem Denkmalssockel stehender Kommunarde, der auf eine aufmerksam lauschende Menschenmenge einhämmerte: »Ihr, Genossen Bürger, seid es gewesen, die den schändlichen Kaiser gestürzt habt! Aber die womöglich noch schändlichere Republik hat euch betrogen ...« »Ihr, Genossen Bürger, werdet jetzt von Favre an die Erzfeinde, die schändlichen Boches ausgeliefert ...« »Ihr Genossen Bürger, werdet in den Augen eurer womöglich noch älteren Feinde, der schändlichen Engländer erniedrigt ...« Letzteres hatte nun garantiert eine genossenschaftlich wütende Reaktion von allen Zuhörern zur Folge. Gewiß, die -1704-
Engländer hatten sich in diesem Krieg vorgeblich an die Seite Frankreichs gestellt, und es stimmte sogar, daß sie, wo und wann immer dies möglich gewesen war, Hilfsgüter geschickt hatten. Freilich stimmte es auch, daß eine Schiffsladung Winterstiefel für die französischen Soldaten Sohlen aus Pappmache gehabt hatten. Und entsprach es nicht auch den Tatsachen, daß Queen Victoria eine direkte Cousine Kaiser Wilhelms war? So entrangen sich der Menge empörte Aufschreie, und es wurde zur Meuterei aufgerufen: »A bas la Republique!« und sogar noch unheilvoller wurde immer häufiger der Ruf laut: »Vive la Commune!« Mitte Februar konnte Monday Simms ihr Streckbett verlassen, wechselte in einen Rollstuhl über und wurde vom Krankenhauspersonal darin unterwiesen, wie man damit umherfuhr. Ihren sie besuchenden Kollegen erklärte sie: »Ihr habt ja keine Ahnung nich’, wasses bedeutet, nich’ ‘n ganz’n Tag annie Decke zu starren. Wetten, daß ich jeden Sprung un’ jede Ritze inn’ Stuck gezählt hab’? Aber mit dies’m Ding hier rumzukarriol’n, macht auch nich’ grade Spaß. All meine Kraft hat ja in mein’ Bein’ gesteckt – vonner Arbeit aufm Seil un’ Reit’n. Un’jetz’ krieg’ ich Musk’ln wie Obie Quakemaker.« Doch dann stellte sie fest, daß das nicht unbedingt so sein mußte: Pemjean war mit Freuden bereit, sie im Hospital überallhin zu fahren, wo sie hinwollte. Bei ihrer Entlassung aus dem Hospital kamen Pemjean, Florian und Edge, sie mit einem frischgekauften Rollstuhl aus Weidengeflecht abzuholen, der ihr gehören sollte. (Rollstühle gehörten zu den wenigen Dingen, deren Preis nicht unerschwinglich in die Höhe geschnellt war, und so hatte Florian in einem Geschäft den besten und teuersten nehmen können.) Hinterher war Pemjean im Hotel, auf der Straße – und schließlich, als sie dazu wieder imstande war, auch auf dem Festplatz Mondays ständiger Begleiter und Rollstuhlschieber –, bis Clover Lee ihn eines Tages beiseite nahm und ihm Vorhaltungen machte: -1705-
»Wenn du so weitermachst, Monsieur Demon, bleibt Monday ewig eine Invalidin. Sie wird faul, launisch und fordernd werden.« »Madame la Comtesse«, sagte Pemjean hochmütig, »du sprichst von der Frau, die ich liebe.« »Nun, deinen alten Maximus liebst du vermutlich auch, nehme ich an. Der ist vor lauter Rheumatismus schon ganz steif geworden, aber wenn du ihm jetzt auch noch seine Sprünge erspartest – mögen sie noch so kläglich anzusehen sein –, ja, dann würde er einfach alle Lebenskraft verlieren und eingehen. Auch Jules Rouleau war mal an einen Rollstuhl gefesselt, aber den wie ein Baby in einer Kinderkarre zu behandeln, hätte sich keiner getraut. Bald war er auf Rädern genauso flott wie vorher auf den Beinen. Du kümmerst dich wunderbar um Mondays Bedürfnisse aber eines, das sie unbedingt braucht, gestehst du ihr nicht zu: Selbstvertrauen.« Wenn auch mit einigen Vorbehalten, nahm Pemjean sich Clover Lees Rat zu Herzen und ließ Monday zunehmend wieder allein. Eine Zeitlang hockte sie dort herum, wo immer man sie samt Rollstuhl abgestellt hatte, und jammerte und murrte, man vernachlässige sie, was aber von allen anderen absichtlich überhört wurde. Es dauerte nicht lange, und Langeweile und Notwendigkeit trieben sie dazu, ihren Rollstuhl selbst in Bewegung zu setzen. Nach einiger Zeit schaffte sie das so behende und schnell, daß man das Gefühl hatte, es mache ihr Spaß. Nur Pemjean wußte, wie oft sie nachts weinte und lamentierte: »Wassich bin, is’ ich an’n ein’ Ende un’n Holzklotz an’n andern.« Währenddessen hatte Außenminister Favre verbissen mit den Deutschen weiterverhandelt, mußte sich jedoch schließlich mit all ihren Bedingungen einverstanden erklären. Am 26. Februar fuhr er gemeinsam mit Premierminister Adophe Thiers nach Versailles, um zusammen mit Kanzler Bismarck die »Vorbedingungen für einen Friedensschluß« zu unterzeichnen. -1706-
Trochu blieb in Paris zurück und schickte alle ihm bisher treu gebliebenen regulären Truppen durch die Stadt, um sämtliche Einheiten der Bürgerwehr zu entwaffnen. Er hielt es für höchst ratsam, das hinter sich zu bringen, ehe die Bürger die schmerzlichen Bedingungen erfuhren, zu denen man sich in der Vereinbarung hatte durchringen müssen. Die Mehrheit der Sedentaires und Moblots rückte mit Freuden ihre Flinten und auch die Kanonen heraus; sie waren heilfroh, endlich von der Dienstpflicht befreit zu sein. Doch eine erschreckend große Minderheit von ihnen lehnte es rundheraus ab, ihre Waffen abzuliefern. Das waren die Männer, die geschuftet hatten, um diese Waffen in den improvisierten Bahnhofsfabriken zu gießen und zu schmieden; jetzt erklärten sie diese Dinge zu ihrem persönlichen Eigentum. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um die Milizionäre von Montmartre, Belleville und anderen Arbeitervierteln, die zu ihrer Uniform auch noch das, rote Hemd, die rote Schärpe oder das rote Halstuch trugen. Trochus Reguläre standen nicht nur einer Überzahl von ›Roten‹ gegenüber, sondern vermochten auch gegen deren eiserne Solidarität nichts auszurichten. So kehrten sie zum Hótel de Ville zurück und erklärten, sie hätten allen Angehörigen der Bürgerwehr die Zähne gezogen, nur den leichtest erregbaren und gefährlichsten nicht: den Kommunarden. Trochu unterließ jeden weiteren Versuch in dieser Richtung, denn inzwischen waren die Vorausbedingungen für den Frieden überall bekannt geworden, und in der Stadt brodelte es wieder. Worauf Favre und Thiers sich eingelassen hatten, war nichts Geringeres als die unterwürfige Kapitulation von Paris mit der einzigen besänftigenden Bedingung, daß die Deutschen die Stadt nicht für alle Ewigkeit besetzt halten wollten. Am Ersten März sollten dreißigtausend deutsche Soldaten in die Stadt einrücken und dort ihr Lager aufschlagen, bis die gesamte Nationalversammlung die Kapitulation in aller Form ratifiziert hätte; danach wollten sie abziehen. Zweifellos waren -1707-
manche Pariser heilfroh, daß ihrer Stadt die Demütigung einer langen Besetzung erspart bleiben sollte, doch die meisten von ihnen – allen voran die ewig zeternden Kommunarden – waren wütend über diesen neuerlichen ›Verrat‹ der republikanischen Führer. Zunächst einmal, so erklärten sie einander hitzig, lief diese Vereinbarung auf das Eingeständnis hinaus, ganz Frankreich sei besiegt. Dabei standen immer noch französische Armeen im Feld, manche kämpften sogar noch, und es gab einige Städte, die der deutschen Belagerung tapfer widerstanden hatten, und für diese Armeen und diese Städte hätte die ungewählte Regierung nicht das Recht zu sprechen. »Nun, es ist genauso, wie ich gesagt habe«, erklärte Florian seinen Abteilungsleitern. »Die Deutschen werden nur symbolisch in die Stadt einziehen – im Triumphmarsch herein und gleich wieder hinaus –, es sei denn, was Gott verhüten möge, die dickschädeligen Kommunarden lassen es sich einfallen, auf sie zu schießen. Am meisten beunruhigt mich, daß es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, sobald keine Deutschen mehr da sind, die revolutionäre Glut zu dämpfen. Trotzdem laßt uns unsere Hochachtung vor dem armen, besiegten Paris bekunden. Nach dem letzten Februartag – dem Vorabend des Einmarsches der Sieger werden wir keine Vorstellung mehr geben. Wir werden schließen, uns möglichst unauffällig verhalten und abwarten, welche Wende die Dinge hinterher nehmen.« Eigentlich hätte der erste März ein trüber Tag sein müssen, so wie er es im Herzen der meisten Pariser gewiß war. Doch als die Deutschen einmarschiert kamen, brachten sie einen dem Anschein nach verräterischen Frühling mit; der bittere Winter verschwand ein für allemal, und der strahlende Tag war für die Jahreszeit ungewöhnlich balsamisch. Die Sonne blinkte auf den Kruppschen Kanonenrohren, die Spitzen der Pickelhauben und Bajonette blitzten wie die Pailletten auf den Kostümen der Artisten, und die gewaltigen Banner und Standarten flatterten -1708-
knatternd in der warmen Brise. Von Moltke führte die Kavallerie an; die Infanterieregimenter, die Artilleriebatterien und jede andere selbständige Einheit hatten ihre eigene Militärmusik, die abwechselnd Schuberts ›Militärmarsch‹ und ›Die Wacht am Rhein‹ spielten, damit die im Parademarsch daherkommenden Regimenter ihr »Hallihallo« heraussingen konnten. Die Offiziere trugen Helme mit Federbusch, die Uniformen aller bis herab zum letzten Schützen waren an den entsprechenden Stellen adrett mit Schlemmkreide geweißt, jedes Pferd makellos geputzt und die Flanken im Schachbrettmuster gestriegelt. Bei allem Glanz und Gloria hatten die Eroberer wenigstens den Anstand besessen, General Sheridan nicht mitzubringen. Obwohl der Einmarsch etwas nördlich vom Festplatz über den Bois erfolgte, ging niemand vom FLORILEGIUM hin, ihn sich anzusehen. Als es dann über die Avenue de l’Imperatrice weiterging, ließ sich auch auf dieser Prachtstraße kaum ein Zivilist blicken, und als die Parade die Place de l’Etoile erreichte, gewährte von Moltke nur fünf preußischen Regimentern die Ehre, unter dem Triumphbogen hindurchzumarschieren. Alle anderen – Bayern, Sachsen, Hessen und andere Verbündete – mußten sich damit begnügen, um das Monument herumzumarschieren. Dann ging es die Avenue des Champs-Elysees hinunter, und auch hier war wieder kein Pariser zu sehen. An der Place de la Concorde machte man halt, und der Vorbeimarsch löste sich auf. Die meisten deutschen Einheiten blieben hier und schlugen ihre Zelte auf; einige Soldaten ließen es sich nach dem Wegtreten nicht nehmen, um die Straßburg-Statue herum einen Siegestanz aufzuführen. Andere Einheiten marschierten weiter zum Park der Tuilerien, dem Carousel und dem Palais Royal, hielten sich jedoch strikt an das rechte Seineufer und spannten gewissenhaft Seile auf, um ihr ›besetztes‹ Paris vom ›freien‹ Paris zu trennen. Daß die Straßen der Stadt fast menschenleer waren und -1709-
Zuschauer sich nicht blicken ließen, lag daran, daß jeder Pariser patriotisch zu Hause geblieben war – bis auf jene, versteht sich, die etwas zu verkaufen hatten, und deren gab es sehr viele. Sobald die deutschen Soldaten weggetreten waren und tun und lassen konnten, was sie wollten, machte jeder Cafehaus-Besitzer im besetzten Gebiet die Pforten auf und die Zuhälter und Prostituierten sämtlicher zwanzig Arrondissements und der achtzig Quartiere fielen über sie her – das heißt, die Deutschen wurden bedrängt von Verkäufern, die alles verkauften von heißen Maroni über Gipsabgüsse des Are de Triomphe bis zu Uhren. Irgendwie hatte sich in der Stadt die Überzeugung verbreitet: »Kein Deutscher kann einer Uhr widerstehen!«, und so rückten die Uhrmacher ebenso an wie die Pfandleiher, Einbrecher und knauserigen Haushaltsvorstände und hielten feil: Standuhren, Kaminuhren, Porzellanuhren, Emailuhren und sogar Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald. Wer immer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, er sollte recht behalten: Die Deutschen kauften und waren nicht kleinlich, als es ans Bezahlen ging – selbst für die Kuckucksuhren. Ob die Nationalversammlung der Republik nun alles daransetzte, um die Deutschen loszuwerden, oder um dem schamlosen Treiben der geldgierigen Pariser ein Ende zu bereiten, die ihnen zu Diensten waren jedenfalls ratifizierten die Gesetzgeber den Vorläufigen Friedensvertrag in Rekordzeit, das heißt: gleich am nächsten Tag. Und am Tage danach packten die Deutschen ihre Sachen, ihre Uhren und was sie sonst noch erworben hatten, schulterten ihre Gewehre, stellten sich neuerlich in Reih und Glied auf und marschierten wieder zur Stadt hinaus. Vielleicht war es ein Pech für die Französische Republik, daß das ungewöhnlich schöne Wetter nicht mit ihnen abzog. Hätte der Monat März sich als windig und kühl erwiesen, wie das in anderen Jahren der Fall war, hätte es zu den nachfolgenden Ereignissen nicht kommen müssen. Doch kaum hatten die Deutschen die Stadtgrenze hinter sich, strömten die -1710-
Leute von der Bürgerwehr mit den roten Schärpen aus den Außenbezirken ins Stadtzentrum, um jene Bürger zu bestrafen, die sich mit dem Feind eingelassen hatten. Da ihnen weder von der Polizei noch von irgendwelchen Soldaten Einhalt geboten wurde, benutzten die Kommunarden ihre Gewehrkolben, um Mobiliar und Flaschen und Gläser in den Cafes und Trinkstuben zu zertrümmern, wo die Deutschen bedient worden waren. Dann prügelten sie eine Reihe von Prostituierten fast zu Tode, hielten sich bei den Zuhältern dieser Frauen jedoch zurück, auch nur eine drohende Gebärde zu machen; denn von diesen Männern wußte man, daß sie Dolche und Rasiermesser bei sich trugen. Da sie nun Blut gerochen hatten und das Wetter auch weiterhin herrlich mild und sie selbst – ob das nun sonderbar war oder nicht – ohne jede Behinderung durch irgendwelche Polizeiaktionen blieben, weiteten die Kommunarden ihre Strafkampagne aus. Von denen, die sich mit den Deutschen eingelassen hatten, gingen sie jetzt zu jedem anderen Feind oder politischen Gegner über, den sie je gehabt oder gehabt zu haben sich eingebildet hatten und wendeten sich gegen jede Person oder Institution, mit der sie schon immer kollektiv oder individuell hatten abrechnen wollen. Während die Feinde von gestern – die Deutschen – mit gewohnter Präzision Versailles verließen und ihren Belagerungsring auflösten um sich en masse auf eine Stellung östlich der Stadt zurückzuziehen –, erfreute sich Paris weit weniger Frieden und Ruhe als in den schlimmsten Tagen der Beschießung durch die Deutschen. Im Lauf der nächsten vierzehn Tage umzingelten Mobs der Kommunarden das Hótel de Ville, das Außenministerium und andere Regierungsgebäude und deckten sie und ihre ängstlich sich duckenden Wächter mit allen erdenklichen Wurfgeschossen ein, von Pflastersteinen bis zu Pferdeäpfeln, auf die hin nicht geradezu zurückgeschossen wurde. Andere Menschentrauben zogen durch die Straßen, brachen in jene Stadthäuser ein und plünderten sie, deren Besitzer sie ungenügend bewacht -1711-
zurückgelassen hatten, räumten die Boutiquen aus, welche diese Elite bedient hatten – ebenso wie die armen pereetmere-Läden, wenn deren Besitzer Juden oder Ausländer oder Franzosen waren, von denen bekannt war, daß sie mit der Sache der Kommunarden nicht sympathisierten, oder irgendeiner in der Menge hier Schulden hatte. Trotz der einladenden Schönheit des Vorfrühlings mit seinen aufbrechenden Knospen, blieben fast alle Pariser, ausgenommen der randalierende Abschaum, in ihren Wohnungen. Das FLORILEGIUM blieb wie fast alle anderen Etablissements dieser Art geschlossen, die Truppe hielt sich möglichst in Hotelnähe auf – bis auf die Böhmen, die den Festplatz bewachten, die Jäszi-Brüder sowie Edge, Yount oder Fitzfarris, die sich als ›Wachkorporale‹ abwechselten. Da sie der Mob bis jetzt in Ruhe gelassen hatte, fand Edge diese Aufgabe genauso langweilig wie Garnisonsdienst, und so begann er, ihn etwas lebendiger zu gestalten, indem er jedem, der auf einem Pferd sitzen konnte, einige einfache Kavallerie-Waffenübungen und den Bläsern der Kapelle sogar einige der amerikanischen Hornsignale für die Kavallerie beibrachte. Eines Abends erschien Monsieur Nadar im Grand Hotel du Louvre, diesmal freilich nicht in auffälligem Meisterwerk der Schneiderkunst, ja, sogar ohne das quadratische Monokel, das er sonst trug, und sagte nicht ganz so beiläufig wie sonst zu Florian: »Ich habe bis nach Einbruch der Dunkelheit gewartet, um herzukommen; nachts ist es auf den Straßen nicht ganz so gefährlich. Selbst auf die Gefahr hin, daß mir etwas zustößt, beschloß ich herzukommen und Ihnen nahezulegen, mit Ihren Leuten aus diesem Hotel auszuziehen.« »Warum? Steht es auf der Plünderungsliste?« »Das weiß ich nicht. Aber daß Sie hier abgestiegen sind, macht Sie des Reichtums verdächtig, und das ist heutzutage gefährlich. Sehen Sie mich an, ami; um mich zu verkleiden, habe ich grobe Bauernkleidung angelegt. Jedenfalls möchte ich -1712-
Ihnen dringlichst raten, mit Ihren Leuten die Sicherheit des Festplatzes aufzusuchen. Aber selbst dort sollten Sie nicht auffällig gekleidet herumlaufen und auch nicht besonders üppig essen. Wieder erschallt der Ruf nach Liberte, Egalite, und Fraternite. Deshalb muß jeder, der Reichtum, Luxus, Autorität, Prestige oder Privilegien ja, sogar mehr Intelligenz als der Mann auf der Straße – ausstrahlt, gewärtig sein, nun, sagen wir: auf die Egalite der Massen zurückgeschnitten zu werden. Hinz und Kunz sind dermaßen überzeugt, auf einer Stufe noch mit der höchstgeborenen Dame zu stehen, daß sie sich rüde mit ihr verbrüdern und sich jede Art Freiheit bei ihr herausnehmen.« »Na, hören Sie mal, Monsieur. Wir haben vor diesen Leuten gespielt und sie amüsiert. Sie können uns doch nicht böse sein.« »Wirklich nicht? Gerade daß Sie sie unterhalten und amüsiert haben, beweist doch nur, daß Sie ihren sauertöpfischen und tierisch ernsten Ausblick aufs Leben nicht teilen.« »Das will ich doch hoffen. Was soll daran falsch sein?« »Die verbohrtesten Revolutionäre, mon vieux, sind immer auch die engstirnigsten Reaktionäre. Das soll kein Epigramm von mir sein. Es ist die Unterschicht, die aufbegehrt, und ich frage Sie – was, außer Unwissen und die Überzeugung, daß Unwissenheit eine Tugend ist, zeichnet die Unterschicht vor allem aus? Intolerante Prüderie, bigotte Frömmigkeit und die unerschütterliche Überzeugung, daß die diesen Dingen innewohnende verklemmte Moral für alle zu gelten hat?« »Nun, das ist eine Möglichkeit, die Gleichheit aller zu erreichen. Daß man ihnen jede Freiheit vorenthält.« »Richtig! Ihre Leute zeichnet aber mitnichten eine akzeptable Freudlosigkeit aus, und deshalb sind sie in Gefahr. Ziehen Sie hier aus und schotten Sie sich auf dem Festplatz ab.« Niemand vom FLORILEGIUM hatte etwas dagegen, in die Maringottes zurückzukehren und in einem so lauen Frühling wieder im Wohnwagen zu hausen, wo der Bois grünte und es -1713-
überall blühte. Florian selbst hatte schon deshalb nichts dawider, weil die Hotelkosten den größten Teil der Rücklagen des FLORILEGIUM verschlungen hatten. Die Circusleute nahmen so viele Vorräte mit, daß sie fürs erste nicht unbedingt in die Stadt gehen mußten, wenn sie essen wollten. Die ständigen Bewohner des Festplatzes, die böhmischen Racklos, die sich solange selbst verköstigt hatten, freuten sich, daß der Rest der Truppe wieder bei ihnen war, denn Ioan Delattre, Meli Vasilakis und Daphne Wheeler halfen freudig mit, eines der jetzt wenig benutzten Umkleidezelte in ein Kochhaus zu verwandeln, in dem für das leibliche Wohl aller gesorgt wurde. Goesle bastelte sogar einen Fahnenmast mit einem Wimpel, den die Köche zu den Mahlzeiten hochziehen konnten. Wieder auf dem Festplatz, brachten die Artisten es einfach nicht mehr fertig, nur faul herumzusitzen. Jeder von ihnen probte wieder und arbeitete daran, die während der jüngsten Zwangspause erworbenen Defizite auszugleichen, dem Einrosten entgegenzuwirken und neue Tricks und ganze neue Nummern zu erarbeiten. Le Demon Debonnaire versuchte, verschiedene Raubkatzen in einer Nummer zusammenzubringen – so mußte der alte Löwe Maximus aus seinem eigenen Käfigwagen hinübergehen in den von Radscha, Rani und Schiwa, wo er eine Zeitlang still stehen mußte, während die drei bengalischen Tiger über ihn hinweg hinund hersprangen. Das klappte, ohne daß Löwe oder Tiger sich sonderlich dagegen gesträubt hätten. Gewiß, der altehrwürdige Maximus schien ein wenig bedrückt, plötzlich vom Hauptakteur zur Requisite degradiert worden zu sein; gleichzeitig schien er aber auch fast dankbar, daß man ihm die Arbeit erleichterte, ohne ihn ganz aus der Manege zu verdammen, so daß er sich immer noch in Aufmerksamkeit und Applaus sonnen konnte. Kein Wunder, daß er seine Halbpensionierung einigermaßen gnädig hinnahm. Die Jäszi-Brüder besorgten sich von irgendwoher eine Anzahl alter Säbel, feilten deren Spitzen und Schneiden stumpf, -1714-
verpflichteten ein halbes Dutzend Racklos, denen Colonel Ramrod bereits beigebracht hatte, nicht aus dem Sattel zu fallen, und studierten mit ihnen ein Säbelduell zu Pferde ein, in dem – nachdem die Böhmen sich an die ungarische Tollkühnheit bei dem Treffen gewöhnt hatten – Arpäd, Gusztäv und Zoltän sich mit der doppelten Übermacht ihrer Gegner ›zu Tode duellierten‹. Als die Nummer saß, suchten sie bei Florian um die Erlaubnis nach, sie auf den Plakaten und im Programm unter der Bezeichnung »Tapfere französische Spahis fordern tückische deutsche Ulanen heraus« anzukündigen. Nachdem er sich einverstanden erklärt hatte, baten sie die Chefgarderobiere, Ioan, für alle Teilnehmer die passende Uniform zu schneidern. Die allgemeine Geschäftigkeit auf dem Festplatz steckte sogar Monday Simms an. Sie überraschte den Sprechstallmeister damit, daß sie in ihrem Rollstuhl auf ihn zukam und sagte: »Colonel Zack, dein Thunder, als ich den geritt’n hab’, hatter seine hübsch’n Trippelschritte der oht-ekole gemacht, wenner mitter Schambrier tuschiert wurde. Un’ nich’ zuoft, um innie Knie zu geh’n oder hint’n auszukeil’n. Wett’n, dassich ihm lern’ kann, das alles auch auf’ne leichte Berührung mitter Reitpeitsche oder sogar auf’n Wort hin zu mach’n? Wenn man mich auf’n Sattel festbind’n würd’ ...« Flehentlich sah sie ihn von unten herauf an. Edge dachte darüber nach. »Naja, ich weiß ja nicht, was der Arzt zu so einer Verwegenheit sagen würde. Aber ich bewundere dich, daß du es überhaupt erst mal vorschlägst, und ich wüßte nicht, wieso es dir schaden sollte. Verdammt noch mal, ja, laß uns zu Stitches gehen und ihn fragen, ob er nicht eine Art Geschirr für dich basteln kann.« Zwar verließen etliche der Racklos abwechselnd immer wieder den Bois, um mit dem Wagen frische Vorräte herbeizuschaffen, doch als einzige verließ Sunday Simms täglich den Park. Sie spazierte jeden Vormittag bis zum nächsten Kiosk oder Zeitungsjungen, um eine Zeitung zu kaufen -1715-
und zu hören, was es an neuestem Klatsch und an Gerüchten gab. Schließlich mußte der Circus über alles, was in der Stadt und in Frankreich geschah, auf dem laufenden bleiben. Aus ihren Berichten und dem, was sie laut aus der Zeitung vorlas, ging hervor, daß die entscheidenden Leute in der Regierung zumindest vorläufig versuchten, die immer noch tobenden Kommunarden und ihre Anhänger zu ignorieren, wobei sie offensichtlich hofften, daß es sich um nichts weiter denn Pöbelgruppen handelte, die ihren verschrobenen Ideen in willkürlichem Vandalismus Luft machten und daran nach und nach die Lust verlieren würden. Zu ihrem größten Leidwesen und Entsetzen erfuhr die Regierung schließlich, daß die Beutezüge von einem Comite Central der Kommunarden gelenkt und koordiniert wurden und daß die aufrührerische Miliz sich selbst die würdevolle Bezeichnung Garde Nationale zugelegt hatte. Viel zu spät erkannten sie, daß es sich bei den nicht nachlassenden Unruhen nicht um spontane Krawalle handelte, sondern um den Beginn einer organisierten Revolution. Nachdem sie dies begriffen hatten, machte das Hótel de Ville einen letzten Versuch, diese zu ersticken. Am 17. März gingen Einheiten der regulären Regierungstruppen unter dem Kommando von nicht weniger als vier Armeegeneralen gegen das Bollwerk der Garde Nationale, die Butte Montmartre, vor und verlangten die Herausgabe der Kanonen, von denen der Hügel jetzt von unten bis oben starrte. Und wieder verweigerten die Kommunarden die Herausgabe – lachten höhnisch darüber, wie einige Beobachter behaupteten –, woraufhin die Generale ihre Truppen sammelten, diese die Gewehre anlegen ließen und ihnen befahlen, auf »die verdammten roten Rebellen« zu feuern. Nun weigerten die Soldaten sich nicht nur rundheraus, auf französische Landsleute zu schießen; etwa die Hälfte von ihnen vollführte mit angelegtem Gewehr eine volle Kehrtwendung und zielte auf ihre Offiziere. Sie erklärten in aller Ruhe, sich »der Sache des -1716-
Volkes« anzuschließen und nahmen sogar – »kraft Autorität der Kommune« zwei der Generale und zahlreiche andere Soldaten von nicht so hohem Rang gefangen, die dem Schauplatz des Geschehens allzu langsam entfliehen wollten. Am nächsten Tag machte ein rudimentäres, aus Kommunarden bestehendes Gericht den unglücklichen Generalen Lecomte und Clement voller Schadenfreude wegen »Verbrechen gegen das Volk« den Prozeß, sprach sie in Bausch und Bogen schuldig und verurteilte sie dazu, an die Wand gestellt und erschossen zu werden. Die meisten Bewohner des Montmartre sowie der umliegenden Arbeiterviertel wohnten der Exekution bei und brachen in fröhliche Hochrufe aus. Während sich diese Vorgänge abspielten, erklärten die Anführer der Regierung unter dem Eindruck, nicht mehr genug loyale Soldaten zu ihrem Schutz zu haben, geschweige denn die wankende Republik aufrechterhalten zu können, von einem Augenblick auf den anderen, daß sie keine Anführer der Regierung mehr wären, zumindest in Paris nicht, und verließen die Regierungsgebäude Hals über Kopf. Adolphe Thiers war der erste, der die Stadt im Galopp verließ, und zwar in einer Kutsche, die von einem Zug Kürassiere eskortiert wurde. Er hielt nicht, bevor er nicht im Schloß von Versailles in Sicherheit war, das selbst erst vor kurzem vom deutschen Oberkommando geräumt worden war. Es folgten zehn Tage der Anarchie, vermutlich eine höchst verwirrende Periode auch für die Bewohner der Stadtmitte, von den Circusleuten draußen im Bois ganz zu schweigen, denn Zeitungen erschienen nur noch sporadisch, manche stellten ihr Erscheinen überhaupt vollständig ein, und die Berichte, die erschienen, blieben fragmentarisch und unzusammenhängend. Nicht viel besser stand es um die Gerüchte und den Klatsch, den Sunday aufschnappen konnte. Ganz allgemein jedoch ging aus allem hervor, daß die Kommunarden die Stadt übernahmen, dabei auf jeden schossen, der sich blicken ließ, und jeden -1717-
Adligen, Politiker, Militär und Bürger verhafteten, von dem sie annahmen, daß er ihnen feindlich gesonnen sei. Der Grund für das zunehmend unzuverlässige Erscheinen der Zeitungen war darin zu suchen, daß die meisten ihre Druckerei zumachten, entweder freiwillig oder auf Verlangen des Mobs, weil sie die Sache der Kommunarden nicht unterstützt hatten. Bald hießen die einzigen Blätter, die man am Kiosk noch bekommen konnte, Le Journal de la Commune und Le Cri du Peuple, und diese enthielten mehr »Hourra pour nous!« als Nachrichten. Die glaubwürdigste Informationsquelle war für das FLORILEGIUM immer noch Monsieur Nadar, der von Zeit zu Zeit auf dem Platzplatz auftauchte. Manchmal waren seine Mitteilungen jedoch von einer Art, daß er sie nur Florian und Edge anvertraute. »Es ist, wie ich gesagt habe, mes amis. Der Pöbel setzt Adel mit Sittenlosigkeit gleich und umgekehrt – was nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Nur wenden sie bestialische Methoden an, um beides auszurotten. Haben Sie gehört, was sie mit der Marquise de Persan gemacht haben?« »Nein.« »Sie gehörte zum Kreis der Damen vom ›kleinen Eldorado von Saint German‹. Diese Damen waren zwar zumeist verheiratet, haben die Gesellschaft ihres eigenen Geschlechts dem der Männer aber stets vorgezgen. Alors, nun hat der Mob die Marquise ergriffen, die so unvorsichtig war, einen Spaziergang zu machen. Ehe sie sie zusammen mit ihren anderen hochstehenden Geiseln einsperrten, haben sie sie splitternackt und grotesk verstümmelt durch die Straßen getrieben. Sie machten mit ihr das, was ihre Großväter vor achtzig Jahren während der Schreckensherrschaft mit der Prinzessin Ichweißnichtmehrwiesieheißt machten. Wie die Indianer den Skalp ihrer Opfer nehmen, schnitten sie die ahem – chevelure pubienne der Marquise heraus, rissen sie ihr herunter und klebten sie ihr als Spitzbart ans Kinn.« -1718-
Florian sagte: »Du lieber Himmel – ersparen Sie uns den Rest!« »En bien, schlimmer ist womöglich noch, daß die Canaille ihre eigenen schrägen Vögel hat, denen sie nicht nur nicht die Flügel beschneidet, sondern die sie auch noch in verantwortliche Stellungen hineinbringt. Ist Ihnen aufgefallen, daß es nur noch so wenige Zeitungen gibt? Das ist das Werk eines vor kurzem von der Kommune zum Censeur de la Presse ernannten Mannes – und raten Sie mal, wer das ist. Ein ehemaliger guter Bekannter Ihrer Truppe. Der poet maudit, Paul Verlaine.« Da sagte auch Edge, freilich mit womöglich noch mehr Nachdruck: »Bitte, ersparen Sie uns den Rest.« Die anderen Circusleute genossen es, aus dem eigentlichen Sturm heraus zu sein, gaben sich dem bezaubernden Frühling hin und fuhren mit ihren Beschäftigungen fort. Goesle und Ioan Delattre bastelten das Stützgeschirr, um das Monday gebeten hatte, und fertigten es so raffiniert, daß Gaffer, die selbst keine professionellen Reiter waren, es nicht bemerkten, obwohl es neben der eigentlichen Stütze, um sie aufrecht im Sattel zu halten, aus einer ganzen Reihe von Riemen bestand, mit denen es am Sattel festgeschnallt war. Die Rückenstütze zum Beispiel blieb unter einem kurzen Cape verborgen, mit dem Ioan das Spanische Kostüm von Monday ergänzt hatte. Jean-Francois Pemjean nagte angstvoll an den Knöcheln, als Edge Monday das erstemal auf Thunder hinaufhob, doch nicht lange, denn sie hatte das Pferd bald in der Gewalt. Hinterher gestand sie, für einen Moment wäre ihr schwindlig gewesen, doch »dann war es, als hätte ich nie aufgehört, ihn zu reiten«. Edge hielt es für wahrscheinlich, daß auch Thunder sich erst daran gewöhnen mußte, eine halbleblose Last auf dem Rücken zu tragen. Doch brauchten Monday und das Pferd nur wenige Tage zu probieren, bis Thunder gelernt hatte, dazu beizutragen, daß sie nicht aus dem Sattel rutschte, sondern sich im Gleichgewicht hielt. Und zudem auch noch auf leisen Zuruf -1719-
oder leichtes Touchieren mit der Reitgerte seine gemessenen Schritte der haute ecole machte. »Ich finde, ihr beiden könnt auftreten, sobald wir wieder eine Vorstellung geben«, sagte Edge an einem strahlenden Morgen, als er sie aus dem Sattel herunterhob und in den Rollstuhl setzte. »Aber geh vorher zum Governor und hol dir seine Erlaubnis.« Edge hielt sich höflich in einiger Entfernung auf, während sie sich aussprachen, was ziemlich lange dauerte. Als Monday sich schließlich lächelnd fortrollte, ging Edge zu Florian hinüber und sah, daß dieser unentschlossen die Stirn runzelte. »Ich hoffe, du hast zugesagt«, sagte Edge. »Das Mädchen ist vielleicht keine Intelligenzbestie, aber sie hat heute mehr Zutrauen zu sich als früher. Man hat fast das Gefühl, der Sturz hat einen ganz neuen Menschen aus ihr gemacht.« »Einen neuen Menschen, schon«, sagte Florian wie abwesend. »Was mir Sorgen macht, ist nicht, daß Maggie behauptet, einfach wieder voll arbeiten zu können, sondern auch noch, daß sie irgendwie in die Zukunft sieht und etwas Schlimmes prophezeit.« »Naja, wenn sie ... wie bitte? Maggie? Maggie Hag?« »Sie behauptet, woher sie’s weiß, weiß sie nicht. Und es steht gleichfalls fest, daß sie nicht die geringste Ahnung von französischer oder Pariser Innenpolitik hat. Deshalb fürchte ich, sie sieht irgendein Unheil für den Circus voraus. Sie sagt, sie spürt einfach, daß irgendwas im Busch ist.« »Da würde ich mich schon auf ihr Wort verlassen, Governor«, sagte Edge trocken. »Wenn sie sich die große Mühe gemacht hat, ganz aus dem Jenseits herzukommen, um dich zu warnen.« »Eh?« Florian schien verwirrt. »Governor«, sagte Edge mit einiger Besorgnis, »Magpie Maggie Hag ist seit nunmehr zweieinhalb Jahren tot und begraben.« -1720-
»Maggie? Habe ich Maggie Hag gesagt? Nun ... Hahaha ...« Florian hielt inne, um sich zu fassen. »Natürlich habe ich Monday gemeint. Monday Simms. Ich wollte nur sagen, daß Monday anfängt, sich zu benehmen wie die alte Mag. So wie Maggie es getan hat. Gesichte oder Ahnungen zu haben, meine ich.« »Wie bitte?« »Jawohl. Gewiß, wie du selbst gesagt hast, scheint ihr der Sturz körperlich geradezu bekommen zu sein, und selbstverständlich habe ich ihr erlaubt, wieder aufzutreten. Aber dann hat sie mich gewarnt, ich sollte vor irgend etwas auf der Hut sein, das sich zusammenbraut oder auf uns zukommt. Da frag’ ich mich doch, ob der Sturz ihr Gehirn irgendwie verändert hat. Oder ihr eine neue Gabe geschenkt wurde – irgendein zusätzlicher Spürsinn – zum Ausgleich für ihre Lähmung. Aber wir werden wohl einfach abwarten müssen.« »Ja«, stimmte Edge zu, sah ihn aber immer noch forschend an. »Es ist nur wieder eines von den Dingen«, sagte Florian und stieß einen langgezogenen Seufzer aus, »die mir das Gefühl einflößen, den Kreis geschlossen zu haben. Daß wir wieder dort angelangt sind, wovon wir ausgegangen sind. Gott bewahre! – nächstens höre ich noch, wie jemand wieder das Brüllen von Maximus übernimmt ...« Verzagt den silbergrauen Kopf schüttelnd, ging Florian davon.
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15 Die Unordnung, die in der Stadt herrschte, hatte sich allmählich gelegt, bis am 28. März die Garde Nationale und andere Kommunarden Haltung annahmen und sich ruhig verhielten. Tatsächlich standen sie an diesem Tag zuchtvoll in Reih und Glied angetreten von der Place du Chátelet bis zur Place de l’Hótel de Ville sowie an sämtlichen Straßen, Quais und Avenuen zwischen diesen beiden Plätzen. Blaskapellen spielten, und überall flatterten rote Fahnen. Jetzt mischten sich auch die ganz normalen Bürger unter die Menge, Menschen, die sich seit zehn Tagen zum erstenmal wieder ins Freie wagten. All diese Aufmerksamkeit galt einer Plattform, die man errichtet hatte, um den Vorbau des Hótel de Ville nach vorn zu verlängern. Oben standen mit Mienen, die genauso feierlich wirkten wie ihre schwarzen Amtsroben, die Bürgervorsteher sämtlicher Arrondissements von Paris, die bis jetzt die einzigen legalen Autoritäten in der Stadt gewesen waren. Vor ihnen stand eine Reihe anderer Männer, gleichfalls zivil gekleidet, nur, daß sie quer über die Hemdbrust noch eine rote Schärpe trugen: die Vertreter der Kommunarden, die geholfen hatten, die versammelten Bürgervorsteher auszuwählen, die die neue Regierung der Stadt bilden sollten. Einer von ihnen, Henry d’Assy, trat vor, um der dichtgedrängt unten auf dem Platz stehenden Menge zuzurufen: »Camarades! Citoyens! Das Comite Central hat sich nunmehr aufgelöst und – freuen wir uns! – die Kommune ist ausgerufen.« Die Camarades und Citoyens, die bis vor kurzem aus Angst vor den Handlangern eben dieser Männer im Untergrund gelebt hatten, applaudierten stürmisch und riefen: »Vive la Commune!« Immer wieder brüllten sie lärmend ihren Beifall heraus, während ein Sprecher nach dem anderen vortrat, sich in Positur und mit großen Worten um sich warf. »Heute, Citoyens – am siebten Tag des Monats Germinal des -1722-
Jahres neunundsiebzig seit der Proklamation der Ersten Republik –, heute schlägt Paris in der Geschichte eine leere neue Seite auf, um ihren strahlenden Namen darauf einzutragen!« »Vive la Commune!« »Zulange, Citoyens, haben wir unter den überholten Gesetzen von Restfrankreich gelitten! Von heute an wird Paris eine Stadt ganz eigener Prägung sein – und kein Kleingeist von Gesetzgeber aus der Provinz wird sich hier wieder einmischen!« »Vive la Commune!« »Incroyable!« murmelte Florian, einer der wenigen Circusleute, die hingegangen waren, sich dies Schauspiel anzusehen. »Die Deutschen draußen in Chelles müssen sich an den Kopf fassen und angesichts eines solchen Spektakels vor Lachen biegen. Die Pariser bejubeln die dritte Regierung in noch nicht einmal acht Monaten.« »Ich denke«, sagte LeVie, »die Pariser würden jedes Regime bejubeln, das nicht im Begriff steht, von einigen Mitgliedern aus dem Sattel gehoben zu werden. Sobald irgendeine Gruppierung anfängt, den Rest zu verteufeln und seine Autorität zu unterminieren, hört der Jubel auf und wird die Regierung von der ganzen Stadt ausgebuht.« »Diese neue Regierung hier läßt aber so etwas wie Ausbuhen vielleicht nicht mal zu!« sagte Pemjean. »Die Presse ist geknebelt, alle konfessionellen und militärischen Schulen sind geschlossen, und Hunderte von Abweichlern sind in Haft genommen worden. Adelige, Stadtverordnete, Generale, Priester – sogar der Erzbischof von Paris. Dabei wird Mazas Gefängnis zurecht ›Vorzimmer zum Schafott‹ genannt.« »Außerdem«, sagte Florian, der die Plakate las, die hinter ihm an der Mauer klebten, »sehe ich, daß sämtliche Pässe eingezogen werden, um sie auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen. Verflucht! Diese neuen Bürokraten werden bestimmt alles daransetzen, an jedem Stück Papier, das ihre -1723-
Vorgänger ausgestellt haben, irgendeinen Fehler zu entdecken.« Als die Circusleute sich durch die Menschenmengen den Weg zurück zum Bois de Boulogne bahnten, sahen sie, wie Kellner in den Cafes Stühle auf den Bürgersteig stellten ja, sie sahen sogar, wie Männer Theaterplakate anklebten. »Seht ihr?« sagte LeVie. »Solange man die Pariser nicht daran hindert, Geld zu verdienen – aneinander oder an anderen, und wenn es ihre Feinde wären –, ist es ihnen von Herzen gleichgültig, wer im Hótel de Ville auf dem Thron sitzt.« Florian sagte: »Vielleicht sollten wir uns dieser Haltung anschließen und auch unsere Pforten wieder öffnen. Aber erst wollen wir einmal sehen, was bei dieser Sache mit den Pässen herauskommt.« Florian wartete ein paar Tage, bis sich die Mischung aus Festtagstrubel und Unsicherheit in der Stadt gelegt hatte. Die Artisten, die nichts sehnlicher wünschten, als endlich wieder richtig arbeiten zu können, beim Probieren und Erarbeiten neuer Nummern zurücklassend, fuhr er in seiner Kutsche mit einem Riesenstapel Pässe zur Zentralpräfektur. Er war jedoch bereits nach kurzer Zeit mit ärgerlichem Gesicht wieder zurück. Edge saß im Roten Wagen und war dabei, nach etlichen Schießübungen seinen Revolver wieder zu laden, als Florian eintrat und fluchend in seinem Büroschrank kramte. »Genauso, wie ich befürchtet hatte, verdammt noch mal!« »Haben sie an unseren Pässen was auszusetzen gehabt?« »Zachary, du weißt doch, daß es erste Pflicht eines Beamten ist, überall irgendwelche Fehler zu entdecken – außerdem ist es das Hauptvergnügen in seinem Leben. Denk dir in diesem Fall noch die Abneigung der Franzosen gegen Fremde und das Mißtrauen der Kommunarden gegen alle anderen, und du hast Beamtentum und Papierkrieg in Reinkultur. Als ich ihm unsere Pässe übergab, kratzte Rigault mit einem Papiermesser auf jedem einzelnen das Wort Empire aus und kritzelte statt dessen -1724-
Republique hin – und fügte an das Francais noch ein e an. Die typische Kleinigkeitskrämerei eines Behördenmenschen! Und ich hatte gedacht, damit hätte es nun ein Ende! Doch dann hat Rigault die Pässe auch noch dabehalten und verlangt, ich sollte auch noch unsere Konuitenbücher holen.« »Rigault?« »Weißt du noch, wie wir uns gewundert haben, daß bei den ersten Plünderungen die Polizei nicht eingriff? Nun, heute weiß ich, warum. Dieser Raoul Rigault ist unter der Regierung Trochu Prefet de Police gewesen. Dabei war er die ganze Zeit über Kommunarde. Jetzt nennt er sich großkotzig Procureur de la Commune und scheint entschlossen, der widerlichste der ganzen Sippschaft zu sein. Die politischen Verhaftungen gehen alle auf ihn zurück – wir tun also gut daran, auf der Hut vor ihm zu sein. Die meisten von uns sind Ausländer – dazu eine russische Prinzessin und ein bayerischer Baron – und von unseren wenigen echten Franzosen ist einer auch noch Jude.« Endlich hatte Florian die Konuitenbücher ausgegraben. »Die werde ich jetzt zu Rigault bringen. Laß die Artisten bei den Proben ruhig weitermachen, Colonel Ramrod – und sei doch so gut, sie für mich zu beaufsichtigen. Aber ohne Erlaubnis des Procureur wage ich nicht, unsere Wiedereröffnung oder sonst irgend etwas anzukündigen.« Edge steckte die Pistole ins Halfter, folgte Florian zum Wagen hinaus und ging gemächlich aufs Chapiteau zu, aus dem sich ein lautes Dschingdarassadah vernehmen ließ. Beck probte mit der Kapelle den ›Radetzky-Marsch‹, der als Begleitung zum Säbelduell zwischen den Jäszi-Brüdern und ihren böhmischen Gegnern gespielt werden sollte. Sie waren gleichfalls im Chapiteau und probierten ihre säbelschwingenden Schaukämpfe – heute zum erstenmal in ihren neuen Uniformen, die Ioan für sie geschneidert hatte. Als die Probe endete und Beck seine Musikanten entließ, schlenderte Edge wieder zum Zelt hinaus; auf dem Platz dahinter ließ Monday Thunder seine Schritte der -1725-
Hohen Schule absolvieren. Sie gab Edge zu verstehen, auch sie wolle absitzen, so daß er hinging, um sie und ihre Rückenstütze vom Sattel loszuschnallen und sie wieder in den Rollstuhl zu heben. Als Monday, das Stützgeschirr auf dem Schoß, auf das Umkleidezelt zurollte, führte Edge Thunder am Zügel, um ihn einem der böhmischen Musikanten zu übergeben, die gerade in diesem Augenblick herauskamen. Doch unvermittelt blieb er stehen, als er sich auf französisch angeredet hörte: »Holä! Garcon!« Die Stimme kam von irgend jemand aus einer Reiterschar, die auf den Festplatz geritten kam. Edge wartete höflich, bis sie näherkamen, obwohl sie ihn offensichtlich mit einem Stallburschen verwechselt hatten. Das Dutzend Männer trug Pistolen im Halfter oder hatte Gewehre unterschiedlicher Machart und von höchst unterschiedlichem Alter auf den Rücken geschnallt; Uniform jedoch trugen die Männer nicht. Derjenige, der gerufen hatte, ergriff wieder das Wort und fragte, wo sie den Eigentümer des Unternehmens finden könnten. Edge entgegnete auf französisch, Monsieur Florian halte sich geschäftlich in der Stadt auf, und fragte dann, ob er als Stellvertreter des Direktors den Herren zu Diensten sein könne. »Das können Sie, Citoyen«, sagte der Sprecher. »Wir sind vom Komitee für Öffentliche Sicherheit. Man hat uns informiert, unter Ihren Leuten befinde sich eine Adlige, eine gewisse Comtesse de Lareinty.« Mit einem dreckigen Grinsen, wie zwei Mannsbilder unter sich, fügte er noch hinzu: »Man hat uns auch gesagt, sie sei eine Frau von großer Schönheit. Une blonde doree.« Dann hörte das Grinsen unvermittelt auf, und er sagte sehr nüchtern: »Sie wird aufgefordert mitzukommen.« »Aufgefordert, Monsieur?« »Zum Verhör zu kommen, Citoyen.« »Zum Verhör? Wieso, Monsieur?« »Wollen Sie mich bitte korrekt mit Citoyen anreden. Und Sie -1726-
sind nicht befugt, Maßnahmen und Motive des Komitees für Öffentliche Sicherheit der Kommune in Frage zu stellen. Bringen Sie die Gräfin her, und zwar ein bißchen dalli.« Der Hornbläser der Kapelle kam aus dem Chapiteau und machte große Augen, als er die bewaffneten Eindringlinge sah. Dann wollte er Edge Thunder abnehmen, doch dieser ließ die Zügel nicht los und sagte kalt zu dem Franzosen: »Ich glaube nicht, daß es eine Gräfin unter uns gibt. Vor allem aber glaube ich nicht, daß es so etwas wie ein Komitee für Öffentliche Sicherheit gibt. Weisen Sie sich durch irgendeinen Auftrag oder eine Vollmacht aus!« »Pignouf! Gar nichts brauchen wir Ihnen zu zeigen. Wir haben es nicht nötig, uns auszuweisen. Sie jedoch brauchen nur zu gehorchen. Bringen Sie uns die Gräfin.« Edge war es ziemlich gleichgültig, ob es sich um ein echtes Komitee handelte oder nicht, denn ihm fiel ein, was Nadar von der entsetzlichen Behandlung zu berichten gewußt hatte, die die Kommunarden einer anderen Adligen hatten zuteil werden lassen – und das waren zweifellos echte Kommunarden gewesen. Deshalb zielte er zunächst auf Zeitgewinn ab; gleichzeitig wägte er alle Möglichkeiten ab: Da standen zwölf schwer bewaffnete Männer gegen ihn, der nur mit einem Revolver bewaffnet war – und dem Böhmen, der nichts weiter bei sich trug als sein Horn. Alle anderen schienen diese Stunde gewählt zu haben, woanders oder mit anderem beschäftigt zu sein; höchstens daß der eine oder andere einen Blick auf sie geworfen hatte, die offenbar friedlich miteinander redeten und war dann seiner Wege gegangen. »Bring die Gräfin her!« befahl der Mann nochmals. »Sonst wirst du selbst verhaftet!« »Einen Teufel werde ich tun!« sagte Edge, und dann – ohne das Auge von der Gruppe zu wenden – auf englisch zu dem Racklo: »Gib das Signal: Aufsitzen!« -1727-
Gehorsam tat der Böhme, wie ihm geheißen, woraufhin die Reiter zusammenfuhren und aller Augen sich auf ihn richteten. Doch der Horntöne waren es nur wenige, und sie riefen keinerlei Wirkung hervor, außer daß ein paar von den Circusangehörigen an die Tür ihrer Maringottes oder Wohnwagen kamen, hinauslugten und dann wieder verschwanden. Edge hoffte zu Gott, daß Clover Lee de Lareinty – und jede andere »Frau von großer Schönheit« – sich nicht blicken ließ, sondern im Verborgenen blieb. Der Sprecher der Reiter ruckte mit dem Kopf, zeigte auf den Trompeter und sagte in drohendem Ton zu Edge: »Tu fais peterade, Citoyen? Du versuchst, uns lächerlich zu machen, indem du Furze blasen läßt? Und du wagst es, einen Beamten der Commune bei der Ausübung seiner Pflicht zu behindern? Na gut, dann wirst auch du uns begleiten. Aber erst gehe hin und hole die Gräfin!« »Einen Teufel werde ich tun – bevor Sie mir nicht irgend etwas vorgewiesen haben, um verdammt noch mal zu beweisen, wer Sie sind.« »Dann bist du verhaftet! Ich finde sie schon selbst.« Der Mann machte eine Handbewegung, woraufhin seine Kameraden die Pistole zogen oder das Gewehr vom Rücken nahmen; der Böhme schlich um Edge herum und schob sich hinter ihn. Doch dann zögerte der Sprecher und sah sich unsicher auf dem Gelände um. Zwar hatte er einige Circusleute gesehen, aber woher wollte er wissen, wie viele es waren, und ob bewaffnet und darauf vorbereitet, Eindringlinge zurückzuwerfen? Doch seine Unentschlossenheit währte nicht lange, denn jetzt kam um die Ecke des Chapiteaus eine der Circusfrauen »von großer Schönheit«. Sunday kam vom nachmittäglichen Zeitungskauf auf den Festplatz zurück und sah in ihrem hübschen Straßenkleid und dem Hut ganz wie eine Dame aus. Ehe Edge einen Warnruf ausstoßen konnte, rief der Anführer des Komitees einen Befehl, und vier oder fünf von -1728-
seinen Männern sprengten herbei, sich der jungen Frau zu bemächtigen. Die Pistole auf Edge gerichtet, ließ der Anführer sein Pferd ein paar Schritt zurückmachen und grinste dabei verschlagen. »Wir wollten eine Adlige! Voilá, jetzt haben wir eine. Was ihr auch zustößt, und wer immer sie auch sein mag – es ist alles deine Schuld – und die der richtigen Comtesse de Lareinty, die sich so feige versteckt hält. Diese hier tut es auch, also brauchen wir dich nicht zu verhaften, Citoyen. Bleib einfach, wo du bist, und verhalte dich ruhig, bis wir ein ganzes Stück von hier fort sind.« Als Sunday ergriffen wurde, hatte sie die Zeitungen fallen lassen. Jetzt flatterten und wogten sie übers Gelände. Aber sie hatte keinen Schrei ausgestoßen und wehrte sich auch nicht gegen ihre Häscher; sie sah nur zu Edge hinüber, als erwarte sie Instruktionen von ihm. Alle anderen vom Komitee – mit Ausnahme des Anführers, der Edge immer noch grinsend in Schach hielt – trieben ihre Reittiere zurück bis zu der Stelle, wo die junge Frau war und bildeten dort mit nach außen gerichteten Waffen einen Kordon um sie. Edge verharrte einen Moment in völliger Regungslosigkeit und wog die Alternativen ab. Dann zuckte er mit den Achseln und sagte zu dem Böhmen hinter ihm: »Blas das Signal: Attacke!« Das Komitee war offensichtlich zu der Überzeugung gelangt, daß der Böhme nur ein harmloser Tropf sei, und so schoß keiner auf ihn, als er das Hornsignal blies. Er war noch nicht einmal zu Ende, da ertönte ein lautes Geräusch – Männer schrien und Hufe trappelten – und neun Reiter preschten auf ihren Pferden zum Hinterausgang des Chapiteaus heraus. Dabei bildeten sie eine so kompakte Gruppe, daß die Rundleinwand zu beiden Seiten der Tür aufflog und Rondellstangen, Absegelungen und Anker durcheinanderwirbelten. Die Männer vom Komitee fuhren wie ein Mann herum, um sich dem Chapiteau zuzuwenden, und erstarrten für kurze Zeit – -1729-
wobei sie möglicherweise weniger der Angriff als solcher verdutzte, als vielmehr die Tatsache, daß die Angreifer aus einer gemischten Truppe von französischen und deutschen Kavalleristen zu bestehen schien. Dann spritzten die Kommunarden auseinander, und Sunday warf sich bäuchlings auf den Boden, wußte sie doch, was ihren Häschern nicht klar war: daß ein vorwärtsstürmendes Pferd auch in äußerster Not noch bemüht ist, einen auf dem Boden liegenden und dem Anschein nach hilflosen Menschen nicht mit den Hufen zu berühren. Die sich bewegenden Männer hingegen waren Freiwild für sie, und die Jäszi-Brüder hätten sie bloß über den Haufen zu reiten oder zu verfolgen brauchen. Als ihr Anführer jedoch die Pistole hochriß, schoß Edge ihn durch die Brust, noch ehe er zielen konnte. Jetzt gab es für die Jäszi-Brüder kein Halten mehr, ihre böhmischen Gefährten schlossen sich ihnen an und hetzten mit erhobenem Säbel hinter den Eindringlingen her. Die Säbelspitzen waren stumpf geschliffen, doch bei der Wucht, mit der die Attacke geritten wurde, drangen selbst die stumpfen Schneiden noch tief in das Fleisch von fünf oder sechs Männern ein, so daß Blut spritzte und Eingeweide durch die Luft flogen. Es herrschte ein beträchtlicher Lärm: Die Jäszis brachen in ein wildes ungarisches Kriegsgeschrei aus; die nicht lebensgefährlich verwundeten Franzosen kreischten oder stöhnten vor Schmerzen auf; die noch unverletzten kreischten vor Panik, vergaßen, daß sie noch bewaffnet waren und versuchten, das Weite zu suchen. Auf das Gemetzel zulaufend, kamen noch andere Circusleute herbei und riefen: »Hey, Gadjos!« Und über das ganze Getöse hinweg gelang es Edge, sich mit seinem: »Laßt ja keinen entkommen!« Gehör zu verschaffen. So schlugen die mit Säbeln bewaffneten Reiter auf die Eindringlinge ein, wohingegen die zu Fuß Zeltanker und Rondellstangen schwangen wie Keulen. Mittlerweile hatte Edge Thunder bestiegen und ritt dort hinüber, wo Sunday noch immer inmitten der wurlenden Menge auf dem Bauch lag. Während er -1730-
sich aus dem Sattel hinunterbeugte, ergriff sie seine Hand und schwang sich dann hinter ihm aufs Pferd. Als er sie das kurze Stück zum Chapiteau gebracht hatte, war die Schlacht schon vorbei, und das Dutzend Eindringlinge lag entweder gefällt am Boden oder wand sich im Todeskampf. Als Sunday vom Pferd herunterglitt, sagte Edge: »Geh rein und schau nicht raus!« Ohne abzuwarten, ob sie gehorchte, riß er Thunder herum, um sich wieder der Walstatt zu nähern. Eine Rondellstange in der Hand, stand Obie Yount über einem Gestürzten. Edge sagte: »Sergeant, jetzt werden wir beide das Werk vollenden. Alle anderen – verzieht euch! Ihr habt gegen niemand gekämpft. Ihr habt nichts gesehen. Ihr wißt nicht, was passiert ist. Sorgt dafür, daß alle Frauen drinnen sind und auch dort bleiben, bis ihr anderes hört.« Der böhmische Trompeter, der immer noch auf dem Schlachtfeld stand, vollendete seine Aufgabe, indem er das Signal: »Rückzug!« blies und dann mit den anderen verschwand. Yount, der einzige Circusmann, der zurückblieb, verschloß seine Ohren gegen die flehentlichen Bitten um Gnade der Franzosen, die noch bei Bewußtsein waren, riß seine Rondellstange hoch, als präsentiere er ein Gewehr, und sagte: »Irgendwelche Befehle, Sir?« Mit einem tiefen Seufzer saß Edge ab und sagte: »Den coup de gráce, Sergeant! Mit ist das zwar schrecklich, aber wir können es uns nicht leisten, daß irgendwer noch plaudern kann. Wenn Sie sich entschuldigen möchten – sagen Sie’s nur!« »Ach, zum Teufel, Zack«, sagte Yount, »tun wir so, als wären’s Rothäute.« und brach mit seiner Rondellstange dem Mann unter ihm das Genick. Als sie ihr grausiges Geschäft hinter sich gebracht hatten, verscharrten Yount und einige vertrauenswürdige Böhmen die Leichen im Bois, wo man sie nicht entdecken konnte. Als Edge in seine Maringotte ging, um sich zu säubern, klopfte es an die -1731-
Tür. Er machte auf, und Sunday trat ein; auch ihr Kleid war blutbeschmiert, trug aber außerdem auch Schlammund Grasflecken. »Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, um was es eigentlich ging, aber soviel weiß ich: Daß du mir das Leben gerettet hast. Oder vor dem, was in Romanen als etwas umschrieben wird, das schlimmer ist als der Tod.« »Nein, davor, daß die Kommunarden dich irrtümlich für eine Adelige hielten.« Sie dachte nach, dann überlief sie ein leichter Schauer. »Dann wär’s wohl wirklich schlimmer gewesen als der Tod, oder? Nun ... in dem Fall hättest du wohl jeden zu retten versucht. Trotzdem: Vielen Dank.« »Ich wünschte nur, es wäre nicht nötig gewesen. Vielleicht haben diese Männer den Tod verdient; trotzdem war es für mich kein Vergnügen. Und weiß der Himmel, was das noch alles nach sich ziehen wird.« »Es war meine Schuld – einfach arglos auf sie zuzugehen. Wäre ich nicht gerade vom Zeitungholen zurückgekommen ...« »Nein, nein. Sie waren auf Böses aus, und sie haben’s bekommen, so oder so. Dich trifft da keine Schuld, Sunday. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.« »Habe ich ja auch nicht wirklich. Ich muß nur darüber nachdenken, wie schlimm es für dich sein muß. Du hattest dir geschworen, nie wieder eine Kavallerieattacke anzuführen, weil du meintest, du würdest ... weil du meintest, es könnte Schlimmes dabei herauskommen. Dabei ist es genau das gewesen: Du hast eine Kavallerieattacke angeführt.« »Ich ... naja, ich denke, es ist dem wohl sehr nahe gekommen ...« Als ihm dies aufging, machte er ein verwirrtes und fast verdutztes Gesicht. »Ich habe keinen Moment gezögert. Warum wohl, möchte ich wissen.« Lange und nachdenklich sah er -1732-
Sunday an. »Vielleicht ... vielleicht weil du in Gefahr warst.« Dann verzog sein Gesicht sich zu jenem Lächeln, das allen Furcht einflößte oder jeden Mut nahm jedermann mit Ausnahme von Sunday, die dies Lächeln jetzt scheu erwiderte. Er fuhr fort: »Du kannst es nicht wissen, aber Autumn hat mir seinerzeit einen Brief hinterlassen. Darin schrieb sie, wenn ich jemals mit einer anderen aus der Truppe was anfinge ...« »Ich weiß. Meine Schwester hat mir den Brief gezeigt.« »Du hast ihn gelesen? Und hast nie ein Wort gesagt?« »Komm, Zachary. Was um alles in der Welt hätte ich sagen sollen? Was hätte ich sagen können, das ich an jenem Abend auf der Kußbrücke in Sankt Petersburg nicht gesagt hätte?« Es folgte ein langes Schweigen. Edge war es, der es schließlich brach: »Ich wünschte, es gäbe hier so eine Brücke.« Sunday sagte leise: »Die hat es immer gegeben. Überall. Du brauchst sie nicht zu sehen. Du brauchst nur über sie hinüberzugehen.« Edge überlegte, und schließlich sagte er: »Ja, es wird allmählich Zeit. Wenn ich Tom’s Brook endlich hinter mir habe, kann ich auch über die Brücke hinweggehen. Wie ist es mit dir, Sunday? Ich meine – nicht jetzt, wo wir beide blutbeschmiert sind –, aber irgendwann, könnten wir nicht gemeinsam über die Brücke gehen?« Und wieder lächelte sie, strahlend diesmal, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuß. »Wie du gesagt hast, du lieber alter Bedächtiger – es wird langsam Zeit.« Wieder wurde geklopft. An der Tür der Maringotte stand Gusztäv und meldete in gebrochenem Englisch: »Edge ür, Florian ür fragen, wo alle sein, Himmelherrgott verflucht noch mal. Wir nix sagen. Besser du es sagen.« »Ja«, sagte Edge voller Unbehagen. »Danke, daß ihr es ihm -1733-
noch nicht gesagt habt.« Und zu Sunday gewandt sagte er: »Während ich das mache, zieh du dir was anderes an! Verbrenn dies Kleid. Ich werde dir ein neues kaufen.« Er schloß sie kurz in die Arme und ging mit Gusztäv hinaus. Doch fiel ihm – um es Florian beizubringen – nichts besseres ein, als vorzuschlagen: »Vielleicht ist es doch an der Zeit, daß wir aus Paris abhauen, Governor. Ich fürchte, wir haben die Zeit, wo wir hier willkommen sind, überzogen.« Dann berichtete er, was sich am Nachmittag zugetragen hatte, und schloß mit den Worten: »Falls aus Monday Simms wirklich eine zweite Maggie Hag wird, dann war das vielleicht die böse Sache, die sie vorausgesehen hat.« »O Gott!« sagte Florian. »Ich weiß immer noch nicht, ob sie echte Kommunarden waren oder bloß ein Haufen wildgewordener Spitzbuben. Wir haben weder Rangabzeichen noch irgendwelche offiziellen Papiere bei den Leichen gefunden. Es waren wohl doch eher Spitzbuben. Wenn sie darauf aus waren, irgendeinen Adligen festzunehmen oder ihm was anzutun, dann hätten sie die Herausgabe der Prinzessin Olga oder von Willi von Wittelsbach verlangen können. Aber sie wollten weder eine Frau, so groß wie ein Koloß, noch einen weibischen Dickwanst – sie wollten eine hübsche Frau, sich mit ihr zu verlustieren. Und ich weiß nicht – ob das was mit offizieller Regierungspolitik zu tun hat.« »Ob offiziell oder nicht, spielt keine Rolle«, sagte Florian. »Wenn die ganze Regierung aus dem hochgespülten Bodensatz der Gesellschaft besteht, wer will dann noch einen Unterschied zwischen Hütern des Gesetzes und Gesetzlosen sehen?« »Was ich nicht so recht begreife, ist, wie sie dahinter gekommen sind, daß Clover Lee die Comtesse de Lareinty ist. Sie hat doch nie damit angegeben.« »Ach, es ist ja nicht undenkbar, daß Nadar zum Beispiel in den falschen Kreisen davon erzählt hat. Oder irgendeiner von -1734-
unseren Leuten an irgendeinem Wirtshaustisch hat damit großgetan. Oder daß irgend so ein Widerling wie Verlaine Wind davon bekommen hat, als er um die kleine Sava herumscharwenzelte. Der ist heute ein großes Tier im Rat der Kommunarden. Und Gaspard de Lareinty wiederum war ein großes Tier am Hofe des Kaisers – infolgedessen kann die Rache der Kommunarden jeden aus der Familie treffen. Falls diese Männer in offiziellem Auftrag unterwegs waren. Wenn nicht, nun, wie du gemeint hast, kann das ein plausibler Vorwand gewesen sein, um eine schöne Frau aus weit ruchloseren Gründen zu entführen.« »Wer immer sie waren, es waren zwölf Mann, und alle werden sie im Moment verscharrt. Tut mir leid, Governor. Wer weiß, wenn du hier gewesen wärest, vielleicht hättest du sie mit deinem Freimaurergerede oder was weiß ich sonst ins Bockshorn jagen können. Aber ich mußte die Entscheidung allein fällen – und zwar von einem Augenblick auf den anderen.« »Du hast völlig richtig gehandelt, mein Junge. Völlig richtig. Wie du meiner Meinung nach immer richtig handeln wirst ... wenn ich nicht mehr bin.« »Hör auf, so zu reden! Ich habe schon genug Sorgen am Hals, vielen Dank!« »Komm, komm, Zachary! Bedeutet dir die Circustradition denn gar nichts?« »Schon ... aber ... bloß, was hat das damit ...?« »Erinnerst du dich denn nicht mehr, wie wir uns kennengelernt haben? Unten am Bachlauf in Virginia. Das liegt heute unendlich weit zurück, gewiß, aber du erinnerst dich doch bestimmt noch, oder?« Florian lächelte versonnen, aber auch etwas traurig. »Damals hast du auch den Elefanten Brutus das erstemal gesehen. Sie hat dich mit hochgewölbtem Rüssel begrüßt, und ich habe dir gesagt, was das zu bedeuten hat.« -1735-
Edge dachte zurück und sagte schließlich: »Jawohl, ich erinnere mich. Es ist wirklich schon eine Ewigkeit her, findest du nicht auch? Du sagtest, es bedeutete, daß irgendwann ...« Er hielt inne, schüttelte sich und sagte dann fast ärgerlich: »Verflixt, Governor, wenn dir danach ist, über Morbides zu reden – was hältst du hiervon? Dieses Dutzend toter Eindringlinge – irgend jemand muß sie doch vermissen. Ihre Spitzbubenfreunde, wenn nicht gar das Komitee für öffentliche Sicherheit. Und daß irgendeiner von ihnen vermutlich weiß, wohin sie wollten; sie sind schließlich nicht hergekommen, weil ihnen das irgendwann spontan einfiel. Und dieser jemand wird sich vermutlich irgendwann fragen, was aus ihnen geworden ist.« »Vielleicht nicht sofort.« Florian stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hoffen wir, daß es jedenfalls nicht gleich passiert. Denn schließlich können wir nicht einfach die Anker rausziehen und abhauen, wie du vorschlägst. Der Procureur Rigault hat unsere Pässe und jetzt auch noch unsere Konuitenbücher. Keiner darf Paris verlassen. Es sieht aus, als führte Paris wieder Krieg.« »Schon wieder? Du meinst: immer noch. Nehmen die Deutschen die Belagerung wieder auf?« »Nein, nein. Der Krieg mit den Deutschen ist aus. Hast du die Nachmittagszeitungen nicht gelesen?« »Die sind bei dem ganzen Durcheinander weggeweht.« »Die Nachricht ist ganz neu. Oder zumindest läßt Verlaine jetzt zu, daß sie gedruckt wird. Die letzte kleine von den Franzosen gehaltene Festung – Bitche in Lothringen – ist vor zwei oder drei Wochen gefallen, und damit läßt es sich nicht mehr leugnen, daß Frankreich geschlagen ist. Die Einzelheiten der endgültigen und formalen Kapitulation werden im Moment ausgehandelt.« Ungläubig sagte Edge: »Das mächtige Deutsche Reich gibt sich mit diesen lächerlichen Emporkömmlingen, den -1736-
Kommunarden, ab?« »Natürlich nicht. Sondern immer noch mit der republikanischen Regierung, deren Präsident im Moment Adolphe Thiers ist.« »Was für eine republikanische Regierung? Die ist doch von hier abgehauen.« »Aus Paris vielleicht, aber nicht aus Frankreich. Sie hat sich in Bordeaux niedergelassen. Thiers verhandelt per Boten und Telegraph mit den Deutschen.« Ganz sanft, als spräche er zu einem Kind, sagte Edge: »Und inzwischen führt Paris wieder Krieg? Gegen wen denn, Governor?« »Gegen Frankreich, verdammt noch mal.« Mit einer gewissen Verbohrtheit fügte Florian noch hinzu: »Und sieh mich nicht so an! Es stimmt. Ehe die französischen Streitkräfte draußen sich auflösten, beorderte Thiers eine beträchtliche Anzahl davon nach Versailles, um die Wiedereroberung von Paris vorzubereiten. Inzwischen müßten sie soweit sein – bereit, die Stadt zu stürmen.« »Verdammt – Frankreich gegen sich selbst!« »Bisher hat Verlaine das aus seiner zahmen Presse herausgehalten. Ich aber habe es vorhin von Rigault erfahren; denn das ist der Grund für das Reiseverbot. Und sobald die Schießerei beginnt, läßt es sich ohnehin nicht mehr verheimlichen, und das kann jeden Augenblick der Fall sein. Die Kommune knallt aufgeregt jede nach außen führende Tür zu und versucht hektisch, den Widerstand zu organisieren. Deshalb sitzen wir hier fest – zusammen mit den anderen unglücklichen Citoyens.« »Ich kann das Wort Citoyen nicht mehr hören!« »Nun, Pariser dann. Wir wiederum können nur hoffen, daß diese Pariser vollauf damit beschäftigt sind, darüber -1737-
nachzudenken, was für eine Wendung die Ereignisse in jüngster Zeit genommen haben; da dürfte das geheimnisvolle Verschwinden von zwölf Menschen nicht weiter auffallen. Ah! – der Wimpel ist hochgegangen. Die Damen haben das Essen fertig. Kommt, Colonel Ramrod, tun wir so, als wäre nichts Besonders passiert.« Während die Circusleute an diesem Abend im Kochzelt aßen – es war der zweite April; die Ausrufung der Kommune war kaum fünf Tage her –, vernahmen sie wieder Kanonendonner, und zwar in gar nicht so großer Ferne. Die Forts von Vanves, Mont Valerien und Issy westlich und südwestlich der Stadt wurden wieder beschossen, und zwar diesmal von französischer Artillerie. Die Deutschen, die immer noch auf der anderen Seite von Paris saßen, mögen belustigt zugesehen haben, wie die Belagerung fortgesetzt wurde – nur daß diesmal Franzosen auf Franzosen schossen. Doch die Pariser selbst merkten bald, daß von Brüderlichkeit keine Rede sein konnte. Adolphe Thiers, erbost darüber, daß man ihn zur Flucht gezwungen hatte, brannte auf Rache und nicht nur in bezug auf die Kommunarden, die ihn abgesetzt hatten, sondern auf die ganze undankbare Stadt. So setzten sich seine Versailles Verbände ausschließlich aus Franzosen der Provinz zusammen, die Paris nie besonders geliebt hatten und von denen zu erwarten stand, daß sie nicht zögern würden, die Hauptstadt zu stürmen. Sie riegelten die Stadt nicht einfach ab und warteten, daß sie sich ergab, wie die Deutschen es gemacht hatten – und sie besaßen auch nicht den Anstand, die Beschießung auf die Nachtstunden zu beschränken. Während ihre schwere Artillerie die Forts beharkte und in Atem hielt, gingen die Republikaner bei Tag wie bei Nacht mit Kavallerie, Infanterie und leichter Artillerie bis an die Stadtmauern vor, von Gentilly bis St.-Cloud. Täglich gingen Geschosse im Bois de Boulogne nieder, zerfetzten Sträucher und Jungbäume, ließen Fontänen in den Teichen hochschießen und fuhren in Blumenbeete, daß die -1738-
Blütenblätter stoben. Keine der Granaten schaffte es jemals über den Bois hinweg ganz bis zum Festplatz des FLORILEGIUM, und keiner von den Circusleuten beschwerte sich jemals, daß die Beschießung die Wiedereröffnung ihres Unternehmens verhinderte – denn sie sorgte auch dafür, daß der Bois frei blieb von anderen Menschen, unter anderem solchen, die sich vielleicht neugierig nach dem Verbleib des verlorenen ›Komitees‹ erkundigen könnten. Doch ob Krieg oder nicht, die anderen Komitees machten weiter ihre Arbeit. Manche fuhren einfach damit fort, die Häuser des Adels, der Reichen und ›Volksunterdrücker‹ zu plündern – und fingen mit der ehemaligen Residenz von Adolphe Thiers in der Rue St. George an. Andere trieben weiterhin Menschen ›zum Verhör‹ zusammen, was stets auf Gefängnis, wenn nicht gar Schlimmeres hinauslief. Manche wurden wegen Verrat verhaftet, wie etwa im Fall des Generals Bergeret, weil es diesem nicht gelungen war, dem letzten verzweifelten Pariser Versuch, bei Buzenval die Linien der Deutschen zu durchbrechen, zum Erfolg zu verhelfen – ungeachtet übrigens der Tatsache, daß es sich dabei um einen Krieg handelte, der längst vorbei war. Andere wie der Stadtverordnete Bonjean wurden nur deshalb arretiert, weil sie unter dem Kaiser oder unter den Republikanern ein Amt bekleidet hatten – oder unter beiden Regimen. Und noch andere – darunter die meisten Kleriker in der Stadt wurden eingesperrt, weil die Kirche für die Kommune ein Greuel war. Der betagte Cure von der Madeleine wurde in Mazas Gefängnis geworfen, wo Erzbischof Darboy bereits schmachtete; weniger hochstehende Priester wurden unter Hausarrest gestellt. Die Nonnen der Pflegeorden durften ihre Arbeit zwar fortsetzen – ohne sie wäre in den Krankenhäusern überhaupt nichts mehr gelaufen –, doch mußten sie rote Schärpen über dem schwarzen Habit tragen. Ein Komitee der Kommune begann mit dem Abriß dessen, was es als ungeheuerlichstes Sinnbild der Tyrannei betrachtete: die -1739-
hochragende Säule auf der Place Vendöme, auf welcher die Großtaten Napoleons abgebildet waren und deren Spitze eine Napoleon-Statue schmückte. Das mögen die hingebungsvollsten Kommunarden gewesen sein, denn sie nahmen die ungeheuer mühselige Arbeit auf sich, die mit Bronzeplatten ummantelte, drei Meter dicke Granitsäule zu durchsägen. Die meisten Pariser Kaufleute und Händler hatten die Gelegenheit benutzt, sich zwischen dem Öffnen der Straßen durch die gegnerischen Deutschen und ihrem Wiederversperren durch ihre französischen Landsleute große Vorräte anzulegen. Infolgedessen litt die Bevölkerung nicht sofort wieder Mangel – und wenn, dann nur wieder die Ärmsten der Armen – und auch die Witterung blieb weiterhin außerordentlich mild. Einige der bürgerlichen Einrichtungen der Stadt gaben sich den Anschein, als sei man zur Normalität, wenn nicht gar zur traditionellen gaite parisienne zurückgekehrt; das Gaite Theatre eröffnete mit einem Vaudeville, schloß seine Pforten jedoch bald wieder, als sich herausstellte, daß die Besucher alle Kommunarden waren, die erklärten, im Zeichen von Egalite und Fraternite stehe es ihnen frei, ohne Eintritt ins Theater zu gehen. Andere Angehörige der Bourgeoisie gaben einfach auf und verließen die Stadt – und zwar in nördlicher Richtung, über St. Denis, wo es weder Versailler Truppen gab, die angriffen, noch deutsche, die dort nur kampiert hätten. Trotz des Reiseverbots war dies durchaus möglich; man brauchte nur jedem von der Nationalgarde, der einem den Weg vertrat, fünf Franc zuzustecken – allerdings nur dann, wenn der Flüchtling zu Fuß ging, ohne Pferd, Wagen oder irgendwelches Gepäck, das die Wachen konfiszieren konnten. Mochten Florian, Edge und andere eine noch so geringe Meinung von den Kommunarden haben, niemand konnte ihnen die Inbrunst absprechen, mit der sie für ihre Sache kämpften. Und zwar nicht nur die Angehörigen ihrer Garde Nationale und deren aus der regulären Armee rekrutierten Angehörigen – auch -1740-
Zivilisten jeden Alters eilten zur Verteidigung von Paris. Manche ihrer Vorgehensweisen mögen unnötig gewesen sein wie zum Beispiel das Errichten von Barrikaden in fast jeder Straße, bloß weil ihre revolutionären Vorväter das getan hatten – und manche erwiesen sich als geradezu töricht wie zum Beispiel das Ausheben von Gräben quer über die Avenue de l’Imperatrice, weil man hoffte, angreifende feindliche Kavallerie würde hineinfallen –, doch über die ernste Entschlossenheit der Verteidiger konnte niemand einen Zweifel hegen. Die inneren Barrikaden wurden zumeist von älteren Männern, jungen Knaben und Frauen bemannt, und viele der Frauen taten es der Liberte auf Delacroix’ hochgeschätztem Gemälde nach, setzten phrygische Mützen auf und öffneten sich das Mieder, so daß eine Brust frei heraushing. Da fast alle Frauen groß und stämmig waren, sollten ihre ledrig hängenden Brüste ihre männlichen Waffengefährten offensichtlich mehr inspirieren denn aufreizen. Die uniformierten Truppen in den äußeren Pariser Bastionen wurden mit den frühen Ausfällen von Thiers’ Versailler Verbänden relativ leicht fertig und verfolgten die Angreifer bei deren Rückzug sogar häufig über die eigentliche Stadtgrenze hinaus. Das war zwar mutig, aber auch töricht, denn bei solchen Verfolgungen wagten sich regelmäßig einige Kommunarden zu weit vor, so daß sie abgeschnitten und gefangengenommen wurden. Und statt sie in Versailles als Kriegsgefangene einzusperren, ›verloren‹ ihre Häscher sie unvorsichtigerweise häufig an die Versailler Bürger. Da die Pariser diese während der Belagerung durch die Deutschen als ›strohdumm‹ und ›verbohrt‹ verteufelt hatten, malträtierten sie jeden der Gefangenen, der ihnen in die Hände fiel – schlugen ihnen den Schädel ein, rissen ihnen die Ohren ab, machten Hackfleisch aus ihnen und ließen sie auch sonst ihre Verachtung spüren. Als diese Schindereien in Paris bekannt wurden, erklärte der Procureur Rigault, für jeden Kommunarden, der in Versailles stürbe, würden drei von den in Mazas Gefängnis inhaftierten -1741-
Geiseln hingerichtet. »Ich schwöre«, sagte Yount, als Sunday dies aus Le Cri du Peuple vorlas, »ich hab’ noch nie zuvor ein solches Tohuwabohu erlebt, bei dem alle Beteiligten sich wie abgefeimte Bösewichter benommen hätten – weder in Mexiko, noch im Yankee-Land, noch im Indianergebiet.« »Ach, es sind keineswegs alles Bösewichte, Obie«, sagte sie schelmisch. »Hier steht zum Beispiel ein Bericht, warum eine gewisse Mademoiselle Papevoine zur Heldin der Kommune erklärt wurde – weil sie auf der Barrikade, auf der sie Dienst tat, die unerschrockenen Verteidiger von Paris damit aufgerichtet hat, daß sie während einer einzigen Wache bis zu achtzehn von ihnen zu Willen war.« »Miss Sunday!« rief Yount entsetzt aus. »Solche Schundblätter dürften Sie überhaupt nicht lesen!« Immerhin gab es laut Monsieur Nadar, dem einzigen Pariser, der sich in diesen Tagen bis zum Bois hinauswagte, wenigstens einen echten Helden in den höheren Rängen der Kommune. Eines Maiabends waren er, Florian, Edge und Fitzfarris im Kochzelt dabei, Pikett zu spielen und dem ewigen Grollen der Kanonen im Westen zu lauschen, als Nadar sagte: »Eigentlich stünde zu erwarten, daß die herrschenden Kommunarden ihre Stellung als Emporkömmlinge ausnutzten, um alte Rechnungen zu begleichen, ihre Blutrünstigkeit zu befriedigen oder sich zu bereichern. Doch derjenige von ihnen, der jede Bank und jedes Konto in Paris plündern könnte – Finanzminister Tourde –, bleibt den Ideen eines idealen Kommunismus treu. Er wohnt weiterhin in seiner armseligen Mietwohnung, und seine Frau geht immer noch ihrem Beruf als Waschfrau nach.« »Wie kann man nur so dumm sein«, sagte Fitzfarris, der gerade austeilte und kein Hehl daraus machte, daß er schummelte. »Wenn man Pflaumen pflücken kann, soll man -1742-
Pflaumen pflücken, sage ich. Ich selbst verliere aus Mangel an Gelegenheit schon jede Lust dazu, verdammt noch mal!« »Jawohl!«, sagte Florian lachend, »carpe diem und caveat emptor. Weißt du noch, Sir John? Wie wir beide uns als Ärzte ausgegeben haben, weil wir uns Kranke ansehen wollten – und uns dabei diese Abnormität aus der Klapsmühle holten?« »Nein«, sagte Fitz. »Was? Das weißt du nicht mehr?« »Nein, das haben wir gar nicht getan. Ich erinnere mich nur, daß du mal so was erzählt hast.« »Wirklich nicht? Ich könnte schwören ...« Wie abwesend fummelte Florians Rechte mit den Karten herum. »Nun ja, dann werde ich es wohl irgendwann in früherer Zeit mit irgendeinem anderen Bauernfänger gemacht haben ...« »Eh, bien«, sagte Nadar. »Wenn Minister Tourde noch einen Griff in die Kasse machen und sein Schäfchen ins trockene bringen will, muß er sich beeilen. Carpe diem, wie Sie sagen, mon vieux. Viel Zeit wird ihm nicht mehr bleiben. Die Kommunarden beweisen fanatischen Mut und Entschlossenheit, aber an eines hat die Stadt beim Aufstocken ihrer Vorräte nicht gedacht, an Munition. Die neigt sich allmählich dem Ende zu. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Kommune fällt.« »Für mich kann sie gar nicht früh genug fallen«, murmelte Edge, ließ sich darüber jedoch nicht weiter aus, denn nicht einmal Nadar hatten sie von der Auseinandersetzung mit dem sogenannten Komitee für Öffentliche Sicherheit erzählt. Als Sunday am nächsten Tag die Zeitungen auf den Festplatz brachte, ging sie, ehe sie den anderen vorlas, zu Florian und erklärte feierlich: »Ich wollte dir mein herzliches Beileid aussprechen, Mr. Florian. Die große Meldung des Tages ist, daß Frankreich Deutschland gegenüber die Waffen gestreckt hat. Es ist alles -1743-
abgemacht, und Jules Favre ist nach Frankfurt abgereist, um die Übereinkunft mit Kanzler Bismarck zu unterschreiben.« »Und warum, meine Liebe, willst du ausgerechnet mir dieses Beileid aussprechen?« »Frankreich wird Deutschland irgendeine unglaubliche hohe Entschädigung zahlen. Aber schlimmer noch, es tritt dein Elsaß an Deutschland ab. Und noch ein Stück von Lothringen dazu. Es tut mir aufrichtig leid ...« »Nun, vielen Dank, meine Liebe. Aber vielleicht hat das Elsaß gar nicht mal soviel dagegen. Französischer Nationalismus bringt heutzutage wenig Ehre. Zweifellos hebt die Kommunarden-Presse ein großes Geschrei wegen dieser Abtretung an, doch tut sie das nur, um die öffentliche Meinung noch mehr gegen die republikanische Regierung zu mobilisieren. Doch überraschen tut mich die ganze Sache nicht.« Mürrisch kratzte er sich den schütteren Kinnbart und sagte dann mehr zu sich selbst als für sie bestimmt: »Was mich allerdings nachgerade doch überrascht, ist, daß ich ein Alter erreicht habe, in dem mich nur noch so wenige Dinge überraschen.« Und in der Tat – als Sunday ihn verließ, sah Florian wirklich sehr alt und gebeugt aus. Seit sie zurückdenken konnte, war es das erstemal, daß man ihm jedes einzelne seiner Jahre ansah.
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16 Als die Garde Nationale sich vor der Übermacht der Versailler Verbände aus den Forts und den vordersten Linien zurückzog und die Republikaner immer weiter nachrückten, schienen die Anführer der Kommune beschlossen zu haben, die Stadt nicht zu übergehen, sondern sie aus Trotz und Verbitterung in Schutt und Asche gehen zu lassen. Am 16. Mai versammelte sich eine große Menschenmenge auf der Place Vendome und brach in ohrenbetäubenden Jubel aus, als die endlich durchgesägte Säule umfiel und zerbrach, Napoleons lorbeergekränztes Haupt abbrach und in die Gosse rollte. Zwei Tage später verschwendeten die Kommunarden einen Teil ihres zur Neige gehenden Pulver- und Dynamitvorrats, um die einstige kaiserliche Ecole Militaire am Champ de Mars in die Luft zu jagen. Doch reichte der Sprengstoff nur, um das Innere zu verwüsten; die klassische alte Fassade sowie die Außenmauern blieben stehen. Deshalb griffen die Kommunarden auf simple Brandlegung zurück; Zivilisten wurden für zwei Franc pro Tag als Petroleurs und Petroleuses engagiert, um Petroleum in die unbedeutenderen Regierungsbauten zu gießen und sie in Brand zu setzen. Am 21. Mai stießen die Vorauseinheiten der Versailler von Westen her in die Stadt vor und betraten sie durch den südlich vom Bois de Boulogne gelegenen Point du Jour. Die Leute vom FLORILEGIUM sahen vom Festplatz aus, wie eine Gruppe von Kommunarden an diese Front geworfen wurde; dabei handelte es sich um ein sehr gemischtes Aufgebot aus Nationalgardisten, regulären Soldaten und Zivilisten, die alle möglichen Waffen trugen, von modernen Gewehren bis zu alten Musketen, Sensen und Keulen – sahen, wie sie an der Ostseite des Parks den Boulevard Suchet hinunterliefen. Auffällig war an der ganzen Sache, daß die Gruppe angeführt wurde von mehreren Dutzend zerlumpter und schwacher alter Weiber. Diese Frauen zogen -1745-
mitnichten freiwillig in den Kampf, es handelte sich um Bettlerinnen und heruntergekommene Leute, die man irgendwie aus ihren halb verfallenen Behausungen herausgeholt hatte. Die unglücklichen Alten wurden von den bewaffneten Kommunarden als lebendiger Schild vor sich hergetrieben, wobei man davon ausging, daß die Versailler ritterlicher sein würden als sie es waren und nicht auf Greisinnen schießen würden. Doch das erwies sich, wie den Circusleuten aufging, als sie Schüsse hörten, als Trugschluß. »Himmel!« knurrte Yount. »Wie ich gesagt hab’, in diesem Krieg kämpfen überhaupt nur Schurken und anderes Gelichter.« Als die Nacht hereinbrach, hatten die Versailler sich ihren Weg durch die eleganten Wohnviertel von Auteuil und Passy bis zur Iena-Brücke freigekämpft; die Brücke lag etwa anderthalb Kilometer östlich vom Festplatz des FLORILEGIUM. Auf Befehl des Procureur Rigault hatten die Petroleurs die beiden großen Schlösser – die Tuilerien und das Palais Royal – in Brand gesteckt; ganz Paris war nächtens in das gespenstische Licht dieser Fackeln gebadet. Die unnatürlich helle Nacht wich bei Tagesanbruch einem unheimlich düsteren Tag; denn Sonne und Himmel waren hinter einer ausgedehnten Decke aus Rauch kaum zu erkennen. Noch trüber wurde der Tag, als Rigault befahl, auch noch die anderen bedeutenden Gebäude der Stadt anzuzünden – das Hótel de Ville, das Außenministerium am Quai d’Orsay, das Palais de Justice und die Bibliothek des Louvre. Was einst das Herzstück der Stadt gewesen war, bildete jetzt einen gigantischen Scheiterhaufen, und die Rauchsäulen, die gen Himmel stiegen, waren ein Fanal, auf das die Republikaner zustrebten, als sie nunmehr auf beiden Seineufern vorrückten, wobei sie an diesem Tag auf dem rechten Seineufer bis zum Are de Triomphe gelangten und auf dem linken bis zum Invalidendom. Die Kämpfe waren so rasch am Bois vorübergegangen und woanders fortgesetzt worden, daß das FLORILEGIUM nunmehr -1746-
sicher hinter den Linien lag und die Circusangehörigen froh waren, aus der Gefahrenzone heraus zu sein und nicht gezwungen worden waren, sich auf irgendeine Seite der Kämpfenden zu stellen. Sie konnten auf dem Festplatz in Ruhe abwarten, wie das Ganze ausgehen würde. Noch mehrere Tage lang hörten sie, wie der Kampfeslärm der Stadtmitte immer näherkam, während weitere Rauchsäulen von Gebäuden aufstiegen, die von ihren ›Verteidigern‹ in Brand gesteckt worden waren. Als die Kommunarden weiter und immer weiter zurückgedrängt wurden – auf der einen Seite des Flusses den eleganten Faubourg St. Honore entlang und auf der anderen Seite durch das Gassengewirr von Montparnasse –, konnten sie endlich ihre vielen Barrikaden nutzen. Sie kämpften dahinter, bis sie überwältigt wurden, dann zogen sie sich zur nächsten zurück, und ihre Frauen hinter ihnen rissen das Straßenpflaster auf und warfen Mobiliar aus den Häusern, um neue Barrikaden errichten zu können. Präsident Thiers selbst kam nicht näher heran als bis zu dem eingenommenen Fort Mont Valerien westlich des Bois. Als er von dort auf Paris hinabblickte – das zerstört wurde, bloß damit es nicht in seine Hände fiel –, gab er an seine Generale die Parole aus: »Je serais sans pitie«, und so waren seine Versailler Truppen wie auch ein Regiment der Fremdenlegion in der Folge denn auch wirklich ohne Erbarmen. Genauso, wie sie nicht gezögert hatten, die alten Frauen am Point du Jour niederzukartätschen, zauderten sie auch nicht, verwundete oder hilflose Gegner niederzumachen, Gegner, die versuchten, sich zu ergeben, barbusige Mesdemoiselles Liberte und überhaupt jeden, der auch nur so aussah, als könnte er ein Gegner sein. Was wiederum zur Folge hatte, daß ein zornglühender Procureur Rigault die Erschießung aller seiner illustreren Geiseln befahl: des Erzbischofs Darboy, das Cure Duguerry, des Stadtverordneten Bonjean, des Generals Bergeret und dreiundvierzig anderer. Danach verließ Rigault, angetan mit der -1747-
Uniform eines Majors der Garde Nationale, die Prefecture Centrale, gab Befehl, sie genauso in Brand zu stecken wie das danebengelegene Arsenal, und ging, die Verteidigung seines eigenen Quartier zu leiten. Welch kurzen Widerstand er auch noch auf die Beine gestellt haben mag, es war einer der letzten, den die Kommune leistete, denn das ganze linke Seineufer war bereits am nächsten Morgen in der Hand der Republikaner. Nur im äußersten Osten, dem Arbeiterviertel Belleville, wurde noch gekämpft. Jedesmal, wenn sich in den Schießereien eine Pause ergab, konnten die Kämpfenden hören, wie ein Bayerisches Regiment, das eben außerhalb der Stadtgrenzen kampierte, sich die Zeit mit einem Platzkonzert vertrieb. Noch am selben Tag sahen die Angehörigen des FLORILEGIUM den Hauptkampfverband der Republikaner am Bois vorübermarschieren, um Paris zu besetzen. Angeführt wurde er von einem strengblickenden, gerade wie ein Ladestock auf seinem Pferd sitzenden Offizier, der, wie Yount sagte, »genauso soldatisch aussah wie General Lee«, und der für ihn von LeVie als Marechal MacMahon identifiziert wurde. Am Sonntag, dem 27. Mai, stürmten die Versailler – in der Rue Ramponeau, zwischen der Höhe von Chaumont und dem Friedhof Pere Lachaise – die letzte Pariser Barrikade der Kommunarden und stellten fest, daß sie von einem einzigen Mann verteidigt wurde. Trotzdem konnten die Leute vom FLORILEGIUM aus jedem Stadtviertel immer noch einzelne Gewehr- und Pistolenschüsse hören – und aus den östlichen Bezirken weiter in der Ferne Salven, die regelmäßig etwa alle fünf Minuten ertönten. »Was mag das sein?« fragte jemand. »Erschießungskommandos, nehme ich an«, sagte Edge. »Die anderen, die einzelnen Schüsse stammen vermutlich von Gruppen, die die Stadtviertel durchkämmen und von den letzten Unentwegten säubern. Nur kann ich nicht glauben, daß so viele -1748-
Kommunarden sich eingegraben haben sollten und ausharren.« Was es damit auf sich hatte, erklärte Monsieur Nadar vier Tage später, als er dem Festplatz zum erstenmal seit Beginn der Einnahme von Paris durch die Republikaner wieder einen Besuch abstattete. Er war vom Seidenhut bis zu gamsledernen Gamaschen wieder schmuck gekleidet, trug sein quadratisches Monokel und ließ ein Spazierstöckchen wirbeln. Wie gewöhnlich erstattete er mit verzogenem Gesicht einen wortreichen Bericht über vieles, das sich auf der anderen Seite des Bois zugetragen hatte. »Wie Sie vermutet hatten, handelte es sich um Erschießungspelotons, Colonel Edge. Auf dem Pere Lachaise gibt es eine Mauer, die sich dafür vorzüglich eignet. Und bei den anderen, den vereinzelten Schüssen, handelt es sich, wie Sie auch richtig vermuten, um Schüsse von rachelüsternen Provinzlern, die als Soldaten noch die letzten Funken der Kommune austreten – und helas! – viele andere Funken auch. Sie haben praktisch jeden Bewohner zum Verhör und zur Untersuchung bestellt – nicht einmal meine erhabene Wenigkeit und die mächtige Madame Nadar ausgenommen, können Sie sich das vorstellen? – und dann jeden erschossen, der noch einen Fetzen Uniform der Garde Nationale trug, selbst Militärstiefel, die er vielleicht unschuldig einem Gefallenen abgenommen hatte, und jede Frau, bei der man einen Wachsstock oder eine Schachtel Allumettes fand, denn schließlich könnte es sich um eine ehemalige Petroleuse handeln! Jetzt durchkämmen die Versailler die Militärlazarette, fangen am einen Ende des Saales an, gehen ihn ganz durch und geben allen Bettlägerigen den coup de gráce – wobei es gleichgültig ist, ob es sich um Kommunarden oder noch von den Deutschen verwundete Soldaten handelt. Zut alors, aber den Bauernlümmeln macht ihr Besuch in der Hauptstadt ausgesprochen Spaß!« Woraufhin Yount es wiederum gequält entfuhr: »Wie ich gesagt habe, nichts als Schurken und anderes Gelichter!« -1749-
»Nun, das sind nun mal die Wechselfälle des Krieges!« sagte Florian aufseufzend. »Mais non, ami«, sagte Nadar. »Da stimme ich Monsieur Tremblement de Terre zu. Ich selbst schäme mich für meine Landsleute. Lassen Sie mich das verdeutlichen. Als der Procureur Rigault auf die Barrikaden ging, wurde er von einer Versailler Patrouille gefangengenommen. Als namenloser Offizier hätte man ihn einfach zu einem Kriegsgefangenen machen können. Doch er gab sich trotzig zu erkennen und wurde sofort mit einem Kopfschuß umgebracht. Seine Leiche blieb auf der Straße liegen. Der Unhold hat weiß Gott nichts Besseres verdient; doch zumindest hat er Mut bewiesen und zu seiner Überzeugung gestanden. Als die Patrouille der Republikaner weiterzog, kamen alle, die in diesem Quartier wohnten, aus ihrem Versteck gekrochen, um seinen Leichnam mit Füßen zu treten und zu bespucken. Dabei handelte es sich um Rigaults Nachbarn aus seinem Arbeiterviertel, die zuvor unglaublich stolz auf diesen Jungen, der es zu was gebracht hat‹ gewesen waren; solange er in Amt und Würden war, haben sie speichelleckerisch viele seiner Missetaten bejubelt! Merde et plus de merde!« »Aber immerhin ist die Kommune erledigt«, sagte Florian. »Dieser Schandfleck auf dem Schild Frankreichs ist getilgt.« »Die Kommune ist erledigt, oui, aber es kann sein, daß der Schandfleck nur langsam verschwindet«, sagte Nadar. »Die Kommune hat zweiundsiebzig Tage gedauert, und nach meiner Schätzung hat das rund fünfhundert Pariser das Leben gekostet. Jetzt haben die Versailler Republikaner rund fünfzigtausend Gefangene zusammengetrieben. Der gute und anständige Marechal MacMahon möchte sie am liebsten alle nach Neukaledonien in die Verbannung schicken, damit sie den Rest ihres Lebens damit zubringen, Koskosnüsse zu Kopra zu verarbeiten. Aber MacMahon ist außerstande, dem wahllosen Töten seiner Soldaten ein Ende zu bereiten, denn diese werden -1750-
von dem rachelüsternen Thiers dazu ermutigt. Der Zoll, den das fordert, kann sich auf zwanzigtausend Menschen belaufen. Viermal soviel Blutvergießen wie in der bisher schändlichsten Pariser Zeit, der Schreckensherrschaft vor achtzig Jahren.« Edge verzog angewidert das Gesicht, sagte jedoch: »Nun, wenn Sie sich sicher fühlen, wie ein Boulevardier herumzulaufen, Monsieur Nadar, kann ich ja wohl auch mal in die Stadt gehen und mich umsehen.« »Ach ja, es gibt wahrlich viel zu sehen. Selbst die neuen Ruinen sind pittoresk. Der Steinhaufen der Tuilerien, die Trümmer des Hótel de Ville es handelt sich ja nicht nur einfach um steinfarbene Steine. Das Petroleum, dem sie zum Opfer fielen, hat sie wunderschön glasiert. Rot, Grün, Blau. Trotzdem würde ich Ihnen raten, sich noch nicht hinzuwagen. Wer nicht akzentfreies Französisch spricht, sollte nicht einfach so herumlaufen. Niemand, der sich nicht eindeutig als Franzose und als standhafter Gefolgsmann von President Thiers ausweisen kann, sollte das tun.« »Richtig – bleib lieber hier, Zachary«, sagte Florian. »Ich selbst gebe einen besseren Heuchler und Franzosen ab als du. Ich werde hingehen. Mal sehen, in welcher Verfassung die Bevölkerung ist.« Er hielt inne und sah seine versammelten Abteilungsleiter an. »Inzwischen kann uns jedoch nichts davon abhalten, unsere Proben wieder aufzunehmen und alles für die erste Vorstellung vorzubereiten. Wenn dieser Alptraum endlich vorbei ist, wird Paris sich auf irgendeine Weise erholen wollen nein, erholen müssen. Man wird die Neugeburt der Stadt feiern wollen, die Wunden des Bruderzwists heilen, die Leute sich wieder an ein normales Leben gewöhnen lassen. Jawohl! Wir eröffnen am ersten Tag, an dem dies möglich erscheint.« Er winkte Stitches Goesle herbei, nahm Papier und den letzten Stummel seines Zimmermannsbleistifts zur Hand und begann zu skizzieren: -1751-
»Du, Zeltmeister, läßt deine Racklos mit dem Malen von Plakaten beginnen. So ungefähr – auf der eine große Siegesparade von FLORIANS FLORIERENDEM FLORILEGIUM angekündigt wird. So viele, wie deine Böhmen schaffen. Die Männer sollen die Stadt zum frühest möglichen Zeitpunkt damit vollkleistern.« »Äye, aye, Governor!« sagte Goesle und sah ihm beim Zeichnen zu. »Ah, l’optimiste«, murmelte Nadar lächelnd. »Eternellement l’optimiste!« Doch Fitzfarris sagte: »Governor, ist das nicht ein bißchen voreilig? Woher wollen wir wissen, wie dieser Alptraum noch endet? Mein Gott, dies ist die vierte Regierung, die wir erleben, seit wir hergekommen sind. Wie kommst du darauf, daß es wirklich schon die letzte ist? Oder daß Paris jemals zur Normalität zurückkehrt?« »Nenn das das untrügliche Gespür eines alten Circusmannes, Sir John«, sagte Florian. »Ich weiß es einfach, daß diese Stadt bald wieder circusreif ist. Ich habe da ein unheimlich gutes Gefühl. Sorge du dafür, daß alle deine Phänomene und Abnormitäten bei der Parade vorzeigbar sind. Die Prinzessin Brunhilde leidet zwar in letzter Zeit unter Morgenübelkeit, doch dieses Stadium ihrer Schwangerschaft sollte sie bald überwunden haben. Sprich mal mit ihr. Aber, bitte, mit viel Zartgefühl vorgehen!« Hochmütig sagte Fitz: »Bin ich jemals anders als rücksichtsvoll mit jemand umgegangen?« und stapfte hinüber in den Anbau. Woraufhin Florian sich Beck zuwandte: »Kapellmeister, übe mit deinen Musikanten irgendeinen politisch neutralen Siegesmarsch ein. Vielleicht den ›Garry Owen‹ oder ›Marching through Georgia‹ ...!« »Jawohl, Herr Direktor!« -1752-
»Und würdest du, Colonel Ramrod, dich in meiner Abwesenheit um die anderen kümmern? Abdullah und seine Kutscher sollen die Tiere für die Parade herausputzen. Laß deine Artisten im Kostüm antreten und vergewissere dich, daß die Garderobiere für Ausbesserungen zur Verfügung steht!« »Wird gemacht, Governor!« »Eh bien«, sagte Nadar. »Wie ich sehe, ist man hier wenigstens zur Normalität zurückgekehrt. Ich freue mich, Messieurs, Sie am Tag der Parade alle en grande tenue zu sehen.« Während er mit Florian davonging, unterhielten sich die beiden, und Nadar sagte: »Leider muß ich Ihnen sagen, mon vieux, daß nicht einmal ein Franzose zu sein in der letzten Zeit eine Sicherheitsgarantie gewesen ist. Einer der letzten, die auf den Barrikaden starben, war der alte Maitre Auber, wie ich zu meinem Leidwesen sagen muß. Armer Daniel, aufgrund der Ereignisse und Entbehrungen war er schon ziemlich durcheinander. Zuletzt ist er völlig übergeschnappt und rannte in seiner Verwirrung hinaus zu denen, die in der Rue Saint Georges kämpften. Können Sie sich vorstellen, daß irgendein Franzose auf diesen gebrechlichen und weißhaarigen alten Herrn anlegt? Und doch ist genau das geschehen. Andererseits sind echte französische Verräter der Rache entgangen. Der Kommunardenmaler Courbet, der Widerling Paul Verlaine – beide haben sich aus der Stadt stehlen und verbergen können. Helas, es sind immer die falschen, die es trifft ...« Als Pemjean in seinem roten Demon-Debonnaire-Kostüm aus der Maringotte heraustrat, die er gemeinsam mit Monday bewohnte, sagte er zu Edge: »Monsieur le Directeur, würdest du die Mademoiselle Cendrillon von dieser Inspektion dispensieren? Sie ist leicht indisponiert.« »Es ist hoffentlich nichts Ernstes. Und hat doch hoffentlich -1753-
nichts mit ihrem Rücken zu tun oder ...« »Es geht um keine besonderen Beschwerden, denke ich. Ihren eigenen Worten zufolge ist sie nur wegen irgend etwas niedergeschlagen und möchte allein gelassen werden.« Edge murmelte: »Großer Gott! Jetzt spielt sie wieder Maggie Hag.« »Comment?« »Nichts, nichts. Gehen wir und sehen wir uns deine Tiere an.« Im Stallzelt trat Hannibal von einem Fuß auf den anderen und machte ein unglückliches Gesicht. »Mas’ Zack, Mr. Demon, irg’ndwer muß unsere Tiere verhext ha’m. Die Raubkatz’n tigern in ihr’n Käfig auf un’ ab, selbst öle Maximus, der sich sonst kaum noch aufn Bein’n halt’n kann. Die Gäule wiehern un’ benehm’ sich ganz sonderbar, sogar die Zebrapferde. Un’ sieh sich einer mal die Elefant’n an!« Die beiden Elefanten hatten die Augen geschlossen und stießen beide einen Laut aus, der sich wie ein tiefes, nachdenkliches Summen anhörte, wobei sie ihr Gewicht völlig im Einklang miteinander von den rechten Beinen auf die linken verlagerten und umgekehrt und ihre Rüssel locker hin- und herschwangen. Edge vermochte nicht zu entscheiden, ob er den Geruch der Erregung der Tiere in der Nase hatte, oder ob Vorahnungen á la Maggie ihm zusetzten, doch die Nackenhaare sträubten sich ihm. Aber um Hannibal nicht noch weiter aufzuregen, fragte er: »Bist du sicher, daß ihnen niemand Narrenkraut ins Futter getan hat oder Rittersporn oder so was?« »Nawsuh, Mas’ Zack. Diese Tiere sinnich krank oder vergiftet – verhext sin’ sie! So ha’m sie sich noch nie aufgeführt! Ich hab’ richtig Angst, ihn’ mitt’m Striegel zu nahe zu komm’.« »Na, schön, Abdullah, dann laß sie in Ruhe. Ich werde den -1754-
Governor bitten, sie sich mal anzusehen, sobald er zurück ist. Behaltet ihr sie nur im Auge! Notfalls die ganze Nacht über; ihr könnt euch ja ablösen. Und sag mir Bescheid, sollten sie noch unruhiger werden.« Der Rest des Tages verging mit Proben, der Überprüfung der Kostüme, der Requisiten und Geräte. Als abends der Wimpel über dem Kochzelt hochging, versammelten sich alle dort zum Essen und gingen hinterher in ihre Wohnwagen oder legten sich in den Zelten auf eine Strohschütte. Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als Florian endlich zurückkehrte. Da der Festplatz ruhig, dunkel und fast verlassen dalag, beschloß er offenbar, nicht seinen üblichen Rundgang zu machen, sondern geradewegs zu seiner eigenen Maringotte zu gehen. Edge hatte von Zeit zu Zeit im Stallzelt nach dem Rechten gesehen; da die Tiere zwar immer noch hellwach und unruhig, aber sonst unverändert waren, sah er keine Notwendigkeit, Florian damit zu behelligen. Er ließ den böhmischen Kutscher, der Stallwache hatte, allein und legte sich selbst schlafen. Doch am nächsten Morgen wurden er und die ganze Truppe geweckt oder vielmehr jäh aus dem Schlaf gerissen – von einem Laut, so grauenhaft wie die Dampforgel es nie ganz geschafft hatte. Der Höllenlärm setzte sich zusammen aus Elefantentrompeten, Raubkatzengebrüll, Hyänengekläff, Pferdegewieher und Bärengebrumm; sogar die Strauße stießen einen eigentümlichen Zischlaut aus. Im Stallzelt war die Stallwache vor Schreck aus dem Zelt geflohen. Die Augen wollten dem Böhmen schier aus dem Kopf springen, so stand er da, zeigte in das Zelt hinein und redete unzusammenhängendes Zeug. Doch als die Männer sich hineindrängten, waren die Tiere plötzlich alle wieder ganz ruhig, kauten auf Heu oder anderem Futter herum, während einige sogar sich endlich zum Schlafen niederlegten. Noch während die Männer die Tiere anstarrten und wegen der Störung ihrer Nachtruhe unterdrückt fluchten, erstarrten sie neuerlich durch den Laut einer Frauenstimme, die -1755-
schrie: »Florian! Ach, Florian!«, woraufhin alle wieder ins Freie stürzten. »Er ist spät heimgekommen«, berichtete Daphne. »Er hat mit Nadar in der Stadt gegessen. Er war abgespannt, und da ... da sind wir zu Bett gegangen. Aber er hat nicht gut geschlafen.« Daphne schniefte und tupfte sich mit dem Taschentuch die Nase. »Ich dachte, er redet im Schlaf – bis ich mich aufsetzte und hinsah, und da hatte er die Augen offen. Er sprach ... durchaus klar, jedenfalls überhaupt nicht verschlafen.« Sie hielt einen Moment inne, um sich zu erinnern. »Er redete von Menschen ... nein, stimmt nicht, nicht von ihnen, sondern zu ihnen. Zu Leuten, die vor meiner Zeit beim FLORILEGIUM waren: Solitaire und Paprika und Hotspur. Und zu manchen, von denen ich noch nie was gehört hatte. Er nannte Namen wie Zip Coon und Billy the Kink ... wenn ich ihn recht verstanden habe.« Sie nannte diese Namen in halb fragendem Tonfall und sah die anderen dabei an. Clover Lee und Hannibal Tyree nickten, waren aber außerstande, etwas zu sagen. »Schließlich bin ich eingeschlafen, deshalb weiß ich nicht, ob er überhaupt einschlief. Doch als ich heute morgen aufwachte, war er schon auf und zog sich an. Er stieg in seine schickste Manegenkluft. Er beugte sich über mich, um mir ... um mir einen Kuß zu geben, dann setzte er sich seinen guten grauen Zylinderhut auf und gab ihm munter einen Klaps. Er stieß die Tür auf ... und ich konnte sehen, daß es ein wunderschöner Tag war ...« Sie hielt wieder inne, fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn und schluckte mehrere Male, ehe sie fortfuhr: »Nun ... ein paar von euch müssen ihn dort haben stehen sehen. Als ob er ... zupackte, den Tag umarmte. Dann verschwand er ... und diese schrecklichen Tierlaute drangen herein. Ich sprang zur Tür ... und da lag er zu Füßen des Tritts.« -1756-
Wieder betupfte sie sich mit dem Taschentuch die Lippen, um sie am Zittern zu hindern. »Dann ... kam jemand von euch ... und brachte ihn wieder rein ...« »Obie«, sagte Edge. »Nimm die Kutsche und hole einen Arzt.« Leise sagte Yount: »Zack. Mr. Florian ist tot. Da kann kein Arzt ...« »Ich weiß, daß er tot ist, verdammt noch mal! Ich möchte nur wissen, woran er gestorben ist. Fahr hin und hole diesen Dr. Tonnelier, der Monday Simms behandelt hat. Im MarmottanKrankenhaus. Das ist nicht weit.« »Zachary«, sagte Pemjean gleichfalls leise. »Das war ein Chirurg. Woher soll der wissen ...« »Er war aber ein guter Arzt, zum Teufel! Begleite Obie und zeig ihm den Weg!« »Es war das, was man einen Schlaganfall nennt, Monsieur Edge«, sagte Tonnellier, »oder, wie wir Mediziner sagen, eine Gehirnblutung. Ein Blutgefäß, das im Gehirn geplatzt ist. Die Schwellung des Kopfes sowie die bläuliche Verfärbung reichen zu dieser Diagnose aus, und es bedarf keiner Autopsie, um sie zu bestätigen. Im übrigen steht das ganze im Einklang mit dem, wovon Sie mir erzählt haben, daß er in letzter Zeit etwas phantasiert hat und manchmal etwas durcheinander war. Man kann es wirklich, wie im Englischen einen ›Schlag von Gottes Hand‹ nennen, denn er hat ihn augenblicklich dahingerafft.« »Ohne Schmerzen?« »Das vermag ich nicht zu sagen. Der weiseste Arzt auf Erden wird das nie wissen, ehe er es nicht selbst erlebt hat. Aber ein schneller und gnädiger Tod war es gewiß, das schon. Der allmähliche Verfall seiner Geisteskräfte und seines Körpers sind Monsieur Florian erspart geblieben. Und dazu wäre es gekommen, wenn es sich nur um eine kleine Blutung gehandelt hätte. Jetzt jedoch wird keiner derer, die um ihn trauern, ihn anders in der Erinnerung behalten, als er im Leben war. Ein sehr -1757-
stattlicher alter Herr, wie ich mich erinnere. Wollen Sie, daß ich den Totenschein für ihn ausstelle? Den werden Sie ebenso brauchen wie manches andere – für die Bestattung.« »Das lassen Sie nur unsere Sorge sein, Doktor. Dafür werden wir sorgen, ohne daß die Behörden etwas damit zu tun haben.« »Monsieur Edge, gemäß meiner Approbation muß ich gegen illegales und ungewöhnliches Vorgehen in dieser Hinsicht protestieren. Doch what the hell, wie Sie auf englisch sagen. Wir leben – und sterben – in außergewöhnlicher Zeit, n’estce pas?« »Außerdem war der Verschiedene ein außergewöhnlicher Mann. Vielen Dank, Doktor.« »Gibt es noch etwas, das ich für Sie tun könnte? Bei der jungen Dame, die ihn damals begleitete, habe ich bereits hineingeschaut. Sie wird das Erlebnis überstehen; sie ist Engländerin. Beaucoup de sangfroid.« »Nun, ich hätte gern Ihre professionelle Meinung über etwas anderes gehört. Florian schien keine Ahnung gehabt zu haben, daß er sterben sollte. Jedenfalls ist er nicht rumgegangen und hat zum Abschied irgendwelche Worte von Ewigkeitswert gesprochen.« »Dann denken Sie sich welche aus. Er war ein Unterhaltungskünstler, und jeder Unterhaltungskünstler sollte mit einem besonderen Spruch abtreten.« »Deren gibt es in der Circustradition vermutlich eine ganze Menge. Was ich Sie fragen wollte – die Tiere schienen seinen Tod zu erwarten, desgleichen eine unserer jüngeren weiblichen Artisten. Ist so etwas möglich?« »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, als sich der klügste aller Ärzte träumen läßt. Doch die niederen Tiere – und dazu gehören auch die Frauen unserer eigenen Gattung – stehen der Natur näher als Sie und ich, Monsieur. Ich würde es nicht für unmöglich halten, daß sie instinktiv vor dem Tod von etwas warnen, das ihnen nahe steht und lieb und teuer -1758-
ist. Ich jedoch bin Franzose. Sie müssen solch ein Wunder im Licht Ihrer eigenen Anschauungen deuten.« »Nicht auf einem richtigen Friedhof beisetzen sollen wir ihn, den Herrn Direktor?« rief Beck entsetzt aus. »Aber er war doch kein einfacher Artist! Überlegt doch! Auf dem Friedhof von Montmartre ruht Heine, auf dem Pere Lachaise Abelard und Heloise. Da befände er sich in erlauchter Gesellschaft!« »Komm schon, Bumbum«, sagte Edge. »Du weißt verdammt gut: Würde Florian woanders bestattet als unter seiner eigenen Manege, er würde von Stund an jeden Circus auf Erden als Gespenst heimsuchen. Geh schon und sag Elemer, er soll ein paar schöne getragene Cimbalon-Stücke für die Beerdigung aussuchen. Und Stitches – würdest du wohl ein Leichentuch aus Zeltleinwand nähen? Nimm ein Stück von unserer gestreiften Rundleinwand; das würde ihm gefallen. Und bereite dich auf deine Leichenrede vor, während ich den Leichnam zurechtmache.« »Gern. Aber welchem Glauben hat der Governor angehört?« »Da sind wir beide aufs Raten angewiesen. Entweder hat er keinen anerkannt oder alle – und wie ich meine, nicht nur die christlichen Bekenntnisse. Ich weiß nur eines, er war Freimaurer. Ob es so etwas wie ein Freimaurerbegräbnis wohl gibt?« »Falls ja – den Ritus kenne ich jedenfalls nicht.« »Nun, dann halte eine Rede, die sich an keinen bestimmten Glauben hält. Das hast du doch schon oft genug getan.« »Aye. Und soll ich eine Gedenktafel für ihn schnitzen?« »Das wäre vielleicht ganz passend, ja.« »Kennst du denn seine Lebensdaten?« »Nur das letzte. Wann er geboren wurde, hat er nie gesagt. Ich denke, sein Name und das R.I.P, genügen.« »Und wie hieß er wirklich? Mit vollem Namen, meine ich?« -1759-
Edge stutzte. »Tja, da bin ich überfragt.« Nach einem Moment lachte er: »Da sind wir jetzt über sechs Jahre zusammen gewesen, und ich habe kein einziges Mal darüber nachgedacht, ob Florian nun sein Zuoder Nachname war. Fragen wir mal Clover Lee und Hannibal. Die sind länger mit ihm zusammengewesen als alle anderen – mit Ausnahme von Jules Rouleau, vielleicht.« Doch Clover Lee war nicht minder überfragt als die anderen. Sie konnte nur mit den rotgeweinten Augen blinkern und zwischen Schniefern sagen: »Ist das nicht verrückt? Wir haben ihn nie anders genannt als Mr. Florian.« Hannibal, der sich die Augen förmlich aus dem Kopf weinte, meinte: »Vielleicht war Mister sein Vorname?« Doch auch das half ihnen nicht weiter. »Moment mal«, sagte Clover Lee. »In seinem Konuitenbuch müßte es ja drinstehen. Oder in seinem Paß.« »Das weiß nur der Himmel, wo die sind«, sagte Edge. »Wahrscheinlich sind alle unsere Unterlagen beim Brand der Prefecture Centrale ein Raub der Flammen geworden. Im Roten Wagen habe ich bereits nachgesehen. Dort ist nichts weiter zu finden. Weißt du, das ist wirklich sonderbar, wenn man darüber nachdenkt. Dieser Florian war wirklich was Einzigartiges. Jeder andere vom FLORILEGIUM hat zwei oder drei verschiedene Manegen-Namen außer dem eigenen; und er hatte nicht einmal einen richtigen ganzen!« Goesle fragte: »Dann schnitze ich einfach Florian auf die Gedenktafel?« »Ach, laß das Brett nur, Stitches. Das würde nach unserem Abbau sowieso nicht lange halten. Draußen vorm Festplatz steht noch der Gedenkstein für den ersten Ballonaufstieg. Wenn jemals jemand von uns wieder herkäme und Florian seine Achtung bezeugen wollte, dürfte er kaum Schwierigkeien haben, seine letzte Ruhestätte zu finden.« -1760-
Die Angehörigen des FLORILEGIUM standen um die Grube im Manegenrund und die zu beiden Seiten davon aufgetürmte Erde herum. Die Artisten trugen ihre Kostüme, während die Racklos ihre besten schwarzen Overalls angelegt hatten. Abdullah und Le Demon Debonnaire hatten sämtliche Tiere ins Chapiteau gebracht – sowohl diejenigen, die selbst gingen, als auch diejenigen, die im Käfigwagen gefahren werden mußten. Selbst der Auerhahn fehlte nicht. Die Circuspferde sowie Brutus und Caesar trugen Decken und Schabracken nebst Puscheln auf dem Kopf, und alle Tiere benahmen sich still und durchaus manierlich, so als wüßten sie, um was für eine feierliche Angelegenheit es sich handelte. Obwohl es heller Nachmittag war, hatten Stitches und seine Leute alle Karbidlampen angesteckt. Jetzt richtete einer der Böhmen den Scheinwerfer auf die Gardine vorm Sattelgang, und Colonel Ramrod führte zwei der Pferde herein, die einen von Becks als Katafalk dienenden Gasbereiterwagen hereinzogen. Der in ein lustig grünweiß gestreiftes Leichentuch gehüllte Tote lag auf einem Bahrtuch. Der Scheinwerfer folgte dem langsamen Einzug in die Manege, während Elemer Gombocz an der Piste auf seinem Cimbalon leise Schumanns ›Träumerei‹ spielte. Als der Katafalk neben dem ausgehobenen Grab hielt, traten die Artisten wie die Racklos einer nach dem anderen heran, um Florian Lebewohl zu sagen. Manche murmelten leise etwas, andere schafften es kaum, überhaupt etwas zu sagen, doch manche sprachen auch so laut, daß man sie verstehen konnte: »Governor«, sagte Sir John, »irgendwie beneid’ ich dich um die Himmelswunder und die Pracht, die du jetzt erblickst ... um den Zuschauern im Himmel deine Ansage zu machen. Lebewohl, alter Freund!« »Lieber Florian«, sagte Prinzessin Brunhilde, »du bist der erste Mensch gewesen, der mir das Gefühl vermittelt hat, wie man sich als echte Prinzessin vorkommt. Dosvidänya drot.« Worte, die Kostchei der Todlose wiederholte. -1761-
»Istenhozzad, barät, Florian«, sagte die Zwergin Tücsök, und Elemer sowie die Jäszi-Brüder wiederholten echogleich diese Formel. »Khairete, Kyvernits Florian«, sagte Meli, die Medusa. »Addio ... ed arrivederci, caro Florian«, sagte Emeraldina. »Voi ruga, Florian mosneag«, sagte lona, die Garderobiere. »Glückliche Reise, Freund Florian.« »Adieu, ami, et bon voyage ...« »Taraf, Mas’ Sahib, taraf«, sagte Abdullah. Dann drehte er sich um, und erklärte allen, die es nicht wußten: »Taraf, sagen Elefanten, heißt: ... Komm zurück!« Clover Lee wünschte Florian kein Lebewohl, das man hätte hören können. Statt dessen rupfte sie zwei Pailletten ab, die ihr Oberteil zierten, und warf sie auf das Kopfende der in das Leichentuch gehüllten Gestalt, wo sie lustig im Schein des Scheinwerfers glitzerten. Als alle sich verabschiedet hatten, stellte Zeltmeister Goesle sich neben der Bahre auf, beugte den Kopf, faltete die Hände, schloß die Augen, wartete, daß die anderen es ihm nachtaten, und sagte dann: »Da sind wir wieder versammelt, o Herr! Diesmal stehen wir hier, um Dir zu sagen, daß unser Freund und Mitstreiter Florian sein Chapiteau hienieden abgebrochen hat. Er hat sich auf die lange Reise begeben, seinen endgültigen Festplatz zu erreichen. Nun weißt Du selbstverständlich, Herr, daß Florian auf Erden niemals weit die Arme aufgerissen hätte, freudig sein Ende zu begrüßen. Ein solcher Mann bedarf unserer Fürsprache nicht, nicht einmal dem Allerhöchsten gegenüber. Doch wenn er zu Dir kommt, o Herr, setz Dich von Zeit zu Zeit zu ihm, und teile einen Happen und einen Becher mit Florian. Selbstverständlich wissen wir, daß Du der Governor des größten aller Circusse bist – denn Deiner, das ist die Welt hienieden, die voll ist von -1762-
Akrobaten und Artisten, Musikanten, Seiltänzern und Leuten, die für ihre Sensationsnummer alles aufs Spiel setzen, die Dressurreiter und Abnormitäten, die Racklos und Clowns und alle Arten von Circustieren, die man sich vorstellen kann – und die alle um Deine große Piste herumtraben, oder Deine große Sideshow füllen oder in der Fülle Deiner Zelte herumstehen. Gut möglich, o Herr, daß sich FLORIANS FLORIERENDES FLORILEGIUM neben der Unendlichkeit Deines Unternehmens wie eine kleine Klitsche ausnimmt. Trotzdem kann dieser Florian Dir das eine oder andere erzählen, Herr, und nicht nur Circusklatsch, Jägerlatein und dreckige Witze – obwohl Du bei einigen gewiß schmunzeln würdest, da bin ich ganz sicher. Er kann Dir hier und da bestimmt auch einen ganz guten Rat geben, der Dir hilft, Deine Artisten und Racklos bei der Stange zu halten, damit sie Deinem Circus ihr Bestes geben ... und glücklich dabei sind ... und gleichzeitig auch noch den Governor vom Ganzen lieben ... Amen.« Schon wollte Goesle den Kopf heben, doch senkte er ihn sogleich wieder und sagte: »Verdammt, Herr, hätt’ ich’s doch bald vergessen. Um eines möchten wir Dich für unseren Freund bitten. Wenn er sich dem Himmelstor nähert, bitte, laß Petrus es dann ganz weit aufstoßen, damit Florian in Glanz und Gloria seinen Einzug halten kann. Gewähre ihm eine Parade, o Herr!« Während Stitches sprach, hatten ein paar Böhmen Florians Bahre unauffällig mit einem Windenseil verbunden. Jetzt zogen sie daran, und die Bahre wurde von der Longe in die Höhe gezogen, sanft über das ausgehobene Grab gehievt und in die Grube hinabgelassen. Zum erstenmal während der ganzen Zeremonie trat Colonel Ramrod vor, ergriff eine Handvoll Sägemehl, streute dieses auf das grünweiß gestreifte Leichentuch und sprach stockend und heiser die letzten Worte: »Saltavit ... Placuit ... Mortuus est ...« Und einige von den Circusleuten flüsterten für die, die es nicht verstanden, was es hieß: -1763-
»Er tanzte herum. Er bereitete Freude. Er ist tot.« »Wenn bitte alle mal herhören würden«, sagte Edge, als die Böhmen sich still daran machten, das Grab zuzuschaufeln und Erde und Sägemehl darüber zu streuen. »Solange wir alle hier sind ... oder jedenfalls die meisten von uns. Herr Lothar, ich nehme an, Sie können Ihre Stimme für Monsieur Roulette abgeben, und du, Quakemaker, für Miß Eel. Jedenfalls laßt uns alle zusammen entscheiden, was jetzt zu geschehen hat. Ich habe da einige Überlegungen, die ich euch nahebringen möchte; aber ich kann überstimmt werden. So ... diejenigen von euch, die mein Englisch verstehen, würdet ihr bitte für diejenigen übersetzen, die das nicht können?« Er wartete, bis alle aufmerksam zuhörten. »Also, ich habe mir im Kontorwagen die Kasse mit dem Bargeld angesehen. Dazu Florians Papiere und Unterlagen. Bis jetzt habe ich noch keine Gelegenheit gehabt, auch einen Blick in das Versteck unter Maximus’ Käfig dahinten zu werfen, aber sobald ich das getan habe, kann ich euch auf den Penny genau sagen, wie es um unsere Finanzen bestellt ist. Eines aber kann ich gleich jetzt erklären: Florian hat keinerlei letzten Willen oder Testament oder auch nur eine handschriftliche letzte Verfügung hinterlassen, aus der hervorginge, wie er sich das weitere Schicksal des FLORILEGIUM vorgestellt hat. Deshalb meine ich, es wäre nur gerecht, wenn alle – die Racklos Inbegriffen – einen gleichen Anteil von allem erhalten. Falls jemand von euch meint, die Anteile sollten auf andere Weise verteilt werden – entsprechend etwa dem Status oder wie lange einer dabei ist –, so möge er das sagen, und wir stimmen darüber ab. Aber wartet bitte mit Euren Einwänden, bis ich gesagt habe, was meiner Meinung nach gesagt werden muß.« Keiner sagte ein Wort, doch alle sahen ihn eindringlich und – wie er meinte – etwas merkwürdig an. »Wenn ihr alle einverstanden seid, behält jeder von uns das, -1764-
was ihm persönlich oder zu seiner Nummer gehört – Maringottes und Zugpferde, Requisiten, Geräte, Kostüme, Dressurtiere. Alles andere müßte aufgeteilt werden. Das vorhandene Bargeld und zusätzlich alle Erlöse, die die anderen Dinge auf dem Markt erbringen – Vorräte und Tiere, Leinwand und Masten, das Gradin, die Beleuchtung, Wagen und so fort. Meiner Meinung nach werden die anderen Circusunternehmen hier in Paris schnellstmöglich wieder aufbauen und ihre Bestände auffüllen wollen; kann also sein, daß sie uns die Dinge zu einem guten Preis abkaufen. Und das bringt mich zu noch etwas anderem. Einige von euch liebäugeln vielleicht schon mit einem anderen Circus anderswo in Europa, bei dem sie sich bewerben möchten. Aber auch die Circusse hier in Paris sind bestimmt an neuen Nummern und Artisten interessiert; folglich werden sie die Gelegenheit beim Schöpfe packen und jeden unter Vertrag nehmen ... was ist denn los?« Jetzt erst merkte er, daß die anderen laut murmelten. »Was los ist, fragst du?» rief Clover Lee. »Du redest davon, Florians FLORILEGIUM aufzulösen und zu verkaufen!« Ähnliche Betroffenheit wurde in mehreren anderen Sprachen laut. »Naja«, sagte Edge, »wir können schließlich nicht einfach abhauen und alles stehen und liegen lassen, oder?« Weitere Rufe; auf mehrerlei Art wurde gefragt: »Wer will denn abhauen?« »Was dann ...?« wollte Edge sagen, doch Fitz ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen. »Zack, mir scheint, keiner will abhauen oder andere zum Abhauen bringen. Wetten, daß jeder die Hand höbe, wenn du fragtest, wer weitermachen will? Und Hufe und Pfoten desgleichen.« »Alles schön und gut, Sir John. Aber wer drückt ihnen die Gage in diese Hand? Und wer stopft diese Mäuler ...?« -1765-
»Der, der immer gezahlt hat«, sagte Nella. »II Florilegio.« »Falls es eine Frage des Geldes ist, Gospodm Zachary«, sagte die Riesin, »ich würde mit Freuden ...« »Da könnte auch ich aushelfen«, sagte Clover Lee de Lareinty. »Nun hört doch bitte mal alle zu«, sagte Edge geduldig. »Ich habe euch gesagt, daß Florian keinerlei Vorkehrungen für das FLORILEGIUM getroffen hat. Er hatte nicht einmal Familienangehörige, die wir benachrichtigen und mit denen wir uns ins Benehmen setzen könnten. Dieses Unternehmen gehört niemand ...« Er wurde niedergeschrien: »Die Familie, das sind wir!« »Uns gehört es.« »Unsere eigene kleine Kommune bilden, eh?« sagte Edge. »Ihr habt doch gesehen, was für ein Chaos da draußen dabei rausgekommen ist.« Weitere Zwischenrufe: »Keine Kommune!« »Zum Teufel mit einer Kommune!« »Wählen wir eine Regierung!« »Oui, plebiscite!« »Ach, Unsinn, Colonel Zack!« übertönte Yount alles mit dröhnender Stimme. »Es ist doch klar wie Kloßbrühe: Wenn der Kommandeur einer Truppe fällt, übernimmt der ranghöchste Offizier der Einheit das Kommando. Und du bist schon seit einer Ewigkeit stellvertretender Kommandeur!« »Bloß, daß wir hier nicht beim Militär sind, Sergeant. Das hier ist – eine treibende Insel. Bevölkert von Zivilisten. Und Zivilisten haben nun mal was dagegen, wenn ihnen Kriegsrecht oktroyiert wird.« »Es muß nicht unbedingt Kriegsrecht sein, und oktroyiert werden muß es auch nicht«, sagte Jörg Pfeifer. »Du hast doch vorhin von Wahlen gesprochen, Herr Direktor. Sehr wohl, wenn wir wählen, und eine Mehrheit beschließt, daß du Florians Stelle -1766-
einnimmst – würdest du annehmen?« Edge schien unsicher. Da ergriff Daphne das Wort. »Ich behaupte nicht, Florians Witwe zu sein; wohl aber seine Vertraute, jawohl, das war ich. Ich weiß, er hätte gewollt, daß du weitermachst, Zachary. Und im Grund möchtest du das selbst auch.« »Ich weiß nicht, ob ich das könnte, Daphne. Wer, um Gottes willen, würde sich anmaßen, Florians Platz ausfüllen zu wollen!« »Du mußt, Mr. Zack!« drängte Monday ihn. »Sonst könnt’ ich nie wieder auf’n Pferd sitz’n un’ ’ne eig’ne Nummer ha’m.« Auch Hannibal ließ sich vernehmen: »Du mußt wirklich, Mas’ Zack! Du würd’st uns Amrikaner doch nich’ inner Fremde einfach sitz’n lass’n!« »Hm ...«, machte Edge. »Und was ist mit all den Plakaten, die meine Jungs gepinselt haben?« wollte Goesle wissen. »Für die große Parade? Sollen wir die etwa wieder zerreißen?» »Hm ...«, machte Edge abermals. »Ein mutiger Mann«, sagte die kleine Katalin, »sollte keine Skrupel haben, unbescheiden oder geradeheraus zu erscheinen. Da wirkt er nur schüchtern oder erweckt den Eindruck, er möchte umschmeichelt und umworben werden. Das überlaß nur uns Frauen.« Einige lachten. Edge auch, doch voller Unbehagen. »Wenn ihr gestattet!« sagte Willi Lothar und stellte sich vor die versammelte Mannschaft hin. »Ersparen wir dem Colonel, daß er rot wird. Zachary, warum gehen Sie nicht ein bißchen hinaus? Inzwischen erklären wir denen, die kein Englisch können, um was es geht, wägen Für und Wider ab und stimmen schließlich in geheimer Wahl ab. Einverstanden?« Schicksalsergeben zuckte Edge mit den Achseln und verließ -1767-
das Chapiteau durch den Haupteingang, trat ein Stück ins Freie hinaus, so daß er nichts mehr von dem hörte, was drinnen gesprochen wurde. Der wunderschöne Tag neigte sich seinem Ende zu, und Edge ging auf und ab. Er zündete sich eine Zigarette an, hatte sie jedoch noch nicht einmal aufgeraucht, als Yount heraustrat, um ihn zu holen. »Nun, Obie?« »Warum lange fragen? Ich brauch’ dir nicht erst zu sagen, daß die Wahl einstimmig war.« Yount hatte Florians grauen Zylinder in der Hand, den er immer zur Parade trug, und überreichte ihn jetzt Edge. »Alle wollen, daß du die Zügel in die Hand nimmst. Wie Foursquare sagte: Selbst Melis Schlangen hätten die Hand gehoben, wenn sie eine gehabt hätten!« Respektvoll den Zylinderhut in der Hand drehend, ohne ihn indes aufzusetzen, sagte Edge: »Ich weiß bloß nicht, ob ich das schaffe, Obie.« »Unsinn! Ich hab’ dich schon in schwierigeren Situationen ... Himmelherrgott! Schau, dort hinten! Na, wenn das kein Zeichen ist, Zack! Du kannst mir nicht weismachen, daß das kein Zeichen ist! Die guten Zeiten brechen an!« Er rannte zurück ins Chapiteau und schrie: »Hey! Kommt mal alle raus! Und schaut! Und zwar schnell!« Als alle draußen waren, blickten sie in die Richtung, die Yount ihnen wies. Hoch über den grünen Wipfeln der Parkbäume stand leuchtend vor dem blauen Himmel der rotweiß gestreifte Ballon der Saratoga. »Grundgütiger Himmel!« entfuhr es Beck. »Er muß irgendwo ein Gaswerk gefunden haben.« »Der gute alte Jules!« hauchte Clover Lee. »Er ist zurückgekommen, sobald es ihm möglich war.« »Himmelherrgott noch mal!« fluchte Yount leise. »Ich möchte mal wissen, ob er irgendwo Agnete aufgepickt und mitgebracht hat ...« -1768-
»Genau rechtzeitig für die Parade!« sagte leise Sunday. »Die Parade, jawohl ...«, sagte Edge nachdenklich. Und dann munter: »Also schön, Leute. Wo ihr nun abgestimmt habt, daß wir weitermachen machen wir weiter. Banat, ein paar von deinen Leuten sollen sich Monsieur Roulettes Haltetau schnappen. Er will landen, und wahrscheinlich ist er ein bißchen aus der Übung.« »Da, Pana Nadrzizeny.« »Meli, würdest du das Herdfeuer im Kochzelt entfachen? Monsieur Roulette hat vermutlich Hunger und bestimmt großen Appetit auf ein zünftiges Circusessen. Ich für meine Person weiß, daß ich den habe.« »Amesos, Kyvernitis.« »Stitches, und was steht auf diesen Plakaten? Genau, meine ich? Über die Parade?« »Hier haben wir ja eins«, sagte Goesle, nahm es einem Böhmen ab und rollte es auf. »Hm. Aufgepaßt auf die große Siegesparade, die demnächst stattfindet. Ach, das sollten wir nicht offenlassen. Welches Datum haben wir heute – den ersten Juni? Setzen wir sie doch gleich auf übermorgen fest.« Unten auf das Plakat kritzelte er: Samedi 3 Juin und merkte, daß er das mit dem alten Zimmermannsbleistiftstummel tat, den er in Florians Westentasche gefunden hatte. »Laß die Jungs das in großen Buchstaben, so daß es auffällt, unten drunter schreiben!« »Aye, aye, Governor!« Irgendwie schaffte Sunday es, alles in einem Atemzug hervorzustoßen: »Meinst du nicht, der Besitzer von Florians Florierendem Florilegium, Vereinigter Konföderierter Amerikanischer Circus, Tierschau und Erbauliche Ausstellung sollte eine Frau haben?« Dann lachte sie atemlos. »Florian hatte keine.« -1769-
»Florian hatte drei Frauen, das hat er selbst zugegeben. Vier, wenn du Daphne hinzuzählst. Und noch mehr, würde ich wetten. Bloß, daß er nie geheiratet hat. Und von Heiraten habe ich kein Wort gesagt. Wir brauchen nicht erst bei Monsieur le Maire um Urkunden, Zeugen und so weiter nachsuchen. Nur Mann und Frau sein.« Nach einem nachdenklichen Schweigen sagte Edge: »Du bist dir darüber im klaren ... wir könnten nie wieder zurück nach Hause.« »Virginia ist bloß das Land, aus dem ich stamme. Ein Drittel meines Lebens, Zachary, ist dort mein Zuhause gewesen, wo du warst. Das ist die einzige Heimat, die ich mir wünsche. Uns steht doch noch der ganze Rest der Welt offen. Länder, in denen es niemand kümmert ...« Er nickte. »Ich weiß. Florian sprach mal davon, durch die Niederlande zu reisen. Oder nach Ägypten zu fahren. Und in Melis Griechenland sind wir auch noch nicht gewesen. Ebensowenig wie in Magpie Maggie Hags Spanien oder Agnetes Dänemark.« »Und Daphnes England«, sagte Sunday und dachte augenblicklich: Autumns England, und wünschte, sie hätte ihn nicht daran erinnert. So beeilte sie sich, strahlend hinzuzufügen: »Nun, es ist Zeit, sich für die Parade ins Kostüm zu werfen. Der Circus steht an erster Stelle. Was alles andere betrifft ... darüber können wir uns noch den ganzen Rest unseres Lebens einig werden.« »Jawohl. Wir werden die Probleme einfach lösen, wie sie sich stellen. Heute fährst du in der Kutsche mit mir. Komm, laß uns Parade machen!« SALTAVERUNT PLACUERUNT MORTUI SUNT OMNES -1770-
DANKSAGUNGEN Was Grundkenntnisse, technischen Rat und Hilfe vielfältigster Art betrifft, bin ich einer Fülle von Personen und Institutionen zu großem Dank verpflichtet: Dr. Györgyi Berenyi, IBUSZ, Budapest Jim Bonde, Marine World/Africa, USA, Redwood City, Kalifornien Dem Clown- und Circus-Museum, Wien Wylma Davis, Bibliothekarin, Virginia Military Institute Gloria Doyle, Baton Rouge, Louisiana Donald Dryfoos, Donan Books, New York, New York Peggy Hayes, Bibliothekarin, Washington and Lee University Hester Holland, Linda Krantz und Grace McCrowell, Rockbridge, Virginia, Regional Library Albert F. House, Circus Fans Association of America Natalia Kousnetzova, Kurator des Leningrader Staats-CircusMuseums Don Marcks und seinem Circus Report Jack Niblett, Oldbury Warley, West Midlands, England Robert L. Parkinson, Direktor von Circus World Museum and Library, Baraboo, Wisconsin Robert M. Pickral, M. D., Lexington, Virginia Emanuela Radice, Rom Charles Sens, Library of Congress Alexey Sonin, Künstlerischer Leiter des Leningrader StaatsCircus Dr. Mihäly Szegedy-Maszäk, Institut für literarische Studien der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Gordon Van Ness III, University of South Carolina -1771-
... ganz besonders aber meiner unerschrockenen Dolmetscherin in der UdSSR, Zoia Belyakova, die – was meinen Aufenthalt in der UdSSR betrifft – mit allen möglichen Schwierigkeiten einer Zeit ungewöhnlich frostiger amerikanischsowjetischer Beziehungen fertig werden mußte. Was tatsächliche Erfahrungen in der Manege, unterwegs und ›hinter der Gardine‹, Profi- und Insider-Wissen, Kenntnisse über Nummern und Tricks, allgemeines Circus-Geschehen und Abenteuer betrifft, verdanke ich unendlich viel: Jim Roller, Elaine Roller, den Artisten und Mitarbeitern vom Roller Brothers Circus, Arkansas John Pugh, Renee Storey, den Artisten und Mitarbeitern vom Clyde Beatty-Cole Brothers Circus, Florida Hellmuth Schramek, den Artisten (besonders Banda Vidane) und Mitarbeitern von Circus Krone, München Louis Knie vom Circus Knie, Schweiz Den Artisten und Mitarbeitern von Elfi Althoff-Jacobis Österreichischem National-Circus Dem liebenswerten umherziehenden Rest des einst großen Circus Renz aus Berlin Den Artisten und Mitarbeitern des Wandercircus Dumas, Frankreich Der Spanischen Hofreitschule, Wien Den Artisten und Mitarbeitern des Fövärosi Nagycirkusz, Budapest Den Artisten und Mitarbeitern des Leningrader Staats-Circus Den Kustoden und Dozenten, die mir Zugang zu den aus einsichtigen Gründen nicht jedermann zugänglichen Räumen der Schatzkammer der Leningrader Eremitage verschafften Den Artisten und Mitarbeitern des Mayak Wander-Circus der UdSSR -1772-
Rinaldo Orfei, Cristina Orfei, Freddy und Jackie Bovill, Peter und Sue Motley, Rae Dawn Stevens, Adriano sowie anderen Artisten und den Mitarbeitern des Circo Orfei, Italien ... ... und mit einer besonders tiefen, verehrungsvollen Verbeugung vor der goldenen Dame, der schönen, begabten und huldvollen Liana Orfei. G.J.
-1773-