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Roy Palmer 1.
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Roy Palmer 1.
„Also dann - bis später, Schanghai", sagte der eiserne Profos. „Heimweh, Ed?" fragte Ben Brighton. „Was, ich? Nach dem verfluchten Hafen etwa?" „Unter anderem..." „Der Teufel soll's holen. Fast hätten sie mir dort die Haut in Streifen abgezogen. Oh, diese triefäugigen Kakerlaken und Kanalratten." „Ed." „Hör mal, kannst du mich nicht 'ne Weile in Ruhe lassen, Mister Brighton? Ich habe nachzudenken." „Wenn die steife Brise aus Nordwesten anhält, laufen wir gute Fahrt." „Sag mal, hältst du mich für blöd? Weiß ich das etwa nicht?" „In zwei Wochen könnten wir die Philippinen erreichen." Carberry verzog die Narbenwüste, die er in maßloser Übertreibung sein Gesicht zu nennen pflegte, zu einer Grimasse. Furchtbar sah er aus. Wer ihn nicht kannte, konnte Angst vor ihm kriegen. „Schlag dir das aus dem Kopf, Ben. Bis dahin ändert sich das verdammte Wetter mindestens ein dutzendmal." „Wer weiß. Wir könnten aber auch Glück haben und..." „He, hast du einen Stich, daß du so dämlich daherfaselst, oder was ist los? Bist du unter die Landratten gegangen? Oder willst du mich vielleicht ablenken, was, wie?" „Ich? Von was denn?" Ben zog die Augenbrauen hoch. „Tja, weiß ich auch nicht." Carberry blickte voraus. Er stand mit Ben auf dem Quarterdeck der „Isabella VIII." und konnte die gesamte Kuhl, sein eigentliches Reich, überwachen. Aber seltsamerweise nahm er die Männer dort unten kaum wahr. Er fiel nicht mit der üblichen Brüllerei über sie her - und das war bedenklich. Sein Blick verlor sich irgendwo in der Ferne, jenseits des Bugspriets der großen Galeone. „Die Philippinen, wie?" murmelte er. „Weiß der Henker, wo die
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liegen. Hat jemand eine Ahnung, was wir da wollen? Sollen von Dons verseucht sein, die verdammten Inseln, aber viel zu holen gibt's da nicht, schätze ich. Nur Reis, Gemüse, Gewürze und so'n Zeug. Pfui Teufel. Soll mit den Dons zusammen absaufen, der Grünkram.' Sag mal, wo liegen diese Scheiß-Philippinen?“ „Im Süden." „Wo genau? Müssen wir über den Äquator rüber?" „Nein. Das weißt du doch. Auf dem Herweg waren wir ziemlich dicht dran", erwiderte Ben Brighton. „Und du hast doch auch die Karten gesehen, die wir inzwischen von den Chinesen erhalten haben." „Hab die Orientierung verloren`", brummelte der Profos. Er drehte sich um, stapfte zum Niedergang der Backbordseite und stieg aufs Achterdeck. Ben folgte ihm mit ziemlich besorgtem Gesichtsausdruck. Carberry trat weit nach achtern und schien Big Old Shane. Ferris Tucker und den alten Donegal Daniel O'Flynn nicht zu sehen, nicht einmal den Seewolf. Carberry schaute nach Nordwesten. Der Wind blies ihm ins Gesicht und kitzelte sein mächtiges Rammkinn. Carberrys Miene nahm etwas Entrücktes, fast Verträumtes an. Er merkte nicht, wie die anderen hinter ihn traten. Dort, im Nordwesten, hinter der Kimm,: war Schanghai verschwunden. Schanghai am Wangpufluß und Jangtsekiang, Schanghai mit seinen Sampans, mit seinem schnatternden Durcheinander, mit seinen Abenteuern und einem majestätischen schwarzen Schiff, das vier Masten führte fort, weg, aus. Aber die Erinnerung war damit noch lange nicht ausgelöscht. „Schockschwerenot", sagte Carberry leise. Leise, das war bei ihm etwas Besonderes, murmeln, das ließ seine Kameraden besorgt die Stirn runzeln. Denn wenn der Profos brüllte, war er gesund, aber wenn er leise sprach, war er irgendwie krank. Sir John, der karmesinrote Ara, saß in den Besanwanten, spähte zu seinem Herrn hinunter und wagte es in diesem
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Augenblick nicht, zu ihm zu flattern und ihn zu ärgern. Er spürte instinktiv, daß im Moment mit dem Profos nicht gut Kirschen essen war. „Hölle und Teufel", sagte Carberry. .,Hätte nicht gedacht, daß ich dem Nest nachtrauern würde." Shanes Baß ertönte in seinem Rücken. „Nun mal halbe Fahrt, Ed. Du trauerst Schanghai doch gar nicht nach." Carberry drehte sich zu ihm um. Sein Blick streifte auch Ferris, Ben und den alten O'Flynn, die sich zu Shane gesellt hatten. Aus dem Hintergrund näherte sich der Seewolf. Carberry verfluchte sich innerlich, daß er das gesagt hatte und die anderen es aufgeschnappt hatten. Aber jetzt war es heraus. Und er durfte sich keine Blöße geben. Er hatte sich in der Gewalt. Er blickte den zweifelnd blickenden Shane feindselig an. „Soll ich losheulen, um mein Bedauern auszudrücken, du Stint?" Shane grinste. „Das nicht. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß du Schanghai, dem Kuan, den Soldaten, den Kriegsdschunken und den Halunken, die dir ein Pulverfaß an den Hintern gebunden haben, nie und nimmer auch nur eine Träne nachweinst." „Das wäre ja ein Aberwitz", bemerkte Old Donegal „Felsenfest überzeugt. Aberwitz", äffte Edwin sie nach. Er stand breitbeinig da und glich die Schiffsbewegungen geschickt in den Kniegelenken aus. „Was wollt ihr eigentlich beweisen?" „Gar nichts", erwiderte Ferris Tucker. „Aber der Abschied von Siri-Tong und ihrer Crew ist uns genauso schwergefallen wie dir. Jeder von uns hat noch eine Weile daran zu kauen. Nur sollten wir versuchen, das zu vergessen. Und denk doch mal an Hasard. Was soll der denn sagen?" Carberrys Blick warnte ihn. Der Seewolf hatte sie fast erreicht. Sollte man ihm die Trennung von der Roten Korsarin noch erschweren? Gewiß, ein Mann wie der Seewolf durfte nirgendwo eine feste Bindung eingehen. Das war ihm selbst klar, das wußte auch seine Crew, und das
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gehörte zu den stillen Vereinbarungen, die zwischen ihm, Hasard, und Siri-Tong bestanden. Trotzdem, es war nicht leicht, jetzt so einfach davonzusegeln. Sie alle, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen, hatten die gesamte Mannschaft des schwarzen Seglers in ihr Herz geschlossen. Das waren keine simplen Verbündeten auf Zeit gewesen, sondern echte Kameraden. Ganz problemlos war das alles nicht abgelaufen, es hatte beim gemeinsamen Kreuzen in der Karibik, beim Umsegeln der Neuen Welt und schließlich beim Überqueren des riesigen Teiches, den sie Südsee nannten, auch öfter mal Meinungsverschiedenheiten, ja, Streit gegeben. Doch das gehörte dazu. Fest stand, daß die Abenteuer und Entbehrungen beide Crews ziemlich fest zusammengeschmiedet hatten. Bloß eingestehen wollten Hasards Männer es nicht. „Hölle", sagte Carberry mit gespielter Erleichterung. „Im Grunde bin ich ja froh, daß wir wieder allein und unabhängig sind. Wir haben genug am Hals und müssen an uns selbst denken." „Stimmt", pflichtete Ferris, der rothaarige Schiffszimmermann, ihm sofort bei. „Und wenn ich an Thorfin Njal denke - diesen behelmten Nordpolaffen! Gut, daß wir den los sind. In letzter Zeit ging der Bursche mir verdammt auf die Nerven." „Und seine behelmten Landsleute?" sagte Shane. „Elke, Arne, Oleg und der Stör? Jetzt kann ich's ja offen und ehrlich sagen, ich hab die Burschen nie leiden können." Old O'Flynn hieb in die gleiche Kerbe. „Also, der blödeste Hund von allen war ja wohl Juan. So ein Schlitzohr. Und der Boston-Mann, der fast nie was sagt? Hat auch nur einer von uns ihm so richtig über den Weg getraut?" Ben Brighton stellte durch einen raschen Seitenblick fest, daß der Seewolf schräg hinter ihm stehengeblieben war. Ben beschloß, zum Schein mitzuwettern. „Ach wo", erklärte er. „Ich sage euch, die Besatzung des schwarzen Seglers ist ein übles Volk. Ein großer Sauhaufen. Denkt doch mal an Bill the Deadhead, diesen
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Schläger. Oder an Muddi, diese dreckige Ratte. Und Mike Kaibuk? Hat jemand einen ähnlich verschlagenen Typ gesehen? Ganz zu schweigen von Missjöh Buveur, diesem versoffenen Schnapphahn. So was ist doch keine Mannschaft, sondern ein Haufen, bei dessen Anblick sich jedem richtigen Seemann kräftig die Haare sträuben." „So", sagte der Seewolf. Ben verstummte. Die anderen wagten es nicht, wieder das Wort zu ergreifen. Alle fünf fühlten sich plötzlich gar nicht wohl in ihrer Haut. „Mit anderen Worten, ihr wünscht den Männern des schwarzen Schiffs die Pest an den Hals?" Hasards Stimme klang gar nicht mal besonders laut, aber eine Nuance schärfer als gewöhnlich. „Na", antwortete Carberry. „Das nicht gerade. Aber es war ja klar, daß wir diese Schlagetots und Gurgelschneider früher oder später irgendwie abwimmeln mußten." „Angst, Ed?" „Wie, Sir? Was?" „Ich meine, das hört sich ja fast so an, als hättest du Angst vor dem verdammten Sauhaufen." „Nein, Sir", versicherte der Profos. Er hob den Kopf. „Nicht die Bohne, Sir. " „Schlagetots und Gurgelschneider - zählst du denn Siri-Tong auch dazu?" Carberry lief ein bißchen dunkel im Gesicht an. Fast hätte er sich verschluckt und losgehustet. Jawohl, er hatte sich mal wieder in den unsichtbaren Netzen verfangen, die der Seewolf auswarf, und mit dem Stiefel war er in einen Kübel Fett getreten, mitten hinein. „Der Schlag soll mich treffen, wenn ich das tue. Auf der Stelle." Der Schlag traf den Profos jedoch nicht, seine Behauptung schien also aufrichtig zu sein. Hasard fuhr sich mit der Hand übers Kinn, und Carberry hielt es für angebracht, sich mit dem Handballen die große Nase zu reiben. Flink sah der Profos zu den anderen. Die tauschten auch Blicke aus. Hölle, auf was hatten sie sich da
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eingelassen, in was für eine Sache hatten sie sich bloß verheddert? „Siri-Tong kommt bei eurer Beurteilung also ein bißchen besser weg", sagte Hasard. Sie nickten, und Ferris Tucker erwiderte: „Sehr viel besser. Wir alle wissen doch, daß sie eine bewundernswerte, einmalige, phantastische Frau ist! Eine Schönheit, wie man sie nicht zum zweitenmal auf der Welt trifft!" „Und dieses Wunderwesen soll sich ausgerechnet einen Sauhaufen von blutrünstigen Kreaturen ausgesucht haben, um ein Schiff wie Eiliger Drache über den Wassern' zu bemannen?" Ben Brighton wollte mit Diplomatie antworten, einlenken, aber da meldete sich schon der Profos, und es war zu spät, etwas gegen seinen Einwand zu unternehmen. „Ho!." rief er aus. „Ein Schuft, der so was behauptet! Madame Siri-Tong kennt die Menschen und weiß, wen sie sich an Bord geholt hat, schließlich ist sie kein törichtes Mädchen! Niemals würde sie Kerle dulden, die das Herz nicht auf dem rechten Fleck haben!" „Also habt ihr eben ganz schön geschwindelt", sagte der Seewolf wie nebenbei. Was ihr da über Thorfin Njal und die anderen gesagt habt, war von vorn bis hinten erstunken und erlogen, was?" „Und ob!" brüllte Carberry. „Madame nährt doch keine Mörder und Giftzwerge an ihrem Busen!" „O Gott", stöhnte Ben Brighton. „Um es anders auszudrücken, die Männer vom schwarzen Schiff sind in Ordnung?" erkundigte Hasard sich freundlich. „Völlig!" erklärte der Profos. „Es hätte mich gewundert, wenn ihr anders über sie denkt und hinter ihrem Rücken über sie herzieht." „Schweinerei!" stieß Edwin Carberry im tiefen Brustton der Überzeugung hervor. „Wer das tut, kriegt von mir höchstpersönlich den Achtersteven versengt. Es war schwer genug, der Roten Korsarin und ihrer Crew ade zu sagen. Oh, das war schlimmer als damals, wie wir Cornwall den Rücken gekehrt haben. Hölle
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und Verdammnis, und dann auch noch lästern? Nein. Am liebsten würde ich gleich wieder umkehren und..." Er hielt verwirrt inne. Ben, Shane, Ferris und Old O'Flynn schauten ziemlich belämmert drein. Der Seewolf lächelte verhalten und sagte: „Tut mir leid, aber das ist nicht drin. Wir können nicht ewig in China bleiben. Andererseits war es Siri-Tongs freie Entscheidung, in Schanghai zu bleiben. Habt ihr schon vergessen, daß ihre Mutter sie braucht? Edwin, hör gefälligst auf, wie ein melancholischer Esel dreinzuschauen." Melancholischer Esel? Carberry war zumute, als habe ihm ein Roß mit dem Huf in den Allerwertesten getreten. Er zeigte klar, wandte sich ab und marschierte zur Kuhl hinunter, um den „Sauhaufen" zusammenzustauchen, der offenbar von der Seefahrt keine blasse Ahnung hatte. Als er losbrüllte, musterte Hasard Shane, Ferris, Ben und den alten Donegal und sagte: „Langsam geraten die Dinge wieder ins rechte Lot." * Das mochte in Bezug auf Bordmoral, allgemeine Disziplin und Stimmung schon zutreffen. Für das Wetter allerdings hatte Hasards Ausspruch keinerlei Gültigkeit. Der Wind und die See waren unberechenbaren und äußerst kapriziösen Einflüssen unterworfen, Launen, die hier wie überall auf dem Meer ein Schiff völlig unverhofft treffen konnten. Der Wind drehte auf Norden. Am Spätnachmittag dieses Tages stieß er düstere Streifen auf die „Isabella" zu, die von Korea und aus der Mandschurei anzurücken schienen. Im verblassenden Büchsenlicht verfolgten die Seewölfe noch, wie sich die Streifen über ihren Köpfen und den Toppen der Galeone zusammenballten und Wolkentürme und andere wildzerklüftete Formationen bildeten. „Das wird ein Taifun", orakelte Old O'Flynn. „Verflixt und zugenäht, und das
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gleich in der ersten Nacht nach unserem Auslaufen aus dem Hafen von Schanghai. Wenn das kein sauschwarzes Pech ist!" „Du hast die Schuld", sagte Carberry zu Ben Brighton. „Du hast so dämlich dahergeredet, von wegen zwei Wochen Backstagswinde und bestes Wetter bis zu den Philippinen." „Glaubst du an Gespenster, Ed?" fragte Ben mit schmalen Augen. „Ich? Quatsch!" „Aber du siehst welche", sagte Ben. Die Dünung wurde rauh und rauher, der Wind nahm zu und peitschte die Wellen zu Brechern hoch. Ja, sie liefen die Nacht über vor dem Sturm, aber es wurde doch kein Taifun daraus. Die Seewölfe spuckten mal wieder gegen den Wind und segelten dem Teufel ein Ohr ab. Sie hatten schon ganz andere Wetter abgeritten. Das hier, das war ein Sturm mittlerer Stärke, dem die „Isabella" problemlos standhielt. Am Morgen hatte keiner der Männer ein Auge zugetan. Aber sie grinsten und stießen sich an. Das Wetter war durchgestanden, na also. Wie ein Tuch riß die Wolkenbahn über ihnen auf. Zwischen den Fetzen schimmerte weißliches Sonnenlicht. Der Wind blies jetzt steif aus Nordwesten und fegte den Himmel über der großen Galeone frei. Die Wolken entschwanden in Richtung Südosten, zur Südsee hin. Die See war noch kabbelig, aber man konnte sich schon wieder ohne die Zuhilfenahme von Manntauen über Oderdeck bewegen. Ben Brighton arbeitete sich auf den Profos zu, lachte und meinte: „Um noch mal auf meine Worte von gestern zurückzukommen - in einem Punkt habe ich doch recht behalten." „Naja", knurrte Carberry. „Wir sind gute Fahrt gelaufen, was? Immer voll vor dem Sturm her. Dann hoffen wir mal, daß wir einen richtigen Orkan kriegen." Er stellte fest, daß Bill, der Schiffsjunge, in der Nähe stand und fügte hinzu: „So ein Orkan soll in diesen Gefilden so stark sein, daß er ein Schiff wie die ,Isabella` glatt aus dem Wasser hebt."
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Bill blickte ihn erstaunt an. „Ist das wahr, Mister Carberry?" „Aber sicher doch, Junge." „Und - was passiert dann mit dem Schiff?" „Wenn es aus dem Wasser raus ist? Tja, dann fliegt es. Hübsch vor dem Wind her. Falls alles klappt, fliegen wir gleich bis nach Manila und landen mit unsrer Isa` zwischen den Häusern der Dons. Die kriegen vor Schreck Maulsperre und ersticken, die Dons, meine ich natürlich." „Toll", flüsterte der Junge. „Die Dons kippen reihenweise um, und wir brauchen sie bloß beiseite zu räumen." Carberry bereitete es Spaß, solche Schauergeschichten zu stricken, solange Bill immer noch darauf hereinfiel. Ben Brighton sah ihn zwar mißbilligend an, aber Carberry erwiderte den Blick derart angriffslustig, daß Hasards Bootsmann auf ein Eingreifen verzichtete. Sollte Ed doch sein Seemannsgarn spinnen. Während Carberry weiter über fliegende Schiffe und Spukgaleonen, einen Verrückten, der auf einer abgefeuerten Kanonenkugel geritten sein sollte, sowie zu Tode erschrockene Beobachter solcher Szenen berichtete, wechselte der Wind erneut seine Richtung. Er schralte, bis er aus Westen herüberpfiff, also vom chinesischen Festland. Der Seewolf stand zu diesem Zeitpunkt neben dem Rudergänger Pete Billie im Ruderhaus. Er blickte immer wieder auf die leicht vibrierende Kompaßnadel, hob zwischendurch den Kopf und prüfte mit skeptischer Miene die Segelstellung. Pete Ballie sah ihn besorgt von der Seite an. „Ich kann den Kurs kaum noch halten, Sir. Wir laufen gleich in den Wind." „Zwei Strich abfallen, Pete", befahl Hasard. „Zwei Strich abfallen." Pete korrigierte den Kurs. Hasards Blick wanderte über die Kuhl zu Carberry, der jetzt seine haarsträubenden Märchen unterbrochen hatte und auf und ab rannte. Er purrte die Männer an die Schoten und Brassen. Die Windrichtung änderte sich noch ein wenig - fast bis auf West-Süd-West. Der
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Seewolf mußte klein beigeben, er hatte keine andere Wahl. Kreuzen hatte in diesem Fall keinen Zweck. „Eigentlich wollte ich in Küstennähe bleiben", sagte er auf dem Quarterdeck zu Ben Brighton, Shane und Ferris Tucker. „Ich hätte mich so leichter orientieren können. Aber wir müssen weiter abfallen, bis wir den Wind raumschots haben. Wir werden zwar aufs Meer hinausgedrückt, aber ich denke, daraus ergeben sich keine Schwierigkeiten." „Wohin führt uns denn der neue Kurs?" fragte Big Old Shane. Old O'Flynn beugte sich oben über die Five-Rail und blickte auf sie hinunter. Seine Miene war gallig bis sauer. „Ist doch klar, zurück in die verdammte Teufelssee." Shane hob eine seiner mächtigen Fäuste. „Donegal, ich fahre noch mal aus der Haut, wenn du dauernd Unglück heraufbeschwörst." „Ich? Ich sage nur, nehmt euch in acht..." „Ja, schon gut", sagte Ferris Tucker. „Aber Shane hat recht. Hör endlich auf, immer den Teufel an die Wand zu malen." Old O'Flynn brummelte etwas in seinen grauen Bart. Hasard trat nach vorn und winkte über die Schmuckbalustrade, die den vorderen Querabschluß des Quarterdecks bildete, Bill zu. Der Schiffsjunge trabte an, und der Seewolf schickte ihn in die Kapitänskammer hinunter, sämtliche Karten zu holen, die sie im Laufe ihrer Reise durch das Reich der Mitte erhalten hatten. Etwas später befestigte Hasard die Karten an der Außenwand des Ruderhauses, und die Männer betrachteten im strahlenden Licht der Morgensonne die Zeichnungen und Eintragungen. Auch Carberry und Smoky, der Decksälteste, waren inzwischen auf dem Quarterdeck erschienen. Der Papagei Sir John hockte auf Carberrys linker Schulter und gab leise Laute des Wohlbehagens von sich. Hasard wies auf die große, langgestreckte Insel, die sich deutlich von allen Karten abhob. Auf der Herfahrt hatten sie alle die Insel für das chinesische Festland gehalten
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in Ermangelung brauchbaren Kartenmaterials. Inzwischen konnten ihnen solch grobe Fehler nicht mehr passieren. „Formosa", sagte der Seewolf. „So haben die portugiesischen Entdecker die Insel getauft. Die Chinesen verwenden einen anderen Namen, aber der ist mir entfallen." Ja, wenn wir noch Siri-Tong, Fong-Ch'ang oder das Mädchen „Flüssiges Licht" an Bord hätten, wollte der Profos sagen. Er ließ es aber lieber sein. Er wollte nicht schon wieder was Falsches von sich geben. „Wir nehmen die Insel als Orientierungsmarke und Richtungsweiser", sagte Hasard. „Je nach den Windverhältnissen der nächsten Tage segeln wir entweder durch die Straße zwischen Formosa und Festland - oder wir passieren die Insel im Osten und laufen dann nach Süden ab." Ben Brighton sah seinen Kapitän an. „Formosa? Wie sind dort die Verhältnisse? Ich meine, müssen wir mit Portugiesen oder Spaniern rechnen? Haben die dort Niederlassungen gegründet?" „Dort wohl noch nicht", erwiderte Hasard. „Ich beabsichtige aber auch nicht, die Insel anzulaufen. Wir haben genug Proviant und Trinkwasser an Bord. Wenn alles klappt, segeln wir in einem Törn bis zu den Philippinen. Dort sagen wir den Spaniern guten Tag." Er grinste. Daß das Unternehmen völlig reibungslos verlief, glaubte er selbst nicht. Auf dem Weg zu den Philippinen konnte es noch mannigfache Widrigkeiten geben. Wetterumschwünge, starke Strömungen und andere Tücken der See. Oder auch menschliche Hinterhältigkeit. Immerhin war er, Philip Hasard Killigrew, der meistgehaßte Feind Spaniens und Portugals. Und er segelte diesem mächtigen Gegner jetzt direkt in den Rachen. 2. An den folgenden vier Tagen blies der Wind frisch bis handig - fast unausgesetzt aus westlichen Richtungen. Der Seewolf
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ging mit seinem Schiff hart daran und schaffte es, südöstlichen bis südlichen Kurs zu halten. Am Nachmittag des fünften Tages nach der Abreise aus Schanghai blieb der Profos schnuppernd vor der Kombüse stehen. Er hob die Nase ein wenig in die Luft, und Matt Davies, der es beobachtete, tickte Gary Andrews an. „Sieh dir das an. Heute kriegt der Kutscher was auf den Deckel." „Was hat er denn verbrochen?" fragte Gary überrascht. „Kann ich hellsehen? Los, wir sehen mal nach." Sie pirschten sich wie zufällig an den Profos und das Kombüsenschott heran, was keine einfache Sache war. Carberry hatte unterdessen das bullige Haupt wieder gesenkt und rückte auf das Schott zu - wie ein Stier, der den Anmarsch auf einen Widersacher oder ein rotes Tuch beginnt. „Wir müssen den Kutscher warnen", zischte Gary. „Zu spät", sagte Matt gepreßt. In diesem Augenblick ertönte über ihnen ein Pfiff - hoch oben aus dem Großmars. Dan O'Flynn reckte seinen Kopf über die Segeltuchverkleidung und rief: „Land ho Steuerbord voraus!" Der Seewolf stand an der Five-Rail, hob das Spektiv ans Auge und spähte voraus. Ben, Shane, Ferris und der alte O'Flynn traten neben ihn. Smoky blickte von seiner Arbeit auf der Back auf, und auch Carberry blieb in diesem Moment stehen. Er lehnte sich etwas nach links und spähte übers Backbordschanzkleid. Wie ein witternder Stier. Das Kombüsenschott öffnete sich. Die vertraute Gestalt des Kutschers erschien in dem Viereck. „Land? Formosa vielleicht?" rief er. Matt und Gary wollten ihm ein Zeichen geben, aber sie rochen jetzt plötzlich auch, was der Profos wahrgenommen hatte. Eine Duftwolke fächelte auf sie zu und setzte sie für Sekunden gefangen. Ein betörender Duft war das, er zauberte einen Ausdruck der Sanftmut auf ihre Gesichter.
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Der Profos blickte zum Kutscher. Matt hatte sich gründlich geirrt: Carberry war überhaupt nicht auf das übliche Gebrüll aus, was da für ein Fraß auf dem Feuer verbrenne, ob der Kutscher sie alle vergiften wolle. Und so weiter und so fort. Im Grunde schaute Edwin Carberry in diesem Augenblick so friedfer-tig wie ein Kalb drein. „Kutscher", sagte er. „Das da - was wird das, he?" Der Kutscher verließ die Kombüse. Ein feines Lächeln spielte um seine Mundwinkel, irgendwie wirkte seine Miene verklärt. „Kutscher", sagte der Profos rauh. „Du sollst mich nicht anglotzen wie ein Huhn kurz vorm Eierlegen. Ich verlange eine deutliche Auskunft, klar?" „Selbstverständlich. Also, das ist so: Wir sind doch fast am Ende des Jahres angelangt. Wir schreiben etwa den fünfzehnten, zwanzigsten Dezember, so genau habe ich das allerdings nicht feststellen können." Carberry glaubte, eine bronzene Glocke tönen zu hören. Dezember 1584 - wie doch die Zeit verging! Dezember. In Cornwall blies um diese Zeit ein rauher Wind weiße Flocken über Land, und hoch oben im Norden, in Schottland, lag der Schnee so dick, daß man darin steckenblieb. „Auf jeden Fall ist bald Weihnachten", fuhr der Kutscher fort. „Und da habe ich mir gesagt, du backst ein paar Kuchen, wenn du Zeit hast. Das Mehl, das wir aus China mitgenommen haben, ist zwar etwas anders als das unsere, aber ich kriege das schon hin." „Stimmt", sagte Matt Davies heiser. „Das riecht ja höllisch gut, Kutscher." „Kann man mal probieren?" fragte Jeff Bowie. „Nicht vordrängeln", sagte Blacky. „Jeder kriegt sein Teil, stimmt's, Kutscher?" Der Kutscher nickte. Die Männer standen etwas verdattert und seltsam berührt da. Sie dachten an Old England, Stenmark an Schweden. Nur Batuti, der schwarze
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Herkules aus Gambia, begriff nicht ganz, was mit den Kameraden los war. Sie dachten an die rauhe Ecke Welt, aus der sie stammten, und an die ungehobelten Sitten, mit denen sie aufgewachsen waren, außer dem Kutscher vielleicht, der am meisten Benimm von allen hatte. Kuchenduft, das hatte weniger mit Nathaniel Plymsons „Bloody Mary" und dem Zeug zu tun, das der schmierige Wirt dort zusammenzuhauen pflegte, nein - das rief Erinnerungen an den mehr oder weniger heimischen Herd wach, an dem man groß geworden war und wo zumindest zu Weihnachten auch nach sturmdurchtobten, bewegten Monaten des Jahres regelmäßig Frieden eingekehrt war. Ja, diese Art von immer wiederkehrender Versöhnung war es wohl, die Weihnachten zu einem so besonderen Fest werden ließ, ganz abgesehen von der christlichen Bedeutung natürlich. „Ruhe", sagte Carberry. „Legt bloß die Ohren an, ihr Rübenschweine. Hier wird erst gefuttert, wenn der Seewolf den ausdrücklichen Befehl dazu gibt." Hasard hatte das Achterdeck verlassen und trat auf sie zu. „Die Insel ist garantiert nicht Formosa", sagte er. „Ich habe auf einer der Karten gesehen, daß Formosa im Norden mehrere winzige Fleckchen Erde vorgelagert sind. Eins davon haben wir vor uns. Wir segeln in Luv daran vorbei." „Sir", sagte der Profos. „Was ist denn, Ed?" Hasard blickte von Carberry zu Blacky, vom einen zum anderen. „Was ist hier überhaupt los?" „Können wir nicht vor der Insel ankern?" „Wie bitte? Ich habe doch gesagt, wir werden nicht mal auf Formosa anlaufen." „Ist bald Weihnachten." Carberry preßte es hervor, er glaubte, husten zu müssen. Von Rührseligkeiten hielt er nichts. Trotzdem kam er sich selbst so merkwürdig vor. Erst der Abschied vom schwarzen Segler und seiner Crew. Jetzt dies. Ja, was war hier los? Hasard lachte auf. Der verlockende Kuchenduft war jetzt auch ihm in die Nase gestiegen. „Ich verstehe. Also, was das
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Feiern betrifft, braucht ihr euch keine grauen Haare wachsen zu lassen. Ich habe eine genaue Zeitrechnung aufgestellt. Bis Heiligabend sind es noch ein paar Tage. Wir werden deshalb vorläufig nicht vor Anker gehen. Aber heute abend nehmen wir schon mal eine Kuchenprobe vor und köpfen ein paar Flaschen Rum, einverstanden?" „Aye, aye, Sir!" riefen die Männer im Chor. Die kleine Insel war inzwischen näher gerückt. Hasard gab seinem Profos ein paar knappe Anweisungen, dann kehrte er auf das Quarterdeck zurück. Pete Ballie gehorchte seiner Order. Auf der Kuhl begaben sich die Männer an die Schoten und Brassen. Die „Isabella VIII." luvte so weit wie möglich an und begann, auf zwei, drei Meilen Abstand an dem Eiland vorbeizuziehen. „Wenn wir weiter gute Fahrt laufen, erreichen wir Formosa vielleicht noch bei Einbruch der Dunkelheit", sagte Hasard zu Ben Brighton. Ben warf einen Blick auf die Karten. Ja, das konnte stimmen. Die vorgelagerten Inseln, die sich als Tupfer von der einen Zeichnung abhoben, waren nicht besonders weit von der großen Insel entfernt. Trotzdem sollten sie es nicht schaffen. * Dan beobachtete die Insel ständig durch den Kieker. Arwenack, der Schimpanse, leistete ihm im Großmars Gesellschaft, knabberte auf einem Bambusschößling herum - er mochte die kleinen Triebe besonders gern - und verhielt sich im übrigen still. Er hatte es gelernt, sich auf „seine Menschen" einzustellen. Wenn Dan das Glas vorm Auge hatte, wollte er nicht gestört werden. Es waren Minuten äußerster Konzentration. Dans Gestalt straffte sich. Arwenack spähte auch über die Großmarsumrandung, konnte aber nichts erkennen als ein schwärzliches Etwas an Backbord der Galeone, unscharf wie ein Schemen. Arwenack war fürchterlich
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kurzsichtig, was Distanzen wie diese betraf. Deutlich erkannte er beispielsweise nur die Männer, die unten auf Back, Kuhl und Achterdeck am Schanzkleid standen. Dan richtete sich ganz auf. Im Rund der Optik fiel die Inselküste ein Stück zurück. Sie war an dieser Stelle ein wenig felsig, und man konnte nicht erkennen, was dahinter lag, aber Dan stellte sehr schnell fest, daß das Eiland hier doch noch nicht zu Ende war. Etwas weiter im Südwesten schob sich wieder eine Landzunge in die See. „Eine Bucht", murmelte der junge Mann. Er gewahrte noch mehr, und diese Entdeckung versetzte ihn gleichsam in Alarmzustand. „Deck!" schrie er plötzlich. „Mastspitzen!" Der Seewolf hatte die Mastspitzen ebenfalls entdeckt. Er ließ das Spektiv nicht mehr sinken und blickte wie gebannt auf diese drei nicht besonders auffälligen, weder durch Flögel noch durch Flaggen gezierten Stengen. Dschunke oder Galeone? dachte er. Er wollte es zu Dan hinaufrufen, Dan mußte von dort oben aus mehr erkennen als er. Der junge Mann meldete sich, bevor der Seewolf fragen konnte. „Ich sehe ein paar Fetzen, die von den Masten hängen. Teufel, wer hat denn das Rigg so zugerichtet?" Ben, der bei Old O'Flynn auf dem Achterdeck stand, hörte es deutlich und sagte: „Der Sturm vielleicht." „Welcher?" erkundigte sich Dans Vater. „Der von vor vier Tagen?" „Ein armseliger Kahn scheint das zu sein!" rief sein Sohn. „Keine Dschunke! Die Mattensegel würde ich trotz ihres Zustandes von anderen unterscheiden können. Nein, das sind Rahsegel. Noch ein Stück weiter, und ich kann mehr sehen!" Die „Isabella" glitt auf die Bucht zu. Die Einfahrt öffnete sich nach Südwesten hin, so daß der Blick auf das Innere der Bucht schubweise frei wurde. Dan riß plötzlich die Augen auf. Fast wäre ihm der Kieker weggerutscht, so erschreckend war das, was sich dort darbot: eine Galeone, tatsächlich, mit drei Masten, reich
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verzierten Aufbauten, hohem Heck und der verschnörkelten Aufschrift „Sao Fernao" auf der sichtbaren Seite des Bugs. Das Schiff lag leicht schräg versetzt zur „Isabella" in der Bucht, der Bug wies nach Südwesten und das Heck nach Nordosten, es hielt Hasard und seinen Männern also die Steuerbordseite zugewandt. Es ankerte nicht, sondern dümpelte unkontrolliert auf der flachen Dünung zwischen den schützenden Felsenufern der Bucht. Dans Blick tastete sich über die lädierte Takelage abwärts und verharrte auf dem Oberdeck der „Sao Fernao". „Allmächtiger Gott", sagte er. Der Seewolf war inzwischen nicht untätig gewesen. Vorsichtshalber hatte er den Befehl erteilt, die „Isabella" klar zum Gefecht zu machen. Er war auf die Kuhl hinuntergeeilt, turnte jetzt aufs Schanzkleid und enterte in den Luvhauptwanten zu Dan O'Flynn auf. Dan drehte sich gerade um, als er zu ihm in den Mars kletterte. „Du bist ja käsebleich", sagte der Seewolf. „Was ist los?" „Etwas, das du von unten aus garantiert nicht sehen konntest", erwiderte Dan O'Flynn. „Irgend jemand hat dem Portugiesen dort die Segel zerschnitten, sie sind nicht vom Sturm zerfetzt worden. Aber das ist noch nicht alles. Sieh dir die Kuhl an und dann die Back und das Achterdeck." Hasard benutzte wieder sein Spektiv. „Drüben auf der „Sao Fernao", regte sich kein Leben. Gleichwohl befand sich die Besatzung an Bord. Gestalten lagen über Deck verstreut, wie von einer Gigantenfaust hingeschmettert. Sie waren blutbesudelt und lagen verkrümmt da. Einem ragte das Heft eines Messers aus dem Rücken. Ein anderer lag mit dem Bauch nach oben auf der Kuhlgräting und hielt in grotesker Verrenkung die Arme nach oben, als wolle er etwas oder jemanden umklammern. Sein Gesicht war grauenvoll entstellt: „Großer Gott", sagte der Seewolf. „Was für ein Kampf muß sich dort abgespielt haben."
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„Ich zähle zwanzig Männer", erwiderte Dan. „Rechne die auf dem Achterdeck mit, und es sind fast zwei Dutzend", sagte Hasard. „Ja. Drei Tote auf dem Achterdeck - und der eine trägt die Uniform eines portugiesischen Kapitäns. Himmel, sind die denn alle tot - alle?" Hasards Züge waren hart. „Jedenfalls bewegt sich keiner von ihnen. Auf diese Distanz können wir nicht feststellen, ob einige dieser armen Teufel noch leben." Wenn, dann war es für die Überlebenden des Massakers mehr ein entsetzliches Dahinvegetieren. Theoretisch konnte der eine oder andere noch vor dem Sprung über die düstere Schwelle zum Jenseits stehen, aber diese Männer mußten ohnmächtig sein, denn falls sie zu sich kamen, mußten sie vor Schmerzen schreien. Hasard winkte den Männern unter sich zu. Sie hielten in den Vorbereitungen inne. „Ben, Ed", rief er, „Pete! Abfallen, wir nehmen Kurs auf die Bucht!" Er wandte sich noch einmal seinem Ausguck zu. „Halt weiter die Augen offen, Dan, und sobald sich drüben etwas regt, sagst du mir Bescheid." „Aye, aye, Sir." Hasard enterte mit katzengewandten Bewegungen ab. Das Spektiv hatte er ins Futteral gesteckt und in der Tasche seiner Lederweste versenkt. Er sprang von den Rüsten auf die Kuhl und sagte zu seinen fragend blickenden Männern: „Von dem Portugiesen haben wir nichts Übles zu erwarten. Seine Besatzung wird wohl nie wieder kämpfen. Auf Deck scheint der Teufel, gewütet zu haben." Er schilderte kurz, was er gesehen hatte, dann drehte er sich Carberry zu. „Ed, wir nehmen das Großmars- und Vormarssegel weg, wenn's sein muß, auch noch das Besansegel. Wir haben zuviel Fahrt drauf." „Aye, Sir." Ben stieg vom Quarterdeck und näherte sich. „Was hast du vor?" „Ich will nachsehen, ob sich auf dem Schiff Überlebende befinden."
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„Verrückt!" rief der alte O'Flynn. „Die Portugiesen würden das nie für uns tun." Hasard schritt ein Stück nach achtern und blickte zu ihm auf. Der Alte stand mit verkniffener Miene an der Schmuckbalustrade über ihm. „Donegal", sagte der Seewolf. Was die Portugiesen tun würden, wenn sie uns in einer ähnlichen Lage vorfänden, ist mir egal. Nebenbei, es gibt auch unter den Portugiesen und Spaniern Menschen, falls dir das nicht bekannt sein sollte." „Und Hilfe in der Not ist die erste Christenpflicht, oder?" „Nenn es, wie du willst." „Du mit deiner Menschlichkeit", wetterte der Alte. „Tausendmal habe ich dich gewarnt. Du wirst noch sehen, wohin dich das führt - und uns, denn wir hängen mit drin, verdammt noch mal." „Donegal", sagte Hasard. „Soll das ein Aufruf zur Meuterei sein?" O'Flynns Gestalt streckte sich. „Nein, zur Hölle. Du weißt genau, daß das für mich das allerletzte wäre." „Aber du kannst das Stänkern nicht lassen, oder?" Das hagere Gesicht des Alten schob sich vor. Er neigte dabei sein Haupt und sah aus wie ein Raubvogel, der mit dem Schnabel zustößt. „Wieso hängt bei dem Portugiesen das Rigg in Streifen?" ,.Weil es zerschnitten worden ist." „Von wem?" „Das kannst du dir doch selber denken." „Na gut, von blutrünstigen Wilden oder von Piraten, die den Kahn geentert haben. Aber warum, zum Teufel, zersäbeln sie die Segel? Damit der Pott nicht mehr aus der Bucht raus kann? Damit er nicht mehr zu dem Verband zurück kann, zu dem er vielleicht gehört?" „Das ist drin", sagte Ferris Tucker hinter ihm. „Ich habe immer gewußt, daß du logisch denken kannst, alter Meckerbeutel." Old O'Flynn fuhr zu ihm herum. „Tucker, halt bloß die Luft an. Wer auch immer die Galeone überfallen haben mag, er hat die Mannschaft so zugerichtet, daß sie kein Manöver mehr durchführen kann. Warum
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also auch die Segel zerschneiden? Überflüssige Arbeit." Hasard war aufs Quarterdeck gestiegen, trat nach Backbord und nahm wieder das Spektiv zur Hand. „Was willst du eigentlich damit sagen, Donegal?" „Daß es ein elender Trick ist." „Und das viele Blut?" „Auch ein Trick." „Ich kann mir nicht vorstellen, daß man eine derartige Szene vortäuschen kann", meinte der Seewolf. „Das Messer im Rücken des einen Mannes, das Blut ... Die Burschen müßten ja Künstler sein. Und überhaupt, warum sollten sie eine solche Maskerade aufziehen?" „Um uns zu überrumpeln, ist doch klar", antwortete der Alte mit galliger Miene. „Vergiß nicht, daß im Licht des Spätnachmittags manches sehr echt wirkt, und wenn es hundertmal gefälscht ist." Big Old Shane, ein Riese von Kerl mit wucherndem Bartgestrüpp, hatte sich neben dem Alten aufgebaut. Donegal Daniel O'Flynn senior wirkte neben ihm wie ein Zwerg. „Ich habe doch gesagt, du sollst mit der Unkerei und Spökenkiekerei aufhören", sagte er. „Willst du mir drohen?" „Warnen will ich dich." „Wovor denn?" „Davor, eines Tages plötzlich mit dem Holzbein nach oben und dem Schädel nach unten an der Rahnock zu baumeln", sagte Shane grollend. Hasard erwiderte darauf nichts, aber er beschloß doch, Old O'Flynns Mahnungen nicht ganz in den Wind zu schlagen. Er ließ das Spektiv sinken und trat an die Balustrade. Carberry trieb die Männer mit der üblichen Litanei an. Breitbeinig stand er auf dem schwankenden Deck und hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt. „He, wollt ihr wohl springen, ihr verlausten Schnarchsäcke? Weg mit dem Plunder, geit auf das Großmarssegel, wird's bald? Davies, du einarmiger Bär, ein bißchen schneller gefälligst, oder ich zieh dir Rübenschwein die Haut in Streifen vom Arsch. Hopp, hopp, willig, willig, von
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wegen Weihnachten und Kuchen runterschlingen, ihr pennt ja im Stehen, ihr krummbeinigen Kakerlaken!" „Ed!" rief der Seewolf. Carberry unterbrach sich und schaute zu ihm auf. „Sir?" „Weg mit dem ganzen Zeug, wir drehen bei und bleiben in der Einfahrt der Bucht liegen!" „Aye, aye, Sir. - Marsch, ihr Hurensöhne, habt ihr nicht gehört? Muß man immer erst alles brüllen, bevor ihr in Trab kommt? Oh, ich werde euch schleifen, bis euch das Wasser im Heck kocht." Ben Brighton hatte sich unterdessen an Pete Ballie gewandt. Pete ließ das Ruderrad unter seinen schwieligen Händen wirbeln. Die „Isabella" drehte auf ihre ursprüngliche Fahrtrichtung zurück und krängte leicht nach Backbord. Sie manövrierte in der breiten Einfahrt der Bucht und mußte fast ganz in den Wind drehen, um zu stoppen. Hasard hatte Carberry weitere Anweisungen gegeben. Der Profos ließ auch die Ladearbeiten an den Geschützen zu Ende führen. Hasard drehte sich zu Old O'Flynn um. Der nickte grimmig. . Plötzlich wehte ein Pfiff über Deck. Dan hatte zwei Finger in den Mund gesteckt und pfiff darauf, so laut er konnte. „Deck!" rief er dann. „Drüben lebt noch einer!" Hasards Kopf ruckte herum, er sah zu der „Sao Fernao" hinüber, und das Spektiv flog in seinen Händen hoch. Deutlich sichtbar für alle schleppte sich ein Mann über das Achterdeck der DreimastGaleone. Es war der Kapitän. Er wankte, bewegte die Arme, um das Gleichgewicht zu halten, und brach dann abrupt zusammen. „Himmel", sagte Shane. „Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht wenigstens den wieder auf die Beine bringen und erfahren, was sich da abgespielt hat." Ferris wollte etwas darauf entgegnen, aber der weitere Verlauf der Ereignisse lenkte seine volle Aufmerksamkeit auf die portugiesische Galeone.'
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Der Kapitän -hatte sich wieder erhoben. Er zerrte etwas mit sich hoch. Es war eine Stoffbahn, die er zwischen den Fingern knüllte. „Eine Signalflagge", sagte der Seewolf. „Er will uns etwas zu verstehen geben." „Vielleicht, daß er die Pest an Bord hat", murmelte der alte O'Flynn. Er hütete sich aber doch, es allzu laut auszusprechen. Shane stand ihm zu nahe. Wenn Shane aus der Haut fuhr, nahm er keine Rücksichten mehr. Die Pest - mit der hatten sie im Reich der Mitte auch ihre bitteren Erfahrungen gesammelt. Angesteckt hatten sie sich zwar nicht, aber der schwarze Tod war der Anlaß dafür gewesen, daß sie mit Kanonenschüssen empfangen worden waren, ehe sie überhaupt in China hatten landen können. Nun, wer vom Pesthauch befallen war, der blutete nicht und hatte auch keine Messer im Leib stecken. Soviel mußte auch Old O'Flynn in seiner Verbohrtheit eingestehen. Im stillen blieb er aber dabei, daß auf dem portugiesischen Segler etwas nicht stimmte und da drüben ein fürchterliches Geheimnis auf sie wartete, das alles übertraf, was sie bisher gesehen hatten. Aber was? Der Kapitän der „Sao Fernao" stürzte, und Dan sah vom Großmars aus genau, wie er sich in der Signalfahne verhedderte. Mit Mühe kämpfte der Mann sich wieder frei. Er kroch auf allen vieren zum Schanzkleid der Steuerbordseite, richtete sich daran hoch und winkte den Männern der „Isabella" zu. „Hilfe", sagte der Seewolf. „Er fleht uns um Hilfe an.“. 3. Aufmerksam betrachtete er den Mann. Alle Verzweiflung der Weit schien in diesem Gesicht geschrieben zu stehen. Portugiese hin, Feind her, er wußte dringend verbunden werden und hatte wundstillende und schmerzlindernde Mittel nötig. Allein das zählte.
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„Kutscher!" rief Hasard. „Halte dich bereit. Du pullst mit einem Trupp zur Galeone hinüber. Nimm alles mit, was du brauchst." „Aye, Sir." „Ferris, du führst die Gruppe an. Wir halten von hier aus die Augen offen und liefern euch Feuerschutz, falls das nötig sein sollte. Ich glaube es aber nicht." „Hasard",. sagte Old O'Flynn. „Es könnten sich Wilde oder Piraten auf dem Kahn versteckt halten." „Möglich." „Ich bitte um die Erlaubnis, mit übersetzen zu dürfen, Kapitän Killigrew." „Donegal... „Ich weiß, was du sagen willst. Aber ich bin trotz des Holzbeins und der Krücken noch gut zu Fuß. Ich werde es dir beweisen. Und da mich die Bande hier nur als Meckerbeutel und Stinkstiefel einzuschätzen weiß, will ich mit dabeisein, falls drüben was schiefgeht." Er sah kurz zu Shane. „Ich gehöre nicht zu den Burschen, die nur quengeln und dann kneifen, wenn's hart auf hart geht." Der Seewolf musterte den Alten eine Weile, dann erwiderte er: „In Ordnung. Ich habe keine Einwände. Sieh zu, wie du klarkommst, Donegal." O'Flynn grinste. Die Antwort war nach seinem Geschmack. „Gary, Blacky, Batuti und Luke Morgan", sagte Hasard. „Ihr seid mit von der Partie. Fiert ein Beiboot weg, entert ab und pullt los." Für einen Augenblick war er versucht, die sieben Männer zu begleiten und anzuführen, aber dann besann er sich doch anders. Er beließ es bei seinem ursprünglichen Befehl. Er glaubte nicht an einen Hinterhalt. doch falls die sieben von der „Isabella" aus Unterstützung benötigten, wollte er, Hasard, das Kommando über die große Galeone haben. In diesem Fall hielt er es für falsch, Ben Brighton das Kommando zu überlassen. Verhielt er sich richtig? Irren konnte sich jeder, auch er. Die „Isabella" dümpelte vor dem Westwind in der Einfahrt der Bucht. Carberry ließ das Beiboot in Lee abfieren,
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dann scheuchte er die sieben Männer an der Jakobsleiter nach unten. Old O'Flynn warf dem Profos zum Abschied einen giftigen Blick zu, weil dieser ihn bei seinen lautstarken Kommentaren als „Schnarchhahn" tituliert hatte. Wenig später löste sich das Beiboot von der Bordwand der „Isabella". Hasard hatte die Stückpforten der portugiesischen Galeone gezählt. „Nur vier", stellte er fest. Im Licht der Dämmerung hob sich die Bordwand des Dreimasters jetzt als grauschwarzes Gebilde aus dem Wasser der Bucht, die Verzierungen am Achterschiff waren schon nicht mehr zu erkennen, aber Hasard war einigermaßen sicher, die Umrisse der geschlossenen Stückpforten noch klar genug unterscheiden zu können. „Dan!" rief er. „Wie viele Kanonen hat das Schiff?" „Acht, Sir." „Also doch. Und das Kaliber?" „Nicht sehr groß. Neunpfünder, schätze ich." Hasard blickte zu Ben, Shane und Smoky, die ihm auf dem Quarterdeck Gesellschaft leisteten. „Es scheint sich um eine ganz normale Frachtgaleone zu handeln. Daß sie hier ohne Geleitschutz segelt, finde ich allerdings merkwürdig. Das Gelbe Meer ist doch von Piraten regelrecht verseucht." „Möglich, daß das für Formosa und Umgebung nicht gilt", erwiderte Ben. „Je näher sie Manila und den Philippinen sind, desto sicherer fühlen sich die Dons." „Ja, die Manila-Galeone ist doch jahrelang auch ganz ohne Geleitschutz nach Acapulco und zurück gesegelt", fügte Smoky hinzu. „Sicher", meinte der Seewolf, war aber längst nicht überzeugt. Was hatte sie „Sao Fernao" hierher verschlagen? Was hatte sie für eine Ladung? Falls sie überfallen und ausgeraubt worden war, ließ sich das wahrscheinlich nicht mehr feststellen. „Eins steht fest", sagte er. „Der Angriff muß völlig überraschend erfolgt sein. Die Portugiesen scheinen sich kaum gewehrt zu haben. Ich habe keinen ihrer Gegner auf den Planken liegen sehen."
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Shane blickte zu Old O'Flynn, der auf der Heckducht des Beibootes saß und die Ruderpinne hielt. „Donegal hätte jetzt erklärt: Da habt ihr's. Ich hab's ja gleich gesagt. Es ist ein Trick." , Hasard beobachtete den Kapitän drüben auf dem Achterdeck. Der Mann hatte aufgehört zu winken, offenbar hatte er nicht mehr die Kraft, die Arme zu heben. Sein Gesicht war breit, verschrammt, rot verschmiert. Hasard sah durch das Spektiv, wie er unversehens die Augen verdrehte, das Schanzkleid losließ und dahintersank. „Vielleicht kommt der Kutscher schon zu spät", sagte Hasard. Das Beiboot hatte mehr als die Hälfte der Distanz zwischen den beiden Schiffen zurückgelegt. Es dauerte noch eine Minute, dann hatte es den fremden Segler erreicht. Ferris, Old O'Flynn, der Kutscher und die vier anderen hatten Enterhaken an langen Tauen mitgenommen, damit sie an Bord der Dreimast-Galeone klimmen konnten. Eine Jakobsleiter oder ein Tau, an dem man hochhangeln konnte, baumelte nämlich nirgends von der Bordwand der „Sao Fernao" herunter. Im Boot waren Blacky und Gary aufgestanden und bereiteten die Enterhaken und die Taue vor. Die anderen pullten weiter. Old Donegal lenkte das Boot längsseits der Bordwand der Galeone. Hasard beobachtete seine Männer, blickte aber auch immer wieder zum Schanzkleid der „Sao Fernao" hoch. Dort tat sich nichts mehr. Der Kapitän schien bewußtlos geworden zu sein, er zeigte sich nicht mehr. Und kein Mitglied seiner Mannschaft schien aus der tiefen Besinnungslosigkeit aufzuwachen, in die der Schmerz und der Blutverlust ihn geworfen hatten. Hasard dachte an Donegal Daniel O'Flynns Worte. Du mit deiner Menschlichkeit! Die Menschlichkeit siegt über die Vorsicht, und das Gewissen geht vor Berechnung, sagte er sich. *
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Der erste Enterhaken flog. Blacky hatte ihn geworfen. Die spitzen Eisenfinger krallten sich in das Schanzkleid. Blacky ruckte an dem Tau, aber der Haken gab nicht mehr nach, im Gegenteil, er bohrte sich nur noch tiefer in das Holz. Blacky grinste. „Ich entere also auf, jumpe an Deck und suche nach einer Jakobsleiter, die ich für euch ausbringen kann." „Ich folge dir", sagte Ferris. „Ich glaube nicht, daß das Tau unser Gewicht hält." „Klar hält es uns", antwortete der rothaarige Riese. „Na los." Blacky zuckte mit den Schultern. Er duckte sich, ging etwas in die Knie, dann verlieh er seinem Körper Schwung und federte aus dem Boot hoch. Er packte mit beiden Händen das Tau, klammerte sich im nächsten Moment auch mit den Beinen fest und kletterte nach oben. Als er sich dicht unter den Berghölzern befand, setzte sich auch Ferris Tucker in Bewegung. Hasards Schiffszimmermann hatte sich nicht geirrt -das Tau hielt der im richtigen Abstand verteilten Belastung stand. Blacky klomm auf die Berghölzer, stemmte sich hoch und konnte über das Schanzkleid kriechen. Behutsam setzte er seine Füße auf den Planken der Kuhl auf, als habe er Angst, die armen Teufel von der Galeone durch eine unbedachte Bewegung zu stören. Die Dämmerung warf immer längere und dunklere Schleier über die See, von Westen kroch die Nacht wie ein gigantisches Ungeheuer heran. Dennoch war es immer noch hell genug, um wesentliche Einzelheiten an Oberdeck zu erkennen. Blacky verharrte und hielt unwillkürlich den Atem an. Aus der Nähe besehen, wirkte die Szene noch viel schlimmer als von der „Isabella" aus. Blacky war nach Hasards Kurzbericht über die Verfassung, in der sich die portugiesische Mannschaft befand, zwar kurz in die Leewanten aufgeentert und hatte hinübergespäht, aber so kraß, so nah wie hier war der Hauch des Todes und der Gnadenlosigkeit bei weitem nicht gewesen.
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Ja, sie hatten schon viele Gefechte erlebt und selbst körperliche Qual durchgestanden. Blut war ihnen nichts Neues. Aber immer, wenn sie von neuem mit dem Tod konfrontiert wurden, war der Abscheu groß. Man gewöhnte sich nie an den Anblick eines Toten, man konnte in vielen Dingen abgebrüht sein - hier nicht. Blacky stieß die Luft aus und blähte dabei die Lippen. Sein Blick wanderte über die reglosen Gestalten, kroch den Niedergang zum Achterdeck hoch und blieb an dem Körper des Kapitäns hängen. Ein recht stämmiger Mann war dieser Capitan, aber weder seine Statur noch seine prunkvolle Kleidung hatten ihn vor dem Schicksal bewahrt,' das seine Männer getroffen hatte. Die Verdammnis kannte keine Rangunterschiede. Ferris' Kopf schob sich neben Blacky über das Schanzkleid. „Das haut den stärksten Seemann um", sagte auch Ferris. „Ich glaube, hier gibt es für uns nicht mehr viel zu tun" sagte Blacky leise. „Such erst mal eine Jakobsleiter. Donegal kann weiß Gott nicht an dem Tau hochklettern." „Er soll im Boot bleiben. Wir brauchen hier höchstens noch den Kutscher, um den Tod der Leute festzustellen, das ist alles." Blacky stand mit starrer Miene da und spürte, wie etwas eisig Prickelndes über seinen Rücken kroch. Old Flynn richtete sich unter ihnen im Boot auf. Er hatte gehört, wie sein Name genannt worden war. Er traf Anstalten, sich vorzudrängeln und das Tau des Enterhakens zu packen. „Kutscher, Gary Andrews", zischte er. „Laßt mich mal ran. Ich zeige euch jetzt, wie unsereins noch klettern kann." ,,Laß mich erst hinauf", sagte der Kutscher. „Dann wirf den zweiten Haken,' Gart', zum Teufel noch mal", stieß der alte Donegal aus. Gart' wollte der Aufforderung folgen, aber von oben gab Ferris jetzt durch eine Gebärde zu verstehen, daß Blacky die Leiter gefunden hatte.
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In der Tat, Blacky bückte sich und -zog etwas von den Planken hoch. Zoll um Zoll, Sprosse um Sprosse zerrte er die Jakobsleiter übers Schanzkleid und fierte sie außenbords ab. Ferris trat dicht neben ihn und half mit, die Leiter auf der Handleiste des Schanzkleides zu belegen. Als Blacky das letzte Stück Leiter von der Kuhl hochhievte, geriet eine der reglosen Gestalten in Bewegung. Sie wälzte sich von der' Körperflanke auf den Bauch, und der linke Arm schien sich dabei: selbständig zu machen. Dumpf schlug er auf das Holz. Blacky fuhr zusammen. In einer reflexartigen Handlung griff er nach der Pistole. Ferris war auch nicht gerade wohl zumute. Er hielt die Jakobsleiter fest, schaute zu dem jetzt wieder still daliegenden Portugiesen und raunte: „Ruhig Blut. Der muß auf dem Ende der Leiter gelegen haben." Nachdem das obere Ende der Leiter an zwei Klampen belegt war, enterten auch die fünf anderen auf. Nein, Old O'Flynn wollte nicht im Boot bleiben. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, bei allen Phasen des seltsamen Rettungsunternehmens dabeizusein. Seltsam war die Situation, denn die sieben Seewölfe hatten das Gefühl, auf einem sanft schaukelnden Friedhof zu stehen. Der Kutscher schaute etwas ratlos hin und her, er wußte im ersten Moment nicht, wo er mit seiner Untersuchung beginnen solle. Hatte das überhaupt noch einen Sinn? „Fang bei dem Kapitän an", sagte Ferris Tucker. „Der war bis eben noch auf den Beinen. Vielleicht bringst du ihn wieder auf den Damm." „Ein Wunderheiler bin ich nicht, aber ich tue, was in meinen Kräften steht." Damit wandte sich der Kutscher dem Achterdeck zu. Er ging zum Steuerbordniedergang und wollte die Stufen mit zwei Sätzen nehmen, aber plötzlich stieg ihm ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Er blieb stehen, drehte sich zu den anderen um und sagte: „Riecht ihr das auch?"
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„Was denn?" fragte Batuti. „Haben Dons auch Kuchen gebacken?" „Hör auf", sagte Luke Morgen, „Das ist jetzt nicht der Augenblick,' um dämliche Witze zu reißen." „Tomaten", wisperte der Kutscher. „Das ist eindeutig der Duft frischer Tomaten. Nein - von gekochten." „Ist doch egal", erwiderte Old O'Flynn gereizt. „Jedenfalls stammt der Geruch aus der Kombüse. Die Spanier und Portugiesen sind ja bekannt dafür, daß sie gern dieses Zeug für ihre Speisen verwenden." „Das riecht nicht aus der Kombüse", flüsterte der Kutscher. „Der Geruch ist überall. Merkwürdig." Er wandte sich wieder ab und setzte seinen Weg fort. Batuti hatte großen Respekt vor den bösen Geistern, die sich seiner Meinung nach zweifellos beiden Toten eingefunden hatten, ja, die nach alten Überlieferungen seines Stammes daheim in Gambia direkt aus den Körpern Verstorbener zu kriechen pflegten. Seine Augen weiteten sich, im Dämmerlicht war das Weiße darin zu sehen. Dreinschlagen, kämpfen, aufräumen, das war nach Batutis Geschmack, nicht aber dieser makabre Zustand, dieses lähmende Schweigen auf einem Schiff, dessen Rahen und Blöcke leise knarrten. Old O'Flynn betrachtete mißmutig den Mann, der auf der Kuhlgräting lag. Starre Augen waren gen Himmel gerichtet. Die Hände des Mannes ragten auf, als wollten sie 0'Flynns faltigen Hals jeden Moment packen und zusammenpressen. Ferris Tucker hatte sich dem Portugiesen genähert, der bäuchlings auf den Kuhlplanken lag und ein Messer bis zum Heft im Rücken stecken hatte. „Die Klinge hat das Herz getroffen", stellte er mit einem fachmännischen Blick fest. 0 ja, er wußte, in welcher Rippenpartie sich das menschliche Herz befand. Man mußte kein Feldscher sein, um ein bißchen Ahnung davon zu haben. „Dieser Mann ist also tot, daran gibt's keinen Zweifel", fuhr er fort. ,,Ich ziehe ihm das Messer aus dem Leib und sehe es mir an. Vielleicht gibt es uns Aufschluß
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über die Herkunft der Halunken, die dieses Schiff überfallen haben." „Chinesische Piraten", meinte Gary Andrews. „So grausam sind nur die." „Grausam? Daß ich nicht lache", sagte der alte O'Flynn. „Ist hier vielleicht jemand zerstückelt worden?" „Hör auf", sagte Blacky. „Ich versteh nicht, wie du so reden kannst." Old Donegal schniefte verächtlich. .,Euch sind die Lorbeeren, die wir zuletzt in Peking und in Schanghai geerntet haben, nicht gut bekommen. Total verweichlicht, der ganze Haufen. Hölle, mit euch ist überhaupt nichts mehr los." Er rückte dichter auf die Gräting und den reglos Daliegenden zu, „Ich will jedenfalls mal hören, ob diesem Heini hier das Herz noch schlägt. Mir hat mal jemand erzählt, daß es das bei Toten nicht mehr tut, weiß bloß nicht mehr, wer das war." Blacky beschloß, den Sarkasmus in O'Flynns Stimme tunlichst zu überhören. Der Kutscher hatte inzwischen den Kapitän auf dem Achterdeck erreicht, einen Mann mit großflächigem, aber keineswegs grob geschnittenem Gesicht. Der Kutscher schaute in dieses Gesicht, registrierte mehrere Wunden und ließ sich mit gemischten Gefühlen auf die Knie nieder. Je tiefer er sich zu dem Mann beugte, desto intensiver wurde der Tomatengeruch. Das ist merkwürdig, das ist sogar verdammt merkwürdig, dachte der Kutscher. Old O'Flynn traf ungefähr die gleiche Feststellung, und zwar im selben Augenblick wie der Kutscher. Sein Ohr war der Brust des verkrümmt liegenden Portugiesen sehr nahe. Old Donegal schnupperte überrascht. Tomaten, dachte er, immer wieder diese verfluchten Tomaten, das ist ja, als hätten sich diese Burschen vorm Abkratzen mit dem Zeugs eingeschmiert! Es dämmerte ihm, und er wollte herumwirbeln. Aber da war es schon zu spät. Ferris Tucker hatte das Heft des Messers gepackt. Er stand gebückt über dem Erdolchten, schloß ganz kurz die Augen
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und ruckte dann entschlossen an der Mordwaffe. Sie fuhr ihm derart leicht entgegen, daß er fast aus der Balance geriet. Und dann hielt er das Ding in der Hand, aber es bestand nur aus dem Heft, die Klinge fehlte. Der Erdolchte mußte ein großer Witzbold sein, denn er hatte sich diese Attrappe mit irgendeiner gut haftenden Substanz auf dem Rücken festgepappt, vielleicht sogar mit Tomatenmus. Der Kutscher fühlte nach dem Puls des portugiesischen Capitans und wunderte sich weiter über den eigentümlichen Geruch. Jäh zuckte etwas hoch und schob sich zwischen sein Gesicht und das des Capitans - eine Faust! Zwei Augenlieder öffneten sich und gaben ein dunkles, haßerfüllt blickendes Augenpaar frei. Der Kutscher war viel zu entsetzt, um sofort zu reagieren. Die Faust krachte unter sein Kinn. Er kippte rückwärts auf das Achterdeck. Der Tote auf der Kuhlgräting erwachte unverhofft zu neuem Leben. Seine krallenartig gespreizten Finger schlossen sich um Old O'Flynns Hals. Und der Erdolchte überrollte sich auf den Planken, schnellte auf die Beine und riß eine Pistole aus dem Gurt. Überall richteten sich jetzt die Scheintoten auf. Ferris Tucker brüllte einen Fluch. Old Donegal röchelte nur. Wenn er zu mehr in der Lage gewesen wäre, hätte er jetzt geschrien: „Ich hab's ja gewußt, es war ein Trick!" Der Kutscher hatte den Eindruck, ein Rad drehe sich mahlend in seinem Schädel. Die Schmerzen drohten seinen Kopf zu sprengen, sein Geist schwebte auf wabernden Nebelstreifen dem Abgrund einer drohenden Ohnmacht entgegen. Gary, Blacky, Batuti und Luke prallten zurück und griffen nach den Waffen. Der Capitan hatte sich von den Planken des Achterdecks auf gerichtet. Mit triumphierender Miene riß er den Degen aus der Scheide. Er warf einen Blick zur „Isabella" hinüber und sah, daß der
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Seewolf die spanische Flagge mit einem gekrönten schwarzen Adler und dem Band des Ordens vom Goldenen Vlies gehißt hatte. So hatte er sich von vornherein als Freund ausweisen und verhindern wollen, daß der Kapitän der „Sao Fernao" vor ihm und seiner Mannschaft erschrak. Es wurde Hasard schlecht gelohnt. Capitan Lucio do Velho und seine Mannschaft hatten nur darauf gewartet, ihm den Garaus bereiten zu können. Do Velho stieß einen heiseren Ruf aus. Daraufhin flogen die Schotten des Vorund Achterdecks auf, und Gestalten stürmten an Oberdeck. Gleichzeitig fielen auf dem unteren Batteriedeck die ausgezeichnet getarnten Stückpforten. Sie waren im Dämmerlicht von der „Isabella" aus nicht zu erkennen gewesen. Selbst Dan O'Flynn hatte sie nicht bemerkt. Allein auf der Steuerbordseite führte die „Sao Fernao" zehn Geschütze. Vier DemiCulverinen an Oberdeck, die ja auch der Seewolf gesehen hatte - und sechs Culverinen, also 17-Pfünder, auf dem versteckten Batteriedeck. Ihre Mündungen gähnten schwarz der Galeone der Seewölfe entgegen. 4. Im Jahr 1580 waren Spanien und Portugal eine vereinte Nation geworden. Seitdem schien für die beiden mit sanftem Druck zusammengeführten Länder nur noch ein Problem zu bestehen. Gemeinsam fühlte man sich jetzt als „Herren der Welt", der Teilungsmeridian von Tordesillas spielte keine Rolle mehr. Nein, die Frage war nur noch: Wie festigte man auch in den entferntesten Winkeln der neu entdeckten Kontinente die Macht? Es gab nur einen Weg - den der Gewalt. Dies war die Strategie, doch wie sah die Taktik aus? Maßten sich Spanien und Portugal nicht immer neue Finessen einfallen lassen, um die Schnapphähne und Störenfriede auszurotten, die in ihre Kreise einbrachen und tollkühne Beutezüge unternahmen? Längst war die alte, schwerfällige Karacke überholt, aber auch
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Galeonen und Karavellen mußten anders konstruiert und ausgerüstet werden, wenn man dem Feind trotzen wollte. Und vor allen Dingen benötigte man findige, mit allen Wassern gewaschene Kapitäne und Kommandanten, keine sturen Holzköpfe, die sich von verwegenen Freibeutern übertölpeln ließen. Lucio do Velho war einer von der neuen Garde. Er hatte in Madrid und Barcelona studiert, bevor er seine Karriere bei der Armada begonnen hatte. Nicht nur in der Navigation, der Erdkunde und der modernen Kriegführung zur See war er sattelfest, er kannte sich auch in Völkerkunde, Geschichte und literarischen Wissenschaften aus. Die Mimik war sein Steckenpferd. Männer wie er schienen profiliert genug zu sein, um gegen die Freibeuter der Weltmeere, vor allem aber gegen diesen Inselstaat anzutreten, der sich immer stärker mauserte: England. Elisabeth 1. hatte ein Übereinkommen mit den Korsaren getroffen. Sie händigte ihnen sogenannte Kaperbriefe aus. Einen von ihren Schnapphähnen, Francis Drake, hatte sie nach seiner Weltumsegelung sogar zum Ritter geschlagen. Aber es gab wildere Männer als diesen Drake - Kerle, die Spanien und Portugal das Grausen gelehrt hatten. Wie dieser Philip Hasard Killigrew beispielsweise! Wer war das wirklich? Woher stammte er? Seine Vergangenheit war rätselumwoben, aber dafür war die Gegenwart, die er repräsentierte, ,, um so klarer und drastischer. Er schadete König Philipp II., wo er konnte. Daß er sich jetzt hier, im Chinesischen Meer, aufhielt, hatte sich längst herumgesprochen, denn er hatte ja für einige geradezu spektakuläre Auftritte gesorgt. Die Manila-Galeone hatte er bereits bei den Hawaii-Inseln abgefangen. Ein Schlag, wie er nicht einmal Drake gelungen war! Eine empfindliche Schlappe hatte das Reich Spanien-Portugal einstecken müssen, und entsprechend war die Stimmung in den Kolonien.
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Es war erst der Beginn der Scherereien, die ihnen „El Lobo del Mar", wie Killigrew genannt wurde, in diesem Teil der Welt bereiten würde. Daher hatte Philipp II., Seine Allerkatholischste Majestät höchstpersönlich, mittlerweile eine Belohnung auf die Ergreifung des Seewolfes ausgesetzt. Eine echte Kopfprämie! Lebendig oder tot, enthauptet oder in Ketten, das war die Forderung. So gab es einen noch größeren Anreiz, den Seewolf zur Strecke zu bringen. Jeder Schiffskapitän iberischer Herkunft war darauf erpicht, die hohe Summe zu kassieren. Man ließ sich etwas einfallen, um Killigrew und seinen verdammten Kumpanen den Strick zu drehen - und die einmal angestachelte Phantasie trieb bekanntlich die tollsten Blüten. Lucio do Velho, Capitan der „Sao Fernao", hatte sich etwas einfallen lassen. Inspiriert wurde er dabei durch gewisse Praktiken, die die Piraten des Gelben Meeres manchmal anzuwenden pflegten. Schon einige ahnungslose Reisende waren auf offenbar herrenlos in den Fluten treibende Schiffe hereingefallen und hatten Mitleid mit armen Teufeln empfunden, die sich stöhnend in ihrem „Blut" gewälzt und signalisiert hatten, dringend einen Feldscher zu benötigen und dergleichen mehr. Weiter hatte es gelbhäutige „Schiffbrüchige" gegeben, die sich von Galeonen hatten aufnehmen lassen. Später hatte eine Dschunke den Kurs der Galeone gekreuzt. Die „total erschöpften Schiffbrüchigen" waren mit Messern über die Mannschaft der Galeone hergefallen und hatten der Entermeute der Dschunke den Weg geebnet. Der auslösende Impuls für do Velhos Plan war eine Meldung des Postens am Nordufer der keinen Insel gewesen. Die Kriegsgaleone „Sao Fernao" hatte den Auftrag, die Inseln zu kontrollieren und Feindbewegungen festzustellen. Do Velho hatte es für richtig gehalten, mindestens einen ganzen Tag lang in der Bucht zu ankern. Hier konnten eventuell
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auftauchende Gegner ihn nicht frühzeitig entdecken, aber er sie. So hatte der Wachtposten, den er für das Nordkap des Eilands eingeteilt hatte, am Spätnachmittag das Erscheinen der großen Galeone an der nördlichen Kimm gemeldet. Do Velho hatte sich dieses Schiff mit den erstaunlich hohen Masten selbst durchs Fernrohr angesehen. Und einwandfrei hatte er es als die gefürchtete „Isabella VIII." identifiziert. Es gab viele Schilderungen von den Taten des Seewolfs, die meisten waren zu wahren Gruselgeschichten umgemodelte maßlose Übertreibungen. An die mündlichen Beschreibungen, die von der großen Galeone existierten, konnte man sich schon eher halten. Und schließlich gab es da noch ein paar Zeichnungen des Schiffes. Die Spanier und die Portugiesen hatten von den Chinesen gelernt. Vielleicht würde es in naher Zukunft sogar ein Porträt des Seewolfes geben, anhand dessen man ihn überall wiedererkennen konnte. Überdies kam die „Sao Fernao" geradewegs aus Manila, wo die Empörung über den Überfall auf die „Nao de China", die Manila-Galeone, die höchsten Wogen schlug. Es wurden die haarsträubendsten Gerüchte verbreitet, was der Seewolf in der Zwischenzeit schon wieder alles angestellt haben sollte. So war Lucio do Velho darauf gefaßt, dem Korsaren irgendwann zu begegnen. Er hatte sogar damit gerechnet, auch das mysteriöse schwarze Schiff mit den vier Masten zu sichten, das seit einiger Zeit angeblich als Verbündeter mit der „Isabella" zusammen segelte. Aber das schwarze Schiff zeigte sich nicht. Also mußte es sich bei dieser Erzählung auch um eins der Schauermärchen handeln, die manche Seeleute in die Welt setzten. Vielleicht gab es den Viermaster überhaupt nicht. Nach der sensationellen Entdeckung der „Isabella" hatte Lucio do Velho sehr schnell registriert, daß der Segler Kurs auf das Eiland nahm. Killigrews Ausguck mußte die Insel gesichtet haben, vielleicht
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wollten die Kerle hier Frischwasser ergänzen oder nach Proviant suchen. Do Velho hatte seine Posten abgezogen und Vorbereitungen` getroffen. Die Segel seiner Kriegsgaleone hatte er schleunigst zerschneiden lassen - das war seiner Meinung nach viel effektvoller. Ersatz für das zerstörte Rigg gab es in den Räumen des Vordecks. Bevor die „Isabella" die Bucht erreicht hatte, hatte do Velho für die Durchsetzung seines Planes genügend Zeit gehabt. Vor allem die Wunden und die vermeintlichen Blutspuren auf den Körpern seiner Männer waren vortrefflich gelungen, denn die Galeone führte in ihrer Kombüse unter anderem einen großen Vorrat Tomatenmark - ein Konzentrat aus frischen Tomaten, die nur einige Zeit gekocht und gewürzt zu werden brauchten, um eine köstliche Bereicherung verschiedener Speisen darzustellen. Aber unter der Anleitung des schlauen do Velho hatte sie eine neue, verblüffende Verwendung gefunden. Die Messerattrappe hatte der Capitan persönlich angefertigt und auf dem Rücken des „Opfers" festgepappt. Die Stückpforten der unteren Gefechtsbatterie hätten nicht erst entsprechend hergerichtet zu werden brauchen, sie waren schon vorher, seit Manila, getarnt gewesen - für alle Fälle. Das war auch eine von do Velhos grandiosen Ideen. Niemand sollte von vornherein wissen, daß sein Schiff eine Kriegsgaleone mit guter Armierung war. Er hatte auf diese Weise schon manchen Piraten zur Strecke gebracht, der eine beinah schutzlose Handelsgaleone vor den Kanonenrohren gehabt zu haben glaubte. Bisher hatte do Velho noch keine Niederlage hinnehmen müssen. Das förderte sein Selbstvertrauen. Lucio do Velho war nicht nur ein erwiesenermaßen gewitzter Mann, er hielt sich selbst für einen unschlagbaren Gegner. Auf die atemberaubend schnell abgewickelten Vorbereitungen waren das Warten und die nervliche Spannung gefolgt. Die Hälfte der portugiesischen
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Schiffsbesatzung hatte grausig dekoriert an Oberdeck gelegen, die andere Hälfte hatte unter Deck gelauert. Die Gefechtsstationen waren besetzt, um der •„Isabella" einen gebührenden Empfang zu bereiten. Do Velho selbst hatte auf dem Achterdeck gelegen und immer wieder aus schmalen Augen zur Buchteinfahrt gespäht. Dann endlich war die große Galeone in seinem Sichtfeld erschienen, und sein Herz hatte schneller geschlagen. Er hatte noch dieses Theater aufgeführt, die Szene mit dem mißlungenen Signalzeigen, dem Winken, dem Zusammenbrechen - sein großer Auftritt. Die Mimik war seine Leidenschaft, und er war überzeugt, sehr, sehr gut gespielt zu haben. Nur in einem Punkt hatte er sich verrechnet. Er hatte geglaubt, die „Isabella" würde bis in die Bucht laufen und längsseits der „Sao Fernao" gehen. Däs hatte sich jedoch als Irrtum erwiesen. Philip Hasard Killigrew hatte beigedreht, Fahrt aus dem Schiff genommen und nur ein Beiboot mit diesen sieben Männern herübergeschickt. Do Velho hatte sich auf die Unterlippe gebissen. Er hatte sich schon ausgerechnet, die „Isabella" im Sturm zu nehmen, sehr dramatisch und bühnenreif. Doch aufgrund der neuen Gegebenheiten hatte er sein Programm ändern müssen. Der jetzige Plan lautete: die sieben als Geiseln nehmen, den Seewolf erpressen und selbst gefangensetzen. Nach allem, was der Capitan bisher über diesen „Lobo del Mar" vernommen hatte, setzte sich der Kerl ausgesprochen uneigennützig für seine Mannschaft ein. Niemals würde er mir nichts, dir nichts sieben seiner besten Männer einfach aufgeben und damit dem Henker ausliefern. Sollte Killigrew aber überraschenderweise doch nicht nachgeben, so wollte do Velho dessen verfluchtes Korsarenschiff einfach zusammenschießen. Die Seewölfe waren doch viel zu verblüfft, um an Gegenwehr zu denken. Do Velho rückte mit erhobenem Degen auf den Kutscher los. Nichts war leichter, als
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diesen hageren Burschen und seine sechs Kumpane zu entwaffnen und mit Tauen zu fesseln. So dachte der Capitan jedenfalls. * Der Kutscher konnte einen Gegner allein durch sein Äußeres nicht zum Schlottern und Zaudern bringen. Er war ein schmalbrüstiger Mann, der von seiner Statur und Veranlagung her eigentlich gar nicht für die Seefahrt geeignet zu sein schien. Zäh war er aber doch. Er ließ do Velho heranmarschieren und täuschte Bewußtlosigkeit vor. Im Schädel des Kutschers schien sich ein wüster Kampf abzuwickeln, es dröhnte und schepperte, und seine Kinnpartie war ein taubes, gefühlloses Feld geworden. Speiübel war ihm zumute, aber er zwang sich, Herr über sich selbst zu bleiben und die Benommenheit niederzuzwingen. Unten, auf der Kuhl, schien das Inferno ausgebrochen zu sein. Da fluchte, brüllte und heulte es in zwei Sprachen. Der Kutscher brauchte nicht hinzusehen, er wußte auch so Bescheid, was dort geschah. Ihr Hunde, dachte er, mit so einem gemeinen dreckigen Trick wollt ihr uns also reinlegen. Er hielt die Augenlider nur so weit geöffnet, daß do Velho es nicht bemerken konnte. Sobald der Mann aber zum Greifen nah vor ihm stand und siegesgewiß grinste, trat der Kutscher mit beiden Füßen und mit voller Wucht zu. Do Velho erhielt diesen Tritt gegen die Knie. Jäher Schmerz durchzuckte seine Beine und paralysierte sie, und er war sicher, es knacken gehört zu haben. Stöhnend wankte er, geriet aus dem Gleichgewicht und taumelte zurück. Da war der Kutscher auch schon wie der Teufel hoch, zückte das Entermesser und stürzte sich auf den Feind. Do Velho prallte mit dem Rücken gegen das Steuerbordschanzkleid. Er drohte zusammenzubrechen, hielt sich aber mit
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verbissener Miene aufrecht und parierte den Angriff des Kutschers. So etwas, nein - das hatte er bei keinem Piraten erlebt, der ihm zwischen die Finger geraten war. Der Kutscher drosch auf den fluchenden Capitän ein, als halte er statt des Schiffshauers eine mächtige Axt in der Faust. Es war ein Kampfstil, den Shane ihn gelehrt hatte. Sicher, der Kutscher hätte sich lieber im eleganten Fechten geübt, aber er wußte auch, welche Situation welche Kampfmethode erforderte. Lucio do Velho geriet in echte Bedrängnis. „Hierher!" brüllte er. „Haltet mir diesen Irren vom Leib!" Zwei Tomatenbekleisterte rückten über den Backbordniedergang an. Sie hielten Pistolen in den Händen. aber do Velho schrie ihnen zu: „Nicht schießen! Entwaffnet ihn! Ich will ihn lebend!" Daraufhin steckten sie noch im Laufen die Pistolen wieder weg und rissen ihre Säbel aus den Scheiden. Der Kutscher tänzelte an do Velho vorbei, fuhr zu ihnen herum und bereitete sich innerlich darauf vor, sie alle drei ins Schwitzen zu bringen und mindestens zwei mit auf die Höllenfahrt zu nehmen, bevor er die letzte Reise antrat. * Old O'Flynn dachte manchmal daran, wie er eines Tages unter dem Krachen der Kanonen in beißenden Rauchschwaden auf dem Deck der „Isabella" zusammensinken und mitten im dicksten Schlachtgetümmel sein Ende finden würde. Das war die ehrenhafteste Art, über die Klinge zu springen, wenn die Stunde geschlagen hatte, aber, verdammt noch mal, erwürgt zu werden, das war etwas Schimpfliches, Verabscheuungswürdiges. Und - Hölle und Teufel - zum alten Eisen gehörte er auch noch nicht. Um dies unter Beweis zu stellen, rammte der alte Donegal dem Gegner auf der Kuhlgräting das gesunde Knie mit aller Macht in den Unterleib. Fair war das nicht, aber fair war ja auch der Portugiese nicht.
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Der Kerl heulte auf und ließ Old O'Flynns Gurgel los. Dans Vater zuckte zurück, packte die Krücken, die er eben verloren hatte und drosch sie dem Portugiesen aufs Haupt. Der Bursche sank stöhnend auf die Gräting zurück. Donegal beförderte mit erstaunlichem Geschick seine Pistole aus dem Gurt hervor, ein schönes, reich verziertes Modell mit Radschloß. Er .egte auf den vermeintlichen Erdolchten an, der gerade mit der Pistole auf Ferris Tucker zielte. Ferris hätte es nie und nimmer geschafft, sich da noch zur Wehr zu setzen, und auch jeder Einsatz von Blacky, Gary, Batuti oder Luke wäre zu spät erfolgt. Donegal Daniel O'Flynn senior krümmte den Zeigefinger um den Abzug. Der gespannte Hahn mit dem Stück Schwefelkies senkte sich auf das Schloß, das Rad schnurrte ab und geriet mit dem Pyrit in Berührung. Funken sprühten und zündeten das Kraut. Donnernd löste sich der Schuß. In einer hochpuffenden Qualmwolke sah Old O'Flynn den Portugiesen zusammenbrechen. Ferris fällte einen Kerl, der ihm in die Seite springen wollte, mit einem einzigen Fausthieb. Dann zückte er sein Messer und schleuderte es dem Pulk schreiender Gegner entgegen, der sich auf Blacky, Gary, Batuti und Luke werfen wollte. Das Siegesgeheul der Portugiesen ebbte ab, als einer von ihnen mit dem Messer in der Brust fiel. Diesmal steckte die Waffe tatsächlich bis zum Heft, diesmal gab es keine Attrappen. Old O'Flynn hatte die leergefeuerte Radschloßpistole weggesteckt, jetzt hielt er einen Cutlass mit großem Handkorb und verteidigte sich gegen die Übermacht der Gegner. „Zurück!" brüllte er sie an. „Ich schlag euch die Schädel ein, schnalle mein Holzbein ab und laß es euch auf dem Rücken tanzen, ihr Bastarde!" Daß die Portugiesen nicht zurückwichen, lag weniger daran, daß sie den urwüchsigen Cornwall-Akzent des Alten nicht verstanden. Vielmehr waren sie
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immer noch davon überzeugt, mit diesen sieben Männern leicht fertigwerden zu können. Ferris schoß seine Pistole ab, dann warf er sie einfach weg und riß seinen Säbel hoch. Blacky, Gary und Luke schossen fast gleichzeitig. Das dreifache Krachen wurde vom Wind über die Bucht zur Insel getragen. Batuti hatte den Morgenstern in der Faust, eine verheerende Waffe. Plötzlich stürmte er vor, schrie gellend und schwang den Morgenstern hin und her. Entsetzt wichen die Gegner aus, aber wer es zu spät tat, sank getroffen auf die Planken. Blacky, Gary Andrews und Luke Morgan verfuhren mit den leeren Pistolen wie Ferris Tucker. Sie schleuderten sie von sich, um keine Zeit zu verlieren. Traumhaft schnell hatten auch sie ihre Hieb- und Stichwaffen gezückt und fochten gegen die Anrückenden. Ein Schuß pfiff über Blackys Kopf. Er fluchte. Bei aller kühnen Entschlossenheit, gegen die Überzahl der Feinde standen sie auf verlorenem Posten. „Ferris!" rief nun auch der alte O'FlynnHol's der Henker, wir können uns nicht mehr lange halten." „Mäht noch ein paar dieser Hunde nieder!" schrie der Rothaarige zurück. „Dann türmen wir. Kutscher!" „Hier", antwortete der Kutscher vorn Achterdeck her. „Säble dir den Weg frei und spring!" schrie Ferris. „Aye, aye!,“ Der Kutscher war gegen seine drei Gegner ernsthaft in Bedrängnis geraten. Er konnte sich kaum noch halten. So war ihm Ferris Tuckers Entschluß gerade recht. Lucio do Velho mochte viel und lange studiert haben, aber er hatte es versäumt, sich mit der englischen Sprache zu befassen. So begriff er jetzt nicht, was die sieben Männer planten. Hätte er sie verstanden, hätte er alles drangesetzt, sie aufzuhalten. Der Kutscher drängte die Angreifer mit einem halbkreisförmigen Sensenhieb ein Stück zurück. Er stieß sich energisch von
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den Achterdecksplanken ab, federte hoch, legte die freie Hand aufs Schanzkleid und flankte mit einem Scherenschlag darüber weg. Fußunter raste er in die Tiefe. Das Entermesser hielt er weit vom Körper ab, er wollte beim Eintauchen nicht damit ins Gehege geraten. Old O'Flynn war derweil zu Ferris Tucker zurückgewichen. Blacky, Gary und Luke drängten sich seitwärts auf den rothaarigen Schiffszimmermann zu, und Batuti schaffte es buchstäblich im allerletzten Moment, erneut eine Bresche in die Masse der Gegner zu treiben und zu den Kameraden zurückzukehren. Gegen die Musketen und Tromblons, mit denen die Portugiesen jetzt auf sie zielten, konnte auch ein Morgenstern nichts ausrichten. Ein Schuß peitschte auf, Ferris duckte sich und riß den alten O'Flynn mit in Deckung eine Ladung gehacktes Blei pfiff über sie weg. Ferris richtete sich wieder auf und schrie: „Jetzt!" Alle sechs brachten sie sich an das Steuerbordschanzkleid der Kuhl, dann jumpten sie, bevor es zu spät war. Zwei, drei Schüsse krachten wieder, die Geschosse erreichten sie aber nicht, denn wo sie eben noch gestanden hatten, war jetzt gähnende Leere. Ferris und seine Begleiter fielen der schwarzen Fläche entgegen, in die das Wasser der Bucht sich verwandelt hatte. Ferris blickte rasch nach links und konnte im schwachen Licht gerade noch erkennen, wie der Kutscher achtern ein- und dann wieder auftauchte. Sie taten das einzig Richtige. Sie zeigten keine Feigheit vor dem Feind. Sie unternahmen nur einen taktischen Rückzug und gaben dem Seewolf die Möglichkeit, endlich in das Geschehen einzugreifen. 5. Voll ohnmächtiger Wut hatte Hasard die Entwicklung der Dinge von der „Isabella" aus verfolgt.
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„Mein Gott, Donegal", hatte er im ersten Entsetzen hervorgestoßen. „Diesmal hast du also wirklich recht gehabt!" Shane war neben ihm ans Schanzkleid gestürzt. „Ich schicke ein paar Pfeile zu der Galeone rüber", hatte er gerufen. „Etwas anderes können wir doch nicht tun, ohne Ferris und die anderen zu gefährden." „Enter in den Vormars auf", befahl der Seewolf. Shane war selten so schnell in den Fockwanten gewesen, er schien die Webeleinen hochzufliegen. Oben im Vormars hatte er dann aber einsehen müssen, daß der Abstand zur „Sao Fernao" zu groß war und das Licht zu sehr nachgelassen hatte. Genaues Zielen war mit Pfeil und Bogen nicht mehr möglich. Hasard hatte daraufhin in aller Eile ein Boot abfieren lassen. Er wollte es bemannen und selbst hineinsteigen, um seinen Männern zu Hilfe zu pullen, da meldete Dan O'Flynn: „Der Kutscher jumpt!" Hasard verfolgte es mit geballten Händen. Jawohl, der Kutscher landete unversehrt neben dem Achterschiff im Wasser - und jetzt sprangen auch Ferris, Old O'Flynn, Blacky, Gary, Luke und Batuti von Bord der Todesgaleone. Die Portugiesen stürzten mit ihren Tromblons, Musketen und Arkebusen ans Schanzkleid. Hasard konnte deutlich genug verfolgen, wie sie die Waffen teils aufs Holz, teils auf Gabelstöcke stützten. „Ed!" schrie Hasard. „Klar bei Lunten!" brüllte der Profos, daß den Männern an den Culverinen die Trommelfelle dröhnten. „Feuer!" Mit verkniffenen Mienen, leise fluchend, halb verzweifelt vor Zorn und Hilflosigkeit, hatten sie hinter den Geschützen gewartet, immer wieder justiert und doch nicht in den erbitterten Kampf drüben eingreifen können. Jetzt war ihr Augenblick gekommen. Bob Grey, Sam Roskill und Stenmark befanden sich schon unten im Boot. Auf Smokys Wink hin duckten sie sich. Die vorderen vier Culverinen spuckten ihre
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Ladungen aus. Ihre Mündungen verwandelten sich für den Bruchteil einer Sekunde in rotglühende Vulkanmäuler, Blitze zuckten über die Bucht und stießen die Kugeln vor sich her. Al Conroy, Hasards Waffenmeister, hatte die Stellung der Kanonen immer wieder überprüft. Und die Schüsse saßen jetzt wirklich hoch genug, um die sieben Seewölfe im Wasser an der Bordwand des Feindschiffes nicht zu gefährden. Ehe die Portugiesen auch nur einen Schuß auf die Flüchtigen abgeben konnten, war die orgelnde Vierfach-Ladung heran. Da nutzte es nichts mehr, daß Lucio do Velho „Zurück" schrie - die Kugeln schlugen genau ins Schanzkleid, rissen es in wirbelnde Trümmer und fegten die Männer quer über die Kuhl. „Feuer!" brüllte der portugiesische Capitan. Aber bei aller Gerissenheit hatte er einen schweren Fehler begangen. Nie hatte er ernsthaft damit gerechnet, daß die Seewölfe ihm massiven Widerstand leisten würden. Er hatte sich zu sicher gefühlt. So hatte er die komplette Mannschaft an Oberdeck beordert, zur Überwältigung von Ferris und dessen sechs Begleitern. Das untere Batteriedeck war unbesetzt. Sie mußten erst wieder unter Deck laufen und an die 17-Pfünder hetzen. Die 9-Pfünder auf der Steuerbordseite der Kuhl ließen sich nicht mehr einsetzen. Drei hatten sich aus ihren Brooktauen gelöst und machten sich selbständig. Sie rumpelten, vom Druck des Beschusses der „Isabella" getrieben, über Deck. Außerdem krängte die „Sao Fernao" etwas nach Backbord, und das verlieh den rollenden Kanonen noch mehr Geschwindigkeit. Zwei Männer wurden von einem Geschütz erfaßt und gegen das Backbordschanzkleid befördert. Ihr entsetzliches Schreien mischte sich in das erneute Donnergrollen, das sich von der „Isabella" herüberwälzte. Hasard hatte die vier achteren Culverinen der Backbordseite abfeuern lassen. Einer von do Velhos Männern hatte gerade den vierten 9-Pfünder erreicht, der noch sicher in seinen Brooktauen stand und fertig zum
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Bedienen war - da zerfetzte es auch hier das Schanzkleid. Capitan Lucio do Velho sah voll Grauen, wie der Decksmann von dem schleudernden Geschütz umgepflügt wurde. Der Kutscher hatte zu diesem Zeitpunkt seine Kameraden erreicht. Gemeinsam schwammen sie auf das Beiboot der „Isabella" zu. Ja, der Kutscher hatte endlich das Schwimmen gelernt. Die Mühe, die ihm das Erlernen dieser Kunst bereitet hatte, zahlte sich jetzt aus, denn spätestens an diesem Abend wäre er kläglich ertrunken, hätte er sich nicht nach seinem Sprung von Bord des Portugiesen über Wasser halten können. Ferris Tucker befürchtete, das Beiboot würde durch die wirbelnden Trümmer zum Kentern gebracht werden, aber das traf zum Glück nicht ein. Nur mußten sich die Schwimmer in acht nehmen, nicht selbst getroffen zu werden. Blacky erhielt einen herabsegelnden Rest Schanzkleid fast ins Kreuz, er tauchte im letzten Moment. Dem Brocken Holz wurde nach dem Aufprall im Wasser die Wucht genommen, und er glitt an Blackys Beinen ab. Trotzdem fluchte der schwarzhaarige Mann nicht schlecht, als er wieder hochschoß. Sie gelangten ans Boot, kletterten hinein, kauerten sich auf die Duchten und begannen zu pullen. Sie setzten alles daran, sich aus der unmittelbaren Gefahrenzone zu bringen - und aus der Reichweite der Musketen, Tromblons und Arkebusen der Portugiesen. Do Velhos Männer waren in Panik geraten, aber einige Unverletzte hatten jetzt doch das untere Batteriedeck aufgesucht. Sie stürzten an die Kohlebecken, schürten mit fliegenden Fingern die Glut und entfachten die Lunten. Der Stockmeister tobte, aber zu größerem Tempo konnte er die Männer dadurch auch nicht antreiben. Die Lunten senkten sich auf die Bodenstücke der Kanonen. Gierig griff die Glut nach dem Pulver in den Zündkanälen, fraß sich hindurch, und die Ladungen stoben aus den Rohren, während die Geschütze auf ihren Hartholzrädern
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zurückrollten und von den Brooktauen abgefangen wurden. Beißender Pulverrauch breitete sich bis unter die Deckenbalken aus und hüllte die Gestalten ein, die sofort wieder zu den Culverinen sprangen. Zu hastig verlief diese Aktion, zu schlecht waren die Schüsse gezielt gewesen. Vier von ihnen saßen zu tief, das heißt, die Kugeln klatschten weit vor der „Isabella" ins Wasser und trieben imposante Fontänen hoch. Die. Eisenkugeln fanden unter dem Meeresspiegel nicht mehr den Weg bis zur Galeone der Korsaren, sie sackten vorher auf den Grund der Bucht ab. Zwei Geschosse lagen hingegen im Ziel. Das eine jagte haarscharf über das Schanzkleid an der Kuhl der „Isabella". Geistesgegenwärtig hatten sich die Männer des Seewolfs hingeworfen. Eine Nagelbank knickte unter der Kugel weg, dann knallten die siebzehn Pfund massiven Metalls ins gegenüberliegende Schanzkleid. Carberry fluchte, aber er war heilfroh, daß es keinen der Männer erwischt hatte. Die-andere Kugel der Portugiesen war am Vorsteven vorbeigeschrammt und hatte eine Scharte gerissen, mehr aber nicht. „Beeilt euch mit dem Laden!" brüllte der Profos. „Klar bei Kartuschen, ihr Heringe, oder soll ich euch das Fell über die Ohren ziehen, daß ihr wie die nackten Affen dasteht?" Das war eine neue, interessante Variante seines üblichen Spruchs, aber niemand achtete so recht darauf. Verständlich, denn die Crew hatte alle Hände voll zu tun. Al Conroy wuchtete eine Kugel in den Lauf des Geschützes, das er zu bedienen hatte. Mit dem Ansetzer beförderte er das Kabelgarn hinterher, das den festen Sitz des Geschosses sicherte. Er stopfte kräftig, schnappte sich dann die Lunte und tunkte sie in das Kupferbecken, in dem die Holzkohle glühte. Bill, der Schiffsjunge, hatte die Culverine justiert. Er war rot im Gesicht vor Aufregung. Al unterrichtete ihn nun schon seit geraumer Zeit in dem, was er „das
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Geheimnis des richtigen Zielwassertrinkens" nannte. Al peilte über den Lauf. Die Position der beiden Schiffe hatte sich kaum geändert, und die Zielrichtung schien soweit in Ordnung zu sein. Als Culverine war sie die zweite von vorn an der Backbordseite. Mit ihrem außerordentlichen langen, sehr zielgenauen Rohr konnte sie die Ladung geradewegs in die Back der „Sao Fernao" befördern. Falls alles klappte. ° „Gut, Junge", sagte Al. „Das wird ein Meisterschuß." Bill antwortete nicht, er fieberte fast vor Spannung und Erwartung. Hasard befand sich auf dem Achterdeck und kauerte neben dem Abschußgestell, das Ferris Tucker für seine sogenannten Höllenflaschen gebastelt hatte. Diese nach einem ausgeklügelten Mechanismus funktionierende Schleuder hatte sich als großartige Bereicherung ihrer Armierungen erwiesen. Hasard hatte sich entschieden, nicht zu manövrieren, um auch die Steuerbordbreitseite seines Schiffes einsetzen zu können. Es dauerte viel zu lange, die Segel zu setzen und Fahrt aufzunehmen, außerdem war die Einfahrt der Bucht dafür zu schmal. Nein, die Zeit, die vom Abfeuern der ersten Breitseite bis zum Nachladen verstrich, wußte der Seewolf anders auszufüllen. Er gab Smoky einen Wink. Smoky hatte die achtere Drehbasse der Backbordseite ganz in ihrer Lafette herumgeschwenkt. Sie war fix und fertig geladen. Er zündete sie, und das Wummern war das Zeichen für Will Thorne vorn auf der Back, ebenfalls aktiv zu werden. Will hatte die eine vordere Basse auf die „Sao Fernao" gerichtet und die drehbare Gabellafette arretiert. Da der Hinterlader um mehr als neunzig Grad geschwenkt werden mußte, um in den richtigen Winkel zu gelangen, stand Will genau wie Al Conroy praktisch mit dem Rücken zu der zweiten Basse, als er feuerte. Deshalb konnten beide Männer das jeweils zweite
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Geschütz auf dem Vorbeziehungsweise Achterdeck erst anschließend einsetzen. Al Conroy tat es in diesem Augenblick. Er sprang zurück, war an der zweiten Basse, betätigte sie - und die Kugel raste haarscharf an den Besanwanten der Backbordseite vorbei, pfiff über die Bucht und knallte dem Portugiesen in die Flanke. Will zündete ebenfalls die zweite Drehbasse, so daß das Knallen der Geschütze beinah stakkatohaft hintereinander erfolgte. Auch diese Kugel saß. Sie blies der Galeone der Gegner glatt ein Stück vom Schanzkleid der Back weg. Hasards Männer johlten. Hasard löste nun den Sperriegel der Höllenflaschenabschußkanone", und die erste Flasche flog in leicht taumelndem Bogen zur „Sao Fernao" hinüber. Sie landete mitten auf der Kuhl, und keiner der verwirrten Männer drüben wußte so recht, was das zu bedeuten hatte. Keiner von ihnen sah die Lunte, die durch den Korken hindurch zur Ladung in der Flasche führte. Shane begann, Brandpfeile zu dem Feind hinüberschwirren zu lassen. Die kleinen Fackeln waren zuckende Lichter in der einsetzenden Dunkelheit. Ferris und seine Männer waren mit dem Beiboot am Bug der „Sao Fernao" vorbei. Heiß waren die Culverinenkugeln des Gegners über sie weggerast. Sie hatten sich tief zwischen die Duchten ducken müssen, um dem Gluthauch zu entgehen. So hatten sie zum zweitenmal innerhalb kürzester Zeit das bedenkliche Vergnügen gehabt, dem Tod im letzten Moment und nur ganz knapp von der Schippe gesprungen zu sein. Jetzt, da sie aus der Gefahrenzone heraus waren und sich anschickten, im Bogen zur „Isabella" zu pullen, hatte Ferris Tucker eigentlich nur einen Wunsch. „Wenn ich eine Höllenflasche bei mir hätte und sie auch zünden könnte, würde ich zu den Hunden zurückkehren", sagte er im Krachen der Kanonen. „Und dann?" fragte Batuti. „Dann würde ich sie in eine der Culverinenmündungen schieben", stieß der Rothaarige grimmig aus. „Das Batteriedeck liegt tief genug, ich würde es
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schaffen. Eines Tages, das schwöre ich euch, eines Tages tue ich das bei einem dieser rotznäsigen Dons." „Verdammich", sagte der schwarze Mann aus Gambia. Dieses Wort war für ihn das Höchstmaß an Bewunderung, das er für irgend jemanden oder irgend etwas ausdrücken konnte. Shanes Brandpfeile setzten dem Oberdeck des Portugiesen munter flackernde Lichter auf, plötzlich brannten auch ein paar von den herabhängenden Streifen Segeltuch. Und dann ging die erste Höllenflasche hoch! Ein Feuerblitz geisterte über die Bucht und fing die Gestalten der Männer im Boot ein. Ferris grinste wie der Leibhaftige persönlich. „Sie haben es nicht anders verdient!" rief er. „Ho, da fliegt schon die nächste Flasche!" Er wies auf das gedrungene, bauchige Gebilde, das gar nicht weit von ihnen durch die Luft trudelte. In dieser Flasche hatte sich einmal guter, süffiger Rotwein befunden. Die Leute, die den Rebensaft darin abgefüllt hatten, hätten sich wahrscheinlich nie ausgemalt, daß die Flasche eines Tages so hochexplosive Wirkung haben würde. Noch ehe das Ding den Gegnern um die Ohren flog, wehte die mächtige Stimme Carberrys herüber. „Feuerrr!" Wieder donnerten vier Culverinen der „Isabella" los, eine halbe Breitseite. * Ein unsichtbarer Kehrbesen führte auf dem Vordeck der „Sao Fernao" einen Veitstanz auf, jedenfalls sah es so aus. Trümmer und Menschenleiber wirbelten. Die Kugel aus Al Conroys Geschütz hatte ihr Ziel nicht verfehlt, und auch die anderen drei Kanonen hatten Verheerendes angerichtet. Al schlug Bill auf die Schulter. „Bravo, Junge. Ich hab's doch gewußt, daß du es schaffst!"
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„Mister Conroy", sagte der Moses aufgeregt. „Sie haben doch geschossen, nicht ich!" „Und wer hat die Kanone justiert? Na also, du hast eben doch das richtige Zielwasser getrunken. Mann, ich bin stolz auf dich!" Mann, hatte er ihn genannt - und ein so dickes Lob hatte Bill schon lange nicht mehr eingeheimst. Er wurde rot bis unter die Haarwurzeln. Hasard sandte inzwischen die dritte Höllenflasche zu dem Portugiesen hinüber, und auch die polterte aufs Deck. Shane hörte nicht auf, Brandpfeile von der Bogensehne zu jagen. Dann böllerte die zweite halbe Breitseite los, Ed Carberry brüllte, die Männer jubelten wieder Treffer! Der Seewolf zündete die Lunte der nächsten Flasche. Er hatte sich vor genommen, auch einen Brandsatz zu dem dreisten Gegner hinüberzubefördern, aber offenbar konnte er den sparen. Sicherlich gab es in naher Zukunft noch genug Einsatzmöglichkeiten für die Wunderwaffen, die ihnen die Feuerwerker und Hofgelehrten des Großen Chan zum Abschied übergeben hatten. Die „Sao Fernao" jedenfalls stand bereits in hellen Flammen, und die Treffer der Culverinen hatten ihren hölzernen Leib hart angeschlagen. Befehle gellten herüber. Lucio do Velho und seine Offiziere versuchten, wieder die Oberhand über die Mannschaft zu gewinnen. Das gelang ihnen nur zum Teil. Der Zuchtmeister mußte die Neunschwänzige pfeifen lassen, um die Männer des unteren Batteriedecks zur Vernunft zu bringen. Sie wollten sich in panischer Angst zurückziehen - ein Riesenloch klaffte in der Bordwand. Unter Trümmern lagen drei oder vier Soldaten begraben. Nur unter dem Knallen der Peitsche kehrten sie an die Culverinen zurück und beendeten den Ladevorgang. Dann zündeten sie die sechs Kanonen, aber das Manöver fiel noch undisziplinierter aus als vorher. Fünf Kugeln schlugen fehl, nur eine hieb der „Isabella" ein Stück ihres Schanzkleides weg - ohne jedoch
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jemanden zu verletzen. Rauschend stiegen wieder die Fontänen aus dem Wasser auf. Die vierte Brandflasche explodierte auf dem Oberdeck der „Sao Fernao". Die Männer schrien durcheinander. Es herrschte panischer Zustand. Das Feuer breitete sich nach allen Seiten aus, und es standen nicht mehr genug Leute zur Verfügung, um die Flammen zu löschen. Bald griff die Glut nach den Pulverdepots. Keuchend eilte Lucio do Velho übers Achterdeck und kippte selbst einen Kübel Seewasser über den Flammen aus. Doch es war nur der Tropfen auf den heißen Stein. Mit seinem Selbstbewußtsein und seiner Überheblichkeit war es vorbei, nur die Begabung zur Rezitation war geblieben. Er war eben mehr ein Schauspieler als Korsarenjäger.. „Mein Gott", stieß er immer wieder mit südländischer Theater-Grandezza hervor. „0 mein Gott, wie konnte das nur geschehen?" Eine Antwort gab ihm niemand darauf, do Velho erwartete sie auch nicht. Eher war sein Ausspruch das Eingeständnis der völligen Niederlage, die Einsicht, daß nun nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun war. Es blieb noch die Kapitulation, aber do Velho fand keine Gelegenheit mehr, sie seinem Gegner anzubieten. Wo es keine Flagge mehr gab, konnte man sie auch nicht streichen. „Aufhören!" schrie der Capitan zur „Isabella" hinüber. „Stellt das Feuer ein!" Aber im Grollen der Geschütze und im Explodieren der Sprengsätze verstanden ihn seine eigenen Leute nicht. Do Velho sah das Beiboot, das im Bogen zur „Isabella" geglitten war, er beobachtete voll ohnmächtiger Erschütterung, wie die Männer jetzt dort drüben auf enterten. Bob Grey, Sam Roskill und der Schwede Stenmark waren inzwischen auch wieder auf Deck der „Isabella" und hievten das zweite Beiboot hoch. Jawohl, sie hatten die Kaltblütigkeit, das mitten im Gefecht zu tun. Gefecht? Do Velho starrte mit steinerner Miene über Deck. Seinerseits fand keine
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Erwiderung mehr statt, und von einem Kampf konnte nur die Rede sein, wenn zwei Seiten feuerten. Das hier war ein bloßes Zusammenschießen geworden. Die Korsaren kannten kein Pardon. Irgendwie konnte Lucio do Velho, der ja ein belesener und intelligenter Mann war, das auch verstehen. In einer gedanklichen Sequenz versetzte er sich in die Lage von „El Lobo del Mar". Hätte man ihn, do Velho, in eine derartige Falle gelockt, er hätte sich auch nicht anders verhalten -falls er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Lichterloh brannte die „Sao Fernao" und der Capitan stellte es in diesem Augenblick fest - sank immer tiefer ins Wasser. Gurgelnd trat das Wasser durch die Lecks unter der Wasserlinie ein, der Bauch der einst so stolzen Kriegsgaleone füllte sich rasch. Sie begann zu krängen. Möglich war, daß das Wasser der Inselbucht das Feuer auf dem Schiff löschte, bevor die Flammen die Pulverfässer in den Depots erreichten. Rein theoretisch konnte es also zutreffen, daß die „Sao Fernao" nicht in die Luft flog. Auf so eine Spekulation mochte sich Lucio do Velho aber nicht verlassen. Er schritt zum Finale seines Auftritts. Vom Achterdeck aus warf er noch einen trotzigen Blick zur „Isabella", dann schwang er sich über das Schanzkleid und tat, was die anderen wenigen Überlebenden des Massakers auch taten. Er ließ Schiff und Mannschaft im Stich und rettete seine Haut. Er rechnete sich eine Chance aus, sich auf der Insel in die Büsche schlagen und verstecken zu können. Sauber tauchte sein Körper ein. Er schwamm ohne große Hast, ein Mime von Rang überstürzte nichts, das nahm der Darstellung jegliche Würze. Allerdings gab es kein Publikum, das ihm bei dieser Art von Abgang auch noch applaudierte. 6.
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Gnadenlos führte der Seewolf zu Ende, was so überraschend und völlig unerwartet begonnen hatte. Um ein Haar hätte er sieben seiner besten Männer verloren, wegen eines schmutzigen Tricks. Nein, er hatte kein Mitleid mit den Portugiesen. Old O'Flynn stand jetzt wieder neben ihm, gab aber keinerlei Kommentar ab. Aus Hasards Miene konnte er lesen, was in dem schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen in diesem Moment vorging. Er bereute es, dem Portugiesen auf den Leim gegangen zu sein. Nicht, daß er sich in seinem Stolz und Ehrgeiz berührt fühlte nein, sein innerer Kodex war anders gestaltet. Es wurmte ihn, daß er seine Crew wegen seiner Hilfsbereitschaft in Gefahr gebracht hatte, nur deswegen. Er wußte selbst, daß er diesmal einen Fehler begangen hatte, und Old Donegal Daniel O'Flynn wäre der letzte gewesen, der jetzt auch noch Vorwürfe erhoben hätte. Das dumpfe Krachen verhallte, die Geschützführer und ihre Helfer luden wieder die Rohre nach. „Deck!" rief Dan. „Drei oder vier Burschen schwimmen an Land. Der Capitan, dieser Hund, ist dabei." „Den kaufen wir uns", sagte Ferris Tucker. Er stand dicht hinter dem Seewolf. Hasard drehte sich zu ihm um. „Willst du etwa an Land pullen?" „Ja." „Und dann?" „Dann jage ich die Kerle." „Was versprichst du dir davon, Ferris?" „Ganz einfach. Wir bringen auch die zur Strecke." „Bist du so auf Rache aus?" Ferris bremste sich und begriff. „In Ordnung. Ist schon klar. Wir lassen sie ziehen, nicht wahr? Sie können uns nicht mehr gefährlich werden." „Eben." Der Seewolf wandte sich der Kuhl zu. „Ed, wir setzen Segel und nehmen Fahrt auf. Pete, hoch an den Wind und aus der verdammten Bucht raus! Aufklaren können wir, wenn wir uns wieder auf offener See befinden." „Aye, aye, Sir", schallte es von allen Seiten zurück.
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Wenig später glitt die „Isabella" mit geblähten Segeln aus der Bucht der Insel. Eine steife Brise entführte sie nach Süden. Zurück blieben do Velho und drei seiner Männer, die von einem sicheren Versteck an Land aus verfolgten, wie die „Sao Fernao" auf den Grund der Bucht sank. Das Feuer erreichte die Munitionsdepots nicht mehr. Es gab keine Explosion, die die Galeone in tausend Trümmer riß. So verschwand der ramponierte Schiffsrumpf, als hätte es ihn nie gegeben. Sehr tief war das Wasser in der Bucht nicht, so daß die Masten noch über den Spiegel aufragten, als der Kiel unten aufsetzte. Eine Weile brannten die drei Maststengen noch weiter. Sie wirkten wie gespenstische Fackeln inmitten des Wassers. * Die Nacht lastete schwarz und mondlos auf der See. Ben Brighton war ganz nach achtern auf den erhöhten Teil des Schiffshecks getreten und wollte die eiserne Laterne anzünden. Aber Hasard schritt auf ihn zu und stoppte ihn durch eine Gebärde. „Nicht, Ben. Wir segeln ohne Lichter« „Du glaubst, es befinden sich noch mehr Feinde in unserer Umgebung?" „Liegt das nicht auf der Hand, Ben?" „Schön, die Sao Fernao' gehört wahrscheinlich zu einem Verband", erwiderte Ben. „Aber die übrigen Schiffe könnten auf Formosa stationiert sein, während die Sao Fernao' an diesem Abend Patrouille fuhr. Wenn das zutrifft, ist es nicht gesagt, daß die Ausguckposten des Verbandes etwas von dem Gefecht bemerkt haben." Hasard blieb vor ihm stehen. „Denkst du das wirklich?" „Ich - nein, Sir." „Ich finde auch, wir sollten uns nichts vorerzählen", erwiderte Hasard. „Die Kerle haben sich garantiert nicht allein in diesem Gebiet herumgetrieben. Es ist nur eine Frage der Zeit, und ihre Mitstreitertauchen auf."
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Ben blickte zu dem Eiland zurück. Eine halbe Meile Abstand lag jetzt bereits zwischen ihnen und der Stätte des Geschehens, aber der Schein des Feuers war noch als schummriges Rot in der Nacht zu sehen, obwohl höchstens noch die Mastspitzen der Galeone aus den Fluten ragten. „Die Explosionen und das Feuer müssen weithin zu beobachten gewesen sein", meinte Ben Brighton. „Wahrscheinlich auch bis nach Formosa hin. Sollen wir es den Männern sagen, daß wir noch im Dunkeln mit einem weiteren Gefecht zu rechnen haben?" „Augenblick." Hasard blickte ihn an und schob die Unterlippe leicht vor. „Das lassen wir vorläufig. Ich halte nichts davon, Unruhe zu verursachen - abgesehen davon, daß die anderen ja auch leicht zwei und zwei zusammenzählen können. Aber wenn wir keine Lichter zeigen und uns so ruhig wie möglich verhalten, schaffen wir es, am Gegner vorbeizulaufen, ohne daß er uns bemerkt." Er drehte sich um und stieg auf die Kuhl hinunter. Bei Carberry, Ferris Tucker, Smoky, dem Kutscher und ein paar anderen, die die Ereignisse noch diskutierten, blieb er stehen. Sie hatten ihn noch nicht bemerkt. Hätten sie ihm etwas vorgeworfen, dann hätte er es jetzt wahrscheinlich vernommen. Carberry meinte aber nur: „Alles in allem haben wir verdammtes Glück gehabt, Leute. Das nächste Mal riechen wir aber Lunte, wenn wir Tomatensaft wittern, was, wie?" „Darauf kannst du Gift nehmen, Ed", entgegnete Ferris. „Danke. Ein Stück Kuchen wäre mir jetzt lieber. . ." „Kutscher", sagte der Seewolf. „Wir brauchen leere Flaschen, um neue Sprengsätze daraus herzustellen. Na los, nun schau mich nicht so an, lauf los und hol welche." „Sir..." „Das ist ein Befehl." „Selbstverständlich, Sir", sagte der Kutscher. „Ich wollte nur sagen -leere
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Flaschen haben wir nicht mehr an Bord. Nur volle." Hasard lächelte, und auf den Gesichtern der Umstehenden breitete sich ein Grinsen der Erkenntnis aus. „Dann hol die vollen, Kutscher", befahl der Seewolf. „Vier habe ich verfeuert, vier schleppst du heran. Die, auf denen das Wörtchen Rum` steht, klar? Und vergiß den Kuchen nicht." „Das - aye, aye, Sir." Daß der Kutscher nach den dramatischen Ereignissen ein wenig verdattert war, konnte man ihm nicht verübeln. Er hatte sich wacker geschlagen, aber jetzt mußt er im nachhinein das Erlebte verkraften. So etwas war normal. Die Mannschaft auf dem Trockenen sitzen zu lassen, wäre allerdings unverantwortlich und ein halbes Verbrechen gewesen. Darum beeilte sich Hasards Koch, Bader und Feldscher, schleunigst die Kombüse aufzusuchen. Er kehrte mit den vier Flaschen Rum und zwei großen Napfkuchen zurück. „Vier Pullen Rum", sagte Carberry. „Das ist genug zum Adventfeiern, aber zu wenig, um sich zu besaufen. Gut so. He, Ferris, du alter Klamphauer, wie ist es, stoßen wir auf deine Wiedergeburt an?" „Auf meine was?" „Ich finde, du und die anderen, ihr habt das Recht, euch als von den Toten auferstanden zu fühlen", erklärte der Profos. „Heute hätte wirklich nicht viel gefehlt, und ihr wäret geradewegs in die Hölle gejumpt." Batuti wedelte abwehrend mit der Hand. „Batuti kein Geist. Ganz gesund, aus Fleisch und Blut." „Was du wieder denkst", sagte Dan, der gerade von Gary Andrews im Großmars abgelöst worden war. „Ed hat doch bloß einen faulen Witz reißen wollen." „Verdammich noch eins", sagte der schwarze Herkules, aber es klang weniger bewundernd als vielmehr tadelnd. Witze über das Wiedererwachen vom Tod, Untote und dergleichen mehr mochte er nicht, weil sie in der Mythologie seines Stammes zu den schaurigsten Ereignissen zählten.
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Er schüttelte sich und nahm einen Schluck Rum aus der Flasche, die Dan an ihn weiterreichte. Carberry wollte etwas auf Dans Bemerkung erwidern, aber der Kutscher hatte den Kuchen zerstückelt und drückte dem Profos gerade eine dicke Scheibe in die Pranke. Mit einem Seufzer schob sich Ed das Stück zwischen die Zähne und kaute hingebungsvoll darauf herum. Die Männer atmeten auf und fanden es wunderbar, daß er auch mal den Mund halten konnte. Dan stieß den Kutscher an. „Gib dem Profos gleich noch einen Kanten, damit wir in Ruhe unseren Rum saufen können." * Die Nacht blieb ruhig. Fremde Schiffe hatten weder Gary Andrews noch Dan, die beiden umschichtig im Großmars hockenden Ausguckposten, bemerkt. Gegen Mitternacht wurde die Luft lau, und der Wind schlief fast ein. Die „Isabella" lief nur noch langsame Fahrt. Erst gegen Morgen frischte die Brise von Westen wieder auf. Dan gähnte und richtete sich von seinem luftigen Posten auf. Der Rum war gut gewesen, man kriegte keinen schweren Kopf davon, ein Zeichen für Güte und Klasse. Zwei bis drei Flaschen hätte Dan O'Flynn von dem Gesöff leeren können. Er hatte ein richtiges Verlangen danach, sich mal wieder so richtig nach Herzenslust die Nase zu begießen. Oder ein hübsches Frauenzimmer zu vernaschen ... Wann hatte er das zum letztenmal getan? Wie lange lag das schon zurück? Weihnachten, dachte er, Plymouth, „Bloody Mary" und ein richtiger Zug durch die Hafenschenken, daß die Wände wackeln und Nathaniel Plymson, diesem Fettwanst, die Perücke von der Glatze rutscht. Im Osten erwachte der Morgen. Dan konnte jetzt mit dem Kieker in die Runde blicken. Die Optik schluckte zwar etwas
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von dem Licht, aber er konnte die Kimm schon erkennen. Als er dann auch im Süden und Westen die See vom Himmel unterscheiden konnte und Licht auf den Wellenkämmen glitzern sah, fuhr er plötzlich zusammen. Weihnachten, ade, dachte er, dieses Jahr kriegen wir ein feines Fest, Leute. Er stand auf. „Deck! Mastspitzen im Westen!" „Schrei nicht so!" brüllte Carberry von der Kuhl herauf. „Wir sind doch nicht taub, du grüner Hering." Die Männer hatten bereits wieder mit dem Aufklaren begonnen, und der Profos leitete die Arbeiten. „Was ist denn los?" „Mastspitzen!" rief Dan noch einmal. „Ich habe ja immer gesagt, daß du Bohnen in den Ohren hast, Profos." Carberry hätte sich den schlagfertigen Dan O'Flynn gern gekauft, aber was er da eben gemeldet hatte, war gewichtig und verlangte nach Klärung. Carberry wandte sich an den Schiffsjungen. .“Bill, ab mit dir ins Achterkastell. Weck den Seewolf." „Ja, Sir." Bill wollte losflitzen, aber in diesem Augenblick öffnete sich das Querschott des Achterkastells, und der Seewolf trat auf die Kuhl. „Neuigkeiten, Ed?" fragte er. „Ich sehe es deinem Gesicht an, daß etwas nicht in Ordnung ist." , „Ein Schiff in Sicht, Sir." „Zwei Schiffe!" schrie Dan in diesem Augenblick. „Beide im Westen. Dreimastgaleonen. Wahrscheinlich Portugiesen." „Da haben wir den Salat", stieß der Profos aus. „Hier wimmelt es von Dons. Verdammt und zugenäht, die Dschunken der Chinesen waren mir fast lieber." Dan sollte recht behalten. Die beiden Galeonen waren wenig später an ihren Flaggen eindeutig als Portugiesen zu erkennen. Wenn Portugal auch eine spanische Region geworden war, seine eigenen Nationalitätszeichen führte es neben der spanischen Flagge nach wie vor. Platt hatten sich die Galeonen vor den Westwind gelegt und näherten sich rasch.
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Kurze Zeit darauf wies Dan den Seewolf auf zwei weitere Schiffe hin - eins schob sich aus Nordwesten heran, das andere von Norden. „Richtig", sagte Hasard nach einem umfassenden Blick durch das Spektiv. „Sie sind in der Nacht nach Norden vorgestoßen, hart am Westwind liegend. Wer weiß, wie nah sie an uns vorbeigesegelt sind. Sie haben die ,Sao Fernao` gesucht und wohl nicht gefunden das Feuer wird bald nach unserem Aufbruch von der Insel erloschen sein. Beim Einschlafen des Windes haben die Galeonen sich nur noch lahm voranbewegt. Aber jetzt haben sie uns entdeckt und versuchen, wieder einen schlagkräftigen Verband zu bilden. Wir halten Kurs, Männer." Die zwei Galeonen im Westen waren eindeutig im Vorteil gegenüber der „Isabella". Mit dem achterlichen Wind liefen sie vorzügliche Fahrt, hatten die Luvposition und schnitten den Seewölfen den Weg nach Formosa ab. 7. Als die beiden Parteien nur noch eine Meile voneinander entfernt waren, begann der Tanz. Hasard hatte das zuvorderst segelnde Schiff, einen hervorragend bestückten Dreimaster der 400-TonnenKlasse, als Flaggschiff des Verbandes identifiziert. Und der Kommandant wollte jetzt von ihm wissen, wer er eigentlich war! Drüben stob weißer Qualm himmelan, eine Kugel heulte heran und stampfte vor dem Bug der „Isabella" eine zischende Wassersäule hoch. Das Flaggschiff hatte angeluvt, eins seiner vorderen Geschütze war gezündet worden. „Eine reine Formalität", sagte Hasard mit eingefrorenem Lächeln. „Wenn der Capitan der Sao Fernao' wußte, mit wem er es zu tun hat, als er uns sichtete, dann können sich das diese Burschen erst recht ausmalen. Sie wollen vorerst eben nur die Spielregeln einhalten. Ben." „Sir?"
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„Wir hissen den White Ensign." „Aye, Sir." Hasard wußte die Lage richtig einzuschätzen. Den Portugiesen etwas vorgaukeln, etwa die spanische Flagge zeigen, hatte in diesem Fall keinen Sinn. Wahrscheinlich war dem Comandante drüben schon klar, wen er vor sich hatte. Als die weiße Flagge mit dem roten Georgskreuz im Großtopp der „Isabella" flatterte, gab der Kommandant des Verbandes denn auch durch Signale zu verstehen, er verlange, daß die große Galeone beidrehe. Hasard lachte wild, und in seinen blauen Augen tanzten wieder tausend Teufel. „Da kann er lange warten, was, Männer?" „Ho!" grölten die Männer zurück. „Wir scheißen auf ihn und seine Hampelmänner." Sie behielten ihren Kurs bei. Noch ein Schuß rauschte vor den Bug der „Isabella", noch einmal signalisierte der portugiesische Kommandant, und dann wurde er deutlicher. Hoch am Wind lag seine Galeone nun, auf Parallelkurs mit der „Isabella" - und er eröffnete das Gefecht mit einer halben Breitseite. „Klar bei Lunten!" brüllte Carberry. Hasard warf einen Blick nach achtern und stellte fest, daß die beiden anderen Kriegsschiffe aus Norden und Nordwesten den Anschluß nicht mehr gewinnen konnten. Sie schafften es nicht, aufzuholen. Wenn er nicht Fahrt aus dem Schiff nahm, blieben sie weit hinter ihm zurück und konnten nicht eingreifen. Der Seewolf hatte es also nur mit dem Flaggschiff und der zweiten Galeone zu tun, die jetzt dicht hinter ihrem Anführer in dessen Kielwasser dahinglitt. Nur! Zwölf Stückpforten hatte allein das Flaggschiff an der Backbordseite, zehn waren es bei der anderen Galeone. Sechs Pulverkränze zerfaserten beim Feind, und Hasards Crew duckte sich instinktiv vor der heranorgelnden Ladung. Ruhig und besonnen vollzog die Besatzung des Flaggschiffs ihr Werk, da herrschte keine Panik, da wurde nicht miserabel, sondern sehr gut gezielt.
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Es krachte, prasselte und dröhnte, und die „Isabella" erzitterte unter den Eisenhieben. Ihr Steuerbordschanzkleid, gerade erst von Ferris Tucker repariert, ging zu Bruch, an zwei Stellen, und etwas tiefer klaffte plötzlich ein Leck in der Bordwand über der Wasserlinie. Doch der nächste Treffer konnte schon tiefer sitzen. Die übrigen Kugeln rasten über die Kuhl und hätten um ein Haar Matt Davies, Bill und den Kutscher weggerafft, wenn diese sich nicht an Deck geworfen hätten. „Hölle und Teufel!" schrie Carberry. „Zeigt's diesen Bastarden! Feuern!" Rote Feuerzungen leckten aus den Rohrmündungen der Culverinen - die ganze Steuerbordbreitseite löste sich. Der Lärm der donnernden Kanonen klang ohrenbetäubend auf dem Oberdeck der „Isabella". Beißender gelber Pulverrauch floß in dichten Wolken ineinander, als die schweren Geschütze mit den überlangen Läufen auf ihren Lafettenrädern nach hinten polterten. Die Brooktaue fingen den Rückstoß auf. Carberrys Kommandos gellten. Die Crew stürzte vor, um nachzuladen. „Kettenkugeln", schrie der Seewolf in das Getümmel auf der Kuhl. „Aye, aye!" brüllte der Profos zurück. „Kettenkugeln!" „Shane!" „Hier, Sir!" „Brandpfeile und Pulverpfeile einsetzen!" Shane überließ die Drehbasse des Achterdecks, die er geladen hatte, demalten O'FLynn und hastete los. Batuti befand sich bereits im Großmars und steckte die umwickelte Spitze des ersten Brandpfeils an. Shane enterte in den Vormars auf. Ferris Tucker kauerte an seiner „Höllenflaschenabschußkanone", und der Seewolf bereitete jetzt einen der Brandsätze vor, den er kurz zuvor von Bill hatte heranschaffen lassen. Wenn er nicht von den zu allem entschlossenen Portugiesen lahmgeschossen werden wollte, wußte er diesmal alle Register ziehen und sämtliche verfügbaren Waffen zum Einsatz bringen.
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„Pete!" schrie er seinem Rudergänger zu. „Wir fallen ab, halsen, luven wieder an und zeigen den Hunden die Backbordseite!" Treffer hatte es auch drüben beim Gegner gegeben, aber der Kommandant ließ sich keineswegs einschüchtern. Er gab die zweite halbe Breitseite ab, und dann eröffnete auch die andere Galeone das Feuer auf die „Isabella." *
Zwei lichterloh brennende Schiffswracks ließen die Seewölfe hinter sich zurück das Flaggschiff des portugiesischen Verbandes sank, die Überlebenden retteten sich in die Beiboote und pullten davon. Wenig später zerriß eine Serie von Explosionen die Morgenluft. Die zweite Galeone flog in die Luft. Ihre wirbelnden Trümmer erreichten fast eins der Rettungsboote. Entnervt und zerrüttet pullten die wenigen mit heiler Haut Davongekommenen auf die heransegelnden beiden Galeonen zu, die jetzt fast die Kampfstätte erreicht hatten und doch nicht mehr rechtzeitig genug erschienen, um die „Isabella" anzugreifen. Sie waren nicht schnell genug. Dabei war die „Isabella" schwer ramponiert. Abgesehen von den Lecks und den Schäden am Schanzkleid und auf Deck : Fock- und Großmast waren im oberen Bereich angeknackst worden, die Großmarsrah hatte sich gelöst und war samt Segel auf Deck gekracht. Fast hätte sie zwei oder drei Mann unter sich begraben, nur Hasards Ruf hatte sie vor diesem Schicksal bewahrt. Traurig baumelte die Stenge des Fockmastes auf das Vormarssegel herunter. Das Ruderhaus war zu Bruch gegangen, und Pete Ballie und Ferris Tucker hatten einen Defekt an der Ruderanlage festgestellt. Ferris war inzwischen mit Batuti und Blacky als Helfern unter Deck verschwunden, um ein paar Lecks notdürftig abzudichten. Aber das war noch nicht alles. Hasard verließ das Achterdeck, verharrte auf dem Quarterdeck neben dem
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zertrümmerten Ruderhaus und blickte auf das schwelende Chaos, das sich seinen Augen darbot. Zwischen all dem Durcheinander aus Zerstörung, Schmutz und Rauch gewahrte er die reglosen Gestalten blutender Männer. Der Kutscher rannte mit besorgter Miene auf einen von ihnen zu - Jeff Bowie. „O verdammt", flüsterte der Seewolf. Er raste den Niedergang hinunter, sah im Vorbeieilen einen leicht wankenden Profos mit rußverschmiertem Gesicht und unverletzte Männer, die erste Aufräumungsarbeiten vornahmen - und dann war er bei Jeff und dem Kutscher. Jeff war bei Bewußtsein und grinste sogar. „Sir", sagte er heiser. „Meine Prothese habe ich noch. Wir brauchen also keine neue zu basteln. Nur in der rechten Schulter steckt ein Ding - Teufel, Kutscher, faß mich nicht noch mal an, sonst schmier ich dir eine." „Ein Eisensplitter", murmelte der Kutscher. „Ich muß ihn rausholen, Jeff." „Jetzt gleich oder später?" „Jetzt gleich natürlich." Jeff schnitt eine Grimasse. „Kutscher, du Himmelhund, du machst die Sache mal wieder schlimmer, als sie ist. He, du alter Quacksalber, kümmer dich erst mal um die anderen. Al hat's auch erwischt - und Stenmark, glaube ich." „Hör zu", sagte der Seewolf. „Der Splitter muß raus, Jeff. Stell dich nicht an wie eine Waschfrau." Jeff wollte einen Einwand erheben, aber Hasard fügte rasch hinzu: „Wenn es dir nur darum geht, einen kräftigen Schluck Rum kippen zu können, brauchst du es nur zu sagen." Jeff grinste verkniffen. „Ja - Rum, daswäre jetzt das richtige. Danke, Sir." Hasard entdeckte Bill jenseits der Kuhlgräting und rief ihm zu: „Bill, hol Rum aus der Kombüse. So viele Flaschen, wie du tragen kannst!" „Aye, aye, Sir." Hasard blickte zum Kutscher, ohne daß Jeff es bemerkte, und der Kutscher gab ihm durch seinen Gesichtsausdruck zu verstehen, daß er sich zutraute, den Mann wieder auf die Beine zu bringen, ohne ihm auch noch den rechten Arm amputieren zu
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müssen, obwohl die Blessur fürchterlich aussah. So schlimm, wie der Seewolf anfänglich gedacht hatte, schien sie nicht zu sein. Hasard eilte weiter, zu Al Conroy, der weiter vorn zusammengesunken neben einer Culverine saß und den Kopf auf die Brust hängen ließ. Die „Isabella" pflügte immer noch die See, lag trotz allem hart am Westwind und segelte auf Backbordbug liegend. Es war fast ein Wunder, daß sie sich noch voranbewegte. Hasard kniete sich neben seinen Waffenexperten und ersten Stückmeister und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Al! He, Al!" Al rührte sich nicht. Bill war mit dem Rum bei Jeff Bowie und dem Kutscher angelangt, und Jeff konfiszierte sofort eine Flasche. Hasard winkte dem Moses zu. „Bill, her mit dem Zeug, schnell!" Bill stieg über die heruntergeknallte Großmarsspiere, wich einem Schanzkleidtrümmer aus und hastete auf den Seewolf zu. Als Hasard eine Flasche entkorkte, sie Al an die Lippen hielt und ihm gewaltsam einen ordentlichen Schluck eintrichterte, röchelte und würgte Conroy ein wenig, leckte sich dann grunzend die Lippen und schlug endlich die Augen auf. „Was - geht hier eigentlich vor?" stammelte er. Bill entfuhr es: ,,Oh, Mister Conroy, wir dachten, Sie sind tot." „Tot?" Al grinste schief und massierte sich den Schädel. „Mann, so schnell stirbt man nicht, ich schwör's dir. Hasard - äh, ich meine, Sir, kann ich noch einen Schluck von dem Zielwasser kriegen?" „Erst, wenn du mir gesagt hast, wieso du ohnmächtig geworden bist." Al grübelte nach, dann besann er sich. Er griff hinter sich und klaubte einen dicken Belegnagel aus echter, harter englischer Eiche auf. „Das Ding wirbelte durch die Luft und knallte ausgerechnet mir gegen die Rübe." Hasard streckte ihm die Flasche entgegen. „Hier. Kümmre dich um Luke Morgan, ich
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habe ihn verletzt liegen sehen, hinten, vorm Achterdecksschott. Laß ihm was von dem Rum übrig." Hasard erhob sich wieder, arbeitete sich über das leicht nach Backbord abfallende Deck auf Stenmark zu und untersuchte auch ihn. Der Schwede hatte einen Splitter ins linke Bein gekriegt, aber Gott sei Dank handelte es sich nur um eine Fleischwunde. Hasard drehte sich zu Bill um. „Junge Rum auch für Sten!" Er wollte noch etwas hinzufügen, aber da sah er Shane aus dem Vormars abentern. Schwerfällig hangelte der schwarze Mann in den Luvwanten abwärts. Plötzlich drohte er das Gleichgewicht zu verlieren und abzurutschen. „Shane!" Der Seewolf sprang auf und lief zu ihm. Big Old Shane hatte sich aber schon wieder gefangen. Er legte den Rest seines Weges zurück und ließ sich leise wetternd auf den Planken nieder. Unter seinem Bartgestrüpp war er verdächtig bleich. „Nichts von Bedeutung", sagte er, als er den Seewolf vor sich erkannte. „Die verdammte Stenge kam mit einemmal runter und knallte mir vor 44 den Leib. Das schmerzt noch ein bißchen." Hasard tastete Spanes Schultern und Brust ab, und der Koloß verzog gequält das Gesicht. Ein paar Rippen waren garantiert geprellt, wenn nicht gebrochen. Mit einem nicht mehr voll manövrierfähigen Schiff und einer nur noch bedingt einsatzfähigen Mannschaft mußte der Seewolf jetzt Formosa anlaufen und nach einer geschützten Bucht, einer Flußmündung oder etwas Ähnlichem suchen, in die er sich verholen konnte. * Bis zum Abend einen solchen Unterschluß zu. finden, war keine einfache Sache. Aber diesmal ließ das Glück die „Isabella" und ihre Männer nicht im Stich. Am Nachmittag hatten sie Formosa an der südlichen Kimm vor sich, Formosa mit seichten Stränden und sanft
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geschwungenen Hügeln, die sich weiter zum Binnenland hin zu imposanten. Bergrücken erhoben. Diese Insel mit ihrem friedlichen Bild lud zum Verweilen ein. Hasard war auf der Hut. Jeden Augenblick konnten wieder portugiesische oder spanische Schiffe auftauchen. Wer wußte denn, wie viele Feinde überhaupt auf der Insel und in ihrer Umgebung lauerten? Hasard stand auf dem Achterdeck und beobachtete unausgesetzt mit dem Spektiv, er war bleich, von den Spuren des Kampfes gezeichnet und nicht bereit, noch einmal einen schalen Kompromiß einzugehen, ganz gleich, welcher Art. Das hieß: sobald ein Gegner erschien, griff er ihn ohne Vorwarnung an. Ja, der Seewolf war erbittert. Nicht wegen der Schläge, die er und seine Männer hatten einstecken müssen, sondern immer noch wegen des gemeinen, hinterhältigen Tricks des Capitans der „Sao Fernao". Hätte der nicht diese elende Falle aufgebaut, hätte das zweite Gefecht wahrscheinlich gar nicht stattgefunden. Wenn der Feind jetzt zu solchen Mitteln griff, dann würde auch er, Philip Hasard Killigrew, alle Fairneß und Menschlichkeit aufgeben und nur noch hart und gnadenlos vorgehen. Dans Ruf riß ihn aus seinen Überlegungen. Er schien an der Nordküste der Insel etwas entdeckt zu haben. Hasard spähte selbst hinüber: Eine Floßmündung öffnete sich Steuerbord voraus. „Sie ist nicht sehr breit", sagte Hasard zu Ben Brighton. „Aber wir könnten es versuchen. Ehe wir etwas anderes finden, vergeht vielleicht zuviel Zeit. Achten wir auf Untiefen. Smoky!" „Sir?" „Du lotest von der Galion aus mit dem Senkblei die Wassertiefe aus. Wir versuchen, uns bis auf den Fluß vorzutasten." Rund eine halbe Stunde später ankerte die große Galeone eine dreiviertel Meile oberhalb der Mündung im Fluß. Dichtes Gebüsch und Bäume, die aus dem Grün aufragten, säumten beide Floßufer, Weiter
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aufwärts schien sich der Lauf des Gewässers beträchtlich zu verengen. Hasard hatte ein Boot abfieren lassen und mit Carberry, Smoky, Matt Davies und Bob Grey vorausgeschickt. Sie waren mit dem Ergebnis zurückgekehrt, daß die Wassertiefe von nun an nicht mehr ausreichte, um die „Isabella" passieren zu lassen. Während die vier Männer an Bord aufenterten und das Beiboot wieder hochgehievt wurde, wandte sich Hasard an Ben. „Weiter brauchen wir auch nicht zu segeln. Der Wind hat uns glücklich bis hierher befördert, und der Fluß beschreibt eine Biegung zum Meer hin. Von See aus ' kann uns keiner sehen." Ben wies zum Himmel, wo sich die .Schleier der Dämmerung zusammenschoben und das Sonnenlicht verdrängten. „Bei Dunkelheit sowieso nicht. Wir liegen hier gut und haben Zeit aufzuklaren, die Schäden zu reparieren parieren und unsere Verwundeten zu pflegen, wie's sich gehört." Ja, die Verwundeten - Hasard begab sich auf die Kuhl hinunter und betrat das Achterkastell. Er hatte dem Kutscher vier Kammern zur Verfügung gestellt, dort hatte der Kutscher Jeff, Al, Luke und Stenmark untergebracht. Big Old Shane hatte sich trotz allen Protesten in den Raum zurückziehen müssen, den er auch sonst im Achterdeck bewohnte. Der Kutscher hatte seine Brust kunstvoll verbunden. Der ehemalige Schmied von Arwenack brauchte Ruhe, viel Ruhe. Jeff Bowie war ohnmächtig geworden, als der Kutscher ihm den Eisensplitter aus der Schulter gegraben hatte. Luke Morgan lag mit einem dicken Kopfverband in der Koje, er war von schwirrenden Trümmerteilen erwischt worden. Stenmark kurierte seine Beinwunde aus - nur Al Conroy war schon wieder auf den Beinen und trat im Gang auf den Seewolf zu. Hasard blieb stehen und maß ihn mit einem langen Blick. „Soll das heißen, daß du wieder auf dem Damm bist, Al?"
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„Jawohl. Melde mich zurück zum Decksdienst. Ehrlich gesagt, es ist verdammt langweilig hier unten." „Das hat Shane auch schon gesagt", erwiderte Hasard. „Meinetwegen, du kannst auf Oberdeck zurückkehren, aber harte Arbeit ist noch nicht wieder drin." Conroy räusperte sich. „Sir, ich bin wirklich nicht zimperlich, was solche Kopfnüsse betrifft." Von achtern näherte sich eine Gestalt. Sie entpuppte sich als die des Kutschers. „Das würde auch keiner behaupten", sagte er. „Nur hast du eine leichte Gehirnerschütterung, weil du nicht nur den Belegnagel auf den Schädel gekriegt hast, sondern auch noch mit dem Hinterkopf beim Bewußtloswerden gegen die Culverine geschlagen bist. Große Belastungen könnten da zu ernsthaften Konsequenzen führen, jedenfalls innerhalb der nächsten - sagen wir mal vierundzwanzig Stunden." „Mensch, Kutscher", sagte Al. „Was kann mir denn schon passieren?" Der Kutscher verharrte dicht vor ihnen. „Tot umkippen könntest du. Einfach so. Gehirnschlag nennt man das." Al Conroy verschluckte sich fast. „Also, ich gehe jetzt auf die Kuhl und verhalte mich ganz brav, ja?" „Genehmigt", antwortete der Seewolf. Al verließ den Gang, und Hasard wandte sich an den Kutscher: „Wie steht es mit den anderen? Laß dir die Würmer nicht einzeln aus der Nase ziehen, Kutscher." „Nein, Sir. Ich kann dich gleich beruhigen Amputationen brauchen nicht vorgenommen zu werden. Jeff Bowies Wunde bereitet mir keine Sorgen mehr, er könnte ein bißchen Fieber kriegen, aber ich habe den Eisensplitter säuberlich herausgeholt und bin ziemlich sicher, daß er den Wundstarrkrampf nicht zu fürchten braucht." „Und Luke Morgan?" ;,Fünf Schrammen am Kopf und zwei Beulen. Nichts Lebensgefährliches. Ich habe ihm die Haare abrasieren müssen." „Na, der wird schön fluchen. Wie sieht es mit unserem Schweden aus?"
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„Es ist wirklich nur eine Fleischwunde, der Beinknochen ist nicht verletzt. Auch ihm habe ich die Splitter rausgepult, es waren drei." „Gut, Kutscher. Shane?" „Wenn er sich so wenig wie möglich bewegt, verheilen die angeknacksten Rippen ziemlich schnell. Ganz gebrochen ist keine. Aber Shane braucht sich bloß ein bißchen in der Koje zu drehen, und schon kriegt er mächtige Schmerzen. Ich habe ihm eine ganze Flasche Rum dagelassen." Hasard genügte dieser Bericht fürs erste. Er wollte die Kameraden in den Kammern vorläufig nicht aufsuchen. Vor allen Dingen verspürte er kein Verlangen danach, sich Shanes Protestgeschrei anzuhören - es gab noch etwas Wichtigeres zu tun. „Sobald sich Veränderungen ergeben, sagst du mir sofort Bescheid", ermahnte Hasard den Kutscher. „Ich verlasse das Schiff für einige Zeit, aber du schickst mir einen Boten nach oder gibst ein Signal, falls bei einem unserer Verletzten eine Verschlechterung des Zustandes eintritt, verstanden?" „Aye, Sir." Hasard kehrte auf das Oberdeck zurück. Die Luft war merklich abgekühlt, und das Dämmerlicht schickte sich an, zu völliger Dunkelheit zu verblassen. Der Seewolf blickte zum östlichen Flußufer. Das Dickicht wirkte irr, Halbdunkel noch verfilzter und undurchdringlicher als vorher. Und dennoch: Es wartete auf ihn... Mit den Ausbesserungsarbeiten am Schiff konnten er und seine Crew erst bei Anbruch des neuen Tages beginnen. Es hatte keinen Zweck, die Galeone im Dunkeln reparieren zu wollen. Nur die gröbsten Aufräumarbeiten an Oberdeck wurden gerade von den Männern zu Ende geführt. Sie schafften die Trümmer beiseite, damit keiner darüber stolperte. Carberry kommandierte auf die übliche Weise herum und behauptete, die ganze Meute bestünde nur aus „disziplinlosen Säcken".
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Eigentlich war jetzt die Zeit gekommen, Atem zu schöpfen und zu regenerieren. Aber da war die Insel. Formosa, die große, unbekannte Insel. Mit Inseln hatten Hasard und seine Getreuen reiche Erfahrung. Inseln konnten wie das Paradies sein und verzaubern. Inseln erwiesen sich in vielen Fällen aber auch als abweisend, menschenfeindlich, ja, tödlich. Die Nacht hereinbrechen zu lassen, ohne wenigstens die nähere Umgebung ausgekundschaftet zu haben, wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen. „Ed", sagte der Seewolf vernehmlich. „Ferris, Smoky, Matt Davies, Sam Roskill und Batuti. Wir fieren das kleinste Boot ab und gehen an Land." Etwas später schob sich das Boot unter den Riemenschlägen der Männer von der Galeone fort. Der Bug teilte das Wasser des Flusses, das in kleinen fächerförmigen Wellen zu den Seiten auseinanderkräuselte. Hasard saß auf der achteren Ducht und hielt die Ruderpinne. Er wandte sich zu seinem Schiff um und erblickte im ersterbenden Licht eine „Isabella", die ihm das Herz zusammenkrampfte. Ein Bild des Jammers, ein halbes Wrack, und er fragte sich unwillkürlich, wie sie es geschafft hatten, diesen zerrupften, flügellahmen Schwan noch in die Flußmündung zu bugsieren. Ben Brighton sah ihnen vom Achterdeck aus nach. Während Hasards Abwesenheit hatte er das Kommando über die „Isabella". Hasard wußte nicht genau, warum er sich das östliche Flußufer für die Landung ausgesucht hatte. Es ähnelte dem gegenüberliegenden aufs Haar. Zu beiden Seiten wucherte das Gesträuch bis dicht ans Wasser, einen Sandstreifen, über den leichtfüßige Teichläufer und andere neugierige Vögel eilen konnten, gab es nicht. Die Wahl des Landeplatzes war weniger eine willkürliche als vielmehr eine instinktive Sache. Das Boot glitt unter Hasards Führung in die Blätter und Halme. Carberry und die anderen holten die Riemen binnenbords. Ferris Tucker sprang
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an Land, vertäute das Boot, und nun stiegen auch die anderen rasch hintereinander aus. Die Feuchtigkeit eines tropischen Waldes umfing sie. Aber sie brauchten sich mit den Säbeln, Degen und Entermessern keinen Pfad zu schlagen. Sie gelangten auch so erstaunlich gut voran. Die Sträucher gaben unter den teilenden Bewegungen ihrer Hände bereitwillig nach. 8. Hasard hatte sich an die Spitze des kleinen Trupps gesetzt. Bald hatten sie einen Wald erreicht und konnten die „Isabella" und den Fluß nicht mehr hinter sich sehen. Der Seewolf blieb kurz stehen und sagte: „Wir schlagen einen Bogen, kehren zum Boot zurück, setzen über und nehmen uns dann das andere Ufer vor." Ferris hatte den Geräuschen gelauscht, die aus dem Dickicht drangen. Das Raunzen und Quaken von Fröschen, das Zirpen der Zikaden, das leise Locken unbekannter Nachtvögel, die erst jetzt zu Aktivitäten erwachten. „Leben scheint's hier genug zu geben", sagte er leise. „Die Frage ist nur, wie steht's mit Zweibeinern?" „Vielleicht ist der Nordteil der Insel unbewohnt"' meinte Smoky. Carberry sog schnaubend die Atemluft ein, dann entgegnete er: „Schön wär's. Teufel, zu schön, um wahr zu sein." „Müssen wir denn immer anecken?" zischte Ferris Tucker. „Wir haben schon genug Ärger am Hals. Ruhe täte verdammt not. Ich rechne mir aus, daß es hier für die Dons nichts zu holen gibt, folglich spuken sie hier auch nicht herum." „Es sei denn, sie folgen uns", sagte der Profos grinsend. „Hast du die beiden heilen Galeonen vergessen? Die kreuzen hier bestimmt bald auf, um ihren Kommandanten und ihre Kameraden zu rächen." Lauernd schaute er sich nach allen Seiten um. „Und noch was. Denkt denn keiner an die Eingeborenen?"
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„Blutrünstige Kopfjäger", sagte Matt Davies. „Und gleich bricht bestimmt auch ein zweiköpfiges, feuerspeiendes Ungeheuer aus dem Busch." „Ja, du", grollte Carberry. „Spotte du man. Ich traue dem Frieden nicht, und jede neue Insel ist für mich erst mal Feindgebiet." „Das Gerede bringt uns nicht weiter", raunte der Seewolf ihnen zu-. „Los, wir marschieren noch eine halbe Meile nach Süden und sehen nach, ob es ein Dorf oder irgendeine Kolonie gibt. Wenn nicht, ist für uns schon viel gewonnen." Viel Gutes erwartete Hasard von Formosa auch nicht. Was war das nun? Gesundes Mißtrauen oder genau die Art von Pessimismus, die die Crew immer an Old O'Flynn bemängelte? Die halbe Meile lag fast hinter ihnen, das Dickicht wucherte üppig, hüllte sie ein und schien nie enden zu wollen - da, urplötzlich, geschah es. Hasard bemerkte eine Regung rechts neben sich und reagierte sofort. Seine Hand fiel auf den Kolben der doppelläufigen sächsischen Reiterpistole. Sie steckte geladen in seinem Gurt. Aber bevor er sie zücken konnte, schnellte neben ihm etwas, nein, jemand mit geradezu atemberaubender Behendigkeit aus dem Gebüsch und warf sich auf ihn. Der Bursche stieß einen heiseren Laut aus, der wie ein langgezogenes „Haahh" klang. Gleichzeitig vernahm der Seewolf hinter sich unzählige ähnliche Laute. Carberry, der hinter Hasard schritt, hätte seinem Kapitän gern geholfen, aber er erhielt keine Gelegenheit dazu. Unversehens hatte auch er zwei Angreifer an der Gurgel hängen. ' Und Ferris, Smoky, Matt, Sam und Batuti? Die sahen sich einer aus den Sträuchern hochwachsenden Übermacht von Kerlen gegenüber und fanden ebenfalls keine Zeit, die Waffen zu zücken. Das Tempo, mit dem diese Fremden über sie herfielen, war wirklich umheimlich. Das Dämmerungslicht war der Dunkelheit gewichen, aber eins konnte Hasard in diesem Moment doch erkennen: Portugiesen oder Spanier waren diese
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zähen Angreifer nicht. Klein von Gestalt, fremdländisch kostümiert und schlitzäugig, konnten sie nur Asiaten sein, Chinesen wahrscheinlich, vielleicht aber auch Japaner oder Malaien, denn als Piraten waren diese Burschen überall vor der Küste des Kontinents anzutreffen. Erst vor kurzem hatten die Seewölfe ein hartes Gefecht mit japanischen Freibeutern gehabt. Das war vor Schanghai gewesen. Weitere Erwägungen über die Herkunft der Gegner konnte Hasard nicht anstellen. Er mußte sich seiner Haut wehren. Etwas knallte von rechts mit voller Wucht gegen seine Wange. Was war das - ein Knüppel? Hasard stöhnte auf- sank nach links und versuchte, eine weitere Attacke abzublocken, doch der rasende Angreifer war schneller. Er riß den Fuß hoch und stieß dabei wieder einen dieser merkwürdigen Laute aus. Der Seewolf fühlte sich hochgehoben, rückwärts geschleudert und landete in den feuchten Büschen. Sein Kopf schmerzte, und seine Hüfte tat weh, dort, wo ihn der Fuß bretthart getroffen hatte. Er lag auf dem Rücken, hielt die Augen geöffnet und stellte zu seiner Überraschung fest, daß der Gegner doch nicht mit einem Knüppel bewaffnet war. Nein. Er kämpfte mit bloßen Fäusten - und Füßen. Hasard war versucht, doch die Doppelläufige zu zücken. Hatte er sich nicht geschworen, keine Rücksicht mehr zu nehmen? Aber seine Veranlagung für den gerechten, ehrlichen Kampf war stärker als jede andere Überlegung. Er ließ also Radschloßpistole, Degen und Messer stecken und rappelte sich auf, um den flinken Kerl mit ein paar Boxhieben niederzustrecken. Rundum prügelten sich die fluchenden Männer mit der Meute von Gegnern, und auch Carberry, Smoky, Ferris, Matt, Sam und Batuti fiel es nicht ein, die Waffen anzuwenden. Für sie war das unter anderem auch eine Sache des Stolzes. Wer wollte sich schon damit brüsten, einen
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Unbewaffneten mit einem Schuß oder Streich niedergestreckt zu haben? Zwanzig mochten es sein, die ihnen da aufgelauert hatten, vielleicht noch mehr. Bei Schlägereien hatten sich die Seewölfe schon gegen Angreiferrudel behauptet, die zahlenmäßig drei- oder viermal so stark wie sie gewesen waren. So rechneten sie sich auch hier eine Chance aus, die Oberhand zu gewinnen. Carberry hatte die beiden Gegner abgeworfen, nachdem sie auf seinen Rammschädel eingedroschen hatten. Jetzt stand er wankend da, holte aus und landete einen furchtbaren Hieb in den Rücken eines Kerls. Jawohl, er fällte ihn, aber dann waren schon wieder drei da, die ihn mit Fäusten und Füßen traktierten. Smoky plante, einen dieser wieselschnellen Burschen am Fußknöchel zu packen. Statt dessen lag er plötzlich auf dem weichen Untergrund. Er überrollte sich, und die Bewegung rettete ihn vor einem wuchtigen Tritt gegen die Schläfe. Matt Davies fühlte plötzlich etwas an seinem Kinn explodieren, etwas wie eine Höllenflasche aus der Spezialitätenkiste von Ferris Tucker. Daß es eine simple, knöcherne Faust war, wurde ihm nicht mehr klar. Seufzend sank er zu Boden. Batuti brüllte wütend auf und ließ seine mächtigen Arme wie Windmühlenflügel kreisen. Zwei, drei Angreifer riß er glatt um, sie keuchten entsetzt. Aber dann knallte eine Fußspitze in seinen Bauch. Der Goliath aus Gambia krümmte sich und war für einen Moment ohne Deckung. Das genügte den Fremden. Sie drangen zu dritt auf ihn ein, und dann hatte Batuti ungefähr das gleiche Gefühl wie Matt Davies. Nach der „Explosion" versank jedoch alles in erlösender Dunkelheit. Hasard war erneut gestrauchelt. Er ließ seinen Gegner aufrücken, dann - in rascher Angleichung an die Taktik des anderen stieß er seinen rechten Fuß vor. Er erwischte den Kerl am Schienbein, trat noch einmal zu und brachte ihn dadurch aus dem Gleichgewicht. Blitzschnell war Hasard wieder auf den Beinen, fing den
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Mann ab und wollte ihn bewußtlos schlagen. Aber der Bursche war wie ein Aal zwischen seinen Fingern. Er entglitt nach unten, huschte davon und stieß ein paar harte, kehlige Laute aus. Hasard vermutete, daß es sich um einen chinesischen Dialekt handelte. Hasard wollte dem kleinen Mann nach, stolperte jedoch über ein hurtig ausgestrecktes Bein und stürzte. Carberry und die anderen fluchten um die Wette, sie lagen auch am Böden. Als sie sich alle wieder erhoben hatten, war der prügelnde Spuk plötzlich verschwunden, als ob es ihn nie gegeben hätte. „Ihnen nach!" brüllte der erboste Profos. Hasard war als erster im angrenzenden Gestrüpp, aber es war, als habe das Dickicht die Widersacher regelrecht verschluckt. Sie waren nicht mehr zu sehen, nicht zu hören und hatten keine Spuren hinterlassen. Hinzu kam die Dunkelheit. „Verdammt und zugenäht", wetterte Carberry. „So was hat die Welt noch nicht erlebt. Waren das Dämonen?" „Hör auf", tönte Ferris' Organ. „Das waren ganz normale Menschen. Möchte bloß wissen, woher die die Kraft nehmen, uns ... Mann, so hat mich noch keiner zu Boden geworfen!" „Eine Schande!" rief Sam Roskill. „Daß wir vor solchen Zwergen kapitulieren müssen. Na, die können noch was erleben!" „Matt", sagte Smoky. „He, wo steckst du?" Er erhielt keine Antwort. „Das Rübenschwein nimmt uns mal wieder auf den Arm", knurrte der Profos. „Davies, paß bloß auf. Ich schlage dir einen Knoten in die Beine, wenn du nicht sofort klarzeigst und dich meldest." Matt meldete sich nicht. „Vielleicht ist er besinnungslos", meinte Ferris Tucker. „Matt!" „Hat jemand eine Ahnung, wo Batuti ist?" fragte Smoky plötzlich. „Der war doch eben noch hier", erwiderte Sam Roskill.
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Hasard hatte sich umgedreht und kehrte zu dem Platz zurück, an dem der Kampf stattgefunden hatte. Plattgedrückte Blätter und Stengel waren deutliche Spuren des Getümmels, das sich hier abgespielt hatte. Matt Davies und Batuti waren nirgends zu entdecken. „Suchen wir sie", sagte Hasard. Ungefähr zehn Minuten später wußte er es eingestehen. „Sie haben sie niedergeschlagen und mitgenommen. Hölle und Teufel, diese verdammten Bastarde haben sie verschleppt", stieß er voll Wut hervor. Er begann zu fluchen, wie er selten zuvor geflucht hatte. Eine Niederlage wie diese hatte er auch noch nicht erlebt, nicht zu Wasser, nicht zu Land. Kleine Männer, die ganz ohne Waffen gegen kampf- und sturmerprobte Seeleute vorgingen und es dann auch noch schafften, eine Entführung zu unternehmen - war das noch zu fassen? „Die haben magische Kräfte", flüsterte Sam Roskill. „Hör auf", fuhr Ferris Tucker ihn an. „Mir wird schlecht, wenn ich so was höre." „Sam und Smoky", sagte der Seewolf leise. „Ihr kehrt zum Schiff zurück und holt Verstärkung. Falls ihr unterwegs angegriffen werdet, schießt ihr in die Luft. Falls man euch arg zusetzt, feuert ihr um euch, verstanden? Ben soll jeden Mann schicken, den er an Bord entbehren kann. Wir müssen Matt und Batuti suchen und wiederfinden, koste es, was es wolle. Wir müssen eine Spur entdecken - und wenn wir uns die ganze Nacht um die Ohren schlagen." * Matt Davies zwinkerte probeweise mit den Augenlidern. Sie ließen sich tatsächlich bewegen, obwohl sie schwer wie Blei zu sein schienen. Matt gab eine Art verhaltenes Grunzen von sich, dann versuchte er, was er schon seit ein paar Minuten, seit seinem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit, vorhatte. Er hob den Kopf.
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Das Ergebnis war, daß eine Flut von Schmerzen durch seinen Schädel tobte und sich bis in den Oberkörper fortsetzte. Matt versuchte, seine Gliedmaßen zu bewegen, aber die schienen auf dem Boden festgenagelt zu sein. Außerdem taten auch seine Beine, seine Arme und der gesamte Unterleib mit Hüften und Lenden höllisch weh. Ungefähr so wußte einem zumute' sein, den man aufs Rad gebunden hat. Matt fluchte kräftig, aber das half auch nichts. Das einzige, was er im Moment tun konnte, war, die Augen offenzuhalten und die Welt über sich zu studieren. Im rötlichen, dämmrigen Licht zeichneten sich hoch über ihm Balken ab, mächtige Balken. Es mußte eine hübsche Arbeit gewesen sein, sie dort hinaufzuhieven. Ein seltsamer Geruch stieg Matt in die Nase. Irgendwo hatte er schon mal etwas Ähnliches wahrgenommen, wo war das nur gewesen? Er grübelte, und auch das Denken schien Schmerzen zu bereiten. Allmächtiger, vielleicht bin ich schon tot, sagte er sich. Der Geruch hatte mit dem Licht zu tun. Richtig: Im Palast des Großen Chans Wan Li waren Ochsenfettkerzen angezündet worden, als der Herrscher ihnen die erste Audienz gewährt hatte. Zusammen mit dem Weihrauch, den die Chinesen überall durch die Gegend fächelten - sie schienen ihn über alles zu lieben -, ergab das genau diese Duftnote hier. Ich bin also noch in China, schlußfolgerte Matt, na, meinetwegen, und eine ärmliche Hütte scheint's nicht gerade zu sein, in die ich... Er stutzte. Ja, Teufel noch eins, wie war er denn überhaupt hierher geraten? Die schlagenden Gnome - nur sie konnten ihn aus dem Dickicht hochgehoben und davongeschleift haben. Matt Davies war erbost, er ballte die Hände. Wieder wollte er sich aufrichten, aber wieder tobte der Schmerz durch seinen zerschundenen Körper.
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Er stöhnte, wandte den Kopf nach rechts und entdeckte etwas Eindrucksvolles. Da lag ein schwarzer Berg, kolossal und irgendwie beängstigend in seiner Reglosigkeit. Wie viele der Kerle mußten ihn gepackt haben, um ihn hochzuhieven und zu tragen - zwölf, fünfzehn? „Mann, Batuti", raunte Matt entsetzt. Batuti rührte sich nicht. Etwas Eisiges griff nach Matts Herzen, aber dann registrierte er, daß sich die Brust des schwarzen Mannes sanft hob und senkte. Matt atmete pfeifend aus. Wenigstens das war ihm erspart geblieben - Totenwache bei einem verblichenen Kameraden halten zu müssen. Wache? Er wandte den Kopf zur anderen Seite, und das tat gar nicht mal so weh, wie er befürchtet hatte. Nein, Wachen standen da nicht. Das einzige, was ihm auffiel, war die Länge und Höhe des Saales, in dem sie lagen. Beeindruckend! Ganz am Ende waren im schummrigen Schein der dicken Kerzen zwei oder drei Gestalten, aber Matt hatte schnell raus, daß es sich um Statuen handelte. Und noch etwas wurde ihm erst jetzt richtig bewußt. Er war nicht gefesselt worden. Batuti auch nicht. Diese etwas späte Erkenntnis verlieh ihm den nötigen Auftrieb. Er scherte sich einen Kehricht um die Schmerzen, richtete sich auf, stützte sich mit den Händen ab und rückte auf Batuti zu. Grausam würgte es in Matts Hals, sein Kinn schien ein brennender Teerklumpen zu sein, aber alles in allem war die Lage schon wesentlich erträglicher geworden. Das bedeutete, die Schmerzen klangen allmählich ab. „Batuti", sagte Matt Davies. Der schwarze Goliath klimperte ein wenig mit den Augendeckeln. Matt mußte grinsen, obwohl ihm eigentlich nicht danach zumute war. „He", brummte er. „Nun rappel dich schon auf, sonst vergammeln wir hier noch. Hast du viel abgekriegt?" „Wieso?" Batutis Stimme klang, als käme sie geradewegs aus einer Gruft. „Jemand einen ausgegeben?"
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„Du Stint", zischte Matt. „Das ist jetzt nicht der Moment, um miese Witze zu reißen." Batuti riß die Augen auf und starrte ihn an. Ihm war anzusehen, daß er tatsächlich völlig verwirrt war. Seine Äußerung war völlig spontan gewesen, vielleicht hatte irgend etwas seine Erinnerung an die Vorweihnachtsfeier und den Kuchen des Kutschers geweckt, vielleicht der Duft der Kerzen. Traurig verzog er das Gesicht. „Batutis Knochen kaputt. Alles tut weh. Schöner Mist, Matt, was?" „Ja. Aber sie haben uns nicht gefesselt, die Bastarde." „Die - wer?" „Die Giftzwerge meine ich." Batuti schien sich jetzt des Kampfes im Gestrüpp zu entsinnen. „0 ja. Böse Teufel. Matt - wo sind Hasard und andere Männer?" „Das müssen wir erst noch herauskriegen. Jetzt versuch mal aufzustehen, dann sehen wir weiter." Batuti gab sich wirklich Mühe, aber er sackte beim ersten Experiment gleich wieder zurück. Sein Gesichtsausdruck wurde noch trauriger. Er rieb sich den Schädel, die Schultern und den Bauch, in den er zwei Fußtritte gekriegt hatte. Matt schaute sich wieder um. Hatten da nicht eben Schritte geklungen? Nein, er hatte sich wohl getäuscht. Es blieb alles ruhig, und niemand ließ sich sehen. Matts Blick streifte Gedächtnistafeln, Bilder und Statuen. Alte chinesische Weise oder irgendwelche Würdenträger schauten aus diesen künstlerischen Darstellungen fast lebensecht auf ihn und den Neger herunter. Plötzlich ertönte irgendwo ein Gongschlag. Gedämpft. Einmal nur. „Los", wisperte er. „Wir müssen hier weg. Das- könnte ein Zeichen sein." „Für uns?" Batuti schaute richtig verzweifelt drein, aber er schaffte es jetzt doch, sein Hinterteil hochzuwuchten und sich zu seiner beachtlichen Lebensgröße zu erheben. Mannhaft ertrug er die Schmerzen.
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„Frag doch nicht so dämlich", sagte Matt Davies. „Natürlich nicht für uns, sondern für die Giftzwerge. Sie können jeden Augenblick auftauchen und uns holen. Zu was und warum, weiß der Henker, aber was Gutes kommt bestimmt nicht dabei heraus." Batuti zuckte zusammen. Er hatte sich umgedreht und an der Wand, die Matt noch nicht inspiziert hatte, einen Altarschrein entdeckt. Das war nichts für sein Gemüt. Sofort tauchten wieder böse Geister vor seinen Augen auf, Dämonen und andere Kreaturen, die den Leibern der Verstorbenen entschlüpften. Dies hier schien eine Kultstätte zu sein, und der schwarze Mann fragte sich, warum er, ausgerechnet er, das Pech gehabt haben mußte, an diesen unheimlichen Platz zu gelangen - zumal er doch so abergläubisch war. Matt drängte wieder zur Eile. Er hatte einen Durchgang entdeckt, eine Art Tür. Sie steuerten auf diese Passage zu, einen kreisrunden gemauerten Bogen in der dunkelsten Saalwand. Dahinter schien ein anderer Raum zu liegen. Sie sicherten nach allen Seiten. Matt tastete dabei unwillkürlich nach den Waffen. Aber nein, die hatten die Feinde - ihnen nun wirklich abgenommen. Noch im Besitz von Pistole, Messer und Cutlass zu sein, Batuti mit dem Morgenstern ausgerüstet, das wäre dann doch zu schön gewesen. Sie hatten den gemauerten Bogen erreicht, und Matt schickte sich an; als erster hindurchzupirschen. Drüben, jawohl, da dehnte sich eine schwach beleuchtete Halle aus. Kein Mensch war darin zu entdecken. Aber plötzlich verstellten sie ihm den Weg: Zwei Gestalten, die von links und von rechts aus ihrer Deckung erschienen. Sie maßten hinter der Wand gelauert haben. Sie waren schwarz und dunkelblau gekleidet und trugen kleine Kappen auf den Köpfen. Zöpfe hatten sie auch, aber das bemerkenswerteste war wohl, daß nur einer ein „Zwerg" war. Der andere überragte ihn um mehr als Kopfeslänge.
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Ein wuchtiger Kerl, fast so groß wie Batuti. Matt war geduckt stehengeblieben. Er hob jetzt langsam seinen Eisenhaken und sagte: „Also dann. Kommt her, ihr Kakerlaken. Einmal habt ihr mich erledigt, ein zweites Mal passiert's nicht wieder. Mit dem Ding hier kann ich nicht nur Spundlöcher verdübeln und Holz hacken, ich kann euch damit auch den Hintern aufreißen." „A aiab aiam heich hq dla", antwortete der kleine Chinese. Und sein großer Kumpan warnte Matt mit zusammengezogenen Brauen: „Loo! U yüto tschu u!` „Das könnte euch so passen", zischte Matt, obwohl er kein Wort verstanden hatte. „Euch zeig ich jetzt, was es heißt, einen Matt Davies niederzuschlagen." Er rückte noch ein Stück vor und stieß den Eisenhaken auf den Großen zu. Einfach nur, um ihn zu erschrecken. Batuti war dicht hinter Matt, bereit, sofort in den nun beginnenden Kampf einzugreifen. Aber Matt fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Eine unerklärliche Kraft beförderte ihn durch die Luft, zwischen dem „Gnom" und dem Riesen hindurch, und er segelte in die andere Halle hinüber. Unsanft landete er. Batuti wollte sich auf die beiden Chinesen stürzen, aber dann hatte er ungefähr das gleiche Empfinden. Plötzlich lag er auf dem Boden, sein Kopf und seine Gliedmaßen schmerzten, daß ihm fast die Sinne schwanden. Von allen Seiten eilten schnatternde Gestalten auf sie zu, hoben sie auf und trugen sie durch die Halle. Matt strampelte mit den Beinen, aber er konnte sich nicht befreien und hatte keine Chance. Batuti war auch nicht ohnmächtig geworden, aber er war zu benommen, um etwas gegen die vielen Gelbmänner zu unternehmen. Er hörte, wie sie tuschelten. Nur zwei Wörter verstand er: „Hei Lien, Hei Lien." Immer wieder stießen sie diese Worte aus, die übersetzt „schwarzes Gesicht" bedeuteten. So hatte man den Gambia-Mann schon in Xiapu bezeichnet. Ging das jetzt alles
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wieder von vorn los, würde man prüfen, ob seine schwarze Farbe echt oder nur aufgemalt war? Und welche übernatürlichen Kräfte hatten diese Kerle hier, daß sie einen Batuti von den Socken hauen konnten? Er begann ernsthaft daran zu glauben, daß sie böse Geister waren. Ihm war nicht nur schwindlig, sondern auch entsetzlich elend zumute. 9.
Hasard und seine Männer hatten am Hang eines Hügels Rast eingelegt. Sie waren erschöpft und blickten träge, ohne Begeisterung zum östlichen Himmel, wo jetzt der Morgen blaßrot aufstieg und sich immer weiter ausdehnte. Die ganze Nacht über hatten sie nach Batuti und Matt Davies gefahndet - ohne Erfolg. Hasard hatte alle verfügbaren Männer der „Isabella" mobilisiert und mit auf die Suche genommen. Systematisch hatten sie das Dickicht und die Wälder durchkämmt. Außer den fünf Verwundeten, waren nur Ben Brighton und der Kutscher auf der Galeone zurückgeblieben. Kurz vor Anbruch des Tages hatte Hasard Dan O'Flynn als Boten zum Schiff zurückgeschickt. Er sollte sich nach Neuigkeiten erkundigen und dann wieder das Hügelland aufsuchen. Minuten des Schweigens verstrichen. So entmutigt waren die Männer der „Isabella" schon lange nicht mehr gewesen. Ein unheimlicher Gegner auf unbekanntem Terrain, keine Fährte, kein Hinweis auf die verschollenen Kameraden - das setzte ihnen schwer zu. Es raschelte im Gebüsch. Dan trat heraus, er schwitzte und ließ sich neben den Seewolf sinken. „Auf der ‚Isa` sind sie auch nicht", begann er. „Aber das hatten wir uns ja schon gedacht." „Matt und Batuti brauchen dringend unsere Hilfe", sagte Hasard. „Aus eigener Kraft können sie sich nicht befreien. Wie geht es Jeff, Al, Luke, Stenmark und Shane?"
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„Schon besser. Jeffs Fieber ist abgeklungen, er fühlte sich bereits putzmunter. Als er gehört hat, was passiert ist, wollte er gleich mit von Bord." „Kommt gar nicht in die Tüte", sagte Carberry. „Bildet der Stinkstiefel sich etwa ein, er kann schon wieder Bäume ausreißen?" „Al Conroy wollte sich mir auch anschließen", fuhr Dan fort. „Die anderen auch. Ich habe ihnen gesagt, daß du mir strikte Anweisung gegeben hast, sie sollen das Schiff nicht verlassen." „Ja", erwiderte der Seewolf. „Wir können die Isabella` schließlich nicht ungeschützt lassen. Haben Ben und der Kutscher die Kanonen laden können?" „Alle. Al Conroy hat ihnen geholfen." Ferris grinste. „Er kann's nicht lassen." Hasard ließ seinen Blick über das Grün zu ihren Füßen schweifen. An ein paar Stellen brach glänzend das Band des Flusses aus dem moosähnlichen Teppich, aber die Stelle, an der die „Isabella" ankerte, war von diesem Platz aus nicht zu sehen. „Das Reparieren des Schiffes muß warten", sagte Hasard. „Ich brauche weiterhin jeden Mann, um Matt und Batuti wiederzufinden. Vielleicht haben wir jetzt, bei Tageslicht, mehr Glück. Wir trennen uns wieder, aber jeder hält seine Pistole in der Hand und drückt ab, sobald er angegriffen wird oder in eine Falle tappt. Die anderen können ihm dann wenigstens zu Hilfe eilen." „Aye, Sir", entgegnete Smoky. „Ich glaube, hier oben in den Hügeln ist auch die Gefahr nicht mehr so groß, daß wir uns verirren. Hier kann man • sich besser orientieren." Hasard blickte zu den Bergen, die in bizarren Gesteinsformationen gipfelten. „Wir halten immer auf das Gebirge zu. Möglich, daß der Schlupfwinkel der Gegner irgendwo dort oben liegt." Er erhob sich und trat auf das Dickicht zu. Seine Männer schlossen sich ihm an und bildeten eine breite, auseinanderstrebende Formation. Das waren Carberry, Ferris, Smoky, Blacky, Pete Ballie, Gary Andrews, Dan O'Flynn und sein Vater, Sam Roskill, Bob Grey, Will Thorne und
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Bill, der Schiffsjunge. Ein Dutzend Helfer. In dem unübersichtlichen Gelände war das so gut wie gar nichts, und sie wußten alle, daß sie Matt und Batuti wahrscheinlich nie wiedersahen, falls sie nicht sehr viel Glück hatten. Hasard kochte vor Wut. So gereizt und aufgebracht war er selten gewesen. Das Schlimmste, so rechnete er sich aus, stand ihnen erst noch bevor. Entweder war das die Erkenntnis, die beiden Männer abschreiben zu müssen, oder ein neuer Kampf mit einer Übermacht dieser seltsamen Gegner. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei diesen Feinden um Chinesen. Hasard trug das Empfehlungsschreiben des Großen Chan bei sich. Es mußte auch hier Gültigkeit haben, aber was nutzte der schönste Brief, wenn ihn der Gegner ignorierte und nicht mit sich verhandeln ließ. Bald stiegen sie in die Berge auf. Hin und wieder drehten sie sich um. Von hier aus konnten sie jetzt ihr Schiff ankern sehen. Manchmal spähte Dan O'Flynn mit dem Spektiv bis zur Nordküste Formosas und hielt nach etwaigen Gegnern Ausschau. Aber wenigstens die stellten sich nicht ein - vorläufig nicht. Sir John, der karmesinrote Ara, war mit von der Partie und flatterte fröhlich um Edwin Carberry herum. Er ahnte nicht, was die Männer beschäftigte. Der Profos scheuchte ihn manchmal wie eine lästige Fliege auf, aber Sir John kehrte natürlich sofort wieder zurück, krächzte und stieß Worte wie „Affenärsche und Rübenschweine" aus. Die Vegetation ließ nach, die Steigung nahm zu. Der Profos kletterte gerade fluchend einen glatten Hang hinauf, da sah er Sir John in einem schmalen Einschnitt verschwinden. Zuerst schenkte er dem nicht weiter Beachtung, aber dann, als er den Papagei nicht wieder auftauchen sah, stutzte er. „Sir John, du Krähe", sagte er mißmutig. „Komm her. Laß den Mist. Ich will nicht auch noch nach dir suchen müssen."
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Sir John bequemte sich nicht mal zu einer Antwort. Carberry wollte einfach weitergehen, aber dann ließ ihm die Sache doch keine Ruhe. Wenigstens einen Blick mußt du in das Loch da werfen, sagte er sich. Er schnaufte erbost, klomm zu dem Einschnitt hoch und schaute hinein. „Eines Tages drehe ich dir den Hals um, ersäufe dich und häng dich zum Trocknen an der Großrah auf", drohte er. Seine Stimme kehrte als Echo aus der kleinen Schlucht zurück, die sich hinter dem Einschnitt erstreckte. Carberrys Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit der Schlucht. Und dann sah er Sir John. Der kleine Kerl hüpfte begeistert ein paar in den Stein gehauene Stufen hoch und wieder runter und schlug dabei mit den Schwingen. Stufen? Der Profos fuhr herum. „Hasard!" rief er erregt. „Hier ist was. Komm doch mal her." * Der Seewolf hatte sich nicht weit entfernt befunden. Binnen weniger Sekunden war er zur Stelle. Er drang mit gezückter Radschloßpistole in die enge Schlucht ein, eilte die Stufen hinauf und stellte fest, daß sie hinter einer Biegung weiterführten, immer weiter in die Felsen hinauf. Schnell faßte er seinen Entschluß. ,,Sam, Bob und Will, ihr bleibt als Wachen hier. Sollten wir weiter oben etwas finden, schicke ich Bill als Boten. Falls ihr nichts hört, rührt ihr euch nicht vom Fleck, verstanden?" „Ja, Sir", erwiderte Sam Roskill. „Weiter", sagte der Seewolf zu den anderen und setzte sich an die Spitze des nun neunköpfigen Trupps. Die Felsentreppe, so stellte' sich bald heraus, war ein kleines Wunderwerk, von Menschenhand geschaffen. In vielen Windungen schlängelte sie sich durch die Felsen, ständig ansteigend. Sie schien jedoch nie zu enden. Viele Stufen waren das. Ein Menschenalter mußte darauf
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verwendet worden sein, sie in den harten Gneis zu hauen. Hier war die gleiche Geduld praktiziert worden wie beim Bau der großen Mauer nördlich der Verbotenen Stadt. Ferris Tucker zählte die Stufen. „Eintausendfünfhundert", sagte er keuchend hinter Hasard. „Hört denn das nie auf? Mann, ich habe den Eindruck, hier will uns jemand zum Narren halten." Hasard blieb abrupt stehen. Er bückte sich und hob etwas auf - eine graue Münze, die es dringend nötig hatte, mal wieder poliert zu werden. „Ein Achterstück", murmelte Hasard. „Ein silbernes spanisches Piece of eight.“ Ferris und Smoky blickten ihm über die Schultern. Von unten rückten auch die anderen Männer an. Sie schauten neugierig und gespannt auf. „Ich wette,' die Münze gehört Matt Davies", sagte Smoky. Carberry pflichtete ihm bei. „Stimmt, so läßt nur der sein Geld verrotten, er hat das Achterstück hier verloren. Wir sind also auf der richtigen Spur." Hasard stürmte bereits wieder die Stufen hoch. Das letzte Stück Weg legten sie alle im Spurt zurück, und als Ferris Tucker die zweitausendste Stufe zählte, erhob sich vor ihnen, zwischen den bizarren Gneisfelsen und unter ein paar dürren Krüppelkiefern, ein Bauwerk. Sie blieben wie vom Donner gerührt stehen. „Ein überdachtes kor", flüsterte der Seewolf. „Ein Kunstwerk. Wer hätte wohl gedacht, hier oben auf so was zu treffen? Ed, Ferris, Smoky, Blacky - wir unternehmen einen Vorstoß. Ihr anderen gebt uns Rückendeckung." Sie rückten vor und waren auf alles gefaßt. Hasard streckte die doppelläufige Reiterpistole vor. Die Hähne waren gespannt. Das Gebot der Fairneß durfte jetzt nicht mehr gelten, er würde schießen, sobald die Gegner über sie herfielen. Zu viel stand auf dem Spiel, zu übel hatte man ihnen mitgespielt; Er war als erster im Schatten des Tors. Nein, es gab keine dicken Holzbohlenflügel, die ihnen den Weg ins
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Innere versperrten, nicht einmal eine Tür aus lockerem Mattengeflecht oder ähnlichem Material - dies war ein offenes Tor. Eine Einladung? Laß dich nicht täuschen oder ins Bockshorn jagen, sagte er sich immer wieder. Er pirschte ins Innere des großen, gemauerten Torbogens, der von einem Pagodendach gekrönt wurde. Kühl war es im Schatten, man konnte aufatmen. Unwillkürlich blieb der Seewolf stehen. Er konnte jetzt sehen, daß das Tor sich auf einen Hof öffnete, und dort, im Hintergrund erhoben sich große, palastähnliche Bauten. Sanftes Sonnenlicht hüllte sie ein. Dies schien ein Hort des Friedens und der Unveränderlichkeit zu sein. Hasard schritt weiter, seine Männer waren hinter ihm. Vier Gestalten schritten über den Hof, als sei das die natürlichste Sache der Welt. Ihre Gewänder waren bodenlang, aus dunkler Seide gewebt und nicht bestickt. Sie trugen kleine schwarze Kappen. Als nur noch vier, fünf Schritte sie von dem Seewolf trennten, blieben sie stehen und verneigten sich tief. Der Kotau - dadurch bezeigte ein Chinese seine Hochachtung vor einem Besucher. Hasard ließ die Waffe sinken. Einer der Chinesen richtete sich wieder auf und sagte in sehr holprigem Portugiesisch: „Folgen Sie mir - bitte." * Die Seewölfe schlossen sich den vier Chinesen an und überquerten den hellen Hof. Aber Hasard blieb mißtrauisch. Er hatte seinen Männern durch ein Zeichen zu verstehen gegeben, daß die beiden O'Flynns und Bill als Posten vor dem Tor zurückbleiben sollten. Was hatte diese Freundlichkeit zu bedeuten? Hasard erkannte in den Chinesen zwar keinen der Angreifer der Nacht wieder, aber er hatte bemerkt, daß sie die gleiche Kleidung trugen: schwarze und blaue Ischangs.
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Sollten sie in eine Falle gelockt werden, aus der es kein Entrinnen gab? Sie schritten den Chinesen nach und betraten das Innere des Gebäudes am gegenüberliegenden Ende des Hofes. Hier war der Marsch aber nicht zu Ende. Sie mußten das Gemäuer durchqueren, waren dann wieder auf einem Innenhof, passierten noch ein pagodenhaftes Haus, wanderten über einen dritten, diesmal langgestreckten Hof - und dort, ganz am Ende erhob sich das prächtigste der Gebäude. Ein Tempel war es, Hasard erkannte es sofort. Sein mächtiges Doppeldach wurde von marmornen Drachensäulen getragen. Zehnmal hatte der Bildhauer dasselbe Motiv gestaltet: zwei Drachen, die nach einer Perle schnappten. Man konnte nicht anders, man mußte Ehrfurcht empfinden, wenn man diesen Tempel betrat. Im Inneren geleiteten die Chinesen sie durch zwei kleinere Räume in eine riesige, kirchenschiffähnliche Halle, deren Decke von Säulen und Stützbalken getragen wurde. Zwischen zwei gigantischen bronzenen Gongs stand ein reich vergoldeter Altarschrein, dessen perlenbestickter Seidenvorhang jetzt von innen zur Seite geschoben wurde. Die Chinesen verneigten sich vor dem Insassen des Schreins. Der Sprecher von vorher sagte: „Sun Lo, der große Weise, gibt euch die Ehre einer Audienz." „Ausgezeichnet", sagte der Seewolf grimmig. Er hatte sich nach seiner anfänglichen Überraschung wieder in der Gewalt. „Ich hoffe, Ihr seid einer der Sprachen mächtig, die wir beherrschen." Er sagte es auf spanisch, und der große Weise, ein hagerer alter Mann mit weißem Zopf und dürrem, weißem Bart, nickte bedächtig. Er trug den dunkelblauen Ischang seiner Untergebenen, äußerlich unterschied ihn nichts von ihnen, kein Rangabzeichen, kein Statussymbol. Ruhig antwortete er: „Ich bin der Abt dieses Konfuziusklosters, und ich habe in Kanton Spanisch und Portugiesisch gelernt." Tatsächlich
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bediente er sich eines fehlerfreien Kastilisch. „Das war vor nahezu fünfzig Jahren Eurer Zeitrechnung, Philip Hasard Killigrew, damals, als ich ein junger Mönch war und die Portugiesen die ersten festen Beziehungen zu unserem Reich zu knüpfen begannen." „Ihr kennt meinen Namen?" „Ich weiß viel über Euch." Hasard ließ sich nicht beirren. Seine eisblauen Augen fixierten hart das Gesicht des großen Weisen von Formosa. „Was habt ihr mit Matt Davies und Batuti angestellt, damit sie es sagten?" „O nein." Sun Lo hob beide Hände. „.Nichts haben wir aus ihnen herausgepreßt. Sie haben uns alles freiwillig erzählt, über die ,Isabella`, über ihren Kapitän, die Mannschaft und die jüngsten Erlebnisse." „Ihr habt den Rauch der Wahrheit benutzt", sagte Hasard. „Rauch der Wahrheit?" Sun Lo lächelte. „Mein junger Freund, die konfuzianische Lehre kennt 300 Hauptregeln und 3000 Nebenregeln. Eine davon lautet: Wende keine Drogen und Gifte an." Hasard lächelte ebenfalls, aber freudlos. „So. Ihr gebt also zu, unsere Kameraden gefangengenommen zu haben. Gewaltanwendung verbietet Eure Lehre wohl nicht. Nun, wir werden Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich könnte Euch aus Eurem Schrein herausschießen, wißt Ihr das, Sun Lo?" „Kein Mönch des Konfuzius darf Waffen tragen und benutzen", erwiderte der alte Mann. „Aber da wir uns verteidigen müssen, haben wir eine waffenlose Kampfmethode ersonnen. Ich bin ihr Erfinder, und ich , gebe die Lehre an meine Schüler weiter. Sie sind in der Lage, Erstaunliches zu vollbringen." „Das haben wir bemerkt", sagte Hasard. „Trotzdem wart ihr harte Gegner für meine Getreuen", sagte Sun Lo gedämpft. „Sie sollten euch alle gefangennehmen, konnten aber nur zwei von euch fortschaffen, Hei Lien und den Hakenmann. Mein Kompliment, Seewolf. Ich weiß, Ihr denkt, ich verhöhne Euch. Darum will ich Eure
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Freunde sprechen lassen, vielleicht ist das für Euch überzeugender." Er hob nur die rechte Hand, und sofort hob einer der Mönche einen Schlegel und berührte damit den einen Gong. Der Ton hallte durch den Tempel. Im Verklingen vernahmen die Seewölfe Schritte, die sich rasch näherten. Sie standen bereit, sich ihrer Haut zu wehren. Alle waren überzeugt, daß man sie jetzt von allen Seiten anfallen würde. Stattdessen erschienen acht Mönche, die zwei Sänften trugen. Matt Davies und Batuti lehnten sich aus diesen Sänften hervor und winkten den Kameraden fröhlich zu. Nach allem Dafürhalten schien es ihnen prächtig zu gehen. „Davies", grollte Carberrys Stimme. „Ich hab's ja gewußt, daß du wieder deinen Schabernack treibst, du verfluchter Saftarsch, du Teufelsbraten und Hu..." „Ed", sagte Matt vergnügt. „Versündige dich nicht. Du bist hier in einem Tempel. Wenn Sun Lo und seine Mönche dich auch nicht verstehen, bitte, benimm dich." Carberry stand völlig verdattert da. War das eine Art, mit dem Profos zu reden? Er holte Luft, wollte losbrüllen, aber da hatten die Träger die Sänften abgesetzt, und Matt und Batuti stiegen aus. Matt sagte: „Bevor ihr euch aufregt, laßt mich erklären. Wir sind tatsächlich niedergeschlagen und verschleppt worden. Während der Abt seine Andacht hielt, haben die Burschen hier uns so lange in einem der Nebengebäude, auch einem Tempel, auf den Boden gelegt. Wir erwachten aus unserer Bewußtlosigkeit und wollten weg, aber da wurden wir mit, äh, sanfter Gewalt gezwungen, zu bleiben. Der große alte Weise wollte von uns wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir wollen. Da haben wir berichtet, was für Scherereien wir mit den Portugiesen gehabt haben." „Jawohl", sagte Batuti. „Genauso war's." Sun Lo lächelte dazu. Carberry blickte vom einen zum anderen und verstand überhaupt nichts mehr, die Welt schien kopfzustehen.
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„Sun Lo und seine Mönche sind auch gegen die Portugiesen", fuhr Matt Davies fort. „Die Dons versuchen immer wieder, hier zu landen, das Kloster zu zerstören, die Insel endgültig zu besetzen und von den Konfuzius-Jüngern zu säubern. Deshalb haben die Mönche sich etwas einfallen lassen müssen, um sich zu wehren. Bisher haben sie alle Eindringlinge- vertreiben können, und keiner hat sie so richtig gefunden, wenn sie sich nach einem Angriff ins Dickicht und in die Berge zurückzogen." „Ich verstehe", sagte Hasard. „Sie dachten, wir seien Portugiesen. Aber unser Kampf gegen die Feinde Englands macht uns zu Sun Los Verbündeten. Beide sind wir den Dons ein Dorn im Auge." Er richtete den Blick auf Sun Los hagere Gestalt. „Wir sollten also Burgfrieden schließen." Der Abt der Mönche von Formosa erhob sich. „Ich habe nicht verstanden, was ihr auf englisch gesprochen habt", sagte er. „Aber ich biete euch meine Freundschaft an, Seewolf. Außer= dem habe ich vor, euch ein Geschenk zu geben. Ich werde euch das Geheimnis des waffenlosen Kampfes offenbaren." Hasard deutete eine Verbeugung an, bedankte sich und überreichte Sun Lo das Schreiben des Großen Chan. Während der alte Mann noch stirnrunzelnd und völlig überrascht die Schriftzeichen auf dem Reispapier las, drehte sich der Seewolf zu Gary Andrews um. „Gart', du gehst jetzt zu den O'Flynns und Bill und sagst ihnen Bescheid, daß alles in Ordnung sei. Bill soll die Treppe runterlaufen und Sam, Bob und Will verständigen. Danach setzt sich ein Bote auch zur ‚Isabella` in Trab. Ein Posten behält von den Felsen aus die ,Isabella` im Auge. Falls Portugiesen auftauchen, soll Ben ein Blinkzeichen geben oder einen Boten schicken oder sonst etwas unternehmen, um uns zu alarmieren." Gary rückte ab. Sun Lo ließ das Schreiben Wan Lis sinken und blickte die Seewölfe bestürzt an. „Wenn ich das gewußt hätte. Ich bereue es
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zutiefst, Freunde des Großen Chan angegriffen zu haben. Ich neige mein Haupt in Ehrfurcht, Philip Hasard Killigrew, und hoffe, ihr werdet mir verzeihen." Hasard blickte zu seinen Männern. „Seid ihr nachtragend? Ed, sprich es ganz ehrlich aus." Der Profos schob sein Rammkinn vor und griff schnell nach Sir John, der mal wieder aus seinem Wams krabbeln und sich selbständig machen wollte. „Nein, Sir", sagte er dann. „Schon längst vergessen, die Sache." Auf spanisch und direkt zum großen Weisen gewandt, wiederholte er es. „Nur müßt Ihr uns genau verklaren, wie das mit dem - dem chinesischen Boxen funktioniert, Sun Lo." * Den ganzen Tag über blieben Hasard und seine Männer im Konfuzius-Kloster hoch oben auf dem Berg. Sun Lo ließ ihnen nicht nur praktischen Kampfunterricht erteilen, er händigte Hasard als besonderes Geschenk auch Karten aus und erteilte ihm Hinweise, wie sie den Weg in den Indischen Ozean finden konnten. „Ich hoffe, Ihr werdet noch viele Tage mein Gast sein, Seewolf", sagte er. Der Seewolf blickte ihn offen an. “Das würde ich gern annehmen, Sun Lo. Ihr müßt es mir glauben. Aber sobald das Schiff repariert ist, brechen wir wieder auf. Die Portugiesen sind hinter uns her, und ich will sie, nachdem ich sie durch zwei Gefechte von Formosa abgelenkt habe, nicht wieder hierher locken." „Eine edle Einstellung." „Sie ist nur recht und billig." „Ich werde Euch nicht vergessen", erwiderte der alte Abt versonnen. „Ihr seid ein Mann mit überdurchschnittlichen Begabungen, ein Mann, der die Gerechtigkeit liebt. Ich habe Achtung vor Euch." Der Tag verlief ruhig, und Hasard und seine Freunde hatten Gelegenheit, dem großen Weisen vorzuführen, was sie in der relativ kurzen Zeit an Kampfmethoden
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gelernt hatten. Es gab Tricks, bei denen man einen Gegner, und war er auch noch so stark, durch einen richtig geführten Handkantenschlag zu Boden werfen konnte, Fußhiebe, die wie ein Katapult wirkten. Erst am Abend trat eine Wende der Situation ein. Bill erschien. Er war durchgeschwitzt und atmete schwer. „Sir", sagte er auf dem dritten Innenhof vor dem Tempel der Großen Vollendung. „Ich war bei Sam Roskill, Bob Grey und Will Thorne. Bob Grey ist am Vormittag zur ‚Isabella` gelaufen und hat Mister Brighton Bericht erstattet. Er ist mit der Nachricht zurückgekehrt, Mister Brighton und die anderen an Bord hätten mit den Ausbesserungsarbeiten begonnen."
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„Shane und die anderen vier Verletzten packen mit zu?" wollte der Seewolf wissen. „Ja, Sir." „Diese Teufelskerle. Und weiter?" „Eben hat Mister Brighton ein kurzes Lichtsignal gegeben, das er mit Bob Grey vereinbart hatte. Auf See kann es nicht zu sehen gewesen sein..." „Heraus mit der Sprache, Bill. Kriegen wir Besuch?" „Wir haben ihn schon. Vor dem Nordufer der Insel kreuzt eine Galeone. Ein Portugiese, wie Mister Brighton zu verstehen gegeben hat." „Damit habe ich gerechnet", sagte Hasard. „Also gut. Die Stunde des Aufbruchs ist gekommen. Aber wir werden unseren lieben Freunden, den Dons, heute nacht noch eine prächtige Überraschung bereiten.“
ENDE