Thomas Burnett Swann
Der letzte Minotaur Terra Fantasy Band Nr. 34
s&c by horseman Version 1.0 April 2011
Titel des...
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Thomas Burnett Swann
Der letzte Minotaur Terra Fantasy Band Nr. 34
s&c by horseman Version 1.0 April 2011
Titel des Originals: THE FOREST OF FOREVER Aus dem Amerikanischen von Lore Strassl
TERRA-FANTASY-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1971 by Thomas Burnett Swann Deutsche Erstveröffentlichung Redaktion: Hugh Walker Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis incl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Waldbaur-Vertrieb, Franz-Josef-Straße 21, A-5020 Salzburg NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstr. 11, 2000 Hamburg 1, Telefon 0 40 / 33 96 16 29, Telex: 02 / 161 024 Printed in Germany Mai 1977
Der Roman Der Minotaur und die Dryade Sein Name ist Eunostos. Er ist der letzte der Minotauren, Sohn eines Tiermenschen und einer Dryade. Er wohnt im Zauberwald, mitten unter Lebewesen, die – wie er – für die Menschen längst zur Legende geworden sind. Er liebt Kora, eine junge Dyrade. Doch sie, von seltsamen Träumen erfüllt, erwidert seine Liebe nicht. Sie wendet sich einem Menschen zu, einem kretischen Prinzen, und bring Leid, Not und Tod über den Zauberwald und seine friedliebenden Geschöpfe.
Vorwort Thomas Burnett Swann starb am 5. Mai 1976 im Alter von 47 Jahren. Er starb an Krebs im Haus seiner Eltern in Winter Haven in Florida. Damit entstand eine Lücke im Spektrum der Fantasy, die nicht leicht zu füllen sein wird, wenn überhaupt. Niemand verstand es wie er, Fantasy aus dem mythologischen Bereich so märchenhaft und realistisch zugleich zu schildern. Lesen Sie dieses Buch, und Sie werden mir sicher recht geben. Gerade in diesem Jahr hatte seine Popularität einen Höhepunkt erreicht. Fünf Romane erschienen 1976 bei verschiedenen Verlagen, vier davon nach seinem Tode. An die fünfzehn Fantasy-Bücher schrieb Thomas Burnett Swann seit Mitte der sechziger Jahre, Novellensammlungen und Romane. Wie stark Swann in unserer Reihe vertreten sein wird, hängt weitgehend auch von der Leserreaktion ab. Schreiben Sie uns, wie und ob Ihnen Swanns Buch gefallen hat. Er gewann eine begeisterte Leserschaft in England und Amerika. Seine Bücher wurden mehrmals für den HUGO nominiert, was für Fantasy alles andere als alltäglich ist. 1972 erhielt er den PHOENIX AWARD. Swann wurde 1928 in Florida geboren. Er studierte an der Duke Universität und der Universität von Tennessee und erhielt den Doktortitel von der Florida Universität. Er unterrichtete englische Literatur, gab den akademischen Beruf aber Anfang der sechziger Jahre auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Als Kind las er mit Begeisterung Edgar Rice Burroughs, später gehörten Science Fiction und Horror-Magazine wie
PLANET STORIES und WEIRD TALES zu seiner Lektüre. Seine Romane blieben davon jedoch völlig unbeeinflußt. Er diente in der Marine während des Koreakriegs. Zu dieser Zeit, Anfang der fünfziger Jahre, erschienen auch seine ersten Bücher, vier Gedichtbände. Er schrieb eine Reihe biographischer und literaturkritischer Studien und reiste viel. Material für den vorliegenden Roman sammelte er während eines Besuchs in Griechenland und Kreta. 1958 erschien seine erste Fantasy-Erzählung Winged Victory in dem amerikanischen Science-Fiction-Magazin FANTASTIC UNIVERSE. Sein Hauptabnehmer wurde jedoch einige Jahre später das britische Magazin SCIENCE FANTASY, in dem 1964 und 1965 sein erster Roman in drei Teilen unter dem Titel The Blue Monkeys erschien. 1966 brachte ACE Books den Roman unter dem Titel Day of the Minotaur als Taschenbuch heraus. Day of the Minotaur erzählt von weiteren Abenteuern Eunostos', von den verräterischen Thriae und vom Krieg der Tiere. Wir planen diesen Band als eine der nächsten TERRAFANTASY-Ausgaben. Im folgenden Jahr erschien The Weirwoods, ebenfalls ein Nachdruck aus SCIENCE FANTASY aus dem Jahr 1965. Schauplatz ist wiederum ein tiefer Wald mit Zentauren, Wassernixen, Faunen und Panisken – und die etruskische Stadt Sutrium. Und wie in vielen seiner Romane geht es um den Konflikt halbmenschlicher, mythologischer Wesen mit der rasch wachsenden Welt der Menschen. Thomas Burnett Swanns Stories und Romane erschienen bald in einer ganzen Reihe von Magazinen, FANTASY AND SCIENCE FICTION, NEBULA, FANTASTIC u. a. Man verglich sie mit den Erzählungen J. R. R. Tolkiens, mit den historischen Abenteuern Mary Renaults, mit der erzählerischen Phantasie eines Jack Vance und Edgar Rice
Burroughs. Das mutet sicherlich gegensätzlich an. Und man darf nicht nach Einflüssen dieser Autoren suchen. Man wird sie nicht finden. Es ist ein Zug genialer Vorstellungskraft, der sie auf eine gemeinsame Stufe hebt. Zudem war Swann ein gewissenhafter und nicht leicht mit sich zufriedener Arbeiter, der seine Erzählungen immer wieder bearbeitete und verbesserte. Er sagte selbst anläßlich einer Autorendiskussion bei einem Science-Fiction-Treffen, daß er seine Romane wenigstens sechsmal überarbeitete, bevor er sie einem Verlag gebe. Swann blieb unverheiratet. Er war der Ansicht, aus eigener früher Erfahrung, daß Schreiben und Ehe nicht leicht zu vereinbaren seien. »Manchen Menschen ist es nicht bestimmt, zu heiraten. Es ist ihnen bestimmt, zu schreiben. Um schreiben zu können, muß man viel allein sein.« Schreiben bedeutet ihm sehr viel. Bereits 1975 machte sich seine Krankheit bemerkbar. Er schien sie jedoch überwunden zu haben. Als sie im Winter 1975 erneut auftrat, wußte er, daß er nicht mehr genesen würde. Er schrieb auch im Krankenhaus noch und vollendete seinen letzten Roman Queens Walk In the Dusk, die Geschichte von Dido und Äneas. Öffnen Sie die Tür in die bisher vielleicht wundersamste Phantasiewelt unserer Reihe. Hugh Walker In Vorbereitung: DAY OF THE MINOTAUR
ERSTER TEIL EUNOSTOS
1. Ich bin dreihundertsechzig und stolz darauf, daß ich in all dieser Zeit bestimmt gut doppelt so viele Liebhaber erfreuen durfte, wie ich Jahre genoß. Ich habe menschliche Männer geliebt, Minotauren, Zentauren und Tritonen, und kein einziger war je mit der Liebeskunst Zoes, der Dryade von Kreta, unzufrieden. Saffron, die ehemalige Königin der Thriae – Bienen nennt man sie auch – wollte mich beleidigen, als sie mich so verwittert wie meine Eiche bezeichnete. Sie deutete auf den Goldzahn, den mir ein babylonischer Liebhaber vor zwanzig, nein, dreißig Sommern eingesetzt hatte, und auf die grauen Strähnen in meinem grünen Haar, die an Moos zwischen Blättern erinnern. Ich straffte meine Schultern, um die Schönheit meiner festen Brüste noch mehr zu betonen, und erwiderte mit größerer Höflichkeit, als sie verdiente: »Meine Liebe, wer will schon einen Schößling, wenn er eine mächtige Eiche haben kann?« Ich brauche wohl kaum extra zu erwähnen, daß in diesen Tagen, da jeder seine Memoiren zu Papyrus, Tontafel oder Palmblatt bringt, auch ich eine Menge zu berichten habe. Und da, was andere Schicklichkeit nennen, nie meine große Seite war, ist die Versuchung schon groß, euch von einigen meiner Eskapaden zu erzählen. Ah, der Babylonier! Der Brite! Der Achäer – das waren Männer! Das einzige, was mich zurückhält, ist die Tatsache, daß einige meiner Freunde – und Feinde, denn jede begehrenswerte Frau hat so viele Neider wie Verehrer – eine viel mehr erhebende Geschichte für die Nachwelt zu überliefern haben. Und da die Beteiligten nicht für sich selbst sprechen können, muß ich es für sie tun. Nun, hin und wieder zählte auch ich zu den Akteuren dieses
melancholischen Dramas, aber zum größten Teil war ich nur Beobachterin. Ich möchte deshalb ausdrücklich darauf hinweisen, daß nicht ich die Heldin – die arme, verträumte Kora – bin, deren Fluch ihre Schönheit war, auch wenn ich hier für sie spreche und manchmal sogar soweit gehe, ihre Gedanken aufzuzeichnen. Aber das gleiche tue ich für Eunostos, den letzten Minotauren, und Aeacus, den kretischen Prinzen. Ich versprach euch eine melancholische Geschichte, aber was wäre der Wald ohne seine sonnigen Lichtungen? Wenn ihr erwartet, auf jeder Tafel von Tod und Vergewaltigung zu lesen, dann fangt lieber gar nicht an. * Mit überkreuzten Hufen auf dem Rücken liegend, hatte Eunostos es sich auf dem Moos bequem gemacht. Sein Kopf ruhte in einem verlassenen Ameisenhaufen, und er kaute an einem Rohrstift. Es gibt nichts Geruhsameres als einen jungen Minotauren, der mit offenen Augen vor sich hinträumt. Seine Art ist für ihre Wildheit bekannt, und werden sie herausgefordert, sind sie wahrhaftig große Kämpfer – den Zentauren durchaus ebenbürtig, und von den Menschen kaum zu besiegen. Aber normalerweise sind sie friedliebend und beschäftigen sich am liebsten mit Gärtner- und Tischlerarbeit, wenn sie nicht ganz einfach nur angenehmen Gedanken nachhängen. Er war noch sehr jung, erst fünfzehn, groß, muskulös, mit sympathischem rötlichem Gesicht und dichtem flammendrotem Haar, auf das er zu Recht stolz war. »Eunostos.« Er setzte sich auf. Sein Schwanz mit der roten Fellquaste – ideal als Fliegenklappe – zuckte, und der Stift rutschte aus
seinen Zähnen. Ich bemerkte die wohlgeformten Hörner, die aus seiner Mähne zu sprießen begannen. Ja, bald würde er ein echter Bulle sein. »Hat mich jemand gerufen?« Seine Stimme war tief, aber der Ton freundlich. Ich trat zwischen den Bäumen hervor. Er sprang leichtfüßig auf die Hufe und umarmte mich in jugendlichem Ungestüm. Ich freute mich immer über seine offene Bewunderung, denn es war ein herrliches Kompliment, wenn ein Junge seines Alters eine erfahrene Frau verehrte. Ich fand allerdings selbst, daß ich heute besonders gut aussah. Ich trug mein Wasserliliengewand, und um der Schicklichkeit ein bißchen wenigstens Genüge zu tun, hatte ich einen großen Turmalin zwischen meine Brüste geklemmt. »Tante Zoe!« Sehr begeistert war ich von dieser Titulierung nicht. Ich war nicht seine Tante, sondern lediglich eine Freundin seiner verstorbenen Mutter gewesen, die darauf bestanden hatte, daß er mich so nannte. (Vor vierzig Jahren oder so war ich auch die Freundin seines Vaters gewesen.) »Eunostos, ich bringe einen Korb Eicheln zu Myrrha und Kora. Möchtest du nicht mitkommen? Dieser verflixte Zentaur Moschus ist ein wenig aufdringlich, seit wir nicht mehr zusammenleben – und außerdem ist die Begleitung eines Mannes immer angenehm.« Ich hatte natürlich nicht die geringste Angst vor Moschus, und seine Avancen schmeichelten mir. Außerdem beabsichtigte ich nach einigen kleineren Episoden mit jüngeren Männern ohnehin, mich wieder mit ihm zusammenzutun. (Ihr versteht natürlich, daß ich mit »Männern« das männliche Geschlecht jeglicher Art meine.) Aber ich wollte Eunostos' Selbstvertrauen ein wenig heben. Er war jetzt seit einem Jahr verwaist und brauchte Aufmunterung und die leitende Hand einer erfahrenen, wohlmeinenden Frau. Bei der Erwähnung Koras, der hübschesten Dryade im Land
der Tiere, brauchte der junge Minotaur keine weitere Überredung, wenn sie überhaupt nötig gewesen wäre. Eunostos nahm seine Verantwortung ernst. Er ging voraus und vergewisserte sich, daß der Weg sicher war. Er stocherte mit einem langen Stecken in einem verdächtig aussehenden Dickicht nach Giftschlangen, während er den Stift und den Palmlaubstock in der anderen Hand hielt. (Ja, Minotauren haben Hände, nur ihre Füße sind behuft.) »Wovon hast du denn geträumt, als ich dich überraschte?« fragte ich ihn. »Von Kora«, gestand er, und seine seegrünen Augen glänzten. »Ich habe ein Gedicht für sie gemacht.« Er wollte es rezitieren, als ein Zentaur uns den Weg versperrte. »Für mich hast du keine Zeit …«, begann er. Er sah furchterregend aus mit seiner muskulösen Statur, den vier Beinen und zwei Armen und der wilden grauen Mähne. Aber es war nur Moschus, und auf mich wirkte er nicht furchterregender als ein leerer Weinsack. Ein kleines rosiges Ferkel schmiegte sich an sein linkes Hinterbein. »Ich muß zu Myrrha«, unterbrach ich ihn. »Vielleicht kann ich deine Einladung zum Essen morgen annehmen.« »Vergiß es nicht«, brummte er. Dann musterte er Eunostos von Horn bis Huf. »Na, Junge, wie sieht's mit der Liebe aus?« »Danke«, erwiderte der Minotaur höflich. Zwischen den gehörnten Tiermenschen herrschte gute Kameradschaft, obgleich die Zentauren sich insgeheim überlegen fühlten, weil sie sechs Gliedmaßen und nicht nur vier wie die Minotauren hatten. »Paßt im Wald auf«, rief Moschus uns nach. »Es liegt was in der Luft.« Ich hätte gern Näheres darüber erfahren, aber wenn ich ihn fragte, würde er zu einer langen Geschichte ausholen, und dazu hatte ich jetzt wirklich keine Zeit. »Ich hoffe, er tritt nicht auf sein Schweinchen«, murmelte
Eunostos. »Es ist ein süßes kleines Ding.« Wir setzten unseren Weg fort. Ein Bärenmädchen wagte einen scheuen Blick durch das Gebüsch auf uns, und in den Zweigen über uns turnte ein Äffchen. Im Land der Tiere ist überall Leben. Wir, ich meine damit vor allem Zentauren, Minotauren und Dryaden, die wir in uns die Eigenschaften der Menschen und der Tiere vereinen, jagten Vögel und Hasen als Nahrung (nie zum Vergnügen), doch nicht einander. Deshalb war, zumindest zu jener Zeit, kein Grund zu übermäßiger Vorsicht. Ich will damit nichts sagen, daß es ungefährlich in unserem Land war. Es gab immerhin Giftschlangen und Vampirfledermäuse und vereinzelte Wölfe – na, und die Panisci, Ziegenburschen würdet ihr sie nennen, waren notorische Diebe. Aber es gab keinen wirklich triftigen Grund für die Artemisbärinnen, sich zu verstecken. Sie taten es nur, weil sie von Natur aus schrecklich scheu waren. Unser Land, unser Wald, war nicht wie andere Wälder. Sicher, es gab hier Eichen und Zypressen und Ulmen, Tamarisken und Zedern, Dickichte und Lichtungen und bewaldete Hügel wie an vielen anderen Orten Kretas. Aber ihr müßt verstehen, wir lebten mit unserem Wald, wir versuchten nicht, ihn zu beherrschen, ihn für unsere Zwecke zu unterjochen. Wir achteten darauf, ihm nicht weh zu tun. Nie fällten wir Stämme für unsere Häuser. Wir borgten uns lediglich ein paar Äste von im Übermaß wuchernden Ulmen, oder Schilfrohr vom Ufer der Bäche, und bauten zwischen den Bäumen. Wir hielten uns auf schmalen Pfaden und verzichteten auf breitere Wege, um keine, oder möglichst wenige Pflanzen zu zertreten. Der Wald war unser Zuhause, aber wir betrachteten uns als seine Gäste, nicht als seine Herren. Damals war noch eine glückliche Zeit. Im Augenblick hatte ich jedoch ein ungutes Gefühl. Möglicherweise hatte es Moschus mit seiner Bemerkung, daß
etwas in der Luft liege, ausgelöst. Wir Dryaden haben nämlich manchmal Vorahnungen, die allerdings selten sehr klar sind. Das erste schlimme Vorzeichen kam in der Form eines plötzlichen Gewitters. Es blitzte und donnerte, und aus dem gerade noch heiteren Himmel goß es wie mit Kannen. Selbst unter den Eichen wurden wir bis auf die Haut durchnäßt, als der schwere Regen die belaubten Zweige beugte. Eunostos' Haar war auf seinen Schädel geklatscht, daß das rötlich getönte Elfenbein seiner Hörner viel mächtiger wirkte. Mein Wasserliliengewand klebte wie eine zweite Haut an mir. Die einzelnen Blätter drohten sich zu lösen und meine füllige Schönheit zu entblößen. »So schlimm ist es auch wieder nicht«, murmelte ich. »Wir können uns in Myrrhas Haus trocknen.« Nachdenklich fügte ich hinzu: »Ich nehme an, Moschus meinte das Unwetter.« Aber der Sturm hatte mehr als Regen gebracht. Eine gewaltige schwarze Wolke hing immer noch über unseren Köpfen, selbst nachdem der Himmel sich wieder aufgeklärt hatte. Plötzlich sahen wir, daß die vermeintliche Wolke aus unzähligen Einzelteilen bestand – aus lebenden Wesen, die von hier wie riesige Vögel aussahen. »Bei den Brüsten der Großen Mutter«, fluchte Eunostos. Seit dem Tod seiner Eltern hatte er sich durch seinen nicht immer sehr feinen Umgang so allerhand Schimpfwörter angewöhnt. Aber da ich in dergleichen Kreisen verkehrte, schockierte es mich nicht. »Eine Geierinvasion!« stieß er aus. »Nein«, widersprach ich. »Sie tragen Kleidung.« Ich überlegte. »Jetzt erkenne ich sie. Es sind Thriae.« »Bienen?« rief er erstaunt. »Vom Festland?« »Ja. Vielleicht hat der Sturm sie von ihrem Kurs verweht. Oder vielleicht suchen sie auch ein neues Heim.« »Sie sind nicht sehr nett, nicht wahr?« Sein Schwanz zuckte,
als müsse er Fliegen verjagen. »Ich hatte noch nie persönlich etwas mit ihresgleichen zu tun. Aber die Zentauren halten sie für Diebe und Schwindler. Ich weiß nicht, ob sie auch zu Schlimmerem fähig sind.« Die Thriae kreisten über uns. Sie unterhielten sich offenbar aufgeregt miteinander, die Königinnen und Drohnen mit hellen, melodischen Stimmen, und die Arbeiterinnen mit gutturalen. Vermutlich konnten sie sich nicht entschließen, ob sie hier landen sollten oder nicht. Es dauerte jedoch nicht lange, da teilten sie sich in sechs Schwärme, jeder mit seiner eigenen Königin. Einer davon senkte sich unmittelbar auf uns herab. Ich schob Eunostos hastig in das Unterholz. Ehe ich ihm folgte, blickte ich noch einmal hoch – und starrte direkt in das Gesicht der Königin. Sie schwebte ein paar Meter über meinem Kopf, beachtete mich jedoch nicht, sondern betrachtete Eunostos, als wäre er der Drohn, den sie sich für ihren nächsten Hochzeitsflug ausgesucht hatte. »Komm, Eunostos«, drängte ich. Ich wollte verhindern, daß er in dieses Gesicht voll unverhohlener Lüsternheit blickte. »Was immer sie auch vorhaben, etwas Gutes ist es sicher nicht. Wir müssen Myrrha und Kora warnen.« Myrrhas Haus – wie es sich ziemte für eine Dryade, deren verstorbener Gatte und die meisten ihrer Liebhaber Zentauren gewesen waren – war eine Eiche, deren Stamm sich zu einer runden Schilfrohrhütte öffnete. Sie war in einem kräftigen Grün gestrichen, um sich in der Farbe den Blättern der Eiche anzupassen. Es gab zwei Fenster mit Rahmen aus rotem Ton, und eine hohe Tür aus zwei zusammengenähten Wolfsfellen. Von der Hütte aus konnte man die Wendeltreppe im Innern des Stammes zu dem oberen Raum, ebenfalls aus Schilfrohr, emporklettern, der wie ein Vogelnest, nur viel ordentlicher, zwischen den Ästen thronte. Myrrha saß unten und stickte an einem Wandbehang mit
dem Bildnis ihres Seligen (angeblich Koras Vater). In den Augen seiner Witwe waren ihm die edelsten Attribute seiner Rasse zu eigen gewesen: Stärke, Weisheit und Sinnlichkeit. Myrrha wirkte zerbrechlich, jedoch nicht kränklich. Sie war eine überschlanke, mit Würde alternde Frau, deren grünes Haar einen Silberton angenommen hatte, und deren Ohren so zart wie die Schalen von Stachelmuscheln waren. Trotz ihrer Zierlichkeit hatte sie mehr Liebhaber als sonst eine Dryade gehabt, von mir abgesehen, natürlich. Vielleicht hatte ihr Erfolg darin gelegen, daß sie ja sagte, wenn sie so aussah, als würde sie ganz sicher ein Nein geben. »Zoe! Und Eunostos!« trillerte sie erfreut. »Kora, komm schnell herunter, wir haben Besuch.« Sie bot mir einen Platz an. Ich ließ mich in die weichen Kissen auf der Wandbank fallen, um meinen schmerzenden Füßen Erleichterung zu verschaffen (versteht mich nicht falsch, ich bin nicht dick, aber das Gewicht meines Busens macht mir doch manchmal zu schaffen und legt sich auf meine Beine). »Hier.« Ich streckte ihr die Eicheln entgegen. »Das ist ja ein Festschmaus!« freute sie sich. »Mein Baum trägt heuer nicht so gut. Wir werden sie abends rösten. Aber du bist ja durch und durch naß. Und du ebenfalls, Eunostos. Schlüpf in meinen Morgenmantel, Zoe, während ich Eunostos trockenreibe.« Eunostos war natürlich nackt wie alle jungen, aber auch viel ältere Tiermenschen. Eunostos erzählte ihr von den Thriae. Nun, auf diese Art und Weise würde sich die Neuigkeit schnell ausbreiten. Wenn man wollte, daß sich etwas möglichst schnell im ganzen Wald herumsprach, brauchte man es nur Myrrha unter dem Siegel der Verschwiegenheit anzuvertrauen. Da kam Kora die Treppe herunter. Ihre Schritte waren so sanft, daß man ihr Kommen nicht hörte, sondern nur durch den unaufdringlich würzigen Duft von Blättern und Rinde
spürte. Sie war groß und schlank – ich vergleich sie immer mit einer weißen Lotosblume. Ihre Schönheit wirkte nicht aufwühlend, sondern beruhigend. Sie anzusehen war, als stecke man wundgelaufene Füße in einen kühlen, heilenden Bach. Eunostos starrte sie voll Bewunderung an, nachdem sie sich begrüßt hatten. Gleichzeitig fuhr er fort: »Königinnen, Arbeiterinnen und Drohnen – wir haben sie alle gesehen.« »Die Drohnen können wir vergessen«, brummte Myrrha. »Sie sind Tunichtgute, die nur zu faulenzen verstehen. Vor den Frauen, den Königinnen, müssen wir uns in acht nehmen. Sie stehlen einem den Faden aus dem Spinnrad, wenn man nicht aufpaßt. Ich möchte überhaupt wissen, weshalb sie zu uns kamen.« »Vermutlich hat nur der Sturm sie hierher vertrieben«, meinte ich. »Hoffen wir, daß sie nicht bleiben.« Wir wandten uns bald anderen Gesprächsthemen zu, angenehmeren, obgleich es mich immer ein wenig betrübte, die beiden Frauen männerlos zu sehen. Sicher, Myrrha hatte noch hin und wieder einige Liebhaber, aber Kora war mit ihren achtzehn Jahren die älteste Jungfrau im Land, und ihre Mutter machte sich deshalb Sorgen. Da ich doch ein wenig zu alt für Eunostos war, hatte ich mich damit abgefunden, ihn ihr zu überlassen. Um ehrlich zu sein, ich tat mein Bestes, die beiden zusammenzubringen. Er war immerhin der letzte Minotaur, und wenn Kora erst von ihrer Jungfräulichkeit kuriert war, würde sie ihm bestimmt stramme Söhne gebären können. Ihr müßt natürlich wissen, daß aus der Vereinigung von Minotaur und Dryade keine Hybriden entspringen, sondern daß die Söhne Minotauren und die Töchter Dryaden sind. Es gibt verschiedene Gattungen im Land der Tiere, aber jede davon ist entweder männlichen oder weiblichen Geschlechts, mit Ausnahme der
Zentauren, die ihre eigenen Weibchen haben, aber auch die Frauen anderer Arten recht gern sehen. »Was haltet ihr von Honigkuchen und Brombeerwein?« fragte Myrrha. Als ich nickte, sagte sie: »Du darfst auch einen Becher haben, Eunostos.« Ich schwieg natürlich und erwähnte nicht, daß Eunostos schon lange keine Milch mehr trank, wenn er Wein bekommen konnte, und Bier sogar vorzog. Sie musterte den Minotauren. »Du bist ja recht ordentlich gewachsen. Ich werde dir ein Lendentuch weben.« Sie schenkte jedem von uns Wein in Holzschalen ein. »Mein Mann hat sie selbst geschnitzt«, erklärte sie. »Ich würde sie nicht für Silber tauschen.« Der Ofen glühte, der Duft von Rosinenhonigkuchen erfüllte die Luft, und die aus dem Herzen kommende Gastlichkeit war fast so spürbar wie das Lieblingsschweinchen eines Zentauren. Ich fühlte mich so wohl, daß ich nicht einmal das Tropfen der Wasseruhr hörte. Woher sollte ich auch wissen, daß es die letzten friedlichen Stunden sein sollten, die wir vier zusammen verbringen durften? »Eunostos, begleitest du mich heim?« fragte ich schließlich, als das austauschbare Pergament, das als Fensterscheibe diente, nicht mehr von den Strahlen der untergehenden Sonne erglühte. Der Minotaur rezitierte ein selbstgemachtes Gedicht, und Kora hörte ihm mit einem verträumten Lächeln zu. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ihre Gedanken nicht Eunostos galten.
2. Eunostos stand vor Koras Eiche und überlegte, ob er nach ihr rufen sollte. Wenn er an der Tür klopfte, würde Myrrha
aufmachen und erst einmal lang und breit auf ihn einreden, ehe sie ihrer Tochter Bescheid gab. Sein Freund Partridge, der Paniskus, hatte ihn begleitet, um ihm, nach seiner Meinung, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Partridge war dreißig, aber wie alle Ziegenburschen hatte er sich weder körperlich noch geistig über ein vergleichbares Alter von etwa fünfzehn hinaus entwickelt. In Partridges Fall war es sogar höchstens zwölf, geistig zumindest. Er war dicklich, haarig, und Sand von dem Bau, in dem er lebte, klebte an seinem zotteligen Fell. Sein Atem roch nach dem Zwiebellauch, an dem er ständig kaute. Aber Eunostos mochte ihn, denn Partridge war ein Außenseiter seiner Rasse, er war zu wohlbeleibt. Zwischen ihnen kauerte Bion, der Telchin, ein etwa ein Meter großes, ameisenähnliches Wesen, das unter der Erde lebte und mit seinen metallharten Zangen Edelsteine schliff und Schmuckstücke herstellte, die er nebst Schminkstoffen an die Dryaden und Bärenmädchen gegen Haselnüsse und Weizenbrot verkaufte oder vielmehr eintauschte. Er war viel intelligenter als beispielsweise ein Affe oder eine Katze, aber doch bedeutend weniger als ein Tiermensch. Eunostos betrachtete ihn wie Partridge als Freund. Der Paniskus stieß den Minotauren in die Seite. »Na komm, ruf sie endlich.« Er kaute immer noch an seinem Zwiebellauch. »Kora«, rief Eunostos schüchtern. Er hielt einen Veilchenstrauß in der Hand und blickte hinauf zu dem Balkon, der rund um den Stamm und das obere Zimmer führte. Nachdem er noch ein paarmal etwas lauter gerufen hatte, trat Kora auf den Balkon heraus. Sie trug ein grünes Leinengewand, mit weißen Narzissen bestickt, und als einziges Schmuckstück einen Anhänger aus gehämmertem Silber zwischen den Brüsten. Sie war wie eine unerforschte Höhle oder ein stiller unterirdischer Fluß – geheimnisvoll,
voller Zauber und ein wenig beängstigend. Man bezeichnete sie oft als kühl, ja sogar frigide, als unnahbar. Sie war es jedoch in Wirklichkeit nicht. Sie wartete nur ab. Worauf oder auf wen wußte sie selbst nicht. »Eunostos«, rief sie hinunter. »Wolltest du meine Mutter besuchen?« »Nein, dich! Komm herunter.« Sein Schwanz zuckte. Er war schrecklich nervös. Sie zögerte. Sie hat von meinen Liebesgeschichten gehört, dachte der Minotaur, nicht ohne Stolz. Mit fünfzehn findet man es schmeichelhaft, als begehrter Liebhaber zu gelten. »Na gut.« Eunostos war dankbar, daß sie sich nicht erst kokett in ihren Stamm zurückzog, um Henna aufzutragen oder ihre schulterlangen Locken zu kämmen. Sie war absolut nicht eitel und betrachtete ihre Schönheit höchstens als lästig, weil sie zahllose Zentauren anlockte, von blutjungen Burschen, bis zum bereits senilen Moschus. »Gibt ihr die Blumen«, zischte Partridge. Er war nicht besonders klug, aber er wußte, wie man Dryaden hofierte. Eunostos hatte selbst genügend Erfahrung im Umgang mit Dryaden, aber nicht mit so unnahbaren wie Kora. Meine Freundin Myrtle hatte ihn bereits an seinem elften Geburtstag aufgeklärt, und seit er vor einem Jahr Vollwaise geworden war, hatte er sich überall im Wald herumgetrieben und die freie Liebe mit Zentaurinnen und Dryaden hinreichend kennengelernt. Aber nie hatte er seine guten Manieren vergessen oder die Sanftheit und Zärtlichkeit, die er von seiner Dryadenmutter und seinem Minotaurenvater gelernt hatte. Die Veilchen hatten durch seinen heftigen Griff gelitten, aber Kora nahm sie entgegen, als wären es taufrische Rosen. Sie sagte kaum etwas, sie sprach überhaupt nie viel. Stille schien sie zu umgeben wie ein Hochzeitskleid (denn die Tiermänner dachten an Hochzeit und nicht an Orgien, wenn sie Kora den
Hof machten – genau wie sie an Orgien und nicht an Ehe dachten, wenn sie zu ihrer Mutter oder mir kamen). Aber sie lächelte und strich ihm sanft über die Mähne. »Lieber Eunostos, sie sind wunderschön.« Sie war sehr taktvoll, denn wir Dryaden haben es gar nicht gern, wenn irgendwelche Blumen oder sonstige Pflanzen geschnitten oder auf andere Weise verstümmelt werden. Selbst Eicheln pflücken und essen wir nur, damit sie uns Kraft geben, wenn wir uns von unseren Bäumen entfernen. Impulsiv nahm er sie an der Hand und zog sie mit sich. »Komm, ich muß dir etwas zeigen.« Bion wollte ihnen folgen. Mit seinen acht Beinen hätte er auch leicht mit ihnen Schritt halten können, aber Partridge hielt ihn zurück. »Du Idiot«, schimpfte er. »Sie wollen doch allein sein.« Aufgrund seiner Beleibtheit hatte der Paniskus kein Glück bei den Frauen, aber er war sehr romantisch veranlagt und stellte sich seine Freunde in endlosen amourösen Abenteuern vor. Der Telchin war ein wenig beleidigt über das Wort Idiot, und Patridge mußte ihn erst besänftigen, dann ließen sie sich unter dem Baum nieder, um auf die Rückkehr ihres Freundes zu warten. Eunostos lief Hand in Hand mit Kora zwischen Zypressen hindurch und über Lichtungen, wo Hasen ihnen mehr neugierig als ängstlich entgegenstarrten. Sie überraschten einen Paniskus, der mit einem Stock auf eine Schildkröte einstocherte, die er auf den Rücken gedreht hatte. Eunostos nahm dem Ziegenburschen den Stock weg und richtete die Schildkröte wieder auf. Der Paniskus, sein Name war Phlebas, fluchte obszön, woraufhin der Minotaur ihn zu Boden schickte. »Trauben, die man nicht pflückt, verdorren zu Rosinen«, brüllte Phlebas ihnen nach, aber Eunostos war zu glücklich, als
daß er auch nur über den Sinn dieser Metapher nachgedacht hätte. In einem Brombeergestrüpp ließ ein Bärenmädchen den Eimer fallen und folgte ihnen. Sie hatte keinen Bedarf an Kleidung oder Schmuck – sie besaß einen dicken Pelz, der auf ihrem Kopf wie ein buschiges Käppchen aussah, aus dem die spitzen Ohren herausragten, und ein lustiges Stummelschwänzchen. Aber sie trug eine selbstgeflochtene Blumenkette um den Hals. Obgleich Eunostos die Artemisbärinnen mochte, war er von ihrer Begleitung im Augenblick nicht erfreut. »Ich habe einen wilden Bären im Zypressenhain gesehen«, behauptete er. Das genügte. Das Mädchen sah zu, daß sie ein Versteck fand. Obgleich ihre Art voll Stolz erklärte, sie stamme von der Göttin Artemis und einem sanften Braunbären ab, haben die Mädchen doch Angst vor den großen Bären, von denen sie angeblich als Delikatesse betrachtet werden. (Es gibt allerdings keine glaubhaften Überlieferungen, daß auch nur eine von ihnen je von ihren größeren Vettern verschlungen worden war. Lediglich Wölfe vergreifen sich manchmal an ihnen. Es gehört auch immerhin ein besonderer Magen dazu, einen solchen Haufen Pelz zu verdauen!) Endlich erreichten sie auf einer Lichtung einen gewaltigen Stamm, der einmal dem ältesten und mächtigsten Baum des Waldes zu eigen gewesen war. Es war Eunostos' ehemaliges Heim, in das vor einem Jahr der Blitz eingeschlagen hatte. Damals verlor Eunostos seine Eltern, und soviel wir wußten, hatte er seither nicht mehr an diesem Ort voll trauriger Erinnerungen gelebt. »Aber Eunostos!« rief Kora. »Du hast ja alle verbrannten Äste abgesägt und nur den unteren Teil des Stammes übriggelassen. Nun sieht er aus wie ein kleines rundes Fort. War er nicht einer der Bäume aus der Zeit, als noch die Titanen auf Kreta lebten? Alles war damals viel größer.
Wohnst du wieder hier?« »Noch nicht«, sagte er und blickte sie irgendwie erwartungsvoll an. »Komm herein.« Er führte sie durch eine Tür, die auf hölzernen Angeln aufschwang. Das Innere des Stammes war natürlich dachlos und hohl. An einer Seite hatte er einen Gemüsegarten angelegt. Das Karottengrün stand aufrecht wie Palastwachen, und die Kohlköpfe machten es sich wie wohlbeleibte Eunuchen in ihren Beeten bequem. Gegenüber wuchsen Blumen – wildwuchernde Rosen und Akeleien. »Oh, wie wunderschön!« rief Kora. »Und ein kleines Häuschen zwischen den beiden Gärten!« Es war eine simple runde Hütte mit Bambuswänden, aber von vollendeten Formen, daß Kora zweifellos staunte, wie ein scheinbar so tolpatschiger Junge den Bambus zu einer Krone biegen, und die Fenster zu Viertel- und die Tür zum Halbmond hatte schneiden können. Im ersten Zimmer sprudelte ein Springbrunnen in der Mitte des Lehmbodens und kühlte die Luft wie eine frische Brise. Geschliffene Halbedelsteine – Geschenke von Bion – waren in den Grund des Beckens eingelegt, und eine kleine Burg gab es aus Muscheln, die Eunostos selbst ausgegraben hatte und die noch aus der Zeit stammten, als ein Teil des Waldes See war. »Eine Schildkröte wohnt in der Burg«, erklärte Eunostos. Er bewunderte diese Tiere, sie lebten völlig in sich zurückgezogen – so sehr wie Kora und so ganz anders als er. Aber er hatte auch die praktische Seite des Lebens nicht vergessen. Ein Wesenszug der Minotauren ist ihr Sinn für Schönheit, aber auch ein Huf für harte Arbeit. In der Nähe des Springbrunnens, aber außer Reichweite der Wasserstrahlen, stand ein Bambussessel mit weichen Kissen. »Zoe hat die Kissen genäht«, gestand er, »aber ich habe sie selbst gefüllt.« Er wußte, daß Dryaden gern Kissen mit Moos
ausgestopft mochten, da das Moos, das sich an ihren Eichen ansetzte, ohnehin nicht gut für ihre Bäume war. »Ich habe auch eine Couch gemacht«, sagte er leichthin, damit Kora ja nicht glaube, er habe unreelle Absichten. »Sie ist im nächsten Zimmer.« Stolz deutete er auf die mit Wolfsfell bespannte Bambusliege. »Und einen roten Ziegelherd und Kochtöpfe und – schau! – genügend Vorräte habe ich auch.« In einem Holzregal stand ein bauchiges Glas mit gerösteten Eicheln, eine Schüssel mit in Olivenöl eingelegten Schnecken, ein Bärenmilchkäse, ein Korb mit Sperlingseiern und eine Wieselpastete. »Zoe hat die Pastete gemacht. Ich verstehe nichts von Kochen und Backen. Ich hoffe, du kannst es.« »Eunostos, dein Haus ist wundervoll!« »Unser Haus«, berichtigte er. Bestimmt kann sie kochen, sagte er sich. Myrrha muß es ihr doch beigebracht haben, oder Zoe. Kora schwieg. Sie setzte sich in den Sessel und vergrub ihr Gesicht in ein Kissen. Lautlos strömten die Tränen. Eunostos war weinende Frauen nicht gewohnt, und von der so zurückhaltenden Kora hätte er Tränen als letztes erwartet. Er kniete sich neben sie, strich ihr Haar zurück und küßte sie auf die Ohrspitzen. Das sind die sensitivsten Körperstellen einer Dryade, und nur jemand, der sie ehrlich liebt, darf sich eine solche Freiheit herausnehmen. »Dir gefällt mein Haus nicht wirklich«, sagte er, ohne gekränkt zu sein. »Es ist zu klein und zu einfach. Ich glaube, das kommt davon, weil ich ein Waise bin. Ich habe keinen besonderen Geschmack.« »Dein Haus ist wundervoll, Eunostos.« »Dann bin wohl ich es. Ich bin zu ungeschliffen für dich. Meine Hufe sind schmutzig, meine Mähne müßte gestutzt werden.« Sie blickte ihn mit Augen an, die trotz der Tränen so grün
wie Malachite waren. »Nein, Eunostos, das ist es auch nicht.« »Bin ich dir zu jung? Zu unreif, zu unerfahren? Aber ich stehe bereits ein ganzes Jahr auf eigenen Füßen, und Waisen werden schneller erwachsen. Ich bin mit den Jungs auch schon viel herumgekommen und hatte nicht wenig Erfolg bei den Mädchen«, erklärte er mit stolzgeschwellter Brust. »Das weiß ich. Glaubst du, meine Mutter verheimlicht mir so etwas? Aber du brauchst dich deshalb nicht zu entschuldigen.« »Es – es war eigentlich gar keine Entschuldigung«, stammelte er. »Ich nehme es dir nicht übel. Was soll ein junger Bulle schon tun, wenn er keine eigene Familie hat?« »Wenn ich dir nicht zu ungehobelt und zu jung bin …« »Du hast noch kein Wort von Liebe gesprochen.« »Aber du weißt doch, was ich für dich empfinde.« »Eine Dryade möchte es gern hören.« »Ich liebe dich, Kora.« »Warum liebst du mich, Eunostos?« »Weil – weil du so schön bist.« »In fünfhundert Jahren bin ich ein altes Weib.« »Und ich senil wie Moschus, so daß ich es gar nicht bemerken werde.« »Wie sehr liebst du mich denn?« »Mehr als mein neues Haus. Mehr als meine Freunde Partridge und Bion.« »Das möchte ich auch hoffen.« »Mehr als jede andere Dryade im Wald.« »Sogar mehr als Zoe?« (Diese kleine Hexe! Dabei hatte ich zu diesem Anlaß extra die Pastete gebacken und die Leinenkissen genäht.) Er überlegte (das muß ich ihm zugute halten). »Ich liebe Zoe sehr. Wie eine Tante und gleichzeitig wie eine gute Freundin. Aber ja, dich liebe ich mehr.«
»Sprich weiter …« »Genug, um für dich zu arbeiten. Weißt du, daß im Garten eine Falltür ist, die zu einer unterirdischen Werkstatt führt? Dort habe ich den Sessel und die Couch gemacht. Ich werde schreinern, davon kann man gut leben.« »Das ist sehr schön für dich.« »Aber nicht für dich?« »Irgendwie ist Schreinern nicht sehr – romantisch.« (Ich hätte ihr dafür eine verabreicht!) »Greif zu, koste die Eicheln«, forderte er sie auf, während er verzweifelt sein Gehirn nach einem Gedicht anstrengte. Aber es fiel ihm einfach keines ein. »Ich – ich liebe dich«, stammelte er statt dessen noch einmal. »Willst du zu mir in mein Haus ziehen?« »Du meinst damit, ob ich dich heiraten würde?« »Wir werden die schönste und größte Hochzeitsfeier im ganzen Land haben. Zoe wird auf der Flöte blasen. Moschus wird den Tanz des Pythons anführen. Alle Zentauren werden kommen, und die Artemisbärinnen, aber Panisci nur wie Partridge, der weiß, wieviel Bier er verträgt. Was meinst du, Kora?« Sie drehte sich um und trippelte durch seine Küche und zurück zum Raum mit dem Springbrunnen. Eine lange Weile starrte sie in das Wasser. »Noch nicht, Eunostos«, murmelte sie schließlich. »Ich muß noch warten.« »Aber worauf denn, Kora?« fragte er verzweifelt. »Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Es sind meine Träume. Sie führen mich an Orte außerhalb des Landes der Tiere. Ich sehe Paläste und Menschen, Schiffe mit Drachenköpfen, und große schöne Wagen mit bemalten Stoffdächern, gezogen von vierbeinigen Tieren, die so aussehen wie der untere Teil der Zentauren.« »Pferde.« Eunostos hatte Hufschlag in Babylon gelesen.
»Und Damen in Röcken wie eine Glocke, und Männer, die mit Bullen ringen …« »Ich persönlich finde diese Stierkämpfe nicht schön, und auch nicht, daß sie die armen Bullen eingesperrt halten und sie möglicherweise auch noch des Fleisches wegen töten.« »Die Kreter töten sie nicht. Zumindest nicht in der Arena. Es ist eine Art Ritual. Die Männer und Bullen kämpfen auf faire Weise. Es ist eine Ehre für die Tiere, die als heilig gelten.« »Dann ist es ja gut«, murmelte Eunostos, zumindest der Bullen wegen beruhigt. »Und das sind Dinge, die dich interessieren?« »Das kann ich nicht sagen, ehe ich sie nicht selbst sehe.« »Willst du denn eine Reise machen? Wie die Zentauren, wenn sie ihre Flöße bauen?« »Wie weit, glaubst du, käme ich wohl ohne meinen Baum?« »Du könntest dir ein Floß aus Eichenstämmen zusammenbinden.« Nein, das hätte er nicht sagen dürfen. Das war ja schon ein Sakrileg. »Und die Bäume dadurch morden! Nie und nimmer! Ich werde wohl hierbleiben und warten müssen, bis etwas zu mir kommt.« »Ein Bulle kommt ganz sicher nicht, zumindest nicht die Art, die in der Arena ihre Ringkämpfe aufführt.« (Dumme Kora, hätte er am liebsten gerufen, siehst du denn nicht, daß eine andere Gattung von Bulle schon hier bei dir ist?) »Komm, gehen wir in den Garten«, forderte er sie auf. Er hätte ihr gern etwas Schönes gesagt, aber bei ihr war er um Worte verlegen. Er bückte sich statt dessen, um eine Rose für sie zu pflücken. »Nein, Eunostos«, hielt sie ihn schnell zurück. »Laß sie am Strauch, sonst tötest du sie nur.« Er richtete sich auf. »Es sieht so aus, als könnte ich dir gar nichts geben. Ich muß wohl warten, bis ich älter werde. Wenn ich erst sechzehn bin, und du bist neunzehn, wird dir der
Altersunterschied nicht mehr so groß vorkommen.« Sie strich ihm über die Hörner und lächelte sanft. »Ich kann nicht verlangen, daß du auf mich wartest, Eunostos.« »Es macht mir nichts aus.« Er dachte an die reizenden Dryaden, die sich im Sturm von ihm hatten erobern lassen und seine Liebeskunst sogar dankbar bewunderten. Konnte er wirklich ein ganzes Jahr ohne diese Freuden auskommen? Nun, mit fünfzehn erscheint einem alles möglich (und falls er wirklich einmal mehr als ein Auge riskierte, war es doch gewiß verzeihlich). »Aber es könnte doch sein, daß ich in der Zwischenzeit finde, worauf ich warte.« »Ich gehe das Risiko ein.« Ein Schatten fiel zwischen sie, und die Blumen verloren ihre sonnenhellen Farben. Sie blickten hoch. »Eunostos, wer ist diese schöne Frau mit den Flügeln?« rief Kora. »Eine der Bienenköniginnen, von denen du uns erzählt hast?« »Schön? Sie ist viel zu dünn«, brummte er. »Sie hat kein Recht, uns nachzuspionieren, selbst wenn sie eine Königin ist.« »Sie scheint sehr interessiert an dir«, meinte Kora, als die geflügelte Frau über dem Rand des Stammes verschwunden war. »Es sah aus, als schätze sie dich ab.« Klang nicht eine Spur von Eifersucht aus ihrer Stimme? Jedenfalls schlang sie ihren Arm unter seinen und ließ sich von ihm zu ihrem Baum zurückbegleiten. Das war eine Freiheit, die sie noch keinem, außer ihrem vermutlichen Vater, gestattet hatte. Aber vielleicht sieht sie in mir nur so etwas wie einen Bruder, dachte Eunostos. Andererseits … Die Augen des Waldes beobachteten sie überrascht und überlegend. Das Bärenmädchen starrte ihnen nach und verschüttete die mühsam gesammelten Brombeeren. Phlebas stieß ein wissendes »hah!« aus. War die Traube gepflückt?
Partridge und Bion warteten noch unter Koras Eiche. »Und?« rief der Paniskus, als Kora sich in ihren Baum zurückgezogen hatte, und der Minotaur mit etwas verwirrtem Gesicht vor ihm stand. »So, wie sie sich bei dir untergehakt hatte, müßt ihr euch geeinigt haben.« »Ich werde warten«, murmelte Eunostos. »Warten! Wie lange?« »Ich weiß es nicht. Ein Jahr vielleicht.« Partridge stampfte wütend mit dem Huf. »Diese Jungfrauen! Eine willige Dryade ist mir bedeutend lieber.« (Armer Partridge! Keine Dryade war willig, wenn es ihn betraf.) »Für mich ist Schluß mit Liebeleien«, brummte Eunostos, aber nicht ganz ohne Bedauern.
3. Kora erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen über ihr Gesicht huschten. Sie tastete auf dem weichen Moosboden nach ihren Sandalen und holte aus einer Zederntruhe ein grünes Leinengewand und einen Umhang, der aussah, als wäre er aus roten und weißen Rosenblättern gewebt. Sie badete ihr Gesicht in einer Schüssel Regenwasser, aber sie blickte nicht in den Spiegel. Sie hatte ruhig geschlafen, deshalb war auch ihr Haar nicht zerzaust, und sie mußte es nicht kämmen. Mit fast schwebenden Schritten trat sie auf den Balkon hinaus und blickte auf den Laubgarten, der ihr Zimmer wie die Hand eines wohlwollenden Zyklopen umhüllte. »Vaterbaum«, flüsterte sie. »Ich gehe, um Eunostos ein Geschenk zu kaufen.« Sie sprach immer zu dem Baum, ehe sie ihn verließ, um irgend etwas zu unternehmen, und die Eiche erschauerte vor Behagen wie ein Tier, das man streichelt. Sie hatte ihr Einverständnis. Der Baum mochte Eunostos.
Gemächlich kehrte sie in ihr Zimmer zurück und stieg die Wendeltreppe hinunter, leise, um ihre Mutter nicht zu wecken, die sicher bis Mittag schlafen würde, da sie des Nachts nicht allein gewesen war. Arme Mutter, sie hatte keinen Traum, der ihr die Stunden versüßte. Sie mußte sich mit irdischerer Gesellschaft zufriedengeben. Kora öffnete weit die Arme, um den herrlichen Morgen mit seinem Duft und den wärmenden Sonnenstrahlen zu begrüßen. Eunostos' Antrag hatte sie zutiefst gerührt. Nicht, daß sie beabsichtigte, ihn anzunehmen, und sie wollte den jungen Minotauren auch nicht ermutigen. Andererseits gefiel es ihr auch nicht, ihn zu entmutigen. Sie konnte sich keinen besseren Ehemann vorstellen. Er war sanft und zärtlich und doch stark, und seine poetische Ader ließ sogar den Zimmermann in ihm in anderem Licht erscheinen. Aber wollte sie denn überhaupt einen Minotauren zum Mann? Sie, die von Städten und Palästen und agilen jungen Kretern geträumt hatte, die mit den Bullen rangen. Deshalb mußte sie ein schönes, aber nicht zu persönliches Präsent für Eunostos finden. Das Geschenk einer Schwester, nicht einer Geliebten. Doch was? Die Artemisbärinnen waren bekannt für ihre Halsketten aus Rudbeckien, und sie pflückten Himbeeren zum Verkauf. Aber der Gedanke an Eunostos mit einer Kette aus gelb-schwarzen Sonnenhüten ließ sie lächeln, und er konnte sich seine Beeren gut selber pflücken. Die Panisken, diese nie erwachsenen Strolche, hatten weder etwas zum Tauschen, noch zum Verkauf. Die Telchins bearbeiteten Metalle und Steine zu Schmuckstücken für Frauen sowohl als auch Männer, aber sie konnte sich an Eunostos' großen Fingern keinen Ring vorstellen. Außerdem, wenn er daran interessiert wäre, oder an Silberspitzen für seine Hörner, wie sie zu seines Vaters Zeiten modisch gewesen waren, hätte Bion sie ihm längst schon gemacht. Blieben noch die praktisch
veranlagten Zentauren, die für den größten Teil der Nahrungsmittel für das Land der Tiere sorgten – Getreide, Olivenöl und Milch – und alle landwirtschaftlichen Geräte herstellten, wie Rechen und Hacken und Pflüge. Eunostos hatte seinen eigenen Garten, da würde eigentlich eine Hacke oder Grabegabel am besten passen. Doch da erinnerte sie sich an ihren Traum, der in verschiedenen Variationen immer wiederkehrte, und vergaß darüber Eunostos. Jede Nacht war ihr, als verließe ihre Seele den Körper, um ungeahnte Wunder, aber auch manche Schrecken zu schauen. Vergangene Nacht hatte sie einen jungen Prinzen neben einem Teich mit blauem Lotos gesehen, in dem sich Goldfische tummelten. Sie hatte ihn beobachtet, als er mit einem Mädchen mit bemalten Brustwarzen – ein leichtfertiges Weibsstück, zweifellos – sprach; und auch damals, als er aus dem Palast floh und Zuflucht in einem Tamariskenhain suchte. Sie hatte versucht, ihn zu rufen, obwohl sie nicht einmal seinen Namen kannte. Trotzdem schien er sie gehört zu haben. Er hatte geradezu leidenschaftlich eine Tamariske umarmt, und sie selbst war unter einem süßen, drängenden Gefühl erschaudert, für das sie keinen Namen wußte. »Kora!« Ein Paniskus – es war Phlebas – stellte sich ihr in den Weg. Er war bestimmt der größte der Ziegenburschen. Seine Hörner waren lang und krumm, und rauhes rotes Haar bedeckte seine Lenden. »Wohin gehst du?« »In die Zentaurenstadt«, erwiderte sie nicht übermäßig freundlich – obgleich sie ihn seines huffreien, ziellosen Lebens wegen bemitleidete –, weil auch seine Frage nicht gerade höflich geklungen hatte. »Komm doch lieber zu mir in meinen Bau.« »Ich will diesen Umhang gegen eine Hacke eintauschen«, erklärte sie ihm. Panisken badeten sich weder, noch schnitten
sie ihre Haare, oder wuschen wenigstens ihre Hufe. Sie sahen aus, als wälzten sie sich in jedmöglichem Dreck. Sie hätte ihn gern abgeschrubbt, aber sie wußte, daß er sich gegen Wasser sträuben würde. Armer kleiner verwahrloster Junge, dachte sie, und ärgerte sich ein wenig über ihre anfängliche Unfreundlichkeit. Ohne Erwachsene, die sich um ihn kümmerten, war es da ein Wunder, daß er so heruntergekommen war? Sie fürchtete sich kein bißchen vor ihm. Die Panisken hatten sie bisher nie belästigt. Phlebas griff nach dem Umhang, aber sie zog ihn schnell zurück. Er grinste sie an. »Ich könnte ihn auch brauchen. Gib ihn mir.« Sie beschleunigte ihre Schritte ein wenig. Gegen einen einzelnen Paniskus konnte sie sich ohne weiteres zur Wehr setzen. Sicher, seine Hörner waren scharf, aber sie war flink genug, ihnen auszuweichen. Doch was war, wenn seine Freunde irgendwo auf der Lauer lagen? Sie lief schneller. Aber da waren sie tatsächlich. Sie sprangen von hinter den Büschen links und rechts von ihr hervor und umringten sie. Acht Stück waren es. »Was wollt ihr?« rief sie und versuchte, sich keine Angst anmerken zu lassen. Sie kicherten nur und blökten dumm. Dann faßten sie einander an den Händen und hüpften im Kreis um sie herum, wie bei einem rituellen Mondtanz. »Ist es das, was ihr wollt?« Sie warf Phlebas den Umhang zu. »Ja«, meckerte der Ziegenbursche und schlang ihn sich um die Schultern. Er machte ein paar wilde Bocksprünge durch das Gras der Lichtung. Vielleicht kann ich durch die Lücke entwischen, die er in der Kette hinterlassen hat, hoffte sie. Doch da war er bereits wieder zurück. »Und das?« Sie zog ihren Intaglioring vom Finger.
»Ja!« Phlebas nahm ihn. Auch die anderen lösten ihre Hände und griffen nach ihr, betätschelten sie. »Was wollt ihr denn noch, ihr schmutzigen kleinen Jungen?« Phlebas warf den Kopf zurück und wieherte vor Vergnügen. Aber sein Gelächter klang nicht wie das eines Kindes. * Die Panisken waren viel zu faul, sich eigene Häuser zu bauen. Sie benutzten die Gänge und Baue, die die Riesenbiber hinterlassen hatten, als sie im Krieg gegen die Wölfe unterlagen. Und da sie Diebe waren, tarnten die Ziegenburschen die Eingänge mit Gestrüpp. Phlebas Bande lebte in der erhöhten und ausgetrockneten Mitte eines Teiches in einem Bau aus Lehm und Zweigen, der durch einen unterirdischen Gang zu erreichen war. Als Betten benutzten sie verfaulendes Laub, den Tisch bildete ein mottenzerfressenes Wolfsfell auf einem Holzgestell, Tonkrüge standen und lagen herum, ihr Inhalt – Olivenöl oder saure Milch – zum Teil verschüttet. Die einzigen ansehnlichen Gegenstände waren zweifellos gestohlen. Kora zählte dreizehn Panisken und vier Artemisbärinnen. Da sowohl Ziegenburschen und Bärenmädchen, wenn erwachsen, physisch mit Zwölf- bis Fünfzehnjährigen verglichen werden konnten, taten sie sich manchmal zusammen, doch führte es nie zu einer echten Ehe. Oft teilten mehrere Burschen sich auch ein Mädchen. Zwei der Artemisbärinnen wiegten Junge in ihren Armen, ein Zicklein und ein Bärenbaby. Phlebas gab Kora einen Stoß, daß sie in die Mitte stolperte. Sie wußte zwar, daß die Panisken normalerweise Grünzeug aßen, aber auch Fleisch nicht verabscheuten. Ob sie vorhatten, sie als Abendmahl zu verzehren? Den hungrigen Blicken nach, mit denen die Burschen sie betrachteten, war das nicht
ausgeschlossen. Aber im Augenblick zumindest hatten sie anderes mit ihr vor. Sie waren neugierige Kreaturen, und eine Dryade in ihrem Bau war etwas völlig Neues. Sie beäugten sie und stupsten nach ihr – sie schlug ihnen auf die Hände. Sie zwickten und betätschelten sie – sie stieß einem von ihnen heftig gegen das Schienbein, daß er aufheulend durch den schmutzigen Baum humpelte. »Wir wollen sie durch den Teich ziehen«, schlug einer vor. »Wir sollten ihre hübschen Haare einzeln ausreißen.« »Schneiden wir sie doch in Stücke und probieren, wie sie schmeckt.« (Aha, also doch!) Die Vorstellungskraft von Kindern ist unbegrenzt. Es lief ihr kalt den Rücken hinab, und die Furcht hinterließ einen säuerlichen Geschmack in ihrem Mund, aber sie verlor nichts an Würde. Sie richtete sich hoch auf, daß sie mit ihren ein Meter fünfzig, angsteinflößend, wie sie hoffte, auf die Panisci hinunterblickte. Sie strich das Leinengewand glatt und suchte besseren Halt in ihren Sandalen. »Ihr bösen Kinder«, sagte sie. »Wenn ihr mich nicht sofort gehen laßt, kommen Eunostos und die Zentauren und zerren euren armseligen Bau an Land. Sie können nämlich schwimmen, im Gegensatz zu euch.« »Sie wissen ja gar nicht, daß du hier bist«, höhnte Phlebas. Die Bande kicherte, als hätte ihr Anführer einen großartigen Witz erzählt. Die Burschen stampften mit den Hufen auf, und die Mädchen klatschten in die Tatzen. »Sie wissen gar nicht, daß du hier bist!« echoten sie. Ehe sie sich's versah, hatten sie ihr das Kleid vom Leib gerissen. Und nun übertrafen sie sich mit beleidigenden Bemerkungen über ihre kleinen Brüste. (Zoe sollte statt meiner hier sein, dachte Kora.) Sie fröstelte in diesem schlechtbeleuchteten, schlechtgeheizten Raum, in dem es kein
Fenster gab, das die Sonne einlassen könnte. Die düsteren Flammen eines rauchigen Feuers in der Mitte verbreiteten wenig Wärme und kaum mehr Licht als die paar herumstehenden Wachskerzen. Sie saß nun auf dem Boden neben dem Feuer. Nur der Gedanke an Eunostos (er würde ihre Entführer ganz bestimmt aufspüren) gab ihr noch ein wenig Mut und half ihr, nicht in Tränen auszubrechen. Das Paniskenzicklein, dessen Mutter nicht auf den Sprößling achtete, kletterte auf Koras Schoß. Es stank nach Zwiebellauch und saurer Milch, und sie wollte es herunterheben, aber es lächelte sie so gewinnend und unschuldig an, daß sie ihm statt dessen den Anhänger zeigte, den die Panisken übersehen hatten. Das hätte sie nicht tun sollen. Das Zicklein biß sie in den Finger und zerrte so an der Halskette, daß sie riß. Strahlend brachte es seine Beute der Mutter. Nun begann Kora doch zu weinen, aber mehr aus verletztem Stolz und nicht der Bißwunde wegen, aus der grünes Blut tropfte. »Was bist du denn?« fragte Phlebas höhnisch. »Schaut, Jungs, wir haben grünes Gemüse unter uns.« »Hast du gedacht, Blut müßte immer nur rot sein?« fauchte Kora. Sie war jetzt so wütend, daß sie zu weinen vergaß. »Wir leben in Bäumen und essen Eicheln. Weshalb sollte unser Blut da nicht grün sein?« »Uns ist rotes lieber«, erklärte Phlebas abfällig. »Nicht wahr, Jungs?« Glücklicherweise lenkte der Hunger die Ziegenburschen und Artemisbärinnen zumindest zeitweilig von ihr ab. Sie aßen schmatzend durcheinander, was ihnen in die Hände kam – ungewaschene Wurzeln, ranzigen Fisch, Raupen und Kröten. Einer warf Kora einen Happen zu, den sie betrachtete und voll Ekel weglegte. Es war eine noch lebende Nacktschnecke.
»Warum verschwendet ihr gutes Essen an sie?« keifte die Mutter des Zickleins. Phlebas versetzte ihr eine Backpfeife. »Hast du schon den Handel vergessen? Du weißt genau, daß wir sie nicht verlieren dürfen.« Zwei Panisken hielten Koras Arme, während ein dritter die verabscheute Schnecke holte und sie ihr in den Mund stopfte. »Eunostos wird mich finden«, würgte Kora. »Er ist zu groß für den Tunnel, und wenn er oder die Zentauren durch den Teich zu uns zu schwimmen versuchten, beschießen wir sie vom Dach aus mit unseren Steinschleudern,« »Was habt ihr denn mit mir vor?« Allein Eunostos' Name hatte Kora ihre Fassung wiederfinden lassen. »Na, was glaubst du wohl?« höhnte er. Sein schmutziges Grinsen verschwand, als die Mutter des Zickleins, offenbar seine Gefährtin, ihm auf den Huf stampfte. Kora brauchte nicht lange zu warten, um es zu erfahren. Jemand näherte sich durch den Tunnel. Es roch plötzlich nach Honig und Blütenstaub. Eine Bienenkönigin betrat den Raum und schüttelte sich den Schmutz von den schleierfeinen Flügeln. Sie ignorierte die Panisken und Artemisbärinnen und schritt geradewegs auf Kora zu. »Meine Liebe«, sagte sie und half ihr auf die Beine. »Was haben sie mit dir gemacht? Sie haben dir wohl dein Gewand vom Leib gerissen? Und du bist ganz schmutzig im Gesicht. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, bei mir bist du sicher. Mein Name ist Saffron. Ich bringe dich nach Hause.« »Wie hast du mich gefunden?« Kora schluchzte. Ihre Befreierin war die gleiche Königin, die Eunostos fast mit den Augen aufgefressen hätte. »Wenn man Flügel hat, sieht man vieles.« Niemand hielt Kora zurück, als sie hastig nach ihrem Kleid
griff und es sich überwarf, ehe sie Saffron durch den Tunnel ins Freie folgte. Im Sonnenlicht und der frischen Luft schwankte sie, als hätte sie sich am Brombeerwein ihrer Mutter vergriffen. Saffron stützte sie. »Nur noch eine kurze Weile, meine Liebe«, tröstete die Königin sie, »dann kannst du baden und dich wieder schön machen.« Saffron führte sie über die Wiese. »Aber mein Baum liegt in entgegengesetzter Richtung.« »Es ist besser, du erholst dich erst ein wenig bei mir.« »Ich weiß deine Güte zu schätzen, doch ich sollte wohl lieber gleich nach Hause gehen. Meine Mutter wird sich große Sorgen machen und Eunostos zweifellos nicht weniger.« »Ich werde ihnen sofort Bescheid geben lassen, daß du in Sicherheit bist. Eunostos wird dann bestimmt gleich kommen und dich holen.« Am Rand des Waldes warteten drei mürrische Arbeiterinnen steif und farblos wie Tonfiguren. Auf Saffrons Befehl hoben sie sich in die Luft und griffen nach Koras Armen. »Und ich dachte, du hättest mich befreit!« rief die Dryade, als ihre Füße bereits den Boden verließen. »Ich habe dich gekauft, meine Liebe, und teuer bezahlt – mit einer Seidentunika und fünf silbernen Fußkettchen (um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie waren aus Blech).«
4. Auf dem Weg zu Kora hatte Eunostos bei mir eine Rast eingelegt und leistete mir Gesellschaft bei einem Krug Bier. »Zoe, weshalb bist du so bedrückt? Und warum siehst du mich an, als wäre ich schuld daran?« »Ich bin nicht bedrückt, Eunostos, nur nachdenklich.« »Bedrückt!« bestand er. »Machst du dir der Thriae wegen
Sorgen?« Wie konnte ich ihm sagen, daß ich mir im Augenblick darüber überhaupt keine Gedanken machte (obgleich ich es hätte sollen), sondern daß ich traurig war, weil er erwachsen wurde, und ich, die ich ihn als kleines Kälbchen und als verträumten Jüngling auf fast mütterliche Weise geliebt hatte, ihn nun vielleicht auf eine andere Art zu lieben begann. Die fröhliche Zoe, nannten mich meine Liebhaber. Sie liebt uns und dreht uns ohne eine Spur von Bedauern den Rücken. Ich versuche natürlich, meinem Ruf gerecht zu werden. Wer mag schon eine launenhafte Geliebte (und ich habe kein Lust, Eheweib zu sein)? Aber ich bin selbstverständlich Stimmungen genauso unterworfen wie andere auch. Wie konnte ich ihm sagen, daß ich viel Kummer für ihn voraussah? Für ihn, der so gütig und so verwundbar war, und daß es mir selbst das Herz brechen würde, wenn Kora ihm weh tat. »Ich erinnerte mich an damals, als ich noch so jung war wie du. Ich war schlank wie eine Gerte, und alle Zentauren waren verschossen in mich. Das war sogar noch vor deines Vaters Zeit.« »Die Zentauren lieben dich immer noch«, versicherte er mir. »Die alten und die jungen. Du bist so mütterlich.« Ich unterdrückte das Bedürfnis, ihm den Hintern zu versohlen, und lächelte ihn an, als hätte er mir ein königliches Kompliment gemacht. »Danke dir, mein Kleiner. Aber die Hufe klopfen viel weniger oft an meine Tür.« »Hast du mir nicht selbst beigebracht, ohne Bedauern zurückzublicken und immer vergnügt zu sein?« »Du hast recht.« Ich lachte. »Ich würde mein Leben nicht für alle Perlen im großen Meer ändern.« »Ich auch nicht, deines, meine ich.« Nun grinste er. »Nehmen wir dein Haus. Wenn ich Myrrha besuche, muß ich
meine Hufe erst auf einer Matte abstreifen, ehe ich eintreten darf. Aber hier ist alles so – so …« Er suchte nach einem Wort. »Ungezwungen.« Ja, das war wahrhaft taktvoll ausgedrückt. Er hätte auch chaotisch sagen können. Mein Einzimmerhaus, inmitten einer Wirrnis von Ästen, und nicht wie Koras Raum durch eine Treppe im Innern des Stammes erreichbar, sondern durch eine Leiter von außen, erlebte nur selten einmal einen Putztag. Die Hälfte der Wände bestand aus Fenstern, aber ohne Pergament, und ich überließ hauptsächlich der Sonne und dem Wind das Reinemachen. Fürstlich ausgestattet war es auch nicht gerade. Als Couch dienten mir mehrere übereinandergelegte Wolfsfelle, und ein Holzblock war mein Tisch. Ein rundes Regal, aus einem Baumstumpf gehauen, enthielt Käse, Brotlaibe und einen Lederbeutel mit Bier. (Ihr müßt wissen, daß eine Dryade nur dann Mobilar aus Holz verwendet, wenn sie sicher ist, daß es von einem Baum stammt, der durch natürliche Ursachen gestorben ist – Blitz, Dürre, Alter –, keinesfalls jedoch von einem durch Holzfäller gemordeten.) Dann hatte ich noch meine Gewänder an der Wand hängen – eine Tunika und drei bodenlange Kleider, eines davon nach kretischer Mode, die den Busen nicht bedeckt (das Geschenk eines Liebhabers aus Knossos), und als Lektüre für die wenigen Abende, die ich allein verbringe, besaß ich noch eine Papyrusrolle, Die süßen Geheimnisse einer Dryade, ein humorvolles Gedicht von Eunostos. Was mehr braucht eine immer noch vielbegehrte Frau denn sonst? Und natürlich war da mein Baum, so struppig und eigen wie ein alter Hund, und genau so geliebt. Wir Dryaden leben mit unseren Bäumen und sterben mit ihnen, oder auch ohne sie, wenn wir mehr als ein paar Tage von ihnen getrennt sind. Verunglücken wir tödlich, während unser Baum noch grünt und blüht, dann nimmt eine Blutsverwandte unseren Platz ein.
Es gibt Fälle, in denen viele Generationen von Dryaden in ein und derselben Eiche ihr Leben verbrachten. In meinem eigenen Fall hatte ich das Erbe meiner Mutter und Großmutter angetreten. Ich schätzte meinen Baum auf tausend und mehr Jahre, wenn er nicht gar so alt wie die Pyramiden war. »Ich muß jetzt gehen«, erklärte Eunostos in einem Ton, der verriet, daß er sich ganz gern zu einem längeren Verweilen überreden lassen würde. »Seit wann schaut Eunostos nach der Zeit?« »Ich traue den Thriae nicht. Du hast selbst gesagt, daß sie Diebe sind. Ich sah gestern eine Königin – ihre Neugier gefiel mir gar nicht. Und Kora ist viel zu vertrauensselig. Es ist wohl besser, ich zimmere eine Tür für ihr Haus. Ein Wolfsfell ist nicht diebessicher.« »Darum müßte ihre Mutter sich kümmern. Sie könnte sich von den Zentauren eine Tür beschaffen.« »Sie scheint mir ein wenig vergeßlich in letzter Zeit. Außerdem hat sie nicht mehr soviel einzutauschen wie früher.« »Na gut«, meinte ich. »Einen Krug Bier kannst du aber noch mit mir trinken.« Er tat es. Dann sprang er auf, küßte mich auf die Wange und kletterte die Leiter hinunter. * Im Wald hüpfte er und schlug die Hufe zusammen. Er versuchte sich weiszumachen, daß er noch genauso glücklich und unbeschwert war wie vor dem Sturm. Aber seine Hufe kehrten schwer auf den Boden zurück, gegen seinen Willen ließ er den Kopf hängen, und es fiel ihm kein vernünftiger Reim ein.
Er spürte sofort, daß irgend etwas mit Koras Haus nicht stimmte. Äußerlich war es unverändert, die gleichen Schilfrohrwände, dieselben rotumrahmten fröhlichen Fenster. Ein sauberes, glückliches Haus, das wie ein natürlich gewachsenes Stück des Baumes schien. Erst als er es erreicht hatte, wurde ihm die absolute Stille bewußt. Myrrha redete nicht auf Kora ein, und sie summte oder trällerte nicht wie sonst vor sich hin. Ob sie einen Besuch machte? Aber das wäre zur Abendessenzeit sehr ungewöhnlich. Ohne sich Zeit zum Anklopfen zu nehmen, hob Eunostos den Wolfspelz und trat in die Düsternis, denn die Sonne war bereits untergegangen, und es brannte keine Lampe. Nur der offene Herd glühte ein wenig. Myrrha lag auf der Couch und hatte sich mit einem schwarzen Mantel zugedeckt. Sie drehte sich ihm mit weißem Gesicht zu. »Kora ist nicht gekommen«, wisperte sie. »Wo ist sie hingegangen?« Er verstand noch nicht. »Nur spazieren. Aber sie ist nicht heimgekommen. Sie ist schon seit vor dem Frühstück fort.« Kora liebte einsame Spaziergänge, doch sie blieb ihrem Haus nie mehr als ein paar Stunden fern. Eunostos erstarrte plötzlich. Eisnadeln prickelten seine Haut. »Hast du sie gesucht?« »Ja. Und die Zentauren ebenfalls. Den ganzen Nachmittag. Das einzige, das wir fanden, war ein Fetzen ihres Kleides. Und Hufspuren. Eunostos, ich glaube, die Panisken haben sie verschleppt.« * Die Neuigkeit von Koras Verschwinden verbreitete sich wie Lauffeuer im ganzen Wald. Sie hatte keine Feinde, glaubten wir jedenfalls, und wir die Dryaden, Zentauren, ja sogar die
kleinen Artemisbärinnen waren zutiefst erschüttert, daß wir sie nicht finden konnten. Myrrha war untröstlich. Moschus brachte ihr Bier, ich eine geräucherte Gans und einen Laib Brot; die Artemisbärinnen schleppten Eimer mit Brombeeren an. Sie bedankte sich bei uns allen mit dem gleichen ausdruckslosen Gesicht, und sie bewegte sich, als trüge sie eine schwere Last auf den Schultern. Und Eunostos? Sie wußte nicht, wohin er gerannt war, als er aus ihrem Haus stürzte. Sie erinnerte sich kaum noch, wann er gegangen war. Andere waren in dieser Beziehung eine etwas größere Hilfe. Am Abend von Koras Verschwinden hatte ein Bärenmädchen ihn über eine Wiese mit gelben Butterblumen laufen sehen. »Es war, als wären die Bienen hinter ihm her«, erzählte sie. »Er wollte nicht einmal mit mir reden, dabei ist er gewöhnlich so freundlich.« Muß ich extra erwähnen, daß ich selbst mich auf die Suche nach ihm machte, sobald ich dafür gesorgt hatte, daß jemand sich Myrrhas annahm? Erst am Nachmittag entdeckte ich eine Spur von ihm – seine Hufabdrücke. Sie führten zu den Kalksteinklippen, die den größten Teil unseres Landes von der Welt der Kreter abschließt. In der tiefsten und unzugänglichsten Höhle fand ich ihn zusammengekauert wie ein Ungeborenes im Mutterschoß. »Eunostos!« rief ich erschrocken. »Ja, Tante Zoe?« murmelte er kaum verständlich. »Junge, wie siehst du denn aus?« »Es waren die Panisken.« »Aber wie bist du hierhergekommen?« »Ich kann mich nicht entsinnen. Ich muß mich wohl verlaufen haben, nachdem sie mich zusammengeschlagen hatten.« »Jetzt kommst du aber sofort mit mir nach Hause«, sagte ich
streng. * Sie hatten ihn schlimm zugerichtet. Es war nicht schwer zu erkennen, daß eine ganze Meute auf feige Weise über ihn hergefallen sein mußte. Er hatte Biß- und Kratzwunden und den ganzen Rücken voll Striemen. »Wie konnte das nur passieren?« fragte ich. »Ich suchte nach Kora und dachte, die Panisken hätten sie«, brummte er. »Du weißt ja, wie scharf sie auf sie waren. Aber Kora war nicht bei ihnen. Phlebas wurde unverschämt. Er sagte, wenn sie sie hätten, er wüßte schon, was er mit ihr tun würde – im Gegensatz zu mir. Ich verprügelte ihn, bis er zugab, daß sie Kora überfallen und an eine der Bienenköniginnen verkauft hatten. Dann fiel plötzlich die ganze Bande über mich her. Mit vier oder fünf hätte ich es ja noch aufnehmen können … Danach weiß ich nichts mehr, bis du mich in der Höhle gefunden hast.« »Warte nur, bis Chiron davon erfährt«, stieß ich wütend hervor. »Die Thriae werden wünschen, der Sturm hätte sie nie hierherverschlagen. Hast du eine Ahnung, welche Königin er meinte?« »Nein, aber es könnte die sein, die Kora und mir nachspionierte. Sie trug eine tigerfarbene Tunika. Ist das ein Anhaltspunkt?« »Ich glaube schon. Jede von ihnen scheint eine andere Farbe zu bevorzugen. Doch genug geredet, Eunostos, du mußt dich erholen. In deinem gegenwärtigen Zustand kannst du Kora nicht helfen.« Ich hieß ihn auf der Couch ausstrecken und machte ihm Umschläge mit Rosenwasser. Dann mischte ich ihm einen Trunk aus Basilikum, Farn und Majoran, der gleichzeitig heilend und beruhigend wirken würde. Er wollte
zwar sofort zu der Bienenkönigin, sah dann jedoch selbst ein, daß er in seiner jetzigen Verfassung kaum etwas ausrichten konnte. Gehorsam trank er und schlief ziemlich schnell ein. Aber ich wußte, daß er gleich nach dem Erwachen losstürmen würde – und gewiß dachten die Thriae nicht daran, ihn mit offenen Armen zu empfangen. Es gab nur eine Lösung. Ich mußte die Bienenkönigin vor ihm aufsuchen. Mit ein bißchen weiblicher List würde ich schon erfahren, weshalb sie Kora von den Panisci gekauft hatte, und wie ich sie befreien konnte, ohne ihr Leben dabei in Gefahr zu bringen. Gelang es mir nicht, konnte ich immer noch zu Chiron eilen, damit er eine Versammlung der Tiermenschen einberiefe und sofort etwas unternommen werden konnte. Mit seiner Unterstützung würden wir nicht nur Kora befreien, sondern auch diese hinterlistigen Thriae aus unserem Wald vertreiben können. Chiron war zwar alt und gutmütig und hatte seit dem Krieg gegen die Wölfe keiner echten Gefahr mehr gegenübergestanden, aber er war auch gerecht und wußte, daß ich keine leichtfertigen Anschuldigungen machen würde. Ich beugte mich über den schlafenden Eunostos und flüsterte: »Mein lieber, lieber Junge, ich werde dein Mädchen für dich finden. Vertrau nur deiner alten Tante Zoe.«
5. Ich wußte, daß sich sechs Bienenvölker im Wald niedergelassen hatten, jedes mit seiner eigenen Königin. Die Artemisbärinnen, denen trotz ihrer Scheu nichts entgeht, zeigten mir, welches der Stock Saffrons, der Königin mit der tigergestreiften Tunika, war. Ein Drohn lehnte gegen einen Baum und grinste mich recht zweideutig an. Er sah aus, als besäße er eine zwar äußerst rege Phantasie, aber kaum
Energie. Er war der Typ, der in seinen Tagträumen zwanzig Frauen vergewaltigt, aber zu bequem ist, auch nur einem einzigen weiblichen Wesen wirklich nachzustellen. »Mein gutes Mädchen«, sagte er. »Ich sehe, du kommst mit Geschenken. Ah, Eicheln, und was ist das? Ein gebackenes Rebhuhn? Wie ungewöhnlich. Sind sie für mich? Mein Name ist Sunlord.« Seine Stimme klang fast weibisch kokett. Er trug ein Lendentuch, so knapp, daß selbst ein Kreter sich damit nicht bekleidet gefühlt hätte. Seine Haut war braun und samtig, seine gazeartigen Flügel schwarz und gold gestreift. Seine schrägen Augen waren so golden wie die Streifen seiner Flügel. Da erinnerte ich mich, daß die Thriae ursprünglich aus dem Land der schlitzäugigen gelben Menschen kamen. Sie waren von dort, ihrer Diebereien und Entführungen wegen, verbannt worden, doch offenbar nicht, ehe nicht bereits eine Vermischung der beiden Rassen stattgefunden hatte. Zweifellos sah er sehr gut aus, aber dasselbe kann man von Schlangen und Tigern sagen. »Sie sind für deine Königin«, erklärte ich ihm nicht ganz ohne Schärfe. »Ich möchte sie im Land der Tiere willkommen heißen. Würdest du die Freundlichkeit haben, mich zu ihr zu führen?« Gelangweilt hob er eine mit Malachit- und Opalringen überladene Hand und deutete über seine Schulter. Ich sah, daß er goldene Fußkettchen mit winzigen Glöckchen trug, die klingelten, als er seine Beine überkreuzte. »Geradeaus«, murmelte er gähnend. »Du kannst sie nicht verfehlen. Sie ist die einzige mit einem wirklichen Busen.« Offensichtlich ermüdet durch unsere Unterhaltung, lehnte er sich dichter an den Baum und tat, als schließe er die Augen. Aber ich bemerkte, daß er mich scharf beobachtete. Ein hübscher Bursche, dachte ich, aber trotz seines aufreizenden Äußeren geschlechtlich so uninteressant wie eine
Kaulquappe. Kora würde von seinesgleichen nichts zu befürchten haben. Die anderen Drohnen, die zwischen den Bäumen und im Gras herumlungerten, sahen genauso träge aus. Ich verstand jetzt, weshalb eine Königin für ihren Hochzeitsflug so viele Drohnen brauchte. Sie konnte von Glück reden, wenn sie unter dem ganzen Schwarm auch nur einen einzigen fand, der sie befriedigen und gar noch befruchten konnte. Jetzt sah ich den Stock. Er war in der Form eines Sechsecks gebaut. Für ein Haus sah er zu groß und für einen Palast zu klein aus, und für eine Festung war er zu ungeschützt. Die Arbeiterinnen hatten die Bäume einfach entwurzelt. Ich war nur froh, daß sie Weiden genommen hatten und nicht Eichen. Sie bestrichen die Stämme mit Lehm, und wo dieser bereits getrocknet war, überzogen sie ihn mit einem Material, das wie Wachs aussah. Ich beobachtete sie eine Weile. Einige der Arbeiterinnen flogen mit Eimern herbei, die mit Lehm vom Ufer des Biberteichs gefüllt waren. Andere produzierten das Wachs – ein nicht sehr ästhetischer Vorgang. Drei Arbeiterinnen wateten bis zur Mitte in einem Bottich und mischten mit riesigen Rührlöffeln eine Masse aus Harz und Körperabsonderung – eine geruchlose, farblose Flüssigkeit, die sie aus ihren Brustwarzen molken, denn richtige Brüste hatten sie gar nicht. Sobald das Harz und die wachsartige Absonderung gut verrührt waren, schöpften wieder andere Arbeiterinnen die Mischung heraus und strichen sie über den getrockneten Lehm der Wände, wo sie schnell hart wurde und gelblich glänzte. Das Ganze war nicht weniger dekorativ als der dünne Alabasterbelag, mit dem die Kreter ihre Paläste schmückten. Wenn das Bauwerk erst fertiggestellt war, würde es wie ein vielfacettierter Topas glitzern. Jetzt erst wandte ich mich den Arbeiterinnen selbst zu. Ja, sie
waren wahrhaftig die unweiblichsten weiblichen Wesen, denen ich je begegnet war. Sie waren grau und behaart, und die Stummelflügel sahen zu schwach aus, den schweren muskulösen Körper zu heben, sie taten es aber trotzdem, doch nur, indem die Arbeiterinnen die Flügel in ständiger heftiger Bewegung hielten. Es war sicher schrecklich anstrengend. Alle machten mürrische Gesichter, und keine trug auch nur das geringste Kleidungsstück. Ihre Königin schwebte graziös zwischen ihnen herum und gab mit widerlich süßer Stimme Anweisungen und teilte Tadel aus. Ihre unzufriedene, finstere Miene paßte so gar nicht zu der Stimme. Als sie mich sah, setzte sie sofort ein übertriebenes Lächeln auf, das sie die ganze Zeit, während der sie mit zuhörte, beibehielt. Was ihr fehlte, war die Größe, innere Größe, meine ich jetzt. »Meine liebe Nachbarin«, sagte sie und streichelte etwas, das um ihren Hals geschlungen war und wie ein Fuchsschwanz aussah. »Dein Besuch ist wie der Schein des aufgehenden Mondes hinter den nachtschwarzen Baumwipfeln. Ich wollte, ich hätte Lilien, um deinen Pfad zu schmücken, und Myrrhe, um deine Füße zu baden …« Ich bin geradeheraus, und ihre gekünstelte Höflichkeit widerte mich an. Ich streckte ihr meinen Korb entgegen. »Ich bin Zoe und habe dir ein paar Eicheln und ein Rebhuhn mitgebracht.« »Eicheln und Rebhuhn«, echote sie – ich hatte das Gefühl, daß sie sich innerlich über die unelegante Art lustig machte, in der ich ihr meine Mitbringsel darbot. »Welch seltene Köstlichkeiten.« Der Fuchsschwanz zuckte. Er lebte und war demnach auch gar kein Fuchsschwanz. Ich mußte mich beherrschen, ihr nicht das Rebhuhn ins Gesicht zu reiben und ihr so das falsche Lächeln abzuwischen. Nein, ich durfte meine Mission nicht in Gefahr bringen.
»Ich bin hier, um dich im Land der Tiere willkommen zu heißen.« »Allein dein Besuch ist Willkommen genug. Deine Geschenke sind unschätzbar.« Welche Worte sie wohl gewählt hätte, wenn ich mit Diamanten und Saphiren angekommen wäre? »Wie du siehst, ist meine bescheidene Hütte noch nicht fertiggestellt, aber ich kann dich trotzdem in einen Raum bitten, wo wir uns nett unterhalten können. Vielleicht ließe es sich machen, daß du mich in den Sitten deines Landes unterweist, damit mein Benehmen nicht vielleicht falsch ausgelegt wird? In meinem eigenen Land war ich Königin. Hier bin ich Gast und möchte mich nach den herrschenden Gebräuchen richten.« Die sogenannte einfache Hütte war ein Labyrinth, das selbst einen so berühmten Architekten wie Dädalus beschämt hätte. Die wachsüberzogenen Wände glitzerten wie riesige Spiegel, und an jeder Biegung sahen wir uns selbst gegenüber – Saffrons ewiges Lächeln, und mein gerötetes Gesicht, das im Vergleich zu dem zarten der Königin so schrecklich grobgeschnitten wirkte. Korridor führte in Korridor, Zimmer in Zimmer. Kronleuchter mit unzähligen brennenden, lilienförmigen Kerzen hingen von den Decken und hüllten uns in sanftes flackerndes Licht. In einem Raum füllten Bienen Nektar in silberne Schalen, in einem anderen mischte eine Arbeiterin Pollen mit Wein. Schließlich erreichten wir Saffrons Audienzsaal – ein Raum, sechseckig wie der Stock als Ganzes und offenbar in dessen genauem Zentrum. Übereinandergelagerte Leopardenfelle bedeckten den Boden. Die schwarzen und goldenen Flecken spiegelten sich unendlich an den glänzenden Wänden und erweckten in mir das Bild eines Dschungels mit wunderschönen, aber gnadenlosen Raubtieren. Ein mit Seidenfäden durchzogener Korbsessel, ohne Rückenlehne, um die Flügel der Königin
nicht zu behindern, schaukelte von der Decke. In der Mitte des Raumes stand ein leerer Steinsockel. Vielleicht war die Statue, die sicher darauf gehörte, noch nicht vollendet. Saffron zuckte entschuldigend beide Schultern. »Wegen des Sturmes kamen wir mit nur geringer Habe hier an. Verzeih deshalb das ärmliche Zimmer. Wir konnten nicht einmal eine Skulptur für den Sockel mitbringen.« (Was spielte es schon für eine Rolle, dachte ich. Es wird nicht lange dauern und ihr habt euch ohnehin alles zusammengestohlen.) Sie deutete auf die Felle und warf einen kurzen Blick auf den Stuhl. »Du würdest ihn nicht sehr bequem finden.« (Sie meinte wohl, daß er unter meinem Gewicht zusammenkrachen würde!) Nachdem ich es mir auf den Pelzen bequem gemacht hatte, ließ sie sich auf dem schaukelnden Korbsessel nieder und blickte mit einem eigenartigen Ausdruck auf mich herab, den ich nicht zu deuten wußte. Ich rächte mich, indem ich sie mir als Kakadu in einem hängenden Weidenkäfig im Palast eines ägyptischen Pharaos vorstellte. Dieses Bild half meinem Stolz. »Der junge Minotaur«, sagte sie plötzlich, »den ich am Tag unserer Ankunft in deiner Begleitung sah, wo ist er denn heute?« »Er heißt Eunostos und wurde in einer Auseinandersetzung verletzt, als er …« »Ja?« Vielleicht sollte ich ihr die Wahrheit sagen und ihre Reaktion beobachten. »… als er nach einer Dryade suchte. Er war der Meinung, daß eine Meute Panisken sie entführt hatte.« »Und war das der Fall?« »Ja. Aber sie hatten sie inzwischen verkauft. Niemand weiß, an wen …« »Wie bedauerlich. Aber dieser Eunostos. Er ist gewiß ein beachtlicher Kämpfer …«
»Keiner seiner Gegner kam ohne ein gespaltenes Horn oder einen gebrochenen Huf davon.« »Ich hoffe, er wurde nicht verkrüppelt oder …« »Nein, nur leichtere Verletzungen, die bald heilen werden.« »Ein beachtlicher junger Bulle«, sagte sie mit hörbarer Bewunderung und spielte mit dem fuchsschwanzähnlichen Wesen um ihren Hals. Da sah ich einen Herzschlag lang Koras Anhänger und erstarrte fast. Aber nach ihrem gleichbleibenden Lächeln zu schließen, hatte sie nichts bemerkt. Mühsam beherrschte ich mich. »Ich fürchte, ich habe dich schon zu lange aufgehalten«, sagte ich. Dann konnte ich es doch nicht lassen und fügte hinzu: »Deine Arbeiterinnen brauchen sicher deine Anleitung.« Sie lachte silberhell. »Da hast du recht. Sie haben zwei Tugenden: sie sind stark und kennen nur willenlosen Gehorsam.« »Und die Drohnen?« »Sie sind höchstens zu einer Sache nützlich. Aber wir müssen das Beste aus dem machen, was uns zur Verfügung steht, nicht wahr?« Ihr Interesse an Eunostos wurde mir nun allzu klar. Wenn das Beste, das ihr zur Verfügung stand, Typen wie Sunlord waren, hielt sie es offenbar für angebracht, anderswo zu suchen. »Ich hoffe, es wird dir im Land der Tiere gefallen«, sagte ich so höflich, wie es mir über die Zunge ging. »Du mußt mich bald einmal in meinem Baum besuchen (dann werde ich dir Schlangengift vorsetzen).« »Das werde ich gern tun. Doch ehe du gehst, möchte ich dir noch meine Dankbarkeit für deine Aufmerksamkeit beweisen.« Ich winkte ab, aber Saffron stampfte bereits mit den zierlichen Füßen, daß die Kettchen klingelten, und befahl einer
sofort herbeieilenden Arbeiterin: »Bring eine kleine Erfrischung.« In Windesschnelle kam die Biene mit einem Kelch voll goldenem Wein zurück. »Es ist aus Honig und gegorenen Pollen«, erklärte Saffron. »Ich trinke nie vor dem Mittagessen«, sagte ich fest. Unhöflichkeit oder nicht, ich hatte keine Lust, mich von ihr vergiften zu lassen. Sie blickte mich erstaunt an, fast wäre ihr Lächeln erstorben, aber nur fast. »Dann gestatte mir, dir ein kleines Geschenk zu machen. Du würdest mich tödlich beleidigen, wenn du es ablehnst.« Sie griff an ihren Hals und holte das pelzige Wesen herunter. Es schien mir eine Kreuzung aus Eule und Kaninchen, nur viel kleiner als beides; es hatte sowohl fedrige Flügel als auch ein weiches, buschiges Fell. »Es ist ein Streig, ein leicht zu haltendes Haustier. Wenn du ihn mit Sonnenblumenkerne fütterst, ist er völlig zufrieden. Er schläft die meiste Zeit und liebt es, wenn man ihn um den Hals schlingt. Er wird dich warm wie ein Fuchsschwanz halten.« Sie legte ihn mir um den Hals. Er war unvorstellbar weich, und ich konnte sein sanftes Schnurren hören und spüren. Ich muß gestehen, ich war sofort regelrecht verliebt in ihn. Ich bringe ihn Eunostos, dachte ich. Das wird ihn ein wenig aufheitern, bis wir Kora befreien können. Außerdem, wenn ich ihn nicht annehme, vermutet sie vielleicht, daß ich den Anhänger gesehen habe. »Aber Saffron«, murmelte ich. »Ich habe dir doch nur ein paar Eicheln und ein Rebhuhn gebracht, und du willst mir gleich das niedliche Tierchen schenken, das dir doch gewiß selbst sehr viel bedeutet.« »Der Wert eines Geschenks hängt davon ab, ob es von Herzen kommt. Du hast mir mit deinem und deiner
Freundschaft viel mehr gegeben.« Sie winkte mir noch nach, als ich ihren Bauplatz verließ, und gleich darauf hörte ich sie wieder ihren Arbeiterinnen Befehle erteilen. Die Drohnen grinsten, und Sunlord sagte: »Ich sehe, du hast unsere Königin so sehr beeindruckt, daß sie dir sogar ihren kleinen Liebling geschenkt hat. Gut für dich, Mädchen.« Seine Stimme schien mir ein wenig spöttisch. Als ich in den Wald trat, empfand ich fast so etwas wie Triumph. Ich hatte meine Sache gut gemacht und Saffrons Schuld festgestellt. Nun konnte ich Eunostos aufwecken. Wenn er sich bereits ausreichend erholt hatte, würden wir zu den Zentauren gehen, damit wir gemeinsam etwas zu Koras Befreiung unternehmen könnten. Ich verstand nur nicht, weshalb meine Knie plötzlich zitterten und ich mich so schrecklich schwach fühlte. Vermutlich war es die Reaktion auf die überstandene Gefahr, immerhin hätte ja etwas schiefgehen können. Ich lehnte mich gegen den Stamm einer Zypresse, da ließen meine Beine mich völlig im Stich. Ich rutschte auf das Moos und versuchte verzweifelt, die Augen offenzuhalten. Ich hatte doch Saffrons Wein nicht getrunken. Hatte sie mir auf irgendeine andere Art unbemerkt etwas eingegeben? Das winzige pelzige Wesen um meinen Hals war so schwer wie ein Bronzekragen geworden. Mühsam hob ich den Arm, um es herunterzunehmen. Ich schaffte es nicht. »Schlaf gut, meine Liebe.« Ehe mir die Augen zufielen, sah ich noch Saffron über mir stehen. Die groben Hände ihrer Arbeiterinnen griffen nach mir. »Nein!« keuchte ich. Dann wurde es schwarz um mich. Ich kam in einem Zimmer zu mir, dessen Wände mit glänzendem Wachs bedeckt und dessen einziges Mobiliar zwei Leopardenfelle waren. Eines lag unter mir, das andere
unter Kora. »Kora!« krächzte ich. Sie rührte sich ein wenig, öffnete jedoch ihre Augen nicht. Sie war totenbleich, ihr grüngoldenes Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht, und ihre Lippen waren blau. Ich kannte die Zeichen. Sie stand nicht unter Drogeneinfluß und war auch nicht vergiftet, sondern lediglich ihrem Baum schon zu lange ferngehalten worden. Ihre Lebenskräfte verließen sie bereits. Saffron, je eine Arbeiterin zur Rechten und zur Linken, stand an der Tür. »Wie lange wird es deine Freundin noch machen?« fragte sie. »Ohne ihren Baum, meinst du? Noch fünf oder sechs Tage. Im Höchstfall sieben. Sie wird immer mehr dahinsiechen.« »Und du ebenfalls, nehme ich an. Sie ist erst drei Tage bei uns und rührt sich schon kaum mehr. Du wirst es sicher länger durchhalten, mit deiner – Statur.« »Wenn du mich für fett hältst, warum sagst du es dann nicht?« fauchte ich. »Meine Liebhaber nennen mich angenehm üppig. Aber das würdest du mit deiner Zaunlattenfigur ja nicht verstehen.« Ich versuchte mich aufzurichten, sank jedoch wieder erschöpft auf das Fell zurück. »Weshalb läßt du Kora nicht frei? Was willst du mit ihr?« »Interessiert es dich denn gar nicht, wie ich dich überlistet habe?« »Du mußt mir etwas eingegeben haben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen wie, da ich ja deinen Wein nicht trank.« »Nein. Ich habe dir lediglich einen meiner kleinen Freunde geliehen.« Es dauerte, ehe ich begriff. »Der Streig?« »Du hast es erraten. Er hat einen Aderlaß bei dir vorgenommen. Seine Zunge ist nämlich wie eine feine Nadel. Er stach sie dir, ohne daß du es überhaupt spürtest, in den
Hals und saugte genug von deinem Blut, um dich ohnmächtig werden zu lassen. Wir entfernten ihn zu deinem Glück, ehe er ganz gesättigt war.« »Warum trinkt er denn dein Blut nicht?« »Es ist gelb. Er mag nur rotes oder grünes.« Ich war schnell mit der nächsten Frage zur Hand. »Was ist mit Kora? Weshalb hast du sie von den Panisken gekauft?« »Sie haben sie in meinem Auftrag entführt. Gegen Bezahlung, natürlich.« »Aber warum?« »Als Köder.« »Für Eunostos!« Es schüttelte mich. »Du hast sie gefangengenommen, um ihn in deinem Stock zu locken.« »Richtig.« »Aber was willst du denn mit einem harmlosen Minotaurenkalb?« Als ob ich noch fragen müßte! »Junger Bulle, meinst du wohl. Das kannst du doch nicht übersehen haben. Der beste Drohn leistet nicht sehr viel als Liebhaber. Denk doch nur an Sunlord, du hast ihn ja kennengelernt. Könnte er dich befriedigen?« »Ich würde eher eine Jungfrau bleiben – wenn ich es noch wäre –, ehe ich es mit ihm versuchte.« »Das kann ich verstehen. Aber wenn eine Dryade sich mit einem Minotauren paaren kann, warum dann nicht auch eine Thriae. Ein ausgewachsener Minotaur wäre mir allerdings ein bißchen zu groß. Gewiß würde er mir meine Flügel zerdrücken. Aber Eunostos ist nur einsachtzig. Es dürfte interessant werden, zu sehen, welche Kinder diese Paarung ergeben wird. Bestimmt lebhaftere als die Arbeiterinnen, und männlichere als die Drohnen. Vielleicht geflügelte Bullen, wie man sie auf den hethitischen Monumenten sehen kann?« »Aber tötet eine Bienenkönigin ihren Partner denn nicht nach der Zeugung?« fragte ich mit ein wenig zitternder
Stimme. »Unsere Paarung ist etwas turbulent. Der Drohn wird gewöhnlich – nun, meine Offenheit kann dich doch gewiß nicht schockieren – völlig entkräftet.«
6. Ich hatte mich schon einigermaßen von meinem Blutverlust durch den Streig erholt und noch nicht begonnen, die Trennung von meinem Baum zu spüren. Ich fühlte mich deshalb verhältnismäßig kräftig. Aber Kora, das arme Ding, welkte dahin wie eine abgeschnittene Chrysantheme. Sie atmete keuchend und konnte sich kaum noch bewegen. Sie brauchte sofort eine Stärkung. Ich schlug gegen die wächsernen Wände, aber sie gaben nicht nach. Wütend stampfte ich auf den Boden und stieß einen Schrei wie eine verwundete Bärin aus. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Saffron, von zwei Arbeiterinnenwächtern begleitet, funkelte mich an. »Du willst wohl mit deinem Brüllen die Wände zum Einsturz bringen, du alte Kuh«, sagte sie aufgebracht. »Ich bin eine Dryade, und kein weiblicher Minotaur. So etwas gibt es nämlich gar nicht. Meine Freundin ist hungrig, und ich nicht weniger.« Die Arbeiterinnen waren mit Bambusspeeren bewaffnet. »Honig und Pollentee? Tut mir leid, meine Teure, aber ich kann meine Einladung nicht aufrechterhalten. Oder dein Rebhuhn? Es wäre wohl nicht schicklich, daß ein Gast sein eigenes Mitbringsel ißt. Außerdem habe ich es schon verzehrt. Es war ganz genießbar, was ich von deinen Eicheln nicht behaupten kann. Ich habe mir bei der ersten schon fast einen Zahn ausgebissen.«
»Wenn noch welche übrig sind …«, hauchte Kora. Ich beeilte mich, sie zu unterbrechen. Wenn Saffron auch nur ahnte, daß wir Eicheln zum Leben brauchten, würde sie sie lieber an die Eichhörnchen verfüttern. »Nun, ich gebe zu, sie waren nicht mehr ganz frisch. Aber wie wäre es mit Honig? Oder Pollenbrot?« bat ich. »Nahrungsmittel sind äußerst knapp, solange meine Arbeiterinnen noch mit dem Bauen beschäftigt sind. Weshalb sollte ich sie an kurzzeitige Gäste verschwenden?« »Wenn wir zu schnell sterben, kannst du uns Eunostos nicht mehr zeigen und ihn dir dadurch gefügig machen.« »Dafür dürfte meine Schönheit und mein Charme genügen.« »Nicht, wenn er glaubt, daß du uns getötet hast.« »Ich werde ihm lediglich sagen, daß ihr meine Gefangenen seid. Er braucht nicht zu wissen, ob tot oder lebendig.« »Er steht bereits ein ganzes Jahr auf eigenen Füßen und ist nicht so leicht zu übertölpeln. Es ist schon besser, du hältst uns bereit, falls du mit Beweisen aufwarten mußt.« Ich sah, wie sie überlegte. »Na gut«, meinte sie schließlich. »Ein bißchen kann ich euch wohl abtreten. Ich werde euch eine besondere Köstlichkeit schicken, ehe ich mich an euren Freund heranmache.« Besondere Köstlichkeit? Vielleicht wollte sie uns vergiften! »Eunostos wird kommen«, wandte ich mich an Kora, nachdem Saffron das Zimmer verlassen hatte. »Weißt du, daß er den ganzen Wald nach dir abgesucht hat? Er mußte deinetwegen ganz schöne Prügel einstecken.« »Ist er schwerverletzt?« rief sie trotz ihrer Schwäche erschrocken. »Nein, nur grün und blau geschlagen. Na ja, und ein paar kleinere Biß- und Kratzwunden hat er natürlich auch. Er ruht sich in meinem Baum aus und wird schon wieder zu Kräften kommen.«
»Ich bin seiner nicht wert. Er vergleicht mich mit der Heldin seines Lieblingsromans, Hufschlag in Babylon. Die Leute legen mein Schweigen aus, wie es ihnen gerade gefällt, aber für ihn bedeutet es Geheimnis und Weisheit.« »Du magst seiner vielleicht nicht wert sein, Kora«, pflichtete ich ihr bei. Ich war ihre beste Freundin, doch auch die ehrlichste. »Aber auf jeden Fall verdienst du ihn noch eher als jede andere. Er wird uns finden, glaube es mir. Und dann muß er sehen, wie dankbar du ihm bist. Du hast ihm nämlich nie gezeigt, daß du etwas für ihn empfindest.« »Nicht wie du meinst, Zoe. Ich habe ihn immer als einen jüngeren Bruder betrachtet …« Ihre Stimme wurde immer schwerer und erstarb schließlich. Aber die Stille beängstigte mich. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Flügelschlagen der Arbeiterinnen und dann auch noch Saffrons Stimme, die ihre Kommandos gab. Endlich hörte sie auf. Jetzt ist sie Eunostos holen gegangen, dachte ich. Kurz darauf brachten die Bienen uns die versprochene Köstlichkeit. Saffron hatte die, wie sie glaubte, ungenießbaren Eicheln geschickt. * Eunostos öffnete die Augen und starrte auf die Decke und roch den Duft der Rinde und Blätter meiner Eiche. Zoes Haus, dachte er. Aber wie bin ich hierhergekommen? Nach einigem Nachdenken fiel es ihm ein. »Zoe!« rief er. »Nein, ich bin es. Saffron.« Er erkannte die Bienenkönigin, die ihm in seinem Garten nachspioniert hatte. »Wie hast du hierhergefunden?« fragte er verärgert. »Zoe erklärte es mir. Und sie ließ auch die Tür unversperrt.« Ihre Schönheit, auf die sie so stolz war, beeindruckte ihn
nicht im geringsten. Gewiß, sie war hübsch wie ein zerbrechliches Pflänzchen, aber an Koras Größe oder Zoes Üppigkeit kommt sie nicht heran, dachte er. Sie trägt zu viele Armreifen, und ihre Flügel sehen aus, als ob die schwächste Brise sie zerfressen würde. Außerdem gefiel ihm nicht, wie bewundernd und erwartungsvoll sie ihn anstarrte. »Schau mich nicht so böse an«, kokettierte sie. »Du siehst aus, als wolltest du mich über das Knie legen. Habe ich dich aufgeweckt?« »Allerdings.« »Macht nichts. Du wirst wie ein Drohn schlafen, wenn wir erst unser Spielchen hinter uns haben.« Sie setzte sich neben ihn auf die Couch, darauf bedacht, daß ihre Hüfte sein Bein berührte. Er versuchte, sich ein wenig zurückzuziehen, aber er drückte bereits mit dem Rücken gegen die Wand. »Dafür, daß du noch so jung bist, hast du erstaunlich viel Haar auf der Brust«, bemerkte sie. »Es sieht gut aus. Unsere Drohnen haben nur auf dem Kopf Haare. Das einzige, was man von ihnen sagen kann, ist, daß sie zumindest nicht glatzköpfig werden.« »Wir kommen schon behaart zur Welt. Das hält uns warm im Winter. Wir werden auch nicht glatzköpfig. Was willst du eigentlich?« »Oh, nur einen kleinen Besuch machen, den letzten Minotauren kennenlernen. Aber du wirst gewiß nicht der letzte bleiben. Du wirst Söhne und Enkel haben, und eines Tages gibt es wieder einen neuen Stamm von Minotauren. Das heißt, wenn du dir die richtige Gefährtin erwählst – eine, deren Fruchtbarkeit deiner Männlichkeit ebenbürtig ist.« »Zoe ist jetzt nicht zu Hause.« »Du hörst mir ja gar nicht zu.« »Ich bemühe mich, dir zuzuhören, aber du sitzt auf meinem
Huf. Woher wußtest du überhaupt, daß ich hier bin?« »Von Zoe und Kora.« »Dann hältst du sie demnach gefangen?« Wütend schwang er den Arm, daß sie auf den Boden fiel. Ungerührt setzte sie sich wieder neben ihn, als wäre sie versehentlich von der Couch gerutscht. Ihr Lachen klang wie Glöckchen mit kupfernen Klöppeln, süß aber metallisch. Kora lachte sanft und melodisch. »Ich sehe schon, bei dir brauche ich nicht um den heißen Brei herumzureden.« »Ja, deine beiden Freundinnen befinden sich in meinem Stock, als unfreiwillige Gäste, könnte man sagen. Aber es liegt in deiner Hand, sie zu befreien.« Er starrte sie grimmig an. »Was muß ich tun?« »Eunostos, ich muß dir wohl die traurige Wahrheit gestehen. Meine Töchter sind alle fleißige Arbeiterinnen, aber unintelligent und ohne jegliche Initiative, obgleich sie durch mich auf stolze, ehrenwerte Vorfahrinnen zurückblicken können. Mein Stammbaum reicht bis zu der Zeit, als die gelben Menschen noch in primitiven Steinhütten lebten und die Kreter in düsteren Höhlen. Aber die Männer meines Volkes – nun, sie überhaupt Männer zu nennen, ist schon nahezu eine Übertreibung. Der fähigste von ihnen – Sunlord, beispielsweise – reicht bei weitem nicht an die männlichen Exemplare anderer Rassen heran. Während meines nächsten Hochzeitsflugs kann ich nicht einmal sicher sein, befruchtet zu werden. Und eine Königin ohne Nachwuchs wird entthront.« »Mit anderen Worten, du brauchst einen Mann einer anderen Rasse.« »Genau so ist es.« »Wie wär's mit einem Zentauren?« Sie schauderte. »Zu groß. Zu viele Beine.« »Ein Paniskus? Die haben genau die richtige Größe für dich.«
»Puh, der Gestank. Sie kauen Zwiebellauch, das mußt du doch wissen.« »An wen dachtest du denn?« »Stell dich bitte nicht dümmer als du bist«, sagte sie ungeduldig. »An dich, natürlich.« »Als Zuchthengst«, brummte er. »Wie die kretischen Bullen, die man für die Arena heranzieht.« »Zuchthengst? Gatte, meinst du wohl. Ich sagte doch Hochzeitsflug. Oder Liebhaber, wenn du von dem Gedanken an eine Ehe zurückscheust. Ja, Eunostos, du hast die Ehre, meine nächsten Eier befruchten zu dürfen. Ich sah dich aus der Luft, als wir in diesem Land ankamen. Und du schienst mir wie eine Libelle einer Rose. Wie eine Motte einem Nachtschattengewächs. Wie ein …« »Und das ist alles, was ich tun muß, um Kora und Zoe zu befreien?« »Das ist alles«, zischte sie. Die Thriae lieben es gar nicht, wenn man sie bei ihren bildhaften Vergleichen unterbricht. »Dann laß sie vorher frei.« Sie zog eine Schnute und drehte ihm den Rücken zu. »Du stellst es wie einen ordinären Handel hin. Ich habe meinen Stolz geschluckt, als ich wie ein Flittchen von einer Dryade in deine Arme geeilt bin – und du willst eine Garantie für meine Ehrlichkeit!« »Zumindest mußt du mir beweisen, daß sie wirklich in deiner Gewalt sind.« Sie holte den Anhänger zwischen ihren Brüsten hervor und zeigte ihn Eunostos. Widerwillig nickte er. »Er gehört Kora. Du hast sie also wirklich.« Es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich unserer Sicherheit zu vergewissern. Er war viel zu vertrauensselig, als daß er auch nur daran gedacht hätte, sie könnte uns ermordet haben, oder beabsichtigen, es noch zu tun.
»Also, mein Junge, was hast du schon zu verlieren?« Ja, was hatte er schon zu verlieren? Er wußte nichts von dem traditionellen Geschick eines Drohnen nach der Paarung. »Bin ich denn wirklich so wenig begehrenswert?« fuhr sie fort. »Sind meine Flügel abstoßend, oder gefällt dir meine Farbe nicht?« »Du bist arg dünn«, tat er ehrlich seine Meinung kund. »Und bestimmt schon hundert oder mehr.« »Wenn du mich für unscheinbar hältst, dann mußt du erst meine Arbeiterinnen sehen. Sie wissen nicht einmal, wie man sich schminkt.« »Du hast es ihnen nicht beigebracht?« »Es würde sie von ihren Pflichten abhalten. Und was mein Alter betrifft. Ja, ich bin genau hundert und nicht mehr. Diese Zoe ist doch sicher schon dreihundert.« »Na ja, du hast dich für dein Alter recht gut gehalten. Bist du sicher, daß ich dir nicht ungewollt deine Flügel verletzten könnte?« »So sicher, wie die Erde eine Scheibe ist, die von einer riesigen Schildkröte auf dem Rücken getragen wird.« Zumindest war sie nicht ungebildet. * Mit ihren kleinen, aber hartnäckigen Händen schob sie ihn auf den Rücken. Lieber Zeus, dachte er. Nach meiner Rauferei mit den Panisken, bin ich da überhaupt schon wieder kräftig genug, eine Bienenkönigin zufriedenzustellen? Er holte tief Atem und spannte versuchshalber die Muskeln. Er peitschte mit dem Schwanz – das Stück, auf dem er nicht lag. Es tat ihm eigentlich gar nichts mehr weh. Zoes Heiltrank und der erholsame Schlaf hatten Wunder bewirkt. Er würde es diesem zerbrechlichen Ding schon zeigen. Sicher, er hatte Kora
versprochen, zumindest ein Jahr auf sie zu warten. Aber er brachte ja dieses Opfer schließlich für sie. Gewiß würde sie es verstehen. Saffron saß neben ihm, ihre Finger sanft um seine Hörner, und blickte ihm tief in die Augen. Dann zerzauste sie ihm mit einer Hand, die nicht größer als ein Ahornblatt war, seine Mähne. »Du darfst sie dir nie stutzen, mein Junge. Sie steht dir so gut. Und was du doch für schöne große Ohren hast. In diesem Licht sind sie fast durchsichtig, wie Perlmutt.« Für Kora war ihm kein Opfer zu groß, dachte er. Er würde alles für sie erdulden. Erst lag Saffron neben ihm. Dann ruhte sie plötzlich in seinen Armen. Ihre kleine Zunge spielte über seine Lippen, und ihre Hände vergruben sich in seinem dichten Brusthaar. Nun, vielleicht war eine dünne Frau gar nicht so ohne. Sie hatte ihn eingeladen. Jetzt war die Zeit, diese Einladung anzunehmen. Öffnet eine Dame gastfreundlich die Tür, bleibt ein Mann dann frierend draußen im Schnee, wenn drinnen ein warmer Ofen lockt? Er betrat das Haus mit Behagen, und als liebenswerter Gast nicht ohne Mitbringsel … Lächelnd empfing sie die Geschenke, und, immer noch lächelnd, biß sie ihn ins Ohr. Er tastete nach der Wunde und spürte das warme Blut. Ein Zeichen ihrer leidenschaftlichen Liebe, dachte er. Aber weshalb mußte sie gar so fest zubeißen? Nun versetzte sie ihm einen heftigen Stoß. Aus Liebe? Wohl kaum. Er mußte sie verärgert haben. Vielleicht weil er ihren zerbrechlichen Leib wie den einer kräftigen Dryade genommen hatte? Vielleicht, da sie an ihre Drohnen gewöhnt war, und trotz ihrer Worte, hatte sie doch sanfte Zärtlichkeiten erwartet und nicht eine leidenschaftliche Eroberung. Seine Erfahrung mit Frauen reichte eben nicht bis zu Bienenköniginnen.
»Saffron«, begann er sich zu entschuldigen. »Ich bin an Dryaden gewöhnt. Wenn du mir sagen würdest, was …« Sie spuckte ihm ins Gesicht. Sie wurde zur Furie, zur Chimäre – ihr Körper wickelte sich um ihn wie ein Python, ihre Arme umschlangen ihn wie Tentakel, und ihre Hüften schienen ihm wie eine zuschnappende Muschel. Ineinander verschlungen rollten sie von der Couch, und einen Augenblick lang schwebte seine schwere Gestalt in der Luft, als Saffron in einem Ausbruch von Leidenschaft oder Wut, oder was auch immer von ihr Besitz ergriffen hatte, wild mit den Flügeln flatterte. Das ist es, dachte er. Sie will ihren Hochzeitsflug. Aber damit kann ich ihr nicht dienen. Doch das war es auch nicht. Als sie ihn zum viertenmal schmerzhaft trat, verlor er die Geduld. Eunostos hatte schon so manche stürmische Frau erlebt, aber Saffrons Leidenschaft schien ihm weniger aus Verlangen oder gar Liebe, sondern aus Verachtung für Drohnen, Minotauren und Männer überhaupt geboren. Wie sollte er auch in seiner Geradheit die Philosophie der Frauen verstehen, die absolute Unterwerfung verlangten, der Göttinnen, die auf den Opfertod des Gatten bestehen, der Spinnen, die ihren Partner verzehren, nachdem er seine Schuldigkeit getan hat? Er wehrte sich ganz einfach. Er war kein markloser Drohn, und er war es auch nicht gewohnt, ausgenutzt oder mißhandelt zu werden. Sie hatte ihn ins Ohr gebissen. Er biß sie in den Arm, mit Zähnen, um die ein Biber ihn beneidet hätte. Sie stieß ihm die Knie in den Unterleib, er revanchierte sich mit den Hörnern, hinter denen die Kraft eines kleineren Rammbocks lag. Sie drückte ihn, und er legte ihr die Hände um den Hals, daß sie sich wie eine für den Kochtopf bestimmte Henne aufführte. Schließlich – alles andere als erledigt, mit nur ein paar
Kratzern und blauen Flecken mehr – schleuderte er sie auf den Boden. Dann machte er es sich auf der Couch bequem und blickte auf die völlig erschöpfte, mitgenommene Gestalt hinunter. »Das nennst du Liebe? Was machst du, wenn du einen Mann haßt?« Ihre Flügel waren zerrupft. Ihre tigergestreifte Tunika lag in Fetzen neben ihr. Die erhabene Königin der Thriae sah aus wie ein Straßenmädchen nach einer Rauferei mit einer Nebenbuhlerin. Sie starrte ihn zuerst völlig erschöpft an, dann zeichnete sich schwelende Wut in ihren Zügen ab. »Du warst nicht fair. Du hast dich gewehrt!« »Was hätte ich tun sollen? Ruhig liegenbleiben und mich von dir in kleine Stücke zerbeißen lassen?« »Ich bin Königin, du Grobian. Du hättest in meinen Armen sterben sollen. Das gehört sich so.« »Ich bin zwar nur ein einfacher Zimmermann, aber ich habe auch meine Prinzipien.« Er grinste sie an. Mit allem Stolz, dessen sie noch fähig war, und mit offensichtlichen Schmerzen schwankte sie zur Tür. Eunostos blieb sitzen und blickte ihr mißtrauisch nach. »Und du wirst Kora und Zoe jetzt freilassen?« »Natürlich nicht!« höhnte sie mit schriller Stimme, als sie aus dem Zimmer trat. Vorsichtig flatterte sie mit ihren verletzten Flügeln hinunter auf den Waldboden. Eunostos stampfte mit den Hufen auf. Also gut, dann mußte er die beiden eben befreien. »Partridge! Bion!« donnerte er. »Wie ziehen in den Krieg!«
7.
Wie üblich befanden Partridge und Bion sich in Rufweite ihres großen Freundes. Im Augenblick saßen sie im Moos, mit dem Rücken an Zoes Eiche gelehnt. »Wir sahen die Bienenfrau hinauf schwirren«, erklärte der Paniskus. »Und sie sah aus, als führte sie etwas im Schild. Aber wir wollten uns nicht einmischen, ehe du nicht riefst. Wir dachten, du hättest vielleicht eine Verabredung mit ihr.« »Ihr wißt doch, was ich Kora versprochen habe«, schnaubte Eunostos. »Na ja, du kannst ja schließlich nicht ewig warten«, meinte Partridge tolerant, als er die ziemlich mitgenommene Couch beäugte. »Wir werden uns sofort auf den Weg machen, um Kora zu befreien«, erklärte der Minotaur. »Oh«, murmelte Partridge. Er sah aus, als würde er viel lieber zwischen den Butterblumen grasen. Aber der bedeutend kriegerische Telchin Bion wedelte mit den Fühlern und entblößte ein Paar kleine, doch äußerst scharfe Zähne. In Zoes Baum überlegten sie sich einen Schlachtplan. Eunostos war sich klar, daß er mit seinen beiden Freunden allein keinen Sturm auf Saffrons Bienenstock wagen konnte, ohne uns in Gefahr zu bringen. Der Minotaur zweifelte nicht daran, daß die mörderische Königin ihre Geiseln lieber umbringen, als befreien lassen würde. Er konnte natürlich Chiron und seine Zentauren um Hilfe bitten, aber ein offener Angriff kam nicht in Frage, denn das mochte Kora und mir das Leben kosten. Irgendwie mußte er Saffron mitsamt ihren Arbeiterinnen und den Drohnen ablenken, damit er sich allein in den Stock schleichen und uns befreien konnte. Erst dann durften die Zentauren gegen die Thriae vorgehen, um zu verhindern, daß wir verfolgt würden. »Hallo! Wie geht es meinem Mädchen?« hörten die drei Freunde einen Ruf vom Fuß der Eiche. Es war Moschus.
Eunostos steckte den Kopf durch die Tür. Moschus brummte. »Dann hat sie mich also doch vergessen. Die Welt gehört eben den Jungen.« »Halt! So warte doch!« brüllte Eunostos. »Zieh nicht gleich falsche Schlüsse.« Von Bion und Partridge gefolgt, kletterte er die Leiter hinunter. In aller Eile weihte er den Zentauren ein. »Wir müssen vorsichtig sein«, schloß er. »Wenn du mit einigen deiner Freunde in die Nähe der Lichtung kommen könntest – aber du verstehst, ihr dürft keinen kriegerischen Eindruck erwecken. Tut so, als wollt ihr grasen. Und Partridge, du gehst am besten mit Moschus.« Der Paniskus sollte das Gefühl haben, gebraucht zu werden, ohne daß er selbst in Gefahr geriet, oder die anderen in Gefahr brachte. Partridge strahlte vor Stolz, als Eunostos ihn zum Kurier ernannte. Moschus war dagegen weniger erbaut, daß er eventuell übermittelte Anordnungen von einem halbwüchsigen Ziegenburschen entgegennehmen sollte. Brummend machte er sich mit dem übergewichtigen Paniskus auf den Weg. »Partridge«, hörten Eunostos und Bion noch. »Mußt du denn unbedingt Zwiebellauch kauen?« »Und Bion …« Bions Aufgabe war von allergrößter Wichtigkeit. Eunostos erklärte sie ihm langsam, eindringlich und mit simplen Worten, um sicherzugehen, daß der Telchin auch wirklich begriff. Bion nickte zustimmend mit den Fühlern und eilte zu seinen Freunden und ihrer Werkstatt. In weniger als einer Stunde hatte Eunostos in einem hohlen Baum mit einem Guckloch, am Rand der Lichtung, wo Saffrons Arbeiterinnen den Stock vollendeten, Posten bezogen. Wegen Saffrons Drängen, den Stock sofort fertigzustellen, hatten sie vergessen, eine Wächterin die Luft über der Lichtung patrouillieren zu lassen. Nun brauchte er nur zu warten. Aber das war das Schlimmste, und schon gar für einen ungeduldigen jungen Minotauren, dessen Liebste in den
Händen einer gnadenlosen Bienenkönigin ist. Er begann vor sich hinzuträumen, von Kora, die ihn rief, da fächelten Fühler vor seinem Guckloch. Bion stand auf vier Beinen außerhalb des Baumes, während seine vier weiteren sich am Stamm festklammerten, um seinen Kopf in die Höhe des Gucklochs zu heben. »Alles in Ordnung, Bion?« erkundigte sich Eunostos. »Konntest du einige deiner Freunde überreden, uns zu helfen?« Die Fühler nickten. »Also, dann 'ran an die Arbeit!« Eine warme Welle von Zuneigung für dieses Wesen, das zwar kein höherer Tiermensch war, das er aber als guten Freund betrachtete, überflutete ihn. Mit langsamer Gangart näherte Bion sich den Arbeiterinnen, die die Wände ihres neuen Stockes bestrichen. Sie waren so beschäftigt – das Wachs mußte schnell aufgetragen werden, da es in dünner Schicht sofort trocknete –, daß sie ihn zuerst gar nicht bemerkten. Doch als eine ihren Kübel nachfüllte, sah sie ihn. Sie summte erfreut – die erste Gefühlsregung, die Eunostos bei den Arbeiterinnen überhaupt bemerkt hatte. Seine Annahme war demnach richtig. Die fliegenden fühlten sich zu den erdgebundenen Insekten hingezogen. Bion trat ganz nahe an sie heran und streckte ihr wie eine Katze der Ägypter den Rücken zu, damit sie ihn streichelte. Sein Körper vibrierte vor vorgetäuschtem, aber sehr überzeugendem Wohlbehagen, als ihre rauhen Finger über seine metallische Haut strichen und auf seinem Kopf ruhen blieben. »Mädchen«, rief sie. »Wir haben einen kleinen Freund gefunden.« Ein Stamm rollte auf den Boden. Die Arbeiterinnen, die das Wachs gemischt hatten, sprangen aus dem Bottich, und auch die anderen hielten in ihrer Arbeit inne.
Ein fast scheues Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Und ich glaube, er hat uns sogar ein Geschenk mitgebracht.« Bion griff in den Beutel, den er um seinen Hals hängen hatte, und holte einen Bronzespiegel in Form eines Schwanes heraus. Die Arbeiterin nahm ihn aus einen ihr entgegengestreckten Zangen und betrachtete die Spiegelrückseite, die geflügelte Göttinnen darstellte. Offensichtlich wußte die bedauernswerte Arbeiterin gar nicht, wozu ein Spiegel gut war, und hielt ihn nur für ein schönes, aber nutzloses Stück. Doch als sie ihn umdrehte, starrte ihr ihr eigenes Gesicht entgegen. Obgleich ihr der Anblick ihrer Schwestern seit Jahren vertraut war, hatte sie sich doch zweifellos für nicht so häßlich und geschlechtslos wie diese gehalten. Aufschreiend schlug sie die Hände vor das Gesicht. Eine der anderen hob den fallengelassenen Spiegel auf – und entledigte sich seiner mit dem gleichen Entsetzen. Es dauerte nicht lange, und alle zwanzig Arbeiterinnen hatten sich in diesem schrecklichen Geschenk erkannt und schämten sich ihrer Häßlichkeit. Zuerst hatte es ganz den Anschein, als müßte Bion um sein Leben fliehen. Aber Eunostos hatte diese Reaktion vorhergesehen und dem Telchin geraten, gleich das Zaubermittel mitzubringen. Bion zog ein Döschen mit Karmin aus seinem Beutel, öffnete es, tauchte eine Antenne in die rote Kosmetikcreme und rieb sie in das graue, ledrige Gesicht der Arbeiterin direkt neben ihm. Sie stand wie versteinert und schien zu überlegen, ob sie ihn schlagen, oder ihm eine Chance geben sollte, sein erstes Geschenk mit einem besseren zweiten wiedergutzumachen. Er hielt ihr den so unerwünschten Spiegel vor das Gesicht. Sie schnitt eine Grimasse und wollte ihn ihm schon aus den Zangen stoßen. Aber – was war das? Wer war diese Fremde mit den rosigen Wangen, die ihr entgegenblickte! Sie nahm
den Spiegel in ihre zitternden Hände und starrte. Dann lächelte sie mit dem strahlenden Lächeln einer Frau, deren unscheinbares Gesicht zum erstenmal durch kosmetische Mittel verschönt wurde. »Schwestern!« rief sie. »Seht mich an!« Die Schwestern taten es, und was sie sahen, gefiel ihnen. Eine von ihnen entriß das Döschen Bions nur allzu williger Zange und trug das Karmin so dick auf, daß sie an ein babylonisches Freudenmädchen erinnerte. Das Döschen war leer, und achtzehn Arbeiterinnen blieben unverschönt. Bion deutete mit den Fühlern. Dort, dort hinter den Wacholderbüschen! Die Arbeit war vergessen. Aufgeregt, halb fliegend, halb laufend, folgten sie dem Telchin, und – Wunder über Wunder – fanden nicht nur ein Karmindöschen, sondern gleich zwanzig, und zu jedem auch noch einen Spiegel! Die Drohnen hatten sich bisher am Rand der Lichtung gesonnt und so getan, als interessiere sie das lächerliche Gebaren der törichten Arbeiterinnen und ihres neuen kleinen Freundes nicht. Aber nun wurde ihre Neugier doch größer als ihre Bequemlichkeit. Vielleicht gab es hinter den Wacholderbüschen auch für sie etwas? Sunlord blieb kurz stehen. Er hob den in der Eile liegengelassenen ersten Spiegel auf und bewunderte sich darin. »Was ist denn hier los?« Die Stimme klang schrill und gar nicht melodiös. Saffron war aus dem Stock geflattert. »Was ist in meine Arbeiterinnen gefahren?« Sie flog ihnen nach wie ein Habicht den Hühnern und landete wie ein besonders grausamer Raubvogel unter ihnen. Eunostos schlich aus seinem Stamm. Niemand befand sich nun zwischen ihm und dem Bienenstock. Saffron, die für ihre samtige Haut kein Karmin brauchte, zertrümmerte die Döschen, als wären sie Tonbildnisse einer
verbotenen Gottheit. »Eitles Gesinde!« kreischte sie. »Ich drehe euch den Rücken zu, und ihr bemalt euch wie Dirnen. Wer baut nun den Stock fertig?« Sie schlug mit ihren kleinen, aber erbarmungslosen Fäusten um sich. Sie teilte Fußtritte aus, fluchte und stampfte auf den Karmindöschen herum. Wütend zerschmetterte sie einen Spiegel an einem Baumstamm. Aber die Drohnen verschonte sie ebenfalls nicht. »Ich erwarte von euch ohnehin nicht, daß ihr arbeitet«, keifte sie. »Aber könnt ihr Tunichtgute nichts anderes, als die Arbeiterinnen auch noch zu eurer eigenen Faulheit zu ermutigen?« Einem rammte sie ein Knie in den Leib, einem anderen versetzte sie einen brennenden Schlag auf die Pausbacke. Aber was war das? Sie hörte zu toben auf. Es schien hier mehr als Karmin und Spiegel zu geben. Wie hatte sie es nur bis jetzt übersehen können? Da war eine ganze Truhe bis obenhin mit Halsketten und Armreifen, Ringen und Edelsteinen gefüllt. (In Wirklichkeit hatte sie es auch gar nicht übersehen. Bion und seine Freunde hatten die Truhe herbeigeschleppt, während Saffron mit ihren Untertanen wütete.) Mißtrauisch steckte sie eine Hand nach den unerwarteten Schätzen aus. Sie hob eine Halskette mit fünf Reihen aus Jade und Rosenquarz heraus und legte sie sich um. Doch da erwachte der Argwohn ihrer Rasse und Position erneut. Etwas für nichts? Unmöglich! Was erwartete dieser Achtfüßler von ihr? Wachs? Honig? Vielleicht gar sie selbst in einer barbarischen rassenschändenden Vereinigung? Auch das hatte Eunostos vorhergesehen und den Telchin auf eben eine solche Frage vorbereitet. Bion deutete auf ihr Fußkettchen, ein wertloses Stück, das angeblich Silber sein sollte. Also das war es! Er war zu Tauschgeschäften
hierhergekommen. Sie tat, als überlegte sie. Dann täuschte sie eine sehr unwillige Trennung vor, ehe sie das Kettchen von den Fesseln löste. Sie strich fast zärtlich darüber, hielt es Bion entgegen, zog es jedoch im letzten Augenblick wieder zurück. Doch endlich gab sie es ihm mit einer Miene, als würde sie daraufzahlen, und als ob sie es ihm nur aus nachbarlicher Freundschaft überließ, und nahm dafür eine Halskette an, die auf dem Thebener Sklavenmarkt gut und gern ein Dutzend kräftige gesunde Nubier oder auch zwanzig nubische Jungfrauen einbringen würde. Dann griff sie in die Truhe nach einer Tiara mit Amethysten und Chrysoprasen. Eunostos verschwand im Innern des Stocks. Das Dach und die Wände waren durchscheinend. Im gefilterten Licht der Nachmittagssonne konnte er sogar in den Zimmern sehen, wo keine Kerzen brannten. Das Problem war nur, wo, in diesem schier endlosen Labyrinth wurden Kora und ich gefangengehalten? Endlich roch er den schwachen, aber unverkennbaren Duft von Laub und Baumrinde, von dem alle unsere Gewänder durchdrungen sind, ja sogar unsere Haut. Und da Eunostos' Mutter eine Dryade gewesen war, war dieser Geruch ihm von klein auf vertraut. Er wagte nicht, nach uns zu rufen, sondern folgte nur dem ein wenig stärker werdenden Geruch, bis er vor einer Tür stand, hinter der nur wir sein konnten. »Kora!« flüsterte er, zu laut fast. »Zoe!« »Wir sind hier, Eunostos. Heb den Riegel auf. Es sind keine Wächterinnen bei uns.« »Aber hier!« Das war nicht die Stimme des Minotauren, sondern das wütende Summen einer Arbeiterin. Wir hörten die Geräusche eines heftigen Handgemenges und dann das Schleifen eines schweren Körpers über den glatten Boden. Es hatte gewiß zumindest sechs Wächterinnen bedurft – alle, die im Stock gewesen waren, Eunostos zu
überwältigen. »Zoe! Kora! Sie haben mich in ein Netz gewickelt!« Die Eicheln hatten mir meine Kraft zurückgegeben. Als Eunostos rief, wurde ich zur Bärin, deren Junges vom Jäger davongeschleppt wird. Ich warf mich gegen die Tür, und sie erzitterte. »Kora, hilf mir!« schrie ich. Doch sie war bereits an meiner Seite, und mit ihrer zusätzlichen Kraft – ich werde sie nie mehr für zerbrechlich halten – sprengten wir den Riegel. Es standen keine Wächterinnen mehr vor der Tür, die uns hätten aufhalten können. Wir rannten auf das Stimmengewirr zu und stürmten aus dem Stock. Ein alarmierender Anblick erwartete uns. Saffron, mit der vielreihigen Halskette herausgeputzt und der Amethyst- und Chrysopras-Tiara, kehrte gerade zum Stock zurück. Die Arbeiterinnen folgten ihr gehorsam, aber mit düsteren und enttäuschten Mienen. Saffron sah ihre Wächterinnen und Eunostos, aber noch nicht Kora oder mich. »In den Bottich mit ihm!« befahl sie den Wächterinnen. Aber er war schwer und wehrte sich trotz des beengten Netzes immer noch. Ihre Flügel waren zerfetzt und seine Hufe hinterließen schmerzhafte Blutergüsse auf ihren nackten Leibern, ehe sie ihn auch nur ein wenig in die Höhe heben konnten. Wenn ihr vielleicht keine übermäßige Behendigkeit von einer Frau mit meinen üppigen Formen erwartet, habt ihr euch in mir getäuscht. Schließlich klettere ich seit dreihundertsechzig Jahren Bäume mit oder ohne Leiter hoch, und Fülle darf nicht mit Korpulenz verwechselt werden. Blitzschnell hatte ich Saffron aus der Luft gezogen und in ihren eigenen Bottich geworfen. Ehe sie sich befreien konnte, hüpfte ich zum Rand empor, schnappte mir die Schöpfkelle und schlug sie ihr auf das niedliche, tiarageschmückte Haupt.
Dann drückte ich ihr Gesicht unter die Flüssigkeit. »Gebt Eunostos frei, oder ich ertränke eure Königin!« rief ich befehlend den sechs Wächterinnen zu. Sie starrten mich ungläubig an. Saffron tauchte kurz auf, weil ich momentan nicht auf sie geachtet hatte, verschwand jedoch sofort wieder, als ich erneut mit der Kelle nachhalf. Sie ließen Eunostos los, und er fiel den halben Meter oder so, den es ihnen endlich gelungen war, ihn zu heben. Die immer noch rosig bemalten Arbeiterinnen flatterten im Kreis um den Bottich. Sie blickten gar nicht mehr so düster drein, sondern im Gegenteil geradezu hoffnungsvoll. Schließlich konnte Saffron ihnen die Spiegel nicht wegnehmen, solange sie im Bottich von mir gefangen war. Eunostos hatte sich inzwischen aus dem Netz befreit. Er wollte zu mir hochklettern. »Zoe, spring herunter. Ich übernehme hier.« »Bring lieber Kora in Sicherheit!« rief ich. »Sie werden mir nichts tun, solange ich ihre Königin in meiner Gewalt habe. Aber ich kann nicht ewig hier oben sitzenbleiben.« »Das mußt du auch nicht«, rief er schon im Laufen über die Schulter zurück. »Moschus! Partridge! Gebt den Zentauren Bescheid!« Die Pferdemänner kamen mit fliegenden Mähnen und klappernden Hufen in militärischer Disziplin herbeigaloppiert. Es war ein beeindruckender Anblick. Und Chiron führte sie höchstpersönlich an. Chiron, der älteste Tiermensch des Landes, der mit seinen fünfhundert Jahren voll Kämpfen und Heldentum, Reisen und Weisheit immer noch der beste Führer und größte Krieger war. Mit Saffron zum Befehle erteilen, hätten die Arbeiterinnen sich vielleicht gewehrt, hätten ihre Bambusspeere aus der Luft auf die Zentauren abgeschleudert oder nach ihren Augen gestochen. Aber ihre Königin lag noch im Wachs, jetzt sogar
bewußtlos. Ich fischte sie mit der Kelle heraus und ließ sie auf den Boden plumpsen. Die führerinnenlosen Arbeiterinnen machten keine Anstalten zu kämpfen (vielleicht jubelten sie innerlich sogar). Ich sprang vom Bottichrand herunter und sah, daß Eunostos, mit Kora neben ihm, mit Chiron konferierte. Der Zentaur löste sich schließlich von seiner Streitmacht und begann eine Ansprache zu halten. Er war Frauen gegenüber immer nachsichtig gewesen, und erklärte jetzt auf die etwas langatmige Art seiner Rasse und mit den üblichen Ausschmückungen und dramatischen Pausen, daß weder Arbeiterinnen noch Drohnen bestraft werden würden, da sie nur die Anordnungen ihrer Königin befolgt hatten, aber daß sie spätestens bis morgen den Wald verlassen haben müßten. »Doch eure Königin bleibt hier und wird vor ein Gericht der Tiermenschen gestellt«, schloß er. »Sie ist eine böse Frau, die fast den Tod dreier Tiermenschen herbeigeführt hätte. Moschus, bring sie hierher.« Moschus brummte etwas Unverständliches, dann deutete er. Saffron lag im Gras, von einer Schicht Wachs eingehüllt, das hart geworden war und sie wie ein Leichentuch bedeckte. Sie war ohne Zweifel tot. Vielleicht haltet ihr mich jetzt für eine herzlose Frau, aber ihr dürft nicht vergessen, daß sie Kora und mich bedroht und Eunostos im Wachs hatte ertränken wollen. Ich kann kein Mitleid für die Mitleidlosen empfinden, und schon gar nicht, wenn sie sich ihr Ende selbst zuzuschreiben haben. »Ich kenne die richtige letzte Ruhestätte für sie«, murmelte ich. Ich hob die nun etwas gewichtigere Gestalt auf meine Schulter und trug sie hinein in den Stock. In einem verlassenen Bienenstock, in dem hexagonalen mittleren Saal, steht ein Sockel, der nicht länger ohne Statue ist. Bärenmädchen und junge Zentauren gehen oft aus Neugier dorthin.
Saffrons goldfarbige Haut leuchtet durch die Wachsschicht, und man könnte sie für eine aus Bernstein geschnitzte Skulptur halten. Sie ist jetzt viel schöner als im Leben, trotz des zerzausten Haares und den wildblickenden, weitgeöffneten Augen. Sie nennen sie die goldene Gorgo. Als ich aus dem Stock zurückkam, kniete Eunostos vor Kora im Gras. Es war ein wunderschönes Bild, dieser makellos gewachsene Minotaur, mit der üppigen Mähne und den festen Hörnern, der so kraftvoll aussah und gleichzeitig voll Liebe und Zärtlichkeit; und Kora, eine weiße Lotosblume, die sich zu ihm herabbeugte und ihm über den Kopf strich. »Und du wirst mich wirklich heiraten und mit mir in meinem Baumstumpf leben?« »Ja, Eunostos. Du hast mir das Leben gerettet.« Ich blickte in ihre Augen. Aber ich sah nicht den Minotauren darin. Ich sah ihren Traum. Ich sah den Tod.
ZWEITER TEIL AEACUS
8. Eunostos ausgebrannte Eiche hallte von den Vorbereitungen für die Hochzeit wider. Er hatte Blumen pflücken und sie zu einer Girlande über der Tür seines Bambushauses knüpfen wollen, aber Kora mochte nicht, daß Blumen abgezupft oder abgeschnitten wurden. Deshalb wucherten die Rosen und Akeleien ungestutzt in seinem Garten, und die gelben Butterblumen auf seiner Lieblingswiese dienten nur den Panisken zum Fraß. Aber zumindest hatten die Artemisbärinnen, die nichts von Koras Abneigung wußten, die Fenster mit Kränzen aus leuchtenden Sonnenhüten geschmückt, und über der Tür ein Herz aus Beeren geformt. Mit meiner und der Hilfe einiger Zentauren hatte Eunostos höchstpersönlich die Speisen zubereitet. Die Tische bogen sich bereits unter den in schwimmendem Schmalz gebackenen Haselmäusen und gebratenen Spechten, den Honigtorten und Weißbrotlaiben, die mit gemahlenen Sonnenblumenkernen bestreut waren. Partridge hatte ein Getränk aus Zwiebellauch gebraut, für das Eunostos sich herzlich bedankte, weil er wußte, wie es gemeint war, das er jedoch vorsichtshalber sofort von den Ledersäcken mit Bier und Wein trennte. Es duftete nicht nur nach den Köstlichkeiten auf den Tafeln, sondern auch nach den Geruchstoffen aus der unterirdischen Werkstatt der Telchinen: nach Myrrhe und Sandelholz, nach Lavendel, Majoran und Thymian. Eunostos wartete. Es würde noch eine Weile dauern, bis seine Freunde kamen, um mit ihm, dem Bräutigam, die Braut von ihrem Baum abzuholen. Chiron würde die beiden trauen, und dann sollte das große Fest seinen Lauf nehmen. Eunostos wartete, und da die meisten Bräutigame so nervös wie eine Dryade beim Anblick einer Axt sind, wartete ich mit
ihm. »Eunostos«, sagte ich, als sein Schwanz allzu aufgeregt zuckte, »du hast doch wirklich keinen Mangel an Erfahrung. Eine Bienenkönigin und all die Dryaden – wovor hast du Angst?« »Kora ist so – ätherisch.« Es reichte mir allmählich, zu hören, wie ätherisch Kora war. »Behandle sie wie jede andere gesunde Frau. Genau das ist es nämlich, was sie braucht.« »Eunostos, Zoe, habt ihr schon gehört?« Partridge schnaufte noch mehr als sonst. »Ein Mensch, ein Mann, ein Kreter! Hier, in unserem Land! Ist zwischen den Klippen hereingekommen! Und verwundet ist er noch dazu!« »Er hat die Abmachung gebrochen«, brummte ich. »Chiron wird ganz schön wütend sein.« »Er ist sicher in Schock und weiß gar nicht, was er tut«, warf Eunostos ein, der sich nur allzu gut seines eigenen Zustands nach der Auseinandersetzung mit den Panisken erinnerte. »Zoe, bist du so lieb und bleibst hier, um meine Gäste zu empfangen? Ich muß ihm helfen.« »An deinem Hochzeitstag?« »Was wäre geschehen, wenn du mir nicht geholfen hättest, nachdem die Ziegenburschen mich zusammengeschlagen hatten?« »Na gut«, brummelte ich. Ich bin nicht ganz so herzlos, wie ich vielleicht klingen mag. Aber ich entsann mich Koras Traum … * Aeacus, der Bruder Minos', des Königs von Kreta, seufzte tief und hielt seine Hand in einen Teich mit Goldfischen. Ägypter leben in der Vergangenheit, sie blicken auf ihre Pyramiden
und sehnen sich nach ihrer verlorenen Größe. Achäer leben in der Zukunft. Sie betrachten ihre bronzenen Streitwagen und warten auf die morgige Schlacht. Aber Kreter leben in der Gegenwart, zufrieden mit dem Augenblick, ohne Verlangen nach der Wiederkehr der Vergangenheit, ohne Sehnsucht nach dem Morgen. Sie sind ein glückliches Volk. Bis ganz vor kurzem war Aeacus der glücklichste, sowohl als auch der bestaussehende aller Prinzen gewesen, mit all den Vergünstigungen, doch ohne die Pflichten und Lasten des Herrschers. Aber nun seufzte er. Die Hofdame Metope blickte ihn erstaunt an. Sie prunkte in einem weiten glockenförmigen Rock und bloßen Brüsten. »Aeacus«, sagte sie. »Heute tanzen die Damen des Hofes den Tanz der Kraniche am Fluß. Und danach wählen sie ihre Liebhaber aus den Reihen der Männer, die gekommen sind, den Tanz zu sehen. Wirst du dabei sein?« »Nein.« »Nein?« echote sie ungläubig. »Findest du mich nicht mehr ergötzlich?« »Im Augenblick kann nichts mich ergötzen.« »Grausamer Aeacus! Du redest wie ein Hethiter und nicht wie ein Kreter. Habe ich mir denn Falten zugezogen, seit ich das letztemal in den Spiegel blickte?« »Es liegt nicht an dir, meine teure Metope«, versicherte ihr der junge Prinz galant. »Es ist mir in letzter Zeit, als wandere meine Seele von mir. Ich möchte – anderswo sein.« Er überlegte. »Aber vielleicht tut eine kleine Ablenkung mir gut. Also schön, ich werde zu eurem Tanz kommen.« Er lachte, als er ihr erfreutes Gesicht sah. »Das Lachen steht dir gut«, sagte sie mit der Offenheit einer Rasse, deren Frauen auf gleichem Fuß mit den Männern stehen. »Es zeigt deine Zähne, die weiß wie die Muscheln am Strand sind. Immer, wenn ich dich ansehe, denke ich an reiche
Felder mit Granatäpfeln. Wir sind klein, wir Kreter, aber in dir liegt eine Größe, wie sie selten ist. Sie kommt nicht allein von deiner bronzenen Brust und deinem herzerwärmenden Lachen; nicht allein von deinen offenen Händen, mit denen du die Kinder beschenkst. Sie steckt zutiefst in dir. Weißt du, daß man dich mehr noch liebt als deinen Bruder?« »Das ist nicht recht«, protestierte er. »Mein Bruder ist König.« Er empfand es geradezu als Beleidigung der Würde seines Bruders. Und doch mußte er insgeheim zugeben, daß es ein schönes Gefühl war, geliebt zu werden. Er, der das Purpur der Stachelschnecke liebte, das Blaugrau der Delphine, das fröhliche Lachen der Landleute, wenn sie die Ernte eingebracht hatten; er, der nur Ärger über Häßlichkeit empfinden konnte, oder wenn die Achäer die kretische Küste überfielen – er liebte es, geliebt zu werden. Er sonnte sich in der Liebe wie eine Katze in den wärmenden Strahlen des Himmellichts. »Dein Bruder ist König, doch ist etwas fast Ägyptisches an ihm. Er denkt zuviel.« »Und ich?« »Du fühlst. Das macht den Kreter.« Er hob eines der Löckchen von ihrer Stirn und küßte sie sanft auf die weiße Haut, die das Haar und Schönheitsmittel und bunte Schirme vor der heißen kretischen Sonne schützten. »Ich komme zum Tanz der Kraniche«, wiederholte er, dann rannte er davon, und es war fast wie eine Flucht. Er rannte und rannte, bis er sich plötzlich in einem Tamariskenhain fand, ohne zu wissen, wie er dorthingekommen war. Er unterdrückte ein Schluchzen und lehnte sich an einen Baum – und lauschte. Der Baum sprach zu ihm. Nicht in Worten, nein, direkt zu seinem Herzen. Er hieß ihn willkommen. Aber es war ja bekannt, daß die Große Mutter Bäume liebte und Büsche und
Blumen, genau wie die Tiere, und daß sie selbst der niedersten Pflanze einen eigenen Geist verlieh, der unsichtbar sein mochte oder aber auch so greifbar wie beispielsweise Metope. Natürlich wußte Aeacus, daß diese greifbaren Baumgeister Dryaden hießen, aber genauso war es ihm auch klar, daß sie im Land der Tiere lebten, in jenen verbotenen Wäldern der Minotauren und Zentauren und anderer schrecklicher Wesen, die manchmal von den Bauern erspäht wurden, wenn sie sich bis an den Rand des Waldes wagten. Dryaden leben in Eichen, und doch schien diese Tamariske zu wispern, in einer fremden Zunge zwar, die man ahnen und doch nicht ganz erraten konnte, und irgendwie fühlte er sich von ihr getröstet. »Tamariske«, flüsterte er. »Willst du mir etwas sagen?« Sie antwortete ihm nicht, aber vor seinem inneren Auge sah er einen anderen Baum, eine hohe Eiche, die ihre Äste wie umhüllende Schwingen ausstreckte. Da hörte er eine vertraute, besorgte Stimme und hob die Lider. Minos stand vor ihm, der König persönlich. »Mein Bruder. Ich folgte dir hierher, als ich sah, daß du wie eine waidwunde Gazelle aus dem Palast liefst.« Der König war etwa dreißig, mit einem jugendlichen, faltenlosen Gesicht, aber sein Haar war so weiß wie der Schnee auf dem Berge Ida. Von Gestalt war er so klein wie alle seiner Rasse, aber er wirkte majestätisch, vom Federbusch seines Kopfschmucks bis zu den Füßen in den knöchelhohen Stiefeln aus ägyptischem Antilopenleder. Er war mit dem Frohsinn seines Volkes geboren und hatte versucht, dessen Lebensphilosophie und fröhliches Lachen beizubehalten. Aber selbst der Herrscher eines glücklichen Volkes hat Sorgen, denn über ein Reich zu regieren, dessen Schiffe hin zu den fernen Nebelinseln fuhren, von denen sie Zinn und Farbstoffe zurückbrachten, birgt auch Probleme in sich.
»Mein kleiner Bruder, so sag mir, was bedrückt dich?« fragte er mit der Zärtlichkeit des Älteren, der in seinem jüngeren Bruder immer den Kleinen sehen würde, den es zu beschützen galt, obwohl die beiden von gleicher Größe und Statur waren. Ein wenig Erstaunen und sanfter Tadel klangen ebenfalls aus seiner Stimme. »Du kommst zu diesem Wäldchen – allein. Du sprichst zu den Bäumen, wenn du dich doch an deinen Bruder und König wenden könntest. Hast du Liebeskummer? Noch nie zuvor hat ein Mädchen den bestaussehenden der Männer abgewiesen.« »Nein, mein Bruder. Es ist nichts dergleichen. Ich weiß selbst nicht, was es ist. Irgend etwas in mir ist aufgewühlt und drängt. Doch wonach? Ich könnte es nicht sagen. Ich weiß nur, daß ich mich wie ein dummer Junge benehme, der seine Tafeln zerbrochen und seine Aufgaben vergessen hat. Wenn ich es nur verstehen würde …« Der König schien nachzudenken. »Unsere Vorfahren waren ein ruheloses Volk«, sagte er schließlich, »ehe sie sich in Kreta niederließen. Vielleicht versucht einer durch dich zu sprechen. Und möglicherweise habe ich sogar die Lösung. Vergangene Nacht überfiel ein Schiff der Achäer die Küste. Drei Bauernhäuser brannten sie nieder. Unser Patrouillenschiff rammte ihren Kahn und versenkte ihn. Aber ein Trupp der Achäer ist noch an Land und treibt sein Unwesen.« »Ich werde die Räuber finden. Ich nehme mir ein paar Mann der Palastwache und …« »Nur, wenn du es wirklich willst. Es ist nicht nötig, daß ein Prinz sich in der Verfolgung von Piraten in Gefahr bringt. Ich habe bereits eine Abteilung aufgestellt. Der Offizier der Palastwache wird sie anführen.« »Ich werde sie anführen.« Der König lächelte. »Gut, dann soll es so sein. Dein Geschick mit den Bullen ist Legende. Dein Dolch ist flink wie eine
Libelle. Aber sei vorsichtig, obgleich die Gewandtheit der Kreter und ihre Dolche den Muskeln und Schwertern der Achäer mehr als ebenbürtig sind, kannst du es dir doch nicht leisten, unachtsam zu sein. Laß also deine Seufzer und melancholischen Träume im Palast zurück.« »Ich war in letzter Zeit wohl nicht sehr unterhaltsam?« »Ein trauriger Kreter ist nicht gerade ein Gewinn für einen fröhlichen Hof. Wenn du deine gegenwärtige Gemütsverfassung beibehältst, werden bald die Tränen der Damen fließen und das Rouge ihrer Wangen sich mit der Tusche ihrer Wimpern färben. Geh in die Berge, mein Bruder, und finde dein verlorenes Lachen wieder.« Die beiden umarmten sich mit mehr als der rituellen Förmlichkeit. Aeacus liebte Minos mehr als alle anderen Männer. Andere Rassen, wie die ernsten Ägypter und die prahlerischen Babylonier, hielten die Kreter für oberflächlich, flatterhaft und der echten, tiefen Liebe für unfähig, weil ihre Bestattungen Festen ähnelten und sie selten eine Träne vergossen. Die Kreter betrachteten den Tod jedoch nicht als Auslöschung, sondern als ein Weiterleben in einem anderen Land, wo alle Verstorbenen und alles, was man liebte, wiedererweckt wurden und in ewiger Jugend und immerwährendem Glück unter dem strahlenden Lächeln der Großen Mutter und ihrem Greifenrichter weiterlebten. O doch, die Kreter waren durchaus fähig zu lieben, denn ihr Herz war groß und voll Liebe für alle Kreaturen. Aeacus liebte zumindest dreißig Freunde, unzählige Frauen und sogar noch mehr Kinder, seinen Bruder, sich selbst, und am meisten die eine Frau, die er noch nicht gefunden hatte … * Die Verfolgung führte die Kreter zu den Bergen, die sich wie
ein erhabenes Rückgrat durch die Insel zogen. Brennende Bauernhäuser – geschlachtete Schafe – ein Hahn, der unablässig vom Wipfel eines Ölbaums krähte, das waren die Spuren, die die Achäer zurückgelassen hatten. Diese Überfälle waren immer häufiger geworden, seit die Schiffe der Kreter so viele Kolonien zu besuchen hatten und ihnen so wenig Zeit blieb, ihre eigene Küste zu schützen. Doch als eine wirkliche Bedrohung sahen die Kreter die Achäer durchaus noch nicht. Ein kleines Kind kam quer über ein Feld auf sie zugerannt. Hinter ihm stieg Rauch aus einer Weidenhütte auf. Hühner und Schweine suchten Zuflucht in einem verwüsteten Weinberg. Dem Kind – es war ein etwa fünfjähriger Junge – strömten die Tränen über die rußgeschwärzten Wangen. Aeacus hob ihn auf den Arm und drückte ihn an sich. Er spürte das kleine Herz heftig schlagen und wartete geduldig, bis der Junge sich genug beruhigt hatte, um reden zu können. »Mama und Papa …«, schluchzte er. »… tot …« Aeacus strich ihm über das Haar. »Weine nicht.« Wie ungewohnt, die Tränen. Niemand auf dem Hof weinte. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. »Meine Männer werden sie ehrenvoll bestatten. Deine Eltern warten nun in der Unterwelt auf dich. Der Greifenrichter wird ihnen gnädig sein, über sie wachen und sie beschützen.« »Wirklich?« Der Junge blickte überrascht zu ihm auf. Er war häßlich, fast wie ein Affe, mit seinen braunen dünnen Armen. Auf dem Hof von Knossos hätte solche Häßlichkeit Aeacus abgestoßen. Doch nicht jetzt, nicht hier. »Ich dachte, er beschützt nur so große Herren wie euch.« »Nein, jeden«, versicherte er dem Jungen. Er sprach mit Überzeugung, obwohl er sich bisher nie darüber Gedanken gemacht hatte, ob auch Landleute in der Unterwelt weiterlebten. War dort überhaupt genügend Platz für sie? Dienten sie dort weiter ihren irdischen Herren?
»Einer meiner Männer bleibt bei dir, bis wir zurückkommen. Dann suchen wir ein neues Zuhause für dich, näher an der Stadt, wo du in Sicherheit sein wirst.« * Eine Stunde später, in der Mitte einer zerklüfteten Felsenlandschaft, stießen sie auf die Achäer. Das heißt, die Piraten stürmten aus ihren Verstecken auf sie ein, ehe die kleinen Kreter auch nur ihre Dolche ziehen konnten. Aber als sie endlich dazu kamen, war es ein ausgewogener Kampf. Wie von Hunden angefallene Katzen wehrten sie sich gegen die kräftigen und hochgewachsenen, blonden Eindringlinge, wichen behende ihren Schwertern aus und stießen mit ihren eigenen Dolchen zu, bis schließlich nur ein einziger Achäer vom Schlachtfeld hinkte, und Aeacus allein zwischen seinen gefallenen Männern stand, zu erschöpft, den Feind zu verfolgen, und kaum noch stark genug, sich aufrecht zu halten. Er war vielfach verwundet, nicht unbedingt tödlich, und im Schock. Er starrte auf seine toten Freunde herab, dann blickte er sich wie betäubt um. Er sah, daß er sich in der Nähe zweier großer Klippen befand, mit einem Wald wie ein Keil dazwischen. Er roch den heilenden Duft von Eichenblättern und Rinde, und hörte das leise Rauschen eines Baches. Vielleicht konnte er darin seine Wunden kühlen und dann zurückkehren, um seine Freunde zu begraben. Würde er es so weit schaffen? Vage erkannte er den Wald. Es war das Land der Tiere, wohin kein Kreter sich wagte – zum Teil aus Angst, zum Teil aber auch aufgrund der Legende, die besagte, daß vor langer Zeit, ehe es noch Geschichtsschreiber gegeben hatte, eine Abmachung mit den Tieren getroffen worden war, daß dieser Wald für immer und ewig nur ihnen gehörte und von
Menschen nicht betreten werden durfte. Und doch lockten ihn die Bäume, flüsterten ihm zu: »Das Verbot gilt nicht für dich. Tritt ein. Sieh dich um bei uns.« Die Sonne über den Bäumen schien ihm wie eine klaffende Wunde, und die Äste wie sanfte Hände, die Heilung brachten. Er taumelte in den Wald. Mit geschlossenen Lidern lag er auf dem Moos, in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Er hörte das Rascheln von Sträuchern. Schmerzvoll öffnete er die Augen und sah einen jungen Burschen – nein, einen jungen kräftigen Bullen mit seidigem, rotem Haar, aus dem zwei Hörner herausragten. Er versuchte die Hand zu heben. Der Junge trat offensichtlich erschrocken zurück. »Ich kann nicht aufstehen«, murmelte Aeacus. Er lag in seinem eigenen Blut und fragte sich mehr aus Neugier denn aus Angst, ob er wohl sterben würde. Der Junge musterte ihn, dann kam er näher und fragte mit tiefer, wohlklingender Stimme auf Kretisch: »Soll ich dir hochhelfen?« Aeacus überlegte. »Ich weiß nicht. Meine Verletzungen würden vielleicht wieder zu bluten anfangen. Vielleicht könntest du zuerst meine Wunden verbinden?« »Das werde ich tun.« Sie war so lautlos dazugekommen, daß Aeacus und anscheinend auch der Minotaur (denn offenbar war der Junge von dieser Rasse) sie nicht gehört hatten. Sie war größer als die Damen auf dem Hof und trug statt deren glockenförmigen Rock und dem busenfreien Mieder ein loses, wallendes Gewand von der Farbe frischer Blätter, und darüber eine Halskette aus orangefarbigen Beeren. Ihr Haar von grünschimmerndem Gold war hochgesteckt und von einer silbernen Spange in der Form einer Heuschrecke zusammengehalten. Ihre niedlichen Ohren liefen spitz zu. Der
Junge blickte sie überrascht und ein wenig zweifelnd an. »Wir können ihn in mein Haus bringen«, sagte er. »Meines ist näher, Eunostos. Aber zuerst muß ich seine Wunden säubern.« Sie kniete sich neben Aeacus und betupfte eine tiefe Schnittwunde mit feuchtem Moos. Er spürte eine sofortige Linderung, konnte jedoch nicht sagen, ob sie von dem Moos oder den sanften Händen kam. »Und was soll ich tun?« rief der Minotaur, offenbar betrübt, daß nicht er dem verletzten Fremden hatte helfen können. Aeacus mochte ihn. »Nachdem er sich ein wenig erholt hat, tragen wir ihn zu meinem Haus. Wir werden eine Bahre aus dürren Zweigen und Schlingpflanzen machen. Darauf legen wir ihn.« »Wie heißt du denn?« fragte Aeacus sie. »Ich bin Kora, die Dryade.« »Und wo ist dein Haus?« »In einem Baum natürlich. Wo sonst?« Sie lachte. Aeacus schloß die Augen. Er wußte, daß er in guten Händen war und schämte sich seiner Hilflosigkeit nicht, denn für hilfsbereite Menschen gibt es nichts willkommeneres als jemanden, der ihre Hilfe braucht.
9. In Eunostos' Abwesenheit empfing ich seine Gäste und tat mein Bestes, daß sie sich wohl fühlten. Da war Partridge, der sich sofort den Lederbeutel mit dem Zwiebellauchgebräu suchte und sich möglichst von den anderen Gästen fernhielt. Da war Bion, der sich schüchtern an die Tür drückte, als fürchte er, jemand würde sein Recht anzweifeln, als geladener Gast hier sein zu dürfen. Es gab immerhin noch einige Tiermenschen, die ihn als zur dienenden Kaste gehörend
einstuften. Ich führte ihn schnell zu der größten Tafel, und bald darauf sah ich auch schon, wie er glücklich an einem riesigen Brotlaib kaute, den er mit seinen Vorderzangen festhielt. Und Moschus – natürlich würde ich meine liebe Not mit ihm haben. Er erschien immer bereits angeheitert und begann seine amorösen Annäherungsversuche jeweils gleich bei der Begrüßung. Heute war er noch beschwipster als üblich, und in Begleitung einer ungeladenen Dryade, einem schlampigen Ding von etwa fünfzig Jahren. »Es gibt mehr als einen Vogel auf dem Zweig«, sagte er vieldeutig zu mir. Dann warf er sich einen Biersack über die Schulter und verzog sich mit dem Weibsbild in den Garten. »Ja, und zwar Kuckucke«, rief ich ihm nach. Da waren auch Zentaurenjungen, die unbedingt Eunostos' Werkstatt sehen wollten, obgleich sie seine Leiter nicht hinunterklettern konnten. Nun, sie mußten sich damit begnügen, durch die Falltür hinunterzuspähen. Da waren auch die Artemisbärinnen, die nur mit Komplimenten, wie hübsch sie ihre Sonnenhutketten geflochten hatten, aus den Ecken zu locken waren … Aber weshalb soll ich euch mit der Aufzählung der Gäste langeweilen? Eunostos hatte unzählige Freunde, und er hatte nur die Panisken (Partridge ausgenommen) und Thriae von seiner Einladung ausgeschlossen. Aber so sehr ich auch beschäftigt war, wanderten meine Gedanken doch immer zu Eunostos ab. Der Kreter hätte sich wirklich einen besseren Tag aussuchen können, in den Wald einzudringen, selbst wenn er verwundet war und sich im Schock befand. Chiron sollte ihn auf jeden Fall ausweisen, sobald er sich erholt hatte. Bei Einbruch der Dämmerung trat Eunostos durch die Tür, als hätte er sein eigenes Hochzeitsfest vergessen. Er sah ein wenig verwirrt, bekümmert und einsam aus.
Aber natürlich stürzten alle gleich auf ihn los, ließen ihn als glücklichen Bräutigam hochleben und wollten schon im nächsten Atemzug alles über den Kreter wissen. Einige hatten ihn aus der Ferne erspäht, aber keiner hatte gewagt, sich ihm zu nähern. Da er ein Mensch war, wurde er als gefährlich erachtet. »Hattest du keine Angst vor ihm, Eunostos?« »Ist es wirklich wahr, daß er weder Hörner, noch Hufe, noch Fell, noch sonst etwas hat?« »Hat er nicht versucht, dich zu überlisten, um dir dann einen Dolch in die Rippen zu stoßen?« »Er war schwer verwundet«, erklärte Eunostos. »Kora hat ihn mit nach Hause genommen, um ihn gesundzupflegen.« Die Gäste schwiegen, warteten auf Einzelheiten, doch vergebens. »Aber die Hochzeit?« rief ich schließlich. »Es ist höchste Zeit, daß wir die Braut aus ihrem Baum holen.« »Sie sagte, wir sollen ohne sie feiern. Wir sollen so tun, als wäre es irgendein anderes Fest, zu Ehren der Großen Mutter, oder so. Die Hochzeit muß um ein paar Tage verschoben werden. Sonst stirbt der Kreter vielleicht.« Alle redeten durcheinander. Keine Braut? Keine Hochzeit? Kora pflegte einen Menschen? »Nehmt es doch nicht so tragisch!« wieherte Moschus aus dem Garten. »Wenn Kora bereit ist, machen wir ein neues Fest in meinem Haus.« (Es ist nicht bekannt, daß Moschus je eine Party gegeben – oder versäumt! – hätte.). Bei der ersten Gelegenheit führte ich Eunostos in den Blumengarten hinaus. (Moschus und seine Freundin lagen zwischen den Gemüsen.) Seine so jungen Augen wirkten alt und resigniert. »Wie ist er denn, dieser Kreter?« fragte ich ihn. »Ein kleiner Bursche, aber sehr männlich. Er war mit vielen Wunden bedeckt, aber kein Schmerzenslaut drang über seine
Lippen. Er gefiel mir.« »Wie sieht er aus, Eunostos?« »Wie ein Prinz, würde ich sagen. Sein Lendentuch war purpurfarbig, mit einer silbernen Spange am Gürtel. Und sein Gesicht – nun, es wirkte irgendwie königlich.« »Eunostos, kannst du dich jetzt selbst um deine Gäste kümmern? Ich habe genug getrunken und geredet für ein ganzes Jahr. Meine Beine bringen mich um.« Ich verließ ihn, als er gerade Bion über den Kopf strich. Aber ich kehrte nicht zu meinem Baum zurück, sondern ging zu Koras Eiche. Myrrha zupfte am Brautkleid, in dem sie schon ihren Zentauren geheiratet und das sie aus der Zederntruhe geholt und für Kora aufgefrischt hatte. Sie fing sofort auf mich einzureden an. »Ich sagte ihr, sie soll sich umziehen und heiraten, ich würde mich schon des jungen Mannes annehmen. Aber ob du es glaubst oder nicht, sie tut, als sei sie die einzige Dryade im Land der Tiere, die Wunden zu behandeln versteht. Und sie schickte mich sogar aus ihrem Zimmer! Sie sagte, er müsse schlafen. Mein ständiges Geplappere würde ihn stören! Und das muß ich mir von meiner eigenen Tochter sagen lassen!« »Nun, dann werde ich ihn jetzt wohl mit meinem Geplappere stören müssen«, brummte ich und stürmte trotz Myrrhas Protest die Treppe hinauf. Er lag auf Koras Couch, mit einem leichten Lächeln um die Lippen, die Augen geschlossen, und er schien friedlich zu schlafen. Nach der Vielzahl seiner Wunden zu schließen, brauchte er diesen Schlaf auch dringend, doch schienen sie mir durchaus nicht lebensgefährlich zu sein. Myrrha hätte trotz ihrer Oberflächlichkeit die richtigen Heilmethoden gekannt und ihn leicht pflegen können, auch wenn sie deshalb die Hochzeit ihrer einzigen Tochter versäumt hätte. Kora saß neben der Couch auf dem Boden. Sie hatte noch
nicht angefangen gehabt, sich für die Hochzeit umzuziehen. Als sie mich sah, preßte sie einen Finger an die Lippen. Ich griff nach ihrer Hand und zog sie auf den winzigen Gang hinaus, durch dessen kaum schlupflochgroßes Fenster ein einsamer Mondstrahl spitzte. »Ich wecke deinen teuren Freund schon nicht auf«, brummte ich. »Aber du kannst mich nicht davon abhalten, dir meine Meinung zu sagen. Was sind das für Manieren! Den armen Eunostos einfach das Hochzeitsfest ohne dich abhalten zu lassen! Wenn du deiner Mutter schon nicht zutraust, sich um diesen Eindringling zu kümmern, was ist dann mit mir? Ich mixte Heiltränke und Salben schon lange, ehe du überhaupt geboren warst. Und meine Hände sind sanfter, als man nach ihrer Größe schließen würde. Du kannst immer noch zu Eunostos laufen, damit die Zeremonie endlich beginnt.« »Nein.« Das war alles. Unsere schweigsame Kora! »Nein, was? Ich glaube, du mußt mir die Antwort wohl oder übel erklären.« »Ich habe ihn gefunden, Zoe. Ich habe ihn nach Hause gebracht. Ich bin für ihn verantwortlich.« »Ich dachte, du redest von Eunostos. Was den Kreter betrifft, so ist es Unsinn. Partridge hat ihn gefunden, aber ist er deshalb für ihn verantwortlich? Der Kerl hat ohnehin Glück, daß sich überhaupt jemand seiner annimmt, nachdem er die Abmachung gebrochen hat.« »Aber ich habe ihn doch zu mir gerufen!« Mir war plötzlich, als wären an einem düstern Winterabend die Flammen in meiner Feuerschale erloschen. »Willst du damit sagen …« »In einem meiner Träume, von denen ich dir erzählt habe, war ein junger Kreter. Ich versuchte, ihn zu rufen. Ich dachte nicht, daß er mich gehört hatte. Aber er hat es doch. Und er kam. Und als er verwundet im Wald lag, rief er nach mir.«
»Behauptet er das?« »Das ist nicht notwendig.« Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie, als wäre sie ein ungezogenes Kind, das ein Schwalbennest ausgeraubt hat. »Überlege dir lieber gut, was du Eunostos erzählen willst.« * Chiron war gekommen, und als sich keine Braut vorfand, die er in umständlicher Zeremonie dem Bräutigam hätte übergeben können, kehrte er in seiner Würde gekränkt wieder um. Die Artemisbärinnen hatten sich längst in ihre hohlen Baumstämme und Betten zurückgezogen. Moschus, Arme und Beine um seine neue Eroberung, lag schnarchend im Gemüsebeet. Partridge, bis oben voll mit Zwiebellauchgebräu, schlief unter einem der Tische. Bion sammelte nützliche Abfälle ein, um sie in seiner Werkstatt zu verarbeiten. Eunostos kraulte seinen Kopf. »Du siehst hier nach dem Rechten, während ich Kora besuche, nicht wahr, alter Freund?« Er hob einen Korb mit Trauben auf. Bions Blick war nicht schwer zu interpretieren: soll ich nicht lieber mitkommen und den Korb tragen? »Nein, es ist besser, wenn ich allein gehe. Zu viele Besucher würden den Kreter vielleicht stören.« Er warf einen kurzen Blick auf die heruntergerutschten Girlanden, die im Wind schwankenden Lampions und die übriggebliebenen Gäste, die ohne Braut feierten. Ich werde nicht ohne Kora hierher zurückkommen, dachte er. Es war früher Morgen, als er bei Koras Baum ankam. Myrrha, die gerade einen Zentauren verabschiedete, der auf seinem Heimweg vom Fest noch bei ihr Unterhaltung gesucht hatte, begrüßte ihn schläfrig.
»Kora hat die ganze Nacht Wache bei dem Kreter gehalten. Sie schläft immer noch nicht, du kannst also ruhig zu ihr hinaufgehen.« Er sah, daß sie Aeacus' Kopf mit einem dicken Kissen gestützt hatte und ihm eine Suppe aus Sperlingsbrühe mit Fenchelblättern einflößte. Beide wandten sich ihm zu, als er durch die Tür trat. Aeacus hatte eine klaffende Wunde am linken Bein, die Kora mit Moos bedeckt hatte, mehrere kleinere am Oberkörper, und eine über dem rechten Auge. Er mußte ziemliche Schmerzen haben, aber er lächelte freudig, als er Eunostos erkannte. »Oh, der Minotaur!« rief er. »Ich wollte dir danken, aber ich habe die ganze Zeit geschlafen.« Er versuchte sich zu erheben, doch Kora drückte ihn sanft gegen das Kissen zurück. »Ich habe dir Trauben gebracht«, sagte Eunostos zu Kora und danach zu ihrem Gast. »Sie sind auch für dich, wenn du sie magst.« Sie stand wie eine warme grüne Flamme neben der Couch, ihre Wangen waren rosig angehaucht, und ihr gewöhnlich aufgestecktes Haar fiel jetzt locker in seiner ganzen Fülle über die Schultern. Merkwürdigerweise weinte sie. Kein Schluchzen schüttelte ihren schlanken Körper, aber die Tränen strömten nur so aus ihren Augen. Vielleicht weint sie wegen des Kreters, dachte Eunostos. Er musterte Aeacus, um zu sehen, ob sich sein Zustand vielleicht verschlechtert hatte, seit sie ihn im Wald fanden. Nein, er sah eher besser aus und war guten Mutes, bis auch er Koras Tränen sah, und sein frohes Lächeln sich in Bestürzung verwandelte. Er griff nach ihrer Hand, und sie umklammerte seine Finger mit verzweifelter Leidenschaft. Da wußte Eunostos, daß sie nicht Aeacus', sondern seinetwegen weinte, weil sie ihren Traum gefunden hatte. Er ließ die Trauben fallen und stolperte die Stufen hinunter.
»Eunostos«, sagte Myrrha, als er den Türvorhang zurückriß. »Ist er nicht ein hübscher Mann? Eunostos …« * Als ich Koras Baum verlassen hatte, kehrte ich nicht zu Eunostos' Hochzeitsfeier zurück. Wie könnte ich dem Bräutigam sagen, daß seine Braut ihn für einen Menschen aufgegeben hatte. Kora mußte es ihm selbst gestehen. Ich ließ mich auf meine Couch fallen und wälzte mich schlaflos herum. Immer wieder stand ich auf und starrte zu dem einen oder anderen meiner Fenster hinaus. Erst als die Sonne ihren ersten Schein über die Bäume schickte, schlief ich endlich ein. Jemand berührte meine Schulter. »Zoe!« »Geh weg! Ich bin gerade erst eingeschlafen.« »Zoe, bitte!« »Eunostos! Du bist es.« Er fiel auf die Knie und barg sein Gesicht an meinem Busen. Ich strich ihm sanft über die seidige Mähne. »Du kommst von Kora?« »Ja.« »Und sie hat es dir gestanden?« »Was soll ich tun, Tante Zoe?« »Warten, mein Junge.« Mein Herz quoll über vor Mitleid mit ihm. »Worauf?« »Auf eine andere Kora. Eine, die deiner würdiger ist.« »Ich werde nie wieder lieben können.« »Doch, du wirst es, wenn du es dir nur gestattest.« »Nein, Tante Zoe. Für mich wird es nie wieder eine andere geben.« Wie konnte ich ihm sagen, daß, was er für sie empfand, so schmerzhaft wie der Stich eines Speers der Thriae, aber durchaus heilbar war. Die Kora, die er liebte, gab es nur in
seinen Gedichten. Es war sein Unglück, daß er erwartete, ihre Seele müsse ihrer Schönheit weichen. Nicht, daß ihre Seele unschön war, sie war lediglich noch zu jung und hatte noch keine Zeit gehabt, sich dem Gesicht anzugleichen. »Wir werden sehen, mein Junge. Willst du eine Weile bei mir bleiben? Du brauchst nicht in dein einsames Haus zurück. Bion und ich schaffen dort Ordnung und …« »Nein, ich gehe besser zurück. Es ist alles, was ich habe.« Mein Herz schmerzte. Er hatte doch mich, und ich wünschte so sehr, er würde mich nicht länger als Tante sehen. Ich blickte ihm aus dem Fenster nach, wie er schleppend heimging. Nie hat mich jemand weinen gesehen. Ich wartete damit, bis ich allein war. * Drei Tage waren vergangen. Eunostos saß mit der Säge in der Hand an seiner Werkbank, aber er arbeitete nicht, und der Stuhl, den er vor der ins Wasser gefallenen Hochzeit angefangen hatte, war nicht mehr als ein Skelett. Bion stupste ihn mit einem Fühler. Er hatte ihm das Werkzeug gebracht, und Partridge das Material – gegerbte Ochsenhaut, die er über das Geflecht aus Weidengerten spannen sollte. Der Paniskus war gegangen, um sich etwas zum Mittagessen zu suchen, da Eunostos ihn nicht in seinem Garten grasen lassen wollte, aber Bion war geblieben und leistete ihm Gesellschaft. Eunostos streichelte seinen Kopf, ohne zu bemerken, daß sein kleiner Freund zu bedrückt war, auch nur mit den Fühlern zu wedeln. Jemand rief seinen Namen. Jemand, der in seinem Garten nach ihm suchte, ohne zu wissen, wo sich der Eingang zu seiner Werkstatt befand. Es war wohl besser, er kletterte schnell hoch. »Aeacus!« brummte er. »Ich dachte, du bist verwundet.«
»Ich war es – ich bin es noch. Heute stieg ich zum erstenmal aus dem Baum. Ich wollte mit dir sprechen.« Als Eunostos bemerkte, wie der andere hinkte und sich schwerfällig dahinschleppte, unterdrückte er das Bedürfnis, ihn zu verprügeln. Er wollte nicht mit Aeacus reden. Er wollte dieses freundliche Lächeln und die gütigen Augen nicht sehen. Wie sehr er wünschte, Aeacus würde eingebildet, arrogant, herablassend oder so ähnlich aussehen, dann brächte er es fertig, ihn trotz seiner Verletzungen aus seinem Baum zu werfen. Aber Aeacus atmete schwer. Er lehnte sich gegen das Spalier, wo die Rosen die ersten Ranken emporschlangen. »Du zerbrichst mir das Spalier. Das würde Kora nicht gefallen. Sie sagt, Rosen haben eine Seele.« »Verzeih mir.« Es war ganz offensichtlich, daß er große Schmerzen hatte, als er ohne Stütze zu stehen versuchte. Die tiefe Wunde in seinem Bein hatte noch kaum zu heilen begonnen. Eunostos deutete auf das Haus. »Im Innern sind Stühle.« »Dein Haus sieht wie eine Krone aus Bambus aus. Leicht und luftig und wunderschön. Hast du es selbst gebaut?« »Ja, aber die Zentauren brachten mir den Bambus.« Sie setzten sich einander gegenüber, und Aeacus lächelte nicht länger. Er sah traurig und verwirrt aus. »Chiron gestattet, daß ich im Wald bleibe«, erklärte er nach längerem Schweigen, »weil ich die Abmachung nicht böswillig, sondern nur zufällig gebrochen habe. Wenn ich jedoch bleibe, darf ich nicht nach Knossos zurück, um mich dort zu verabschieden. Jemand würde mir vielleicht folgen wollen – und was wäre dann mit der Abmachung?« »Und du hast seine Bedingung angenommen?« »Ja.« Die Antwort kam leise und zögernd. »Bis du mit den Trauben kamst, wußte ich nicht, daß Kora versprochen hatte,
dich zu heiraten. Ich dachte, du wärest lediglich ihr Freund, wie ein jüngerer Bruder. Ich wollte, daß du auch mein Freund bist. Seit ich im Wald aufwachte und du da warst, um mir zu helfen – nun, ich mochte dich eben sofort.« »Ich – ich kann dich nicht leiden!« »Das kann ich dir nicht verdenken. Aber vielleicht wirst du mich mit der Zeit doch mögen. Wenn du verstehst …« Warum glaubten Ältere immer, daß das Verständnis erst mit den Jahren kam? Er verstand es schon jetzt mit seinen fünfzehn gut genug. Er war ungeschliffen und linkisch, und Kora hatte eben einen Prinzen vorgezogen. Er verstand es, aber es tat trotzdem weh. Bedrückt deutete er auf das Haus und den Garten. »Ich habe es für sie gemacht. Das Haus ist aus Bambus, aber es befindet sich in der Mitte eines hohlen Eichenstamms, und sie hätte ihren Baum verlassen können, um hier mit mir zu leben. Dryaden können ihre Bäume wechseln, weißt du? Aber nun ist niemand hier mit mir.« Bion stand an der Tür, und Eunostos sah, daß er ihn gehört hatte. Seine Fühler zuckten niedergeschlagen. »Ich meinte nicht dich!« rief Eunostos. Er sprang auf und führte Bion in das Zimmer. »Aber du hast deine eigene Werkstatt, deine eigenen Verwandten. Ich meinte jemanden, der immer bei mir bleibt.« »Ich glaube, du hast sehr viele Freunde«, sagte Aeacus. »Zoe sagte, du seist der liebenswerteste Tiermensch im ganzen Land, und ich könnte mich glücklich schätzen, wenn du auch nur ein Wort für mich findest.« Er streckte Bion freundschaftlich eine Hand entgegen, aber der Telchin wich ihr aus und rannte hastig in den Garten zurück. »Aber nicht Kora.« »Auch Kora. Sie liebt dich, Eunostos, wenn auch nicht auf die Weise, wie du es dir ersehnt hast. Sie kann nichts dafür.
Genausowenig wie ich etwas dafür kann, daß ich hierhergekommen bin. Ich kann nicht dagegen an, Eunostos, und muß nun bleiben, da ich weiß, daß sie es möchte.« »Du kennst sie erst drei Tage und glaubst, sie schon zu lieben? Ich kenne sie mein Leben lang.« »Ich habe sie immer geliebt. Zumindest jemanden wie sie, auf die ich gewartet habe. Die Große Mutter bestimmt diese Dinge, und wir Sterblichen können uns nur mit Würde ihrem Willen beugen.« »Ich kann nichts mit Würde tun. Meine Hufe sind plump, und ich würde über meinen eigenen Schwanz stolpern, wenn er bis zum Boden reichte.« »Kora sagt, sie liebt dich mehr als sonst jemanden im ganzen Wald außer mir. Sie sagt, du hast ihr das Leben gerettet und Gedichte geschrieben und sie spüren lassen, daß ihre Schönheit etwas Kostbares und nicht eine wertlose leere Hülle ist. Ich wollte – ich wollte …« Eunostos hätte nie erwartet, daß ein redegewandter Kreter um Worte verlegen sein konnte. Er versuchte, diesen Mann, der ihm die Braut gestohlen hatte, zu hassen oder zumindest nicht zu mögen. Aber er brachte es nicht fertig. Aeacus hatte ihm nicht absichtlich Unrecht tun wollen, und er schien es ehrlich zu bedauern. Weshalb sonst wäre er schon vom Krankenbett aufgestanden, ehe er gesund genug war, und hierhergekommen, um sich zu entschuldigen? »Ich glaube, ich darf dich nicht länger von deiner Arbeit aufhalten.« Aeacus bemühte sich, auf die Füße zu kommen. »Aber ich warne dich. Ich werde bald wiederkommen, und immer wieder, bis du mir doch deine Freundschaft schenkst.« Er schwankte und wäre gefallen, wenn Eunostos ihn nicht schnell gepackt und auf seinen Stuhl zurückgesetzt hätte. »Du bleibst hier«, sagte er, so barsch er es vermochte. »Ich mache dir Minzentee. Tante Zoe sagt, der kuriere alles.«
In der kleinen Küche zündete er das Feuer an und gab getrocknete Blätter in einen Topf mit Wasser. »Verdammt«, brummte er. »Verdammt.« Hier bediente er den Mann, den er alles andere als zum Freund haben wollte, und den er doch gegen seinen Willen mochte. Aeacus' Hände zitterten so sehr, daß er die Tasse nicht halten konnte. Offenbar hatte er Fieber. Eunostos flößte ihm den Tee ein. »Du mußt hier übernachten«, sagte er bestimmt. »Bion kümmert sich um dich, und ich laufe schnell zu Kora, um ihr zu sagen, wo du bist, damit sie sich keine Sorgen macht. Wenn du etwas brauchst, dann erkläre es Bion. Aber du mußt ganz langsam reden und einfache Worte benutzen. Und vergewissere dich, daß er dir auch wirklich zuhört.« »Ich habe das Gefühl, daß er mich nicht mag.« »Das ist meinetwegen. Telchinen sind den Tiermenschen die treuesten Freunde. Sie fressen nur einander auf.« »Aber ich bin kein Tiermensch.« »Nun, du kommst nahe genug heran. Ihm ist zäheres Fleisch ohnehin lieber. Abgesehen davon habe ich genügend Haselnüsse für ihn zu essen, wenn er Hunger hat. So, nun müssen wir dich nur noch in das nächste Zimmer und auf die Couch bringen.« Es war erstaunlich, wie leicht der Kreter war und wie folgsam er sich ausstreckte. »Eunostos«, murmelte er. »Ich habe die Schildkröte in deinem Springbrunnen gesehen. Ich hatte auch eine, bis ich fünfzehn war. Sie lebte in dem Teich mit den Goldfischen.« »Was ist aus ihr geworden?« »Sie krabbelte davon. Ein Erdbeben hat einen schmalen Spalt in der Hofmauer verursacht, da muß sie hindurchgekrochen sein. Ich habe ihn nie ausbessern lassen, weil ich immer hoffte, sie würde zurückkommen. Aber sie tat es nicht. Vielleicht hat
ein Kind sie mitgenommen. Glücklicherweise sind in Knossos keine Wagen erlaubt, also kann sie nicht überfahren worden sein.« »Sie muß dir sehr gefehlt haben.« »Das hat sie auch. Eunostos …« »Ja?« Aeacus streckte die Hand in einer überall bekannten Geste der Freundschaft aus. »Verdammt«, knirschte Eunostos zwischen den Zähnen. Doch er ergriff die Hand, die kalt und zitternd war, aber seine dankbar drückte. Zögernd erwiderte er den Druck. Das Schlimmste war passiert. Er hatte mit dem Mann Freundschaft geschlossen, der ihm die Braut weggenommen hatte. Es kommt noch soweit, daß ich ihnen meine Schildkröte als Hochzeitsgeschenk gebe, dachte er grimmig.
10. Als ich erfuhr, daß Eunostos und Aeacus Freundschaft geschlossen hatten, dachte ich: gut für den Jungen. Nun kann er sich mit Kora versöhnen und seinen Frieden wiederfinden. Ohne blinde Liebe wird er sie sehen, wie sie wirklich ist. Denn wenn jemand, den wir lieben, uns abweist und wir ihn danach nie wiedersehen, halten wir ihn für etwas Großes, Unerreichbares und geben uns selbst die Schuld, daß wir seiner nicht würdig gewesen waren. Aber eine verheiratete Kora, mit ihrer täglichen Hausarbeit beschäftigt, war zwar eine schöne, warmherzige, aber unbedeutende junge Dryade aus Fleisch und grünem Blut. Zu Eunostos' Ehre muß gesagt werden, daß er sich nicht wie ein Mondkalb mit gebrochenem Herzen benahm. Er war jetzt schon fast sechzehn, ein ausgewachsener Bulle und auch
seelisch erwachsen. Nie ein heimlicher anhimmelnder Blick, nie ein geflüstertes Kompliment, sondern immer die offene Zuneigung eines Bruders, wie Kora sie sich wünschte. Kora erwiderte sie mit ruhiger Dankbarkeit. Sie hatte sowohl einen Bruder als auch einen Ehemann gewonnen. Von Aeacus begleitet, besuchte sie Eunostos' Haus und zeigte ihm, wie er die Farbe seiner Rosen vertiefen und sie auf das Spalier leiten konnte. Sie brachte ihm geröstete Eicheln, räumte seine Werkstatt auf und webte ihm einen Lendenschurz wie den, den Aeacus getragen hatte, als er in den Wald kam, nur grün, statt purpur, aber genauso elegant, mit einem Gürtel und einer Silberspange in der Form einer Schildkröte. Zu jener Zeit zeigte Aeacus keine Spur von Eifersucht, vielleicht, weil er sich Koras anbetender Liebe sicher war. Außerdem mochte er Eunostos. Sie waren bald ein vertrauter Anblick, die beiden gemeinsam durch den Wald streifenden Männer. Mit Pfeil und Bogen oder Blasrohren gingen sie miteinander auf Jagd nach Sperlingen, Spechten und Kaninchen. Aber keineswegs durften die größeren Tiere wie Rehe und Hirsche und Bären getötet werden, erklärte Eunostos dem Kreter. »Sie sind zu sehr wie wir«, sagte er. »Wir jagen die kleinen nur, weil wir essen müssen. Oder Wölfe, weil sie uns fressen wollen.« Aeacus seinerseits lehrte Eunostos, mit dem Dolch umzugehen. »Damit kommst du sogar gegen einen Mann mit einem Schwert von deiner doppelten Größe an. Klein wie ich bin, hätte ich mit einem Schwert gegen einen Achäer soviel Chancen wie ein Sperling gegen einen Habicht. Das Gewicht des Schwertes würde mich zu Boden drücken, und er würde mir schon mit dem ersten Hieb den Schädel abschlagen. Aber mit dem Dolch bin ich ihm mehr als ebenbürtig. Bis er mit dem Schwert ausholt, kann ich ihm schon die Klinge zwischen die Rippen stoßen.«
Eunostos war zu höflich, ihm zu erklären, daß er kaum jemanden treffen würde, der doppelt so groß wie er war, und er das Schwert dem Dolch vorzog, lieber aber noch mit einer Streitaxt kämpfte, wie seine Vorfahren sie gegen die Zentauren benutzt hatten. Es ist gewiß unnötig, zu erwähnen, daß Eunostos über Aeacus seine anderen Freunde nicht vernachlässigte. Fast jeden Tag kam er mich zumindest kurz besuchen. »Nun, bist du über sie hinweggekommen?« fragte ich ihn eines Tages. Er überlegte. »Weißt du, Zoe«, murmelte er. »Ich liebe sie jetzt auf eine andere Weise. Ich sehe nicht mehr die unnahbare Göttin in ihr wie früher. Sie ist jetzt eine tüchtige Hausfrau – und die Frau eines anderen. Außerdem ist sie guter Hoffnung.« Ich nickte. »Ich fürchte, es kann zu Komplikationen kommen.« Er blickte mich ganz entsetzt an. »Nein, nicht wie du meinst«, beruhigte ich ihn schnell. »Kora ist völlig gesund, sie wird mit der Geburt sicher keine Schwierigkeiten haben. Ich dachte an politische. Es ist dir doch bekannt, daß Aeacus' Bruder weder Frau noch Kinder hat. Das bedeutet, daß Koras Baby der nächste in der Erbfolge ist.« »Knossos wird sich einen anderen König suchen müssen«, erklärte Eunostos finster. »Koras Kind bleibt bei ihr, und sie kann den Wald nicht verlassen. Getrennt von ihrem Baum würde sie sterben.« »Eben. Das meinte ich ja mit Komplikationen.« * Eunostos konnte die Geburt des Kindes kaum erwarten. Kora hatte ihm versprochen, daß er den Paten des Kleinen machen dürfte. Er erzählte es stolz im ganzen Wald herum. Er fügte an
seine Bambushäuschen einen Anbau hinzu (»für mein Patenkind!«) und bastelte nun Spielzeug in seiner Werkstatt. Aeacus war im Gegensatz zu ihm erstaunlich still. Jeder wußte, daß er Kinder, Bärenjunge, Kälbchen, überhaupt alles Kleine, Hilflose liebte – in dieser Hinsicht war er wie Eunostos. Und niemand zweifelte daran, daß er ein eigenes Kind lieben würde. Aber irgendwie wirkte er mehr beunruhigt als voll freudiger Erwartung. Ich fragte mich, ob es ihm vielleicht nicht ganz recht war, daß seine wunderschöne Maid, seine Göttin, Mutter wurde. Wie sie, hatte er ein Traumbild geliebt, und nun würde dieses Bild sich wandeln. Kora würde mütterlich werden und ihre Liebe mit einem Kind teilen. Es ist auch so, wenn ein Mann weiß, daß er jederzeit einen bestimmten Ort verlassen kann, um in sein eigenes Land, seine eigentliche Heimat zurückzukehren, bleibt er ganz gern freiwillig an dem erwählten Ort. Ist er jedoch durch Weib und Kind gebunden, mag er leicht verdrießlich werden und Heimweh bekommen. Ein kretischer Prinz, der in einem prunkvollen Palast aufwuchs, ist eben nicht dazu bestimmt, in einem Wald mit einer grünhaarigen Familie zu hausen. * Es war ein Mädchen. Kora nannte sie Thea. Ich durfte die Hebamme machen, weil Myrrha viel zu aufgeregt war, ihrer Tochter beizustehen. Ich bestand darauf, daß sie mit Aeacus und Eunostos unten wartete, bis ich das Kind in Myrrhenwasser gebadet und in Koras Arme gelegt hatte. Kora lächelte glücklich, als Aeacus die Kleine hochhob. Die Geburt war schnell und fast schmerzlos gewesen. »Sie hat deinen Mund, aber meine Ohren«, sagte sie stolz. Aeacus blinzelte verwirrt. Offenbar hatte er keine Tochter
mit spitzzulaufenden Ohren und grünem Haar erwartet, vielleicht war ihm, als hätte er eine Art Mißgeburt gezeugt. Versteht mich bitte nicht falsch. Er liebte seine Tochter vom ersten Augenblick an – mehr noch als er Kora je geliebt hatte –, aber ich glaube, sie erinnerte ihn zu sehr daran, daß sein Exil im Wald für immer war. Aus freiem Willen hatte er eine Dryade geheiratet und sich im Land der Tiere niedergelassen. Aber hatte er das Recht, seine Tochter als Tiermensch in einem Baum aufzuziehen, statt sie in einem Palast groß werden zu lassen? Sie war durch Geburt eine Prinzessin und könnte Königin werden, denn nicht nur einmal saßen Frauen auf dem Herrscherthron Knossos'. Doch sie war hier und sollte unter Wesen mit Schwänzen, Hufen oder spitzen Ohren aufwachsen, und war selbst als ein solches gebrandmarkt. Das ist natürlich nur meine persönliche Meinung. Aeacus hat sich mir nie anvertraut. Aber Kreter sind leichter zu verstehen als Ägypter, und ich konnte in Aeacus wie in einem offenen Buch lesen. Glücklicherweise war außer mir niemand sein Zögern aufgefallen. Eunostos und Myrrha hatten nur Augen für das Baby. Eunostos war auch schon ungeduldig. »Laß sie mich jetzt halten, Aeacus«, bat er. »Ich lasse sie bestimmt nicht fallen. Ich bin ihr Pate, ihr zweiter Vater, vergiß das nicht.« Er wiegte das Kind in seinen Armen, und der ernste, beinah unglückliche Ausdruck in dem kleinen Gesichtchen, der mir schon fast Sorgen gemacht hatte, wich einem noch unbewußten Lächeln. »Schlaf, kleine Thea«, flüsterte Eunostos. »In deinen Nächten wird es keinen Streit geben. Du hast zwei Väter, die immer für dich da sind.« Und dann sang er ihr ein uraltes Wiegenlied vor: »Schlaf, kleine Dryade, schlaf in deinem Baum. Der Wind bringt dir einen goldenen Traum.« Aeacus schaute nicht das Baby, sondern Eunostos an. Und
da las ich zum erstenmal unverkennbare Eifersucht in seinem Blick.
11. Selbst in dem zeitlosen Land der Tiere vergingen die Jahre. Drei Winter hatten den Bergen Schneekappen aufgesetzt, die der Frühling schmolz und der Sommer durch Blumen ersetzte. Und natürlich hatte sich auch unter den Tiermenschen allerhand getan. Eunostos war jetzt achtzehn, ein strammer Bursche, der von früh bis spät in seiner Werkstatt arbeitete, aber er vergaß dabei glücklicherweise auch nicht, sich hin und wieder eine kleine Freundin anzulachen. Bion hatte seine Familie verlassen und war zu seinem Freund gezogen. Er besaß seinen eigenen Tisch in Eunostos' Werkstatt. Er schliff dort Steine, verschönerte Eunostos' Möbel mit Mosaikeinlagen und machte herrliche Kupfer- und Bronzearbeiten. Partridge war wohl so ziemlich der einzige, der sich nicht geändert hatte. Er blieb der ewig Halbwüchsige, kaute seinen Zwiebellauch und folgte Eunostos auf Schritt und Tritt. Weniger als ein Jahr nach Theas Geburt hatte Kora einem zweiten Kind das Leben geschenkt, einem Sohn – Ikaros. Sie selbst war ein wenig voller geworden, aber schön wie eh und je, nur wirkte sie nun offenbar auch auf Aeacus nicht mehr geheimnisvoll und göttinnenhaft. Wenn er sie so vielleicht weniger liebte, war er zumindest immer gleichbleibend freundlich zu ihr. An seiner Liebe für die Kinder zweifelte niemand. Besonders hing er an Thea, die er geradezu vergötterte, wie früher ihre Mutter. Trotzdem dehnte er seine Streifzüge in den Wald mehr und mehr aus und blieb immer weniger zu Hause in der Eiche. Ich wünschte, er würde eines Tages überhaupt nicht mehr wiederkommen.
Es war Morgen. Eunostos saß mit Kora auf dem Balkon. Ikaros und Thea lagen Seite an Seite in einer großen Wiege, die der Minotaur mit viel Liebe gezimmert hatte. Eunostos kaute Rosinen, von denen er sich immer gleich eine ganze Handvoll in den Mund schob, gleichzeitig schaukelte er mit dem Huf sanft die Wiege und paßte auf die Kinder auf. Ikaros krähte vergnügt vor sich hin, während Thea ernst, ja fast mißmutig dreinschaute. Ab und zu, wenn Kora nicht hersah, steckte er dem Jungen ein paar Rosinen zu. Kora behauptete, sie wären nicht gut für die Kleinen, aber Eunostos wußte es besser. Seine Mutter hatte ihn schon in der Wiege damit gefüttert. Thea lehnte sie ohnehin ab. »Die Zentauren haben gestern Phlebas' Bau zerstört«, berichtete er, was er von Partridge erfahren hatte. »Sie sind auf einem Floß hinübergerudert und haben brennende Fackeln auf das Dach geworfen, ehe die Ziegenburschen ihre Steinschleudern holen konnten. Der Bau brannte in wenigen Minuten nieder. Die Panisken und Artemisbärinnen konnten sich natürlich alle retten. Aber sie müssen sich jetzt ein neues Zuhause suchen, wo sie ihr Diebesgut aufbewahren können.« »Es war höchste Zeit.« Kora schauderte. »Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie schmutzig es dort war.« Aeacus trat mit seinen weichsohligen Sandalen fast lautlos auf den Balkon heraus. »Ich gehe zu Chiron«, sagte er ohne weitere Erklärung (er hatte sich in letzter Zeit mit dem Anführer der Zentauren angefreundet). Er war nicht schroff – das war er nie –, aber sein Lächeln wirkte irgendwie gezwungen. Er wird doch nicht nach all dieser Zeit eifersüchtig auf mich sein, dachte Eunostos. Aber vielleicht hat er nur Heimweh nach Knossos. »Möchtest du Thea mitnehmen?« fragte Kora. »Du weißt doch, daß sie vor dem Wald Angst hat.«
»Aber sicher nicht, wenn sie bei dir ist. Zumindest nicht mehr, nach den beiden ersten Malen oder so. Weißt du, daß sie noch nie in ihrem Leben weiter als bis zu Zoes Haus gekommen ist?« »Sie ist hier sicherer.« Es war nicht, daß Aeacus sie als Last betrachtete, die ihm den Spaziergang verleiden würde – im Haus waren die beiden unzertrennlich. Es war eher, als wollte er nicht, daß sie den Wald kennen und lieben lernte. Er hob sie aus der Wiege und gab ihr einen zärtlichen Klaps. Sie lachte so gut wie nie und tat es auch jetzt nicht, aber sie legte ihre Ärmchen um seinen Hals und drückte sich an ihn. Und als er sie in die Wiege zurücklegte, sah sie aus, als wollte sie weinen. Eunostos tat das Herz weh. Noch vor einem Monat hatte sie sich von ihm genauso gern aufheben lassen wie von ihrem Vater und sich an ihn geschmiegt. Doch plötzlich schien sie sich vor ihm zu fürchten. »Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte Eunostos mich. »Kinder machen manchmal komische Zeiten durch«, tröstete ich ihn, aber ich nahm fast an, daß Aeacus auf seine glatte kretische Art der Kleinen Angst vor dem Minotauren gemacht hatte. Vielleicht hatte er ihr eine Geschichte über einen Dämon mit Hörnern und einen Schwanz mit Quaste und einer roten Mähne erzählt. Ikaros zumindest klammerte sich an Eunostos so oft er nur konnte und zog ihn ganz offensichtlich seinem Vater vor. Ich fragte mich, wie bald Aeacus ihm Gruselmärchen über Minotauren erzählen würde. »Leb wohl, Klein-Thea, schlaf gut, bis ich wiederkomme«, verabschiedete der Kreter sich. Dann küßte er sie auf die Wange, strich Ikaros über den Kopf und zog los, ohne Eunostos auch nur zu beachten. Vielleicht, weil er sich so an mich gewöhnt hat, dachte Eunostos, daß er mich schon fast wie ein Möbelstück betrachtet.
»Kora«, sagte Eunostos plötzlich. »Thea ist schon fast zwei Jahre alt, und sie war noch nie in meinem Haus. Jedesmal, wenn ich sie einlud, fiel Aeacus ein anderer Grund ein, weshalb sie lieber daheim bleiben sollte. Übrigens kommt auch ihr zwei, du und Ikaros, so gut wie nie aus eurem Baum heraus. Wenn du nicht aufpaßt, wirst du selbst noch ein Teil davon.« »Ich glaube nicht, daß Aeacus einverstanden wäre, wenn ich Thea zu dir brächte«, meinte sie zögernd. »Und weshalb nicht? Bin ich nicht Pate der zwei? Habe ich nicht sogar ein extra Zimmer für sie an mein Häuschen angebaut? Ich habe viel Spielzeug für sie darin.« »Aeacus scheint zu befürchten, daß Thea im Wald etwas zustoßen könnte. Er verweist mich immer auf meine Entführung durch Phlebas, die Saffron veranlaßt hatte.« »Saffron ist tot, und Chiron hat Phlebas einen solchen Schrecken eingejagt, daß er im Augenblick wohl kaum eine Gefahr ist. Und passieren könnte überall etwas, auch hier.« »Also gut, gehen wir!« rief sie plötzlich vergnügt. »Wir werden einen richtigen kleinen Ausflug machen. Welches Baby willst du tragen?« »Ikaros«, sagte er schnell. Er liebte sie beide gleich viel, aber seit Theas Entfremdung von ihm hatte er Angst, sie könnte in seinen Armen weinen. Ikaros war so begeistert von allem, was er sah, daß er unablässig vergnügt krähte und quietschte. Thea dagegen blickte sich furchtsam um, und als ihnen ein Bärenmädchen über den Weg lief, fing sie zu schreien an und war nicht mehr zu beruhigen, bis sie Eunostos' Baumstumpf erreicht hatten. »Willst du die Tür nicht hinter uns verriegeln?« fragte Kora. »O nein, meine Freunde sind gewohnt, daß sie unversperrt ist, damit sie sich jederzeit Gemüse aus dem Garten holen können, wenn sie wollen.« Zu seinen Rosen und Akeleien
hatte er jetzt auch noch Vergißmeinnicht, Veilchen und Hyazinthen angepflanzt, und an Gemüsen bot sein Garten nun Möhren, Rettiche, Melonen, Gurken, und auch Trauben zog er. Sogar einen Ölbaum hatte er gepflanzt, der ihm mit der Zeit sein eigenes Öl liefern würde, wie er hoffte. Eine Olivenpresse dafür hatte er bereits in seiner Werkstatt hergestellt. »Eines Tages wirst du völlig unabhängig sein«, sagte Kora bewundernd. »Du wirst dir selbst alles ziehen und machen, was du brauchst. Eunostos, ich bin stolz auf dich.« »Vor drei Jahren hast du gesagt, daß schreinern nicht sehr romantisch ist«, erinnerte Eunostos sie. »Das ist eine lange Zeit her. Jetzt sehe ich Romantik in jedem schönen Sessel.« »Ich wollte …« Aber nein, er durfte solche Wünsche nicht äußern, ja nicht einmal denken. »Komm ins Haus, Kora.« Ikaros krabbelte sofort auf ein kleines Holzwägelchen zu, und Thea, die bereits selbst ein wenig laufen konnte, suchte sich eine Puppe aus Terrakotta mit runden gemalten Augen und einem lächelnden Mund aus, die wie eine glückliche Thea aussah. Das war auch kein Zufall, Eunostos hatte sich Koras Töchterchen als Modell genommen. Jetzt saß sie in einer Ecke und wiegte die Puppe in den Armen. Und zum erstenmal seit einem Monat blickte sie ihn an, als wären seine Hörner hübsch und nicht zum Fürchten. Während die Kinder friedlich spielten, zeigte Eunostos Kora seine Rosen und ließ sich einen Rat zu deren Pflege von ihr geben. Dann besuchten sie Bion, der in der Werkstatt eifrig über seiner Arbeit saß, und lobten sein Werk. »Es ist besser, wir lassen die Kinder nicht so lange allein«, meinte Kora. »Thea könnte sich fürchten.« Als sie von der Werkstatt hochkam, hörten sie ein Flüstern – aber nicht von den Kindern. Sie rannten hastig zur Tür des Anbaus.
»Es ist nur ein Bärenmädchen«, erklärte Eunostos erleichtert. »Sie können sehr gut mit Kindern umgehen.« Die Artemisbärin hatte Thea auf ihrem Schoß sitzen und sang ihr ein Liedchen. Kora stürzte auf sie zu und riß ihre Tochter an sich, als müßte sie sie vor einem Ungeheuer retten. Eunostos wollte das Bärenmädchen, das arme Ding, verteidigen. Die Artemisbärinnen waren in seinem Haus immer willkommen und durften sich die Trauben abpflücken. Sie kamen oft in seiner Abwesenheit und stellten ihm Eimer mit Brombeeren in die Küche. »Sie ist eine von Phlebas' Mädchen!« rief Kora. »Ich erinnere mich noch gut an sie. Sieh lieber nach, ob sie etwas gestohlen hat.« Schnell wie ein Hase rannte die Bärin aus dem Zimmer. Sie hatte nichts in ihren Pranken, und da sie keine Kleidung trug, konnte sie auch an ihrem Leib nichts versteckt haben. »Ich glaube nicht, daß sie vorhatte, etwas hier zu stehlen«, verteidigte Eunostos sie. »Vermutlich hatte sie nur einen Unterschlupf gesucht, nachdem Phlebas' Bau jetzt niedergebrannt ist. Und zu ihrer Familie kann sie nicht zurück, denn du weißt ja, daß Phlebas' Mädchen Ausgestoßene sind. Hier hat sie das Baby gesehen, und ihre Mutterinstinkte erwachten.« »Sie hat selbst ein Kind, ein Zicklein, und es war schon vor drei Jahren ein schrecklicher Dieb.« »Es ist ja nichts passiert«, beruhigte er sie. »Aber es ist wohl besser, ich bringe euch wieder nach Hause.« Sie bemerkten unterwegs ziemlich schnell, daß Thea nicht nur ruhig war, sondern fest schlief – das tat sie tagsüber sonst nie und würde es wohl am wenigsten, wenn sie durch den Wald getragen wurde und einen Grund zum Schreien hatte. Außerdem war ihr Gesicht gerötet, als wäre sie zu lange der Sonne ausgesetzt gewesen – oder als hätte sie Fieber.
Aeacus begrüßte sie mit dem üblichen gleichgültigen Lächeln. Eunostos wäre es lieber gewesen, er hätte ein finsteres Gesicht gemacht, weil er die Kinder ohne ihres Vaters Erlaubnis in den Wald mitgenommen hatte. »Ich glaube, Thea ist krank«, sagte er schnell, um es Kora abzunehmen. Aeacus trug die Kleine hastig hinaus auf den Balkon und legte sie in die Wiege. Er beugte sich über sie, betrachtete sie forschend, und legte eine Hand auf ihre Stirn. »Sie hat kein Fieber«, erklärte er. »Seid ihr sicher, daß sie krank ist?« fragte er mehr verwundert als verärgert. »Es sieht eher aus, als schliefe sie friedlich.« Nach dem glücklichen Lächeln auf ihrem Gesicht zu schließen, schien sie sogar einen wundervollen Traum zu haben. »Wir können sie nicht wach bekommen«, gestand Kora. Jetzt blickte Aeacus erschrocken auf. »Schnell, Eunostos, hol Zoe.« Minuten später kniete ich neben der Wiege, und da ich mir durch meine langjährige Freundschaft mit Chiron gewisse medizinische Kenntnisse angeeignet habe, erkannte ich die Symptome. Auf gewisse Weise hatte Aeacus recht. Thea war nicht krank, sie stand unter Drogeneinfluß. »Wo ist sie denn gewesen?« fragte ich. Eunostos erzählte von ihrem kurzen Ausflug und der Artemisbärin, die Thea auf dem Schoß gehalten hatte. »Aha, eine von Phlebas' Frauen. Weißt du, was sie tun, wenn eines ihrer eigenen Kinder keine Ruhe gibt? Sie stecken ihnen Hasch in den Mund, oder kochen es in Milch auf, die sie ihnen einflößen.« »Aber weshalb sollte die Bärin Thea etwas eingegeben haben?« rief Kora entsetzt. »Wollte sie sie entführen?« »Das glaube ich nicht. Ich denke eher, sie beabsichtigte, bei Eunostos zu stehlen. Sie hat ja alles verloren, als der Bau
niederbrannte. Vermutlich hat sie gehört oder gesehen, wie Eunostos mit dir in der Werkstatt verschwand, und dachte, die Luft sei rein. Im Haus entdeckte sie dann die Kinder, und Thea wollte vermutlich schreien. Also steckte sie ihr schnell Haschisch in den Mund. Dann habt ihr sie überrascht, deswegen tat sie, als sänge sie der Kleinen vor.« »Wird es Thea schaden?« fragte Aeacus finster. »Nein. Es war ja nur eine einmalige Dosis. Sie wird sich aber möglicherweise ein wenig komisch benehmen, wenn sie aufwacht.« Das tat sie auch. Sie erwachte und lachte, als würde sie am ganzen Körper gekitzelt. Es machte ihr offensichtlichen Spaß. Dann verlangte sie ihr Abendessen und fiel wie ein Habicht darüber her, statt wie sonst wie ein Spatz darin herumzupicken. Gleich darauf schlief sie wieder ein. Es war ein ruhiger, natürlicher Schlaf. Das Ganze war also keine Tragödie, sondern lediglich ein kleines Mißgeschick mit gewissen belustigenden Aspekten. Jedenfalls sah Eunostos es so, und ich mußte ihn heimlich puffen, als er vorschlug, man solle Thea jeden Tag ein wenig Hasch ins Essen mischen. Kora saß auf dem Boden und schaukelte Theas Wiege. Sie blickte mit einem Lächeln zu Aeacus hoch, als wollte sie ihn damit um Verzeihung bitten, aber auch gleichzeitig sagen: so schlimm war es doch gar nicht, oder? Aeacus erwiderte ihr Lächeln nicht. »Danke, daß du gleich gekommen bist, Zoe«, wandte er sich an mich, und dann sagte er etwas zu Eunostos, das um so schlimmer war, weil seine Stimme dabei den höflichen Klang beibehielt und sein Gesicht ausdruckslos war. »Eunostos, es ist besser, du kommst eine Weile nicht mehr hierher.« Kora sprang auf. »Aber was hat er denn getan? Er wollte
doch nur, daß unsere Kinder ihre Spielsachen sehen. Du solltest ihm danken!« »Dafür, daß er meine Tochter in den Wald genommen hat, wo sie tödlicher Gefahr ausgesetzt war?« »Aber sie ist doch nicht einmal verletzt.« »Sie hätte es jedoch leicht sein können.« Zum erstenmal, daß Kora es nicht einfach hinnahm: »Unsere Tochter ist eine Dryade. Sie muß schließlich ihr eigenes Land kennenlernen. Oder glaubst du, sie kann fünfhundert Jahre in diesem Baum zubringen?« »Nein«, erwiderte er. »Das glaube ich nicht.« Seine Worte waren auf grausame Weise prophetisch.
12. »Zoe!« Eine kurze Pause. »Zoe, bitte laß die Leiter herunter.« Es war Kora. Jeden anderen außer ihr oder Eunostos hätte ich ignoriert. Es war früher Morgen, und ich war gerade erst eingeschlafen, nachdem Moschus sich verabschiedet hatte. Leere Weinbeutel lagen herum, und mein Kopf war weinschwer. Ich taumelte zur Tür. Unten stand Kora mit ihren beiden Kindern, Thea im Arm, Ikaros in Aeacos' Köcher auf den Rücken geschnallt. Ich ließ die Leiter hinunter und half, so schwer es mir auch fiel, Kora mit den Kindern die Sprossen hinauf. »Ich will Eunostos besuchen«, erklärte Kora. »Und da ich nicht beide Kinder den ganzen Weg tragen kann, wollte ich fragen, ob du so lieb bist und auf Thea aufpaßt.« »Glaubst du, daß das richtig ist? Eunostos besuchen, meine ich. Nach dem, was Aeacus gesagt hat.« »Aeacus weiß es nicht. Er ist wie üblich auf der Jagd. Außerdem ist es ja eigentlich nur Thea, von der er nicht will,
daß sie im Wald herumgezogen wird.« »Du weißt genau, daß es ihm nicht recht ist, wenn du Eunostos besuchst.« »Das ist mir egal.« Ihre Stimme klang hart wie Bronze. »Eunostos wird sich aber über unseren Besuch freuen.« Wie sollte ich ihr erklären, daß es ihn vielleicht mehr schmerzen würde, sie und Ikaros unter diesen Umständen zu sehen, als überhaupt nicht? Er tat sein Bestes, ein Leben ohne sie und seine Patenkinder aufzubauen. In den vergangenen Wochen hatte er geschuftet wie ein Verrückter, aber auch die Gesellschaft seiner Freunde gesucht. Nach Bion war nun Partridge ebenfalls zu ihm gezogen, und auch so war er selten allein. Nur wenn er sich unbeobachtet fühlte, konnte ich, und bestimmt niemand sonst, sehen, wie nah ihm die Trennung doch ging. »Es ist nur – er hat wieder seine Freundinnen, und das tut ihm auch gut. Du weißt ja, ein zölibatärer Minotaur ist ein kranker Minotaur.« »Ich bin froh«, sagte sie fest, obgleich ihr Gesichtsausdruck mehr sehnsüchtig als froh war. »Hat er – hat er großen Erfolg bei den Mädchen?« »Das kann man wohl sagen. Alle schwärmen von ihm. Er soll der leidenschaftlichste und gleichzeitig zärtlichste Liebhaber im ganzen Wald sein. Man behauptet, er hat jede Dryade zwischen zwölf und vierhundert glücklich gemacht – mit Ausnahme von ein paar übertrieben treuen Frauen in der Zentaurenstadt.« »Und dich, Zoe?« Mein Blick hätte ein Loch in die Flügel einer Bienenkönigin geätzt. »Du weißt genau, daß er mich als seine Tante betrachtet.« »Verzeih«, sagte sie schnell. »Weißt du, ich will ihn ja hauptsächlich Ikaros' wegen besuchen. Du kannst dir nicht
vorstellen, wie Eunostos ihm fehlt.« »Doch, das kann ich. Es ist mir übrigens auch schon aufgefallen. Er ist bei weitem nicht mehr so quietschvergnügt, wie er mit Eunostos immer war. Also geh schon, ich passe auf Thea auf.« * Eunostos fütterte gerade seine Wasserschildkröte – die Nachfolgerin der anderen, die er Kora und Aeacus zur Hochzeit geschenkt hatte. Er blickte überrascht auf, als Ikaros vor Freude, ihn zu sehen, laut krähte. Mit strahlendem Gesicht kam er auf die beiden zu und hob den Jungen aus dem Köcher. Er drückte ihn so überschwenglich an sich, daß Kora schon für Ikaros' Rippen fürchtete. Aber der Kleine erwiderte die Umarmung mit der gleichen Begeisterung, und weigerte sich, zu ihr zurückzukommen. Einen Augenblick beneidete sie ihn. Wäre nicht mein Traum dazwischen gekommen … Aber daran durfte sie nicht denken. »Zwei lange Monate«, murmelte sie. »Und zwei Tage. Komm, setzen wir uns in den Garten.« Er hob Ikaros hoch, daß er quietschte und blickte gleichzeitig heimlich Kora mit einem Ausdruck an, der sich nicht mehr als brüderliche Liebe tarnen ließ. »Ist es jetzt nicht besser in deinem Baum, seit ich euch nicht mehr besuche?« fragte er. »Ich meine …« »Du meinst, ist Aeacus zufriedener? Ich weiß nicht, Eunostos. Ich glaube es nicht. Er spricht nicht sehr viel mit mir. Er lächelt und nickt und schaukelt Thea in der Wiege, und dann geht er mit Chiron jagen. Bist du – bist du glücklich mit deinen Mädchen?« »Oh, ich komme zurecht«, murmelte er und trat verlegen
von einem Huf auf den anderen. »Bringst du sie hierher?« »Nein!« Der Ton war unmißverständlich. »Ich habe dieses Haus für dich gebaut.« Er zögerte. »Liebst du ihn immer noch, Kora?« »Ja. Ich möchte bei ihm sein, selbst wenn er schweigsam ist und ich sein Schweigen nicht lesen kann.« Es war etwas, das eigentlich nicht ausgesprochen gehörte, aber sie war solange still gewesen, und ihre Zunge verriet sie jetzt. »Aber ich liebe auch dich, und die Kinder lieben dich ebenfalls.« »Ikaros, vielleicht.« »Thea auch, wenn man ihr nur die Chance gäbe.« Sie griff nach seiner Hand. Einen Augenblick, nein, mehr als einen Augenblick, beneidete sie die freien, leichtherzigen Dryaden, die seine mehr als brüderlichen Küsse genießen durften. Es war wunderschön, einen Traum zu lieben – es war, als trinke man Wein aus einer lange vergrabenen Flasche und fühlte sich, als könnte man von Wipfel zu Wipfel schweben. Aber dann verlor sich das prickelnde Gefühl, und die Leichtigkeit trocknete wie Tau auf einem Ahornblatt. Einen Minotauren zu lieben, war dagegen, als äße man einen Laib Weizenbrot mit Honig. Es gab kein berauschendes Prickeln, aber es war eine süße und anhaltende Stärkung. »Ikaros ist kein bißchen gewachsen«, murmelte Eunostos. »Hätte er nicht in den beiden Monaten ein bißchen größer werden sollen?« »Er ißt nicht mehr soviel wie zuvor. Du fehlst ihm sehr, Eunostos.« Sie hatte Aeacus in Gedanken bereits betrogen, sie mußte sich nun aber wirklich zurückhalten. »Es wird Zeit, daß wir wieder nach Hause gehen, Eunostos.« »Wartet«, bat er. Sein Gesicht wirkte furchtbar betrübt. »Ich habe noch etwas für Ikaros.« Er rannte in seine Werkstatt und kam mit einer Mütze mit Federzier zurück, die der Junge sich
jauchzend aufsetzen ließ. Eunostos winkte ihnen an der Tür nach. Ikaros weinte. Seine Mutter drückte seinen Kopf an ihre Brust. Nur gut, daß sie den Heimweg auch blind finden würde. Sie blickte kein einziges Mal vom Boden auf. Aeacus war vor ihnen heimgekommen. »Ich habe einen Bären geschossen«, erklärte er. »Wenn du das Fleisch einpökelst, haben wir den ganzen Winter Steak.« »Wir, im Land der Tiere, essen kein Bärenfleisch.« »Auch gut. Wo seid ihr gewesen?« »Zoe besuchen.« »Ikaros hat eine neue Mütze.« »Sie ist von Eunostos. Er hat sie Zoe für uns gegeben.« Glaubte er ihr? Wenn nicht, war er wütend, oder auch nur leicht verärgert? In all dieser Zeit war sie nie in der Lage gewesen, durch sein immer gleichmütiges Lächeln hindurchzublicken. Und doch spürte sie, daß er sich in seiner merkwürdigen, zivilisierten Weise um sie Sorgen machte, sie noch mochte. Es war nicht gerade Liebe, eher die sanfte, mitleidige Zuneigung, die manchmal von der Enttäuschung eines verlorenen Traumes übrigbleibt. In dieser Nacht lag er neben ihr. Er hielt ihre Hand und küßte ihre Wange. »Kora«, sagte er. »Du hast mich über die Dunkelheit der Nacht hinweg gerufen, und ich kam zu dir. War das richtig? Ich bin immer noch ein Eindringling, ich gehöre nicht wirklich zu euch.« »Ich wollte, daß du kommst.« »Aber bist du immer noch glücklich, daß ich deinem Ruf folgte?« »Das bin ich, Aeacus«, erwiderte sie schnell und mit einer Bestimmtheit, die sie nicht empfand. »Dann bin ich es auch. Wir hatten gute Jahre zusammen. Wir dürfen sie nie bereuen. Du hast mir wahrhaft königliche
Kinder geboren.« Dann schwieg er. Er schien eingeschlafen zu sein. Sie küßte seine kühle Stirn, liebte ihn auf ihre Art, obgleich er ihr trotz aller Liebe immer ein wenig fremd geblieben war, nie ganz ihr gehört hatte. Als sie erwachte, war er fort, und die Kinder mit ihm. * Glücklicherweise kam ich zu ihr, ehe sie den Baum verließ. Ich hatte mir Sorgen über die Folgen ihres Besuchs zu Eunostos gemacht, obgleich ich natürlich keine so drastischen erwartet hatte. »Es ist ein langer Weg nach Knossos«, flüsterte sie, »und ich werde wohl nicht viel mitnehmen können. Ein bißchen etwas zu essen und einen Beutel Wein. Und Eicheln für eine Woche.« Sie hatte nicht geweint, dazu nahm sie sich nicht die Zeit. Sie war nur verstört. »Du wirst zumindest drei volle Tage brauchen, bis du Knossos überhaupt erreichst. Du kannst deine Kinder gar nicht rechtzeitig finden, ehe deine Kräfte schwinden, weil du deinem Baum fern bist.« »Vielleicht gelingt es mir, sie unterwegs zu überholen. Die beiden sind schwer, Aeacus wird nicht so schnell vorankommen.« »Und wenn du sie einholst, wie willst du ihn aufhalten?« »Das will ich gar nicht. Ich kann ihn nur bitten, mir die Kinder zurückzugeben.« »Er wird nicht auf dich hören. Ich lasse dich nicht gehen, Kora.« »Du hast die Kraft, mich zu halten. Aber dann mußt du mich töten. Würdest du das fertigbringen, Zoe?« Ich musterte sie und sah die absolute Unnachgiebigkeit einer
Dryade, die zu lange kleines Mädchen gewesen und zu schnell Frau geworden war, und die meinte, was sie sagte. Ich sah den wilden Mut in ihren Augen, der nicht nach Vernunft fragte, und leicht zum Wahnsinn werden konnte. »Ich hole Eunostos. Bleib hier, bis ich mit ihm zurück bin.« »Ich kann nicht warten.« Ich hörte sie gar nicht mehr. Ich rannte mit der Geschwindigkeit Artemis' und fiel mit der Tür ins Haus. »Aeacus hat die Kinder genommen«, schrie ich. »Wohin?« war seine einzige Frage. Er schien nicht einmal überrascht, aber zutiefst bestürzt. »Nach Knossos. Kora ist bei mir. Verfolg ihn mit ihr. Ich komme nach, sobald ich wieder bei Puste bin.« Ich holte sie am Rand des Waldes ein. Eunostos war es wenigstens gelungen, Kora aufzuhalten, bis ich fast bei ihnen war, aber nun befreite sie sich von seinem Griff und marschierte mit großen Schritten auf das Land der Menschen zu. »Heh!« rief ich ihr nach. »Wie willst du denn nach Knossos kommen? Du warst ja noch nie aus dem Wald draußen.« Sie wartete, bis ich sie erreicht hatte. Sie sagte keinen Ton, aber offenbar gaben meine Worte ihr zu denken. »Weißt du denn überhaupt, was die Kreter von uns Tiermenschen halten? Sie würden dich gefangennehmen oder gar töten. Außerdem kannst du nicht so lange von deinem Baum fernbleiben.« »Aber ich bin nicht an einen Baum gebunden!« rief Eunostos. »Ich kann überall gehen. Ich hole deine Kinder für dich, Kora.« »Und wie willst du Hörner, Hufe und Schwanz verstecken?« »Das brauche ich nicht. Ich werde ihnen solche Angst einjagen, daß sie wie Artemisbärinnen vor einem Braunbären davonlaufen.« »Und wenn du Knossos erreichst?« warf ich ein.
»Die Kreter sind keine Unmenschen. Das heißt, die Stadtleute nicht. Der König soll ein gerechter Mann sein. Ich werde ihn bitten, dafür zu sorgen, daß Aeacus die Kinder zurückgibt.« »Und du glaubst, er wird dich anhören? Schließlich handelt es sich um seinen Neffen und seine Nichte, um die Thronerben.« »Ich weiß es nicht. Vielleicht gestattet er wenigstens, daß sie abwechselnd bei Kora und bei ihrem Vater aufwachsen. Wir müssen doch etwas unternehmen, nicht wahr?« »Allerdings. Wir gehen zusammen, Eunostos. Ich verkleide mich als Bäuerin, dann werde ich schon einen Weg finden, dich in die Stadt zu schmuggeln. Du hast recht, der König ist ein gerechter Mann. Er wird zwar vermutlich deinen Wunsch nicht erfüllen, aber er wird dir nichts tun. Und dann handle ich. Ich werde gar nicht mit ihm reden. Ich werde zurückstehlen, was genommen wurde.« »Aber sie sind meine Kinder!« rief Kora. »Ihr tut, als existiere ich überhaupt nicht.« »Kora«, erinnerte ich sie. »Ich bin etwa siebzehnmal so alt wie du. Ich kann zumindest von meinem Baum getrennt sein, ohne daß ich auch nur Kopfweh bekomme. Außerdem bin ich schon viel herumgekommen. Einmal habe ich sogar mein Haar mit Umbra vom Biberteich gefärbt und es über die Ohren gekämmt, und ließ mich von einem kretischen Seemann nach Knossos mitnehmen. Er hat mir dort alles gezeigt – die Tavernen, die Arena, das Theater, den Palast, alles. Ich war schon ganz schwach, als ich in meinen Baum zurückkehrte, aber ich habe keinen Augenblick bereut. Also schluck deinen Stolz, und überlasse die Befreiung deiner Kinder jemanden, der mehr davon versteht.«
13. Die meisten der Tiermenschen hatten sich am Rand des Waldes versammelt, um uns nachzublicken. Ich war die ganze Nacht in meinem Baum geblieben, um seine belebende Kraft in mir aufzunehmen, und ich fühlte mich nun stark und unternehmungslustig. Kora trennte sich von einer Gruppe Dryaden, die sich um sie kümmerten und sie trösteten. Sie warf ihre Arme um meinen Hals und sah mich an. Ihre Augen glänzten feucht, aber sie hielt die Tränen zurück. »Finde meine Kinder für mich, Zoe«, bat sie. Sie war unvorstellbar blaß und wirkte wieder so zerbrechlich wie früher. »Das werde ich, Kora«, versprach ich ihr. »Bei den Brüsten der Großen Mutter, das werde ich.« Eunostos schwieg. Er brauchte nichts zu sagen. Aber sein Lächeln verriet mir seine Gedanken: Du und ich, Tante Zoe, wer könnte uns schon aufhalten? Doch nicht diese unscheinbaren Kreter? Er sollte mir später folgen, so daß er mich erst des Nachts einholen würde. Ich faßte ihn an den Hörnern, diese Geste der Liebe, die er nur von seiner Mutter, Kora und dem kleinen Ikaros erfahren hatte, und küßte ihn auf die Wange. »Sei vorsichtig«, murmelte ich. Und dann verließ ich das Land der Tiere und schritt hinaus auf die Wiese, wo Aeacus vor drei Jahren seine Schlacht geschlagen hatte. * Ich näherte mich dem Bauernhof mit absoluter Zuversicht, daß
ich bekommen würde, was ich wollte: den Ochsenkarren mit den Steinrädern, in denen der Bauer seine Erzeugnisse nach Knossos brachte, und in dem ich den nicht maskierten Eunostos verstecken würde. Ich glitzerte und glänzte wie eine Schlangengottheit in dem busenfreien Gewand, das mein kretischer Liebhaber mir in Knossos erstanden hatte. Ich würde einen Bauern ganz bestimmt beeindrucken. Und das tat ich wohl auch. Der Mann, der hinter seinem Haus Holz hackte, ließ die Axt fallen, als er mich sah. Offenbar gefiel ich ihm, aber ein wenig mißtrauisch schien er auch. Er betrachtete mich von oben bis unten. Ich hatte mein Gewand an recht aufreizenden Stellen aufgerissen, um so meine angebliche Flucht vor Banditen, die es auf meine Ehre abgesehen gehabt hatten, glaubhafter zu machen. Mein mit Umbra gefärbtes und mit Glimmer bestäubtes Haar bedeckte meine Ohrspitzen, und von den Ohrläppchen hingen schwere silberne Ohrringe herab, die bei jedem Schritt klingelten. Ich hatte mich so geschminkt, daß ich zwar nicht wie eine Kurtisane, aber auch nicht wie eine vornehme Dame aussah, sondern eben wie eine erfahrene Frau, die weiß, was sie will. Der Bauer grinste jetzt, bewundernd, wie mir schien. Er war fast ein wenig rundlich, denn den kretischen Bauern geht es nicht schlecht, und trug ein einfaches Lendentuch, das bis fast zu den Knien reichte und über dem sein Bauch sich zu wölben begann. Als ich mich seinem Haus näherte, täuschte ich ein schmerzhaftes Hinken vor und beobachtete heimlich, wie er verstohlen meinen wogenden Busen bewunderte. Er zog den Bauch ein. Jetzt sah er gar nicht so übel aus, und ich schwor, daß ich, wenn nötig, alles für den Ochsenkarren opfern würde. »Achäische Piraten«, erklärte ich ihm in kehligem Flüstern. »Ich wollte meine Base in Gournia besuchen. Wagen gestohlen. Sklaven getötet. Irre schon seit Stunden herum.« Ich schwankte auf ihn zu, und er streckte mir eine stützende Hand
entgegen, die erst auf meiner Schulter lag, dann jedoch auf meine beiden Prunkstücke herunterrutschte. »Wo?« fragte eine strenge Stimme. Es war zweifellos die Frau des Bauern, ein schmales, vogelähnliches Ding. Die stützende Hand hielt inne. »Wo haben sie Euch angegriffen?« »Etwa drei oder vier Meilen von hier. Über dem Berg dort …« Ich machte eine weitausholende Geste, die den ganzen Horizont und zumindest ein Dutzend Berge einschloß. Ich konnte nicht zu genau sein, denn mehr als die Richtung nach Knossos kannte ich nicht. »Aber sie sind zur Küste, zu ihren Schiffen, zurück. Ihr habt nichts zu befürchten.« »Sie könnte Bier vertragen, Chloe«, sagte der Mann schließlich und führte mich durch die Tür. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, dann folgte sie uns ins Haus. Es bestand aus einem Raum mit einem Herd in der Mitte, dessen Rauch einen Weg durch eines der Fenster finden müßte, wenn er angezündet war, einem Strohlager, einem niedrigen Tisch ohne Stühle, und einem riesigen, erstaunlich sauberen Schwein. Nein, gar nicht so erstaunlich, denn Schweine halten sich gern sauber. Wenn sie so dreckig sind wie ihr Ruf, ist gewöhnlich ihr Herr daran schuld. Es gab auch einen hölzernen Küchenschrank, aus dem die Frau zögernd einen Schafledersack mit Bier holte. Nirgends war auch nur ein Staubkörnchen oder gar Ruß, und was mehr, der Schrank war buntbemalt. Ja, das war eben Kreta, wo selbst die Bauern auf Sauberkeit bedacht sind und einen Sinn für Farben haben. »Ich kann euch nicht bezahlen«, murmelte ich. »Sie haben mir alles genommen.« Chloe starrte auf meinen großen Lederbeutel, der schwer genug aussah, Gold und Juwelen zu enthalten. »Außer meinen Ohrringen«, fuhr ich fort. »Es kostete mich fast meine Ehre, sie zu behalten.« Ich warf einen schnellen
Blick auf den Bauern, als wollte ich sagen: Nicht, daß sie unantastbar ist. Ja, das war mein Problem, ihm einzuheizen, und ihr Mißtrauen einzuschläfern. »Sie sind echt Silber. Uralt. Ägyptisch. Ich bin nämlich in Ägypten geboren.« Da ich Kretisch mit einem anderen Akzent als sie sprach, mußte ich es irgendwie erklären. Ich nahm die Ohrringe ab und schenkte sie der Frau. »Hol ihr Käse, Tychon«, piepste sie mit bereits viel freundlicherer Stimme. Sie war schon dabei, sich die Ringe durch die Ohren zu stecken. Sie waren riesengroß für eine so zierliche Frau, die Ringe, meine ich natürlich, daß sie ihr bis an die Schultern herunterbaumelten. Sie betrachtete sich in einem glänzenden Bronzekessel und fand ihren Anblick offensichtlich erfreulich. Erwartungsvoll blickte sie ihren Mann an. »Sie stehen dir gut«, sagte ich, um seine allzu auffällige Aufmerksamkeit von mir auf sie zu lenken. »Findest du nicht auch?« »Ja.« Aber er starrte immer noch mich an, als wollte er, daß lieber ich die Ohrringe trüge. »Er redet nicht viel«, erklärte Chloe. »Glaubt Ihr, Madam, daß …« Sie deutete auf ihr graues Gewand aus Schafwolle, oder vielmehr auf den Teil, der ihre Brüste bedeckte. »Ich glaube«, sagte ich, »du könntest die Ärmel ein bißchen weiter, puffiger machen, von dem Stoff, den du hier herausnimmst …« Auch ich deutete auf den Busen. Der Kommentar ihres Mannes war kurz, aber unmißverständlich. »Nein!« Beleidigt zog die Frau eine Schnute. »Als ob ich nichts zu zeigen hätte.« »Mach der Dame etwas zu essen«, befahl er barsch. Das Abendessen war zwar nicht üppig, aber wohlschmeckend und nahrhaft. Weizenbrot ohne Würmer
und auch nicht zu lange gelagert, frischer Ziegenkäse, Pfefferschoten und Johannisbrot von einem Baum im Hof. Während ich aß, fiel mir auf, daß sowohl meine beiden Gastgeber, als auch das Schwein, mit unverhohlener Faszination auf mich starrten. Meine Schönheit hatte es offenbar dem Bauern angetan, mein Geschenk seiner Frau, und mein Myrrhenduft dem Schwein. Aber in allen drei Augenpaaren schien die gleiche Frage zu liegen: Was wollte ich außer einer Mahlzeit und einem Schlafplatz für die Nacht? Würde ich Tychon bitten, mich in seinem Ochsenkarren in die Stadt zufahren? Würde ich Chloe bitten, mich bei sich aufzunehmen, bis ich nach Freunden schicken konnte, die mich nach Hause holen konnten? Würde Dickerchen, das Schwein, zu kurz kommen, wenn ich auch noch mit durchzufüttern war? »Wenn ich vielleicht die Nacht bei euch verbringen dürfte … Ich brauche kein Bett. Gleich morgen in der Früh verlasse ich euch.« »Zu Fuß?« »Ich gehe gern zu Fuß. Vielleicht treffe ich unterwegs auch einen Bauern, der zum Markt fährt und mich mitnimmt.« »Ich könnte Euch doch fahren.« Ich kam einem Protestschrei Chloes zuvor. »Nein, nein, das könnte ich nie annehmen. Du hast deine Arbeit hier auf dem Hof. Außerdem ist es viel zu gefährlich, eine so hübsche Frau wie deine alleinzulassen, solange sich die Achäer vielleicht noch in der Gegend herumtreiben.« (Ich war nicht umsonst Gefangene der falschen, zungenfertigen Bienenkönigin gewesen!) »Sie würden sie entführen und auf das Festland mitnehmen.« »Gib der Dame das Bier, Tychon, und Dickerchen ebenfalls einen Schluck.« Ich trank tief. Das Bier war gut. An Moschus' Tisch hatte ich
schon schlechteres gekostet. »Ein köstliches Gebräu«, sagte ich dankend, während Tychon das Gesöff in die Schweineschnauze rinnen ließ. Der Augenblick schien mir günstig für meinen nächsten Zug. Stehlen konnte richtiggehend Spaß machen. Kein Wunder, daß die Bienenköniginnen diese Kunst so kultiviert hatten. »Hier ist noch etwas, das ich retten konnte«, murmelte ich, während ich gleichzeitig in meinem Beutel wühlte, der aus extra festem Leder, aber mit vielen winzigen Luftlöchern versehen war. Ich holte zwei Streigen heraus, die ich mir von Amber – eine der Thriaeköniginnen, die mit ihrem Volk in unserem Land geblieben war – ausgeborgt hatte. Sie war recht hilfsbereit, seit Chiron sie beim Stehlen von Sandalen erwischt und gründlich gezüchtigt hatte. »Beim Nabel der Mutter Erde!« rief Chloe. »Was ist das?« »Haustiere. Sanft, folgsam und sehr verschmust.« Ich legte sowohl ihr als auch Tychon einen um den Hals, nachdem sie es mit leichtem Zögern gestatteten. Tychon grinste. »Kitzelt!« bemerkte er. »Sieht aus wie ein Pelzkragen«, murmelte Chloe und begutachtete sich wieder in dem glänzenden Bronzekessel. Offensichtlich gefiel ihr, was sie sah. Tychon gähnte. »Er hat zu schwer gearbeitet. Heu gewendet, Holz gehackt. Tychon, überlaß der Dame dein Lager.« Aber er hatte sich bereits darauf ausgestreckt und schnarchte auch schon. Chloe zuckte die Schultern. »Macht nichts, er redet ohnehin nicht viel. Jetzt können wir noch ein bißchen plaudern.« Ich hatte mir schon ein wenig Hofklatsch für ein eventuelles Gespräch zusammengereimt, aber es kam gar nicht mehr dazu. Chloe schlief ebenfalls urplötzlich ein. Eilig entfernte ich die Streigen, damit sie den beiden keinen dauerhaften Schaden verursachen würden, und steckte sie
wieder in meinen Beutel. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Zoe, altes Mädchen, sagte ich mir. Du wirst dein Kora gegebenes Versprechen halten. Die Dunkelheit war inzwischen hereingebrochen. Mit wenig Begeisterung tauschte ich mein hübsches Gewand gegen ein unauffälliges graues Kleid aus Chloes Schrank. Damit konnte ich ohne weiteres eine Bäuerin vortäuschen. Und Chloe brauchte nur ein paar Risse zu flicken und hatte ein modisches Prunkgewand. Dann kniete ich mich neben sie, um ihr die Ohrringe wieder abzunehmen. Hätten sie mir gehört, ich würde sie ihr nicht mehr wegnehmen. Aber auch sie waren von der Bienenkönigin nebst den Streigen nur geborgt. Ich hatte jedoch Dickerchen, das Schwein, unterschätzt. Es entblößte seine beachtlichen Hauer, und aus dem friedlichen Haustier wurde ein wilder Wächter. Jetzt verstand ich, weshalb Tychon keinen Wachhund benötigte. Dickerchen kam mit bedachten, aber unausweichlichen Bewegungen auf mich zu. Vermutlich überlegte es noch, ob es mich aufspießen oder rammen sollte. Hastig sprang ich auf. Sollte Chloe doch die Ohrringe behalten, solange ich nur den Ochsenkarren bekam. Letzteres war allerdings im Augenblick mehr als zweifelhaft. Es war unmöglich, der stetig näherkommenden Bestie einen Streigen umzuhängen. Wenn ich Dickerchen nur irgendwie besänftigen könnte … Da erinnerte ich mich, mit welchem Genuß es das Bier geschluckt hatte. Eilig leerte ich den Rest in einen Kessel – den gleichen, der Chloe als Spiegel gedient hatte – und schob ihn dem Schwein unter die Schnauze. Es grunzte und begann zu schlürfen. Ich drückte mich an der Wand entlang zur Tür. Dickerchen hörte zu schlürfen auf. Ich blieb stehen, und das Tier soff weiter. Ein betrunkenes Schwein ist offenbar viel anspruchsloser als, nun, sagen wir, ein betrunkener Moschus. Dickerchen leerte
den Kessel, dann tappte es, ohne zu schwanken, zum Lager seines Herrn, lehnte sich bequem gegen ihn und begann auch schon mit ihm um die Wette zu schnarchen. Ich unterdrückte das Verlangen, umzukehren und Chloe die Ohrringe doch noch abzunehmen und so zu riskieren, daß Dickerchen wieder aufwachte. Irgendwie würde ich Amber schon besänftigen können. Ich schlich mich hinaus und war gerade dabei, dem Ochsen gut zuzureden, sich einspannen zu lassen – was er offenbar nicht verstand und sicher nicht wollte –, als Eunostos herbeikam. Er nahm mir sofort das Geschirr aus der Hand und grinste. »Aber Zoe«, murmelte er. »Du brauchst doch nur mit ihm zu sprechen.« Er tat es, und der Ochse ließ sich willig einspannen. »Was hast du ihm gesagt?« fragte ich neugierig, da ich das Geflüster nicht verstanden hatte. »Ich habe ihn eingeladen, mit uns zu kommen. Er fühlte sich geschmeichelt, daß wir ihn als ebenbürtig anerkennen.« »Das hast du großartig gemacht, Eunostos.« »Nicht besser als du deine Sache vorher.« »Nicht so laut. Sie könnten jederzeit wieder aufwachen. So, und jetzt auf den Wagen mit dir.« Er hatte kaum darauf Platz. Er mußte die Arme an die Seiten pressen und das Kinn an die Brust drücken. »Laß mir wenigstens ein Loch zum atmen«, bat er, als ich das Heu auf ihn schaufelte. Aber schließlich durften ja seine Hörner nicht herausragen. Ersticken würde er bestimmt nicht. »Daß du mir ja nicht niest!« warnte ich ihn, ehe ich auf den Kutschbock stieg.
14. Wir waren nun schon drei Tage mit unserem gestohlenen
Ochsenkarren unterwegs und ernährten uns von Brombeeren, Pilzen und Krebsen, die wir in den Bächen fingen. Einmal konnte ich von einer leichtgläubigen Bäuerin Ziegenmilch und Eier erbetteln, nachdem ich ihr eine traurige Geschichte über mich erzählt hatte. Jede Nacht, wenn wir anhielten, um uns auszuruhen, tat mir meine Sitzfläche weh von dem ungefederten Karren. Ich aß meine Eicheln und dachte an meinen Baum. Die letzte Nacht vor Knossos hielt ich zwischen den Ähren Wache, während Eunostos in einem Weiher schwamm und sich vom Reiseschmutz säuberte. Dann löste er mich ab, und ich genoß das kühle Wasser, vorsichtig, damit mein Haar ja nicht naß würde und das Dryadengrün wieder zum Vorschein käme. Ich wage nicht, es eine glückliche Zeit zu nennen, während die kinderlose Kora verzweifelt im Land der Tiere wartete, und wir immer wieder an ihr bleiches, verhärmtes Gesicht dachten. Aber die Pläne, die Risiken und die Hoffnung verbanden uns mit der Kameradschaft von Kriegern, die die Gefahr miteinander teilten, aber auch mit der Zärtlichkeit, die nur zwischen einem Jungen und einer Frau möglich ist, die seine Mutter sein könnte (oder, wenn nicht dieser verdammte Altersunterschied wäre, seine Geliebte). * Am Morgen des vierten Tages lag Knossos in seiner ganzen Schönheit vor uns. »Eunostos«, rief ich. »Wir sind gleich da. Aber wir dürfen nicht zusammen gesehen werden. Wenn wir den Marktplatz erreicht haben, lasse ich den Karren stehen. Gib mir ein paar Minuten, ehe du dich zeigst.« Sein Kopf schob sich durch das Heu. »Es ist wie ein Regenbogen, der vom Himmel gefallen ist!« staunte er. Ich drückte seinen Schädel mit den verräterischen Hörnern
ins Heu zurück. »Doch jetzt noch nicht. Aber du hast recht – wie ein Regenbogen, der jeden Augenblick wieder in den Himmel zurückkehren könnte.« Ich blinzelte. Die Stadt war ein Farbklecks am anderen. Und die Architektur! Es gab Häuser und Hütten und Villen in allen Formen und Farben und in jeder Höhe. Ein solch buntes Durcheinander, sagten die Ägypter abfällig. Wo war die Würde der gedeckten Braunund Grautöne? Ein Chaos von Formen, tadelten sie. Wo blieb die Schönheit der Tempel mit ihren Säulen und Obelisken, so gerade wie Speerschäfte? Aber die Kreter lachten, denn sie liebten ihren gefallenen Regenbogen. Euch gefallen unsere bunten Farben nicht, sagten sie. Seht doch die Wiesen im Frühling! Verletzen die Blumen in ihren buntgemischten Farbenpracht euer Auge? Ihr sagt, unsere Architektur sei wirr. Betrachtet einen Wald. Wachsen die Bäume vielleicht in geraden Reihen? Bilden die Zweige perfekte Formen? Außerdem bauten nicht wir die Stadt. Zeus selbst schuf sie. Als er noch ein kleiner Junge war, sagte die Große Mutter zu ihm: »Dir ist langweilig auf dem Berg, mein Sohn. Geh doch ins Tal hinab und baue eine Stadt, die mein Herz erfreut.« Und das Kind nahm Steine von seinem Berg, Lehm von den Ufern eines Baches, Holz von den Tannen, dann holte es den Regenbogen vom Himmel und rannte ins Tal, ohne einen Plan in seinem noch kleinen, aber klugen Kopf, doch mit einer Vision. Als die Große Mutter die Stadt sah, sagte sie: »Die Straßen sind aber gar nicht gerade«, und KleinZeus erwiderte: »Das sind Flüsse auch nicht.« Und die Große Mutter lächelte. »Zoe, ich dachte, wir sind schon fast da. Ich muß niesen.« »Das sind wir auch. Ich habe nur ein bißchen vor mich hingeträumt. So, und jetzt geht es los.« Knossos war die einzige Stadt der Menschen, die nicht befestigt war – ihre Wälle waren die mächtigen Schiffe. Aber
obgleich sie weder Forts, noch Tore, ja nicht einmal Wächter hatte, war es ein ungeschriebenes Gesetz, daß die Bauern nicht mit ihren Karren, und die Krieger nicht mit ihren Streitwagen in die Stadt einfuhren. Die Bauern boten ihre Trauben, Oliven, Melonen, ihr Öl, und was sie sonst noch verkaufen wollten, in einem weiten offenen Feld zwischen Weinbergen und Ölbaumhainen feil, oder sie besuchten die Stadt zu Fuß, um ihre eigenen Einkäufe zu machen. Sie konnten ihre Karren ruhig unbeaufsichtigt zurücklassen. Diebereien kannte man nur auf dem Lande. In Knossos gab es sie nicht. Das hieß natürlich nicht, daß Knossos eine tugendsame Stadt war – ihr Bierverbrauch und Weinkonsum waren sagenhaft, ihre Liebesgebräuche voll Einfallsreichtum und schier unerschöpflich, aber ihre Sünde (sagten die Ägypter), oder vielmehr ihr Vergnügen (sagten die Knossier) lag im Teilnehmen, nicht im Nehmen. Wenn sie sich der Stadt näherten, vergaßen die Bauern irgendwie ihr Mißtrauen und entspannten sich in brüderlicher und auch anderer Liebe. Gewiß, sie würden immer noch handeln und um einen Preis feilschen, die Stimmen heben, ja vielleicht sogar finster die Miene verziehen – aber in Knossos stehlen? Undenkbar. Es gab keine Wachhunde, ja überhaupt keine Hunde, nur ägyptische Katzen, die sich auf den Dächern sonnten oder hocherhobenen Schwanzes durch die sauberen Straßen stolzierten und keine Sehnsucht nach ihrem eigenen Heimatland hatten. Denn Katzen, wie Kreter, mögen keinen Zwang. Feine Damen und Herren ließen sich von ihren Dienern oder Sklaven durch die verschlungenen Straßen in ihren Sänften tragen, aber alle anderen gingen zu Fuß, denn Knossos war keine riesige Metropole wie Babylon, sondern eine verhältnismäßig kleine Stadt mit kleinen Gebäuden für kleine Menschen, und plumpe Karren oder klirrende Streitwagen
waren so unpassend wie Elefanten in einem Weinberg. Ich hatte den Karren am Rand des Feldes abgestellt, im Schatten eines Ölbaums, da Eunostos unter seiner Heudecke schier verschmachten mußte. »Ich gehe jetzt«, flüsterte ich ihm zu und tat, als spreche ich zu dem Ochsen, falls jemand mich beobachtete. Um meine Worte zu verstehen, war glücklicherweise niemand nah genug. »Sobald du den Palast betreten hast, begebe ich mich zu dem verabredeten Ort und warte bis zum Abend. Wenn du bis dahin nicht gekommen bist, muß ich annehmen, daß man dich mit Gewalt zurückhält. Dann tue ich mein möglichstes, dich zu befreien. Wenn du aber kommst …« »Werde ich die Kinder bei mir haben. Oder aber die Kinder kommen ohne mich. Im letzteren Fall mußt du alles tun, sie so schnell wie möglich in den Wald zurückzubringen. Du darfst dann auf keinen Fall Zeit mit einem Befreiungsversuch verschwenden. Versprichst du mir das, Zoe?« Ich versprach es, aber insgeheim murmelte ich: »Muttergöttin, ich habe es nicht in deinem Namen versprochen.« Ich spazierte langsam von dem Karren weg und mischte mich unter eine Gruppe Bauern. Ich nickte und lächelte, unterhielt mich jedoch nicht, um meinen Akzent nicht zu verraten. Alle redeten, Käufer mit Händlern, Händler mit Käufern. Doch plötzlich verstummten sie. Es war wie das unerwartete Ersterben eines heftigen Windes. Eunostos war vom Karren gestiegen. Ich beobachtete ihn, als er das Heu abschüttelte und auf die gepflasterte Straße zuschritt, die durch das Feld direkt zum Palast führte. Sie werden ihm hier im Schatten der Stadt nichts tun, dachte ich. Auch nicht die abergläubischen Landleute. Doch fürchten werden sie ihn, und einige ihn vielleicht verspotten und jagen. Ich täuschte mich. Sie starrten ihn fast ehrfurchtsvoll an,
diesen zwei Meter zwanzig großen gehörnten und geschwänzten Dämon, der plötzlich aus einem Karren – nein, war es nicht direkt aus leerer Luft? – aufgetaucht war. Sie warfen weder Steine, noch machten sie sich über ihn lustig. Sie bildeten eine Gasse für ihn, als wäre dies seine Stadt, zu der sie gekommen waren und wo sie nur durch seine Gnade bleiben durften. Vielleicht war es seiner Kühnheit wegen, oder vielleicht weil er irgendwie eine unbeschreibbare göttergleiche Ausstrahlung hatte, daß sie ihn für einen Gott und nicht einen Dämon hielten. Nun hatte er die Straße erreicht. Er überholte die Bauern, die zur Audienz mit dem König unterwegs waren, und schritt an den Damen und Herren vorbei, die sich auf dem Markt umsehen wollten. Überraschte Stimmen drangen aus den verhängten Sänften, die Träger blieben stehen. Offenbusige Damen zogen die Vorhänge zurück und schauten neugierig aus den Fenstern. Kinder versammelten sich auf den Flachdächern, deuteten, gestikulierten, aber kein Wort des Spottes oder Hohns war zu vernehmen. Und ein kleiner Junge rief mit heller begeisterter Stimme: »Mama! Ist das ein Minotaur?« »Ja, Sohn. Der letzte, vielleicht.« »Wird er uns etwas tun?« »Ich glaube eher, er wird uns Glück bringen. Siehst du die edlen Hörner? Es sind die gleichen wie die des Gottes, den wir verehren!« Eunostos achtete nicht auf die Menge. Stolz erhobenen Hauptes, in seiner ganzen beachtlichen Größe, schritt er zielbewußt geradeaus. Die Sonne leuchtete auf seiner seidigglänzenden roten Mähne, aus der die Hörner wie mächtige, doch nicht drohende Waffen herausragten. Er stieg auf den weiten Säulenaufgang zum Palasttor. Er brauchte keinen Wald, der ihm Würde verlieh. Er brachte den Wald mit
sich und schritt unerschrocken im Bewußtsein seiner hehren Aufgabe. Wachen marschierten ihm entgegen, nicht, um ihn gefangenzunehmen, sondern als seine Eskorte, und zusammen verschwanden sie zwischen den roten, sich nach unten verjüngenden Pfeilern im Palast Minos' und seines Bruders Aeacus mit den königlichen Kindern, Thea und Ikaros. * Eunostos hatte Angst. Es war ihm, als ertrinke er in einem Bottich voll Honig. Eine Schönheit umgab ihn, die zu schön war, eine Sanftheit, die zu sanft war. Er entdeckte keine Spur einer Drohung hinter einem Lächeln, wie im Gesicht einer Bienenkönigin. Er hätte gegen Ungeheuer und ganz sicher gegen Soldaten kämpfen könen. Und so jung er auch war und so wenig redegewandt, er wäre in der Lage gewesen, gegen barsche oder listige Worte zu argumentieren. Aber diese unerschütterliche Sanftmut, diese Tyrannei der Milde, verwirrte ihn. Die Regenbogenstadt mit ihren Spielzeugmenschen, und jetzt hier der kleine König, mit dem dreibuschigen Kopfputz, auf seinem Greifenthron. Wo waren die Lanzen, die ihm den Weg verwehrten? Die schlanken Jungen, nicht älter als er, die als Wachen dienten – er könnte sie mit einer einzigen Bewegung seines Armes zur Seite schleudern. Außerdem bewachten sie ihn nicht, sondern wiesen ihm den Weg. Er hätte, ihrem Benehmen nach, ein hochgeehrter Abgeordneter eines befreundeten Landes sein können. Der König hielt Audienz. Bauern und Edelleute warteten Seite an Seite. Vor dem König galten sie alle gleich. Sie waren gekommen, um ihm ihre Sorgen vorzutragen, ihre Geschenke zu bringen oder seine Gnade zu erbitten. Eunostos blieb am Eingang stehen. Seine Hufe schienen ihm
so schwer, als wären sie aus Bronze. In seinem Kopf drehte sich alles vor Verwirrung über diese Farbenpracht und die verschiedenartigste Kleidung der Bittsteller. Die bunten Lendentücher der Männer unterschieden sich nicht allzusehr voneinander, obgleich einige bis zu den Knien reichten und andere so knapp waren, daß sie gerade noch ihren Zweck erfüllten. Aber die Frauen … Da waren Röcke wie Glocken, andere wie umgestülpte Krokusse, wieder andere wie Kronen mit vielen Rüschen, und hier stand eine Dame mit – wie war doch nur das Wort? Nicht einmal Männer trugen so etwas, ausgenommen in einigen Landstrichen im Osten. Ah ja, Pluderhose, hieß es. Der König lächelte und winkte ihn sofort zu sich. Eunostos ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken. Er kniete sich vor den Thron, wie ich es ihm gezeigt hatte. »Steh auf und sprich.« »Ich komme aus dem Land der Tiere«, begann Eunostos. »Ich weiß, mein Sohn.« Minos war ein König mit jungem Gesicht und Haar so weiß wie der Schaum der Wellenkronen. Sein Lendentuch war mit prächtigen Muscheln besteckt, Bänder aus Lapislazuli schmückten seine Arme, und aneinandergefädelte Korallen seinen Hals. Es war weibische Zier, aber nichts Weibisches war an dem Mann. Eunostos mochte ihn sofort. Er ist mehr als Aeacus, dachte er, mehr als sein Volk. Er ist stärker und doch gütiger. An Aeacus' Stelle hätte er nur die Heilung seiner Wunden abgewartet und wäre nicht im Land der Tiere geblieben, um das Herz einer Dryade zu stehlen. Und wäre er doch geblieben, er hätte sie nie verlassen. »Du bist Eunostos, der letzte der Minotauren. Mein Bruder hat mir von dir erzählt. Du warst sein Freund. Ich habe nach ihm geschickt. Er wird gleich hier sein.« Aeacus betrat ohne Erstaunen den Saal, und ohne zu zögern
schritt er auf Eunostos zu, als hätten sie sich zu einem Jagdausflug verabredet wie in alten Tagen. Im Wald war er ein schöner Fremder gewesen. Hier gehörte er her, und hier war der richtige Rahmen für seine Schönheit. Er trug keinen Schmuck außer einer Silberspange im Haar. Er brauchte auch keinen, mit seinem geschmeidigen bronzefarbigen Körper und dem seidenschwarzen Haar. Eunostos fühlte sich ungepflegt neben ihm, in seinem grauen Lendentuch aus grobgesponnener Wolle, mit den einzelnen Heuhalmen, die noch an seinen Armen und Beinen klebten, und seinen Hufen, den plumpen, lächerlichen Hufen, die keine Sandalen auf der ganzen Welt verbergen könnten. Und doch lachte niemand ihn aus. Selbst Aeacus betrachtete ihn, wie Eunostos schien, mit widerwilliger Bewunderung. Der Prinz hielt ihm die Hand in der nichtvergessenen Geste der Kameradschaft entgegen. Eunostos erwiderte sie nicht. Die Schönen, die Kummer und Leid zufügten, dachte er. Kora und Aeacus. Sie lächeln, und ihre Feinde strecken die Waffen und verlieren ihre Herzen. Sie können nur von ihresgleichen verwundet werden. Und ich in meiner Ungeschlachtheit und Häßlichkeit wagte es, an diesen Quell der Schönheit zu kommen. Fast verstohlen ließ Aeacus die Hand sinken. Fast zu schnell sagte er: »Ich habe deine Freundin geliebt, Eunostos. Ich liebe sie immer noch, auf meine Art. Aber ich liebe meine Kinder mehr. Möchtest du ihnen all dies …«, er machte eine weitausholende Gebärde, »… vorenthalten?« Und er schien damit nicht nur den Palast, sondern die ganze Insel, das ganze minorische Imperium zu meinen. »Können sie denn nicht beides haben?« rief Eunostos. »Den Wald und die Stadt?« Sein Ruf war wie das Brüllen eines verwundeten Bullen. »Kora ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ich glaube, sie wird ohne ihre Kinder sterben.«
»Sie hat ihre Freunde, Eunostos. Dich und Zoe und all die anderen. Gute Freunde. Ich hätte sie gern nach Knossos gebracht. Aber sie wäre in der Stadt, fern von ihrem Baum, gestorben. Das weißt du besser als ich. Wären die Kinder nicht gewesen, ich hätte sie nie verlassen. Aber die beiden sind königlichen Blutes. Glaubst du wirklich, daß ich sie in den Wald zurückschicken kann, wo es Wölfe gibt und ziegenhufige Diebe und Bienenköniginnen, die sie entführen könnten?« »Hast du unseren Wald gesehen?« Es war gleichzeitig eine Anklage und ein Wehschrei. »Nicht dich, Eunostos. Dich mochte ich vom ersten Augenblick, als du meine Wunden heilen wolltest. Ich habe auch nicht aufgehört, dich zu mögen, auch nicht, als ich dir mein Haus verbot.« »Es stimmt, ich liebe Kora. Aber ich hätte sie dir nie wegnehmen können. Ich hätte es auch nie versucht.« »Es war nicht Kora, die ich an dich zu verlieren befürchtete.« »Nicht Kora?« »Nein, meine Kinder. Meinen Sohn, zumindest. Ich will ehrlich sein, ich habe ihn bereits an dich verloren. Nun muß ich mein Bestes tun, um ihn zurückzugewinnen. Ihn zu lehren, ein Königreich zu regieren. Dich fürchtete ich, Eunostos, denn je länger er dich kannte, desto unmöglicher wäre es mir gewesen, ihn aus dem Wald wegzubekommen. Und das ist der Grund, weshalb er nicht mit dir zurückkehren darf.« »Aber du kannst doch nicht mich fürchten!« rief der Minotaur. »Ich bin nur ein tolpatschiger Zimmermann, der über seine eigenen Hufe stolpert.« »Der wild und doch sanft ist, frei und doch von den bronzenen Banden der Liebe gebunden, und verantwortungsbewußt. Es sind zwei Wälder, Eunostos. Einen fürchtete ich ein wenig nur – den Wald der Wölfe und Diebe.
Aber deinen – und dich –, davor hatte ich heilige Angst. Der erste war eine Gefahr, die ich zu bekämpfen wußte. Der zweite war ein mächtiger Zauber, gegen den ich keine Verteidigung außer Flucht kannte.« »Ich wollte nicht, daß du meinetwegen Angst hast. Ich hoffe, Ikaros liebt mich, aber ich dachte mit keinem Gedanken daran, ihn dir, seinem Vater, wegzunehmen. Ich habe nie geglaubt, daß mich jemand so sehr lieben könnte wie dich. Kora konnte es nicht.« »Selbst sie kehrte am Ende zu dir zurück. Ihr Herz, meine ich. Du siehst also, daß ich sie nicht wirklich im Stich gelassen habe. Ich überließ sie dir.« Aeacus verwirrte ihn mit diesen seltsamen Komplimenten. Wer konnte schon einem Menschen trauen? Aeacus wollte es ihm mit dieser Lüge nur nicht so schwermachen. Er wandte sich mit einem letzten verzweifelten Flehen an den König. »Die Achäer haben eine Göttin, die vom Herren der Unterwelt geraubt wurde. Nicht von dem gütigen Greifenrichter, sondern von einem grausamen Tyrannen namens Hades. Ihre Mutter – ich weiß nicht, ob es unsere Große Mutter war – trauerte um sie und wanderte durch die ganze Welt, um sie zu suchen. Zeus empfand Mitleid mit ihr und gestattete dem Mädchen, die Hälfte jedes Jahres auf der Oberfläche zu verbringen. Sogar im Land der Tiere wissen wir, daß du ein gerechter König bist und vor dir Bauern und Edelleute gleich sind. Was ist mit uns Tiermenschen? Unsere Rassen waren vor langer Zeit einmal befreundet. Ich weiß nicht, was Zwiespalt zwischen uns säte. Vereine uns wieder! Werde unser Zeus, großer König. Laß Kora für die Hälfte eines jeden Jahres ihre Kinder haben. Die Große Mutter wird dir dafür danken.« Minos antwortete bedächtig. Er war nicht Aeacus, Worte fielen ihm nicht leicht. »Die Göttin, von der du sprichst, wurde
von einem fremden Gott gestohlen. Einen Vater kann man nicht des Entführens seiner eigenen Kinder bezichtigen. Die beiden sind meine Erben, Eunostos. Du siehst mich hier als Herrscher in all diesem Prunk. Du hast von meiner Flotte gehört, die die Achäer in Schranken hält. Wir stehen mit den Ägyptern auf freundschaftlichem Fuß, und die dekadenten Babylonier verhalten sich neutral. Meine Schiffe fahren bis jenseits der Nebelinseln und umsegeln die große schwarze Insel im Süden. Was du siehst und denkst und hörst, hat im Augenblick Gültigkeit. Es stimmt, daß ich reich und durch meine Schiffe mächtig bin. Doch unausbleiblich werden schlechte Zeiten kommen. Ich muß darauf vorbereitet sein. Ich muß um meine Macht kämpfen und dafür sorgen, daß sie nach mir in fähige Hände übergeht. Mein Bruder hat recht gesprochen, obgleich er sich ins Unrecht setzte, als er deine Freundin heiratete. Ich bedauere es aufrichtig, daß Kora leiden muß, damit ein großes Reich gut und gerecht regiert werden kann. Du mußt verstehen, daß Ikaros und Thea lernen müssen, zu herrschen, und nicht frei und ungebunden in einem Wald herumlaufen dürfen, wie es zweifellos viele von uns gern möchten. Glaubst du denn, mir macht es Spaß, auf diesem Thron zu sitzen, zu tun, als wäre ich ein Gott, und diesen Mann zu verdammen und den anderen auszuzeichnen und meine Schiffe in die Schlacht zu schicken? Nein, Eunostos, ich würde viel lieber mit dir in deinem Wald jagen gehen, und Bier mit deiner Freundin Zoe trinken, und mir Chirons Reiseberichte anhören. Aber ich folge dem Willen der Großen Mutter, die mich geehrt und verdammt hat, König zu sein.« »Aber es sind doch zwei Erben. Kann ich nicht wenigstens einen von ihnen zu ihrer Mutter zurückbringen? Für eine kleine Weile wenigstens?« »Ja, es sind zwei. Doch werden beide aufwachsen, um zu herrschen? Die Große Mutter schickt den Tod selbst in das
glückliche Knossos. Die heimkehrenden Schiffe bringen die Pest, der Winter trägt kalte Nordwinde herbei. Ich selbst war als Kind sehr krank, und der Dämon der Seuchen verwehrte mir die Gnade, Nachwuchs zu zeugen. Nein, mein Sohn, beide Kinder müssen in Knossos bleiben.« Das war das Schlimmste von allem: daß Minos gerecht war. Eunostos wußte, an des Königs Statt hätte er die gleiche Antwort gegeben. Doch er konnte dagegen ankämpfen. Seine Verbündeten waren Hoffnung und Mut, und zu seiner eigenen Überraschung eine Listigkeit, die einer Bienenkönigin Ehre gemacht hätte. »Darf ich die Kinder wenigstens sehen, um ihnen Lebwohl zu sagen?« Wie leicht es ihm fiel, für Kora zu lügen. Und er schämte sich nicht einmal. Aeacus' Lächeln verdüsterte sich. »Es wird alles nur schlimmer machen, Eunostos. Ikaros weint ohnedies jeden Tag nach dir. Wenn er dich wiedersieht, wird es ihm noch schwerer fallen, dich erneut zu verlieren.« »Zumindest kann ich ihrer Mutter sagen, daß es ihnen gutgeht. Sie glaubt, daß die Trennung vom Baum ihnen schade.« »Deshalb braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Chiron versicherte mir, daß sie ohne ihren Baum leben könnten, obgleich er natürlich nicht ahnte, weshalb ich ihn fragte.« »Ja, du darfst dich von ihnen verabschieden, Eunostos«, bestimmte der König. Aeacus' Gesicht färbte sich tiefrot. »Mein Bruder …« Minos unterbrach ihn. »Eunostos hat sein Leben riskiert, um die Kinder zu ihrer Mutter zurückzubringen. Die Große Mutter, dessen bin ich sicher, würde wollen, daß er sie ein letztes Mal sieht. In unserem Familienschrein verehren wir ihren Sohn in der Gestalt eines Bullen. Eunostos ist der
Göttlichkeit näher als du und ich.« »Darf ich sie in dem Garten mit dem Goldfischteich sehen?« Aeacus vergaß seinen Ärger. »Du erinnerst dich, daß ich dir davon erzählte? Es ist schon drei Jahre her!« »Du hast dort als Junge gespielt. Es klang so sehnsüchtig, daß auch ich einmal dort sein möchte. Und ich ziehe es vor, die Kinder im Freien, nicht unter einem Dach zu sehen. Ein ganz klein wenig ist es dann wie im Wald.« * Er wartete neben dem Teich. Die Goldfische tummelten sich zwischen glitzernden Muscheln und leuchtenden Korallen. Blaue Lotosblumen öffneten ihre Blätter der Sonne. Oleander und Palmen aus Libyen spiegelten sich im Wasser. Wilder Wein rankte an der Mauer, und ein Äffchen tollte zwischen den Blumen umher. Hier war Koras Traum – und Aeacus' Wirklichkeit. Aeacus kam aus dem Palast in den Garten. Er trug Ikaros auf dem Arm und führte Thea an der Hand. Es begleiteten sie keine Wachen. Es schien auch keine Notwendigkeit dafür, da die Mauern zum Erklettern zu hoch waren. Thea ließ ihres Vaters Hand los und kam auf Eunostos zu. Außerhalb des Waldes schien sie ihn nicht zu fürchten. Vielleicht, dachte er, erinnerte sie sich, daß ich nur kurze Zeit ein gehörnter Dämon schien. Vielleicht erinnert sie sich an mich nur als an den, der sie liebte. Sie umarmte ihn nicht, aber sie lächelte ihn an und berührte seine Hand. Er streichelte ihr den Kopf. Unbeabsichtigt schob er dabei das Haar über der Ohrspitze zurück. Sorgsam zog sie die Löckchen wieder darüber und kehrte zu ihrem Vater zurück. Ikaros schien sich inzwischen aus dem Schlaf zu kämpfen. Er blinzelte. Seine Augen waren rot wie von zu vielem Weinen.
Da erkannte er Eunostos. Als er schrie, versteckte sich das Äffchen erschrocken unter dem Oleander, und die Goldfische hinter den Muscheln. Er strampelte aus den Armen seines Vaters. Eunostos fing ihn auf. Er ließ sich auf die Knie fallen und lachte und drückte ihn mit wortloser Zärtlichkeit an sich. Er liebte ihn um Koras willen und als wäre er sein eigener Sohn. »Sprich mit ihm, Eunostos. Versuche ihm zu erklären, weshalb er hier bei mir bleiben muß. Er liebt dich mehr als alles andere, das ist mir klar. Aber er gehört hierher.« »Ich glaube nicht, daß er meine Worte verstehen wird.« »Du brauchst keine Worte dazu. Du hast sie nie gebraucht!« Aeacus drehte sich abrupt um und kehrte mit Thea in den Palast zurück. Eunostos rief ihm nach: »Warte doch. Laß auch sie ein wenig bleiben.« Aber die beiden waren bereits im Innern verschwunden. Er wußte, daß er sie nun verloren hatte, und der Verlust war bitter wie Eichensaft, aber Thea hatte den Wald nie geliebt. Es war nur gerecht, wenn auch schmerzhaft für Kora, daß eines der Kinder beim Vater bleiben und aufwachsen sollte, um Königin zu werden. Doch nun mußte er Ikaros retten. Es blieb keine Zeit für Worte, außer jenen, die eventuelle, hinter der Tür verborgene, Wächter einlullen sollten. »Es müßte hier eine Schildkröte geben«, sagte er. »Sollen wir nachschauen, ob sie sich unter dem Weinlaub versteckt hat?« Ikaros nickte begeistert. Er hätte es sicher auch getan, wenn Eunostos gesagt hätte: »Soll ich dich in den Teich werfen?« Eunostos schritt schnell mit ihm zur Mauer und stieß mit dem Huf forschend an ihr hinter den Reben entlang. Ja, da war der alte Spalt noch, durch den Aeacus' Schildkröte entschlüpft war. Hastig schob der Minotaur den Wein zur Seite, um die Öffnung zu vergrößern. Sie war eng, sehr eng, aber doch gerade weit genug, um Ikaros hindurchzubekommen.
»Zoe«, flüsterte er. »Ja, Eunostos. Ich bin hier. Der Hof ist leer. Niemand kann mich von der Straße aus sehen.« »Thea kommt nicht mit. Ruf Ikaros.« »Ikaros! Ikaros! Hörst du mich? Hier ist deine Tante Zoe.« »Geh zu ihr, Ikaros.« Kommst du nach? schienen die Kinderaugen zu fragen. »Ja, mein Junge. Ich komme nach.« Er küßte ihn auf das dichte grüne Haar und schob ihn so weit durch den Spalt, wie seine Hände reichten. Es war das erstemal, daß er das Kind belog. Selbst im glücklichen Knossos, mußte es Kerker für jene geben, die eines Prinzen Sohn entführen halfen. Vermutlich gab es auch Hinrichtungen. Aber die Hauptsache war, Zoe konnte mit Ikaros aus der Stadt entkommen. Er war gerade zum Teich geschlendert, als Aeacus zurückkehrte. »Aber du bist doch eben erst weg«, sagte Eunostos ruhig. »Wir spielen Verstecken. Ikaros verbirgt sich zwischen den Oleanderbüschen.« »Dann ruf ihn. Es ist das beste, du machst dich jetzt auf den Heimweg. Kora soll möglichst schnell erfahren, wie die Dinge stehen. Sag ihr … sag ihr, sie ist immer noch mein Traum.« »Ich werde es ihr sagen.« »Wo ist Ikaros denn?« Aeacus schritt durch den Garten und schaute hinter die Sträucher. »Er kann ja nicht weit sein. Es gibt doch keinen Weg aus dem Garten als durch die Tür. Sonst hättest du ihn wohl kaum mit mir alleingelassen.« »Außer …« Aeacus starrte auf den zertretenen Wein am Fuß der Mauer. »Du erinnerst dich an mehr als ich dachte. Wachen!« Der Garten wimmelte plötzlich von behenden jungen Kretern mit entschlossenen Mienen und Dolchen in den
Händen. »Mein Sohn wurde entführt – von dem, Eunostos? Wer begleitete dich und wartete jenseits der Mauer?« »Ich kam allein.« »Ich glaube dir nicht. Du liebst Ikaros zu sehr, als daß du ihn schutzlos in die Stadt hinausgestoßen hättest. Kora kann es nicht sein. Sie würde die Reise nicht überleben. Also Zoe, nicht wahr? Ja, nur Zoe. Sie allein hat sowohl den Mut als auch die Kraft.« In aller Eile beschrieb er sie den Wachen. »Ziemlich groß, gutaussehend, aber nicht mehr ganz jung. Zweifellos als Bäuerin verkleidet. Sie wird Ikaros unter ihrem Rock versteckt haben. Alarmiert die Garnison. Gestattet niemandem, die Stadt zu verlassen.« Aber es mußte Tausende von Frauen in Knossos geben, auf die diese Beschreibung zutraf. Und die Stadt hatte keine Mauern und nur eine kleine Garnison. Was mehr, Zoe war tatsächlich mutig und stark, und die mit Karren und Eseln und Ochsen und Bauern überfüllten Straßen außerhalb der Stadt führten in viele Richtungen … Doch da, der Schrei – der Schrei voll Liebe und Ungeduld: »Eunostos!« Ikaros kam durch den Spalt zurück. Er kreischte vor Wonne, als er seinen großen Freund sah. Und während er auf ihn zutrippelte, entfernte er sich im Grunde unaufhaltsam und unwiederbringlich von ihm, und näherte sich dadurch dem Greifenthron, der nun doch sein werden würde.
15. Schweigsam fuhren wir, Eunostos und ich, in dem gleichen Karren, der uns nach Knossos gebracht hatte, zurück. Doch nun begleiteten uns sechs kretische Reiter auf hethitischen
Streitrossen. Es war nicht länger nötig, Eunostos unter dem Heu zu verstecken. Die ganze Insel wußte bereits von dem Minotauren und der Dryade, die nach Knossos gekommen waren, um Aeacus Kinder zu stehlen, und die sieben Tage im Kerker schmachteten, bis der König, gegen den Protest seines Bruders, bestimmte, daß sie in den Wald zurückgebracht würden. Wir seien keine Verbrecher, sagte er. Wir waren nur gekommen, um einer Mutter die Kinder zurückzubringen, und das war, von unserer Sicht aus, unser gutes Recht. Doch nach kretischen Gesetzen müßten wir mit Kerker und Tod rechnen, wenn wir es je wagen sollten, wieder nach Knossos zu kommen. Eunostos hatte mir keine Vorwürfe gemacht, daß es Ikaros gelungen war, mir zu entwischen und durch den Spalt in den Garten zurückzukehren, um nach ihm zu suchen. »Ich hatte ihn unter meinem Rock verborgen«, erklärte ich verlegen, »und hielt ihn darunter fest. Doch noch ehe wir die Straße erreichten, entwand er sich meinem Griff. Er hatte Angst vor der Dunkelheit darunter, nehme ich an, und er wollte zu dir.« Ich erwähnte nicht, daß ich es ihm möglicherweise leicht gemacht hatte, weil ich die Stadt nicht ohne Eunostos verlassen wollte. Ich hatte gehofft, ich hatte gewagt zu hoffen, daß der König Eunostos beide Kinder geben oder ihm zumindest versprechen würde, daß sie einen Teil der Zeit bei Kora verbringen dürften. Aber als Ikaros durch den Spalt tapste und Eunostos flüsterte, »Thea kommt nicht mit«, da wußte ich, daß Eunostos im Palast bleiben mußte, und ich hätte freudig, wenn auch nicht absichtlich, Ikaros für meinen geliebten Freund ausgetauscht. Aber ich machte mir keine Vorwürfe. Ikaros war aus Liebe zu Eunostos umgekehrt. Vielleicht hatte ich es aus dem gleichen Grund zugelassen. Für seine Liebe muß man immer Opfer bringen. »Ihr dürft nun absitzen«, erklärte der Hauptmann der Reiter.
Alle sechs sahen uns zu, als wir vom Karren stiegen und das letzte Stück Wiese zu unserem Land überquerten. Der Hauptmann rief uns noch nach. »Ist der Wald ein glücklicher Ort? Mit den Dryaden, meine ich, und den Häusern in den Bäumen, und den Werkstätten unter der Erde? Nachdem ich euch kennengelernt habe, stelle ich es mir dort zauberhaft vor.« »Ich weiß nicht, ob es zauberhaft ist«, Eunostos drehte sich zu ihm um. »Für uns ist es das Zuhause. Und zweifellos war es ein glücklicher Ort. Ich wollte, du könntest uns einmal besuchen. Aber Chiron würde es nicht gestatten.« Er blickte ihn fest an. »Danke, daß ihr uns begleitet habt. Ihr bringt doch dem Bauern seinen Karren und den Ochsen zurück, nicht wahr?« »Das verspreche ich euch. Und ich wollte, ihr hättet die Kinder bekommen können.« Er stieß seinem Pferd die Fersen in die Weichen und gab seinen Männern den Befehl, den Karren zu dem Bauern zu bringen. »Eunostos«, sagte ich. »Ich bin entsetzlich müde. Zwei Wochen bin ich schon meinem Baum fern und eine ganze Woche ohne Eicheln. Ich muß mich ausruhen, ehe wir Kora aufsuchen.« Er blickte mich besorgt an. Zärtlichkeit vermischte sich mit Müdigkeit in seiner Miene. Er hatte mich selten klagen gehört. »Natürlich, Tante Zoe.« »Eunostos! Zoe! Wo sind die Kinder?« Es war Partridge. »Ich bin jeden Tag hierhergekommen, um nach euch Ausschau zu halten.« Er ließ seinen Zwiebellauch fallen und schlang die Arme um Eunostos. »Was ist in Knossos geschehen?« »Wir konnten sie nicht bekommen«, murmelte Eunostos und erwiderte die Umarmung müde, aber dankbar. »Der König ließ sie nicht gehen. Sie müssen bei ihrem Vater bleiben und lernen, wie man über ein Königreich herrscht.«
»Kann man nichts machen. Aber du hast ja noch mich.« »Ja, alter Freund, ich habe noch dich. Ich bin froh, daß du auf mich gewartet hast. Ich bringe jetzt Zoe zu ihrem Baum. Den Besuch machen wir später. Du und ich und Bion.« Ich war so erschöpft, daß ich mich auf Eunostos stützen mußte. Ich fühlte mich, als habe ein Streig mich zu seiner Abendmahlzeit erkoren. Meine Handflächen waren feucht, und mein Haar klebte in Strähnen um meine Ohren. »Sobald du mich zu meinem Baum gebracht hast, gehst du schon voraus zu Kora und berichtest ihr.« »Ja, Zoe.« Er half mir die Leiter hoch und auf meine Couch, und deckte einen Wolfpelz über meine zitternden Glieder. Ich dachte natürlich, daß er ohne mich gehen würde und muß wohl eingeschlafen sein. Ich erwachte etwa eine Stunde später. Inzwischen hatte die Ausstrahlung meines Baumes mich bereits gestärkt. Eunostos saß immer noch neben meiner Couch. »Ich sagte dir doch, du sollst schon vorausgehen. Kora muß alles erfahren, und du warst derjenige, der es ihr berichten sollte. Inzwischen hat Partridge ihr vielleicht alles mögliche erzählt.« »Ich wollte dich nicht so lange alleinlassen. Du hast ausgesehen, als hättest du Fieber, und dann hast du plötzlich über den ganzen Körper gezittert. Offensichtlich fühlst du dich aber jetzt wieder besser. Komm, iß ein paar Eicheln.« Er hatte meine Feuerschale angezündet, die Kohlen mußte er sich von einer meiner Nachbarinnen ausgeborgt und Eicheln für mich geröstet haben, während ich schlief. »Ich werde sie unterwegs essen.« »Fühlst du dich wirklich stark genug?« »Aber natürlich. Ich hatte kein Fieber, sondern was man bei uns die Baumkrankheit nennt.«
Er half mir die Leiter herunter, als wäre ich eine Greisin, und ich wurde schon fast unmutig, obgleich es wohl mehr daran lag, daß ich die unangenehme Aufgabe hinter mich bringen wollte, Kora die Wahrheit zu gestehen. Wie soll man einer Mutter sagen, daß sie ihre Kinder verloren hat? Den Rauch sahen wir, als wir zur Wiese kamen. Wir fingen zu rennen an. Flammen umhüllten den Stamm von Koras Eiche, und die Äste waren sich windende Feuerzungen. Einen Augenblick schien mir, als wäre der Baum selbst Kora. Ich dachte, ich sähe ihr schmerzverzerrtes Gesicht im glühenden Laub, ich glaubte, ich höre sie schreien, aber es war nur das dünne, gespenstische Wimmern des brennenden Holzes. Andere waren uns schon zuvorgekommen: Partridge und Bion und eine Menge Dryaden, und Myrrha, die – wie wir später erfuhren – eben erst von der Zentaurenstadt zurückgekommen und also nicht zu Hause gewesen war, als der Baum Feuer fing. Eunostos stürmte auf den tödlichen Flammenherd zu. »Nein!« Die Stimme war wie der Stich einer Biene im Ohr. Es war die sonst so sanfte Myrrha. »Nein, Eunostos.« Er blieb wie erstarrt stehen und hörte ihr zu, ohne die Augen von der brennenden Eiche zu nehmen. »Der Baum ist nicht mehr zu retten. Kora ist tot oder im Sterben. Selbst wenn es dir gelingen sollte, sie aus den Flammen zu befreien, hilfst du ihr nicht. Du würdest ihre Qualen nur verlängern. Gestatte ihr, in Würde den selbsterwählten Tod zu sterben.« Er starrte von Myrrha zum Baum. Ein Zweig knisterte und fiel auf den Boden. Partridge stampfte darauf, um die Funken auszutreten. Die Eiche war eine einzige zitternde Flamme. Gnädigerweise kam kein Geräusch aus dem Stamm, nicht einmal ein unterdrücktes Schluchzen. Die stille Kora brach ihr
Schweigen nicht. »Verstehst du denn nicht? Kora selbst hat das Feuer gelegt.« Eunostos sank auf die Knie. Er streckte die Arme aus, als könnte er die Flammen irgendwie beschwören, zu erlöschen oder Kora zurückzubringen. Partridge rannte zu ihm und rief: »Es ist meine Schuld, Eunostos. Ich habe es ihr gesagt. Ich wollte nicht, daß du es tun müßtest. Es ist meine Schuld!« »Es ist niemandes Schuld«, versicherte ich dem Paniskus. »Jemand mußte es ihr sagen. Geh zu Myrrha und bring sie zu den Zentauren, dort kann sie sicher eine Weile bleiben. Ich kümmere mich um Eunostos.« Ein letztes Mal blickte ich auf den Baum. Wieder schien ich Kora zu sehen. Doch diesmal war sie in den Farben des Herbstes gekleidet, nicht in ihr übliches Grün, und sie war von unirdischer Gelassenheit. Ohne Bedauern verschenkte sie den Sommer, sie blickte furchtlos dem Winter entgegen, und harrte des immerblühenden Affodils der Unterwelt. * Eunostos zog sich in seine Kalksteinhöhle zurück. Bion brachte ihm Nüsse, Patridge Zwiebellauch. Sie versuchten, ihn mit den Neuigkeiten im Wald aufzuheitern: Phlebas' Streit mit Amber über Diebesgut; Myrrhas Umzug in eine Eiche am Rand der Zentaurenstadt. Ich besuchte ihn jeden Tag mit einem Eimer Milch – er verweigerte Bier –, und setzte mich manchmal zu ihm. Er hätte mich nicht gehört, selbst wenn ich zu ihm gesprochen hätte. Er würde vielleicht nicken, ja möglicherweise sogar lächeln, doch seine Gedanken waren in der niewiederkehrenden Vergangenheit. Diese starken, so praktisch veranlagten Minotauren, zu Handwerkern und Bauern geboren – wie oft vergessen wir, daß sie auch Poeten sind? Und es ist das unentrinnbare Los
der Poeten, zu übersehen, daß es auch Sommer gibt, nicht nur Frühling. Dann, nach drei Tagen, kam er zu mir – eine müde, kalkbestaubte Gestalt, mit Kornrade in der Mähne – und sank auf den Boden. Ich saß auf der Couch und glättete sein Haar mit einem Holzkamm (er mochte meinen Schildpattkamm nicht. Er war der Ansicht, daß man auch eine tote Schildkröte nicht ihrer Hülle berauben dürfte.) »Tante Zoe, gab es je eine Zeit, als dir alles genommen wurde?« »Es gab Zeiten, da glaubte ich es.« »Aber ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Ich hätte lernen können, ohne Kora zu leben. Auf gewisse Weise war es mir sogar schon gelungen. Eines Tages werde ich mich auch mit ihrem Tod abfinden, da sie ihn selbst wollte. Aber die Kinder. Ikaros …« »Du bist dir so sicher, daß du nie wieder lieben wirst? Du bist erst achtzehn. Was ist mit den nächsten fünfhundert Jahren?« »Ich bin schon fast neunzehn. Ja, ganz sicher. Vor drei Jahren war ich so glücklich, Tante Zoe. So glücklich! Ich dachte, ich hätte alles, was ich mir wünschen konnte, außer meinen Eltern. Doch von ihnen wußte ich, daß es ihnen gut geht in der Unterwelt.« »Es ist nicht im Sinn der Großen Mutter, daß wir alles haben. Hätten wir es, brauchten wir sie nicht. Und selbst eine Göttin möchte, daß man sie braucht. Die Glücklicheren unter uns bekommen die Hälfte ihrer Wünsche erfüllt, und das ist schon sehr viel.« Ich mußte unwillkürlich lächeln. »Jetzt rede ich schon fast wie Moschus, wenn er zuviel Bier getrunken hat und sich für einen Philosophen hält. Aber eines weiß ich sicher. Du hast nicht alles verloren. Du hast immer noch deine Freunde. Vergiß das nicht!«
»Aber Kora und die Kinder …« »Kora ist tot. Du kannst sie nicht aus der Unterwelt zurückholen. Aber du darfst sicher sein, daß der Greifenrichter ein gnädiges Urteil über sie fällte. Sie ist jetzt glücklich in einer noch schöneren Welt. Und ihre Kinder leben und werden von ihrem Vater und Onkel geliebt.« »Aber ich werde sie nie wiedersehen.« »Nie ist ein Wort für Zyniker. Ich behaupte nicht, eine Prophetin zu sein. Aber wie vielen meiner Rasse ist mir manchmal ein flüchtiger Blick in die Zukunft gestattet. Und ich hoffe – ich glaube –, du wirst die Kinder wiedersehen. Ich träumte vergangene Nacht. Meine Seele verließ meinen Körper, wie Kora es manchmal tat, aber sie wanderte in die Zukunft. Und ich sah ein wunderschönes Mädchen und einen Jungen mit grünem Haar – und wo, glaubst du wohl, daß ich sie sah?« »Wo?« »Ein großer Vogel trug sie durch die Luft und geradewegs hierher in den Wald!« »Aber das war nur ein Traum. Würde ich sie besuchen, ließe Minos mich töten.« »Sie kamen doch zu dir, Eunostos. Kora träumte von einem Prinzen und rief ihn zu sich in den Wald. Es stimmt, daß er ihr Kummer bereitete. Aber die Tatsache bleibt bestehen. Hör nicht auf, Thea und Ikaros zu lieben, vielleicht werden sie dich dann hören. Vergiß nicht, der Wald steckt in ihrem Blut. Vielleicht wird auch er sie rufen.« »Ich bin nicht Kora. Ich kann nicht von einem Traum leben.« »Das sollst du auch nicht. Selbst wenn nur ein wenig Weisheit in mir ist, dann ist es diese: Träume allein sind für Kinder. Aber wenn du träumst und nach deinem Traum greifst und gleichzeitig wartest, dann können Zwerge Riesen stürzen und Städte sich aus Trümmern erheben. Starke Hände,
ein Traum und Geduld erbauten Babylon, und es war nicht wirklich Zeus, der Knossos schuf.« Ich strich über seine seidige Mähne, hielt ihn an den Hörnern und küßte sein glattes Gesicht. »Ich bin zu nicht sehr viel gut, Eunostos. Schön war ich einmal, und vielleicht bin ich es sogar jetzt noch ein bißchen, wenn man die paar Fältchen in meinem Gesicht übersieht. Weisheit – die überlasse ich Chiron. Aber wenn dir je danach ist, dich an jemandes Schulter auszuweinen, dann komm zu mir.« »Ich bin deiner Liebe nicht wert, Zoe. Ich bin nichts als der letzte Minotaur – und das ist vielleicht ganz gut so.« »Der letzte – oder der beste?« Er legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Dann blickte er zu mir hoch und mit seinen tiefen grünen Augen, in denen sich seine Seele spiegelt, und er sagte: »Zoe, ich weiß, du hast viele Männer geliebt. Gab es je einen, der dir mehr als alle anderen bedeutete? Den du verloren hast? Und glaubtest du da, du müßtest sterben?« »Ja, Eunostos. Obgleich ich nicht sagen kann, daß ich ihn verlor, weil ich ihn nie wirklich besaß.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß es einen Mann geben könnte, der dich nicht liebt.« »Er liebt mich, auf seine Art. Doch leider nicht auf meine.« »Was hast du getan?« »Mein Herz hat mir weh getan, und ich habe eine Wieselpastete gebacken.« »Und es ist dir gelungen, ihn zu vergessen?« »Ich wollte ihn nicht vergessen. Dazu hatte ich ihn viel zu lieb. Ich schichtete meine Erinnerungen um – vergaß einiges, erinnerte mich an anderes.« »Das kann ich nicht.« »Du wirst es lernen.«
»Und du bedauerst es nicht?« »Nicht für einen Augenblick. Es gibt keine Liebe, die ich bereue. Am wenigsten jene, die am meisten schmerzt.« »Verrätst du mir, wer es war?« »Eines Tages, vielleicht.« Ein Glück, daß er nicht in meinen Augen lesen konnte. ENDE
Als TERRA FANTASY Band 35 erscheint: Schiff der Ischtar Ein Fantasy-Roman von A. Merritt Verbannt auf dem Schiff der Götter Der Archäologe John Kenton, ein Mann unserer Tage, verfällt einem uralten Zauber und erreicht eine andere, längst vergangene Welt. Aus seiner eigenen Dimension herausgerissen, findet er sich plötzlich auf einem Schiff wieder, das die Götter dazu verdammt haben, für alle Ewigkeit die Ozeane einer fremden Welt zu befahren. John Kenton wird Zeuge des Streites der Götter. Auf der Seite Ischtars nimmt er teil am ewigen Kampf zwischen der Göttin der Liebe und der Rache und Nergal, dem Totengott. Der zweite Teil dieses Romans, der zu den wenigen FantasyKlassikern gehört, erscheint als Band 36 der TERRAFANTASY-Reihe.