BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 42
DER LETZTE GANF
von Luc Bahl Fernab unserer Milchstraße, in der Groß...
29 downloads
408 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 42
DER LETZTE GANF
von Luc Bahl Fernab unserer Milchstraße, in der Großen Magellanschen Wolke, stößt die RUBIKON mit John Cloud und anderen Menschen auf die Vermächtnisse der grausamen Virgh, die das einstige Reich der Foronen zerstört und deren Welten zu »Brutplaneten« umfunktioniert haben. Mit Hilfe von Nathan Cloud, Johns dem Irrsinn verfallenem Vater, gelangt die RUBIKON schließlich zu einem insektenstockartigen Gebilde im All, von dem ein paramentaler Lockruf ausgeht. Da greifen die Virgh an, und die RUBIKON wird von der eigenen Kontinuumwaffe in ein anderes Universum versetzt, aus dem nur mühsam ein Entkommen gelingt. In der Milchstraße rückt indes Kalser – der Planet, auf dem einst die »Äskulap-Schiffe« gebaut wurden, mit deren Hilfe die Keelon-Master die Erde eroberten – in den Blickpunkt des Geschehens. Die Heimat der Nargen ist eine unwirtliche Welt. Und Jiim, dem Freund der Menschen, der die letzten seines Volkes in eine bessere Zukunft führen wollte, stehen die bittersten Stunden seines Lebens bevor…
1. Jagd Der Wind fing sich knatternd in seinen Flügeln. Er hielt sie eng an den Körper gepresst, um seinem Sturzflug die maximale Geschwindigkeit zu verleihen. Drüsen hatten eine zähe Schicht eines durchsichtigen, fetthaltigen Materials abgesondert, das sich schützend über die konkav gewölbte Hornhaut seiner großen, lidlosen schwarzen Augen legte. Diese Augen blickten starr auf einen einzigen Punkt am Boden des Schrunds, der rasch immer größer wurde. Rings um Jiim waberte die Thermik in unendlich vielen Gelb- und Rottönen, verschmolz zu bizarren Schlieren, zerriss an den Rändern, verflocht sich aufs Neue ineinander, um in ständiger Bewegung ihr lebensspendendes Lied zu singen. Doch Jiim war blind für das ihn umgebende Schauspiel. Ein einziges Gefühl pulsierte durch seinen herabstürzenden Körper. Es war ein Fieber, das ihn die Kälte des Sturzwindes nicht spüren ließ. Es war das Fieber der Jagd. »Krie!«, gellte es aus seiner Kehle, und der Schrei wurde durch die rasende Geschwindigkeit regelrecht zerfasert und mischte sich wie ein zerhackter Blitz in die Wärmespuren von Kalsers Atmosphäre über dem Schrund. Jiim sah nicht, dass die hoch aufragende Felswand in gerade mal zwei Nargenlängen seitlich an seinem Körper vorbeiraste und näher kam. Er spürte ihre Nähe instinktiv und wusste, dass sie ihm die Deckung gab, die er brauchte. Schwaden schwefelhaltiger Nebeldämpfe quollen vom Boden des Schrundes empor und stiegen an der Felswand nach oben. Jiim hielt die Luft an. Der beißende Geruch störte seine empfindliche Nase. In dem Nebel verschwamm auch die Sicht auf seine Beute. Doch der Narge spürte deutlich, dass sie sich
noch genau dort befand, wo er sie vor wenigen Herzschlägen das letzte Mal gesehen hatte. Ein Schatten direkt unter ihm, von den Schwaden fast verdeckt! Eine aus der Wand ragende Felsnase, bereit, seinen rasenden Flug jäh zu stoppen und seinen Körper aufzuschlitzen. Doch eine winzige Bewegung mit der linken Flügelspitze reichte, und Jiim spürte, wie er nur fingerbreit an dem messerscharfen Grat vorbeiraste. Weiter auf dem Weg nach unten. Die minimale Korrektur seines Sturzflugs hatte die Nebelschwaden so weit verwirbelt, dass er wieder deutlich sehen konnte. Aber auch der Torrgoll hatte bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte. Sein massiger, dreieckiger Schädel schwenkte herum, ohne aufzuhören, die eben abgegrasten Schwammpilze weiterzukauen, die direkt neben der Schwefelquelle wucherten. Kein ganzer Atemzug mehr, dann würde Jiim auf den Torrgoll prallen. Er wusste, es gab nur einen Versuch. Der Sturzflug flachte jetzt leicht ab. Mittlerweile hielt Jiim mit weit nach vorne gestreckten Armen den kurzen Speer fest umklammert. Die leuchtend roten Flügelfedern waren eng an die Arme, Schultern und Rücken gelegt. Er musste genau treffen. Da war ein gerade mal fingerbreiter Punkt im Nacken des Torrgolls, dort, wo zwei seiner Körperschilde zusammentrafen – genau dort musste er den Speer mit aller Wucht hineinstoßen. Der Torrgoll war riesig. Mehr als zwei Nargenlängen hoch, beinahe ebenso breit und mehr als doppelt so lang stand sein über und über bizarr gepanzerter Körper auf vier felsdicken Beinen und wurde zusätzlich durch einen klobigen, schuppenartig aufgefächerten Schwanz abgestützt. Trotz seines gefährlichen Aussehens war er ein reiner Pflanzenfresser und zu unbeweglich, um seinen Kopf so drehen und erkennen zu können, was sich über ihm abspielte.
Außerdem war es zu dunkel. Für den Torrgoll war das Restlicht der untergegangenen Sonne kaum noch wahrnehmbar. Für den Nargen und seine wärmeempfindlichen Sinne dagegen war die Umgebung so klar wie am helllichten Tag. Doch der Torrgoll hörte genau, dass irgendetwas nicht stimmte. Und aus diesem Grund setzte dieses gewaltige Tier, das kaum natürliche Feinde kannte, genau die Waffe ein, die es in der Evolution dieses rauen Planeten so gut wie unbesiegbar gemacht hatte. Blitzschnell öffneten sich überall in den Schilden und Panzern des Torrgolls winzige, runde Poren. Aus ihnen schossen leise zischend kleine Stachel, so als würde ein Kaktus explodieren. Im Nu waren der Torrgoll und sein Angreifer von einer Wolke nadelspitzer Geschosse umgeben. Jedes von ihnen war mit einem hoch wirksamen Nervengift getränkt. Der kleinste Kratzer würde reichen, um Jiim auf der Stelle zu lähmen. Und die Lähmung wäre erst der Auftakt zu einem qualvollen, lang andauernden Sterben. Das vom Gift eines Torrgolls verseuchte Opfer konnte nur noch darum beten, dass ein achtloser Tritt des sich entfernenden Tieres seinen Qualen ein Ende bereitete. Doch diese Gnade wäre reiner Zufall, denn der Torrgoll war nur mit minimaler Intelligenz ausgestattet. Schon wenige Augenblicke später würde er den Angriff wieder vergessen haben. Im gleichen Moment, als der Torrgoll seine Giftnadeln abschoss, aktivierte Jiim seine Nabiss-Rüstung, die goldstrahlend aufglühte. Der rasende, parabelartige Sturzflug wurde abrupt abgebremst und im selben Augenblick bohrte sich der kleine, handliche Speer zwischen die beiden Nackenschilde. Er versank tief im Hals des Tieres und durchtrennte mit einem Schlag die Nervenbahnen zwischen
den beiden neuronalen Systemen, die sämtliche Funktionen des massigen Körpers steuerten. Diese Art der Jagd verlangte ein Höchstmaß an Präzision. Der Speer benötigte noch die volle Wucht und Kraft des Sturzflugs, der Jäger aber musste rechtzeitig abbremsen, um sich nicht durch den Aufprall sämtliche Knochen zu brechen. Stechen, bremsen und den Schwung nutzen, um den eigenen Körper in einem diagonalen Salto seitlich am Tier vorbeizudrehen: Das alles war eine einzige Bewegung, die erst endete, wenn man nach Vollendung der Rotation wieder aufwärts schwang und mit den Füßen auf dem Rücken der Beute landete. Erst jetzt ließ Jiim den tief im Nacken versenkten Kurzspeer los. Bei den Nargen erzählte man sich von Jägern, mythischen Helden aus grauer Vorzeit, denen diese Art der Jagd ohne jedes Hilfsmittel und nur durch reine Körperbeherrschung gelungen sein soll. Jiim aber war sich bewusst, dass er sein Jagdglück der Nabiss-Rüstung zu verdanken hatte. Dem Torrgoll blieb kaum Gelegenheit, den Stich zu spüren, da war er bereits tot. Die Wolke kleiner Giftstachel wurde durch den gewaltigen Luftdruck des herabstoßenden Nargen durcheinandergewirbelt und durch die Energie des NabissPanzers von Jiims Körper fortgelenkt. Wie durch eine unsichtbare Blase geschützt, stand er jetzt auf dem Rücken des lautlos zusammengebrochenen Tieres, während rings um ihn herum die kleinen Giftpfeile zu Boden fielen. Gleich einem Schauer aus warmem Wasser ließ Jiim ein emotional-energetisches Kontrollfeld über seinen Körper gleiten, um sich Gewissheit darüber zu verschaffen, wirklich von keinem einzigen der Nadelpfeile auch nur angeritzt worden zu sein. Erst als er sich seiner Unversehrtheit ganz sicher war, öffnete er seinen Geist, um den Rest seines Volkes an dem Jagdglück teilhaben zu lassen.
* * *
Morphogenetische Felder, hatte Guma Tschonk, der flügellose Götterbote, ihre Art Informationen auszutauschen und Wissen zu teilen, genannt. Wehmütig erinnerte sich Jiim an die gemeinsame Zeit, die gemeinsam bestandenen Abenteuer. (Siehe Bad Earth Band 3 & 4) Vieles hatte sich seitdem verändert. Caar, der alte Suprio war gestorben und er, Jiim, musste auf einmal gewaltige Verantwortung übernehmen. Während seiner letzten Atemzüge war es Caar mit Hilfe von Guma Sko Pi noch gelungen, das Ei des neuen Suprio zu legen. Doch bis Pern, der inzwischen geschlüpft war, alt genug sein würde, um die Pflichten eines Suprio zu übernehmen, war Jiim als sein Ersatz-Elter für ihn und seine Erziehung zuständig. Diese Aufgabe umfasste aber auch die Verantwortung für das Gemeinwesen der Nargen. Bis zu dem Tag, da Pern die Aufgaben Caars als Suprio übernehmen konnte, musste Jiim auch diese Führungsrolle wahrnehmen, ob er wollte oder nicht. Als Ersatz-Elter war er automatisch auch ein Ersatz-Suprio geworden. Es war Caars letzter Wille gewesen, ausgerechnet ihn für diese Zeit der Zwischenherrschaft zu bestimmen. Ausgerechnet ihn, den Caar erst kurz zuvor zum Tode verurteilt hatte und dann, als Guma Sko Pi und Tschonk die Vollstreckung verhindert hatten, aus dem Volk der Nargen verstoßen hatte. Alle Nargen hatten den letzten Gedankenimpuls Caars mitbekommen. Im Augenblick seines Todes war diese Willensäußerung Caars so stark gewesen, dass sie sogar Jiim erreicht hatte, obwohl er sich damals mit Guma Tschonk weit entfernt in der Toten Stadt und ihren Anlagen aufgehalten hatte. War Caar angesichts seines nahenden Todes auf einmal weise und milde geworden? Die Motive für seinen
Sinneswandel hatte der Suprio mit hinübergenommen ins Dunkle Reich der Vorfahren. Tschonk Laut... Jiim wusste längst, wie sein Freund von den Sternen richtig hieß: John Cloud. Schnell hatte er die Sprache der vermeintlichen Götterboten gelernt, viel schneller als sie die seine. Anfangs allerdings hatte er ihre Namen nur schwer verstanden. Aber als er merkte, dass es sie nicht beleidigte, blieb es bei seinen anfänglichen Namenskreationen. Wo mögen sie jetzt sein? Leben sie überhaupt noch?, überlegte Jiim. Völlig überstürzt hatten sie Kalser mit ihrer flammenden Zornesträne wieder verlassen müssen. Und obwohl Jiim wegen dieses abrupten Abschieds ein Gefühl der Trauer und Leere empfand, war dies doch die beste Möglichkeit gewesen, die vielen fremden Raumschiffe fortzulocken, die urplötzlich seine Welt überfallen hatten. Den Waffen dieser Angreifer hatte das Volk der Nargen nichts entgegen zu setzen. Es war seinerzeit das Beste gewesen, dass Tschonk, Res Nick, Tschar Vis und dieses seltsame Wesen Sko Pi wieder verschwanden. Denn so viel war rasch klar. Der Angriff der Raumflotte galt gar nicht Kalser, sondern ihnen, den Götterboten; seinen Freunden, von denen er so viel gelernt hatte und die ihm ebenso das Leben gerettet hatten, wie er ihnen. Doch er musste sich berichtigen. Ihr überstürzter Aufbruch war nicht die beste, sondern es war die einzige Möglichkeit gewesen, Kalser zu retten. Haben sie den Tod gefunden auf ihrer Flucht? Jiim wusste es nicht und wollte nicht an diese Möglichkeit glauben. Zu eng war der Kontakt zwischen Tschonk und ihm gewesen, als dass er es nicht gespürt hätte, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Dies glaubte Jiim zumindest.
Wenn ein Narge stirbt, erfahren dies im selben Moment alle anderen Nargen, aber gilt dies auch für das Verhältnis zwischen dem geheimnisvollen Götterboten und mir? Noch dazu über den unendlichen schwarzen Abgrund zwischen den Sternen hinweg, der nun zwischen ihnen lag. Doch wenn solche Entfernungen von Raumschiffen zurückgelegt werden können, dann muss dies doch erst recht für die Gedanken und Gefühle gelten, die zwischen verwandten Seelen schwingen. Aber sind wir – trotz der gemeinsam erlebten Abenteuer – überhaupt verwandte Seelen? Wie auch immer Jiim seine Gedanken drehte und wendete, zurück blieben nagender Zweifel und Ungewissheit. So viel hatte sich verändert, seit die flammende Zornesträne mit den Götterboten an Bord vom Himmel fiel. Anfangs hatte er diesen Veränderungen entgegengefiebert, hatte es kaum erwarten können, dass sich das eintönige und streng reglementierte Leben seines Volkes verändern würde. Doch nun – seit die Last der Verantwortung über alle Nargen stellvertretend auf seinen Schwingen lastete – sah er vieles anders. Mit mehr Bedacht, mit mehr Abstand... *** Ein Geräusch unterbrach ihn in seinen Gedanken. Deutlich konnte er die Flügelschläge der Ankommenden unterscheiden. Chex, sein Freund war dabei und Alef und viele andere Jäger. Ein Torrgoll war eine seltene Beute, und er war zu schwer, um ihn als Ganzes zu transportieren. Besonders köstlich waren die Fleischstücke aus dem Inneren seines Körpers, aber auch die gepanzerten Platten, mit denen das Tier bedeckt war, konnten verwertet werden. Solch eine Beute musste deshalb an Ort und Stelle zerlegt werden.
»Passt auf die Giftstacheln auf!« rief Jiim den anfliegenden Nargen entgegen. »Sie liegen rings um den toten Torrgoll!« »Wir haben vorgesorgt«, antwortete Chex und klopfte auf einen großen Beutel, den er vor seiner Brust trug. Auch die anderen hatten Beutel dabei, die sie nun öffneten. Heraus rieselten Tausende kleiner Selmonblätter, mit denen schon bald der Boden um das Beutetier bedeckt war. Es zischte, sobald eines der Blätter mit einem der Stachel in Berührung kam. Torrgolls mieden die Selmonbüsche, weil sie als einzige Pflanze das Gift ihrer Stacheln regelrecht absaugten und neutralisierten. Deshalb hielten sie sich auch am liebsten auf dem Grund des Schrundes auf, während die Selmonbüsche nur oberhalb an der Waldgrenze wuchsen, dort wo die Nargen ihre Baumnester hatten. Jiim spürte die Freude über die reiche Beute. Heute noch würde es ein Festmahl für alle Nargen geben. Doch plötzlich, irgendwo in diesem Gefühlfeld der Freude, das Jiim mit den anderen Nargen teilte, blitzten für einen winzigen Moment andere, düstere Empfindungen auf: Hass, Neid und der Wunsch zu töten. Woher kam das?, dachte Jiim. Hatten die anderen diesen kurzen Anflug finsterer Stimmung mitbekommen? Hastig drehte er sich um und musterte die Gesichter seiner Freunde, die sich daran machten, den Torrgoll mit ihren scharfen Messern zu zerlegen. Nichts deutete darauf hin. Von ihnen kam dieses Gefühl offensichtlich nicht. Hatte er sich getäuscht oder hatte er diese böse Schwingung nur allein vernommen? *** Vieles hatte sich verändert. Seit Jiim für das Geschick der Nargen verantwortlich war, gab es keine drastische Beschränkung der Bevölkerungszahl
mehr. Nicht alle waren damit einverstanden, denn sie befürchteten, dass der Schrund und die umliegenden Felder nicht genug Nahrung liefern würden. Aber da Jiim auch einer der geschicktesten Jäger seines Volkes war, lieferte er unermüdlich den Beweis dafür, dass niemand zu hungern brauchte. Er zeigte allen Jägern, wie sie selbst in den Gletscherspalten weit fort vom Schrund und ihrem Dorf Tiere fangen konnten, die früher nicht auf ihrem Speiseplan standen. Entlang des Schrundes hatte er veranlasst, neben den alten auch neue Felder anzulegen, sodass mehr Früchte geerntet werden konnten. Im Gegensatz zu Caar lebte Jiim nicht in der heiligen Höhle am Rand des Schrunds, sondern mit seinem Zögling Pern in seinem alten Baumnest inmitten der anderen Behausungen. Es waren Veränderungen, die nicht jedem in der kleinen Gemeinschaft gefielen. Pern begleitete ihn überall, zu jeder Versammlung, zu jedem Besuch. Nur auf die Jagd nahm er ihn noch nicht mit. Der Jungnarge musste noch viel lernen und vor allem seine Flugfähigkeiten trainieren und üben, bis er in der Lage sein würde, ihn auf der Jagd zu begleiten. Doch über die besondere mentale Verbindung, die zwischen allen Nargen bestand, ließ er Pern im Geiste bei jedem seiner Ausflüge dabei sein und hielt besonders innigen Kontakt zu ihm, soweit es ihm möglich war. Doch als er jetzt zusammen mit den anderen zurück in ihr Nestdorf flog, spürte er auf einmal, dass dieser Kontakt kaum noch vorhanden war... 2. Marons Atem Schwer bepackt mit Fleisch kamen sie auf ihrem Flug nur langsam voran. Während die übrigen Nargen ihre gewaltigen
Schwingen nutzten, flog Jiim mit Hilfe seiner Nabiss-Rüstung und konnte so den größten Fleischbrocken transportieren. Es war kaum wahrscheinlich, dass Pern um diese Zeit schlief. Es war mitten in der Nacht, die Zeit größtmöglicher Aktivität. Normalerweise schliefen die Nargen während des Tages, um die Dunkelheit der Nacht zur Jagd zu nutzen. Mit ihren exzellenten Augen konnten sie immer noch sehen, wenn für andere Lebewesen bereits absolute Schwärze herrschte. Und sie sahen nicht nur mit ihren großen dunklen Augen, sondern fühlten mit jeder Faser ihrer Körper die sie umgebende Landschaft und alles, was sich darin bewegte. Jiim spürte das abschwächende Gefühl des Kontakts mit seinem Zögling wie einen Eishauch im Nacken. Unwillkürlich sträubte sich sein Gefieder auf dem Kopf und seine Ohrbüschel spreizten sich. Maron, der Vernichter, blitzte durch einen Riss der Wolkendecke und Jiim glaubte, die hässliche Fratze des Mondes böse auf ihn herabgrinsen zu sehen. Die gewaltige Lücke, die in Marons Gesicht klaffte, verzerrte den Anblick, den dieser Himmelskörper bot, zu einem grotesken, unheilbringenden Eindruck. Jiim war, seit er zusammen mit John Cloud die Tote Stadt besucht hatte, bei weitem nicht mehr so abergläubisch wie früher. Er und alle anderen Nargen wussten, dass die gewaltige Ecke, die aus Maron herausgebrochen war, für den BeinaheUntergang ihrer Welt verantwortlich gewesen war. Verantwortlich für die fast vollständige Zerstörung seines Planeten und damit auch verantwortlich für die fast völlige Auslöschung seines einst so stolzen und hoch entwickelten Volkes. Der Untergang in grauer Vorzeit begann, als die dunklen Raumschiffe der Unsichtbaren über Kalser herfielen. Nicht genug, dass sie Tod und Verderben über den Planeten gebracht hatten, sie krönten ihr unbarmherziges Vernichtungswerk auch noch damit, dass sie mit den gewaltigen Waffen ihrer
Raumschiffe den Mond Maron beschossen und so ein Viertel seiner Masse heraussprengten. Diese gewaltigen Trümmer stürzten auf Kalser herab und verursachten ein unvorstellbares Werk der Vernichtung. Der ganze Planet wurde von dichten, dunklen Wolken umhüllt und verwandelte sich in eine einzige Eiswüste. Mit Ausnahme des Schrundes. Ein gigantischer, vulkanischer Spalt, der genug Hitze abstrahlte, um in seiner Nähe weiterhin Leben zu ermöglichen. Über viele Zyklen hinweg, hatte sich diese einst so große und technisch fortschrittliche Zivilisation meisterhafter Flugkünstler in einen primitiven Zustand zurückentwickelt. Fast das gesamte Wissen über ihre Vergangenheit war verloren gegangen und mit dem Wissen auch die technischen Fertigkeiten. Auch von den geistigen Fähigkeiten waren nur noch Rudimente übrig geblieben und vor allem war ihre Population drastisch gesunken. Auf eine angeblich heilige Anzahl von vier mal vierzig und noch mal vierzig Nargen. Größer durfte ihr Volk nicht werden. Damit hatte Jiim als Erstes aufgeräumt, als er von dem sterbenden Caar die Verantwortung für die Aufzucht des neuen Suprio Pern übertragen bekam. Pern! Der geistige Kontakt zu ihm war mittlerweile völlig unterbrochen, obwohl sie sich Flügelschlag für Flügelschlag ihrer Siedlung näherten. Jiim spürte den eiskalten Atem von Maron, dem Vernichter, in seinem Nacken. Sie überflogen die ersten Felder. Bemerkten denn seine Gefährten nichts? Jiim drehte sich im Flug zu ihnen um und sah in fröhliche, ausgelassene Gesichter, denen die Freude über die reiche Jagdbeute anzusehen war. ***
»Wo ist Pern?«, rief Jiim kaum, dass er gelandet war. Er blickte in die ratlosen Mienen der Nargen, die sich versammelt hatten, um die Ankömmlinge zu begrüßen. »Wo ist Pern?«, rief Jiim ein zweites Mal und warf zornig das große, blutende Fleischbündel, das er getragen hatte, zu Boden. Sofort bückte sich ein älterer Narge danach und wollte es aufheben. Entschlossen trat Jiim auf die Beute und hielt sie mit seinem Fuß auf dem Boden fest. »Wo ist Pern?«, wiederholte er zum dritten Mal. Jetzt war seine Stimme ganz leise geworden und klang deshalb umso gefährlicher. Die anderen wichen zurück. Auch seine nun ebenfalls eingetroffenen Gefährten blickten ihn ratlos an. Einige zuckten nervös mit den Flügeln. Da ihm niemand antwortete, schwang sich Jiim, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in die Luft und landete nach wenigen Flügelschlägen auf der schmalen, hölzernen Plattform seines geräumigen Baumhauses. Er schlüpfte geschmeidig durch den schmalen Eingang ins Innere des Nests. »Pern!« Keine Antwort. Es war niemand da. Von draußen erklang das Geräusch sich nähernder Flügelschläge. Ruckartig drehte sich Jiim um und blickte in die ausdruckslosen Augen Gultars, der gerade in Jiims Behausung glitt. »Du wirst ihn nicht wiedersehen!« Gultars Stimme war ebenso unbewegt wie seine Miene. »Was...? Was...?«, stammelte Jiim, der auf einmal spürte, wie ihm Angst die Kehle zuschnürte. Die grenzenlose Sorge um Pern ließ ihn erstarren. »Was ist geschehen?« fragte er schließlich mit kraftloser, kaum vernehmbarer Stimme. »Nichts«, erwiderte Gultar kalt. »Pern ist nicht mehr deine Angelegenheit!« »Was?«
»Du bist nicht mehr für Pern verantwortlich! Wir haben beschlossen, dich von deinen Aufgaben zu entbinden!« »Wir? Wer...?« Jiim war derart fassungslos, dass ihm die Worte fehlten. Doch er spürte, wie sich langsam die Erstarrung löste und neben seiner Angst ein anderes Gefühl begann, in ihm hoch zu kochen: Wut und Empörung. »Wir sind die Bewahrer! Die Bewahrer des Erbes, das du verraten hast!« »Das... das geht nicht! Caar hat mir doch...« »Spar dir deine Worte. Die Entscheidung ist getroffen und sie ist unumstößlich!« 3. Erwachen
Kalser, zur gleichen Zeit, sehr weit entfernt.
Wie lange hatte er geschlafen? Tausend Zyklen, zehntausend, hunderttausend...? Es war ihm egal. Die erste Welle der Zerstörer war seit langem abgezogen. Er wusste, sie hatten seine Welt beinahe vollständig vernichtet. Aber erst vor kurzem hatte sich eine Information in seine Träume geschlichen, die von außerhalb gekommen war. Sorgfältig hatte er das Bett seiner Träume gestaltet und abgeschirmt. Nichts sollte hier den Frieden stören, den er sich so sehnlich wünschte – für sich und seinesgleichen. Doch wo war seinesgleichen? Wie Schockwellen hatte er nach seinem Erwachen den Ruf ausgesandt. Rings um den Planeten war der Ruf seiner Suche geflutet und wieder zu ihm zurückgekehrt, ohne Antwort, ohne Zeichen. Schliefen alle anderen noch? Sie mussten doch ebenfalls die Botschaft vernommen haben, die durch alle Barrieren in die Traumwelt gedrungen war?
Er spürte deutlich, es gab noch Leben auf seiner Welt – aber von seinesgleichen bemerkte er nichts. Dabei war die Botschaft, die er drüben in seiner Traumwelt vernommen hatte, ebenso beunruhigend gewesen, wie einst, als die erste Welle der Zerstörung seine Heimat überrannte. Wieder waren fremde Raumschiffe gekommen und hatten Tod und Vernichtung ausgestreut. Doch wie seine tastenden Sinne nun, da sie wieder wach und einsatzfähig waren, rasch erkannten: Die zweite Welle war wesentlich glimpflicher abgelaufen. Zum Glück – oder hatten sie einfach nicht genug Nahrung für ihre Waffen gefunden... Er musste auf der Hut sein. Dies war seine Welt. Er war die mächtigste Lebensform auf diesem Planeten. Es war seine verdammte Pflicht, diese Welt zu verteidigen, sie vorzubereiten auf den nächsten Angriff. Es wäre gut, wenn ihm dabei jemand helfen würde! Wo waren die anderen? Ich muss sie finden und wecken! Der namenlose Feind, da war er sich sicher, würde irgendwann wiederkommen. Sie mussten gemeinsam verhindern, dass er sich erneut über seine Welt hermachte. Er verließ seinen leeren Bau. Gleichzeitig verstärkte er die Verbindung zum ewigen Strom der allumfassenden, universellen Energie und grub sich durch die Eis- und Schneemassen an die Oberfläche. Die wirr in ihm hin und her flirrende Energie ließ ihn konvulsivisch zucken, so sehr kitzelte und reizte sie ihn. Die chaotischen Ströme pulsierten durch seinen Leib, wo er sie bedächtig und geradezu liebevoll ordnete. Schließlich gab er sie kontrolliert und in kleinen Impulsen wieder ab. Gefrorenes Wasser verwandelte sich unmittelbar vor ihm in Fast-Nullzeit in ein hoch angeregtes Gas, das sich mit einem brodelnden Zischen den Weg nach oben bahnte. Die Oberfläche des Gletschers brach auf und mit einem ohrenbetäubenden Donnern schossen Dampf, kochendes
Wasser und gewaltige Eisbrocken steil empor in die Atmosphäre. Unbeeindruckt von der zerstörerischen Hitze, die er wie einen Ball vor sich hertrieb, hatte sich das mächtige und doch auch so verletzliche Wesen auf den Weg gemacht. Rings herum bis zum Horizont breitete sich eine gleichförmige, von zahllosen Gletschern und Eisplatten zergliederte Ebene aus, in der nur eines herrschte: Leblosigkeit, Erstarrung und Kälte. Hinzu kam die Totenstille, nachdem das plötzliche Aufbersten des eisigen Bodens wieder verstummt war. Dennoch war sein Aufbruch nicht unbemerkt geblieben... 4. Abgrund Angst, Wut und Verständnislosigkeit kämpften in Jiim. Entsprechend hin und her gerissen, versuchte er, die Fassung zu bewahren und sich nicht gehen zu lassen. Doch genau das wollte ihm nicht gelingen. »Was habt ihr mit ihm gemacht?«, fragte er nur mühsam beherrscht. »Wo ist er? Warum bekomme ich keinen Kontakt zu ihm?« »Ich habe nicht vor, dich darüber zu informieren«, antwortete Gultar. »Der Rat hat entschieden, und ich habe dir diese Entscheidung mitgeteilt. Das ist alles.« »Nein, ist es nicht!«, zischte Jiim und sprang mit einem plötzlichen Satz nach vorne. Gultar wich mit einer raschen Bewegung zur Seite, doch Jiim wirbelte im gleichen Moment herum und bekam Gultars linken Flügel zu packen. Sie prallten gemeinsam gegen die dünne Wand der Baumbehausung. Es schien zwar, dass Gultar von der Attacke überrascht worden war, dennoch zeigte er sich nicht gänzlich
unvorbereitet. Jiim wollte ihn gerade zu Boden reißen, da spürte er einen heftigen Druck an seiner Kehle. »Nur etwas fester und diese Klinge dringt in deinen Hals«, keuchte Gultar. Jiim erstarrte. »Lass mich los. Sofort!«, befahl Gultar. Jiim lockerte seinen Griff. Gultar befreite sich und sprang aus seiner Reichweite. Drohend hielt er das Messer auf Jiim gerichtet. Keuchend standen sie sich gegenüber. »Wer ist dieser Rat?«, fragte Jiim. »Die Bewahrer«, antwortete Gultar lauernd. »Und wer, in Plephes Namen, sind die Bewahrer?« »Der Rat«, sagte Gultar höhnisch. »Der Rat, der sich ab sofort um die Erziehung des jungen Suprio kümmert. Der Rat, der ab sofort für alle Belange der Nargen verantwortlich ist. Der Rat, der vor allem dafür sorgt, dass du keine gotteslästerlichen Neuerungen mehr durchsetzt, die die heilige Ordnung stören. Begreif endlich, du bist abgesetzt!« Fassungslos und voll mühsam unterdrückter Wut trat Jiim ein Stück nach vorne. »Bleib stehen oder willst du meine Klinge schmecken!« Doch Gultar hatte noch nicht ausgeredet, da ließ sich Jiim fallen und hechtete dicht über dem Boden gegen die Beine seines Gegners. Die Angst um Pern zwang ihn zu diesem neuen Angriff. Er hörte das trockene Zischen des Messers, das über ihm ziellos durch die Luft schnitt. Seine Hand schoss nach oben und bekam den mit dem Messer herumfuchtelnden Arm zu fassen. Unwillkürlich sträubten sich Gultars Flügelfedern und wollten Jiims Finger wieder auseinander biegen. Doch Jiim hatte den Arm mit eisernem Griff gepackt und schüttelte ihn heftig. Aber ebenso eisern hielt Gultar das Messer fest. Beide krachten zu Boden. Sie wälzten sich durch den Staub, bis Jiim wieder auf die Beine kam. Mit einem energischen Ruck riss er auch Gultar nach oben, der nun seinerseits Jiims
andere Faust umklammert hielt und ihn so daran hinderte, ihm endgültig das Messer aus den Fingern zu winden. Mit einem fürchterlichen Schrei schleuderte Jiim seinen Gegner herum. Wieder verloren beide das Gleichgewicht. Wie zwei Betrunkene taumelten sie durch den Raum und prallten erneut gegen die Wand. Knirschend zersplitterte das dünne Holz. Aus den Augenwinkeln sahen sie, dass es draußen angefangen hatte zu regnen. Als Jiim die heftig herabprasselnden Tropfen auf seinem Gesicht spürte, verstand er im gleichen Moment, dass sie im Begriff waren, durch die zersplitterte Wand seines Baumnestes auf den tief unter ihnen liegenden Boden zu stürzen. Unwillkürlich bewegten beide Kämpfer ihre Flügel, aber sie konnten nur völlig eingeschränkt hin und her zucken und flattern, da sie sich gegenseitig die Arme festhielten. Da verlor Jiim endgültig mit seinen Füßen den Kontakt zum hölzernen Boden seiner Baumbehausung. Blätter und Zweige peitschten gegen sein Gesicht. Wie zwei Steine stürzten sie herab, wobei sie sich noch in der Luft erbittert umklammert hielten und miteinander rangen. Der Sturz durch das Geäst ihrer Siedlungsbäume konnte nur wenige Herzschläge gedauert haben. Dennoch kam er Jiim vor wie eine kleine Ewigkeit. Seine ganze Ratlosigkeit hatte sich in Hass und Wut verwandelt. Und überstrahlte in diesen kurzen Augenblicken jeden anderen Gedanken und jedes andere Gefühl. Wie Fässer rollten sie durch die Luft, keuchten, schrien und rangen miteinander. Rasend schnell näherte sich der von kleinen Felsbrocken durchsetzte Boden. Irgendetwas in Jiims Kopf sprang, ohne von einem bewussten, gedanklichen Impuls angeregt worden zu sein, über den Hass und über die Wut hinweg. Kaum einen Handbreit
über dem Boden erwachte die Nabiss-Rüstung zum Leben und glühte auf. Doch es war zu spät... *** Zur gleichen Zeit, weit entfernt Das amorphe, seltsam ungestalte Wesen zog eine breite einheitliche Spur hinter sich her. Das Loch, durch das es mit einem geysirartigen Ausbruch aus dem eisigen Boden gebrochen war, befand sich schon seit geraumer Zeit außer Sichtweite. Wie ein flaches Flussbett sah diese Spur im Schnee aus, die von weit oben noch als deutliche Linie sichtbar war. In dem nackten Leib pulsierten die Muskeln in perfektem Gleichklang. Tausende von Fasersträngen wanden sich kreisförmig dicht unter der Oberfläche der glatten, glänzenden, fast durchsichtigen Haut, zogen sich zusammen und dehnten sich wieder aus. Eine Bewegung, die sich wellenförmig von vorne nach hinten ausbreitete und wieder von vorne begann, noch bevor sie das Ende erreicht hatte. Die fast transparente Haut ließ nicht nur das Spiel der Muskeln sehen, sondern zeigte auch flackernde, leuchtende Flecken, die keinem bestimmten Muster folgend, mal hier, mal da aufschienen und wieder verblassten. Ganz vorne befand sich ein fremdartiges aber ausdrucksstarkes Gesicht mit ungewöhnlichem Mienenspiel. Ganze Reihen von Sinnesorganen, Fühlern und Augenstielen pendelten hin und her, beobachteten sorgfältig die Umgebung und schienen ständig gespannt zu lauschen. Dann war rings um das Wesen noch etwas wahrzunehmen, was sich allerdings außerhalb des sichtbaren Spektrums abspielte. Ebenso amorph wie das Wesen selbst waren die Schwingungen, die es abstrahlte. Es war ein einsames, in regelmäßigen Abständen wiederholtes Signal.
Wacht auf!, lautete die Botschaft und schloss mit der verzweifelten Frage: Wo seid ihr? Der Unbekannte Beobachter, der gierig die Spur des gewaltigen Wesens von weit oben verfolgte, verstand den Sinn dieser Signale nicht. Aber selbst wenn, wäre ihm der Inhalt egal gewesen. Für ihn, der nahezu unsichtbar in großer Höhe dahinglitt, hatten sie nur eine Bedeutung: Sie verrieten ihm den Aufenthaltsort des Wesens selbst dann, wenn sich dicke Wolken vor seine tausend Augen schoben... *** »Mmörrörmmörrör! Ttöttöttött eeeehn!« Das Geschrei war unerträglich. Es dröhnte in seinen Ohren. Es war so hämmernd und gellend laut, dass es ihm schreckliche Schmerzen bereitete. Das sich überschlagende, kreischende Gebrüll tobte derart laut in seinem Kopf, dass es ihm unmöglich war, den Sinn dessen zu verstehen, was da gerufen wurde. Mit einem Schlag kehrte das Bewusstsein wieder zurück. Der graue Nebel, der sich vor seine Augen gelegt hatte, zerriss. Jetzt verstand er das Geschrei. »Mörder! Tötet ihn!« Ächzend wollte er sich aufrichten. Doch ein stechender Schmerz hielt ihn am Boden zurück. Rings um ihn herum schien sich das gesamte Volk der Nargen versammelt zu haben. Einen Augenblick später begriff er auch, warum er sich nicht aufrichten konnte. Man hatte ihn mit dicken Stricken gefesselt und diese wiederum an tief in den Boden geschlagene Pflöcke gebunden. Er konnte sich kaum rühren. Mühsam drehte er den Kopf. Rings um ihn herum standen dicht an dicht aufgebrachte Nargen. Zwischen ihnen sah er die ängstlichen Gesichter der Kinder, die sich eng an ihren jeweiligen Elter schmiegten und den Gefesselten voller Sorge
anstarrten. Perns Gesicht aber war nirgendwo zu sehen. In der vorderen Reihe hielt jeder erwachsene Narge einen Langspeer in den Fäusten. Alle Speerspitzen zielten auf Jiim. Er stöhnte vor Schmerz und Verzweiflung laut auf, drehte den Kopf zur anderen Seite – und schrak zusammen. Direkt neben ihm lag Gultar. Man hatte ihn auf den Rücken gedreht und deutlich konnte Jiim das Messer sehen, das in Gultars Brust steckte. Zwischen Gultar und ihm war der Boden rot vor Blut. Jiim erkannte deutlich, dass Gultar nicht allein durch das Messer in seiner Brust gestorben war. Seine Flügel waren merkwürdig verrenkt, die Knochen geborsten, das Gesicht als solches kaum noch zu erkennen. Jiim spürte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Es kam ihm vor, als müsse er ersticken. Er würgte lauthals, bis er endlich einen Schwall halb Verdautes erbrach. Mit einem deutlichen Ausdruck des Ekels im Gesicht wichen einige der Speerträger einen Schritt zurück. Nun öffnete sich auf einmal der Kreis, und Chanyrr, ein älterer Narge von schmutzig dunkelroter Farbe, trat vor. Er trug die heilige Schärpe, die einst dem Suprio Caar gehört hatte. Jiim bemerkte eine winzige Gemeinsamkeit zwischen Chanyrr und dem toten Gultar neben ihm. Beide trugen dünne, unauffällige Ketten um den Hals. Das leise, fast unmerkliche Pulsieren dieser Ketten machte Jiim klar, dass es sich nicht nur um Schmuckstücke handelte. Doch auch die Schärpe war ein deutliches Zeichen. Sie machte deutlich, auch Chanyrr gehörte zu dem geheimnisvollen Rat, der handstreichartig die Macht über das kleine Volk der Nargen an sich gerissen hatte. Allem Anschein nach war er sogar der Anführer. Chanyrr und vielleicht auch die anderen Mitglieder der Bewahrer mussten sich Zugang zur heiligen Höhle verschafft haben, die seit Caars Tod unbewohnt war und von den Nargen gemieden wurde. »Im Namen der alten Ordnung...«, begann Chanyrr.
»Im Namen der alten Ordnung hast du das ehrwürdige Tabu gebrochen und bist in die heilige Höhle eingedrungen, die das Heim des zukünftigen Suprio Pern sein soll!«, unterbrach ihn Jiim mit dunklem Spott in der Stimme. »Was habt ihr mit Pern gemacht?« »Schweig! Unruhestifter, Aufrührer, Anmaßender!«, schrie Chanyrr. »Pern ist in Sicherheit! In Sicherheit vor dir! Er ist in der heiligen Höhle, wo wir, die Bewahrer, ihm die Erziehung geben werden, die du ihm nicht geben kannst!« »Und dafür müsst ihr Bewahrer eure Gedanken abschirmen, damit kein anderer Narge daran teilhaben kann?«, fragte Jiim. Er dachte an die Ketten, die der tote Gultar und Chanyrr trugen und die bestimmt aus der heiligen Höhle stammten. Möglicherweise schirmten sie die Gedanken der Bewahrer ab, und vielleicht hatten sie eine davon auch dem kleinen Pern übergezogen, damit er und Jiim keine Verbindung mehr zueinander aufnehmen konnten. Jiim hätte all dies auch laut aussprechen können, denn augenblicklich breitete sich Unruhe zwischen den Nargen aus. In der heiligen Höhle befanden sich zahlreiche Relikte aus der Zeit, da Kalser kein zerstörter Planet und die Nargen ein aufstrebendes, hochentwickeltes Volk waren. Lange waren diese Zeugnisse längst vergessener Technologie ein sorgsam gehütetes Geheimnis des Suprio gewesen, nur weitergetragen von einem Suprio zum nächsten. Mittlerweile, nach den dramatischen Ereignissen, die letztlich zu Caars Tod geführt hatten, wusste jeder Narge davon. Jeder Narge wusste auch von der Toten Stadt im Eis. Denn Jiim war dort gewesen, hatte alles mit eigenen Augen gesehen und seine Eindrücke nicht für sich behalten. »Ich befahl dir zu schweigen!«, donnerte Chanyrr. »Deine Rede will nur von dem ablenken, was wir hier alle vor uns sehen. Du hast Gultar umgebracht! Du bist ein Mörder!«
»Es ist wahr, ich bin mitschuldig daran, dass Gultar starb. Aber ich habe ihn nicht umgebracht! Wir stürzten zu Boden, und er fiel in sein eigenes Messer, das er vorher an meine Kehle gepresst hat. Ich bin schuldig, weil ich meine NabissRüstung zu spät aktivierte. Hätte ich nur einen Herzschlag früher...« »Hört, Volk der Nargen, dieser Unselige gibt es selbst zu!«, unterbrach ihn Chanyrr. »Dein Geständnis bewirkt, dass du die Gnade eines raschen Todes erhältst!« Da erklang eine laute Stimme. »Nein! Niemals! Das lasse ich nicht zu!« Erneut teilte sich die Menge. »Chex!«, rief Jiim, der die Stimme seines Freundes sofort erkannt hatte. »Ich lasse nicht zu, dass ein selbst ernannter Rat von Bewahrern hier über Jiim Gericht hält!« Man spürte, wie Chex, während er sprach, förmlich über sich selbst hinauswuchs. »Und wie willst du das verhindern? Glaubst du im Ernst, du allein kommst gegen den Rat an, hinter dem die Mehrheit der Nargen steht?« Chanyrrs Stimme wurde schrill. »Ich bin nicht allein, und es wird sich zeigen, ob wirklich die Mehrheit die so genannten Bewahrer unterstützt!« Mit diesen Worten beugte sich Chex zu Jiim herab und durchtrennte, ohne Chanyrr oder die Speerträger eines Blickes zu würdigen, mit raschen Schnitten seine Fesseln. Chanyrr stand mit weit offenem Mund daneben. Doch dann erholte er sich von seiner Verblüffung und schrie: »Was steht ihr hier untätig herum. Greift sie! Fesselt sie! Sie haben beide den Tod verdient!« Die Speerträger rückten einen Schritt näher. »Du wirst es nicht wagen, Chanyrr!«, rief Chex. »Schon einmal wurde Jiim zum Kiin-tu, zum Tode verurteilt! Jeder von uns kann sich gut daran erinnern. Damals wurde ich gezwungen, meine Freunde zu verraten. Das werde ich nie
wieder tun! Ich habe aus dieser schrecklichen Erfahrung viel gelernt! Die Götterboten haben seinerzeit verhindert, dass dieses Todesurteil vollstreckt werden konnte. Und Caar selbst hat im Anblick seines Todes seine Fehlentscheidungen eingesehen und Jiim zum Elter für Pern ernannt! Wollt ihr euch erneut gegen den Willen der Götter wenden?« Aufgeregtes Gemurmel ertönte. »Du glaubst doch nicht im Ernst, du kannst deinen Freund und dich selbst mit solchen Worten retten!«, schrie Chanyrr mit einer Stimme zwischen Hysterie und Triumph. »Wo sind eure Götterboten jetzt? Kommen sie, um euch zu helfen?« Er stieß ein lang gezogenes Keckern aus, das entfernt wie ein hämisches Lachen klang. »Ich habe befürchtet, dass du meine Worte missachtest, Chanyrr!« Chex spreizte seine leuchtend roten Flügel. »Du bist doch der Elter von Rryck? Nicht wahr?« Chanyrr fuhr wütend herum. »Was willst du damit sagen...?« »Ganz einfach, Chanyrr. Ihr habt Pern. Wir haben Rryck!« »Was?«, kreischte Chanyrr und man sah, wie sein Gesicht schlagartig fahl wurde. »Du gibst uns Pern zurück und lässt Jiim und mich in Frieden! Dann bekommst du Rryck wieder, und wir vergessen den Rat der Bewahrer!« »Niemals! Lass dich nicht einschüchtern, Chanyrr!«, rief jemand aus der Menge. Und ein anderer schrie: »Wir sind in der Mehrheit, sie werden nicht wagen, Rryck etwas anzutun!« »Gultars Tod muss gesühnt werden! Jiim und alle seine Freunde verdienen den Tod!« In Chanyrrs Gesicht spiegelte sich ein Wechselbad der Gefühle zwischen Wut und Sorge. »Wenn wir kämpfen, werden wir die Neuerer vernichten!«, ertönte eine weitere Stimme.
Die Menge wurde immer aufgebrachter, weil nun auch all diejenigen zu schreien begannen, die nicht mit den unverhohlenen Drohungen und den lautstarken Aggressionsäußerungen einverstanden waren. Im Nu hatte sich die Menge in zwei zu allem entschlossene Lager geteilt. Das leise, angsterfüllte Weinen der Kinder schien niemand mehr zu hören. »Halt!«, donnerte Jiim, der befürchtete, viel zu lange in diesem Streit geschwiegen zu haben. »Seid ihr alle verrückt geworden? Und wenn ich alle sage, meine ich alle – auch dich Chex und unsere Freunde. Es ist Unrecht, junge Nargen zu entführen und für solche Auseinandersetzungen zu missbrauchen! Und zwar auf beiden Seiten! Ist euch denn jegliche Moral, jeglicher Anstand abhanden gekommen? Schämt ihr euch nicht? Ihr alle solltet vor Scham im Boden versinken! Ihr wisst es ebenso gut wie ich: Wenn sich das kleine Volk der Nargen jetzt spaltet und gegeneinander kämpft, dann wird keiner siegen! Weder wir, noch ihr! Die Nargen werden endgültig von der Oberfläche Kalsers verschwinden! Wir sind viel zu wenige, als dass wir es uns leisten könnten, uns gegenseitig umzubringen! Wenn wir uns gegenseitig abschlachten, können wir auch direkt Selbstmord begehen!« Jiim holte tief Luft. Langsam sanken die meisten Speerspitzen zu Boden. Alle waren wie erstarrt. Niemand sagte ein Wort. »Es ist schon zu viel Blut geflossen«, fuhr Jiim fort. »Es tut mir Leid, dass Gultar den Sturz nicht überlebt hat. Und ich weiß, dass ich dafür die Verantwortung übernehmen muss. Aber ich weiß – und ihr wisst es auch! –, dass es ein tragischer Unfall war. Kein Mord! Es war nicht meine Absicht, ihn zu töten. Aber es ist geschehen und kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Mein Fehler bestand darin, mich ausschließlich von meinen Gefühlen leiten zu lassen. Meine Sorge um Pern ließ mich tun, was ich tat...«
Jiim hielt inne. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Jeder spürte, dass er noch etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Deshalb lege ich meine Aufgaben nieder!«, verkündete er. »Ich bin ab sofort nicht mehr euer Ersatz-Suprio. Ich gebe außerdem die alleinige Verantwortung für die Erziehung von Pern ab.« Damit hatte niemand gerechnet, weder die Anhänger der Bewahrer noch Jiims Freunde. Er spürte, wie sich die Stimmung veränderte und fuhr sichtlich gestärkt fort. »Wählt alle gemeinsam jemanden, der dieser Aufgabe würdiger ist als ich! Es schmerzt mich zutiefst, aber ich sehe es deutlich! Hass, Missgunst und Neid haben unser Volk entzweit. Und diese üblen Gefühle sind wegen mir, wegen meiner Person entstanden. Deshalb werde ich das Volk der Nargen verlassen! Ich hoffe, dass die tiefe Spaltung, die unsere kleine Gemeinschaft beinahe zerrissen hätte, durch meinen Fortgang wieder überwunden werden kann!« Mit diesen Worten drehte sich Jiim um und schritt aus dem schweigenden Kreis der Versammlung. Alle blickten betroffen zu Boden. Niemand versuchte ihn aufzuhalten. Auch Chanyrr und seine Aufwiegler nicht. Es herrschte bedrücktes Schweigen. Den Nargen wurde erst jetzt richtig bewusst, wie nah am Abgrund sie sich eben noch befunden hatten. 5. Unterwegs Es folgte ein tränenreicher Abschied von Pern. Jiims Freunde Alef und Ciir hatten ihn aus der heiligen Höhle geholt, während Chex dafür sorgte, dass der junge Rryck wieder wohlbehalten zu seinem Elter Chanyrr gebracht wurde. Jiim versuchte, dem künftigen Suprio so gut es ging zu
erklären, dass zum Wohl der Nargen gelegentlich Entscheidungen gefällt werden müssten, die dem einzelnen nicht passten. »Das Wohl aller ist den Einzelinteressen übergeordnet. Auch und gerade den eigenen Interessen«, erklärte Jiim. »Insbesondere dann, wenn dieser Einzelne – zum Beispiel ich oder in nur wenigen Zyklen du – Macht über andere ausübt! Erst wenn du das begriffen hast, wirst du in der Lage sein, deine künftige Macht sinnvoll einzusetzen. Wer das nicht versteht, wird seine Macht unweigerlich missbrauchen!« Während Jiim zu Pern sprach, ließ er seinen Geist weit offen. Es war klar, dass diese letzte Lektion, die er dem zukünftigen Suprio mitgab, nicht nur für ihn, sondern für alle Nargen bestimmt war. Pern nickte, während aus seinen Augen gelbe Tränen flossen. Auch Jiims Freunde hatten sich versammelt, um Abschied zu nehmen. Nur Chex war nicht da. Insgeheim war Jiim ihm natürlich dankbar, dass er ihn aus den Klauen der Aufwiegler um Chanyrr befreit hatte. Nur mit den Methoden war er nicht einverstanden gewesen, deshalb schmerzte es ihn jetzt, dass Chex sich nicht verabschieden wollte. Ich hatte keine Gelegenheit, ihm für sein mutiges Eingreifen zu danken, sondern ihn nur die Entführung Rrycks gerügt, überlegte Jiim und ließ seine Nabiss-Rüstung diese Gedanken abschirmen. Ist er jetzt gekränkt? Oder bereitet er die Abstimmung über den Ersatz-Suprio vor? Jiim umarmte seine Freunde und guter Letzt noch einmal den jungen Pern. »Wann kommst du zurück?«, fragte ihn der junge Narge mit tränenerstickter Stimme. »Ich weiß es nicht. Aber es dauert nur noch wenige Zyklen bis du dein Amt übernimmst, und ich werde mich bemühen, spätestens dann zurückzukehren. Wenn du erst einmal Suprio
bist, gibt es für meine Gegner keinen Grund mehr, mich zu hassen.« »Versprich mir, dass du spätestens dann kommst, wenn das Fest meiner Amtseinführung gefeiert wird!«, verlangte Pern mit Nachdruck. »Mein Respekt vor dir zwingt mich dazu, ehrlich zu sein«, erwiderte Jiim, »deshalb kann ich dir dieses Versprechen nicht geben. Was ich dir versprechen kann, ist, dass ich mich mit aller Kraft darum bemühen werde, zu diesem Zeitpunkt wieder bei dir zu sein. Aber so wenig du in die Zukunft blicken kannst, so wenig vermag ich es. Aus diesem Grund wäre es leichtfertig, so etwas fest zuzusagen.« Pern nickte, und Jiim spürte, dass ihn der junge Narge genau verstand. So viel hätte der ältere dem jungen Nargen gerne noch beigebracht. Doch was half es, die Entscheidung war getroffen. Ab jetzt musste Pern lernen, ohne ihn auszukommen. Er schnallte sich den Vorratsbeutel, den ihm seine Freunde gepackt hatten, an die Nabiss-Rüstung. Einen Augenblick später stieß er sich mit einem gewaltigen Satz vom Boden ab und flog los. Er hatte jedoch kaum Höhe gewonnen, da spürte er, dass sich die hauchdünne Nabiss-Rüstung anders als sonst verhielt. Normalerweise versorgte ihn dieses hoch entwickelte Wunderwerk alter, längst untergegangener Technik mit einer Fülle von Informationen. Doch jetzt erhielt er nichts dergleichen. Jiim spürte, dass die Rüstung arbeitete, schließlich unterstützte sie seine Flugbewegung. Aber etwas war anders... Noch war er in Sichtweite der Nargensiedlung, doch mit jedem Flügelschlag wurde sie kleiner. Er wusste, dass er so rasch wie möglich wieder würde landen müssen. Nur am Boden konnte er die Nabiss-Rüstung auf mögliche Beschädigungen oder Fehlfunktionen untersuchen. Zuerst aber wollte er außer Sichtweite der Siedlung sein. Er befürchtete, dass eine Landung als Rückkehr missverstanden werden
würde. Als Wankelmut, so als hätte er es sich anders überlegt. Gerade bei den Aufwieglern bestand die Möglichkeit, dass sie so denken würden. Unter Jiim begann sich Kalser zu verändern. Längst waren die Bäume niedrigen Büschen und schließlich einem schmalen Streifen karger Graslandschaft gewichen, der schnell in Schnee und Eisflächen überging. Ab hier war der vulkanische Einfluss, die lebensspendende Wärme des Schrunds nicht mehr spürbar. Im Gegenteil, am Übergang zur lebensfeindlichen Eiswelt prallten auch zwei Klimazonen aufeinander, die für permanente Stürme und Unwetter sorgten. Fast senkrecht türmten sich die Wolken direkt vom Permafrostboden bis in die Stratosphäre auf, bildeten gigantische Wirbel und wurden zu fast jeder Tages- und Nachtzeit von den Blitzen heftiger Gewitter erhellt. Jiim hatte den besten Jägern seines Volkes gezeigt, wie sich diese verhältnismäßig schmale Unwetterzone durchfliegen ließ, um zu den Gletschern der Eisgebirge zu gelangen, in denen trotz des rauen Klimas eine Reihe sehr schmackhafter Tierarten auf dem Grund der Täler lebte. Doch jetzt schienen diese Wolkenberge sein Schicksal zu werden. Es war unmöglich, hier weiter als nur wenige Nargenlängen zu sehen. Manchmal gelang selbst das nicht. Die heftigen Blitze tauchten für Bruchteile eines Augenblicks alles um Jiim in grelles undurchdringliches Licht, danach sah er für quälend lange Momente gar nichts mehr. Unwillkürlich hatten seine Tränendrüsen ein dunkles Sekret abgesondert, das seine Augen vor der plötzlichen Helligkeit schützen sollte, aber so schnell wie ein Blitz konnte kein Nargenkörper reagieren. Es blieb Jiim nichts anderes übrig, als die Wolkenwand im Blindflug und vor allem so schnell wie möglich zu durchqueren. Normalerweise gab ihm seine Nabiss
Rüstung eindeutige Informationen, zum Beispiel wie hoch er sich über dem Boden befand. Doch jetzt war sie stumm... Der Sturm rüttelte und riss an ihm und warf ihn wie einen Spielball nach allen Seiten. Plötzlich auftauchende Luftlöcher, die er früher instinktsicher erahnt hatte, überraschten ihn und ließen ihn steil absacken. Einen Moment später packte ihn die nächste eiskalte Faust der orkanstarken Böen und wirbelte ihn wieder wie ein welkes Blatt nach oben. Auch Nargen ohne Rüstung können durch diese Unwetter fliegen, dachte Jiim mit dem Mut der Verzweiflung. Noch immer quälte ihn der Schmerz, den er sich mit seinem überraschenden Aufbruch selbst zugefügt hatte. Und dieses Gefühl ließ ihn nicht auf seine scharfen Sinne achten. So wusste er bald nicht mehr, ob er geradeaus, nach rechts, links, oben oder unten flog; kopfüber in den Wolken hing oder gerade im Begriff war, wie ein Pfeil zu Boden zu stürzen. Da bemerkte er, dass er selbst die Richtung gar nicht bestimmte – sondern seine Nabiss-Rüstung! Geht sie davon aus, dass ich ohnmächtig geworden bin und hat deshalb die Kontrolle übernommen?, fragte er sich. Aber ich bin nicht bewusstlos! In diesem Augenblick riss die Wolkenwand ein Stück weit auf, und Jiim konnte erkennen, dass er weit, sehr weit oberhalb der zerklüfteten Eislandschaft flog. Mit dieser Erkenntnis durchströmte ihn die Erleichterung, dass seine Augen noch einwandfrei funktionierten. Er entdeckte einen winzigen Punkt, der sich tief unterhalb seiner Höhe in fast die gleiche Richtung bewegte, wie er selbst. Der Punkt war zu klein, um genau erkennen zu können, um was es sich handelte. Doch bevor er tiefer gehen konnte, um diesen sich bewegenden Punkt deutlicher zu erkennen, schob sich ein Wolkenfeld vor seinen Blick.
So viel hatte er zumindest erkannt: Was auch immer sich da unter ihm befand, es flog wie er, wenn auch in nur geringer Höhe, über den Boden. Ein jagender Narge?, fragte sich Jiim. Wenn dem so wäre, hätte er sich nicht an die herkömmlichen Jagdzeiten gehalten. Wie auch immer, ich muss jetzt landen, um die Rüstung zu untersuchen! Er stieß fast senkrecht hinab. Doch nach weniger als einem Herzschlag wurde der Sturzflug sanft abgebremst. Was soll das? Erneut lenkte er seinen Flug nach unten, und wieder bremste die Nabiss-Rüstung und zwang ihn auf den einmal eingeschlagenen Kurs. Jiim wiederholte das Manöver wieder und wieder, immer mit dem gleichen Ergebnis. Die Nabiss-Rüstung will mich nicht landen lassen!, durchzuckte es ihn. Nun versuchte er, nach links auszubrechen. Doch auch hier griff die Rüstung mit sanfter, aber unnachgiebiger Gewalt ein und dirigierte ihn wieder zurück. Auch allen anderen Richtungen, außer der von ihr vorgegebenen, verweigerte sie sich. Sie zwang Jiim in eine ganz bestimmte Richtung, von der er nicht abweichen konnte. Die Alte Stadt!, flüsterte es in seinem Kopf. Die Nabiss-Rüstung sprach wieder mit ihm. Schon einmal hatte er dieses zwei Tagesflüge entfernte Ziel erreicht. Seinerzeit hatte er John Cloud mitgenommen, und schon damals war der beinahe eigenständige Wunsch der NabissRüstung zu spüren gewesen, dorthin zu gelangen. Will die Rüstung an den Ort ihrer Entstehung zurück? Jiim hatte ohnehin vorgehabt, sein Exil, über das er sich bisher kaum Gedanken gemacht hatte, hier zu beginnen. Sehr viel verborgenes Wissen musste sich noch in den Gebäuden und Pyramiden der Alten Stadt befinden.
Dennoch verfluchte er die Eigenmächtigkeit der Rüstung. Er wollte nicht gezwungenermaßen zur Stadt seiner Vorfahren, sondern freiwillig – und es war eindeutig, dass ihm die Rüstung nicht gehorchte. Mit einem entschlossenen Faustschlag auf den Brustpanzer schaltete er sie ab. Augenblicklich erlosch ihr geheimnisvolles Glühen und ebenso schnell verwandelte sich Jiims stabile Fluglage in ein Abwärtstrudeln. Er lenkte mit den Flügeln in eine weite spiralförmige Bahn, die ihn durch das Wolkenfeld in Richtung Boden führte. Inmitten des grauweißen Nebels, der ihn umgab, glaubte er für einen Augenblick, einen dunklen Schatten neben sich auftauchen zu sehen. Einen Augenblick später war diese Erscheinung wieder verschwunden und hinterließ nur eine seltsame Wärmespur, die zu flüchtig war, um sie richtig deuten zu können. Endlich sackte er aus der Wolkendecke und sah die vielfach zerfurchte Eislandschaft direkt unter sich. Sein messerscharfer Blick hatte bereits einen brauchbaren Landeplatz ausgemacht und nur wenige Herzschläge später setzten seine mit langen Greifzehen ausgestatteten Füße im Schatten einer turmhohen Gletscherplatte auf. Keuchend legte Jiim die Rüstung ab. Die Kälte, der Sturm, der Widerstand der Nabiss-Rüstung, die vergeblichen Flugmanöver und nicht zuletzt die noch ganz frischen Ereignisse in seinem Dorf hatten Jiim mehr erschöpft, als er sich zugestehen wollte. Wenn Nargen schlafen, so legt sich eine dunkle, lichtundurchlässige, zähflüssige Schicht aus den Tränenkanälen über ihre Augen. Sobald sie erwachen, spült die ganz anders geartete, wesentlich dünnere Schutzschicht, die die Augen normalerweise überzieht, die dunkle Schlafschicht rasch wieder weg. Die Zusammensetzung dieser körpereigenen
Augenflüssigkeiten ist so vielfältig, dass sie sich jeder Lebenslage anpassen können. In diesem Sinn wollten Jiim gerade die Augen vor Müdigkeit und Erschöpfung zufallen. Doch der Platz, an dem er gelandet war, schien für eine Ruhepause völlig ungeeignet zu sein. Die Rüstung..., dachte er schlaftrunken. Ich muss... muss die Rüstung unter... untersuchen... einen guten Rastplatz... suchen... Er merkte nicht mehr, wie er langsam zusammensackte. Statt Gedanken begannen zahllose Bilder durch seinen Kopf zu geistern. Das Gesicht von Pern, das riesig groß über den Baumwipfeln ruhte und wie Maron auf seine Behausung herabblickte... Er sah sich selbst in dem Baumhaus, wie er mit Gultar um eine auf dem Boden liegende kupfern glänzende NabissRüstung tanzte. Auf einmal waren die dünnen Seitenwände seines Nest fort – wie weggeblasen – und draußen schien die Sonne mit einer Strahlkraft, die er noch nie gesehen hatte... Jetzt flog er mit Pern über die Wipfel in das warme Licht der Sonne, die immer heller wurde... Über all dies spürte er nicht, dass ein plötzlicher Temperatursturz die ohnehin vorherrschende Kälte noch weiter nach unten gedrückt hatte. Es spürte nicht, wie die eisigen Finger der klirrenden, tödlichen Kälte unerbittlich auf ihn zukrochen und sich wie Nadelspitzen in die kleinsten Lücken seines Gefieders bohrten. Immer tiefer... *** Zur gleichen Zeit, einige Tagesflüge entfernt. Das riesige Wesen kroch, eine breite Spur hinter sich herziehend, durch die eisige Landschaft. Die Kälte schien ihm
nichts anhaben zu können, nur die andauernde Fortbewegung bereitete ihm zunehmend Mühe. Tief im Inneren des Wesens befand sich ein gewaltiger Muskel, an dem sechs verkümmerte Gliedmaßen hingen, mit denen es allein nicht hätte laufen können. Es setzte sie zusätzlich zu den ringförmigen Muskelsträngen ein, die nahe der Hautoberfläche den Körper umspannten und mit deren Kontraktion es sich vorwärts schieben konnte. Später einmal, wenn es älter sein würde, würde es die Hilfe von seinesgleichen benötigen, um sich fortzubewegen. Und noch später, wenn sie schon zu dritt, zu viert oder noch mehr wären, würde sich sein Körper ganz verwandeln und erstarren. Doch wo war seinesgleichen? Noch hatte niemand seine Suchrufe beantwortet. Dafür hatte er zwei andere schwache Signale aufgefangen. Einem hatte er geantwortet, aber auch hier wusste er nicht, ob seine Erwiderung angekommen war. Eine Bestätigung blieb bisher aus. Aber das mächtige Wesen war es gewohnt, sich in Geduld zu üben. Seine lange andauernde Existenz vertrug keine Hektik oder gar überstürzte Entscheidungen. Es würde sehen, wenn es sein vorläufiges Ziel erreicht haben würde. Dort sollten auch seinesgleichen zu finden sein, wahrscheinlich noch in tiefem Schlaf verfangen. Gerade die älteren vermochten so tief und so fest und so ausdauernd zu schlafen, dass sie sich von nichts stören ließen. Das Wesen erinnerte sich mit wohligem Schauern an die Bruchstücke der Ewigkeit, die in seine Traumwelt gedrungen waren und ihn in kleinen Portionen an der unendlichen Weisheit des Alls, das alles umgibt und alles ist, teilhaben ließ. Seine erste große Vereinzelung hatte aus ihm einen Gereiften, einen Erwachsenen gemacht. Das andere Signal, das er gespürt hatte, war von weit oben gekommen. Dieses Signal war tastend und gänzlich indifferent
gewesen, so als sei es überhaupt nicht gezielt abgestrahlt worden. Doch das Wesen ließ sich dadurch nicht täuschen und hatte beschlossen, es zu ignorieren... *** Die Strahlen der Sonne bildeten eine breite Straße, auf der Jiim und Pern entlangflogen. Leichtigkeit und Fröhlichkeit beherrschte sie, innerer Frieden und eine Gelassenheit, die Jiim noch nie gespürt hatte. Bin ich glücklich, fragte er sich. Ist dies das vollkommene Glück? Ja, das musste es sein. Jiim war sich sicher, eine alles durchdringende Gewissheit erfüllte ihn. »Jiim!« Es klang wie Geschrei, aber weit entfernt. Aber Pern hatte doch nichts gesagt... »Jiim!« Mit einem Mal zerrte der Fahrtwind heftig an seinen Flügeln. Es war doch ganz windstill, wie konnte das sein? Jiim fühlte, wie das Glücksgefühl mit einem Schlag zerstob. Verwirrung machte sich in ihm breit. »Zur Sonne!«, murmelte er. Pern konnte ihn nicht hören. »Zur Freiheit!« Immer heftiger rüttelte ihn der unsichtbare Fahrtwind und wollte ihn von seinem Weg abbringen. »Jiim! Wach auf! Verdammt noch mal! Wach auf!« Das war nicht Pern. Eindeutig nicht Pern. Die gleißenden Strahlen der Sonne verschwanden in schmutzigen Schlieren und im gleichen Moment war auch Pern verschwunden. Jiim flog nicht mehr, sondern lag auf dem eiskalten Boden. Über ihn beugte sich eine große Gestalt und rüttelte ihn so heftig, dass er glaubte, seine Knochen würden brechen.
Es war diese Gestalt, die auf ihn einschrie. »Jiim! In Plephes Namen, wach auf! Bitte wach auf!« »Chex...«, murmelte Jiim und versuchte, sich aufzurichten. Doch seine Beine wollten nicht richtig funktionieren. Er taumelte und bemerkte, dass er kein Gefühl mehr in seinen Gliedern hatte. Vor seinen Augen bewegte sich seine rechte Hand, ohne dass er spürte, wie sie sich bewegte. Alles war taub, und er wusste, nur wenig später wäre alles tot gewesen. »Jiim, los, hoch mit dir!«, herrschte ihn Chex an und riss ihn nach oben. Ein höchst unangenehmes Prickeln und Stechen zeigte Jiim, dass ganz allmählich das Blut wieder zu zirkulieren begann. »Was machst du hier?«, lallte er und gewann nur langsam die Kontrolle über sich zurück. »Wenn ich dich nicht gefunden hätte, wärst du erfroren!«, erwiderte Chex mit vorwurfsvoller Stimme. Er zog den Freund zu sich heran und breitete die Flügel aus, um ihn – wenn auch nur notdürftig – zu wärmen. »War das deine Absicht?« »Ich verstehe nicht...«, sagte Jiim. »War es deine Absicht, hier draußen zu erfrieren?« »Nein, nein!«, wehrte Jiim ab. »Ich war auf einmal so müde. Eigentlich wollte ich nur kurz landen und die Nabiss-Rüstung untersuchen. Sie funktioniert nicht mehr richtig. Der Flug war so anstrengend und die ganzen Vorfälle mit Gultar, Chanyrr und Pern. Das alles muss mich mehr erschöpft haben, als ich anfangs dachte...« Jiims Worte wurden von heftigen Schüttelanfällen begleitet. Mit dem Gefühl kehrte auch die Empfindung der eisigen Kälte in ihn zurück. Umso angenehmer empfand er es, dass Chex ihn wärmte. »Danke«, sagte Jiim. »Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Wie kommt es, dass du hier bist, dass du mich gefunden hast?«
»Ich hatte nicht vor, dich so einfach gehen zu lassen! Aber ich wusste auch, wenn ich dir angeboten hätte, dich in dein Exil zu begleiten, hättest du es abgelehnt.« Jiim nickte wortlos. »Deshalb bin ich dir gefolgt. Aber in der Unwetterzone habe ich deine Spur verloren. Ich wollte schon umkehren und meinen Plan aufgeben. Durch die Abschirmung der NabissRüstung konnte ich nirgendwo deine geistige Spur ausmachen. Doch dann empfand ich plötzlich deine Präsenz. Einmal sogar ganz in der Nähe...« »Das war, als ich die Rüstung abgeschaltet habe.« »Wenn ich sehe, wie du vor Kälte zitterst, wäre es sinnvoll, wenn du sie wieder anziehst«, schlug Chex trocken vor. »Sie kann dich auf Dauer wahrscheinlich besser wärmen als ich. Außerdem müssen wir einen geeigneten Lagerplatz in der Nähe finden, wo wir Feuer machen können. Sonst bin ich bald an der Reihe zu erfrieren!« Er half Jiim, die Rüstung anzulegen. »Ich weiß, wo wir hinkönnen«, sagte Chex anschließend. »Es sind nur wenige hundert Flügelschläge von hier. Ein idealer Ort...« Jiim versuchte das geistige Bild aufzufangen, das Chex mit seiner Bemerkung verbunden hatte, aber es gelang ihm nicht. Erst da bemerkte er, dass Chex eine der dünnen, leicht pulsierenden Ketten, um den Hals trug, die so unscheinbar waren, dass man sie erst mit dem zweiten Blick wahrnahm. »Wo hast du das her?«, fragte er seinen Freund. »Gultar konnte nichts mehr damit anfangen. Da habe ich mir gedacht...« »Du hast diese Kette dem toten Gultar abgenommen?« Jiim war fassungslos. »Sollte ich sie etwa Chanyrr geben...?«, erwiderte Chex. »Wenn jemand ein Anrecht darauf hat, dann ist es Pern!«
»Jiim, willst du mir Vorwürfe machen? Du kannst doch deinen eigenen Ansprüchen nicht genügen!« Chex blickte ihm zornig und herausfordernd ins Gesicht. Jiim war viel zu müde, um sich auf eine Diskussion einzulassen. Dennoch musste er wissen, worauf Chex mit seiner Bemerkung anspielte. Da er seine Gedanken nicht abschirmte, antwortete ihm Chex, ohne dass er die Frage aussprechen musste. »Dieses Ding meine ich!« Dabei klopfte er Jiim auf die Rüstung. »Nach deinen Vorstellungen haben Chanyrr und seine Gefährten bereits Unrecht getan, als sie die Ketten aus der heiligen Höhle entwendet haben. Ich stimme dir insofern zu, als Chanyrr und seine Aufwiegler es waren, die sie gestohlen haben.« »Ich ahne, worauf du hinauswillst. Aber du misst mit zweierlei Maß!«, unterbrach ihn Jiim. »Mag sein, doch wenn Diebstahl aus der heiligen Höhle Unrecht ist, was ist dann das?« Wieder klopfte er gegen Jiims Nabiss-Rüstung. Jetzt verstand Jiim, was ihm Chex sagen wollte. Auch er hatte vor längerer Zeit die Rüstung aus Caars Höhle entwendet. Damals lebte der alte Suprio noch, aber er war von Guma Sko Pi in Notwehr schwer verletzt worden. Jiim war seinerzeit in die Höhle eingedrungen, obwohl dies allen Nargen mit Ausnahme des Suprio verboten war. Dieses Tabu hatte seinen ganz besonderen Grund: Die heilige Höhle war vollgestopft mit alter Nargen-Technologie. Unter den zahllosen technischen Errungenschaften hatte die Nabiss-Rüstung ganz besonders herausgestochen. Ja, sie schien ihn regelrecht anzuziehen, als er in die Wohnhöhle Caars eindrang. Er musste sie anziehen, und in dieser Hinsicht blieb ihm nichts anderes übrig, als Chex Recht zu geben: Mit welchem Recht verurteile ich ihn, wenn ich genau das Gleiche getan habe...
Chex nickte und trat einige Schritte zurück. Eine kalte Böe ließ bei beiden das Gefieder knistern. Jiim schaltete die Nabiss-Rüstung ein. Augenblicklich durchströmte ihn ein wohliges Gefühl schützender Wärme. Aber auch die flugunterstützenden Mikroverstrebungen fuhren aus und umschlangen blitzschnell Arm- und Flügelmuskulatur. Wie Lichtkaskaden strömten die goldenen Schimmer, die von der Rüstung versprüht wurden, und umgaben ihn mit einer vibrierenden Aura, in der er abrupt vom Boden abhob. »He, nicht so schnell!«, rief Chex und schwang sich ebenfalls in die Luft. »Ich mache das nicht selbst!«, schrie Jiim zurück. »Die Rüstung macht mit mir, was sie will!« »Dann lass sie so lange arbeiten, bis ich dir Bescheid sage«, erwiderte Chex, der sah, dass Jiim in die Richtung flog, in der sich der von ihm ausgesuchte Lagerplatz befand. Schon wenig später rief er: »Abschalten!« und bog in eine scharfe Linkskurve. Aus den Augenwinkeln sah er, dass das Manöver geglückt war. Jiims Rüstung verblasste und mit einer eleganten Wendung segelte er ihm hinterher. »Ich kenne diese Höhle«, sagte Jiim, als sie gelandet waren. Rasch verschwanden die beiden Freunde in einer geräumigen Grotte, deren Eingangsbereich so im Windschatten lag, dass in unmittelbarer Nachbarschaft zu Gletscher, Schnee und Eis einige kleine, krumm gewachsene Büsche und Bäume gedeihen konnten. Genug Feuerholz für die bitter notwendige Rast. Wenig später saßen sie am Feuer und aßen schweigend einige der Vorräte, die sie mit sich führten. »Bist du dir sicher, dass du mich begleiten willst?«, fragte Jiim nach einiger Zeit. »Es gibt Situationen, da verstehe ich dich nicht«, entgegnete Chex. »Aber über eines bin ich mir vollkommen im Klaren...« Er machte eine bedeutungsvolle Pause und Jiim sah ihn
erwartungsvoll an. »Ich muss dich begleiten. Es geht gar nicht anders. Wer sollte dir sonst aus der Patsche helfen?« Jiim stieß ein leises keckerndes Geräusch hervor, das Chex nur zu gut kannte. Er lachte. »Gut«, stimmte Jiim schließlich zu. »Aber sei dir bitte auch darüber im Klaren, dass mein Weg nicht von mir bestimmt wird. Etwas führt mich, leitet mich.« »Die Nabiss-Rüstung...« »Es mag sein, dass sie schon so alt ist, dass sie nicht mehr richtig funktioniert. Aber eben, als ich sie erneut eingeschaltet habe, habe ich es wieder deutlich gespürt. Die Rüstung weiß, wohin sie mich bringen will. In die Alte Stadt. Irgendetwas ruft sie, und sie muss diesem Ruf folgen.« »Bedeutet das, die Rüstung unterliegt einem fremden Willen?«, fragte Chex. »Ich vermute es«, antwortete Jiim, »Ich befürchte es, und ich weiß nicht, wer oder was mich erwartet. Vielleicht wurde durch meine Aktivierung der Rüstung irgendetwas in Gang gesetzt. Etwas aus uralten, längst vergangenen Zeiten. Etwas, das die Nabiss-Rüstung jetzt zurückruft.« »Offensichtlich funktioniert die Nabiss-Rüstung aber nur zusammen mit dir.« »Ich weiß es nicht, Chex. Und ich möchte es nicht ausprobieren. Stell dir vor, ich aktiviere die Rüstung, ohne sie zu tragen und sie macht sich allein auf den Weg. Möglicherweise ist sie schneller, als wir fliegen können...« »Dann wärst du aber auch die Probleme los, die sie dir bereitet.« »Ich will wissen, was die Nabiss-Rüstung ruft. Wer oder was dahinter steckt. Letztlich birgt diese Rüstung viele Informationen aus der goldenen Zeit der Nargen, als wir noch ein großes und hoch entwickeltes Volk waren. Ich spüre, hier könnte ein großes Geheimnis verborgen sein, das für uns alle von großer Bedeutung ist.«
»Aber es könnte sich auch um eine Bedrohung handeln, um eine Gefahr, die keiner von uns beiden richtig einschätzen kann«, gab Chex zu bedenken. Jiim nickte. »Deshalb muss ich dich warnen, wenn du mich begleitest. Worauf wir auch stoßen werden... Es will vielleicht nichts anderes als unseren Tod!« *** Zur gleichen Zeit,
weniger als zwei Tagesflüge entfernt
Bilder einer seit langem vergangenen Zeit entstanden vor seinem geistigen Auge. Seinesgleichen hatte ihn begleitet. Tief waren sie in den Dschungel eingedrungen, hatten die bekannten Wege zurückgelassen und waren, Bäume und Büsche niederwalzend, quer durch die Wildnis gezogen. Sorgfältig hatten sie nur ein räumlich sehr eng begrenztes Feld offen gelassen, über das sie miteinander kommunizierten. Nichts durfte nach draußen dringen. Keine Signale, auch nicht an ihresgleichen, keine Botschaften, am besten keine Spur. Das war bei so gewaltigen Wesen natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Sie waren allein wegen ihrer schieren Größe fast unübersehbar. Doch der Wald, den sie sich als Rückzugsort ausgewählt hatten, war ihnen seit alters her freundlich gesonnen – trotz der Zerstörung, die sie unwillkürlich anrichteten, wenn sie in ihn eindrangen. Die Bäume waren noch höher als sie, und ihre Wipfel schlossen sich über der Schneise, die ihren Weg markierte. So blieb ihr Weg unbemerkt. Sie alle waren nur aus einem einzigen Grund unterwegs: wegen ihm selbst. Der mal in die eine, mal in die andere Richtung abschweifende Weg schien gelegentlich fast im Kreis zu
führen. Es sah nicht so aus, als verfolgten sie ein Ziel – dennoch hatten sie eins, das eindeutig festgeschrieben war. Die Spur der heiligen Wurzeln wies ihnen die Richtung. Mit ihren empfindlichen Sinnen konnten sie die Wurzeln noch tief in der Erde spüren. Ohne sie herauszureißen, saugten sie so viel von dem Saft der heiligen Wurzeln, wie sie erwischen konnten. Der Saft half ihnen allen, sich auf die bevorstehende Aufgabe einzustimmen – das Ritual, das ihn, den jungen Ganf, zu einem vollwertigen Mitglied ihrer Gemeinschaft machen würde... Heute, zahllose Zyklen später, war von den heiligen Wurzeln nichts übrig geblieben. Auch die dichten, riesigen Dschungelwälder waren von der Oberfläche seiner Welt verschwunden. Alles lag unter einer dichten, tödlichen Schicht aus Eis und Schnee. Und wieder zog er eine breite Spur hinter sich her, aber außer Nebel und Sturm gab es nichts mehr, womit er seine Spur hätte auslöschen können. Doch diesmal war es überhaupt nicht seine Absicht, seine Spur zu verbergen. Wer auch immer seinen Weg kreuzen sollte, sollte sehen, wohin er sich begeben hatte. Endlich erreichte der Ganf die Öffnung. Er hatte sein Ziel erreicht. Während der langen Reise waren nur schwache Signale zu vernehmen gewesen. Und keines war darunter, das ihm gesagt hätte, wohin sich seinesgleichen zurückgezogen hatten. Nachdem er nun sein tief verschneites Ziel erreicht hatte, begann er zu ahnen, warum. Hier lebte nichts und niemand mehr. Er erinnerte sich an die Tage des Guitol-Rituals, das vor so vielen Zyklen stattgefunden hatte. Es waren die Tage der Invasion gewesen, als die »Unsichtbaren« auf Kalser gelandet waren. Alle Teilnehmer des Rituals hatten sich tief in die einst vor blühender Vegetation strotzende Dschungelwelt am Fuß der Intruschen-Bergkette zurückgezogen. »Das Ritual ist wichtiger, viel bedeutsamer als fremde Krieger von den Sternen. Geht und lasst euch nicht von solch
minderen Widrigkeiten aufhalten! Unser Gefährte ist nun alt genug, um das Guitol zu erlangen! Und wie ihr wisst, gibt es nur einen Weg, um es zu erwerben!« So hatten die letzten Worte der Versteinerten gelautet. Noch immer schwang die Erinnerung in aller Deutlichkeit vor seinem geistigen Auge. Er war stolz gewesen. Zum ersten Mal hatten ihn die Versteinerten als Gefährten bezeichnet. Das war eine hohe Auszeichnung, eine Ehre, denn das bedeutete, sie sahen in ihm nicht mehr das Kind, sondern einen gleichberechtigten Partner. Die Versteinerten hatten die höchste Stufe der Erkenntnis erreicht. Sie konnten sich nicht mehr bewegen, weil ihnen die Last ihres Wissens viel zu schwer geworden war. Schon vor dem Guitol hatte der Ganf seine Fähigkeiten geschult und seine Fertigkeiten ausgebildet. Sein Lehrmeister hatte seine große Geschicklichkeit gepriesen, und so war es ein Gebot der Logik gewesen, trotz der Invasoren, die gerade vom Himmel stürzten, unerschütterlich am zeitlichen Ablauf des Rituals festzuhalten. Höhe- und Schlusspunkt war das Gebot der strikten Vereinzelung. Bevor sich seine Begleiter zurückzogen, um ihn in den Abgrund der strikten Vereinzelung gleiten zu lassen, hinab in die Welt der Träume, hatten sie alle den großen, rituellen Gesang angestimmt, der seit Anbeginn ihres Daseins die Kandidaten der strikten Vereinzelung auf den ersten Schritten ihres Weges in ihre jeweils eigene Welt begleitete. Dieser Gesang war einmal ihre eigentliche, ursprüngliche Sprache gewesen, bevor die Ganfs die geistigen Felder entdeckten und sie unter anderem für ihre Kommunikation einsetzten. Sie hörten und sangen mit der ganzen Haut, die ihre massigen Leiber umgab. Die Vibrationen, die sie damit abgaben, schwangen in so tiefen Frequenzen, dass andere Lebewesen nur so etwas wie dumpfe, unsichtbare Schläge verspürten. Vor den tastenden Blicken und dem begleitenden Gesang begann sich der Boden unterhalb des Kandidaten zu bewegen.
Er lag auf einem sorgfältig ausgewählten Hügel, von dem auf einmal lose Erde hinabrieselte. Direkt unter der dünnen Erdschicht kam die Wölbung eines Ehrfurcht gebietenden Gebildes zum Vorschein. Vielfach zerfurcht und zernarbt entpuppte es sich als das Halbrund eines gewaltigen, ehemaligen Ganf-Gehäuses, das seit einer halben Ewigkeit hier im Boden lag. Schon wenig später war er in dem Gehäuse verschwunden. Seine Begleiter ließen den Gesang ausklingen. Mit einem donnernden Krachen sackte das Gehäuse beschwert von seinem neuen Bewohner in einen Hohlraum, der sich direkt darunter befunden hatte. Eine dicke Schicht frischer Erde rutschte nach und bedeckte nun wieder die zerfurchte Oberfläche. Seine Begleiter hatten bereits den Rückweg angetreten, als der Ganf mit der Suche nach der ihm eigenen Traumwelt begann. Um einen ungehinderten Zugang zur allgegenwärtigen Kraft des All-und-Alles zu erlangen, musste jeder Ganf in seinem Leben mindestens eine Phase der Vereinzelung durchmachen. Nur mit einem ungehinderten Zugang zu jener Kraft, konnte ein Ganf ein wahrer Meister werden. Und nur in jener ureigenen Welt der Träume konnte der Zugang gefunden und die Verbindung zu der schier unerschöpflichen Energiequelle hergestellt werden. Er hatte in der letzten Phase der Guitol-Versenkung – während der Phase der strikten Vereinzelung – mehr als ausreichend Zeit gehabt, um die Quelle zu suchen und einen Zufluss zu seinem Selbst herzustellen. Jetzt, da er das gesamte Ritual erfolgreich abgeschlossen hatte, sehnte sich der Ganf mit jeder Faser seines gewaltigen Körpers nach neuerlichem Kontakt mit seinesgleichen. Er ahnte kaum, wie alt er selbst inzwischen geworden war. ***
Hoch oben in Kalsers Stratosphäre verfolgten die tausend Augen des Unbekannten Beobachters, wie sich das Wesen durch eine für seine Größe unbequem enge Öffnung in das Innere der Erde zwängte und dort verschwand. Augenblicklich geriet der Unbekannte Beobachter in einen Konflikt. Was sollte er tun? Jetzt konnte er den weiteren Weg dieses Wesens nicht mehr verfolgen. Sollte er hinabgleiten, um – in gebührendem Abstand – die Verfolgung unterirdisch fortsetzen zu können? Dann würde er seinen ursprünglichen Auftrag für eine Zeit nicht mehr wahrnehmen können. Oder sollte er auf seinem Posten verweilen? Dann würde sein Zielobjekt womöglich für immer verschwinden. Wie auch immer er sich entschied, er würde einen Fehler machen. Fehler aber waren im Konzept des Unbekannten Beobachters nicht vorgesehen. Doch bevor er sich zu einer Entscheidung durchringen konnte, geriet eine andere, viel kleinere Bewegung in das Blickfeld seiner tausend Augen. Eine Bewegung, der er ansonsten keine weitere Beachtung geschenkt hätte. Er kannte dieses Muster. Doch irgendetwas war hier anders. Vor allem aber, die Richtung stimmte. Vielleicht war ihm ja gerade die Lösung seines inneren Konflikts ins Blickfeld geraten... 6. Ankunft Eisige Sturmböen peitschten über die Gletscherlandschaft und trieben immer wieder gewaltige Ansammlungen von Schneepartikeln vor sich her.
Die winzigen Kristalle waren so scharfkantig, dass Jiim seinen Gefährten Chex schließlich dazu auffordern musste, sich in die Obhut seiner Nabiss-Rüstung zu begeben. Zumindest diese Funktion erfüllte noch ihren Zweck. Und so aktivierte er die dünnen Haltegurte, mit denen er vor einiger Zeit auch John Cloud zur Toten Stadt transportiert hatte. Jetzt hing Chex in diesem feingliedrigen Gestell und wurde somit ebenfalls vom Energiefeld der Rüstung vor den messerscharfen Partikeln des Eissturms geschützt. Der Weg, auf den die Nabiss-Rüstung die beiden Freunde zwang, schien der gleiche wie damals zu sein. Fast einen ganzen Tagesflug später ließ das Unwetter schließlich nach und sie konnten endlich wieder mehr sehen, als die schier undurchdringliche graue Masse, die mit großer Wucht an ihnen vorbeigefegt war. Chex kannte den Anblick nur aus seiner Teilnahme an Jiims Gedankenbildern. Jetzt sah er die gewaltigen Ruinen erstmals mit eigenen Augen, die sich fern am Horizont abzuzeichnen begannen und rasch immer größer wurden. Riesige Pyramidenbauten ragten in die Höhe und ein weit verzweigtes Netz aus streng angelegten Straßen verband die zahllosen Gebäude auf mehreren Ebenen. Die breitesten dieser Straßen bildeten regelrechte Schluchten, die sich schnurgerade durch das nahezu unüberschaubare Stadtgebilde bis zum Horizont zogen. »Wie viele Nargen mögen hier einst gewohnt haben?« Chex’ Stimme klang leise und etwas heiser vor mühsam gebändigter Ehrfurcht. »Es müssen viele Millionen gewesen sein«, antwortete Jiim. »Doch es waren ja nicht nur Nargen, die hier gelebt haben. Die Alte Stadt war auch die Heimat der mythischen Ganf, die von den Unsichtbaren bei ihrem Überfall auf Kalser ausgerottet wurden. Daneben hielten sich noch zahllose andere Völker und
Wesen hier auf. Zumindest zeitweilig. Woher diese kamen, wohin sie gingen? Ich weiß es nicht.« »Vielleicht waren es auch Götterboten wie Tschonk Laut und seine Gefährten?«, mutmaßte Chex. »Ja, vielleicht kamen auch sie von den Sternen...« Das raue Klima fegte zwar auch durch die zahllosen Straßenschluchten der Alten Stadt und hatte viele Gebäude so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass von ihnen nur noch Grundmauern standen. Hier lagen dann gewaltige Trümmerberge über die Plätze und Straßen verteilt und machten sie zu Fuß nahezu unpassierbar. Dennoch war die Stadt von der zerstörerischen Kraft der Gletscher verschont geblieben. Die meisten Straßen hatten sich einst über mehrere Ebenen durch die Stadt gezogen und wiesen damit darauf hin, dass sich hier nicht nur die geflügelten Nargen aufgehalten hatten. Über die Straßen müssen sich auch andere Lebewesen möglicherweise mit Fahrzeugen fortbewegt haben. Ursprünglich hatte jede dieser Ebenen durch Auf- und Abfahrten mit den anderen in Verbindung gestanden. Doch die meisten dieser fast filigran anmutenden Verbindungsteile waren eingestürzt. Ebenso zeugten an vielen Stellen nur noch Bruchstücke von den höher gelegenen Straßenebenen. Die zahllosen Pfeiler, teils umgestürzt, teils noch aufrecht stehend, wirkten wie Gerippe, wie ein Skelett. Die sterblichen Überreste der Alten. Es war unheimlich, über diese weiten Anlagen, das Ruinenmeer einer einst von pulsierendem Leben erfüllten Stadt, zu fliegen. Denn abgesehen vom Pfeifen des Windes, das mal zunahm, mal abflaute, war nichts mehr zu hören. Es war totenstill. »Was muss hier früher einmal für ein Leben und ein Trubel geherrscht haben!« Chex flüsterte unwillkürlich, als wolle er nicht die weihevolle Stille stören.
Andererseits hatte er das dringende Bedürfnis, etwas anderem als nur dem Geräusch des Windes zu lauschen und sei es auch lediglich der eigenen Stimme. Mit einer leichten Berührung an seiner Brust deaktivierte Jiim die Nabiss-Rüstung, die ansonsten unbeirrt weitergeflogen wäre. Mit einem mächtigen Flügelschlag lenkte er sie zu einer breiten Landeplattform, die auf halber Höhe eines weitgehend intakt wirkenden, gewaltigen Pyramidenbaus angebracht war. »Am besten erkunden wir erst einmal einen Teil der Stadt, bevor uns die Rüstung womöglich wieder aus der Stadt herausführt«, sagte Jiim, nachdem sie gelandet waren. Mit dem Abschalten der Nabiss-Rüstung hatten sich auch die Gurte gelöst, mit denen Chex während ihres Fluges von der Rüstung gehalten worden war. Nun verschwanden sie wieder im Inneren. Das Gebäude, in dessen Schatten sie sich nun befanden, besaß am Ende der Plattform einen hohen, schmalen Eingang, der einst von senkrecht aus der Pyramidenwand herausragenden Mauern umfasst worden war. Eine Art steinerner Windfang, der nun teilweise eingestürzt war. »Ist dies das Gebäude, in dem du damals mit Guma Tschonk warst?«, fragte Chex. Als Jiim verneinte, ging Chex auf das von Geröll und Schutt halb verschüttete Tor zu und begann, die Trümmer zur Seite zu räumen. »Lass!«, rief Jiim lachend. »Hier ist ein einfacherer Weg!« Mit diesen Worten schwang er sich auf zwei Nargenhöhen in die Luft, setzte oben auf dem Trümmerhügel vor dem Eingang auf und war weniger als einen Herzschlag später wie vom Erdboden verschwunden. Auch Chex schwang sich nach oben und entdeckte, was Jiim wohl schon beim Anflug gesehen hatte. Oberhalb des Eingangs war die Deckenbegrenzung eingestürzt und wies ein schräges Loch auf, das geradewegs ins Innere der Pyramide führte.
»Wenn ich da durch passe, reicht das für dich allemal«, tönte es hohl aus der Öffnung. Chex zwängte sich ins Innere. Es ging nicht direkt nach unten, sondern leicht schräg und er rutschte ein Stück. Da verlor er plötzlich jeglichen Halt und plumpste, noch bevor er seine Schwingen ausbreiten konnte, hart auf den steinernen Boden. Mit einem dumpfen Schlag fiel er auf die Seite. Fluchend stand er wieder auf und schüttelte benommen den Kopf. Jiim unterdrückte mühsam ein Lachen. »Alles wieder in Ordnung?« Chex warf ihm einen wütenden Blick zu. Doch im nächsten Augenblick wurde ihre Aufmerksamkeit von dem sie unmittelbar umgebenden Raum abgelenkt. Automatisch hatten sich ihre Augen auf die dämmrige Dunkelheit eingestellt. Um sie herum breitete sich über die gesamte Fläche, die der Bau in dieser Höhe hatte, eine Art hüfthohes Labyrinth aus. Sie standen in einem der breiteren Gänge, die – soweit sie es erkennen konnten – auf mal größere, mal kleinere Ein- und Ausgänge zugingen. Sie selbst waren durch einen schmalen Eingang in dieses Stockwerk gelangt, das in gut vier Nargenhöhen von einer Decke begrenzt wurde, die nur in der Mitte eine große viereckige Öffnung aufwies. Wahrscheinlich führte sie unmittelbar zur Spitze der Pyramide. Die Begrenzungen, die sich jeweils zu beiden Seiten der Labyrinthgänge befanden, waren etwa eine Nargenlänge breit. Sie bestanden nicht aus Stein, sondern einem anderen, ihnen unbekannten, harten Material. Als Jiim auf die Begrenzung hochsprang, wirbelte uralter Staub empor und ließ sie husten. »Das klang hohl«, sagte Chex und spuckte aus. »Nicht nur das«, antwortete Jiim und winkte. »Hier!«
Chex stieg ebenfalls auf die Begrenzung. Sie konnten erkennen, dass weiter hinten einige der Mauerteile oben offen waren. Insgesamt bildeten die hüfthohen Begrenzungsmauern ein komplexes, labyrinthartiges System. Immer wieder endeten die etwas tiefer liegenden Gänge an Mauern, die im rechten Winkel zu den seitlichen Begrenzungen gebaut waren. Auf diese Weise entstand ein verwirrendes Geflecht von Gängen, dessen Sinn sich weder Jiim noch Chex erschloss. Sie breiteten die Flügel aus und glitten zu der Stelle im Inneren, wo die Mauer oben offen war. Als sie dort anlangten, erkannten sie, dass die obere Bedeckung der breiten Mauer zur Seite gestürzt war. Der Hohlraum in der Mauer war leer und reichte fast bis zum eigentlichen Boden. Auch im Inneren hatte sich eine dicke Staubschicht abgesetzt. »Das sind alles Behälter!«, stellte Jiim fest und sprang hinunter. Mit der Faust klopfte er seitlich gegen die Mauer. Es dröhnte dumpf. »Wie eine Jaimaltrommel!«, meinte Chex. Auch er klopfte gegen eine Wand. Doch diesmal war der Klang anders. Gedämpfter und nicht ganz so laut wie zuvor. Jiim tastete über die Oberfläche. Er drückte dagegen, aber der Deckel ließ sich nicht bewegen. Er ließ weiter die Finger über den Rand tasten – als auf einmal ein helles Klicken ertönte. Für einen kurzen Moment waren seine Finger über eine leichte, kaum spürbare Erhöhung geglitten. Er stemmte sich erneut gegen den Deckel. Diesmal rührte der sich. Jiim schob, bis er sich selbst weit über die Öffnung, die nun entstand, beugen musste. Mit lautem Donnern polterte der Deckel auf der anderen Seite in den parallel laufenden Gang und blieb halb an den Behälter gelehnt liegen.
Der aufgewirbelte Staub legte sich nur langsam. Der Behälter war mit einer undefinierbaren, pulverigen Masse gefüllt. Chex probierte bereits an der nächsten Kiste, ob sich auch hier der Deckel öffnen ließ. Es gelang. Doch kaum war der Deckel einen Spalt weit offen, breitete sich ein abscheulicher Gestank aus. Angewidert wichen die beiden Nargen zurück. Chex sprang in die Luft und flog mit zwei Flügelschlägen zu dem halb zerfallenen Eingang, um außerhalb des Gebäudes frische Luft zu schnappen. Jiim schüttelte den Kopf und musste lächeln. Sein Freund neigte gelegentlich zu etwas übertriebenen Reaktionen. »Grauenhaft!«, prustete Chex, als er sich wieder zurück ins Innere schwang. Irgendetwas juckte ihn leicht hinten an seinem linken Flügel, unerreichbar, um sich dort zu kratzen. Er rieb sich deshalb an der Wand. Jiim musste lachen. Es sah zu komisch aus. Es war gut, dass ich Chex mitgenommen habe, dachte er. »Keine Ahnung, was in diesem Behälter war«, sagte Jiim, »aber im Lauf der Zeit muss es zerfallen sein.« »Diese labyrinthartig aneinander gereihten Kisten schließen offenbar luftdicht ab. Wer weiß, was da sonst noch drin lagert!« Chex schüttelte sich. »Noch ein Versuch?«, fragte Jiim. »Um Plephes Willen, nein! Vielleicht stinkt die nächste Kiste nicht nur, sondern geht sogar in Flammen auf!« »Könnte gut sein, dass dies eine Art Lagerraum war«, überlegte Jiim. »Aber wir sollten noch einen Versuch wagen. Vielleicht finden wir ja sogar etwas brauchbares...« Ohne weitere Einwände von Chex abzuwarten, öffnete Jiim den neben ihm befindlichen Behälter. Zum Glück blieben sie diesmal von einer unangenehmen Überraschung verschont. Aber auch der Inhalt dieser Kiste war längst zerfallen, und als
Jiim hineingriff, um das stoffähnliche Material herauszuholen, zerbröselte es in seiner Hand. Ein weiterer Behälter barg etwas, das aus stabilerem Material zu bestehen schien. Es handelte sich um runde, röhrenförmige Stäbe von der Länge eines Unterarms. Als Jiim einen der Stäbe herausholte, flammte dieser plötzlich grell auf... *** Er war verärgert. Obwohl der Begriff der Verärgerung dem Unbekannten Beobachter kaum angemessen war. Dennoch, wenn er sich herablassen würde, solche begrifflichen Kategorien auf sich selbst anzuwenden, dann kam Ärger seinem Zustand schon sehr nahe. Nicht genug, dass er die Spur des großen Wesens verloren hatte, als dieses von einem Moment zum nächsten in einem abgeschirmten, unterirdischen Bereich verschwunden war. Jetzt waren auch die beiden anderen niederen Lebensformen in eines der alten Gebäude eingedrungen, wo er sie nicht vollständig überwachen konnte. Dabei hatte eins dieser kleinen Wesen deutliche Signale abgestrahlt. Signale, die völlig untypisch für diese primitive Lebensform waren. Aber noch wichtiger war, dass diese Signale zwischen dem kleinen geflügelten Wesen und einem bestimmten Ort eine Art Verbindung aufgebaut hatten. Dieser Ort war offenbar auch das Ziel des großen Wesens, denn auch von ihm hatten sich Emissionen in diese Richtung feststellen lassen. Jedenfalls solange er den Weg dieses Wesens verfolgen konnte. Der Unbekannte Beobachter machte sich keine überflüssigen Gedanken über die Kleinen, er stellte nur die Anomalie fest. Viel mehr arbeitete es in ihm, was es mit dem großen Einzelwesen auf sich hatte. Das war nicht nur eine Anomalie, sondern sogar ein Anachronismus.
Geduld war eine der größten Stärken des Unbekannten Beobachters. Und diese Geduld wurde nun belohnt. Ebenso wenig wie der Begriff des Ärgers streng genommen für eine genaue Zustandsbeschreibung des Unbekannten Beobachters taugte, so wenig war ihm ein Wort wie Glück angemessen. Andere würden sagen, sie hätten Glück gehabt, als eines der beiden Wesen für einen Augenblick wieder außerhalb des Gebäudes auftauchte. Für den Unbekannten Beobachter war es nur das schlüssige Resultat der Geduld. Das Beobachtungsobjekt tauchte gerade lange genug wieder im Freien auf, um eine Maßnahme zu ergreifen, die er schon längst hätte durchführen müssen. Er musste ein kleines Opfer bringen. Ein Faden, so dünn, dass er mit bloßem Auge kaum noch sichtbar war, schoss mit ungeheurer Geschwindigkeit aus der Region der Stratosphäre auf das kleine Wesen herab, das sich gerade aus der Öffnung des Gebäudes beugte. Da hatte er ihn schon! Ab sofort war dieses Exemplar der geflügelten Lebensform markiert. Bei dem großen Wesen hätte der Unbekannte Beobachter diese rüde Form der Annäherung niemals gewagt, außer er hätte es sofort mit seiner Allgewaltigkeit konfrontieren wollen. Doch solch eine Begegnung bedeutete immer den Tod für das verfolgte Wesen, und so weit war er noch nicht. Dazu musste er erst noch mehr erfahren. Bei dem kleinen war es anders. Es verfügte beileibe nicht über die sensorischen Fähigkeiten wie das große Einzelwesen. Das kleine Subjekt hatte mit Sicherheit nicht das Geringste bemerkt. Auch der Begriff der inneren Zufriedenheit war für den Unbekannten Beobachter völlig untauglich. Aber das kleine Opfer hatte sich gelohnt, eines seiner zahllosen Augen war ab sofort direkt dabei. Da das Denken und Handeln des Unbekannten Beobachters außerhalb jeder herkömmlichen Kategorie angesiedelt war, konnte natürlich die Beschreibung innerer Zufriedenheit nicht stimmen, aber diese unzulänglichen
Begriffe kamen seinem gegenwärtigen Zustand trotzdem recht nahe... *** »Ah! Ist das grell!« Jiim hatte vor Schreck den Rundstab fallen gelassen. Augenblicklich war das helle Strahlen wieder erloschen. »War es heiß?«, fragte Chex, der nicht minder erschrocken zusammengezuckt war. »Nein, überhaupt nicht«, murmelte Jiim und griff erneut nach dem Stab. Wieder flammte von einem Ende ein kräftiger Strahl auf, der weit entfernt auf die gegenüberliegende Wand des Gebäudes traf. »Es ist nur Licht«, sagte Jiim und erinnerte sich an ein ähnliches, allerdings wesentlich kleineres Gerät, das John Cloud seinerzeit dabei hatte. Jiim war damals bewusst geworden, wie unvollkommen die vermeintlichen Götterboten waren. Mit solch einem Gerät, das ein kaltes Licht verstrahlte, musste John Cloud die Umgebung beleuchten, um in der Nacht überhaupt etwas zu sehen. Für Jiim und sein Volk war die Dunkelheit der Nacht keine echte Dunkelheit, da sie alles genau erkennen konnten. Jedes Ding und erst recht jedes Lebewesen – egal ob Tier oder Pflanze – strahlte im Dunkeln seine spezifische Wärme ab. Für einen Nargen bot die Nacht oft bessere Sichtverhältnisse als der Tag. Wofür also waren diese Lichterzeuger, die sie soeben entdeckt hatten, bestimmt gewesen? Hatten seine Vorfahren noch nicht so gut in der Dunkelheit gesehen, wie er und sein Volk es heute vermochte? Oder waren die Lichtrohre für ganz andere Wesen bestimmt gewesen? Jiim merkte, dass ihn Fragen dieser Art faszinierten. Unbedingt wollte er mehr über
die vielen unbekannten Facetten der Vergangenheit seiner Welt herausfinden. Langsam ließ er den Lichtstrahl über die langen, immer wieder verwinkelten und sich verzweigenden Kistenreihen schweifen. Allmählich begann er, sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Lächelnd schwenkte er den Strahl dorthin, wo sich Chex befand. Geblendet hob Chex mit einem deftigen Fluch die Flügel, um seine Augen abzudecken. Im nächsten Moment griff auch er sich eins der Rohre. Wieder flammte das Licht auf. Als würden sie mit ihren Speeren kämpfen, fochten sie mit den gebündelten Lichtstrahlen und lachten mit einer Ausgelassenheit, als wären sie erst vor kurzem geschlüpft. Chex machte einen Ausfallschritt nach vorn und stolperte, aber ohne hinzufallen. Die Röhre sprang beinahe aus seiner Hand. Ihr Licht erlosch. Im letzten Augenblick bekam er sie wieder zu fassen – doch sie flammte nicht wieder auf. »He!«, fluchte er. »Das Teil scheint sehr empfindlich zu sein!« »Denk daran, dass diese Gegenstände, die wir hier gefunden haben, unendlich viele Zyklen auf den Flügeln haben...«, erwiderte Jiim lachend. »Es ist ein Wunder, dass überhaupt noch etwas funktioniert.« Er wollte Chex gerade vorschlagen, sich einfach einen neuen Stab zu nehmen, da flammte Chex’ Röhre wieder auf. Keinen Herzschlag später erlosch das Licht wieder, dann ging es in kurzen Abständen an und aus. Chex lachte. »Wie machst du das?« fragte Jiim. »Ganz einfach«, entgegnete Chex. »Wenn du das Rohr hinten umfasst, erlischt das Licht, nimmst du es vorne oder in der Mitte leuchtet es.« »Tatsächlich«, sagte Jiim, der nun ebenfalls herumzublinken begann. »Lass uns diese Dinger mitnehmen: Wer weiß, wofür
wir sie noch gebrauchen können«, sagte er nach einiger Zeit.
Mit diesen Worten steckte er den Stab in seinen Vorratsbeutel.
7. Tempel
Kurz zuvor
Er wollte sich den Anblick der leeren Hüllen ersparen. Als sich der Ganf jener gewaltigen Ansammlung von Gebäuden näherte, die in seiner Erinnerung von einem vielfältigen Leben erfüllt gewesen war, erbrachten seine tastenden Erkundungen nur endgültige Gewissheit darüber, was er schon lange befürchtet hatte. Die Alte Stadt war leer, ausgestorben, nichts und niemand lebte hier noch. Die Heimat seiner Jugend war nur noch ein Ruinenfeld. Hatten die unsichtbaren Eroberer tatsächlich derart gründliche Vernichtungsarbeit geleistet? Waren die eisigen Stürme, die riesigen Gletscher, der andauernde Schnee etwa das Resultat jenes Krieges? Er mochte es nicht glauben, obwohl viel für diese Annahme sprach. Doch letzte Gewissheit konnte ihm nur ein Ort bringen. Der geheime Tempel. Bevor er irgendetwas anderes tat, musste er den Tempel aufsuchen. Zielstrebig näherte sich der Ganf dem versteckten Eingang. Nichts deutete auf ihn hin. Eisig wehte der Wind über die große leere Fläche eines ehemals von hohen Bäumen umstandenen Platzes. Am Horizont erstreckte sich wie ein gewaltiges, altes, völlig marodes Gebiss die Kontur der Toten Stadt. Die breiten Straßen, die einst zu diesem etwas außerhalb gelegenen Platz geführt hatten, waren schon lange unter hohen Schnee-, Staub- und Eisablagerungen verschwunden.
Vor seinem geistigen Blick sah er die strahlende, breite Passage, die fast nutzlos aus der Stadt hinausführte. Nur zu seltenen Gelegenheiten hatte sie seinesgleichen dazu gedient, in der Abgeschiedenheit einst schattiger Wälder mit ihren pyramidenhohen Bäumen zu diesem Ort zu gelangen. Wenn es eine Möglichkeit gab, Gewissheit zu bekommen und etwas über den Verbleib von seinesgleichen zu erfahren, dann nur hier im geheimen Tempel der Ganf. Von einem Augenblick zum nächsten verschluckte die Erde das gewaltige Wesen, und nur die breite Spur, die abrupt irgendwo im Nichts endete, deutete noch darauf hin, dass der Ganf hier entlanggekommen war. Doch schon begann der Wind den pulvrig-feinen Schnee aufzuwirbeln, der auch diese Spur in kurzer Zeit auslöschen würde... *** Inzwischen waren Jiim und Chex auf ihrem Erkundungsgang bis zur Mitte der großen Halle mit ihrem verästelten Gang- und Kistenlabyrinth vorgedrungen. Genauer gesagt bis fast zur Mitte. Denn dort gähnte ein quadratischer Schacht, dessen Seiten jeweils gut vier Nargenlängen umfasste. »Wahrscheinlich hat man durch diesen Schacht, die darunter liegenden Stockwerke erreicht«, sagte Jiim. »Oder ist von unten nach oben geflogen«, keckerte Chex, der mit seiner Bemerkung Jiim auf den Flügel nehmen wollte. Doch sein Freund ging nicht darauf ein. »Komm«, sagte er stattdessen, »das müssen wir uns ansehen!« Mit diesen Worten schwang er sich in den Abgrund. Auch Chex breitete seine Flügel aus und stürzte ins Leere. In sanften Bögen schwebten sie im Innern der gewaltigen Pyramide nach unten. War schon die eben verlassene Halle auf gut halber Höhe des Gebäudes riesig gewesen, so verbreiterte sich der
untere Teil noch einmal um ein Vielfaches. Er war in ein diffuses Restlicht getaucht und schien, abgesehen von einer prägnanten Erhebung in der Mitte, völlig leer zu sein. »Ist das...?« Chex ließ den Satz unvollendet. »Ja«, antwortete Jiim, der ebenfalls unwillkürlich leiser geworden war. »Das Gehäuse eines Ganf«, flüsterte Chex. »Er ist riesig gewesen.« Als sie aufsetzten, berührte er das zerfurchte, von zahllosen Rissen und Zeichen durchzogene, gewölbeartige Gebilde, von denen viele auch in der Toten Stadt zu sehen waren. Abgestorbene Ganfgehäuse wurden schon früh von den Nargen als Gebäude benutzt. Überwiegend zu rituellen Zwecken, deren Sinn verloren gegangen war. »Wie ist er mitten in die Pyramide gekommen?«, fragte sich Jiim halblaut. »Vielleicht hat dieser Ganf in den Tagen der Angriffe durch die Unsichtbaren hier Schutz gesucht«, vermutete Chex. Sie gingen um die gewaltige, abgestorbene Hülle herum. Sie maß etwa 12 Nargenlängen in Höhe, Breite und Länge. Ihre größte Fläche hatte sie am Boden, wo sie auflag. Von dort wölbte sie sich kuppelartig nach oben. Vorne besaß sie eine große, torähnlich gebogene Öffnung, durch welche die beiden Freunde das Innere betraten. »Wie mag der Ganf hier reingekommen sein?«, sinnierte Jiim, dem das keine Ruhe ließ. »Ich habe im Anflug auf die Pyramide keinen Hinweis auf einen entsprechend großen Eingang in Bodennähe gesehen.« Er wandte sich seinem Freund zu. »Du?« Chex schüttelte verneinend den Kopf. Da bemerkten sie das Phänomen. Es war völlig ungewohnt für sie. »Siehst du etwas?«, fragte Chex fast unhörbar leise. »Nein, nichts«, antwortete Jiim.
»Aber das ist unmöglich!« Das für ihre Augen völlig ausreichende Restlicht, das im Inneren der unteren Pyramidenhalle herrschte, beleuchtete zwar noch die Öffnung, die in das gewaltige Gehäuse führte, doch hier im Inneren des abgestorbenen Wesens war es auch für Nargenverhältnisse völlig dunkel. »Man sieht den Flügel nicht mehr vor Augen« stellte Chex fest. Jiim erwiderte nichts, sondern nestelte an seinem Vorratsbeutel. Kaum hielt er den runden Stab in der Hand, flammte dessen Licht auf und beschien einen streng begrenzten, kreisförmigen Ausschnitt. »Auch für Nargen gibt es das absolute Dunkel und das schon zu Lebzeiten!« Er beleuchtete die nach oben gewölbte Wand. »Jetzt wissen wir wenigstens, wofür diese Stäbe gut sind«, sagte Chex fröhlich und ließ auch seine Lichtröhre aufflammen. »Irgendetwas verhindert die Ausbreitung von Licht- und Wärmestrahlen, die von außen hier eindringen wollen«, grübelte Jiim. »Das, was diese Ausbreitung verhindert, muss mit dem Ganf zusammenhängen...« »Leider sind diese Wesen seit langem tot. Wir können sie nicht mehr fragen.« »Dann müssen wir es eben selbst herausfinden!« »Das Innere des Ganf ist völlig leer«, lenkte Chex ab und leuchtete in alle Richtungen. »Lass uns dieses Gebilde noch einmal genau von außen untersuchen!« Mit diesen Worten schritt Chex durch die grau schimmernde Kopföffnung des Ganfgehäuses. Dabei richtete er den Strahl seines Leuchtstabes schräg vor sich auf den Boden. Er hob den hinteren Fuß, um das Gehäuse ganz zu verlassen – und schrie grell auf.
Erschreckt blickte Jiim zum Ausgang. Unwillkürlich hielten seine Hände inne, die gerade die Oberfläche der Wandung abgetastet hatten. Doch nur das graue, fahle Restlicht war zu sehen, sonst nichts. Von einem Augenblick zum anderen war Chex verschwunden. Nur das fahle Echo seines letzten Schreis voll maßlosen Entsetzens hallte noch im Inneren der Pyramide... *** Die Informationen, die das gewaltige Wesen in dem tief unter der Oberfläche verborgenen Tempel erhalten hatte, waren dazu angetan, das ohnehin in ihm wühlende Gefühl der Niedergeschlagenheit zur puren Verzweiflung zu steigern. Keine Nachricht von seinesgleichen. Nur Leere und unbestimmtes, grenzenloses Entsetzen herrschte hier vor. Kaum hatte sich das schmale Tor wieder über ihm geschlossen, war er eine breite, bequeme Rampe ins Innere seiner Welt hinabgeglitten. In sanften, kreisförmigen Windungen schraubte sich dieser glatte Weg immer tiefer. Schon bald nach dem Eingleiten hatte der Ganf die Permafrostzone verlassen. Allmählich stieg die Temperatur durch die Hitze, die vom Kern des Planeten ausging, aber nicht mehr bis an seine Oberfläche drang. Als er die weiträumige, in großer Tiefe gelegene Tempelanlage erreichte, sah er auf den ersten Blick, dass dieser Ort schon seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr in Gebrauch gewesen war. Geradezu filigran wirkende Säulen stützten die Decke der unterirdischen Tempelanlage in einer Höhe, dass fünf oder sechs von seinesgleichen hier mühelos übereinander hätten kriechen können, ohne sie zu erreichen. An diesem Ort hatten sich einst gut einige Tausend von ihnen gleichzeitig aufhalten können, und er wusste, dass sich die Anlage – als er sie das letzte Mal zu besseren Zeiten vor
seiner Vereinzelung besucht hatte, hatte er es gesehen – bis fast an den Rand der Alten Stadt zog. Aber nun war alles öde und leer, und er kam sich an diesem heiligen Ort verloren vor. Nicht einmal ein altes Gehäuse war hier zurückgeblieben... Da entdeckte er in einer weit entfernten Ecke, wie in einem winzigen Schrein verborgen, die schwache Abstrahlung eines kaum noch wahrnehmbaren Schohoyls. Bedächtig – um diese letzten Spuren nicht durch zu große Hast für immer zu verwehen – näherte er sich vorsichtig der Stelle, von der er sich Aufklärung erhoffte. Schließlich stand das gewaltige Wesen vor einer winzigen Lücke in der Wand, knapp über dem Boden. Wie Flimmerhärchen bewegten sich einige der tentakelartigen Auswüchse in seinem Gesicht. Es schien, als tasteten sie etwas ab. Ein normales Auge konnte hier nichts erkennen. Einem normalen Blick musste die kleine Öffnung leer vorkommen. Doch mit ganz zarten Bewegungen umfuhren die verschiedenen Sensoren das Schohoyl, das nur seinen Sinnen zugänglich in der Öffnung lag. Tatsächlich waren noch einige Informationen vollständig. Andere aber waren nur noch in Bruchstücken erhalten, doch immerhin noch so weit verständlich, dass er sich die Lücken zusammenreimen konnte. Als er aber all dies verstanden hatte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als dieses Wissen niemals erhalten zu haben... *** Kaum hatte sich Chex vor Jiims Augen in Nichts aufgelöst, stürzte auch dieser zu der Öffnung des Gehäuses. Und wie Chex vor ihm, trat er mit einem lauten Schrei des Erschreckens ins Leere, als er es verließ...
Unwillkürlich versuchte er, seine Flügel zu spreizen, aber eine unsichtbare Kraft hinderte ihn daran. Eine Kraft, die ihn vollständig umhüllte. Jiim verdrehte die Augen nach oben und sah noch, wie sich der Boden der Pyramidenhalle wieder schloss. Er glitt eine spiegelglatte Fläche hinab. Wie schon zuvor in dem gewaltigen, abgestorbenen Ganf-Gehäuse umfing ihn, nachdem sich die Klappe wieder geschlossen hatte, die für Nargen so unheimliche und ungewohnte, absolute Finsternis. Da sah er vor sich ein kleines schwankendes, sich mit ebenso großer Schnelligkeit bewegendes Licht. Chex, dachte er mit einem Gefühl der Dankbarkeit und wurde sich im gleichen Moment bewusst, dass er wegen des plötzlichen Sturzes in die Dunkelheit das Leuchtrohr verloren hatte. Plötzlich war das kleine hektische Licht vor ihm verschwunden – und nur wenige Herzschläge später wusste er auch, warum... Jiim mochte nichts mehr sehen, doch sein ausgeprägter Gleichgewichtssinn funktionierte noch einwandfrei. Die rutschige Ebene hatte sich zur Seite geneigt. Er schoss in eine Kurve. Krampfhaft versuchte Jiim, sich zu stabilisieren, um nicht während der rasenden Fahrt um die eigene Achse geschleudert zu werden. Mittlerweile hatte er eine Geschwindigkeit erreicht, die mehr als ausreichend war, um ihm alle Knochen zu brechen, wenn er ungünstig aufprallte. Noch immer war die Bewegungsfähigkeit seiner Flügel massiv eingeschränkt. Irgendeine unsichtbare Kraft – vielleicht die gleiche Energie, die alles Restlicht absaugte – fesselte ihn. Nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, sich während der Schussfahrt über die steil abwärts führende Fläche so zu bewegen, dass sein Körper optimal in der aufgezwungenen Bewegung lag. Mehr war nicht möglich. Mit den Füßen voran
rutschte er durch die Finsternis, einem unbekannten Ziel entgegen. »Chex!«, schrie er, als er kurzfristig wieder das Licht vor sich sehen konnte, bevor es von der nächsten Kurve abgeschnitten wurde. Doch seine Stimme klang merkwürdig dumpf und verzerrt. Er hatte keine Ahnung, wie weit sein Rufen überhaupt zu hören war. Und Chex trug noch immer das Halsband, das den mentalen Kontakt verhinderte. Es war ein grotesker Albtraum, der ihn umfangen hielt. Längst hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Nur das gelegentliche Aufblitzen des Leuchtstabs weiter vorne verriet ihm, dass seine Augen trotz der alles umfassenden Schwärze wenigstens ab und zu noch funktionierten. Der Verlust der Sehkraft war für die Nargen der ultimative Schrecken schlechthin, der größtmögliche Horror, und nur der endgültige Tod wurde mit der Schwärze und Dunkelheit gleichgesetzt, die sie sonst nicht kannten. Selbst nicht im Schlaf, wo nur eine lichtdämpfende Schicht über die Augen glitt. Hier aber, während dieser kurvenreichen Fahrt, war es nicht nur die Dunkelheit, die Jiim zusetzte. Es waren auch die unkontrollierte Geschwindigkeit, deren Tempo er nur anhand des Gleitens und des Fahrtwindes einschätzen konnte; die ständigen Kurven, die ihn von einer Seite zur anderen schleuderten; jener nicht definierbare Druck, der auf seinen Ohren und allen anderen Sinnen lastete und ihn – ohne dass er wusste wie – umklammert hielt, sodass es ihm unmöglich war, die rettenden Schwingen auszubreiten. All dies quetschte ihn auch innerlich zusammen wie einen feuchten, schwammigen Pilz. Deshalb hatte er jegliches Zeitempfinden verloren, von dem Wissen, wo er sich gerade befand, ganz zu schweigen. Er spürte deutlich, wie dieser nur aus Unsicherheit bestehende Zustand im Begriff war,
allmählich sein Ich, seine Seele, seine ganze Person völlig aufzulösen. Doch irgendwo tief im Inneren seines gequälten Geistes war noch ein Funken Widerstandskraft, etwas, das nicht aufgeben wollte und sich an etwas anderes klammerte. Eine Information? Eine Möglichkeit? Endlich sah er es auf einmal klar vor seinem inneren Auge. Die Rüstung! Die Nabiss-Rüstung! Der plötzliche Sturz in die heimtückische Falle, in die Chex und er getappt waren, hatte den einen, möglicherweise rettenden Gedanken völlig überlagert. Er musste die Rüstung aktivieren. Sofort! Der Gedanke war einfacher gefasst, als umgesetzt. Der geheimnisvolle Druck, der ihn umklammert hielt, schränkte natürlich auch die Bewegungsfähigkeit seiner Arme und Hände ein. Also konzentrierte er sich, so gut er konnte, und tastete mit den Fingern Stückchen für Stückchen über die Brustpartie der Nabiss-Rüstung. Er spürte ihr geschmeidiges, glattes Material, rutschte darauf ab, begann von Neuem. Endlich hatte er die kaum wahrnehmbare Schaltfläche erreicht. Augenblicklich schloss sich der Kontakt, und die Rüstung erwachte zum Leben. Selten zuvor hatte er ihr goldenes Aufglühen mit größerer Dankbarkeit wahrgenommen. Im nächsten Moment war es, als zerplatzte ein zu stramm gespanntes Trommelfell. Rings um ihn schloss sich die schützende Energieblase der Rüstung, und im gleichen Augenblick brach das ihn umklammernde Feld zusammen. Er spürte, wie er den Kontakt zu der schräg nach unten führenden, glatten Fläche verlor. Der rasende Fahrtwind wurde gemindert, und vor allem durchdrang das strahlende Glühen der Nabiss-Rüstung die Dunkelheit von einem Moment zum nächsten. Er musste Chex retten!
Doch da fiel ihm die mangelhafte und unkontrollierbare Funktionsfähigkeit der Rüstung ein. Er konnte die Bewegung der Nabiss-Rüstung nicht mehr steuern. Musste er die Rüstung wieder abschalten? Griff dann wieder das geheimnisvolle Energiefeld der Falle nach ihm? Während er noch überlegte, sah er, dass die Rüstung dem Verlauf der breiten, durch viele Kurven gewundenen Fläche folgte, die er jetzt als steile, breite, unterirdische Straße erkannte. Eine Straße, die wahrscheinlich niemals für Nargen vorgesehen war. Direkt vor und unter ihm erkannte Jiim Chex, der hin und her geschüttelt abwärts raste und dabei verzweifelt seinen Leuchtstab umklammert hielt. Um ihn herum waberte ein undefinierbares Fluidum. Das war jenes energetische Feld, das auch Jiim so lange umklammert hatte. Er musste es wagen, sonst würde er im nächsten Moment, getragen von der Nabiss-Rüstung, an Chex vorbeijagen, ohne ihm helfen zu können. Jiim versuchte, den richtigen Zeitpunkt genau abzupassen – und schaltete die Rüstung aus. Augenblicklich sackte er nach unten. Sofort spürte er den unbarmherzigen Griff, mit dem ihn die Falle erneut in Empfang nahm und seinen Körper bereits in der Luft so drehte, dass er mit den Füßen voran abwärts stürzte. Doch diesmal war er besser vorbereitet. Kaum spürte er die Berührung an den Fußsohlen, da aktivierte er wieder die Nabiss-Rüstung. Es war Chex, den er mit seinen Zehen berührt hatte. Als sich das Energiefeld der Rüstung entfaltete, griff Jiim beherzt zu und bekam seinen Freund zu fassen. Mit einem energische Ruck riss er ihn hoch. Die Nabiss-Rüstung erkannte seine Absicht, und die filigranen Halteleinen schlossen sich um Chex Körper. »Jiim!«, rief Chex erleichtert. »Du hast mich gerettet!«
»Nicht so vorschnell!«, warnte Jiim. »Du weißt doch, dass ich die Nabiss-Rüstung kaum kontrollieren kann. Wer weiß, was uns noch erwartet.« Bereits als sie um die nächste Biegung flogen, sollte sich Jiims unbestimmte Befürchtung auf schreckliche Weise bewahrheiten... *** Der Ganf sah sich mit ganz anderen Wahrheiten konfrontiert. Doch auch diese waren von so überwältigender und niederschmetternder Art, dass er an Ort und Stelle in eine Starre fiel. Die Kälte, die sich in seinem gewaltigen Inneren plötzlich ausbreitete, war eisiger als draußen in der sturmgepeitschten Gletscherlandschaft. Irgendwie registrierte er zwar noch jenes Signal, das er bereits empfangen hatte, als er aus seiner Vereinzelung an die Oberfläche einer mittlerweile völlig veränderten Welt zurückkehrte. Aber die Erschütterung, die ihn in die Erstarrung warf, hatte ihn gleichgültig gemacht. Selbst die Tatsache, dass sich das Signal jetzt ganz in der Nähe befand, ließ ihn völlig ungerührt. Er wusste, dass es für ihn nur noch ein einziges Ziel gab. Nur noch im Tod konnte er hoffen, Erlösung von den unendlichen Qualen zu finden, die ihn plagten... *** Wie aus einem Mund erklang ihr gemeinsamer Schrei des Entsetzens. Zum ersten Mal hatten Jiim und Chex erkennen können, wie groß der vielfach gewundene Gang tatsächlich war, der zu einer ebenso unheimlichen, wie unerklärlichen Falle für sie
geworden war. Mit gut fünfzehn Nargenlängen Durchmesser durchzog dieser steil abwärts führende Schacht in vielen Windungen und Kurven das Gebiet tief unter der Alten Stadt. Das Energiefeld der Nabiss-Rüstung hatte sie zwar vom unmittelbaren Zugriff der Falle befreit, aber ihre Situation hatte sich nicht verbessert. Es war egal, ob sie der Gewalt der Falle selbst ausgeliefert waren oder von einer unkontrollierbaren Rüstung fortgetragen wurden. Ihr Weg führte sie direkt ins Verderben. Unmittelbar vor ihnen fiel von der Decke und über die gesamte Breite des Gangs ein Vorhang aus Feuer zu Boden und verschwand dort wie ein Wasserfall in der Tiefe. Das hält nicht einmal die Rüstung aus, dachte Jiim, als sie auf die Flammenwand zurasten. Wir werden bei lebendigem Leib geröstet! Es blieb einfach keine Zeit mehr, noch irgendeine Entscheidung zu treffen. Doch selbst wenn ihnen diese Zeit noch geblieben wäre, gab es keine echte Wahl. Sie schossen direkt auf die bösartige Feuerwand zu und spürten, wie unerbittliche, alles versengende Hitze nach ihnen griff. Im nächsten Augenblick hatte sie die Flammenfaust gepackt! Es war wie das Durchschreiten eines Blitzes. Hatte Jiim noch kurz zuvor die Pein absoluter Dunkelheit geplagt, so herrschte jetzt das absolute Licht, das ihn und Chex gnadenlos durchdrang. Es sollte das Letzte sein, was sie empfanden. Auf das Licht folgte das Nichts. Stille... ***
Irgendwo als kleiner Punkt unter der Decke der riesigen Halle hing die Energieblase einer zur Ruhe gekommenen Nabiss-Rüstung. In ihr baumelten zwei reglose Gestalten. Tief unter ihnen befand sich ein ebenso regungsloses Wesen von monströsen Ausmaßen, das der kleinen Energieperle, die zum Sarg der beiden Nargen geworden war, keinerlei Beachtung schenkte. Im Gegensatz zu den beiden geflügelten Wesen und ohne dass etwas davon zu bemerken war, lebte der Ganf noch. Es gehört zu den Besonderheiten des Todes, dass die Körper von gerade Verstorbenen nicht auf einmal – als wäre ein Schalter umgelegt worden – in allen Körperteilen tot sind. Einzelne Organe arbeiten auch nach dem Tod noch einige Zeit weiter. Vereinzelt reagiert auch noch ganz unwillkürlich ein Nerv und lässt die Leiche zucken. Dies ändert nichts an der finalen Tatsache des Todes, sondern ist ein natürlicher Prozess, der schließlich mit dem Zerfall sein Ende findet. Es dürfte auch die Erklärung dafür gewesen sein, dass die Finger an der linken Hand des einen Nargen sich auf einmal leicht bewegten. Dann war der Körper wieder regungslos. Das dunkle Sekret, das als Körperreaktion unwillkürlich über die Augen geschossen war, als die Nabiss-Rüstung mit ihrer lebenden Fracht in die Feuerwand flog, hatte sich unter der Einwirkung der Hitze unnatürlich verfärbt. Nun begann es von den Augen der Toten abzutropfen. Erneut zuckte eine Hand über der golden schimmernden Rüstung. Waren sie wirklich tot? Plötzlich erklang ein seltsames Geräusch. Es hörte sich an wie ein kurzes, rasselndes Ausatmen. Es war ein Ausatmen! Wie beim Durchbrechen der Schale musste ein heiserer Schrei die Atmung in Gang setzen. Jiim bewegte sich. Ihm war noch nicht bewusst, wie nahe am Tod er sich befunden hatte. Dass er die Schwelle bereits
überschritten hatte und dann doch wieder ins Leben zurückgekehrt war. In diesem Augenblick sträubte sich das Gefieder seines Gefährten, der leblos in den Halteleinen der Rüstung hing. Chex begann zu husten. Allmählich begann die Umgebung um sie herum an Konturen zu gewinnen. Durch die dicke Mauer geistesabwesender Betäubung, die Jiims Wahrnehmung bestimmte, registrierte er, dass sie fast unter der Decke einer gigantischen Halle schwebten. Ein riesiges Gewölbe, das von zerbrechlich wirkenden, langen Säulen getragen wurde, die wie die Saiten einer Kalvor-Harfe aussahen. Es wirkte so, als könne man sie in Schwingung versetzen, und ihr Klang würde durch ganz Kalser pulsieren. »Chex«, murmelte Jiim kaum hörbar. Ein unverständliches Grunzen antwortete ihm. »Wir leben.« Jiim konnte es nicht fassen. »Was...?«, ächzte Chex mühsam. »Jiim sag mir, was ist das?« Mit einer müden Bewegung wies er auf den Boden der Halle, tief unter ihnen. »Ein...« Jiims Stimme stockte. »Ein... Etwas, das es nicht geben dürfte. Nicht mehr...« »Was...?« »Ein Ganf! Das ist nicht nur ein Gehäuse, das ist ein lebender Ganf!« Jiim atmete tief ein und fügte schließlich nach einer Pause hinzu: »Er hat die Nabiss-Rüstung gerufen.« *** Der Unbekannte Beobachter hatte das Auge geopfert. Endgültig. Er würde es nicht mehr zurückbekommen. Er hatte durch dieses Opfer den niederen Lebensformen das Überleben ermöglicht. Ohne die zusätzliche Energie seines
Auges hätten sie die zerstörerische Kraft der Flammenwand nicht überlebt. Doch er hatte dies nicht aus Edelmut getan. Solche Gefühle waren ihm fremd. Der Unbekannte Beobachter kannte überhaupt keine Gefühle. Aber selbst die Logik, zu der sogar die niederen Lebensformen fähig waren, denen er das Leben gerettet hatte, war etwas Fremdes für ihn. Sein Denken und Handeln entzog sich jeder Kategorie. Doch letztlich war der Grund für seine Entscheidung, ihnen zu helfen, ganz einfach. Er hatte so entschieden, weil er genug gesehen hatte. Er wusste nun, wo sich das eigentliche Objekt seiner Überwachung befand. Bevor er sein Auge in Energie verwandelte, hatte er durch das Feuer hindurchgesehen und dort das große Lebewesen entdeckt, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Die beiden niederen Lebensformen würden nach ihrem Flug durch die Flammenwand auf es treffen. Vielleicht würden sie ihm später noch einmal nützlich sein... *** Langsam gingen Jiim und Chex um das riesige Wesen herum, das regungslos auf dem Hallenboden lag. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass der Ganf ihre Anwesenheit registriert hatte. Aber es ging eine deutlich spürbare Ausstrahlung von ihm aus, die Jiim davon überzeugte, dass Leben in diesem gewaltigen Körper steckte. Noch... Das konnte er an der Haut des Ganfs erkennen. Matte Lichterscheinungen flackerten über sie hinweg. An einigen Stellen schien sie ganz untypisch weich und fast durchsichtig zu sein. An anderen hatte sich die übliche verknöcherte, steinharte und rissig erscheinende Struktur herausgebildet.
Jiim hatte, kaum dass sie sich halbwegs erholt hatten, die Rüstung deaktiviert. Mit bedächtigem Flügelschlag waren er und Chex zu Boden geglitten. Er hatte keine Ahnung, wie er den Ganf ansprechen sollte. Er wusste auch nicht, ob er überhaupt ansprechbar war. »Er scheint in eine Art Lethargie gefallen zu sein«, sagte Jiim. »Aber die Nabiss-Rüstung hat mir in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, dass er das Ziel der Reise war.« »Aber aus welchem Grund?«, fragte Chex. »Was will dieses Wesen von der Rüstung?« »Nichts!«, donnerte es direkt hinter ihnen. Erschrocken drehten sich Jiim und Chex um und blickten in das erstaunlichste Gesicht, das sie je gesehen hatten. Sie waren in ihr Gespräch versunken, seitlich an dem Ganf entlangspaziert und hatten nicht bemerkt, wie sich der vordere Kopfteil hinter ihnen ohne ein Geräusch zu verursachen zur Seite bog. Sie wussten nicht, wo sie hinblicken sollten. Aus der vielfach gefältelten Kopfhaut stülpten sich immer wieder neue Auswüchse heraus, die wie Fühler durch die Luft vibrierten und tasteten und sich anschließend wieder zurückzogen. Jetzt lief ein lebhaftes Spiel von Farben und Formschlieren über die Haut, bildete vorübergehende Flächen, von denen deutlich spürbar Energie abgestrahlt wurde. Herkömmliche Gesichtsmerkmale wie Augen, Mund und Nase waren dagegen nicht zu erkennen. Vor allem aber türmte sich dieses gewaltige Kopfteil so hoch über die nicht gerade kleinwüchsigen Nargen auf, dass sie gezwungen waren, die Köpfe in den Nacken zu legen, um in das verwirrende Antlitz des Ganf zu schauen. Trotz der Größe und Fremdheit und trotz der deutlich wahrnehmbaren Macht, die dieses Wesen ausstrahlte, empfanden weder Jiim noch Chex auch nur einen Augenblick der Angst – abgesehen von dem Moment, da es sie von hinten angesprochen hatte.
»Von der Rüstung will ich nichts«, wiederholte der Koloss, und es war den beiden Nargen unmöglich zu sagen, woher die Artikulation von Sprache kam, welches Organ die Töne erzeugte. »Ich bin mehr am Inhalt interessiert, am Träger der Nabiss-Rüstung.« Jiim und Chex merkten nichts von der inneren Aufgewühltheit, die der Ganf empfand, und wie schwer es ihm deshalb gefallen war, sich dem Prozess der beginnenden Verkrustung zu widersetzen, um den Kontakt zu diesen beiden Nargen aufzunehmen. Ein kurzer Einblick in die offenen und abgeschirmten Teile ihres Bewusstseins hatte ihm nur bestätigt, was das Schohoyl ihm bereits mitgeteilt hatte. »Du bist ein Ganf...«, stammelte Chex, der sich als Erster wieder gefangen hatte. Gleichzeitig fluchte er innerlich wegen der Dummheit seiner Bemerkung. »Ich bin der letzte Ganf!«, sagte das Wesen. War da nicht ein schwermütiger, zutiefst trauriger Klang in diesen Worten? »Wie hast du überlebt?«, fragte Chex lebhaft, offensichtlich unbeeindruckt von diesen Gefühlen. »Wir glaubten, dass die Unsichtbaren, die einst diese Welt überfallen und die Nargen versklavt hatten, euch alle erbarmungslos gejagt und vernichtet...« Er stockte. Auf einmal entstanden vor ihren Augen neblige Bilder, die rasch an Kontur gewannen. Bilder, die sich bewegten. Jiim und Chex begriffen, dass ihnen der Ganf mit diesen Bildern etwas mitteilen wollte. Sie sahen hohe Pyramiden, die Alte Stadt, aber zu einer Zeit, da das Leben in ihr pulsierte. Sie sahen Tausende von Nargen. Es folgte, was sie bereits aus dem Gedächtnis der NabissRüstung entnommen hatten: wie Kalser von den Unsichtbaren angegriffen wurde; wie die Abgesandten der unsichtbaren Eroberer die Nargen versklavten und sie zwangen, neue Raumschiffe für die Fremden zu bauen.
Dann zeigten die Bilder auf der Nebelwand, wie die Ganfs versuchten, den Invasoren Widerstand zu leisten. Die beiden Nargen sahen, wie mit gewaltigen Detonationen Gebäude gesprengt wurden, in denen die Ganfs Waffen produzierten, und wie diese Warfen in die Hände der Eroberer fielen und gegen ihre Erbauer gerichtet wurden. Jiim und Chex beobachteten, wie es den Ganfs in einer abgelegenen Provinz einer damals noch blühenden Welt gelang, eines der unförmigen Raumschiffe abzuschießen, die in einem dichten Kordon um Kalser kreisten. Doch sie sahen auch, wie augenblicklich die Strafe folgte. Eine Übermacht an tellerförmigen Bodenfahrzeugen glitt über alle Hügel und Unebenheiten hinweg. Sie passten dabei ihre höchst bewegliche Form allen Hindernissen an. Als sie die kleine Streitmacht der Ganfs erreichten, sonderten sie Vibrationen ab, die die gepanzerten Hüllen der Ganfs zerspringen ließ wie getrockneter Sand. »Die Vernichtung meinesgleichen war allumfassend, total und erbarmungslos«, sagte der Ganf, als die Bilder verblassten. »Hier an diesem Ort, dem größten Heiligtum von meinesgleichen, war das letzte Widerstandsnest. Ich bin auch erst vor kurzem hierher in unseren alten Tempel gekommen und habe die letzten Botschaften von meinesgleichen vorgefunden. Alle anderen Ganfs waren bereits ausgerottet, vernichtet von einem Feind, den wir nie richtig zu sehen bekamen.« »Was ist mit den Ganfs geschehen, die sich hier versteckt haben?«, fragte Jiim. »Ich weiß nur, dass sie einen Ausfall wagen wollten. Das ist der letzte Teil der Botschaft, die sie hier hinterlassen haben.« Er schwieg und fügte schließlich nach einer Pause hinzu: »Es ist klar, dass niemand überlebt hat!«
»Aber wie hast du die vielen Zyklen seitdem überlebt?« Jiim war die Erschütterung über das Schicksal der Ganf deutlich anzuhören. »Ich befand mich damals in der großen Vereinzelung. Ich war noch jung, und jeder junge Ganf muss sich mindestens einmal in seinem Leben in die Einsamkeit begeben, um... Ich weiß nicht, wie ich es euch begreiflich machen kann...« »Um zu lernen? Stark zu werden?«, versuchte Chex zu helfen. »Ja, in gewisser Weise hast du Recht. In der Vereinzelung versucht ein Ganf den Kontakt zu der aus dem All-und-Alles gespeisten, unermesslichen Energie aufzubauen. Dieser Kontakt darf sich anschließend nie wieder unterbrechen lassen.« Der Ganf schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Ich muss mich bei euch entschuldigen!« »Warum?«, fragten Jiim und Chex gleichzeitig. »Weil ich euch nicht geholfen habe. Ich habe eure Anwesenheit in der Alten Stadt deutlich gespürt. Schließlich hat mein Ruf die Nabiss-Rüstung erreicht, und so wusste ich meistens, wo ihr euch gerade befunden habt. Es war eine Fehlfunktion – vielleicht weil du in diesem Moment die Rüstung nicht eingeschaltet hattest –, doch das Ergebnis war dasselbe: Ihr seid blind in eine alte Falle getappt, die meine Vorfahren in alle Zugänge zu diesem geheimen Ort installiert hatten. Eine Falle, die ganz anderen gegolten hat. Ihr seid hier in einem Heiligtum, einem Tempel, dessen Zugang meinesgleichen mit allen Mitteln schützen musste...« »Das heißt, du hast gewusst, dass uns der Tod droht?«, brauste Chex auf. »In dem Moment, da die Falle zuschnappte, wusste ich gar nichts mehr. Ich erfuhr gerade, was mit meinem Volk geschehen ist. Ich erfuhr, dass ich der letzte meiner Art bin...« Der Ganf stockte. »Ich bin noch immer wie gelähmt. Ich habe mich nach meiner langen Phase der Vereinzelung so sehr nach
meinesgleichen gesehnt. Ich nahm kaum war, dass da eine alte Falle noch funktionsfähig war. Ich muss mich entschuldigen, dass ich euch in diesem Moment eurer Not nicht geholfen habe. Es tut mir Leid.« Jiim schluckte, dann nickte er. »Es war schrecklich, aber wir haben es überlebt. Das ist das Einzige, was zählt. Ich glaube, wenn ich gerade erfahren hätte, dass ich niemanden mehr habe auf der Welt – dass ich ganz alleine bin! –, dann wäre mir alles andere auch egal gewesen. Ich kann verstehen, dass du nicht in der Lage warst, uns zu helfen.« »Danke.« Der Ganf ließ erneut eine Nebelwand entstehen, auf der sich Bilder abzuzeichnen begannen. »Ihr sollt wissen, wie wir einst gelebt haben.« Diesmal zeigten die Bilder, wie ein vielleicht gerade erwachsener Ganf ein nicht sonderlich großes Ei absonderte. Sofort nachdem er es gelegt hatte, verschwand er, während sich ein anderer, wesentlich älterer Ganf näherte und sich so lange um das Ei kümmerte, bis sich ein winziges kleines Wesen aus der berstenden Schale zwängte. In dieser Größe hätte es auf die Hand eines Nargen gepasst. Doch unmittelbar nach dem Schlüpfen, wälzte sich der haushohe Ganf, der bis dahin die Brutpflege des Eis so fürsorglich übernommen hatte, mit seinem ganzen Gewicht über das winzige Wesen. »Um Plephes Willen!«, rief Jiim. »Er zerquetscht das Kleine. Ist das oft vorgekommen?« »Nein, nein!«, widersprach der Ganf. »Er nimmt den jungen Ganf in sich auf, wo er zusammen mit seinesgleichen heranwächst.« »Wie bitte? Heißt das...?« »Wir waren nie Einzelwesen. Manche von uns haben Dutzende kleiner Ganfs in ihrem Inneren aufwachsen lassen...« »Aber was geschah, wenn sie größer wurden?«, fragte Chex.
»Die älteren Ganfs, diejenigen, die schon ihre Vereinzelung hinter sich gebracht hatten, dienten den Kleinen in jeglicher Hinsicht als Nahrung.« »Was? Heißt das, eure Kinder haben euch bei lebendigem Leib gefressen?« Jiim schüttelte sich ungläubig. »Nur zum Teil. Das, was ein Ganf nach der Rückkehr von seiner Vereinzelung nicht mehr benötigte, diente tatsächlich den Nachkommen als Nahrung. Vor allem aber wurde das seit vielen Generationen von einem Hort zum nächsten gewachsene und immer wieder ausgetauschte Wissen weitergegeben. Und nicht nur das Wissen, auch sämtliche sensorischen und mentalen Fähigkeiten gingen so auf die kommende Generation über. Bis die jungen Ganfs in jeglicher Hinsicht groß genug geworden waren, um ihren Weg in die erste Vereinzelung anzutreten. Das war neben der Vermehrung der bei weitem wichtigste Schritt in ihrem Leben. Sie wurden zu einem heiligen Ort der Vereinzelung begleitet und dort nach vielen Ritualen und Vorbereitungen, wenn sie in den Schlaf der Erkenntnis gesunken waren, von ihrem Hort in Ruhe gelassen. Nach der Vereinzelung erwartete ihr Hort sie zurück. Jetzt war es an ihnen, der neuen Generation all das zu geben, was sie zu geben vermochten...« »Wenn sie diese Aufgabe erfüllt hatten, was geschah dann mit ihnen?«, fragte Jiim. »Sie härteten aus. Sie verbanden sich mit der Hülle ihrer Vorfahren, die ja auch noch da waren. Zwischen all diesen Generationen fand ein reger Austausch statt. Nahm ein Hort jedoch keine Nachkommen mehr auf, dann härtete er endgültig aus, erstarrte und dämmerte in das Reich der Schatten hinüber.« »Dies sind also die leeren Ganfhüllen, die von meinen Vorfahren oft als Gebäude genutzt wurden...«, sinnierte Jiim.
»Es waren gute Orte für deinesgleichen! Hätten wir nicht gewollt, dass sie euch in dieser Form dienen, ihr hättet sie gar nicht nutzen können.« »Wovon haben sich die älteren ernährt...«, wollte Chex wissen – nicht zuletzt, weil er seinen eigenen Magen spürte, der seit längerer Zeit nicht mehr gefüllt worden war. Wie um sich Sicherheit zu verschaffen, tastete er verstohlen nach dem Beutel, den er bei sich trug und in dem noch Nahrung für ein paar Tage enthalten war. »Nach der ersten Vereinzelung braucht ein Ganf keine herkömmliche Nahrung mehr. Er hat jetzt Kontakt zur unerschöpflichen Energiequelle des All-und-Alles.« Chex schüttelte es innerlich, als er dies hörte. Zu seinen Lieblingsdingen zählte an erster Stelle eine gute Mahlzeit. Weil er schon wieder ans Essen denken musste, schlug er Jiim vor, eine Pause einzulegen. Dieser nickte. Sie setzten sich auf den Boden der gigantischen, unterirdischen Tempelhalle und sahen nach, welche Vorräte sie noch hatten. Wir müssen sobald wie möglich auf die Jagd, dachte Jiim, während sie aßen. Es gab gute Chancen, innerhalb der Ruinen der Alten Stadt Tiere zu finden, die sich im Schutz der Mauern angesiedelt hatten. Hier herrschte ein im Vergleich zu den Gletschern milderes Klima. Jiim hatte die Nabiss-Rüstung abgelegt und beobachtete kauend, wie sich der Ganf damit beschäftigte. Seine Fühler und Tentakel strichen über den Stoff, der bei jeder Berührung in einer anderen Farbe aufleuchtete. »Schon vor meiner Vereinzelung«, sagte der Ganf, »habe ich viele solcher Rüstungen gebaut. Ich war einer der besten Schmiede...« Er stülpte weitere Auswüchse aus seinem Kopf hervor, hob die Rüstung hoch und ließ sie hinter einem Regen aus sprühenden Funken, den er ausstieß, verschwinden. »Diese
Rüstung habe ich nicht gebaut«, murmelte der Ganf, und es hörte sich an, als spreche er mehr zu sich als zu den beiden Nargen. »Sie taugt nicht viel. War wahrscheinlich mal für einen Jungnargen gedacht, der schon früh in die Funktionen einer Nabiss-Rüstung eingeübt werden sollte. Mehr ein Spielzeug...« »Willst du damit sagen, dass diese Rüstung wertlos ist?« fragte Jiim. »Keineswegs, aber sie war beschädigt.« »War beschädigt...« »Ja, ich habe sie eben wieder instand gesetzt. Aber du hast etwas Besseres verdient. Es ist abzusehen, dass die einstmals fruchtbare Symbiose zwischen den Nargen und den Ganfs bald endgültig der Vergangenheit angehört. Deshalb will ich noch einmal an die alten Traditionen anknüpfen, die früher einmal uns, die Herrscher über diese Welt, und euch, unsere Gäste, so freundschaftlich verbanden.« »Äh, entschuldige, aber habe ich dich richtig verstanden?«, unterbrach Chex irritiert den Ganf. »Ihr wart die Herrscher über Kalser und wir Nargen eure Gäste?« »In der Tat«, antwortete der Ganf, »so war es. Die alten Mythen erzählen viele Geschichten von eurer Ankunft.« »Ankunft?«, stießen Jiim und Chex gleichzeitig hervor. »Ihr habt offensichtlich auch dieses Wissen verloren«, sagte der Ganf. »Ich weiß nicht, woher eure Vorfahren einst kamen, aber irgendein schlimmes Ereignis hatte euch vor undenklicher Zeit gezwungen, eure Heimatwelt irgendwo dort draußen zwischen den Sternen zu verlassen. Hier bei uns auf Kalser habt ihr eine neue Heimat gefunden. Wir haben euch bei uns aufgenommen. Es war auch zu unserem eigenen Nutzen. Viel von unserem Reichtum an Wissen und Fähigkeiten konnten wir selbst gar nicht verwenden. Wir waren reich, aber dieser Reichtum war nutzlos für uns. Ihr habt unserer Existenz einen neuen Sinn gegeben! Bevor das Volk der Nargen kam und um
Aufnahme auf Kalser bat, war das Leben von vielen Ganfs leer und ohne Sinn. Jetzt hatten wir eine Aufgabe, die uns forderte. Ihr seht, es war zu unser beider Vorteil. Kommt jetzt!« Unvermittelt setzte sich der Ganf in Bewegung und durchquerte die riesige Halle in einem Tempo, das ihm Jiim und Chex angesichts seiner Masse nicht zugetraut hätten. Rasch sprangen sie hoch, packten ihre Sachen und folgten dem gewaltigen Wesen. Sie verließen den Tempel über eine breite Straße, die – immer noch unterirdisch – nach oben führte. Nach einiger Zeit senkte sich die Decke über ihnen immer tiefer herab. Doch der Ganf glitt immer weiter, obwohl die Straße offenbar hier endete. In diesem Augenblick schob sich ein Teil der Decke zur Seite und entließ sie an die Oberfläche. Sie befanden sich ein gutes Stück außerhalb der Alten Stadt, deren Gebäude sie in der Ferne sahen. »Er hat die Spur wieder aufgenommen«, sagte der Ganf, während sie sich über die verschneite Ebene in Richtung Alte Stadt bewegten. »Wer?«, fragte Jiim irritiert. »Wessen Spur?« »Unsere Spur. Wer oder was er ist, weiß ich nicht. Aber ich spüre deutlich, dass er mich beobachtet, seit ich aus der Vereinzelung erwacht bin. Er schwebt irgendwo dort oben in den höchsten Schichten von Kalsers Atmosphäre«, erklärte der Ganf. »Doch dieser Beobachter bereitet mir wenig Sorgen. Viel mehr Sorgen macht mir, dass eine andere, sehr viel schlimmere Gefahr droht!« »Was für eine Gefahr?«, wollte Jiim wissen. Die Nargen flogen zu beiden Seiten des Ganfs. »Es ist ein Relikt, ein noch aktiver Rest. Irgendetwas, das die Unsichtbaren auf Kalser zurückgelassen haben. Und dieses... Ding, es wird von einer ungeheuren Energie gespeist. Es wartet darauf, sein unheilvolles Wirken wieder zu voller
zerstörerischer Kraft zu entfalten. Dagegen ist dieser Unbekannte Beobachter dort oben eine Größe, die man vernachlässigen kann...« Noch waren sie ein gutes Stück von der Alten Stadt entfernt, doch der Ganf war bei seinen letzten Worten stehen geblieben. Seine Fühler tasteten sich über die Eisfläche. »Hier ist es«, sagte er schließlich. »Fliegt ein Stück zurück und wartet. Dann folgt mir!« Jiim und Chex sahen sich verständnislos an. Sie wussten nicht, was der Ganf damit bezweckte. Sie schwebten in geringer Höhe über einer eintönigen Schnee- und Eislandschaft, die nicht viel anders aussah, als dort, wo sie wieder an die Oberfläche gekommen waren. Dennoch kamen sie der Aufforderung des Ganf nach – und sahen im nächsten Augenblick auch, warum er sie fortgeschickt hatte. Vor dem Ganf begann das Eis zu schmelzen, das Wasser zu brodeln und plötzlich schoss eine gewaltige Masse aus Dampf und kochender Flüssigkeit mit eruptiver Kraft nach oben. Durch die Nebelschwaden sahen sie, wie der Ganf in das am Boden siedende Wasser eintauchte, ohne dass es ihm etwas anzuhaben schien. Dann verschwand er. »Was macht er da?«, rief Chex mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Kein Ahnung«, erwiderte Jiim. »Lass uns nachschauen.« Erneut schoss eine kochende Wassersäule in den nebelverhangenen Himmel. »Der Ganf sagte, wir sollen abwarten und ihm dann folgen«, verbesserte sich Jiim. Doch es dauerte eine Weile, bis der Nebel verflog und die Hitze soweit nachgelassen hatte, dass sie sich, ohne sich zu verbrühen, der Stelle nähern konnten, an der sie den Ganf zuletzt gesehen hatten. Ein großes Loch gähnte im Eis, das fast senkrecht in die Tiefe führte. Noch immer kräuselten sich Dampfschwaden nach oben.
Mit wenigen Flügelschlägen waren sie in der Öffnung und folgten einem Gang in die Tiefe, der abrupt dort endete, wo die Eisschicht an die ursprünglichen Oberfläche ihrer Welt grenzte. Von hier ging es waagerecht weiter. Sie hielten sich mit geschickten Flugmanövern in der Luft, da sie nicht wagten, mit ihren Füßen auf dem Boden aufzusetzen. Sie erreichten eine große, runde Öffnung, die in einen unterirdischen Bereich führte. Noch einmal ging es abwärts... 8. Schmiede Der Unbekannte Beobachter fasste einen Entschluss, der seinem ursprünglichen Auftrag widersprach. Seit langer Zeit hatte er seine Aufgabe erfüllt und beobachtet. Nichts war in dieser langen Epoche geschehen, in der sich die Welt, die seinen tausend Augen anvertraut worden war, in eine Eiswüste verwandelt hatte. Dennoch hatte er kontrolliert und überwacht, obwohl es eigentlich nichts zu überwachen gab. Irgendwann registrierte er die erste Interferenz durch ein hoch entwickeltes Raumschiff. Für einen solchen Fall waren die Verhaltensweisen klar. In Deckung bleiben, beobachten, Daten sammeln. Doch bevor er sich an diese Aufgabe begeben konnte, war das Raumschiff wieder verschwunden. Es folgte das erste Auftauchen der Anomalie. Das war nichts Besorgnis erregendes, denn die Anomalie war mit einer niederen Lebensform verbunden, von der keine Gefahr ausging. Aber er behielt sie im Auge. Schließlich bemerkte er eine erneute Interferenz. Weitere Raumschiffe kamen, und auch das erste tauchte für eine kurze
Zeit wieder auf. Doch ehe er die Datensammlung abschließen konnte, waren sie wieder verschwunden. Der Unbekannte Beobachter hatte seine Aufgabe erfüllt, so gut er konnte. Selten blieb ein Objekt der Beobachtung so lange in seinem Blickfeld, dass er es komplett erfassen konnte. Die Anomalie blieb. Nun war der Anachronismus aufgetaucht. Das, was es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, das, womit niemand rechnen konnte. Deshalb fasste der Unbekannte Beobachter einen folgenschweren Entschluss: er würde aufhören, nur Beobachter zu sein. Im Grunde hatte er damit bereits aufgehört, als er den beiden niederen Lebensformen mit der Energie seines Auges half. Jetzt musste er in die sich ihm darbietende Situation eingreifen. Auch dafür war er gerüstet, wenngleich so etwas eigentlich nicht vorgesehen war... *** »Dies ist die alte Nabiss-Schmiede«, erklärte der Ganf, und aus seinen dröhnenden Worten klang so etwas wie Stolz. Seine feinen Kopffühler wiesen in alle Richtungen des großen Rundgewölbes, das Jiim und Chex gerade betraten. Für einen Nargen mussten alle Gebäude und Räume, die für Ganfs gemacht worden waren, überwältigend erscheinen. Schließlich mussten sich diese riesigen Wesen darin bequem bewegen können. In dem Gewölbe schimmerten eine Reihe von Apparaturen, von denen der Ganf einige offensichtlich bereits aktiviert hatte. An einer Wand standen rund dreißig Gebilde, die allesamt annähernd gleich aussahen. Für Jiim und Chex sahen sie zugleich vertraut und doch fremdartig aus. Die Gebilde glichen
künstlichen Nargen, allerdings ohne Kopf. Ebenso waren die Flügel und die Beine nur in Umrissen ausgebildet. Ansonsten herrschte ein heilloses Durcheinander in der Schmiede. Bahnen von kaum noch erkennbarem Material lagen halb aufgerollt auf dem Boden, Werkzeuge waren wild auf einen Haufen geworfen worden. In einer Ecke war die Decke des Gewölbes eingebrochen und hatte eine Schuttlawine hinterlassen. »An diesen Puppen haben wir die Rohformen der NabissRüstungen hergestellt«, erklärte der Ganf und zeigte auf die nargenähnlichen Gebilde. »Bedeutet das, ihr habt seinerzeit für alle Nargen solche Rüstungen gebaut?«, fragte Jiim. »Nein. Nur ausgewählte Vertreter bekamen eine NabissRüstung. Hier! Das wollte ich dir zeigen. Es ist tatsächlich noch da...« Der Ganf wies mit einem leuchtenden Fühler in eine dunkle Ecke. Jiim ging zu der bezeichneten Stelle, während Chex zurückblieb. In der Ecke stand eine dunkle Truhe von fast ähnlicher Machart wie die Kisten, die sie zuvor im oberen Teil der Pyramide entdeckt hatten. Sie war nur etwas kleiner. »Öffne sie«, sagte der Ganf und Jiim fingerte am Rand der Truhe, bis er den Verschluss gefunden hatte. Mit einem vernehmlichen Schnalzen sprang der Deckel auf. Das Innere der Truhe leuchtete so stark, dass es ihn blendete. »Es war mein Meisterstück«, sagte der Ganf. »Nachdem ich sie vollendet hatte, wurde ich für würdig erachtet, mich in die große Vereinzelung zu begeben. Nimm sie heraus. Wir müssen sie anpassen.« Jiim stand regungslos vor dem leuchtenden Inhalt der alten, staubigen Truhe. »Heißt das...?« »Ja, sie ist für dich.« Mit zitternden Händen griff Jiim in das Leuchten hinein und holte eine golden strahlende Nabiss-Rüstung hervor. Sie war
äußerlich betrachtet nicht größer, nicht schwerer, nicht viel anders als die Rüstung, die er in Caars Höhle gefunden hatte. Die alte Nabiss-Rüstung lag nun deaktiviert neben Chex und ihrem Gepäck. Dennoch war die neue Rüstung völlig anders. Das wurde allein daran deutlich, dass sie instinktiv zu erkennen schien, wem sie ab sofort gehören sollte. Ohne dass Jiim sich rührte, schmiegte sie sich automatisch um seinen Körper und umschloss ihn mit Leichtigkeit wie eine zweite Haut. Jiim sah nicht, dass sich der Ganf bereits an ihr zu schaffen machte. Winzige Geräte, die mittels dünner Kabel mit den Instrumenten verbunden waren, schwebten auf einmal zwischen seinen Fühlern. Durch Jiims Körper flutete eine Vielzahl von Empfindungen. Er spürte, wie sich die Rüstung an seine eigenen, individuellen Schwingungen anzupassen begann... Und er hörte zum ersten Mal ihre Stimme. »Kalibrierung erfolgt, Überprüfung der Funktionen abgeschlossen.« Erschrocken drehte sich Jiim um die eigene Achse, doch niemand außer ihm schien die Stimme der Rüstung gehört zu haben. »Hat sie mit dir geredet?«, fragte der Ganf. »Äh, ja...«, stammelte Jiim, der mentale Kontakte zu anderen Nargen zwar gewöhnt war und auch von der alten Rüstung Informationen erhalten hatte. Doch dieser erste Kontakt zwischen der neuen Rüstung und ihm war anders gewesen. »Sie will Teil meines Bewusstseins, meiner Persönlichkeit werden!« »Du wirst dich schnell an sie gewöhnen, wenn du sie mitarbeiten lässt«, sagte der Ganf. »Sie erklärt sich selbst, und du wirst sehen, dass sie um einiges mehr kann, als die andere Rüstung. Aber – das muss dir immer bewusst sein und auch die Nabiss-Rüstung wird dir dies immer dann sagen, wenn es notwendig ist – du bist damit stärker und mächtiger geworden
als jemals zuvor – aber weit davon entfernt, unbesiegbar zu sein! Die Nabiss-Rüstung kann dich in vielerlei Hinsicht unterstützen und wahrscheinlich wird ein Nargenleben nicht ausreichen, alle Möglichkeiten auszuprobieren. Aber derjenige, der agiert, der reagiert, der kämpft, der sich schützen muss, der sich bewegt... Das bist letztlich immer nur du – du selbst, niemand anderes! Die Rüstung kann und wird dir helfen, und sie wird dich Dinge tun lassen, die du alleine niemals vollbringen könntest. Aber sie wird nur aktiv, wenn du es willst. Verlierst du deinen Willen oder dein Bewusstsein, werden auch die Möglichkeiten der Nabiss-Rüstung eingeschränkt. Sie ist ein perfekter Schutz, ein perfektes Instrument, eine perfekte Waffe zur Verteidigung, eingeschränkt sogar eine brauchbare Angriffswaffe! Sie bietet eine Fülle von Hilfsmitteln, aber du bist der Herr, und sie handelt nur, wenn du es befiehlst. Ihr Nutzen für dich hängt also ausschließlich von dir selbst ab!« Jiim war sprachlos, fast wie vor den Kopf geschlagen. Schließlich sagte er heiser: »Danke!« »Leider ist dies die letzte Rüstung, die in dieser Schmiede noch vorhanden war. Das heißt, für deinen Begleiter werde ich erst eine anfertigen müssen – wenn mir dazu noch die Zeit bleibt... Vorläufig kann er deine alte Rüstung benutzen. Doch bevor ich mich an dieses Werk machen kann, müsst ihr euch zu der Raumschiffwerft begeben, jenen Ort, den du schon einmal aufgesucht hast.« Ein Fühler bewegte sich in Jiims Richtung. »Dort lauert etwas, das eine große Gefahr für Kalser darstellt! Ich kann nicht genau erkennen, worin diese Gefahr besteht, aber sie muss auf jeden Fall beseitigt werden. Irgendetwas ist dort, das, sobald es erwacht, auch noch den letzten Nargen auf dieser Welt versklaven oder vernichten wird. Jiim, deine neue Nabiss-Rüstung wird dir den Weg weisen. Geht jetzt, und lasst mich allein!«
»Bevor wir aufbrechen, erlaube mir noch eine Frage«, sagte Jiim. Als der Ganf nicht reagierte, fuhr er fort. »Die Nargen und alle anderen Lebewesen auf Kalser, auch die Ganfs pflanzen sich eingeschlechtlich fort. Wir haben vor nicht allzu langer Zeit Wesen von einer anderen Welt kennen gelernt, die für ihre Fortpflanzung zu zweit sein müssen. Du bist zwar der letzte Ganf, aber du könntest ein, vielleicht sogar mehrere Eier legen und mit deinen Nachkommen eine neue Population begründen, ein neues Geschlecht von deinesgleichen...« »Ich danke dir, dass du dir Gedanken über mich und mein Volk machst. Aber das, was du sagst, ist leider nicht möglich. Ich war zu lange in der Vereinzelung! Ich weiß selbst nicht, wie viele Zyklen während meiner Vereinzelung vergangen sind. Ich bin währenddessen zwar langsamer gealtert, aber ich bin dennoch gealtert. Die Zeit, zu der ich Nachfahren bekommen konnte, ist...« Der Ganf stockte. »Diese Zeit ist seit langem vorbei«, sagte er schließlich. »Dazu bin ich nicht mehr in der Lage. Was ich dir und dieser Welt geben konnte, habe ich gegeben. Doch ihr müsst euch jetzt unbedingt um das Verderben kümmern, das dort in den unheilvollen Ruinen schläft. Geht jetzt!« Schweigend brachen Jiim und Chex auf... 9. Werft Es war der erste Flug, den Jiim mit seiner neuen Rüstung absolvierte, und es war das erste Mal, dass Chex eine NabissRüstung trug. Doch die vielfältigen neuen Erfahrungen, die ihnen durch diese Wunderwerke der alten Technologie vermittelt wurden, konnten weder Chex noch Jiim darüber hinweghelfen, dass sie
eben Zeuge eines unendlich traurigen Moments geworden waren. Und so registrierte Jiim eher nebenbei, zu was seine neue Nabiss-Rüstung alles in der Lage war. Er konnte die einflüsternde Stimme der Rüstung bewusst hören, sie mit einem einfachen mentalen Befehl ganz wegblenden oder – so wie jetzt – beiläufig nebenher laufen lassen. Das Erstaunliche war, selbst wenn er gar nicht konzentriert zuhörte, blieb das, was die Rüstung ihm mitteilte, in seinem Gedächtnis hängen. Im Gegensatz zur kleinen Nabiss-Rüstung, die Chex jetzt trug, konnte die neue seinen Körper komplett umschließen. Wenn es notwendig war, wuchs aus ihrem Halsansatz ein Helm. Selbst die Flügel wurden durch eine äußerst elastische, höchst widerstandsfähige und dennoch kaum bemerkbare Schicht überzogen, die Jiims Bewegungsfähigkeit in keinerlei Weise einschränkte, sondern optimal unterstützte. Und ehe er die Frage in seinem Kopf fertig formuliert hatte, sagte ihm die leise Stimme der Nabiss-Rüstung bereits: »Ja, es ist dir mit der Rüstung auch möglich in der Leere des Alls zwischen den Sternen zu überleben und dich dort fortzubewegen.« »Ich kann Kalser mit Hilfe der Nabiss-Rüstung verlassen?« rief Jiim ungläubig aus. Chex war ein gutes Stück zurückgeblieben und versuchte verzweifelt, seinen Gefährten nicht aus den Augen zu verlieren. Jiim erreichte in diesem Augenblick die Ruinen des verfluchten Ortes, den er bereits mit Guma Tschonk aufgesucht hatte. Nichts hatte sich seitdem verändert. Als Chex schließlich eintraf, blickte er in dessen angstverzerrtes Gesicht, das orientierungslos an ihm vorbeistarrte. Jiim drehte sich hastig um, aber da war niemand. »Was ist los mit dir?«, fragte er. »Siehst du das nicht?«, erwiderte Chex, der trotz der Rüstung wie betäubt durch die Luft trudelte.
Da fiel es Jiim wieder ein, und er griff nach Chex Hand und zog ihn einige Flügelschläge weiter. Chex schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Jetzt«, keuchte er, »jetzt ist es vorbei!« Jiim nickte. Die neue Nabiss-Rüstung hatte ihn unempfindlich gemacht gegenüber den immer noch funktionierenden, äußerst verwirrenden Abwehrmaßnahmen, mit denen die Unsichtbaren die Werft umgeben hatten. Damals, als er mit Guma Tschonk hier gewesen war, waren sie den vielfältigen optischen Täuschungen ausgesetzt gewesen, mit denen die Anlage abgeschirmt war. Sie schwebten jetzt über dem Zentrum, das nur an seinen verbogenen Metallträgern, eingestürzten Gerüsten und dem halb fertigen Raumschiff zu erkennen war. Jenem Raumschiff, das John Cloud damals so erschreckt und das er ein Äskulapschiff genannt hatte. Die Nabiss-Rüstung überschüttete ihn in beinahe zu großer Geschwindigkeit mit Daten und Informationen, von denen die Strahlen, die von diesem Ort ausgingen und die auch John Cloud seinerzeit so besorgt hatten, nur eine von vielen war. Sie teilte Jiim aber auch mit, dass die Strahlen nicht durch das Schutzschild der Rüstung dringen könnten. Doch in diesem Moment wurden sie von eine anderen Informationsflut überschwemmt, deren Wucht und deren Inhalt sie zutiefst erschütterte... *** Darauf hatte der Unbekannte Beobachter gewartet. Die beiden Anomalien – jetzt waren es tatsächlich zwei! – hatten sich gezeigt und entfernt. Er würde sich später um die Abweichungen der niederen Lebensformen kümmern, weil jetzt wieder der Anachronismus erschien, dem er bereits die ganze Zeit auf der Spur war.
Längst hatte der Unbekannte Beobachter seine normale Kreisbahn verlassen und war in die gefährlichen Tiefen der Atmosphäre hinabgetaucht, wo er von den lebenserhaltenden Strahlen des Alls abgeschnitten sein würde, solange es notwendig erschien... *** Wieder an der Oberfläche spürte der letzte Ganf deutlich, dass unmittelbar über ihm in den Wolken etwas lauerte. Er musste nicht lange warten, um zu erkennen, was es war. Noch verbargen die niedrig hängenden, grauen Wolken den Unbekannten Beobachter, dessen Anwesenheit er geahnt hatte, seit er aus der Vereinzelung erwacht war. Nun öffnete sich die dichte Wolkendecke an unzähligen kleinen Punkten, und dort fielen zahllose winzige Dinge wie eine Art Regen aus der Wolke heraus. Doch es war weder Regen, noch Schnee. Die Objekte hingen an noch viel dünneren, langen Fäden, die mit so hoher Geschwindigkeit herabsanken, dass der Eindruck entstand, sie fielen. Die Wolkendecke wölbte sich, und das Wesen, an dem die zahllosen Fäden mit den leicht verdickten Enden hingen, wurde sichtbar. Es schien von fast gleicher Farbe wie die Wolken zu sein. Aber einen Moment später konnte der Ganf klar erkennen, dass dieses gewaltige, annähernd kreisrunde Wesen beinahe durchsichtig war. In den Kammern seiner Erinnerung tauchte ein Bild aus den Zeiten auf, da Kalser noch keine Eiswüste war, sondern ein blühender Planet mit zahlreichen Gewässern. Ähnlich aussehende Wesen hatte es vor der Invasion durch die Unsichtbaren in den Meeren gegeben – gallertartige Geschöpfe, die mit ihren nesselnden Tentakeln auf Beutejagd gingen.
Aber dieses Gebilde, das aus den Wolken auf ihn herabfiel, war größer, sehr viel größer. Es war mehr als doppelt so groß wie der Ganf. »Anachronismus!«, hörte er nun eine deutliche Stimme. »Du verbirgst zahlreiche Informationen in dir.« Während der Unbekannte Beobachter unmittelbar über dem Ganf schwebte, hatte er die langen Fäden mit seinen Augen wieder etwas hochgezogen, sodass sie in sanften Wellenbewegungen durch die Luft strichen. Der Ganf sagte nichts. »Ich benötige dein gesamtes Wissen, gib es heraus!« Und nach einer kurzen Pause: »Wieso gibt es dich?« Der Ganf blieb stumm. »Ich hätte mich gewundert, wenn du mir dein Wissen freiwillig überlassen hättest. Doch du weißt, dass ich es mir auch ohne deine Einwilligung holen kann. Es wird nur sehr viel schmerzhafter.« Schweigen. »Es bedeutet deinen Tod!« Mit diesen Worten hatte der Unbekannte Beobachter seine tausend Augen ein weiteres Stück zu sich zurückgeholt – um sie jetzt wie lichtschnelle Pfeile auf den Ganf abzuschießen. Scheinbar mühelos drangen sie durch die immer tiefer verhärtete Oberhaut des gewaltigen Wesens. Nun sprach auch der Unbekannte Beobachter nicht mehr, sondern schwebte weiter hinab, um auch das letzte seiner Augen unbarmherzig in das Innere des Ganf zu bohren. Es schien, als sei der Ganf mit seinem Schicksal einverstanden, denn es gab kein Anzeichen dafür, dass er sich wehren wollte. Im Gegenteil beugte der Ganf sein viel gestaltetes Gesicht so weit nach oben, wie er konnte, und bot so dem Gegner seine empfindlichste Stelle an.
Der Unbekannte Beobachter reagierte augenblicklich und zog gut ein Viertel seiner Augenfäden wieder aus der Hülle des Ganf, um sie mitten in dessen Gesicht zu versenken. Der Ganf schrie. Mittlerweile war der Schmerz der brennenden Tentakel, die sein Inneres durchwühlten, schier unerträglich geworden. An zahllosen Stellen verschmolzen sie mit seinen Nerven und versuchten, die geistige Kontrolle über das komplexe Bewusstsein des Ganf zu erringen. Alles, was geschah, wurde mit gewaltigen Schmerzensschreien in Form mentaler Eruptionen nach außen geschleudert. Immer mehr Tentakel bohrten sich in und unter das Gesicht des Ganfs. Schlimmer als die körperliche Tortur war die geistige Qual. Denn noch immer war es dem Unbekannten Beobachter nicht gelungen, Kontrolle und Informationen zu gewinnen. Umso hartnäckiger – fast könnte man sagen, umso wütender – überschwemmte er das Innere des Ganfs mit seinem Gift. Währenddessen fand ein Austausch zwischen den beiden gigantischen Wesen statt. Sie wussten, dass sie sich nahezu ebenbürtig waren. Sie wussten auch, dass ein Schlagabtausch mit ihren Energiepotentialen die Gegend um sie herum weitläufig zerstört hätte bis tief hinein in die Ruinen der Toten Stadt. Ihrem jeweiligen Gegner aber würden sie damit keinen Schaden zufügen. Noch tiefer bohrten sich die Tentakel in das Gesicht und die Unterseite des Ganfs. Als hätte dieser darauf gewartet, setzte er sich in Bewegung. Mit seinem gewaltigen Gewicht zog er nicht nur sein eigenes Gesicht, sondern auch die Tentakel und dann immer mehr von dem weichen aber unnachgiebigen Körpers seines Angreifers unter sich.
Als sich der Ganf sicher sein konnte, dass es dem Unbekannten Beobachter aus eigener Kraft nicht mehr möglich sein würde, sich von ihm zu lösen, begann er, das Stadium der endgültigen Verhärtung zu beschleunigen. Er beschloss zu sterben, denn im Tod würde er nicht allein sein. Inzwischen hatte auch der Unbekannte Beobachter die Falle erkannt und versuchte verzweifelt, sich von dem massigen, schweren Körper des Ganfs zu lösen. Vergeblich... Ihm war bewusst, dass sein Schicksal besiegelt war, wenn es ihm nicht gelingen würde, wieder die oberen Schichten der Atmosphäre zu erreichen. Bis hier unten drangen die kosmischen Strahlen nicht, die ihn am Leben hielten. Inzwischen war der Ganf über das Stadium der Schmerzen hinaus. Und die letzte mentale Botschaft, die er absonderte, war so etwas wie ein zufriedenes Lächeln... *** Erschüttert saßen Jiim und Chex weit entfernt mitten in den Trümmern der ehemaligen Werft. Jiims Nabiss-Rüstung hatte sie den letzten Kampf des Ganfs in einer dreidimensionalen Projektion hautnah miterleben lassen. »Wenn dies die Gefahr war, von der der Ganf meinte, man könne sie vernachlässigen«, brach Chex nach einer Weile das bedrückte Schweigen, »möchte ich am liebsten gar nicht erst wissen, was hier an diesem unheimlichen Ort auf uns wartet...« »Wir sind es ihm schuldig«, sagte Jiim entschlossen und stand auf, »ihm und auch uns und unserem Volk! Schließlich soll von diesem Ort eine Bedrohung ausgehen, die uns diesmal endgültig versklaven kann. Das will ich unter keinen Umständen hinnehmen!«
»Dieses ekelhafte Ding, das den Ganf getötet hat...«, begann Chex. »Der Ganf hat sich für uns geopfert, für uns Nargen!« unterbrach ihn Jiim. »Was immer das war... Ich vermute, es handelte sich um ein Relikt, das die Unsichtbaren absichtlich oder achtlos auf Kalser zurückgelassen haben. Und hier lauert etwas Ähnliches. Wir müssen vorsichtig sein.« Chex und Jiim hielten beide ihre Nabiss-Rüstungen aktiviert und suchten vorsichtig das unübersichtliche Gelände der ehemaligen Raumschiff werft ab. Sie kamen an einem weiten Feld von kaum kniehohen, regelmäßig geformten Mauerresten vorbei. Vor Jiims Augen entstand eine Projektion, die zeigte, dass es sich um ein Gebiet ehemaliger Baracken handelte. »Hier müssen sie unsere Vorfahren gefangen gehalten haben«, murmelte er. Obwohl er leise sprach, verstand Chex ihn genau. Gegenüber dem längst verfallenen Lager befanden sich noch Gebäudereste, die Wind und Wetter während langer Zyklen besser standgehalten hatten. Nur wenige Herzschläge später fanden sie ein schmales, offenes Fenster, durch das sie in das Hauptgebäude dieses festungsartigen Komplexes eindringen konnten. Die NabissRüstung verriet Jiim, dass es im Inneren des Gebäudes eine Strahlung unbekannter Art gab. Doch auch ohne diese Information war der Ort unheimlich und bedrückend genug... Finstere, dunkle, enge, kaum nargenhohe Gänge und Mauern, die so dick waren wie ein Flügel lang, vermittelten ihnen das Gefühl, als könnten sie jeden Augenblick unter Gesteinsmassen begraben werden. Vielleicht wegen der unheimlichen Energie war die Temperatur in dem Gebäude höher als draußen.
Sie mussten durch knietiefe Pfützen mit brackig-dreckigem Wasser waten und erreichten schließlich genau im Zentrum des Baus einen Raum, der ursprünglich einmal durch eine massive, metallverstärkte Tür aus Gestein gesichert gewesen war. Doch die Feuchtigkeit hatte das Metall fast gänzlich verrotten lassen, und das Gestein war vom Wechselspiel schmelzenden und gefrierenden Wassers gesprengt worden. Sie stiegen über den Schutthaufen der ehemaligen Tür und standen in dem Raum, von dem – wie die Nabiss-Rüstung überdeutlich und alarmierend signalisierte – die ungenannte Gefahr ausgehen sollte. Doch nichts war zu sehen... Der Raum war leer, abgesehen von ein paar Geröllbrocken und zwei Säulen, die im hinteren Teil des unspektakulären Gebäudeteils bis unter die Decke ragten. Er war etwas höher als die Gänge, durch die sie geeilt waren. Selbst für Nargenaugen war es hier so finster, das Jiims Nabiss-Rüstung die Sichtverstärkung aktiviert hatte. Chex kramte noch in seinem Beutel, um den einen ihnen noch verbliebenen Leuchtstab herauszuholen. »Jay’nac... weißt du was das bedeutet?«, fragte Jiim. »Keine Ahnung, wie kommst du darauf?«, erwiderte Chex. Beide flüsterten unwillkürlich, obwohl sie offenbar allein an diesem Ort waren – so hofften sie zumindest... »Meine Nabiss-Rüstung sagt, die Signatur dieses Ortes wäre Jay’nac. Was immer das heißt. Aber weißt du, was seltsam ist...?« Jiim ging ein paar Schritte tiefer in den Raum hinein. »Keine Ahnung. Soll ich raten?« Chex wurde allmählich wieder etwas ruhiger. »Nicht nötig, ich sag es dir! Diese Säulen! Warum stehen in diesem relativ kleinen Raum zwei Säulen...« »Vielleicht solltest du...«, setzte Chex an. Jiim schien ihn nicht zu beachten. »Das ist wirklich seltsam: Diese Säulen stützen gar nicht die Decke, sie hören kurz unter der Decke a...«
Blitzartig wurde der Raum in grelles Licht getaucht. Die Säulen, denen sich Jiim gerade zugewandt hatte, um sie näher in Augenschein zu nehmen, glühten auf. Doch das noch viel Erschreckendere war, dass sich die Luft zwischen den beiden Säulen regelrecht zu verbiegen begann. Sie flimmerte, flackerte und reflektierte wie eine leicht bewegte, hell angestrahlte Wasseroberfläche – und Jiim, der sich mitten in dieser Fläche befand, begann ebenso zu flimmern! Es war, als bestünde er gar nicht aus einem festen Körper umhüllt von der golden glänzenden Nabiss-Rüstung, sondern als wäre er nur ein Bild, ein Spiegelbild auf einer Wasseroberfläche. Chex schrie vor Schreck auf. Entsetzt beobachtete er, wie die helle Oberfläche zwischen den Säulen immer mehr zu strahlen begann. Er musste sich geblendet abwenden, als nicht einmal mehr das dunkle Sekret seine Augen schützen konnte. Plötzlich war es vorbei. Dunkelheit herrschte wieder in dem Raum. Chex richtete den Strahl des Leuchtstabs dorthin, wo eben noch Jiim gestanden hatte. Aber da war nichts mehr! *** Jiim sah noch, wie ihn ein grelles Leuchten umhüllte und ihn Chex mit offenem Mund entsetzt anstarrte. Im nächsten Moment wurde alles überstrahlt, und er spürte, wie eine Kraft an jeder Faser seines Körpers riss. Er war mehr erschrocken, als dass es wirklich schmerzte. Dabei hatte sich diese finale Kraft jedes winzigen Teils seiner selbst bemächtigt, ohne dass er oder die Nabiss-Rüstung auch nur den Hauch einer Chance hatte, sich dagegen zu wehren. Der
Schrecken war so plötzlich, so groß und so überwältigend, dass er glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Hatte er es wirklich verloren? Es konnte jedenfalls noch nicht einmal ein Herzschlag vergangen sein, da gab ihn das tausendfarbige Weiß, das ihn so überraschend überwältigt und umhüllt hatte, ebenso plötzlich wieder frei... *** Chex hatte den Leuchtstab hervorgeholt und ließ das Licht in jeden Winkel des Raums wandern. Doch außer ihm war niemand mehr da. Jiim blieb verschwunden. Das war erschreckender, als wenn er irgendwelche Überreste gefunden hätte. Er spürte, wie sich die Leere dieses Raums ausweitete. Obwohl die Kammer mit den glühenden Säulen, die nun wieder erloschen waren, kaum größer als ein geräumiges Nargennest war, kam sie ihm auf einmal riesig vor. Gewaltig, fremdartig, abstoßend – und so unendlich leer... Was war mit Jiim geschehen? Hatte ihn dieses unheimliche Flackern, in dem er verschwunden war, getötet? So schnell und so gründlich umgebracht, dass sein Freund noch nicht einmal in der Lage gewesen war, seinen letzten mentalen Todesimpuls auszusenden? Jener letzte, geistige Todesruf, der ihm und allen anderen Nargen, die ihn auffingen, unmissverständlich mitgeteilt hätte, dass Jiim, der große Jäger und Träger der letzten Nabiss-Rüstung, ins dunkle Reich der Schatten übergewechselt war. Chex schüttelte so heftig den Kopf, dass die Federn über seinen Ohren knatterten, als würde er fliegen. Das konnte nicht sein! Jiim konnte nicht tot sein! Aber was war mit ihm passiert? Und vor allem: Wo war er? Hatte die furchtbare Energie der Unsichtbaren, die hier immer
noch lebendig war, seinen letzten Ruf verschluckt? Hatte sie ihn versklavt? Auch der Ganf, der so etwas angedeutet hatte, hatte nichts genaues über diese Anlage gewusst. Was sollte er tun? Was soll ich, in Plephes Namen, nur ohne Jiim tun? Chex ließ den Oberkörper, ohne es selbst zu registrieren, hin und her schwingen. Aus seinem Mund kamen seltsame Laute. Es waren keine Worte, sondern eine Art Gesang, ein wortloses Lied der Trauer. Er musste hier auf Jiim warten. Niemand löst sich einfach so in Nichts auf. Das gab es nicht! Doch Jiim blieb verschwunden. Chex musste warten. Auf seinen Freund. Die gewaltige Leere des unheimlichen Raums hatte sich längst in seinem Inneren ausgebreitet. In seinem Herzen und in seinem Kopf war nur noch Leere. Er wusste nicht, wie lange er in der Dunkelheit gewartet hatte. Irgendwann hatte Chex den Leuchtstab ausgeschaltet, und auch die Nabiss-Rüstung war nicht aktiviert. Er musste eingeschlafen sein. Mit einem Ruck fuhr er hoch und stieß in der Dunkelheit gegen die Wand. Fluchend taumelte er zur Seite. Es war eiskalt geworden. Mit einer leichten Berührung aktivierte er die Nabiss-Rüstung. »Jiim?«, murmelte er, als er eine Bewegung sah. Doch es war nur sein eigener Schatten. Ein vernehmliches Knurren ertönte – sein Bauch. Chex wurde wütend, weil er in dieser Situation Hunger bekam. Es hilft Jiim nichts, wenn ich hier verhungere, dachte er. Seufzend kletterte er über die Trümmer der Tür zurück in den Gang. Jiim würde den Weg nach draußen auch alleine finden, wenn er wiederkam. Wenn er jemals wiederkommen sollte... Chex schluckte, als er das Gebäude dort verließ, wo sie es wenig zuvor noch gemeinsam betreten hatten.
Es half nichts. Er musste etwas essen. Er setzte sich auf eine halb eingestürzte Mauer, die einige Flügelschläge außerhalb des unheimlichen Werftgeländes einsam aus dem Schnee ragte und kramte in seinem Vorratsbeutel. Viel war nicht mehr da. Es musste reichen. Während er lustlos kaute, hielt er seine Augen unverwandt auf das Werftgelände gerichtet. Wann wird Jiim wieder auftauchen? Würde er überhaupt wieder auftauchen? Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das leichte Säuseln des Windes und das mechanische Mahlen seiner Kieferknochen. Doch da fing sein Geist etwas auf. Jiim? Nein, das war nicht Jiim. Aber es war ein bekannter, ein vertrauter Impuls. Alef? Das war Alef! Bis hierhin, ans andere Ende seiner Welt, drang dieser Gedanke seines in der Nargensiedlung zurückgebliebenen Gefährten. Er verstand nicht, was ihm dieser Gedanke mitteilen wollte. Aber Chex verstand, dass er von Alef kam. Und er konnte nur bedeuten, dass es im Nargendorf Probleme gab. Jiim? Wo war Jiim? Sie brauchten ihn! Nein, sie benötigten nicht Jiim, sondern ihn, Chex. Er konnte hier nicht länger auf seinen Freund warten, obwohl ihm die Ungewissheit über Jiims Schicksal in seinen Eingeweiden brannte, als hätte er Gift geschluckt. Mit einem kräftigen Flügelschlag stieß er sich vom Boden ab und aktivierte die Nabiss-Rüstung. Er musste zurück in ihr Dorf. So schnell wie möglich...
*** Bin ich diesmal wirklich gestorben? Jiim befand sich jetzt an einem völlig anderen Ort. Er wollte zwar nicht glauben, dass dies das Reich der Schatten war, doch wo befand er sich dann? Allmählich wurde sein Blick wieder schärfer und er taumelte vorwärts. Da stand jemand. Jemand? Etwas! Ein Lebewesen, wie er es noch nie gesehen hatte. Zu allem Überfluss schwieg auch seine Nabiss. Sieht so der Ort der Toten aus? Voller unbekannter Dinge, unerklärlicher Geräte und einer seltsamen in der Luft schwebenden Kugel? Eine schreckliche Gewissheit breitete sich in Jiim aus. Dies war nicht das Reich der Toten, aber er befand sich auch nicht mehr auf Kalser. Langsam gewann er die Fassung wieder und breitete zögernd die Flügel zur Begrüßung aus... ENDE
BAD EARTH
Jiim hat es an einen fremden Ort, fernab seiner Heimat
verschlagen.
Dort geraten die Dinge in Fluss.
Ein Jay’nac stellt Weichen.
Und Jiim begegnet Fremden, die zu Freunden werden...
Die Begegnung
lautet der Titel der nächsten Bad-Earth-Folge, die Alfred Bekker mitreißend in Szene gesetzt hat.