GEORGE ALEC EFFINGER
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GEORGE ALEC EFFINGER
DER KUSS DES EXILS Roman Aus dem Amerikanischen übersetzt von ISABELLA BRUCKMAIER Science Fiction
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Der Marid Audran-Zyklus: Das Ende der Schwere • 0604842 Ein Feuer in der Sonne • 0604843 Der Kuß des Exils • 0605054 Diesmal werden sie beide von ihren Gegnern übertölpelt: Detektiv Marîd Audran und sein scheinbar so mächtiger und einflußreicher Onkel Friedlander Bei. Sie werden entführt und ohne Gerichtsverhandlung verurteilt. Man wagt es freilich nicht, sie kaltblütig zu ermorden, aber ihre Deportation kommt einem Todesurteil gleich: sie werden in die Große Arabische Wüste geflogen und gnadenlos mittendrin ausgesetzt. Zwar hat Audran seine Moddys bei sich, mit denen er Durst und Hunger eine Zeitlang unterdrücken kann, aber gegen räuberische Beduinen sind sie nutzlos, und Friedländer Bei ist ein alter, hilfloser Mann, den er nicht dem Tod preisgeben kann. Die nächste Wasserstelle ist Tagemärsche weit enfernt, die Küste ohne fremde Hilfe unerreichbar. Aber noch mehr als der Durst in seiner Kehle treibt Marîd Audran der Durst nach Rache an.
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 0605054
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE EXILE KISS Deutsch von Isabella Bruckmaier Das Umschlagbild malte Michael Hasted
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1991 by George Alec Effinger Erstausgabe by Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Inc., New York Copyright © 1994 der deutschen Ausgabe und der Übersetzungen by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1994 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-06626-X
Für die Science Fiction-Gemeinschaft in den Südstaaten, die mich jahrelang unterstützte und ermutigte. Mein Dank geht an die ArmadilloCon in Austin, die SwampCon in Baton Rouge, das New Orleans Science Fiction und Fantasy Festival und die CoastCon in Biloxi. Ein besonderer Dank gilt Fred Duarte und Karen Meschke, die mir mit ihrer geradezu überbordenden Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft zur Seite sprangen, als mein Auto sich – beinahe für immer – verabschiedete, während ich an diesem Buch saß.
Und wenn es Gold und Silber regnet in der Fremde und Dolche und Speere in der Heimat, ist es doch besser, daheim zu sein. – Malaysisches Sprichwort
O! ein Kuß, Lang wie mein Bann und süß wie meine Rache! – WILLIAM SHAKESPEARE Coriolan 5. Akt, 3. Szene
1. Kapitel
Der Gedanke, ich könnte entführt werden, kam mir nie in den Sinn. Es gab keinen Grund dafür. Jedenfalls hatte der Tag recht friedlich begonnen. Ich wachte vor Sonnenaufgang auf – hellwach dank eines experimentellen Add-on-Chips, das ich auf meinem vorderen Gehirnimplantat trage. Soweit ich weiß, bin ich der einzige Mensch weit und breit mit zwei Implantaten. Einer dieser Spezialdaddys sorgt dafür, daß ich frisch und energiegeladen aus dem Bett hüpfe, wann immer ich es wünsche. Inzwischen kombiniere ich ihn mit einem anderen Daddy, der meinen Körper anheizt, Alkohol und Drogen schneller aus meinem System zu entfernen. Dadurch wache ich auf, ohne noch betrunken oder sonstwie beeinträchtigt zu sein. Früher kam es vor, daß andere wegen meines Katers leiden mußten. Das soll nie wieder vorkommen, habe ich mir geschworen. Ich duschte, brachte meinen roten Bart in Form, zog eine teure, sandfarbene Gallebeya an und setzte ein weißes gehäkeltes Käppchen auf, wie man es in meiner algerischen Heimat trägt. Ich hatte Hunger und normalerweise bereitete mein Sklave, Kmuzu, meine Mahlzeiten zu, aber ich hatte eine Verabredung zum Frühstück mit Friedlander Bei. Das fand nach dem Morgenruf zum Gebet statt, ich hatte also noch dreißig Minuten Zeit. Ich machte mich vom Westflügel aus auf den Weg zum Ostflügel von Friedlander Beis großem Anwesen und klopfte an die Tür zur Wohnung meiner Frau. Indihar öffnete in einem weißen Satinkleid, das ich ihr ge-
schenkt hatte. Das brünette Haar trug sie in einem dichten Knoten. Ihre großen dunklen Augen wurden schmal. »Ich wünsche dir einen guten Morgen, Ehemann«, sagte sie. Die Freude darüber, mich zu sehen, hielt sich in Grenzen. Ihr jüngstes Kind, der vierjährige Hâkim, klammerte sich an sie und schrie. In einem anderen Zimmer brüllten Jirji und Zahra aufeinander ein. Senalda, das Kindermädchen aus Valencia, das ich eingestellt hatte, war nirgends zu erblicken. Ich hatte es auf mich genommen, für die Familie zu sorgen, weil ich mir zu einem gewissen Teil die Schuld am Tod von Indihars Ehemann zuschrieb. Papa – Friedlander Bei – hatte beschlossen, daß ich, um dieses ehrenwerte Ziel zu erreichen, ohne die Klatschmäuler auf den Plan zu rufen, Indihar zu heiraten und die Kinder offiziell zu adoptieren habe. Ich konnte mich an keinen anderen Fall erinnern, in dem sich Papa einen Deut um irgendwelche Klatschmäuler geschert hätte. Wie auch immer, trotz Indihars Empörung und meiner glatten Weigerung waren wir beide nun Mann und Frau. Papa setzte seinen Kopf immer durch. Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte mich Friedlander Bei am Kragen gepackt, den Schmutz aus mir herausgeschüttelt und aus dem kleinen Ganoven, der ich damals war, einen Bonzen in der hiesigen Unterwelt gemacht. Damit war Hâkim jetzt also … mein rechtmäßiger Sohn. So unwohl mir bei dieser Vorstellung auch war. Ich hatte früher nie viel mit Kindern zu tun gehabt und konnte nicht umgehen mit ihnen. Und, Sie können mir glauben, das merken die sofort. Ich hob den Kleinen hoch und lächelte in sein von Süßigkeiten verschmiertes Gesicht. »Na, warum weinst du denn, o Weiser?«
Hâkim hielt gerade lange genug inne, um tief Luft zu holen und noch lauter loszubrüllen. Indihar stöhnte ungeduldig. »Bitte, Gemahl, versuche nicht, ein großer Bruder zu sein. Jirji ist sein großer Bruder.« Sie nahm mir Hâkim aus den Armen und setzte ihn wieder am Boden ab. »Ich versuche nicht, ein großer Bruder zu sein.« »Dann versuche auch nicht, sein Kumpel zu sein. Er braucht keinen Kumpel. Er braucht einen Vater.« »Richtig«, entgegnete ich. »Sag mir doch, was ein Vater zu tun hat, und ich tu es.« Seit Wochen hatte ich versucht, es ihr recht zu machen, aber Indihar hatte mir nur die kalte Schulter gezeigt. Das begann mir ziemlich auf die Nerven zu gehen. Sie lachte humorlos und scheuchte Hâkim nach hinten. »Gibt es einen konkreten Grund für deinen Besuch, Gemahl?« fragte sie. »Indihar, könntest du deine Ressentiments gegen mich nicht etwas zurückstellen, vielleicht könnten wir dann das Beste aus der Situation machen. Ich meine, wie schrecklich ist es denn hier für dich?« »Warum fragst du nicht Kmuzu, wie er sich fühlt?« entgegnete sie. Sie hatte mich noch immer nicht hereingebeten. Ich hatte es satt, im Vestibül rumzustehen, und drängte mich an ihr vorbei in den Salon, wo ich mich auf das Sofa setzte. Indihar starrte mich wütend an, um dann aufzuseufzen und im Sessel gegenüber Platz zu nehmen. »Ich habe dir das alles bereits erklärt«, sagte ich. »Papa neigt dazu, mir ständig Geschenke zu machen, die ich nicht will, wie zum Beispiel meine Implantate und Chirigas Bar und Kmuzu.«
»Und mich«, fügte sie hinzu. »Ja, und dich. Er versucht, alle meine Freunde zu vergraulen. Er will, daß ich meine alten Beziehungen aufgebe.« »Du könntest dich einfach weigern, Gemahl. Hast du jemals daran gedacht?« Ich wünschte, es wäre so einfach! »Als sie meinen Schädel aufmotzten«, erklärte ich ihr, »zahlte Friedlander Bei die Ärzte, das Bestrafungszentrum in meinem Gehirn zu verdrahten.« »Das Bestrafungszentrum? Nicht das Lustzentrum?« Ich lächelte wehmütig. »Hätte er mein Lustzentrum verdrahten lassen, wäre ich wahrscheinlich schon tot. So enden diese Drahtköpfe in der Regel. Bei mir hätte es wohl auch nicht lange gedauert.« Indihar runzelte die Stirn. »Aber ich verstehe das nicht. Warum ließ er das Bestrafungszentrum verdrahten? Was könnte dir das bringen?« Ich hob die Hand und unterbrach sie. »Hey, nicht ich wollte das! Papa ließ das machen, ohne daß ich davon wußte. Er hat eine Menge kleiner elektronischer Spielsachen, mit denen er meine Schmerzzentren fernsteuern kann. Damit hat er mich unter Kontrolle.« Nicht einmal die Tatsache, daß er in Wirklichkeit der Großvater meiner Mutter war, wie ich vor kurzem erfahren hatte, konnte an meinen Gefühlen für ihn etwas ändern. Und das würde erst dann anders werden, wenn er aufhörte, sich zu weigern, mit mir über meine Freiheit zu sprechen. Ich sah, wie sie fröstelte. »Das wußte ich nicht, Gemahl.« »Ich habe es auch wenigen erzählt. Aber Papa ist immer da und sieht mir über die Schulter, allzeit bereit, den Daumen auf den Schmerzknopf zu senken, wenn ich etwas mache, das ihm
nicht behagt.« »Dann bist du also auch ein Gefangener«, erwiderte Indihar. »Du bist genauso sein Sklave wie wir anderen auch.« Ich hielt es nicht für notwendig, darauf zu antworten. In meinem Fall war die Situation insofern etwas anders, als ich blutsverwandt war mit Friedlander Bei und mich daher verpflichtet fühlte, ihn zu lieben. Was mir bisher allerdings noch nicht gelungen war. Ich hatte ohnehin Schwierigkeiten mit diesem Gefühl, und Papa machte es mir nicht gerade einfach. Indihar streckte mir die Hand entgegen, und ich nahm sie. Das war das erste Entgegenkommen, seit wir verheiratet waren. An ihrem Handteller und den Fingern war noch schwach die gelb-orange Farbe zu sehen, die von dem Henna stammte, mit dem ihre Freunde sie am Morgen unserer Hochzeit bemalt hatten. Die Zeremonie war recht ungewöhnlich gewesen, weil Papa erklärt hatte, jemand wie ich könne nur eine Jungfrau heiraten. Doch Indihar war eine Witwe mit drei Kindern. Weshalb er sie einfach zu einer Jungfrau ehrenhalber erklärte. Niemand lachte darüber. Die Hochzeitsfeierlichkeiten setzten sich aus einer Mischung der in der Stadt üblichen Gebräuche und der Traditionen aus Indihars ägyptischem Heimatdorf zusammen. Es wurde so getan, als freite ein junger, vielversprechender Maghrebiner eine junges, jungfräuliches Mädchen. Friedlander Bei erklärte, es sei nicht notwendig, Indihars Familie wegen der Feierlichkeiten zu holen, ihre Freunde aus dem Budayin könnten sie ersetzen. »Die rituelle Prüfung lassen wir natürlich weg«, hatte Indihar erklärt.
»Was ist denn das?« hatte ich nachgefragt. Ich hatte Angst, in der letzten Minute eine Art schriftlicher Prüfung ablegen zu müssen, auf die ich mich seit meiner Pubertät hätte vorbereiten müssen. »In manchen rückständigen mohammedanischen Ländern wird die Braut in der Hochzeitsnacht von den Gästen weg in das Schlafzimmer gebracht«, erklärte Friedlander Bei. »Dort halten die Frauen aus den beiden Familien sie im Bett fest. Der Ehemann wickelt ein weißes Tuch um den Zeigefinger und führt ihn ein, um die Jungfräulichkeit des Mädchens zu beweisen. Kann er ein blutbeflecktes Tuch vorzeigen, übergibt er es dem Brautvater, der es wie einen Wimpel vor sich her trägt und allen zeigt.« »Aber das ist das siebzehnte Jahrhundert der Hegira!« rief ich erstaunt aus. Indihar zuckte die Achseln. »Die Eltern der Braut erfüllt dieser Augenblick mit großem Stolz. Er beweist, daß sie eine keusche und ehrbare Tochter aufgezogen haben. Bei meiner ersten Hochzeit weinte ich wegen dieser Entwürdigung. Doch als ich die Freudenrufe der Gäste hörte, war mir klar, daß meine Ehe gesegnet ist und ich in den Augen der Leute aus dem Dorf zur Frau geworden bin.« »Wie du sagtest, meine Tochter«, mischte sich Friedlander Bei ein, »wird unter solchen Umständen eine rituelle Prüfung nicht erforderlich sein.« Papa konnte ganz vernünftig sein, solange er dabei nicht Gefahr lief, etwas zu verlieren. Ich kaufte Indihar einen hübschen Ehering und, wie es der Brauch war, noch ein zweites Schmuckstück. Chiri, meine nicht ganz so stille Partnerin, half mir dabei, das Geschenk in einer
der teuren Boutiquen östlich des Boulevards il-Jameel auszuwählen, wo die Europäer einzukaufen pflegen: eine Brosche, eine smaragdübersäte Eidechse aus Gold mit Augen aus Rubinen. Ich zahlte zwölftausend Kiam dafür, etwas so Teures hatte ich bisher noch nie gekauft. Am Morgen unseres Hochzeitstages überreichte ich Indihar das Geschenk. Sie öffnete das mit Satin ausgekleidete Schmuckkästchen, sah sich die Smaragdeidechse an und sagte: »Danke, Marîd.« Sie erwähnte die Brosche mit keinem Wort mehr, und ich habe sie auch nie an ihr gesehen. Indihar war nie wohlhabend gewesen, auch nicht, bevor ihr Mann getötet wurde. Sie brachte nur ein paar bescheidene Haushaltsgegenstände und ihre wenigen Habseligkeiten in unseren neuen Hausstand ein. Nicht daß ihr Beitrag eine besondere Rolle gespielt hätte, schließlich war ich durch die Verbindung zu Papa zu ausreichendem Wohlstand gekommen. Es war in der Tat so, daß der in unserem Ehevertrag als Brautpreis angegebene Betrag alles übertraf, was Indihar je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hatte. Zwei Drittel davon gab ich ihr bar. Das letzte Drittel sollte sie im Falle einer Scheidung erhalten. Ich zog nur meine beste weiße Gallebeya und den dazugehörigen Überwurf an, aber Indihar mußte mehr über sich ergehen lassen. Chiri, ihre beste Freundin, half ihr, sich auf die Zeremonie vorzubereiten. Am frühen Morgen entfernten sie die Haare von Indihars Armen und Beinen. Dazu bedeckten sie ihre Haut mit einer Mischung aus Zucker und Limonensaft. Sie ließen die Paste hart werden und dann zog Chiri sie ab. Ich werde nie vergessen, wie wunderbar frisch und süß Indihar an diesem
Abend duftete. Es kommt noch manchmal vor, daß mich der Duft von Limonen erregt. Als Indihar mit dem Ankleiden fertig war und sich dezent geschminkt hatte, wurde die offizielle Holoaufnahme zur Hochzeit von uns beiden gemacht. Wir wirkten beide nicht besonders glücklich. Uns war klar, daß es sich hier nur um eine Proforma-Hochzeit handelte, die nur so lange dauern würde, wie Friedlander Bei am Leben war. Der Holograph erzählte ständig schmutzige Witze über die Hochzeitsnacht und die Flitterwochen, aber Indihar und ich achteten nur auf die Uhr. Wir zählten die Stunden, bis diese Tortur vorüber sein würde. Die Zeremonie selbst fand in Papas großer Empfangshalle statt. Hunderte von Gästen waren da, darunter waren einige Freunde von uns und einige düstere, schweigsame Männer, die sich am Rand der Menge postiert hatten und diese aufmerksam beobachteten. Mein Trauzeuge war Saied der Halb-Hadschi, der der festlichen Angelegenheit wegen auf ein Moddy verzichtete. Was an sich schon als ein herausragendes Ereignis gelten konnte. Auch die meisten anderen Clubbesitzer aus dem Budayin waren da und die Mädchen, Geschlechtsumwandlungen und die Debs, die wir kannten. Darunter waren solche im ganzen Budayin bekannte Typen wie Laila, Fuad und Bill, der Taxifahrer. Es hätte ein wirklich fröhliches Fest werden können, wäre da nicht dieser kleine Schönheitsfehler gewesen: Indihar und ich liebten uns nicht und wollten überhaupt nicht heiraten. Wir saßen einem Scheich mit blauem Turban gegenüber, der die muslimische Trauungszeremonie durchführte. Indihar sah bezaubernd aus in dem wundervollen weißen Satinkleid, dem weißen Schleier und dem Strauß duftender Blüten, den sie dazu
trug. Zu Beginn erbat der Scheich den Segen Allahs für uns und las aus der ersten Sure des edlen Koran. Dann fragte er Indihar, ob sie der Eheschließung zustimme. Ein kurze Pause entstand, und ich glaubte zu sehen, wie ihre Augen vor Schmerz feucht wurden. »Ja«, antwortete sie leise. Wir gaben uns die rechte Hand und der Scheich breitete ein weißes Tuch darüber. Indihar wiederholte die Worte des Scheichs und erklärte, daß sie mich aus freiem Willen heirate, für einen Brautpreis von 75 000 Kiam. »Spreche mir nach, Marîd Audran«, fuhr der Scheich fort. »Ich nehme dich, gewähre dir meinen Beistand und verpflichte mich, dich zu allen Zeiten zu beschützen. Die Anwesenden mögen dies bezeugen.« Das mußte ich dreimal sagen, damit es seine Gültigkeit hatte. Der Scheich beendete das Ganze mit einer weiteren Lesung aus dem heiligen Koran. Er segnete uns und unsere Ehe. Einen Augenblick lang kehrte Frieden ein, und dann ertönte aus der Kehle der Frauen dieser schrille, trillernde Ton des uralten Kopfstimmengesangs. Natürlich gab es anschließend eine Party, und ich trank und tat so, als sei ich glücklich. Es gab jede Menge Essen, und die Gäste überreichten uns Geschenke und Geld. Indihar zog sich früh zurück mit der Entschuldigung, sie müsse die Kinder zu Bett bringen, obwohl Senalda zu diesem Zweck eingestellt worden. Ich verließ die Feier nicht sehr viel später. Zurück in meinem Apartment, schmiß ich sieben oder acht Tabletten Sonnein ein und legte mich mit geschlossenen Augen auf mein Bett. Ich war verheiratet. Ich war ein Ehemann. Als die Opiate zu
wirken begannen, ging mir durch den Kopf, wie wundervoll Indihar ausgesehen hatte. Ich wünschte, ich hätte sie wenigstens geküßt. Das waren also meine Erinnerungen an unsere Hochzeit. Jetzt, wo ich in ihrem Salon saß, fragte ich mich, was meine wahren Verantwortlichkeiten waren. »Du behandelst mich und die Kinder gut«, sagte Indihar. »Du bist großzügig, und ich sollte dankbar sein. Verzeih mir mein Verhalten, Gemahl.« »Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen, Indihar«, entgegnete ich. Ich stand auf. Die Erwähnung der Kinder erinnerte mich daran, daß sie jeden Moment tobend und kreischend in den Salon stürmen konnten. Ich wollte raus, so lange es noch ging. »Wenn du etwas brauchst, wende dich einfach an Kmuzu oder Tariq.« »Man sorgt gut für uns.« Sie sah hoch und blickte mir in die Augen. Dann wandte sie den Kopf ab. Mir war nicht klar, was sie empfand. Ich selbst kam mir vor wie ein Tölpel. »Ich geh' dann. Und einen guten Morgen wünsche ich dir.« »Mögest du einen schönen Tag haben, Gemahl.« An der Tür angelangt, drehte ich mich um. Ich wollte sie nochmal sehen, bevor ich ging. Sie kam mir so traurig und alleine vor. »Möge der Segen Allahs auf dir ruhen«, sagte ich leise und machte die Tür hinter mir zu. Ich hatte genug Zeit, um zurück zu dem kleineren Eßzimmer in der Nähe von Friedlander Beis Arbeitszimmer zu gelangen, in dem wir immer frühstückten, wenn er etwas Geschäftliches mit mir besprechen wollte. Er saß bereits an seinem Platz, als ich ankam. Die zwei wortkargen Riesen, Habib und Labib,
hatten sich hinter ihm aufgestellt, an jeder Seite einer. Sie mustern mich noch immer voller Mißtrauen, als ob ich, nach all der Zeit, noch immer jeden Augenblick ein Messer ziehen und mich auf Papas Kehle stürzen könnte. »Guten Morgen, mein Neffe«, sagte Friedlander Bei feierlich. »Wie steht es um deine Gesundheit?« »Ich danke Gott stündlich«, erwiderte ich, setzte mich ihm gegenüber an den Tisch und nahm mir von den Frühstücksplatten. Papa trug ein hellblaues, langärmeliges Hemd, eine braune Wollhose und dazu als Kopfbedeckung einen roten Filzfez. Er hatte sich seit zwei oder drei Tagen nicht mehr rasiert und sein Gesicht war von einem grauen Stoppelfeld überzogen. Er war erst vor kurzem aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte sehr viel Gewicht verloren. Was jedoch seinen scharfen Verstand keineswegs beeinträchtigt hatte. »Hast du schon eine Vorstellung, wer dir mit unserem Datalink-Projekt helfen könnte, Liebling?« kam er direkt zum Geschäft, ohne sich lange mit Höflichkeitsritualen aufzuhalten. »Ich glaube schon, o Scheich. Mein Freund Jacques Dévaux.« »Der Marokkaner? Der Christ?« »Ja, auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob ich ihm wirklich trauen kann.« Papa nickte. »Es ist gut, so zu denken. Es ist nicht weise, irgendeinem Menschen zu trauen, bevor er auf die Probe gestellt wurde. Wir werden das vertiefen, sobald ich die Schätzungen von den Datalink-Firmen in Händen habe.« »Ja, o Scheich.« Ich sah ihm zu, wie er sorgfältig mit einem silbernen Messer
einen Apfel schälte. »Du wurdest von der Zusammenkunft heute abend benachrichtigt, mein Neffe?« Wir waren zu einem Empfang im Palast von Scheich Mahali eingeladen worden, dem Emir der Stadt. »Ich war verblüfft, als ich erfuhr, daß der Prinz mich zur Kenntnis genommen hat«, antwortete ich. Papa lächelte mir kurz zu. »Es geht dabei um mehr als die Freude über deine vor kurzem stattgefundene Hochzeit. Der Emir sagte, er könne keine Fehde zwischen mir und dem Scheich Reda Abu Adil zulassen.« »Aha, ich verstehe. Und das Fest heute abend ist der Versuch des Emirs, euch zu versöhnen?« »Sein vergeblicher Versuch, uns zu versöhnen.« Friedlander Bei musterte den Apfel stirnrunzelnd, stieß voller Wucht das Messer in den Apfel und legte diesen dann zur Seite. »Zwischen mir und Scheich Reda wird es keinen Frieden geben. Das ist einfach unmöglich. Aber mir ist klar, in welch schwieriger Lage sich der Emir befindet: wenn die Könige in den Krieg ziehen, sterben die Bauern.« Ich lächelte. »Wollt Ihr damit ausdrücken, daß Ihr und Scheich Reda in diesem Fall die Könige und der Fürst der Stadt der Bauer ist?« »Mit Sicherheit hat er unserer Macht nichts entgegenzusetzen, nicht wahr? Sein Einfluß bezieht sich auf die Stadt, während wir ganze Nationen kontrollieren.« Ich lehnte mich zurück und starrte ihn an. »Erwartet Ihr heute abend einen weiteren Angriff, mein Großvater?« Friedlander Bei strich voller Gedanken über die Oberlippe. »Nein«, entgegnete er langsam, »nicht heute abend, wenn wir
unter dem Schutz des Fürsten stehen. So dumm ist Scheich Reda bestimmt nicht. Aber bald, mein Neffe. Sehr bald.« »Ich werde auf der Hut sein«, erwiderte ich, als ich aufstand und mich von dem alten Herrn verabschiedete. Das letzte, was ich im Augenblick hören wollte, war, daß wir im Begriff waren, in eine neue Intrige verwickelt zu werden. Nachmittags empfing ich eine Delegation aus Kappadokien, die sich der Hilfe Friedlander Beis bei ihrem Bemühen versichern wollte, sich von Anatolien unabhängig zu erklären und eine Volksrepublik zu gründen. Die meisten Menschen dachten, Papa und Abu Adil machten ihr Vermögen im Drogenhandel, aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Es stimmte, daß so gut wie alle illegalen Geschäfte in der Stadt auf ihr Konto gingen, doch das geschah hauptsächlich, um ihre zahllosen Verwandten, Freunde und Geschäftspartner zu beschäftigen. Die wahre Quelle für Papas Reichtum lag darin, stets auf dem laufenden über die sich ständig ändernden Verhältnisse in diesem Teil der Welt zu sein. In einer Zeit, in der die durchschnittliche Lebenserwartung einer Regierung unter der pro Generation ihrer Bevölkerung gerechneten Zeitspanne lag, mußte jemand für Ordnung inmitten dieses politischen Chaos sorgen. Diese teure Dienstleistung boten Friedlander Bei und Scheich Reda an. Von einem Regime zum nächsten erinnerten sie sich, wo die Grenzen verliefen, wer die Steuerzahler waren und wo die Leichen begraben lagen – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinn. Wann immer eine Regierung der nächsten Platz machte, traten Papa oder Scheich Reda in Erscheinung, um den Übergang sanfter zu gestalten – und sich selbst bei jedem Wechsel ein größeres Stück aus dem Kuchen zu schnei-
den. Mich faszinierte das alles, und ich war froh, daß Papa mich auf diesem Gebiet eingesetzt hatte, statt mich weiter mit der Aufsicht über die zwar lukrativen, aber im Grunde langweiligen illegalen Geschäfte zu betrauen. Mein Urgroßvater unterrichtete mich mit unendlicher Geduld, und wies Tariq und Youssef an, mir jede gewünschte Hilfe zuteil werden zu lassen. Als ich zum erstenmal in Friedlander Beis Haus gekommen war, hatte ich sie einfach für Papas Kammerdiener und Butler gehalten. Aber inzwischen war mir klar geworden, daß sie mehr über die Vorgänge auf höchster Ebene in der islamischen Welt wußten als sonst jemand, außer natürlich Friedlander Bei selbst. Als sich die Kappadokier schließlich entschuldigen ließen, stellte ich fest, daß ich noch etwa eine gute Stunde Zeit hatte, bis Papa und ich im Palast des Emirs erwartet wurden. Kmuzu half mir, ein geeignetes Outfit auszuwählen. Es lag bereits länger zurück, daß ich meine alten Jeans, die Stiefel und das Hemd getragen hatte. Allmählich gewöhnte ich mich an die traditionelle arabische Tracht. Noch immer gab es Männer in der Stadt, die die Geschäftsanzüge europäisch-amerikanischen Stils bevorzugten, aber ich hatte mich darin nie wohlgefühlt. Ich war dazu übergegangen, in Papas Haus die Gallebeya zu tragen, weil ich wußte, daß ihm das lieber war. Außerdem konnte ich unter diesem losen Gewand leichter meine Schockpistole verbergen. Und die Keffiya, die arabische Kopfbedeckung, verdeckte meine Implantate, die manchen konservativen Muslimen ein Dorn im Auge waren. Als ich fertig angezogen war, trug ich also eine makellos weiße Gallebeya, wie sie einem Bräutigam Ehre machte, unter
einem königlich blauen, goldverzierten Umhang. Dazu trug ich bequeme Sandalen, um die Hüfte einen Zierdolch und eine einfache weiße, mit einem schwarzen Band, einem Akal, gebundene Keffiya. »Ihr seht sehr eindrucksvoll aus, yaa Sidi«, bemerkte Kmuzu. »Das hoffe ich«, antwortete ich. »Ich habe noch nie einen Fürsten getroffen.« »Ihr habt Euren Wert unter Beweis gestellt und Euer Ruf muß bereits an das Ohr des Emirs gedrungen sein. Ihr habt keinen Grund, ihm gegenüber schüchtern zu sein.« Kmuzu konnte das leicht sagen. Ich warf einen letzten Blick auf mein Spiegelbild und war nicht besonders beeindruckt von dem, was ich sah. »Marîd Audran, Verteidiger der Unterdrückten«, sagte ich mit sarkastischem Unterton. »Ja, du hast recht.« Dann gingen wir nach unten, um Friedlander Bei zu treffen. Tariq fuhr Papas Limousine, und wir kamen rechtzeitig am Palast des Emirs an. Wir wurden in den Ballsaal geführt und man bat mich, auf den Kissen am Ehrenplatz, rechts neben Scheich Mahali, Platz zu nehmen. Friedlander Bei und die anderen Gäste machten es sich bequem, und ich wurde einer Reihe von wohlhabenden und einflußreichen Männern der Stadt vorgestellt. »Bitte, erfrischen Sie sich«, forderte der Emir uns auf. Ein Diener reichte ein Tablett mit kleinen Tassen dicken, mit Kardamon gewürzten Kaffees und hohe Gläser mit gekühlten Fruchtsäften. Alkoholische Getränke wurden nicht gereicht, Scheich Mahali war ein tiefreligiöser Mann. »Möge Eure Tafel stets überquellen«, sagte ich. »Eure Gastfreundschaft ist berühmt in der Stadt, o Scheich.«
»Freuen wir uns und feiern wir!« erwiderte er, erfreut über mein Kompliment. Wir führten etwa eine halbe Stunde Konversation, bevor die Diener Platten mit Gemüse und gebratenem Fleisch hereinzubringen begannen. Mit der Essensmenge, die der Emir hatte vorbereiten lassen, hätte man locker eine fünfmal so große Gesellschaft abfüttern können. Mit einem eleganten, juwelenbesetzten Messer bot er mir die feinsten Leckerbissen an, aber trotz allem war mir der Fürst eigentlich sehr sympathisch. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und bot auch mir eine Tasse an. »Diese Stadt ist eine bunte Mischung«, erklärte er mir. »Hier gibt es so viele Gruppen und Grüppchen, daß mein Urteil ständig auf die Probe gestellt wird. Ich studiere die Methoden der großen muslimischen Herrscher der Vergangenheit. Gerade heute habe ich eine wunderbare Geschichte über Ibn Saud gelesen, der über ein vereinigtes Arabien regierte, das eine Zeitlang den Namen seiner Familie trug. Auch er mußte geschickt und klug die Probleme lösen. Eines Tages besuchte Ibn Saud das Lager eines Nomadenstammes. Ein kreischendes Weib rannte auf ihn zu und umklammerte seine Beine. Sie bat ihn, den Mörder ihres Mannes zum Tode zu verurteilen. ›Wie wurde dein Mann getötet?‹ fragte der König. Die Frau antwortete: ›Der Mörder kletterte auf eine hohe Dattelpalme um die Früchte zu pflücken. Mein Mann saß friedlich im Schatten der Palme. Der Mörder verlor den Halt und fiel auf ihn. Dabei brach er meinem Mann das Genick. Jetzt ist er tot, ich bin eine arme Witwe und meine Kinder sind Waisen, für die ich nicht ausreichend sorgen kann!‹
Ibn Saud strich sich gedankenverloren über das Kinn. ›Glaubst du, der Mann fiel absichtlich auf deinen Gemahl?‹ fragte er. ›Was macht das für einen Unterschied? Mein Mann ist so oder so tot!‹ ›Nun, bist du mit einer ehrlichen Entschädigung zufrieden oder verlangst du wirklich den Tod dieses Mannes?‹ ›Nach dem Rechten Weg steht mir das Leben des Mörders zu.‹ Ibn Saud zuckte die Achseln. Bei einer so halsstarrigen Frau waren ihm die Hände gebunden, doch er sagte zu ihr: ›Dann wird er sterben. Und er muß auf dieselbe Weise sterben, wie er deinem Gemahl das Leben nahm. Ich befehle, daß dieser Mann fest an den Stamm der Dattelpalme gebunden wird. Du mußt zwölf Meter hoch auf die Spitze der Palme klettern und von dort sollst du auf den Nacken des Mannes herunterfallen und ihn töten.‹ Der König hielt inne, um einen Blick auf die Familie und die Nachbarn der Frau zu werfen, die sich um sie versammelt hatten. ›Oder willst du nicht doch die Entschädigung annehmen?‹ Die Frau zögerte einen Augenblick lang, nahm das Geld an und ging von dannen.« Ich lachte laut, und die anderen Gäste klatschten dieser Anekdote Scheich Mahalis Beifall. Es hatte nicht lange gedauert, und ich hatte vollständig vergessen, daß er der Emir der Stadt war, und ich, na ja, der war, der ich nun mal bin. Der amüsante Teil des Abends war mit dem großen Auftritt von Reda Abu Adil zu Ende. Seine Ankunft war nicht zu überhören, er begrüßte die anderen Gäste, als sei er der Gastgeber
und nicht der Emir. Gekleidet war er im großen und ganzen wie ich, einschließlich der Keffiya, unter der er, wie ich wußte, seine corymbische Implantation verbarg. Im Schlepptau hatte er einen jungen Mann, wahrscheinlich seinen neuen Verwaltungsassistenten und Liebhaber. Der junge Mann hatte kurzgeschnittenes, blondes Haar und eine Drahtgestellbrille. Seine Lippen waren blutleer. Über einem knöchellangen weißen Baumwollhemd trug er ein teures, maßgeschneidertes Sportsakko und an den Füßen blaue Filzpantoffeln. Er sah sich in dem Saal um und strafte alle mit Verachtung. Abu Adils Gesichtsausdruck spiegelte Freude wider, als er Friedlander Bei und mich sah. »Meine alten Freunde!« rief er, durchquerte den Ballsaal und zog Papa hoch. Sie umarmten sich, doch Papa sagte kein Wort. Dann wandte sich Scheich Reda mir zu. »Und da ist der glückliche Bräutigam!« Ich stand nicht auf, was eine grobe Beleidigung war. Aber Abu Adil tat, als habe er es nicht bemerkt. »Ich habe ein wundervolles Geschenk für Sie!« sagte er und vergewisserte sich mit einem Blick, ob ihm die allgemeine Aufmerksamkeit galt. »Kenneth, gib dem jungen Mann sein Geschenk.« Der blonde Bursche taxierte mich kurz. Dann faßte er in die Innentasche seiner Jacke und nahm einen Umschlag heraus. Er hielt ihn mir mit zwei Fingern entgegen, machte aber keine Anstalten, so weit auf mich zuzugehen, daß ich den Umschlag nehmen konnte. Anscheinend dachte er, das hier sei eine Art Wettbewerb. Mir selbst war das völlig egal. Ich trat auf ihn zu und packte den Umschlag. Sein Mund zuckte leicht und er hob die Augenbrauen, als ob er sagen wollte: »Die Hackordnung klären wir
später.« Am liebsten hätte ich dem Idioten den Umschlag ins Gesicht geschmissen. Ich entsann mich, wer ich war und wo ich mich befand. Also riß ich den Umschlag auf und nahm ein gefaltetes Blatt Papier heraus. Ich las, was mir Abu Adil geschenkt hatte, aber ich verstand es nicht. Ich las es ein zweites Mal und der Sinn wurde mir nicht klarer. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, erklärte ich. Scheich Reda lachte. »Ich wußte, ich würde Ihnen damit eine Freude machen!« Dann drehte er sich langsam um, damit die anderen ihn gut verstehen konnten. »Ich habe meinen Einfluß bei den Jaish geltend gemacht, um ein Offizierspatent für Marîd Audran zu erhalten. Nun ist er ein Offizier in der Bürgerwehr!« Die Jaish waren diese grauuniformierten, inoffiziellen Rechtsaußen, mit denen ich früher schon zusammengeraten war. Sie liebten es, in ihren grauen Uniformen durch die Straßen zu marschieren. Ursprünglich war es ihre selbstgewählte Aufgabe gewesen, die Stadt von den Ausländern zu befreien. Als mit der Zeit immer mehr Geld für diese paramilitärische Gruppierung von Leuten wie Reda Abu Adil kam – der selbst in jungen Jahren als Fremder in die Stadt gekommen war –, änderte sich die Zielsetzung der Jaish. Jetzt schien es ihre Aufgabe zu sein, die Feinde Abu Adils zu verfolgen, egal ob Ausländer oder Einheimische. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, wiederholte ich. Es erschien mir ziemlich bizarr von Scheich Reda, so etwas zu machen. Und um nichts in der Welt konnte ich mir vorstellen, welches Motiv dahinterstecken konnte. Doch so wie ich ihn kannte, würde sich bald genug alles auf schmerzliche Weise
klären. »Unsere vergangenen Meinungsverschiedenheiten sind alle beigelegt«, erklärte Abu Adil fröhlich. »Von nun an sind wir Freunde und Verbündete. Wir müssen zusammenarbeiten, um den armen Fellahîn, die von uns abhängig sind, ein besseres Leben zu ermöglichen.« Den Versammelten Gästen gefiel dieser Gedanke, und sie klatschten Beifall. Ich warf Friedlander Bei einen Blick zu, doch der zuckte nur die Achseln. Es war uns beiden klar, daß Abu Adil eine neue Intrige eingefädelt hatte, die sich nun vor unseren Augen zu entfalten begann. »Dann möchte ich einen Toast auf den Bräutigam ausbringen«, sagte Scheich Mahali und erhob sich, »und auf das Ende des Konfliktes zwischen Friedlander Bei und Reda Abu Adil. Ich bin in meinem Volk bekannt als ein ehrlicher Mann und versuche, diese Stadt weise und gerecht zu regieren. Der Friede zwischen Euren Häusern wird diese Aufgabe einfacher gestalten.« Er hob seine Tasse Kaffee und seine Gäste standen auf und taten es ihm nach. Es muß allen als hoffnungsvoller Augenblick der Versöhnung erschienen sein – allen bis auf Papa und mich. Ich fühlte nur, wie sich in meinem Bauch ein Knoten des Grauens bildete und immer größer wurde. Der Rest des Abends verlief einigermaßen angenehm, nehme ich an. Nach einiger Zeit war ich ziemlich satt von all dem Essen und dem Kaffee und hatte genug Konversation mit mir unbekannten reichen Menschen geführt, die noch auf Tage hinaus vorhalten würde. Abu Adil bemühte sich nicht mehr, noch einmal unsere Wege zu kreuzen. Doch sein blonder Freund, Kenneth, fiel mir ein paarmal auf. Er blickte ständig zu
mir herüber und schüttelte dabei den Kopf. Ich litt noch etwas herum auf der Party, bevor mich die Langeweile nach draußen trieb. Die sorgfältig angelegten, weitläufigen Gärten Scheich Mahalis gefielen mir, und ich genoß es, tief Luft zu holen in dieser mit Blumenduft geschwängerten Atmosphäre und dabei an einem eisgekühltem Glas Sharâb zu nippen. Drinnen in der offiziellen Residenz des Emirs war die Party noch immer voll im Gange, aber ich hatte genug von den anderen Gästen, die sich für mich in zwei Kategorien einteilen ließen: Männer, die ich nie zuvor getroffen und mit denen ich nichts gemein hatte, und Männer, die ich kannte und denen ich aus dem Weg zu gehen gedachte. Bei dieser Festivität waren keine weiblichen Gäste geladen. Obwohl man also offiziell eingeladen hatte, um meine Eheschließung zu feiern, war meine Ehefrau Indihar nicht anwesend. Ich war mit Kmuzu, Friedlander Bei, seinem Fahrer, Tariq, und seinen zwei riesigen Leibwächtern, Habib und Labib, gekommen. Tariq, Kmuzu und die Sprechenden Felsen nahmen ihre Erfrischungen mit den anderen Dienern in einem separaten Gebäude ein, in dem auch die Garagen und Stallungen des Emirs untergebracht waren. »Wenn du nach Hause zu fahren wünschst, mein Neffe«, sagte Friedlander Bei, »können wir uns von unserem Gastgeber verabschieden.« Papa nannte mich immer ›Neffe‹, obwohl er schon vor unserem ersten Treffen unsere wahre Verwandtschaftsbeziehung gekannt haben mußte. »Ich habe genug von diesem Vergnügen gehabt, o Scheich«, antwortete ich. Die letzten fünfzehn Minuten hatte ich sogar damit verbracht, einen Meteorschauer am wolkenlosen Himmel
zu beobachten. »Wie dem auch sei. Mich hat das ermüdet. Reich mir deinen Arm.« »Sicher, o Scheich.« Er war immer ein Bulle von einem Mann gewesen, aber jetzt war er alt, er näherte sich seinem zweihundertsten Geburtstag. Und erst vor wenigen Monaten hatte jemand versucht, ihn zu ermorden. Die Neurochirurgen mußten sich ganz schön reinhängen, um den Schaden zu beheben. Davon hatte er sich noch nicht ganz erholt, er war noch immer schwach und wackelig auf den Beinen. Zusammen gingen wir durch die wunderschönen architektonischen Gärten und die Arkade zurück in den in sanftes Licht getauchten Festsaal. Als der Emir uns erblickte, stand er auf und streckte die Arme aus, um Friedlander Bei zu umarmen. »Ihr habt meinem Haus eine große Ehre erwiesen, o Erhabener!« sagte er. Ich hielt mich abseits und überließ es Papa, sich um die Höflichkeitsrituale zu kümmern. Ich hatte das Gefühl, daß es bei diesem Empfang um eine Art Treffen zwischen diesen beiden mächtigen Männern gegangen war und daß meine Hochzeit völlig irrelevant gewesen war für die ausgeklügelten Verhandlungen, die sie hier geführt hatten. Was immer dabei auch dahinter steckte. »Möge Eure Tafel stets überquellen, o Fürst«, sagte Papa. »Ich danke Euch, o Weiser«, erwiderte Scheich Mahali. »Verlaßt Ihr uns bereits?« »Mitternacht ist vorüber und ich bin ein alter Mann. Wenn ich gegangen bin, könnt Ihr jungen Männer Euch wieder ungestört dem Vergnügen hingeben.«
Der Emir lachte. »Seid unserer Liebe versichert, o Scheich.« Er beugte sich vor und küßte Friedlander Bei auf beide Wangen. »Gehet hin in Sicherheit.« »Möge Allah Euch ein langes Leben schenken«, antwortete Papa. Scheich Mahali wandte sich mir zu. »Kif u basat!« sagte er, was soviel bedeutet wie: »Kopf hoch, genießt das Leben!« und die Lebenseinstellung der Stadt recht gut auf den Punkt bringt. »Wir danken Euch für Eure Gastfreundschaft«, entgegnete ich, »und für die Ehre, die Ihr uns erwiesen habt.« Der Emir schien zufrieden mit mir. »Möge Allahs Segen auf Euch ruhen, junger Mann«, erklärte er. »Der Friede sei mit Euch, o Fürst.« Wir machten ein paar Schritte rückwärts, bevor wir uns umdrehten und in die Nacht hinausgingen. Vom Emir und vielen anderen Gästen hatte ich einen wahren Berg Geschenke bekommen. Sie waren noch im Festsaal ausgestellt und sollten tags darauf in Friedlander Beis Haus geliefert werden. Als Papa und ich in die warme Nacht hinaustraten, fühlte ich mich rundum satt und zufrieden. Wir gingen wieder durch die Gärten, und ich bewunderte die gepflegten blühenden Bäume und ihre schimmernden Spiegelbilder im Teich. Über das Wasser klang schwach Gelächter herüber, das Plätschern der Brunnen war zu hören, sonst aber war die Nacht still. Papas Limousine war in Scheich Mahalis Garage abgestellt. Wir wollten gerade den dazugehörigen grasbewachsenen Hof überqueren, als plötzlich die Scheinwerfer der Limousine aufblendeten. Der Oldtimer – eines der wenigen Autos mit Verbrennungsmotor, die es in der Stadt noch gab – rollte lang-
sam auf uns zu. Langsam glitt das Fahrerfenster nach unten und verblüfft stellte ich fest, daß nicht Tariq am Steuer saß, sondern Hajjar, der schurkische Polizeikommissar, der die Angelegenheiten des Budayin unter sich hatte. »Steigen Sie ein«, sagte er, »beide!« Ich sah Friedlander Bei an, der nur mit den Achseln zuckte. Wir stiegen in den Wagen. Hajjar dachte wohl, er hätte alles unter Kontrolle, aber Papa schien nicht im geringsten beunruhigt zu sein, obwohl uns gegenüber auf dem Notsitz ein riesiger Kerl mit einer Nadelpistole saß. »Was, zum Teufel, soll das, Hajjar?« fragte ich. »Ich verhafte Sie beide«, sagte der Bulle. Er drückte auf einen Knopf, und die Glasscheibe vor dem Rücksitz ging hoch und trennte uns von ihm. Papa und ich waren allein mit Hajjars Schlägertyp. Und der schien kein Interesse zu haben, sich mit uns zu unterhalten. »Einfach ruhig bleiben«, sagte Papa. »Dahinter steckt Abu Adil, nicht wahr?« sagte ich. »Möglicherweise.« Er zuckte die Achseln. »Alles wird sich klären nach Allahs Willen.« Es half nichts, ich machte mir Sorgen. Ich hasse es, hilflos zu sein. Ich sah zu, wie Friedlander Bei ein Gefangener in seiner eigenen Limousine war, in den Händen eines Bullen, der sein Geld und das von seinem Hauptrivalen, Reda Abu Adil, genommen hatte. Ein paar Minuten lang krampfte sich mein Magen zusammen, und mir schossen ein paar schlaue und heldenhafte Ideen für den Augenblick durch den Kopf, in dem Hajjar uns wieder aus dem Wagen ließ. Während wir durch die engen, krummen Seitengassen der Stadt fuhren, suchte ich nach
Anhaltspunkten, was als nächstes passieren würde. Es dauerte nicht lange und die Bauchschmerzen wuchsen sich zu einer richtiggehenden Kolik aus. Ich wünschte mir, ich hätte mein Pillendöschen bei mir. Papa hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß es ein ernsthafter Verstoß gegen die Etikette sei, meinen Geheimvorrat an Pharmazeutika mit in den Palast des Emirs zu nehmen. Das hatte ich davon, daß ich mich in einen so respektablen Burschen verwandelt hatte. Ich wurde gekidnappt und mußte sämtliche körperlichen Unannehmlichkeiten aushalten, die des Weges kamen. In meiner Gallebeya-Tasche hatte ich eine kleine Auswahl Daddys. Einer davon blockte ausgezeichnet Schmerzen ab, aber ich wollte nicht unbedingt herausfinden, wie der Schlägertyp reagieren würde, wenn ich in die Tasche griffe. Hätte man mir gesagt, daß bald alles noch sehr viel schlimmer kommen würde, bevor sich die Lage zu bessern begänne, hätte das nicht zur Hebung meiner Stimmung beigetragen. Nachdem wir nach meinem Gefühl etwa eine Stunde gefahren waren, hielt die Limousine an. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden. »Was läuft hier ab?« wandte ich mich an Hajjars Schlägertyp. »Halts Maul!« erklärte er mir. Hajjar stieg aus und öffnete Papa die Tür. Ich kletterte nach ihm aus dem Wagen. Wir standen neben ein paar Wellblechgebäuden, vor uns auf einer breiten Betonpiste befand sich ein privater Stratosphärenclipper mit blinkenden Positionslichtern. Allerdings waren die drei riesigen Triebwerke nicht in Betrieb. Wenn das hier der Großflughafen war, befanden wir uns etwa zwanzig Kilometer nördlich der Stadt. Hier war ich noch nie
gewesen. Ich begann mir Sorgen zu machen, aber Papa wirkte noch immer ruhig. Hajjar zog mich beiseite. »Haben Sie Ihr Telephon dabei, Audran?« fragte er. »Ja«, antwortete ich. Ich trage es immer am Gürtel. »Kann ich es kurz benutzen?« Ich nahm es ab und reichte es Hajjar. Er grinste, ließ das Telephon auf den Boden fallen und stieg darauf. »Danke«, sagte er. »Was ist hier los?« brüllte ich und packte ihn am Arm. Hajjar sah mich nur amüsiert an. Dann packte mich sein Schläger und zog mir die Arme nach hinten. »Wir gehen an Bord des Shuttle«, erklärte er, »dort treffen wir einen Qadi, der Ihnen etwas zu sagen hat.« Man brachte uns an Bord des Clippers und hieß uns in der leeren Vorderkabine Platz nehmen. Hajjar setzte sich neben mich und der Schläger setzte sich neben Friedlander Bei. »Wir haben ein Recht zu erfahren, wo Sie uns hinbringen«, sagte ich. Um seine Gleichgültigkeit zur Schau zu stellen, musterte Hajjar seine Fingernägel. »Ehrlich gesagt, weiß ich selbst nicht, wo Sie hingebracht werden. Vielleicht erfahren Sie das vom Qadi, wenn er Ihnen das Urteil mitteilt.« »Das Urteil?« schrie ich. »Welches Urteil?« »Oh«, grinste Hajjar gemein, »ist Ihnen das noch nicht klargeworden? Gegen Sie und Papa läuft ein Verfahren. Der Qadi wird Sie für schuldig befinden, während Sie deportiert werden. Auf diese Weise spart die Justiz eine Menge Zeit und Geld. Ich hätte Sie die Erde küssen lassen sollen, Audran, denn Sie werden die Stadt nie wiedersehen!«
2. Kapitel
Honey Pílar ist die begehrenswerteste Frau der Welt. Das kann Ihnen jeder bestätigen. Fragen Sie den alten, verhutzelten Imam der Shimaal-Moschee, und er wird Ihnen antworten: »Honey Pílar, da besteht kein Zweifel.« Sie hat langes, helles Haar, klare grüne Augen und den bewunderungswürdigsten Körper, den die Anthropologie kennt. Sie lebt davon, Persönlichkeitsmodule von sich beim Liebesspiel aufzuzeichnen. Es gibt noch Brigitte Stahlhelm und andere Stars in der Sexmoddy-Industrie, aber keiner von ihnen erreicht auch nur annähernd die Superlichtgeschwindigkeitserotik von Honey Pílar. Ein paarmal hatte ich, der Abwechslung wegen, Yasmin gesagt, daß ich eines von Honeys Moddys tragen möchte. Worauf Yasmin lächelte und die aktive Rolle übernahm, während ich mich treiben ließ und die Empfindungen einer hungrigen, wilden und höchst empfänglichen und aufgeschlossenen Frau erlebte. Zumindest eines mußte man der Moddy-Industrie zugute halten: sie hatte einer Menge Menschen ein gewisses Verständnis dafür ermöglicht, was die acht verschiedenen Geschlechter zum Ticken brachte. Wenn wir mit dem Bumsen fertig waren, ließ ich Honeys Moddy noch eine Weile stecken. Ihr Nachglühen war genauso phänomenal wie ihre Orgasmen. Ohne das Moddy hätte ich mich möglicherweise einfach umgedreht und wäre eingeschlafen. Doch so kuschelte ich mich an Yasmin, schloß die Augen und gab mich dem körperlichen und seelischen Wohlbehagen
hin. Damit läßt sich nur ein netter Schuß Morphium vergleichen. Damit meine ich das typische Morphiumgefühl, nachdem man gekotzt hat. Genauso fühlte ich mich, als ich die Augen öffnete. Da ich mich an keinen Überschall-Sex erinnern konnte, nahm ich an, mit ein oder zwei Pharmazeutika der freundlicheren Art in Kontakt gekommen zu sein. Meine Augenlider schienen zusammenzukleben und bei dem Versuch, mir den Bapp aus den Augen zu reiben, versagten mir die Arme den Dienst. Sie fühlten sich an wie Armattrappen aus Styropor oder sowas, und ich wollte mich einfach in dem Sand umdrehen. Okay, dachte ich, ich werde mich in ein, zwei Minuten darum kümmern. Ich hörte auf, mir den Kopf über meine verklebten Augen zu zermartern und gab mich wieder dieser herrlichen Lethargie hin. Irgendwann mal wollte ich den Typen kennenlernen, der die Lethargie erfunden hat. In diesem Moment nämlich war ich der Ansicht, die Welt zolle ihm zuwenig Anerkennung. Genauso wollte ich den Rest meines Lebens verbringen. Und solange niemand auftauchte und mir erklärte, warum das nicht ginge, wollte ich hier im Dunklen liegen bleiben und mit meinem schlaffen Arm spielen. Hier lag ich auf dem Rücken am Boden, und mein Verstand schwebte irgendwo da oben im Himmel. Die Trennlinie schien direkt durch meinen Körper zu verlaufen, genau da, wo es so schrecklich weh tat. Unter dem Opiatschleier fühlte ich den gräßlichen, pochenden Schmerz. Sobald ich erkannte, welche Qualen mich erwarteten, wenn die Wirkung der Drogen nachließ, packte mich die Angst. Glücklicherweise konnte ich mich nur ein paar Sekunden lang darauf konzentrieren, bevor ich
wieder vor mich hin grinste und mit mir selbst sprach. Wahrscheinlich schlief ich ein. Allerdings kann man in diesem Stadium den Unterschied zwischen bewußter Wahrnehmung und Traum schwer unterscheiden. Ich erinnere mich daran, wie ich mich erneut bemühte, die Augen zu öffnen. Dieses Mal schaffte ich es, die Hand zum Kinn zu bewegen und mit den Fingern über die Lippen und die Nase zu den Augenlidern zu streichen. Ich wischte mir die Augen aus, aber das strengte mich bereits so an, daß ich die Hand dort liegen lassen mußte. Eine Minute oder zwei ruhte ich mich aus, mit den Fingern über den Augen, so daß ich nichts sehen konnte. Schließlich versuchte ich zu erfassen, wo ich mich befand. Ich konnte nicht viel sehen. Es war noch immer zu anstrengend, den Kopf zu heben. Daher konnte ich nur erkennen, was sich direkt vor mir befand. Und das war ein helles, spitzes, ein, zwei Meter hohes Dreieck, das bis zum Boden reichte. Alles andere war schwarz. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich jemals von einem hellen Dreieck bedroht worden war. Langsam dämmerte mir: nein. Gut, dachte ich, dann brauche ich mich darum nicht zu kümmern. Ich schlief wieder ein. Als ich wieder aufwachte, hatte sich einiges verändert. Doch nicht zum Positiven. Ich fühlte mich zerschlagen, in meinem Kopf pochte es schrecklich, meine Kehle fühlte sich an, als wäre ein Männchen mit Schutzbrille und Sandstrahler darin herumgekrabbelt. Im Brustkorb hatte ich Schmerzen, als hätte ich hundert Pfund Dreck eingeatmet und wieder herausgehustet. Bei der geringsten Bewegung durchzuckte ein schriller Schmerz sämtliche Gelenke. Besonders die Arme und Beine taten höllisch weh. Weshalb ich beschloß, sie nie wieder zu bewegen.
Die Schmerzinventur beschäftigte mich für ein paar Minuten, aber als ich an das Ende der Liste gelangte – als mir klar wurde, daß der Großteil meiner Hautoberfläche vor Schmerz glühte, was bewies, daß mir irgendein Verrückter bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen haben mußte, bevor er mir jeden Knochen einzeln brach –, hatte ich nur ein paar Möglichkeiten zur Auswahl: Ich konnte hier liegen bleiben und mich meinem Leiden hingeben, ich konnte die Inventur wiederholen, um zu überprüfen, ob ich etwas übersehen hatte, oder ich konnte mich anschicken, etwas zur Verbesserung meiner Situation zu unternehmen. Ich entschied mich für die dritte Möglichkeit. Ich beschloß, mein Pillenschächtelchen herauszuholen, auch wenn mir das wahrscheinlich eine Menge weiteren Kummer bereiten würde. Mir fiel ein, was die Ärzte in solchen Augenblicken zu sagen pflegten: »Gleich piekst es vielleicht etwas.« Uhuh. Vorsichtig zog ich die Hand vom Bauch herunter, bis sie flach neben mir lag. Anschließend schickte ich die Finger in einer wurmartigen Bewegung die Gallebeya entlang zur Tasche, wo ich meine Drogen aufbewahrte. Drei Dinge wurden mir blitzschnell klar. Erstens hatte ich nicht meine Gallebeya an, statt dessen trug ich – zweitens – ein langes, schmutziges Hemd ohne Taschen, und drittens war darin kein Pillenschächtelchen. Ich stand schon Wahnsinnigen gegenüber, die besessen davon waren, mich auf der Stelle ins Jenseits zu befördern. Selbst in diesen verzweifelten Stunden hatte ich nicht diese blanke, kalte Leere wie jetzt verspürt. Also riskiere ich lieber mein Leben, als daß ich Schmerzen ertrage. Ich würde gerne wissen, was das über mich aussagt. Wahrscheinlich heißt es, daß ich im
tiefsten Innern nicht besonders tapfer bin. Ich werde wohl durch die Angst davor angetrieben, die anderen könnten die Wahrheit über mich herausfinden. Fast hätte ich geweint, als ich mein Pillendöschen nicht fand. Ich hatte damit gerechnet, daß es da ist und daß die Sonneintabletten darin diese schrecklichen Schmerzen vertreiben würden, zumindest eine Zeitlang. Meine Lippen waren ebenso verkrustet, wie es die Augen gewesen waren. Es kostete mich sogar etwas Anstrengung, den Mund zu öffnen. Und dann war ich zu heiser und zu ausgetrocknet, um sprechen zu können. Nach einigen Versuchen gelang es mir schließlich, »Hilfe« zu krächzen. Dieses Wort auszusprechen reichte aus, mir das Gefühl zu geben, jemand hätte mir den Hals mit einem stumpfen Messer aufgerissen. Ich bezweifelte, daß mich jemand hatte hören können. Ich habe keine Ahnung, wieviel Zeit verstrich. Mir wurde bewußt, daß ich unter anderem auch Hunger und Durst litt. Je länger ich so da lag, um so mehr quälte mich der Gedanke, mich in Schwierigkeiten gebracht zu haben, die ich nicht überleben würde. Ich hatte noch nicht darüber nachzugrübeln begonnen, wo ich war oder wie ich hierher gekommen war. Nach einer Weile stellte ich fest, daß das helle Dreieck dunkler wurde. Manchmal schien es verdeckt zu sein, als ob jemand davor vorbeiginge. Schließlich verschwand das Dreieck beinahe ganz. Erst da merkte ich, daß es mir fehlte. Es gab in meiner Welt nichts außer mir und diesem Dreieck, auch wenn ich nicht wirklich wußte, was es war. Ein gelber Lichtfleck tauchte in der Düsternis auf, wo sich zuvor das helle Dreieck befunden hatte. Ich blinzelte ein paar-
mal, um besser sehen zu können. Das gelbe Licht schien von einem Öllämpchen zu kommen, die eine kleine, vollständig in Schwarz gehüllte Gestalt in der Hand hielt. Die schwarz gekleidete Gestalt kam durch das Dreieck auf mich zu, das anscheinend eine Öffnung war, die in ein Zelt führte. In ein ziemlich stinkendes Zelt, wie ich merkte. Mein Besucher hielt die Lampe hoch, damit das Licht auf mein Gesicht fallen konnte. »Yaa Allah!« sagte sie leise, als sie erkannte, daß ich bei Bewußtsein war. Mit der anderen Hand zog sie sich schnell das Kopftuch vor das Gesicht. Ich hatte sie nur kurz gesehen, aber ich hatte erkannt, daß sie ein ernstes, hübsches, jedoch sehr schmutziges Mädchen war, wahrscheinlich noch keine zwanzig. Ich holte so tief Luft, wie es mir die Schmerzen im Brustkorb und in der Lunge erlaubten, und krächzte nochmal: »Hilfe.« Sie blieb stehen und sah auf mich herunter. Nach einigen Augenblicken kniete sie sich nieder, stellte die Lampe auf den Sandboden, so daß ich sie nicht erreichen konnte, stand wieder auf und lief aus dem Zelt. Manchmal wirke ich so auf Frauen. Nun begann ich über meine Lage nachzugrübeln. Wo befand ich mich? Und wie war ich hierher gekommen? Befand ich mich in der Hand von Freunden oder von Feinden? Offensichtlich war ich bei Wüstennomaden, aber in welcher Wüste? In der geographischen Weite der islamischen Welt gibt es eine ganze Reihe von Wüsten. Ich konnte überall sein – in der Westecke der Sahara in Marokko oder am Rande der Wüste Gobi in der Mongolei. Vielleicht befand ich mich auch nur ein paar Kilometer südlich von der Stadt, was das anging. Während ich diese Gedanken noch in meinem Kopf herum-
wälzte, kehrte das dunkel vermummte Mädchen zurück und stellte mir Fragen. Daß es Fragen sein mußten, erkannte ich an der Betonung. Das Problem war nur, daß ich höchstens eins von zehn Worten verstand. Sie sprach einen harten arabischen Dialekt, aber was mich anging, hätte sie genauso gut japanisch brabbeln können. Ich schüttelte den Kopf, einmal leicht nach links und nach rechts. »Es tut weh«, krächzte ich mit meiner kaputten Stimme. Sie schaute mich nur an. Es sah nicht so aus, als hätte sie mich verstanden. Noch immer hielt sie ihr Kopftuch verschämt vor das Gericht, so daß es gerade bis zur Nase reichte. Doch ihr Gesichtsausdruck kam mir – soviel ich sehen konnte – gutherzig und besorgt vor. Zumindest entschloß ich mich, dies für einen Moment glauben zu wollen. Sie versuchte wieder, mit mir zu sprechen, aber ich konnte nicht verstehen, was sie sagte. Ich brachte ein »Wer sind Sie?« hervor, worauf sie nickte und »Nura« sagte. Auf arabisch bedeutet das ›Licht‹, aber das schien auch ihr Name zu sein. Von dem Augenblick an, in dem sie mit ihrer Lampe in das Zelt gekommen war, war sie auch das einzige Licht in meiner Dunkelheit gewesen. Die Zeltklappe wurde beiseite geschlagen und eine weitere Gestalt kam herein mit einer Ledertasche und ebenfalls einer Lampe in der Hand. Das hier war kein großes Zelt, es hatte vielleicht vier Meter Durchmesser und war etwa zwei Meter hoch. Nura rückte nach hinten an die dunkle Wand und der Mann hockte sich neben mich und musterte mich kurz. Er hatte ein strenges, hageres Gesicht, das von einer großen Hakennase dominiert wurde. Die Haut war von Linien durchzogen und
von Wind und Wetter gegerbt. Das machte es mir schwer, sein Alter zu schätzen. Er trug ein langes Hemd und auf dem Kopf eine Keffiya, die allerdings nicht von einem schwarzen Band, einem Akal, zusammengehalten wurde, sondern bei der einfach die losen Enden irgendwie festgestopft worden waren. Die tanzenden Schatten ließen ihn wie einen blutrünstigen Wilden aussehen. Die Situation wendete sich nicht gerade zum Guten, als er mir ein paar Frage in demselben Dialekt stellte, den Nura gesprochen hatte. Ich glaube, in einer davon ging es darum, wo ich denn herkomme. Ich konnte ihm nur von der Stadt erzählen. Vielleicht wollte er mit der nächsten Frage wissen, wo die Stadt war, aber er kann auch etwas ganz anderes gefragt haben. »Es tut weh«, krächzte ich. Er nickte und öffnete seine Ledertasche. Ich war überrascht, als er daraus eine altmodische Wegwerfspritze und eine Phiole mit einer Flüssigkeit drin hervorholte. Er zog die Spritze auf und stieß sie mir in die Hüfte. Der Schmerz nahm mir den Atem, und er tätschelte mir die Hand. Er murmelte ein paar Worte, und obwohl ich seinen Dialekt nicht verstand, war mir klar, daß es ›Ruhig, ruhig‹ bedeutete. Er stand auf und musterte mich eine Weile nachdenklich. Dann gab er Nura ein Zeichen, und sie ließen mich allein. Nach ein paar Minuten begann die Injektion zu wirken. Meine Erfahrung in diesen Angelegenheiten sagte mir, daß es sich um eine ordentliche Dosis Sonnein handelte. Injiziert wirkte es wesentlich stärker als in Tablettenform, wie ich es mir normalerweise im Budayin besorgte. Ich war zutiefst dankbar und zu Tränen gerührt. Wäre dieser von Wind und Wetter gegerbte Mann in
diesem Augenblick ins Zelt zurückgekommen, ich hätte ihm jeden Wunsch erfüllt. Ich gab mich der allmächtigen Droge hin und ließ mich treiben. Wobei mir die ganze Zeit über klar war, daß die Schmerzlinderung bald nachlassen würde. Die trügerischen Momente des Wohlbefindens versuchte ich zum Nachdenken zu nutzen. Ich wußte, irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht und sobald es mir besser ginge, würde ich das in Ordnung bringen müssen. Das Sonnein erlaubte mir die Illusion, nichts überschreite meine Möglichkeiten. Mein drogenverwirrtes Hirn gaukelte mir vor, ich befände mich in einem Zustand der Gnade. Alles wäre bestens. Ich hätte meinen Frieden gemacht mit mir, der Welt und allen Menschen darin. Ich hatte das Gefühl, über ein immenses Reservoir an körperlicher und geistiger Kraft zu verfügen. Natürlich gab es Probleme, aber die ließen sich mühelos lösen. Die Zukunft stellte sich als eine Aneinanderreihung von Siegen dar: der Himmel auf Erden. Während ich mir selbst ob meiner herrlichen Zukunftsaussichten auf die Schulter klopfte, kam der Mann mit der Hakennase zurück, diesmal ohne Nura. Er nahm neben mir Platz, wozu er in die Hocke ging, etwas, das ich noch nie lange ausgehalten hatte. Ich war eben schon immer ein Stadtjunge gewesen. Dieses Mal konnte ich ihn einwandfrei verstehen. »Wer seid Ihr, o Scheich?« fragte er. »Ma …«, hub ich an. Es schnürte mir die Kehle zusammen. Ich deutete auf meinen Mund. Er verstand mich und reichte mir einen mit brackigem Wasser gefüllten Ziegenlederbeutel.
Der Beutel stank wie tausend Ziegen und das Wasser übertraf alles, was mir an ekelhaftem Gesöff je begegnet war. »Bismillah«, murmelte ich: im Namen Gottes. Dann trank ich gierig das widerwärtige Zeug, bis er mich am Arm berührte, damit ich innehielt. »Marîd«, beantwortete ich seine Frage. Er nahm den Wasserbeutel wieder an sich. »Ich heiße Hassanein. Ihr habt einen roten Bart. Ich habe noch nie zuvor einen roten Bart gesehen.« »Normal«, flüsterte ich, »in Mauretanien.« Nachdem ich etwas Wasser getrunken hatte, fiel es mir etwas leichter zu sprechen. »Mauretanien?« Er schüttelte den Kopf. »War mal Algerien. Im Maghreb.« Wieder schüttelte er den Kopf. Ich fragte mich, wo ich wohl hingeraten war, daß ich einen Araber traf, der noch nie vom Maghreb gehört hatte, wie man die mohammedanischen Gebiete im Westen Nordafrikas nannte. »Welcher Rasse gehört Ihr an?« fragte Hassanein. Ich sah ihn überrascht an. »Araber«, antwortete ich. »Nein«, erklärte er bestimmt, aber ohne bösartigen Unterton. »Ich bin ein Araber. Ihr seid etwas anderes.« Er interessierte sich wirklich für mich. Es war nicht ganz korrekt, daß ich mich als Araber bezeichnet hatte, weil ich halb Berber und halb Franzose bin. Zumindest hatte meine Mutter das immer erzählt. In meiner Wahlheimat, der Stadt, war jeder ein Araber, der in der mohammedanischen Welt geboren war und arabisch sprach. Hier, in Hassaneins Zelt, kam man mit dieser lockeren Definition nicht
durch. »Ich bin Berber«, erklärte ich ihm. »Ich kenne keine Berber. Wir sind Beni Salim.« »Badawi?« fragte ich. »Bedu«, korrigierte er mich. Es stellte sich heraus, daß Badawi oder Beduinen, die Bezeichnung, die ich immer für die arabischen Nomaden verwendet hatte, eine unelegante Pluralform eines Plurals war. Die Nomaden nannten sich selbst Bedu, was von dem Wort für Wüste abgeleitet ist. »Sie behandelten mich?« fragte ich. Hassanein nickte. Er streckte die Hand aus. Im flackernden Licht der Lampe konnte ich den Sand sehen, der zwischen den Haaren auf seinen Armen lag wie der Zucker auf einem Zitronenkuchen. Er berührte sanft meine corymbischen Implantationen. »Ihr seid verflucht«, sagte er. Darauf schwieg ich. Anscheinend war er ein strenggläubiger Muslim, nach dessen Anschauung ich direkt in die Hölle fahren würde, weil ich mir das Hirn hatte verdrahten lassen. »Ihr seid doppelt verflucht«, fuhr er fort. Sogar hier war meine zweite Implantation ein Gesprächsthema. Ich fragte mich, wo wohl meine Moddys und Daddys geblieben waren. »Hungrig«, erklärte ich. Er nickte. »Morgen könnt Ihr essen, inshallah.« Wenn Gott es will. Die Vorstellung, daß Allah mich durch alle Prüfungen, die ich erduldet hatte – welche es auch immer gewesen sein mögen –, geführt hatte, nur um mir morgen das Frühstück vorzuenthalten, war für mich schwer zu ertragen. Er hob die Lampe an mein Gesicht. Mit seinem grindigen Daumen zog er mir das Lid herunter und untersuchte mein Auge. Ich mußte den Mund aufmachen und er sah sich meine
Zunge an und den Rachen. Er beugte sich nach vorn, um das Ohr auf meine Brust legen zu können, und forderte mich auf zu husten. Er klopfte mich fachmännisch ab. »Schule«, sagte ich und deutete auf ihn. »Universität.« Er lachte und schüttelte den Kopf. Er beugte langsam meine Beine durch und kitzelte mich an den Sohlen. Er quetschte mich an den Fingernägeln und beobachtete, wie lange es dauerte, bis die Farbe zurückkehrte. »Arzt?« fragte ich. Wieder schüttelte er den Kopf. Darauf sah er mich aufmerksam an, er schien einen Entschluß gefaßt zu haben. Er zog sich die Keffiya vom Kopf und ich stellte überrascht fest, daß er selbst einen Moddystecker am Scheitel hatte. Anschließend wickelte er sich wieder vorsichtig die Keffiya um den Kopf. Ich sah ihn fragend an. »Verflucht«, sagte ich. »Ja«, antwortete er mit stoischer Miene. »Ich bin der Scheich der Beni Salim. Das ist meine Verantwortung. Ich muß das Zeichen des Scheitan tragen.« »Wie viele Moddys?« wollte ich wissen. Er verstand das Wort ›Moddys‹ nicht. Ich formulierte die Frage um und fand heraus, daß er sich den Schädel nur wegen zwei Moddys hatte tunen lassen: das Arztmoddy und ein Moddy, das ihn zu einem gelehrten religiösen Führer machte. Mehr besaß er nicht. In der dürren Wildnis, die die Heimat der Beni Salim war, war Hassanein der weise Stammesälteste, der, in seinen eigenen Augen, zum Wohle seines Stammes seine Seele verdammt hatte. Mir wurde klar, daß wir uns nur dank der Sprach- und Grammatikfeatures verstehen konnten, die in das Arztmoddy
eingebaut waren. Sobald er das Moddy herausnahm, würden wir wieder dieselben Verständigungsschwierigkeiten haben wie zuvor. Doch jetzt war ich zu matt, um mich noch weiter mit ihm zu unterhalten. Das würde bis morgen warten müssen. Er gab mir eine Kapsel, damit ich die Nacht durchschlafen konnte. Ich schluckte sie mit einem weiteren Schluck Wasser aus dem Ziegenlederbeutel hinunter. »Möget Ihr am Morgen voller Wohlbefinden erwachen, o Scheich«, verabschiedete er sich. »Gott segne Euch, o Weiser«, flüsterte ich. Er erhob sich, ließ die Lampe auf dem Sandboden neben mir stehen und ging hinaus in die Dunkelheit. Ich hörte, wie er die Zeltklappe zufallen ließ. Noch immer hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand, und ich hatte keinen blassen Schimmer, wer die Beni Salim waren, aber aus irgendeinem Grund fühlte ich mich vollkommen sicher. Ich schlief rasch ein und wachte nur einmal auf während der Nacht. Dabei sah ich Nura im Schneidersitz gegen die schwarze Zeltwand gelehnt schlafen. Als ich am Morgen aufwachte, konnte ich bereits besser sehen. Ich hob den Kopf etwas und sah zu dem hellen Dreieck hinaus. Jetzt konnte ich eine Landschaft aus goldenem Sand und, in nicht allzu weiter Ferne, zwei Kamele mit zusammengebundenen Vorderbeinen erkennen. Im Zelt paßte Nura noch immer auf mich auf. Sie war vor mir aufgewacht und kam näher, als sie merkte, daß ich den Kopf bewegte. Befangen hatte sie den Schal wie am Tag zuvor vor das Gesicht gezogen, was schade war, denn sie war sehr hübsch. »Dachte, wir sind Freunde«, sagte ich. Es fiel mir nun nicht mehr so schwer zu sprechen.
Sie zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Ich hatte zwar keine Probleme zu sprechen, aber noch immer Probleme, verstanden zu werden. Ich probierte es noch einmal und sprach dabei langsamer und mit beiden Händen, um meine Worte zu unterstreichen. »Wir … sind … Freunde«, sagte sie. Sie betonte die Wörter anders, aber ich konnte sie verstehen, wenn sie mir genügend Zeit ließ. »Dir … Gast … der … Beni Salim.« Aha, die legendäre Gastfreundschaft der Bedu! »Hassanein ist Euer Vater?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Mir war nicht klar, ob sie ausdrücken wollte, daß sie nicht miteinander verwandt waren, oder ob sie die Frage nicht verstanden hatte. »Scheich … Hassanein … Vaters … Bruder«, entgegnete sie. Wir gewöhnten uns beide daran, uns einfach auszudrücken und langsam und mit Pausen zwischen den Wörtern zu sprechen. Es dauerte nicht lange, und wir konnten uns problemlos verstehen, selbst wenn wir uns nicht mehr bemühten, langsam zu sprechen. »Wo sind wir?« fragte ich. Ich mußte herausfinden, wie weit die Stadt entfernt war und in welcher Richtung sie lag, und wo sich der nächste Vorposten der Zivilisation befand. Wieder zog Nura die Augenbrauen zusammen. Sie holte ihre Geographiekenntnisse hervor. Dann bohrte sie den Zeigefinger vor sich in den Sand. »Hier ist Bir Balagh. Die Beni Salim haben hier vor zwei Wochen ihr Lager aufgeschlagen.« Sie bohrte noch ein Loch in den Sand, etwa zehn Zentimeter vom ersten entfernt. »Das ist der Brunnen Khaba, drei Tage südlich.« Das nächste Loch war viel weiter weg, ziemlich nahe bei mir. »Hier ist Mughshin. Mughshin ist hauta.«
»Was ist hauta?« wollte ich wissen. »Ein heiliger Ort, Scheich Marîd. Die Beni Salim werden hier andere Stämme treffen und ihre Kamelherde verkaufen.« Ausgezeichnet, dachte ich, wir sind alle auf dem Weg nach Mughshin. Ich hatte noch nie von Mughshin gehört und stellte es mir als einen kleinen Flecken Dattelpalmen um einen Brunnen vor, umgeben von der schrecklichen Wüste. Höchstwahrscheinlich war kein Flugplatz für Stratosphärenclipper in der Nähe. Ich mußte mich irgendwo in dem aus arabischen Königreichen und Stammesgründen bestehenden Konglomerat ohne feste Grenzen befinden. »Wie weit von Riad?« erkundigte ich mich. »Ich kenne Riad nicht«, antwortete Nura. Riad war früher die Hauptstadt ihres Landes gewesen, als es noch unter dem Hause Saud vereinigt war. Und Riad war noch immer eine große Stadt. »Mekka?« »Makkah«, verbesserte sie mich. Sie dachte ein paar Sekunden lang nach, bevor sie selbstsicher in meine Richtung deutete. »Da lang«, sagte ich. »Gut, wie weit?« Nura zuckte bloß die Achseln. Ich hatte nicht viel erfahren. »Tut mir leid«, erklärte sie. »Der alte Scheich hat mich dasselbe gefragt. Vielleicht weiß Onkel Hassanein mehr.« Der alte Scheich! Ich war mit meinem eigenen Elend so beschäftigt gewesen, daß ich darüber Papa vollkommen vergessen hatte. »Der alte Scheich lebt?« »Ja, dank euch und dank der Weisheit Onkel Hassaneins. Als Hilal und bin Turki euch beide in den Dünen fanden, hielten sie Euch für tot. Sie kamen in unser Lager zurück und wenn sie später am Abend nicht Onkel Hassanein davon erzählt hätten,
wärt ihr tot.« Einen Augenblick lang blickte ich sie unverwandt an. »Hilal und bin Turki ließen uns einfach da draußen liegen?« Sie zuckte die Achseln. »Sie hielten euch für tot.« Mir lief ein Schauer über den Rücken. »Schön, daß ihnen bei der gemütlichen Runde am Feuer der Gedanke kam, uns zu erwähnen.« Nura entging mein Sarkasmus. »Onkel Hassanein brachte euch ins Camp. Das ist sein Zelt. Der alte Scheich ist im Zelt von bin Musaid.« Bei diesem Namen senkte sie den Blick. »Wo schlafen dann Ihr Onkel und bin Musaid?« fragte ich. »Sie schlafen bei den anderen ohne Zelt. Im Sand am Feuer.« Natürlich meldeten sich hier bei mir leise Schuldgefühle, denn ich wußte, wie kalt die Wüste nachts werden kann. »Wie geht es dem alten Scheich?« fragte ich. »Er wird mit jedem Tag kräftiger. Die Unterkühlung und der Durst haben ihn sehr mitgenommen, aber nicht so sehr wie Euch. Euer Opfer hat ihn am Leben erhalten, Scheich Marîd.« Ich konnte mich an kein Opfer erinnern. Ich hatte keine Ahnung, was wir alles durchgemacht hatten. Nura muß erkannt haben, wie verwirrt ich war, denn sie streckte die Hand aus und berührte beinahe meine Implantate. »Die hier«, erläuterte sie, »Ihr habt sie zu sehr beansprucht und leidet jetzt dafür. Doch es rettete dem alten Scheich das Leben. Er möchte unbedingt mit Euch sprechen. Onkel Hassanein erklärte ihm, daß Ihr morgen Besucher haben dürft.« Ich war erleichtert zu erfahren, daß Friedlander Bei in besserer Verfassung als ich war, und ich hoffte, er könne einige meiner Erinnerungslücken füllen. »Wie lange bin ich bereits
hier?« Sie rechnete und antwortete: »Zwölf Tage. Die Beni Salim wollten nur drei Tage in Bir Balagh bleiben, aber Onkel Hassanein beschloß, so lange zu warten, bis Ihr und der alte Scheich reisefähig wärt. Einige im Stamm haben sich darüber aufgeregt, besonders bin Musaid.« »Den haben Sie schon einmal erwähnt. Wer ist dieser bin Musaid?« Nura senkte den Blick und flüsterte: »Er möchte mich heiraten.« »Mhm. Und wie stehen Sie zu ihm?« Sie blickte mich an. Ich konnte die Wut in ihren Augen erkennen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob sie gegen mich oder gegen ihren Verehrer gerichtet war. Sie stand auf und verließ das Zelt, ohne ein Wort zu sagen. Das war mir gar nicht recht. Ich wollte sie bitten, mir etwas zu essen zu bringen und ihrem Onkel auszurichten, daß ich gerne eine weitere Sonneininjektion hätte. Statt dessen versuchte ich, eine möglichst bequeme Lage zu finden, und dachte darüber nach, was ich soeben von Nura erfahren hatte. Papa und ich wären beinahe in dieser Wildnis gestorben, aber ich wußte noch nicht, wem wir das zuzuschreiben hatten. Es hätte mich nicht überrascht, wenn Kommissar Hajjar dahinter stecken würde und Reda Abu Adil die Fäden in der Hand hätte. Die letzte Szene, an die ich mich erinnern konnte, war, in dem Stratosphärenclipper zu sitzen und auf den Abflug zu warten. Alles, was danach kam – der Flug selbst, die Ankunft und wie ich mitten in die Wüste gekommen war –, war noch immer aus meinem Gedächtnis gestrichen. Ich hoffte, daß diese Erinne-
rung sich wieder einstellte, sobald ich zu Kräften kam, oder daß Papa eine genauere Vorstellung von all dem hatte. Ich beschloß, meine Wut auf Abu Adil zu konzentrieren. Mir war klar, in welcher Gefahr ich mich befand, auch wenn ich mich augenblicklich sicher fühlte. Zum einen würde es sehr schwierig sein, unsere Reise zurück in die Stadt zu arrangieren, selbst wenn die Beni Salim uns erlaubten, sie bis nach Mughshin zu begleiten – wo immer, zum Teufel, das lag. Wenn wir dort auftauchten, liefen wir Gefahr, eingesperrt zu werden. Papas Villa würden wir meiden müssen und für mich würde es äußerst riskant sein, einen Fuß in den Budayin zu setzen. Doch all das lag in weiter Ferne. Im Augenblick gab es drängendere Probleme. Ich konnte mir nicht sicher sein, ob uns die Beni Salim freundschaftlich gesinnt bleiben würden. Vermutlich verlangte die Gastfreundschaft der Bedu, daß sie Papa und mich gesund pflegten. Danach waren wir quitt. Sobald wir wieder für uns selbst sorgen konnten, nahmen sie uns möglicherweise gefangen und lieferten uns unseren Feinden aus. Vielleicht war eine Belohnung drin für sie. Es wäre ein Fehler, sich eine Blöße zu geben. Eines war sicher: wenn Hajjar und Abu Adil für das verantwortlich waren, was wir durchgemacht hatten, nachdem wir das Shuttle verlassen hatten, würden sie teuer dafür bezahlen. Das schwor ich. Meine düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Hassanein mich fröhlich grüßte. »Hier, o Scheich, bringe ich Euch etwas zu essen.« Er reichte mir ein rundes, flaches Stück Brot und eine Schale mit einer abstoßenden weißen Flüssigkeit. Ich sah hoch zu ihm. »Kamelmilch«, erklärte er. Ich hatte schon
befürchtet, daß er das sagen würde. »Bismillah«, murmelte ich. Ich brach ein Stück Brot ab und aß es, dann nippte ich von der Flüssigkeit. Die Kamelmilch war eigentlich nicht schlecht. Auf alle Fälle brachte ich sie leichter hinunter als das Wasser in dem Ziegenlederbeutel. Scheich Hassanein ging neben mir in die Hocke. »Einige unter den Beni Salim werden unruhig. Sie sagen, wenn wir hier zu lange warten, werden wir in Mughshin weniger Geld für unsere Kamele bekommen. Außerdem müssen wir einen anderen Weideplatz für unsere Kamele suchen. Ihr müßt in zwei Tagen soweit genesen sein, daß Ihr reisen könnt.« »Sicher, ich bin bereit, wenn ihr es seid.« Haha, dachte ich. Ich versuchte nur, einen guten Eindruck zu machen. Er nickte. »Eßt noch etwas Brot. Später wird Euch Nura Datteln und Tee bringen. Heute abend, könnt Ihr, wenn Ihr das möchtet, ein Stück Ziegenbraten haben.« Ich war so hungrig, daß ich mich über einen rohen Kadaver hergemacht hätte. Im Brot und in der Milch waren Sandkörner, aber das war mir egal. »Habt Ihr diesmal die Zeit genutzt, um darüber nachzudenken, was Euch zugestoßen ist und was das zu bedeuten hat?« fragte Hassanein. »Ja, gewiß, o Weiser«, antwortete ich. »Was im einzelnen geschehen ist, entzieht sich mir noch immer, aber ich habe lange und ausführlich darüber nachgedacht, warum ich dem Tod so nahe kam. Ich habe mir auch über die Zukunft Gedanken gemacht. Die Zeit der Ernte wird kommen.« Der Führer der Beni Salim nickte. Ich fragte mich, ob er wußte, was in meinem Kopf vorging, ob ihm der Name Reda
Abu Adil etwas sagen würde. »Das ist gut«, entgegnete er mit auf Neutralität bedachter Stimme. Er stand auf, um zu gehen. »O Weiser«, sagte ich, »könnt Ihr mir etwas gegen die Schmerzen geben?« Er runzelte die Stirn und musterte mich von oben herab. »Habt Ihr wirklich noch so starke Schmerzen?« »Ja. Ich bin zwar schon kräftiger, gepriesen sei Allah, aber mein Körper leidet noch immer von dieser Überbeanspruchung.« Er brummte etwas in seinen Bart, aber er öffnete seine Ledertasche und zog eine Injektion auf. »Das ist die letzte«, erklärte er mir. Dann stieß er mir die Nadel in die Hüfte. Mir kam der Gedanke, daß seine Vorräte an Pharmaka wahrscheinlich nicht allzu groß waren. Hassanein mußte sich um alle Unfälle und Krankheitsfälle kümmern, die die Beni Salim trafen, und ich hatte wohl bereits den Großteil seiner schmerzlindernden Mittel aufgebraucht. Nun wäre es mir lieber gewesen, ich hätte nicht selbstsüchtig auf dieser letzten Injektion bestanden. Ich seufzte und wartete, daß das Sonnein seine Wirkung tat. Hassanein verließ das Zelt und Nura kam herein. »Hat Ihnen schon jemand gesagt, wie schön Sie sind, meine Schwester?« fragte ich sie. Ich wäre nicht so weit vorgeprescht, wenn nicht in diesem Moment das Opiat in meinem Hirn seine Wirkung entfaltet hätte. Ich sah, daß ich Nura in arge Verlegenheit gebracht hatte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Kopftuch und lehnte sich wieder im Schneidersitz an die Zeltwand. Dabei sprach sie kein Wort. »Verzeiht mir, Nura«, lallte ich.
Sie wandte den Blick von mir ab, und ich verfluchte meine Dummheit. Dann, kurz bevor mich der warme, wunderbare Schlaf vollends übermannte, flüsterte sie: »Bin ich wirklich so schön?« Ich lächelte sie spitzbübisch an und verlor meinen Halt in dieser Welt.
3. Kapitel
Als mein Gedächtnis langsam wiederkehrte, erinnerte ich mich daran, in dem Stratosphärenclipper neben Hajjar gesessen zu sein, gegenüber von Friedlander Bei und Hajjars Knochenbrecher. Dem Schurken von Polizisten hatte es eine Menge Spaß gemacht, mich einfach anzusehen, den Kopf zu schütteln und ständig leise und gemein vor sich hin zu kichern. Ich selbst war damit beschäftigt, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie kräftig ich ihm seinen dürren Hals würde verdrehen müssen, bis ihm die Beule oben wegspränge. Papa stellte weiterhin Gelassenheit zur Schau. Die Genugtuung, ihn aus der Ruhe zu bringen, wollte er Hajjar einfach vorenthalten. Nach einer Weile versuchte ich so zu tun, als wären Hajjar und sein Schläger Luft für mich. Ich vertrieb mir die Zeit damit, mir tragische Unfälle auszumalen, die ihnen zustoßen könnten. Wir waren etwa vierzig Minuten in der Luft, als der Clipper den höchsten Punkt der Parabel überschritten hatte und nach unten, seinem Ziel entgegenglitt und ein hochgewachsener Mann mit einem schmalen Gesicht und einem riesigen schwarzen Schnurrbart die Vorhänge zu der hinteren Kabine beiseite schob. Das muß der Qadi sein, dachte ich, der Zivilrichter, der zu einem Urteil gelangt war in Papas und meinem Fall, was immer das nun für ein Fall war. Es hob meine Stimmung nicht gerade, daß der Qadi die graue Uniform und die Lederstiefel eines Offiziers von Reda Abu Adils Jaish trug.
Er warf einen Blick auf das Bündel Papier in seiner Hand. »Friedlander Bei?« fragte er. »Marîd Audran?« »Der da und der da«, sagte Hajjar und deutete mit dem Daumen zuerst auf Papa und dann auf mich. Der Qadi nickte. Noch immer stand er neben uns im Gang. »Das ist eine sehr schwerwiegende Anklage«, fuhr er fort. »Es wäre besser gewesen, Sie hätten auf schuldig plädiert und um Gnade gebeten.« »Hör mal, Kamerad«, warf ich ein, »ich habe noch nicht einmal die Anklage gehört! Ich weiß noch nicht einmal, was uns vorgeworfen wird! Wie sollen wir da auf schuldig plädieren? Wir hatten ja keine Gelegenheit, überhaupt Einspruch zu erheben!« »Wie bitte, Euer Ehren?« meldete sich Hajjar zu Wort. »Ich nahm mir die Freiheit, ihren Einspruch für sie einzugeben. Um der Stadt Zeit und Geld zu sparen.« »Verstößt gegen die Vorschriften«, brummte der Qadi und blätterte den Stapel durch. »Aber nachdem der Einspruch jeweils auf unschuldig lautet, sehe ich kein weiteres Problem.« Ich schlug mit der Faust auf die Armlehne. »Aber soeben sagten Sie, es wäre besser für uns gewesen, wenn …« »Ruhig, mein Neffe«, sagte Papa besonnen. Er wandte sich an den Qadi. »Bitte, Euer Ehren, wie lautet die Anklage, die gegen uns erhoben wird?« »Ach, auf Mord«, antwortete der Richter zerstreut. »Auf vorsätzlichen Mord aus niedrigen Beweggründen. Da ich sämtliche …« »Mord!« schrie ich. Ich hörte, wie Hajjar lachte, und warf ihm einen Blick zu, der töten konnte. Er hob die Hand, als wolle
er sich schützen. Der Schlägertyp langte herüber und schlug mir hart ins Gesicht. Voller Wut wollte ich mich zur Wehr setzen, aber er schwenkte nur die Nadelpistole vor meiner Nase. Ich ließ mich etwas zurücksinken. »Wen sollen wir getötet haben?« fragte Papa. »Einen Augenblick, das muß hier irgendwo stehen«, erwiderte der Qadi. »Ja, einen Polizeiinspektor namens Khalid Maxwell. Das Verbrechen wurde von einem Geschäftspartner Scheich Reda Abu Adils entdeckt.« »Ich wußte, daß Reda Abu Adils Name auftauchen würde«, knurrte ich. »Khalid Maxwell«, sagte Papa. »Ich habe nie mit jemandem dieses Namens Kontakt gehabt.« »Und ich auch nicht«, ergänzte ich. »Von dem Kerl habe ich noch nie etwas gehört.« »Einer meiner getreuen Untergebenen«, warf Hajjar ein. »Die Stadt und die Polizei erlitten einen großen Verlust.« »Wir waren es nicht, Hajjar!« brüllte ich. »Und Sie wissen es!« Der Qadi blickte mich finster an: »Es ist zu spät für Ausflüchte.« Seinem dunklen Gesicht schien die Kraft zu fehlen, die ausgeprägte Knollennase und den dazugehörigen buschigen Haarwuchs zu tragen. »Ich gelangte bereits zu einem Urteil.« Papa schien etwas außer Fassung zu geraten. »Sie haben bereits die Entscheidung getroffen, ohne uns unsere Seite der Geschichte darstellen zu lassen?« Der Qadi schlug mit der Hand auf einen Stapel Papier. »Da sind alle Fakten. Was ist Ihre Seite der Geschichte? Daß Sie leugnen, dieses widerliche Verbrechen begangen zu haben? Mit
Sicherheit hätten Sie mir genau das gesagt. Um mir das anzuhören, brauchte ich meine Zeit nicht zu verschwenden. Ich habe das hier!« Wieder schlug er mit der Hand auf den Stapel Papier. »Sie sind also zu einem Urteil gekommen«, entgegnete Papa, »und haben uns für schuldig befunden.« »Exakt«, antwortete der Qadi. »Schuldig im Sinne der Anklage. Schuldig in den Augen Allahs und Ihrer Mitmenschen. Doch die Todesstrafe wird aufgrund der eindringlichen Bitte eines der angesehensten Bürger der Stadt aufgehoben.« »Scheich Reda?« fragte ich. Mein Magen begann sich wieder bemerkbar zu machen. »Ja«, antwortete der Qadi. »Scheich Reda setzte sich bei mir für Sie ein. Aus Achtung vor ihm werden Sie morgen in der Shimaal-Moschee nicht geköpft werden, wie Sie es verdienen. Statt dessen werden Sie verbannt. Unter der Androhung von einer Freiheitsstrafe mit sofortiger Vollstreckung beziehungsweise Hinrichtung ist Ihnen verboten, jemals in die Stadt zurückzukehren.« »Wie beruhigend«, bemerkte ich verdrossen. »Wo bringen Sie uns hin?« »Das Shuttle fliegt das Königreich Asir an«, erklärte der Qadi. Ich sah zu Friedlander Bei hinüber. Er gab wieder den alten Weisen. Auch ich fühlte mich etwas besser. Über Asir wußte ich nur, daß es südlich von Mekka an das Rote Meer grenzte. Es hätte uns weitaus Schlimmeres treffen können als Asir. Von dort konnten wir mit Hilfe unseres Apparates unsere Rückkehr in die Stadt vorbereiten. Das würde viel Zeit und eine Menge Bestechungsgeld kosten, aber letztendlich würden wir nach
Hause kommen. Ich freute mich schon auf das Wiedersehen mit Hajjar. Der Qadi sah von mir zu Papa, nickte und zog sich in die hintere Kabine zurück. Hajjar wartete darauf, daß er verschwand, um in schallendes Gelächter auszubrechen. »Hey!« brüllte er los. »Was haltet ihr davon?« Ich packte ihn an der Kehle, bevor er wegtauchen konnte. Sein Schläger erhob sich aus dem Sitz und richtete die Nadelpistole auf mich. »Nicht schießen!« rief ich mit vorgetäuschter Angst in der Stimme, während ich Hajjars Kehle immer fester zudrückte. »Bitte nicht schießen!« Hajjar versuchte etwas zu sagen, aber ich hatte ihm die Luftröhre abgedrückt. Sein Gesicht nahm die Farbe des Paradiesweines an. »Laß ihn frei, mein Neffe«, sagte Friedlander Bei nach einer Weile. »Jetzt, o Scheich?« fragte ich. Ich hatte ihn noch immer fest im Griff. »Jetzt.« Ich stieß Hajjar weg, daß er mit dem Kopf gegen die Schutzwand hinter ihm knallte. Er schnappte nach Luft, als wolle er sie gewaltsam in seine Lungen zwingen. Der Schläger ließ die Pistole sinken und nahm wieder Platz. Ich hatte den Eindruck, es ging ihm nicht allzu nahe, wie Hajjar sich fühlte. Woraus ich schloß, daß er keine recht viel bessere Meinung vom Kommissar hatte als ich und, so lange ich Hajjar nicht gerade umbrachte, nicht den kleinen Finger für ihn rühren würde. Hajjar starrte mich haßerfüllt an. »Das wird Ihnen noch leid tun«, krächzte er.
»Glaube ich nicht, Hajjar«, entgegnete ich. »Ihre rote Visage mit den hervorquellenden Augen wird mich über all die Schwierigkeiten, die mich erwarten, hinwegtrösten.« »Setzen Sie sich auf Ihren Platz und halten Sie den Mund, Audran«, stieß Hajjar zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. »Bei der kleinsten Bewegung oder dem geringsten Geräusch wird Ihnen Ihr Freund da das Gesicht zermatschen.« Ich war es ohnehin leid, lehnte mich zurück und schloß die Augen und dachte, daß ich wohl meine Kraft brauchen würde, wenn wir in Asir ankamen. Ich spürte, wie die Hilfsmotoren anliefen und der Pilot des riesigen Clippers ihn in einem langsamen Bogen nach Westen drehte. Wir verloren schnell an Höhe und bewegten uns in einer Spirale nach unten durch den Nachthimmel. Der Clipper bebte, und ein langes und lautes Dröhnen, vermischt mit einem durchdringenden Aufheulen war zu hören. Hajjars Schläger stand die Angst ins Gesicht geschrieben. »Maschine wird landebereit gemacht«, sagte ich. Er nickte kurz. Und dann war das Shuttle unten und schlitterte mit einem Kreischen über eine Betonlandebahn. Ich konnte draußen keine Lichter sehen, aber ich war mir sicher, daß wir uns mitten auf einem großen Flugplatz befinden mußten. Nach einer Weile, als der Pilot den Clipper zu einer Art Kriechgang heruntergefahren hatte, konnte ich die Umrisse von Hangars, Flugzeughallen und anderen Gebäuden wahrnehmen. »Bleibt in euren Sitzen«, wies uns Hajjar an. Wir blieben sitzen und hörten der Klimaanlage über unseren Köpfen zu. Schließlich tauchte der Qadi wieder aus der hinteren Kabine auf. Er hatte noch immer den Papierstapel in der Hand.
Er nahm ein Blatt und las: »›Hiermit wird bezeugt, daß in bezug auf die von Mitgliedern der Gemeinschaft begangenen Verbrechen und Verstöße gegen Allah und die Brüder im Islam die als Friedlander Bei und Marîd Audran identifizierten Angeklagten für schuldig befunden und dazu verurteilt werden, aus der Gemeinschaft verbannt zu werden, gegen deren Gebote sie so gravierend verstießen. Womit ihnen eine Gnade erwiesen wird. Fürderhin sollten sie ihr Leben damit verbringen, Gott für jeden einzelnen Tag zu danken und seine Nähe und die Vergebung ihrer Mitmenschen zu suchen.‹« Anschließend lehnte sich der Qadi an die Schutzwand und unterschrieb das Blatt und eine Kopie davon, damit sowohl Papa wie ich eine Abschrift hatten. »Gehen wir jetzt«, schloß er. »Komm schon, Audran«, sagte Hajjar. Ich erhob mich und ging hinter dem Qadi den Gang hinunter. Hajjars Schläger ging hinter mir und ihm folgte Papa. Hajjar bildete das Schlußlicht. Ich wandte den Kopf, um ihn mir noch einmal anzusehen. Er sah seltsam traurig aus. Wahrscheinlich dachte er sich, daß wir bald seinem Zugriff entronnen sein würden und damit das Vergnügen, das er mit uns gehabt hatte, vorbei wäre. Wir kletterten die Gangway auf die Betonpiste hinunter. Papa und ich streckten uns und gähnten. Ich war todmüde und sehr hungrig trotz der Mengen, die ich beim Fest des Emirs gegessen hatte. Ich blickte mich auf dem Flugplatz um und versuchte, irgend etwas zu entdecken, was uns weiterhelfen könnte. Auf einem der niedrigen, dunklen Gebäude entdeckte ich ein großes handgemaltes Schild, auf dem Najran stand. »Sagt Euch Najran etwas, o Scheich?« fragte ich Friedlander Bei.
»Halten Sie den Mund, Audran!« mischte sich Hajjar ein. Er wandte sich an seinen Schläger. »Sorge dafür, daß sie nicht miteinander reden oder sich sonstwie merkwürdig verhalten. Ich ziehe dich dafür zur Verantwortung.« Der Schläger nickte und Hajjar und der Qadi gingen zusammen zu dem Gebäude. »Najran ist die Hauptstadt von Asir«, erklärte Papa. Er tat so, als sei Hajjars Schlägertyp Luft für ihn. Dem schien es ziemlich egal zu sein, was wir machten, solange wir nicht versuchten, über die Landebahn in Richtung Freiheit zu flitzen. »Haben wir Freunde hier?« wollte ich wissen. Papa nickte. »Wir haben beinahe überall Freunde, mein Neffe. Das Problem ist nur, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.« Ich verstand nicht, was er damit meinte. »Hajjar und der Qadi werden doch bald wieder an Bord des Clippers gehen und dann können wir ja machen, was wir wollen. Wir brauchen uns nur an diese Freunde zu wenden und schon bekommen wir schöne, weiche Betten, in denen wir den Rest der Nacht verbringen können.« Papa sah mich mit einem traurigen Lächeln an. »Glaubst du wirklich, unsere Probleme enden hier?« Meine Zuversicht sank in sich zusammen. »Mhm, tun sie das etwa nicht?« Als ob sie Papas Worte unterstreichen wollten, traten in diesem Moment Hajjar und der Qadi aus dem Gebäude – in Begleitung eines bulligen Kerls, der eine Art Polizeiuniform und unter dem Arm ein Gewehr trug. Er machte keinen unbedingt intelligenten oder gut ausgebildeten Eindruck, aber mit dem Gewehr unterm Arm war er uns wohl über. »Wir müssen bald über Rache sprechen«, flüsterte mir Papa
zu, bevor Hajjar uns erreichte. »Gegen Scheich Reda«, erwiderte ich. »Nein. Gegen den, der seine Unterschrift unter unsere Deportationsurkunde setzte. Den Emir oder den Imam von der Shimaal-Moschee.« Stoff zum Nachdenken. Ich hatte noch immer keine Ahnung, warum Friedlander Bei es um jeden Preis vermied, Reda Abu Adil Schaden zuzufügen, ganz egal, wie sehr ihn dieser provoziert hatte. Und ich fragte mich, wie ich reagieren würde, falls Papa mich anwiese, Scheich Mahali, den Emir, zu töten. Der Fürst hätte uns heute abend bestimmt nicht so mit seiner Gastfreundschaft überhäuft, wenn er gewußt hätte, daß wir beim Verlassen seines Empfangs entführt und ins Exil verbannt würden. Ich zog es vor, davon auszugehen, daß Scheich Mahali keine Ahnung hatte, was hier vorging. »Hier sind Ihre Gefangenen, Inspektor«, erklärte Hajjar dem Fettarsch von Bullen. Der Inspektor nickte. Er musterte uns stirnrunzelnd. Laut dem Namensschild, das er trug, hieß er al-Bishah. Er hatte eine riesige Wampe, die sich durch die Knöpfe seines verschwitzten Hemdes ihren Weg ins Freie zu bahnen suchte. Den Bart hatte er sich, den schwarzen Stoppeln nach zu schließen, seit vier oder fünf Tagen nicht mehr rasiert. Und sein Mund war voller brauner Zahnstummel. Weil er die Augen kaum aufbrachte, dachte ich zuerst, er sei mitten in der Nacht aufgeweckt worden. Bis ich merkte, daß seine Klamotten stark nach Haschisch rochen. Da war mir klar, daß dieser Bulle seine einsamen Nächte im Dienst mit seinem Nargileh verbrachte. »Dann hat wohl der junge Typ da den Abzug gedrückt«, lallte
der Inspektor, »und der alte Narr in dem heruntergerissenen Aufzug und dem roten Fez hat sich die Sache ausgedacht.« Er warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. Es muß das Haschisch gewesen sein, denn nicht mal Hajjar verzog den Mund. »In etwa«, entgegnete der Kommissar. »Jetzt gehören sie Ihnen.« Hajjar wandte sich zu mir. »Ach ja, bevor wir uns für immer auf Wiedersehen sagen, Audran, wissen Sie, was ich morgen als erstes tun werde?« Noch nie hatte ich ein so häßliches und gemeines Grinsen gesehen. »Nein, was denn?« erwiderte ich. »Ich werden Ihren Club schließen. Und wissen Sie, was ich als nächstes machen werde?« Er wartete, aber ich weigerte mich, ihm den Gefallen zu tun. »Okay, ich sag's Ihnen. Ich werde Ihre Yasmin wegen Prostitution hochnehmen und wenn ich sie dann ganz tief unten in meinem Spezialloch habe, werde ich nachsehen, was Ihnen so gut an ihr gefällt.« Ich war sehr stolz auf mich. Vor ein oder zwei Jahren hätte ich ihm die Zähne eingeschlagen, Schlägertyp hin oder her. Inzwischen war ich reifer geworden. Ich blieb ruhig stehen und hielt seinem wilden Blick kühl stand. Innerlich sagte ich mir vor: das nächste Mal, wenn du diesen Kerl siehst, bringst du ihn um. Das hielt mich davon ab, eine Dummheit zu begehen, während zwei Waffen auf mich gerichtet waren. »Träum davon, Audran!« rief Hajjar, als er mit dem Qadi zusammen die Gangway hochkletterte. Ich drehte mich nicht einmal nach ihm um. »Du warst weise, mein Neffe«, sagte Friedlander Bei. Sein Gesichtsausdruck ließ erkennen, wie sehr ihn mein Verhalten
beeindruckt hatte. »Ich habe viel von Euch gelernt, mein Großvater«, erwiderte ich. Auch das schien ihm zu gefallen. »Okay«, meldete sich der hiesige Bulle zu Wort, »kommen Sie jetzt. Möchte nicht dabei sein, wenn sie das Ding da in Bewegung setzen.« Dabei deutete er mit dem Gewehrlauf auf das dunkle Gebäude, und Papa und ich machten uns dorthin auf den Weg. Drinnen war es zappenduster, aber Inspektor al-Bishah machte kein Licht. »Einfach die Wand entlang«, sagte er. Ich tastete mich einen engen Gang hinunter, bis dieser eine Biegung machte. Dort befand sich ein kleines Büro mit einem abgestoßenen Schreibtisch, einem Telefon, einem alten Ventilator und einem kleinen, lädierten Holo-System. Hinter dem Schreibtisch stand ein Stuhl und auf den ließ sich der Inspektor plumpsen. Ein zweiter Stuhl stand in der Ecke und in dem ließ ich Papa Platz nehmen. Ich lehnte mich gegen die schmutzige Gipswand. »Wenden wir uns also der Frage zu«, ergriff der Bulle das Wort, »was ich mit euch mache. Ihr seid jetzt in Najran, das ist nicht so ein flohverseuchtes Kaff, in dem ihr Einfluß habt. In Najran seid ihr nichts, aber ich bin wer. Schauen wir mal, was ihr für mich tun könnt, und wenn ihr nichts tun könnt, marschiert ihr ab ins Gefängnis.« »Wieviel Geld hast du bei dir, mein Neffe«, fragte mich Papa. »Nicht viel.« Ich hatte nicht viel eingesteckt, weil ich dachte, daß ich es im Hause des Emirs nicht brauchen würde. Normalerweise hatte ich – für Notfälle wie diesen – in allen Taschen meiner Gallebeya Geld stecken. Ich zählte nach, was ich in der linken Tasche fand. Es waren etwas über hundertachtzig Kiam.
Ich wollte nicht, daß dieser Hund von einem Inspektor spitzkriegte, daß in den anderen Taschen noch mehr steckte. »Ist nicht mal echtes Geld, oder?« beschwerte sich al-Bishah. Was ihn nicht daran hinderte, die Scheine in seine Schreibtischschublade zu stopfen. »Was ist mit dem Alten?« »Ich habe überhaupt kein Geld bei mir«, sagte Papa. »Das ist aber zu schlecht.« Der Inspektor zündete sich mit einem Feuerzeug das Haschisch in seinem Nargileh an. Er lehnte sich vor und steckte sich das Mundstück zwischen die Zähne. Ich hörte die Wasserpfeife blubbern und roch das Haschisch. Er atmete den Rauch aus und lächelte. »Ihr könnt euch eure Zellen aussuchen, ich hab' zwei davon. Oder habt ihr vielleicht etwas anderes, das ich gebrauchen könnte?« Mein Zierdolch fiel mir ein. »Was ist damit?« sagte ich und legte ihn auf den Schreibtisch. Er schüttelte den Kopf. »Bares«, sagte er und schob ihn zu mir zurück. Meines Erachtens ein grober Fehler, denn der Dolch war gold- und juwelenbesetzt. Vielleicht wußte er nicht, wo er so etwas losschlagen konnte. »Oder Kredit«, fügte er hinzu. »Habt ihr eine Bank, die ihr anrufen könnt?« »Ja«, entgegnete Friedlander Bei. »Der Anruf wird zwar teuer sein, aber Sie können es sich ja von meiner Bank auf Ihr Konto überweisen lassen.« Al-Bishah ließ das Mundstück los und setzte sich ganz aufrecht hin. »Na, sowas will ich hören! Nur, für den Anruf bezahlst du! Das belastet du deinem Konto, klar?« Der feiste Bulle reichte ihm das Telephon, und Papa nannte eine lange Nummer. »Und welche Summe wünschen Sie?« fragte er den Inspektor.
»Eine ordentliches, fettes Bestechungsgeld«, sagte er. »Ich will das Gefühl haben, bestochen worden zu sein. Wenn es zuwenig ist, wanderst du in die Zelle. Dort kannst du sitzen. Niemand wird herausfinden, daß du da bist. Niemand wird für deine Freiheit zahlen. Das ist die beste Chance, die du kriegst, mein Bruder.« Friedlander Bei betrachtete ihn mit unverhohlenem Abscheu. »Fünftausend Kiam«, sagte er. »Laß mich mal nachdenken, wieviel ist das in echtem Geld?« Ein paar Sekunden verstrichen. »Nein, zehntausend sind besser.« Ich bin sicher, Papa hätte hunderttausend bezahlt, aber die Vorstellungskraft des Bullen reichte nicht aus, soviel zu verlangen. Papa wartete kurz und nickte dann. »Ja, zehntausend.« Er sprach in das Telephon und reichte es dem Inspektor. »Was?« fragte al-Bishah. »Nennen Sie dem Computer Ihre Kontonummer«, erklärte Papa. »Oh. Klar.« Als die Transaktion über die Bühne gegangen war, machte der fette Blödmann einen weiteren Anruf. Ich konnte nicht hören, worum es ging, aber als er aufhing, sagte er: »Habe eure Weiterreise organisiert. Ich will euch nicht hier in Najran haben. Und dahin, wo ihr herkommt, kann ich euch auch nicht zurücklassen. Nicht von diesem Flugplatz aus.« »In Ordnung«, sagte ich. »Wohin werden wir dann gebracht?« Al-Bishah ließ mich seine verfaulten Zahnstummel sehen. »Laßt euch überraschen.« Wir hatten keine Wahl. Wir warteten in seinem muffigen
Büro, bis der Anruf kam, wir könnten Weiterreisen. Der Inspektor erhob sich hinter seinem Schreibtisch, packte sein Gewehr, klemmte es sich unter den Arm und gab uns ein Zeichen, ihm voraus auf die Landebahn zu gehen. Ich war froh, aus dieser stickigen Kammer rauszukommen. Draußen, unter dem klaren, mondlosen Himmel sah ich, daß Hajjars Shuttle schon abgehoben hatte. An seiner Stelle stand nun ein kleiner Überschall-Chopper mit Militärzeichen. Die Luft war erfüllt von dem Heulen seiner Jetmaschinen und eine starke Brise wehte den beißenden Geruch des Benzins herüber, das auf den Beton des Flugfeldes lief. Ich sah zu Papa hinüber, der nur leicht die Achseln zuckte. Uns blieb nichts anderes übrig, als dahin zu gehen, wo uns der Mann mit dem Gewehr haben wollte. Wir mußten etwa 30 Meter über das leere Flugfeld zum Chopper gehen, und wir leisteten keinen Widerstand. Dessen ungeachtet trat al-Bishah von hinten an mich heran und schlug mich mit dem Gewehrkolben auf den Hinterkopf. Ich fiel zu Boden, vor meinen Augen tanzten grelle Farbpunkte. Mein Kopf pochte vor Schmerzen. Ich hatte einen Augenblick lang das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Ganz nah hörte ich ein langgezogenes Stöhnen und als ich den Kopf wendete, sah ich Friedlander Bei hilflos neben mir am Boden liegen. Daß der fette Bulle Papa zusammengeschlagen hatte, ärgerte mich mehr, als daß er mir eins übergezogen hatte. Ich rappelte mich hoch und half Papa auf. Sein Gesicht war ganz grau geworden, und er war kurz weggetreten. Ich hoffte, daß der alte Mann keine Gehirnerschütterung hatte. Langsam führte ich ihn zu der offenen Luke des Choppers.
Al-Bishah sah zu, wie wir in das Flugzeug stiegen. Ich drehte mich nicht zu ihm um, aber über das Maschinengeheul hinweg hörte ich ihn brüllen: »Wenn ihr je nach Najran zurückkommt, seid ihr tot.« Ich deutete auf ihn hinunter und rief: »Genieße es, solange du kannst, du Arschloch, denn dazu wirst du nicht lange Gelegenheit haben.« Er grinste bloß. Dann knallte der Copilot die Luke zu, und ich versuchte, es mir neben Friedlander Bei auf der harten Plastikbank bequem zu machen. Vorsichtig berührte ich meinen Hinterkopf unter der Keffiya. Meine Finger waren voll Blut. Ich wandte mich Papa zu und war froh, als ich sah, daß die Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt war. »Seid Ihr in Ordnung, o Scheich?« fragte ich ihn. »Ich danke Allah«, antwortete er mit einem leichten Stöhnen. Mehr konnten wir nicht reden, weil alles in dem Lärm unterging, als der Chopper abhob. Ich lehnte mich zurück und wartete, was als nächstes geschehen würde, und vertrieb mir die Zeit damit, Inspektor al-Bishah gleich nach Kommissar Hajjar auf meine Liste zu setzen. Der Chopper umkreiste den Flugplatz und schoß dann in Richtung seines unbekannten Ziels davon. Wir flogen ziemlich lange, ohne den Kurs auch nur geringfügig zu ändern. Ich saß da, den Kopf in die Hände gestützt. Wie die Zeit verstrich, merkte ich an den regelmäßigen, qualvollen Stichen in meinem Hinterkopf. Dann fiel mir ein, daß ich ja meine neurale Software dabei hatte. Beschwingt zog ich sie heraus, nahm die Keffiya ab und steckte mir den Schmerzblocker-Daddy ein. Augenblicklich fühlte ich mich hundertprozentig besser und das ohne die Nebenwirkungen chemischer Schmerzblocker.
Allerdings konnte ich ihn nicht lange drin lassen. Denn das hieße, früher oder später eine große Schuld an mein Zentralnervensystem zu begleichen. Papa konnte ich nicht helfen. Mir blieb nichts übrig, als ihn in Ruhe leiden zu lassen und die Nase gegen das Plastikbullauge in der Luke zu drücken. Lange Zeit sah ich kein einziges Licht da unten, keine Stadt, kein Dorf, nicht einmal ein alleinstehendes Haus fernab aller Zivilisation. Wir schienen über das Meer zu fliegen. Als vor uns und etwas Steuerbord die Sonne aufging, merkte ich, wie falsch ich mit meiner Vermutung gelegen hatte. Wir waren die ganze Zeit über nach Nordosten geflogen. Nach der nicht allzu genauen Karte in meinem Kopf bedeutete das, daß wir über das Herz Arabiens geflogen waren. Mir war nicht klar gewesen, wie menschenleer dieser Teil der Welt war. Nach einer halben Stunde nahm ich den Schmerzdaddy wieder heraus. Ich erwartete eine neue Schmerzwelle, wurde aber angenehm überrascht. Das wahnsinnige Pochen war in ein normales und einigermaßen erträgliches Kopfweh übergegangen. Ich setzte die Keffiya wieder auf, erhob mich von der Plastikbank und ging nach vorne, Richtung Cockpit. »Guten Morgen«, begrüßte ich den Piloten und den Copiloten. Der Copilot drehte sich um und musterte mich. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er meiner fürstlichen Aufmachung, doch er zügelte seine Neugier. »Gehen Sie wieder nach hinten und setzen Sie sich«, sagte er. »Wir können keine Störung brauchen, wenn wir damit beschäftigt sind, das Ding hier zu fliegen.«
Ich zuckte die Achseln. »Sieht aus, als könnten wir die Strecke auf Autopilot zurücklegen. Was müßt ihr bei der Fliegerei denn machen?« Das paßte dem Copiloten ganz und gar nicht. »Gehen Sie nach hinten und setzen Sie sich«, sagte er, »oder ich bringe Sie zurück und kette Sie mit den Handschellen fest!« »Ich will hier keinen Ärger machen«, erklärte ich. »Niemand hat uns gesagt, was hier passiert. Haben wir nicht das Recht zu erfahren, wohin wir gebracht werden?« Der Copilot wandte mir wieder den Rücken zu. »Sie und der Alte haben einen armen Kerl umgebracht. Sie haben kein Recht auf gar nichts.« »Phantastisch«, murmelte ich und machte mich auf den Weg zurück zur Bank. Papas Blick erwiderte ich mit einem Kopfschütteln. Er war zerzaust und über und über voll Dreck. Und er hatte seinen Fez verloren, als al-Bishah ihm eins auf den Hinterkopf versetzte. Auf dem Flug hatte er jedoch seine Fassung größtenteils wiedergewonnen und schien jetzt wieder ganz Herr seiner selbst zu sein. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, daß wir bald einen möglichst klaren Kopf brauchen würden. Fünfzehn Minuten später spürte ich, wie der Chopper zur Landung ansetzte. Ich blickte zum Bullauge hinaus und sah, daß wir nicht mehr an Raum gewannen, sondern über rotbraunen Sanddünen schwebten, die sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckten. Ein langes Surren war zu hören und dann ging über der Luke ein grünes Licht an. Papa berührte mich am Arm, ich wandte mich ihm zu, konnte ihm aber auch nicht sagen, was hier vorging.
Der Copilot schnallte sich ab, stand vorsichtig auf und ging ebenso vorsichtig durch den Laderaum auf uns zu. »Wir sind angekommen«, sagte er. »Was meinen Sie mit: ›Wir sind angekommen‹? Da unten ist nichts außer Sand. Da gibt es keinen Baum und keinen Strauch.« Das berührte den Copiloten nicht. »Soviel ich weiß, sollen wir sie hier den Bayt Tabiti übergeben.« »Was sind die Bayt Tabiti?« Der Copilot grinste hinterhältig. »Stamm der Badawi«, erklärte er. »Die anderen Stämme nennen sie die Leoparden der Wüste.« Ist wohl so, dachte ich. »Was haben diese Bayt Tabiti mit uns vor?« »Ich nehme nicht an, daß sie euch wie lang vermißte Brüder in die Arme schließen werden. Ich rate euch, sie möglichst schnell auf eure Seite zu bringen.« Mir gefiel das alles ganz und gar nicht, aber was hätte ich tun können? »Sie werden also einfach mit dem Chopper runtergehen und uns in die Wüste rauswerfen?« Der Copilot schüttelte den Kopf. »Nee«, sagte er, »den Teufel werden wir runtergehen. Der Chopper hat keine Sandfilter.« Er zog den Öffnungshebel hoch und schob die Luke zur Seite. Ich sah auf die Wüste hinunter. »Das sind sieben Meter bis unten!« rief ich. »Nicht mehr lange«, sagte der Copilot. Er hob den Fuß und stieß mich raus. Ich fiel in den warmen Sand, wobei ich den Aufprall durch Abrollen aufzufangen suchte. Ich hatte Glück, daß ich mir nicht beide Beine brach. Der Chopper wirbelte mir
stechenden Sand ins Gesicht. Ich bekam kaum Luft. Ich überlegte, ob ich die Keffiya zu dem Zweck einsetzen sollte, zu dem sie gedacht war: als Nasen- und Mundschutz vor dem künstlichen Sandsturm. Bevor ich sie zurecht drapiert hatte, sah ich, wie der Copilot Friedlander Bei aus der Luke stieß. Ich bemühte mich so gut ich konnte, Papas Sturz abzufangen und auch er kam einigermaßen glimpflich davon. »Das ist Mord!« brüllte ich hoch zum Chopper. »Hier draußen können wir nicht überleben!« Der Copilot hob die Hände. »Die Bayt Tabiti sind auf dem Weg hierher. Das da reicht euch, bis sie da sind.« Er warf zwei große Kanister herunter. Damit sah er seine Pflichten uns gegenüber für erfüllt an und knallte die Luke zu. Einen Augenblick später machte der Düsenchopper eine Kehrtwendung und flog zurück, woher er gekommen war. Papa und ich waren allein inmitten der Arabischen Wüste. Ich hob die beiden Kanister auf und schüttelte sie. Das Blubbern klang vertrauenerweckend. Ich fragte mich, wie viele Tage sie uns wohl am Leben erhalten würden. Dann ging ich zu Friedlander Bei. Er saß in der Morgensonne und rieb sich die Schulter. »Ich kann gehen, mein Neffe«, versuchte er mich zu beruhigen. »Das werden wir wohl müssen, o Scheich.« Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was als nächstes zu tun war. Ich wußte weder, wo wir uns befanden, noch, in welche Richtung wir mußten. »Beten wir zuerst zu Allah und bitten wir ihn, uns zu führen«, sagte er. Meiner Meinung nach sprach nichts dagegen. Papa entschied, daß dies eindeutig eine Notlage war, wir uns
also nicht mit unserem wertvollen Wasser vor dem Gebet reinigen mußten. In einer solchen Situation ist es gestattet, dafür sauberen Sand zu verwenden. Wovon wir genug hatten. Er zog die Schuhe aus und ich meine Sandalen und wir bereiteten uns vor, nach den Regeln des Koran die Nähe Gottes zu suchen. Die Himmelsrichtung legte Papa mit Hilfe der aufgehenden Sonne fest. Er wandte sich nach Mekka. Ich stand neben ihm, und wir widmeten uns der vertrauten Poesie des Gebets. Als wir fertig waren, zitierte Papa noch eine weitere Passage aus dem Koran, einen Vers aus der zweiten Sure, der die Zeile enthält »Wer euch feindselig angreift, dem vergeltet auf ähnliche Weise.« »Gelobt sei Allah, der Herrscher der Welten«, murmelte ich. »Gott ist der Größte«, sagte Papa. Und nun war es an der Zeit, uns darum zu kümmern, unser Leben zu retten. »Wir sollten das wohl gründlich durchdenken«, sagte ich. »In der Wildnis ist Durchdenken nicht angebracht«, entgegnete Papa. »Wir können uns weder Essen noch Wasser, noch Schutz herbeidenken.« »Wir haben Wasser.« Ich reichte ihm einen der beiden Kanister. Er öffnete ihn und nahm einen Mundvoll, dann schloß er ihn wieder und schulterte ihn. »Wir haben etwas Wasser. Ob wir genug Wasser haben, werden wir sehen.« »Ich habe gehört, selbst in der trockensten Wüste sei im Untergrund Wasser.« Wahrscheinlich redete ich nur, um ihn bei Laune zu halten – oder mich selbst.
Papa lachte. »Du denkst an die Märchen, die dir deine Mutter erzählte, vom tapferen Prinzen, der sich in den Dünen verirrte, und der Quelle, die am Fuße eines riesigen Berges aus Sand entsprang. Im echten Leben geschieht so etwas nicht, mein Liebling, dein unschuldiger Glaube wird uns nicht weiterhelfen.« Mir war klar, daß er recht hatte. Ich fragte mich, ob er als junger Mann Erfahrungen mit dem Überleben in der Wüste gesammelt hatte. Es gab viele Jahrzehnte seines frühen Lebens, über die er nie sprach. Mir schien es in jedem Fall das Beste, mich seiner Weisheit anzuvertrauen. Ich dachte mir, wenn ich eine Weile den Mund hielte, würde ich vielleicht nicht sterben. Und möglicherweise etwas lernen. Das war auch in Ordnung. »Was sollen wir tun, o Scheich?« fragte ich. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und sah sich um. »Wir sind irgendwo im südöstlichen Teil der Arabischen Wüste«, sagte er, »der Rub Al Khali.« Der Weiten Ödnis. Das klang nicht vielversprechend. »Wie heißt die nächste Stadt?« fragte ich. Papa lächelte kurz. »In der Rub Al Khali gibt es keine Städte, nur eine halbe Million Quadratkilometer Sand und Ödnis. Natürlich sind kleine Nomadengruppen unterwegs, die von einem Brunnen zum anderen über die Dünen wandern und nach Weideland für ihre Kamele und Ziegen suchen. Wenn wir einen Brunnen zu finden hoffen, müssen wir das Glück haben, auf einen dieser Bedu-Clans zu stoßen.« »Und wenn wir dieses Glück nicht haben?« Papa schlug auf den Kanister. »Hier sind vier Liter Wasser für jeden von uns. Wenn wir uns das Wasser sorgfältig eintei-
len, nur in der Kühle der Nacht wandern und dabei die größtmögliche Strecke zurücklegen, überleben wir vielleicht vier Tage.« Das übertraf selbst meine pessimistischsten Vorstellungen. Ich hatte vor Jahren über diese Gegend gelesen, als Junge in Algier. Damals war mir die Beschreibung arg übertrieben erschienen. Zum einen, weil danach die Rub Al Khali rauher als die Sahara gewesen wäre, die vor unserer Tür lag, und ich mir nicht vorstellen konnte, daß es auf der Welt etwas noch Verlasseneres als die Sahara gab. Offensichtlich hatte ich mich geirrt. Ich erinnerte mich auch daran, daß ein Reisender aus dem Westen in seinen Memoiren einmal geschrieben hatte, die Rub Al Khali sei: Der Große falsche Ort.
4. Kapitel
Es gibt Geographen, nach deren Meinung die Arabische Wüste eine Erweiterung der Sahara ist. Die Arabische Halbinsel besteht zum Großteil aus unbewohntem Ödland. Bevölkert sind nur die Gebiete am Mittelmeer, dem Roten Meer, dem Arabischen Meer und dem Arabischen Golf – so nennen wir, was die anderen den Persischen Golf nennen – und dem fruchtbaren Halbmond des alten Mesopotamiens. Die Sahara ist den Ausmaßen nach größer, aber in der Arabischen Wüste gibt es wesentlich mehr Sand. Als Junge stellte ich mir die Sahara immer als glühendheiße, endlose leere Sandlandschaft vor, was mit der Wirklichkeit ziemlich wenig zu tun hat. Die Sahara besteht hauptsächlich aus Felsplateaus, trockenen Steinwüsten und windumtosten Gebirgen. Sand bedeckt nur etwa zehn Prozent der gesamten Wüste. In dem Teil der Arabischen Wüste, der Rub Al Khali genannt wird, beträgt dieser Anteil immerhin dreißig Prozent. Was mich anging, hätte er von einem Ende zum anderen auch nur aus Sand bestehen können. Was für einen Unterschied machte das schon? Ich kniff die Augen zusammen und sah hoch. Der Himmel war so hell, daß es schmerzte. Einer der unbedeutenden Vorteile, den es bot, in dieser tödlichen Wüste herumzuirren, war, daß es hier sogar für Geier zu tödlich war. So blieb mir der Anblick dieser Leichenfresser erspart, wie sie geduldig über einem kreisen und darauf warten, daß man endlich die Höflichkeit
besitzt abzukratzen. Ich war ziemlich entschlossen, nicht zu sterben. Ich hatte noch nicht mit Friedlander Bei darüber gesprochen, war mir aber ziemlich sicher, daß es ihm genauso ging. Wir saßen auf der leewärts gerichteten Seite einer hohen, windschlüpfrigen Düne. Nach meinem Dafürhalten hatte es bereits mindestens 40 Grad (ha! – im Schatten). Die Sonne stand schon ziemlich hoch, aber es war noch immer nicht Mittag – es würde noch heißer werden. »Trinke dein Wasser, wenn du Durst hast, mein Neffe«, erklärte mir Papa. »Ich habe Männer schon an Flüssigkeitsverlust sterben sehen, nur weil sie zu sehr mit ihrem Wasser knauserten. Nicht ausreichend zu trinken ist wie Wasser zu verschütten. In dieser Hitze braucht man vier Liter am Tag. Die Hälfte oder dreiviertel davon reichen nicht, um einen am Leben zu erhalten.« »Wir haben nur vier Liter für jeden, o Scheich.« »Wenn die verbraucht sind, müssen wir neues Wasser finden. Vielleicht stoßen wir auf einen Pfad, inshallah. Sogar im Herzen der Rub Al Khali gibt es Pfade. Und diese führen von Wasserloch zu Wasserloch. Falls wir auf keinen solchen Pfad stoßen, müssen wir beten, daß der letzte Regen hier noch nicht zu lange zurückliegt. Manchmal findet man feuchten Sand in der Senke unter der steilen Dünenseite.« Ich hatte keine Eile, meine Fähigkeiten als Wüstenscout zu erproben. Das Gerede über Wasser hatte mich nur noch durstiger gemacht. Ich schraubte also den Deckel meines Kanisters auf. »Im Namen Allahs, des gnädigen Erbarmers«, sagte ich und trank reichlich. Ich kannte Hologramme, in denen arabische
Nomaden zu sehen waren, die im Sand unter Zelten Schatten suchten, die sie sich mit Hilfe von ihren Keffiyas und ein paar Stecken gebastelt hatten. In dieser Gegend gab es noch nicht einmal Stecken. Der Wind änderte die Richtung und wehte uns einen Schleier feinen Sandes ins Gesicht. Ich folgte Friedlander Beis Beispiel und legte mich auf die Seite, den Rücken dem Wind zugewandt. Nach ein paar Minuten setzte ich mich auf, nahm meine Keffiya ab und gab sie ihm. Er nahm sie, ohne ein Wort zu sagen, aber in seinen rotgeränderten Augen konnte ich sehen, wie dankbar er war. Er bedeckte sich damit den Kopf und das Gesicht und legte sich zurück, um das Ende des Sandsturms abzuwarten. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich den Elementen so hilflos ausgeliefert gefühlt. »Vielleicht träume ich nur.« Vielleicht würde ich gleich in meinem Bett aufwachen und mein Sklave, Kmuzu, würde mir eine Tasse schöner heißer Schokolade bringen. Doch die glühendheiße Sonne fühlte sich zu echt an, mein Kopf schien zu brennen und der Sand fand seinen Weg in meine Ohren, Augen, Nasenlöcher und zwischen meine Lippen – was sich ganz und gar nicht nach Traum anfühlte. Während ich diesen Plagen nachhing, nahte schon Ablenkung: mir erstarrte beinahe das Blut in den Adern, als ich die Schreie einer kleinen Gruppe von Männern vernahm, die über den Dünenkamm auf uns zuritten. Sie stiegen von ihren Kamelen ab und liefen zu uns herunter, wobei sie wild mit ihren Gewehren und Messern fuchtelten. Das war die schmutzigste, übelste Bande von Schurken, die ich je gesehen hatte. Neben ihnen nahm sich der schlimmste Abschaum des Budayin aus wie Gentlemen und Absolventen einer Eliteuniversität.
Das waren dann wohl die Bayt Tabiti. Die ›Leoparden der Wüste‹. Ihr Anführer war ein hochgewachsener, dürrer Kerl mit langen, strähnigen Haaren. Er schwang sein Gewehr drohend und brüllte zu uns herüber. Dabei konnte ich erkennen, daß er auf der rechten Seite oben zwei braune Zahnstümpfe hatte und links unten zwei Zähne abgebrochen waren. Wahrscheinlich hatte er seit Jahren nicht mehr ordentlich zubeißen können. Und gebadet hatte er in dieser Zeit auch nicht. Und er war der Typ, der unser Leben in der Hand hatte. Ich warf Friedlander Bei einen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Nur für den Fall, daß den Bayt Tabiti danach war, uns die Kehle aufzuschlitzen, statt uns zu einer Wasserquelle zu bringen, rappelte ich mich hoch und zog meinen Zierdolch. Dabei glaubte ich nicht wirklich, daß er uns gegen die Gewehre der Bedu viel nutzen würde, aber mehr hatte ich nicht. Der Anführer trat auf mich zu, streckte die Hand aus und befingerte meinen teuren Umhang. Er drehte sich zu seinen Kumpanen um und sagte etwas, worauf alle sechs in schallendes Gelächter ausbrachen. Ich wartete ab. Er blickte mir ins Gesicht und runzelte die Stirn. Dann schlug er sich an die Brust und stellte sich vor: »Mohammed Musallim bin Ali bin as-Sultan.« Als ob mir sein Name etwas sagen würde. Ich tat so, als sei ich beeindruckt, schlug mir ebenfalls an die Brust und griff auf den Beinamen zurück, den mir die armen Fellahîn der Stadt gegeben hatten: »Marîd al-Amîn.« Das bedeutete soviel wie ›der Vertrauenswürdige‹. Mohammed bekam ganz große Augen. Er wandte sich zu seinen Kumpeln um und wiederholte ehrfurchtsvoll: »Al-
Amîn.« Worauf er sich vor Lachen den Bauch halten mußte. Ein weiterer Bayt Tabiti ging zu Friedlander Bei und sah auf den alten Mann hinunter. »Asch Scheich«, sagte ich, damit die stinkenden Nomaden kapierten, daß Papa ein bedeutender Mann war. Mohammeds Augen wanderten schnell von mir zu Papa und wieder zurück. Er stieß ein paar Worte in diesem rätselhaften Dialekt hervor, worauf der andere Papa allein ließ und wieder zu seinem Kamel zurückging. Mohammed und ich verbrachten geraume Zeit damit, uns gegenseitig unsere Fragen zu beantworten, aber der starke Dialekt der Bayt Tabiti erschwerte unsere Kommunikation beträchtlich. Doch nach einiger Zeit konnten wir uns einigermaßen verständigen. Es stellte sich heraus, daß die Bayt Tabiti von ihrem Stammesfürsten den Befehl erhalten hatten, uns zu suchen. Mohammed wußte nicht genau, woher sein Scheich von uns erfahren hatte, aber wir waren schließlich da, wo sie uns erwartet hatten, und sie hatten den Militärchopper bereits von weitem gesehen und gehört. Ich sah zu, wie zwei der verdreckten Kerle Friedlander Bei auf die Füße zerrten und zu einem der Kamele führten. Der Besitzer des Kamels schlug mit einem Stock gegen die Vorderbeine des Tieres, wobei er ein Geräusch machte wie »Khirr, khirr!« Dem Kamel schien das nicht zu behagen, es schnarrte und machte keine Anstalten, sich hinzuknien. Papa sagte etwas zu dem Bayt Tabiti, der die Führungsleine des Tieres packte und nach unten zog. Papa setzte einen Fuß auf den Nacken des Kamels, und es hob ihn hoch, wodurch er in den Sattel klettern konnte. Offensichtlich machte er das nicht zum erstenmal. Ich dage-
gen war noch nie in meinem Leben auf einem Kamel geritten und hatte nicht das geringste Bedürfnis, jetzt damit anzufangen. »Ich werde gehen«, erklärte ich. »Bitte, junger Scheich«, antwortete Mohammed und grinste dabei durch sein spärliches Gebiß, »Allah wird uns für ungastlich halten.« Ich glaubte nicht, daß Allah sich falsche Vorstellungen über die Bayt Tabiti machte. »Ich werde gehen«, wiederholte ich. Mohammed zuckte die Achseln und kletterte auf sein Kamel. Die Gruppe machte sich auf den Weg um die Düne. Der Bedu, der Papa sein Kamel abgegeben hatte, und ich liefen zu Fuß. »Kommt mit uns!« rief der Anführer. »Bei uns gibt es zu essen, bei uns gibt es Wasser zu trinken! Wir bringen euch in unser Lager!« Ich bezweifelte nicht, daß sie auf dem Weg zurück ins Lager waren, aber ich hegte arge Zweifel, ob Papa und ich dort lebend ankommen würden. Der Bedu, der neben mir ging, muß meine Gedanken geahnte haben, denn er wandte sich mir zu und zwinkerte mir zu. »Vertraut uns«, sagte er mit einem berechnenden Gesichtsausdruck. »Ihr seid jetzt sicher.« Darauf kannst du wetten, dachte ich. Uns blieb nichts übrig, als mit ihnen zu gehen. Was mit uns im Hauptlager der Bayt Tabiti geschehen würde, war in der Hand Gottes. Mehrere Stunden lang zogen wir nach Süden. Als ich schließlich am Rande der Erschöpfung und mein Kanister leer war, ließ uns Mohammed anhalten. »Wir übernachten hier«, erklärte er und deutete auf eine schmale Senke zwischen zwei zusammenlaufenden Sanddünen.
Ich war froh, daß die Anstrengungen des Tages ein Ende hatten, aber als ich mich neben Papa niederließ und zusah, wie sich die Bedu um ihre Tiere kümmerten, kam mir der Gedanke, es sei doch irgendwie merkwürdig, daß sie nicht versuchten, ihren Stamm vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Ihr Scheich hatte sie ausgeschickt, uns zu suchen, und sie waren nur ein paar Stunden später angekommen, nachdem man uns aus dem Chopper geworfen hatte. Das Hauptlager der Bayt Tabiti konnte also nicht allzu weit entfernt sein. Sie verrichteten ihre Aufgaben und dabei wisperten sie untereinander und deuteten auf uns, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Ich ging zu ihnen hinüber und bot ihnen an, beim Abladen der Kamele zu helfen. »Nein, nein«, wehrte Mohammed ab und verstellte mir den Weg, »ruht euch nur aus! Das können wir schon selbst erledigen.« Irgend etwas stimmte hier nicht. Und Friedlander Bei spürte das auch. »Ich mag diese Männer nicht«, flüsterte er mir zu. Wir sahen einem der Bedu dabei zu, wie er mit den Händen Datteln in hölzerne Schalen schaufelte. Ein anderer kochte das Wasser für den Kaffee. Mohammed und die übrigen banden den Kamelen die Vorderbeine zusammen. Papa lachte trocken, »Laß dir von diesen Dummköpfen nicht vorgaukeln, daß wir ihre widerwillige Bewunderung errungen hätten. Sieh dir nur den dort drüben an, der die Datteln aufteilt. Du kannst gewiß sein, daß ihre Kamele mit weitaus Besserem als diesem Zeug beladen sind. Diese Bayt Tabiti sind zu geizig, es mit uns zu teilen. Sie werden so tun, als hätte sie nichts Besseres zu essen, als diese alten, steinharten Datteln. Später, wenn wir weg sind, werden sie besser essen.«
»Nachdem wir weg sind?« »Ich glaube nicht, daß hier im Umkreis einer Tagesreise ein größeres Lager zu erreichen ist. Und genauso wenig glaube ich, daß die Bayt Tabiti uns ihre Gastfreundschaft noch recht viel länger angedeihen lassen wollen.« Ich fröstelte, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen und die Hitze des Tages noch nicht verschwunden war. »Habt Ihr Angst, o Scheich?« Er spitzte den Mund und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Angst vor diesen Kreaturen, mein Neffe. Ich bin auf der Hut – ich denke, es wäre von Vorteil, stets zu wissen, was sie gerade vorhaben. Diese Männer sind nicht klug, aber sie sind im Vorteil, weil sie mehr sind und das Gelände kennen.« Unser Gespräch wurde unterbrochen, als der Bedu, den wir die ganze Zeit über im Auge gehabt hatten, zu uns herüberkam und jedem von uns eine Schale ekelhaft schmeckender Datteln und dünnen Kaffee in einer schmutzigen Porzellantasse anbot. »Das ist alles, was wir an Vorräten haben«, erklärte mit ausdrucksloser Stimme, »doch wir würden uns sehr geehrt fühlen, wenn Ihr dies mit uns teilen würdet.« »Eure Großzügigkeit ist ein Geschenk Allahs«, entgegnete Friedlander Bei. Er nahm eine Schale Datteln und eine Tasse Kaffee. »Ich sehe mich außerstande, meine Dankbarkeit in Worten auszudrücken«, sagte ich und nahm mein Abendessen entgegen. Der Bedu grinste, und ich konnte erkennen, daß seine Zähne genauso schlecht waren wie die Mohammeds. »Nichts zu danken, o Scheich«, antwortete er. »Gastfreundschaft ist eine
Pflicht. Ihr müßt mit uns ziehen, dann werdet ihr unsere Sitten kennenlernen. Wie das Sprichwort sagt: ›Wer vierzig Tage mit einem Stamm lebt, wird einer von ihnen!‹« Eine alptraumhafte Vorstellung, mit den Bayt Tabiti zu ziehen und einer von ihnen zu werden! »Salam aleikum«, sagte Papa. »Alaikum as-salam«, antwortete der Bedu. Dann brachte er seinen Kumpanen mit Datteln gefüllte Schalen. »Im Namen Allahs, des gnädigen Erbarmers«, murmelte ich, bevor ich mir die erste Dattel in den Mund steckte. Wo sie nicht lange blieb. Erstens war sie völlig mit Sand überzogen und zweitens war sie so hart, daß man sich daran die Zähne ausbeißen konnte. Ich fragte mich, ob diese Datteln schuld waren an den verrotteten Zähnen der Bayt Tabiti. Drittens schmeckte diese Frucht, als hätte man sie wochenlang unter einem toten Kamel vor sich hin schimmeln lassen. Es würgte mich, als ich das Ding ausspuckte, und ich mußte mir den Geschmack mit dem sandigen Kaffee hinunterspülen. Friedlander Bei steckte sich eine Dattel in den Mund, und ich sah ihm zu, wie er sich Mühe gab, sie zu kauen, ohne Grimassen zu schneiden. »Essen ist Essen, mein Neffe«, sagte er. »In der Weiten Ödnis kann man es sich nicht erlauben, anspruchsvoll zu sein.« Er hatte natürlich recht. Bei der nächsten Dattel versuchte ich, so gut es ging, den Sand wegzuwischen, bevor ich sie aß. Nach ein paar Datteln hatte ich mich an den verdorbenen Geschmack zu gewöhnen. Ich dachte nur daran, bei Kräften zu bleiben. Als die Sonne hinter dem Rand einer Düne unterging, zog
Friedlander Bei die Schuhe aus und stand langsam auf. Mit meiner Keffiya fegte er den Sand vor sich glatt. Anscheinend bereitete er sich zum Gebet vor. Er öffnete seinen Kanister und befeuchtete seine Hände. Weil mein Kanister leer war, stellte ich mich neben ihn und streckte die Hände mit den Handflächen nach oben aus. »Allah yisallimak, mein Neffe«, sagte Papa. Gott segne dich. Während ich die Waschungen durchführte, sagte ich den rituellen Spruch auf: »Ich wasche mich, um mich selbst von der Unreinheit zu befreien und mich für die Nähe zu Gott vorzubereiten.« Wieder leitete mich Papa beim Gebet an. Als wir fertig waren, war die Sonne verschwunden und die Nacht über die Wüste hereingebrochen. Ich stellte mir vor, ich könne bereits fühlen, wie die Hitze aus dem Sand wich. Die Nacht würde kalt werden, und wir hatten keine Decken. Ich beschloß, mal zu sehen, wie weit die falsche Gastfreundschaft der Bayt Tabiti ging, und ging hinüber zu ihrem kleinen Feuer aus getrocknetem Kameldung, an dem die sechs Ganoven saßen und plauderten. »Ihr betet zu Allah«, empfing mich Mohammed mit einem sarkastischen Grinsen. »Ihr seid gute Menschen. Wir sind auch fürs Beten, vergessen es aber manchmal.« Seine Stammesbrüder kicherten über seine Gewitztheit. Ich kümmerte mich nicht darum. »Wir brauchen Wasser für morgen, o Scheich«, erklärte ich. Man hätte das wohl auch höflicher sagen können. Mohammed dachte einen Augenblick lang darüber nach. Er konnte schlecht ablehnen, aber er war auch nicht glücklich
darüber, etwas von seinen Vorräten abgeben zu müssen. Er lehnte sich zu dem Bedu neben ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der stand auf, holte einen Ziegenbeutel mit Wasser, den er mir gab. »Hier, mein Bruder«, sagte er ausdruckslos. »Möge es Euch Freude bereiten.« »Wir stehen in Euer Schuld«, sagte ich. »Wir füllen unsere Kanister und anschließend bringe ich Euch das restliche Wasser zurück.« Der Bayt Tabiti nickte, streckte die Hand aus und berührte eine meiner corymbischen Implantationen. »Mein Cousin möchte wissen, was das ist«, fragte er. Ich zuckte die Achseln. »Sag deinem Cousin, ich höre gern Radiomusik.« »Ah«, sagte der Bedu. Keine Ahnung, ob er mir glaubte. Er begleitete mich, als ich meinen und Papas Kanister auffüllte. Anschließend nahm er den Ziegenlederbeutel und kehrte zu seinen Kumpanen zurück. »Die Schweinehunde haben uns nicht einmal eingeladen, an ihrem Feuer zu sitzen«, sagte ich und setzte mich neben Papa in den Sand. Er winkte nur ab. »Das bedeutet nichts, mein Neffe. Ich muß jetzt schlafen. Es wäre gut, wenn du wach bliebest und Wache hieltest.« »Selbstverständlich, o Scheich.« Papa machte es sich auf dem harten Wüstensand so bequem wie möglich. Ich blieb noch etwas sitzen und hing meinen Gedanken nach. Ich erinnerte mich daran, was Papa über Rache gesagt hatte und zog das Blatt Papier aus meiner Gallebeya-Tasche, das mir der Qadi gegeben hatten. Es enthielt eine Kopie der Anklagen, die man gegen
Friedlander Bei und mich erhoben hatte, das Urteil und den Auftrag, uns zu deportieren. Unterschrieben war es von Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq, dem Imam der Shimaal-Moschee und Berater des Emirs in Fragen der Auslegung der Scharia, des religiösen Gesetzes. Ich war froh, daß Scheich Mahali offensichtlich nichts mit unserer Entführung zu tun hatte. Da die Bayt Tabiti mich nicht aus den Augen ließen und sich nicht zur Ruhe begeben würden, bevor ich mich hinlegte, beschloß ich schließlich, so zu tun, als würde ich schlafen. Ich legte mich nicht allzuweit von Friedlander Bei in den Sand, schloß aber nicht die Augen. Trotz meiner Müdigkeit bemühte ich mich, wach zu bleiben. Anderenfalls würde ich vielleicht nie mehr aufwachen. In etwa hundert Metern Entfernung war die sanft geschwungene Kurve einer Düne zu sehen. Diesem wohl fünfzig Meter hohen Sandhügel hatte der Wind eine elegante Wellenform verliehen. Auf dem Dünenkamm entdeckte ich eine hochgewachsene Zeder. Mir war klar, daß diese Fata Morgana ein Blendwerk meiner Müdigkeit war – oder vielleicht träumte ich bereits. Ich fragte mich, wie die Zeder an diesem wasserlosen Ort gedeihen konnte. Die einzige Möglichkeit war, daß jemand sie pflegte. Irgend jemand mußte den Plan gefaßt haben, hier eine Zeder zu pflanzen, und sehr hart gearbeitet haben, damit sie so überlebt hatte und so groß geworden war. Ich öffnete die Augen und erkannte, daß da oben auf der Düne keine Zeder war. Vielleicht hatte mir Allah eine Vision geschickt. Vielleicht wollte Gott mir sagen, daß ich Pläne schmieden und sehr hart für ihre Verwirklichung arbeiten
mußte. Jetzt war nicht die Zeit, sich auszuruhen. Ich hob leicht den Kopf und sah, daß sich die Bayt Tabiti neben das Feuer gelegt hatten, von dem nur etwas schwach glühende Asche übriggeblieben war. Einer der Bedu war zum Wachehalten abkommandiert worden, doch er saß mit zurückgeworfenem Kopf und offenem Mund gegen eine Sandwand gelehnt am Boden. Sein Gewehr lag neben ihm. Meines Erachtens schliefen alle sechs fest. Dennoch rührte ich mich nicht von der Stelle. Eine ganze Stunde lang lag ich nur da und sah zu, wie eine Sekunde nach der anderen auf meiner Uhr aufleuchtete und verging. Als ich sicher war, daß die Bayt Tabiti tief und fest schliefen, setzte ich mich auf und berührte Friedlander Bei an der Schulter. Er wachte auf, ohne ein Geräusch zu machen. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir nahmen unsere Kanister und standen so leise auf, wie wir konnten. Ich rang kurz damit, ob ich etwas zu essen und das Gewehr stehlen sollte, aber letztendlich wußte ich, daß es der reine Selbstmord wäre, den Kamelen oder den schlafenden Bedu nahezukommen. Statt dessen stahlen Papa und ich uns in die Nacht davon. Wir marschierten lange Zeit nach Westen, bevor einer etwas sagte. »Werden sie uns folgen, wenn sie merken, daß wir weg sind?« fragte ich. Papa runzelte die Stirn. »Das kann ich nicht sagen, mein Neffe. Vielleicht lassen sie uns einfach gehen. Sie sind sich sicher, daß wir ohnehin in der Wüste den Tod finden.« Dazu konnte ich nicht viel sagen. Von nun an konzentrierten wir uns darauf, eine möglichst große Wegstrecke zwischen uns und die Bayt Tabiti zu bringen. Dazu bewegten wir uns im
rechten Winkel zu der Route, die wir tagsüber mit ihnen zurückgelegt hatten. Ich betete darum, daß wir, sollten wir in der Nacht auf einen Wüstenpfad stoßen, diesen auch sehen würden. Das war unsere einzige Hoffnung, eine Wasserstelle zu finden. Wir richteten uns nach den Sternen und stapften zwei Stunden lang nach Westen, bis Papa erklärte, er bräuchte eine Pause. Wir waren über die Dünen gezogen, die, entsprechend der vorherrschenden Windrichtung, von Osten nach Westen verliefen. Auf der Westseite stiegen die Dünen jeweils sanft an, aber die Ostseite, die wir hochklettern mußten, war in der Regel sehr steil. Daher gingen wir lange Umwege und versuchten, die Dünen an ihren Ausläufern zu überqueren. So kamen wir nur langsam und mühsam auf einer Zickzackroute vorwärts. Auf diese Weise legten wir keine größere Strecke zurück als die Sandhühner. Wir saßen nach Luft schnappend am Fuß einer dieser monströsen Sandklippen. Ich schraubte meinen Kanister auf und nahm einen Mundvoll, bevor ich merkte, wie bitter und alkalisch es schmeckte. »Gepriesen sei Allah«, stöhnte ich, »wir können uns glücklich schätzen, wenn uns dieses Wasser nicht umbringt, bevor die Sonne es tut.« Auch Papa trank seinen Teil. »Das ist kein gutes Wasser, mein Neffe«, erklärte er, »aber in der Wüste gibt es nur selten gutes Wasser. Dieses Wasser trinken die Bedu fast jeden Tag.« Mir war bekannt, daß die Nomaden ein hartes, verzweifeltes Leben führten, aber erst langsam begann ich zu verstehen, daß ich ihre Fähigkeit, diesem rauhen Lebensraum überhaupt alles zum Überleben Notwendige abzutrotzen, unterschätzt hatte. »Warum gehen sie nicht einfach woanders hin?« fragte ich,
während ich meinen Kanister wieder zuschraubte. Papa lächelte. »Sie sind stolze Menschen. Es erfüllt sie mit Genugtuung, an einem Ort überleben zu können, der für andere den sicheren Tod bedeutet. Sie verachten die Dekadenz und den verweichlichenden Luxus der Dörfer und Städte.« »Ja, Ihr habt recht. Verweichlichenden Luxus wie frisches Wasser und herzhaftes Essen.« Wir standen auf und zogen weiter. Es war jetzt ungefähr Mitternacht. Der Weg über die Dünen wurde nicht einfacher und bald war wieder Papas schweres Atmen zu vernehmen. Ich machte mir Sorgen über den Gesundheitszustand des alten Herrn. Ich selbst spürte schon, wie mein Körper gegen diese ungewohnte Leibesübung zu protestieren begann. Die Sterne über uns drehten sich langsam, und als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, war es bereits halb zwei. Vielleicht hatten wir eine weitere Meile zurückgelegt. Papa vermutete, daß die Rub Al Khali sich vierhundertfünfzig Kilometer von Osten nach Westen und hundertachtzig Kilometer von Norden nach Süden erstreckte. Mir schien es wahrscheinlich, daß uns der Militärchopper mittendrin abgesetzt hatte. Wenn wir also großzügig von anderthalb Kilometern pro Stunde und acht Marschstunden pro Nacht ausgingen, würden wir in, ach, nicht einmal siebenundvierzig Tagen den Rand der Rub Al Khali erreichen. Dazu brauchten wir natürlich noch eine riesige Karawane, die uns mit dem nötigen Nachschub versorgte. Wir machten noch einmal Pause, tranken von dem bitteren Wasser und schleppten uns mit letzter Kraft weiter durch die Nacht. Zum Sprechen waren wir beide zu erschöpft. Ich hatte
den Kopf gesenkt, um möglichst wenig Sand ins Gesicht geblasen zu bekommen, und setzte einfach einen Fuß vor den anderen. Ich sagte mir, wenn Friedlander Bei es schaffte, sich vorwärts zu schleppen, schaffte ich es auch. Um etwa vier Uhr waren wir am Ende und brachen völlig erschöpft zusammen. Die Sonne würde erst in etwa einer Stunde aufgehen, aber noch weiterzugehen in dieser Nacht stand außer Frage. Wir machten halt unter einem gigantischen Dünenabhang, der uns etwas vor dem Wind schützen würde. Hier tranken wir soviel Wasser, wie wir konnten, und bereiteten uns zum Schlafen vor. Ich zog meinen schönen blauen Umhang aus und deckte Papa damit zu. Dann rollte ich mich in meiner Gallebeya wie ein Kind im Mutterleib zusammen und schlief ein. Es war ein kalter, unruhiger Schlaf. Ständig wachte ich auf, gequält von wirren Alpträumen. Nach einer Weile merkte ich, daß die Sonne aufgegangen war. Ich wußte, am besten war es, den größten Teil des heißen Tages durchzuschlafen. Ich zog die Gallebeya über den Kopf, um ihn vor der Sonne zu schützen. Dann tat ich so, als wäre alles bestens und schloß die Augen. Es war etwa zehn Uhr, als mir klar wurde, daß ich nicht mehr länger schlafen konnte. Die Sonne stach herunter und ich spürte die Stellen, die ihr ausgesetzt gewesen waren. Auch Friedlander Bei wachte auf – er machte keinen ausgeruhteren Eindruck als ich. »Wir müssen jetzt beten«, erklärte er. Seine Stimme klang merkwürdig heiser. Er strich den Sand vor sich mit den Händen glatt und rieb sich das Gesicht und die Hände mit Sand. Ich tat es ihm nach. Zusammen beteten wir, dankten Allah für den
gewährten Schutz und baten darum, uns zu helfen, diese Prüfung zu überleben, wenn dies sein Wille sei. Das gemeinsame Gebet mit Papa erfüllte mich jedesmal mit Frieden und Hoffnung. Irgendwie war mir durch unser Herumirren in dieser Wüste klargeworden, was mir unsere Religion bedeutete. Ich wünschte, es hätte keiner so drastischen Maßnahme bedurft, damit ich meine Beziehung zu Allah verstehen lernte. Als wir fertig waren, tranken wir soviel Wasser wie möglich. Es war nicht mehr viel Wasser übrig, doch wir hielten es nicht für nötig, darüber zu sprechen. »Mein Neffe«, sagte der alte Herr, »ich hielte es für weise, wenn wir uns bis zum Abend in den Sand eingraben würden.« Das hörte sich verrückt an. »Warum?« wollte ich wissen. »Machen wir so nicht einen Lammbraten aus uns?« »Weiter unten ist der Sand kühler als an der Oberfläche«, erklärte er. »So vermeiden wir weitere Hautverbrennungen und Wasserverlust durch Schwitzen.« Wieder einmal war ich eines Besseren belehrt worden. Wir scharrten zwei flache Gruben und bedeckten uns mit Sand. Dabei dachte ich einmal kurz, wie sehr diese Gruben doch einem Grab glichen. Überraschenderweise empfand ich das Liegen darin als angenehm. Der warme Sand wirkte beruhigend auf die Muskulatur, und ich konnte mich zum erstenmal entspannen, seit man uns bei der Einladung des Emirs geschnappt hatte. Nachdem ich eine Weile dem Insektengesumm gelauscht hatte, schlummerte ich sogar ein. Der Tag verstrich langsam. Ich hatte mir die Gallebeya wieder über den Kopf gezogen, konnte also nichts sehen. Es gab
nichts zu tun, als hier im Sand zu liegen, seinen Gedanken nachzuhängen, Pläne zu schmieden und sich seinen Tagträumen hinzugeben. Nach ein paar Stunden stellte ich verblüfft fest, daß ein tiefes, vibrierendes Brummen zu hören war. Ich konnte mir nicht vorstellen, was das sein könnte und dachte zuerst, mir klängen einfach die Ohren. Doch es ging nicht weg, sondern wurde eher lauter. »Hört Ihr das, o Scheich?« rief ich. »Ja, mein Neffe. Es ist nichts.« Inzwischen war ich überzeugt, daß dieses Geheul ein sich nahendes Flugzeug ankündigte. Ob das nun eine gute oder eine schlechte Nachricht war, wußte ich nicht. Das Geräusch wurde immer lauter, bis es beinahe in ein Kreischen übergegangen war. Ich hielt es nicht aus, nichts zu sehen, und streckte die Hände aus dem Sand, um mir die Gallebeya vom Kopf zu ziehen. Es war nichts da. Das Geräusch war inzwischen so laut geworden, daß das Flugzeug über unseren Köpfen hätte auftauchen müssen, aber der Himmel war blau und leer. Plötzlich, als der Wind die Richtung änderte, war es wieder totenstill. Das Geheul klang nicht etwa langsam aus, es verstummte mit einem Schlag. »Was war das?« fragte ich verwirrt. »Das, o Weiser, war die berühmte ›singende Wüste‹. Ein seltenes Phänomen, das zu hören ein Privileg ist.« »Die Wüste heulte so? Es klang wie Maschinenlärm!« »Es heißt, es entsteht, wenn eine Sandschicht über die andere gleitet.« Mit einemmal fühlte ich mich dumm, daß ich wegen des bißchen Gebrumms einer Sanddüne so aus dem Häuschen geraten
war. Papa aber war nicht der Typ, der einen auslachte oder sich über einen lustig machte, und dafür war ich dankbar. Ich grub mich wieder in den Sand ein und nahm mir vor, kein solcher Narr mehr zu sein. Um fünf Uhr tauchten wir aus unseren Sandbetten auf und bereiteten uns für die nächtlichen Strapazen vor. Wir beteten, tranken das brackige Wasser und machten uns auf gen Westen. Nachdem wir eine halbe Stunde marschiert waren, hatte ich einen brillante Idee. Ich holte meine neurale Software heraus und steckte mir einen Anti-Durst-Daddy ein. Sofort fühlte ich mich erfrischt. Das war eine gefährliche Illusion, denn obwohl ich keinen Durst mehr spürte – und nicht mehr spüren würde, solange ich den Daddy drin ließe – verlor mein Körper noch genauso Flüssigkeit. Und doch hatte ich das Gefühl, jetzt länger ohne Wasser auskommen zu können, weshalb ich meinen Kanister Papa gab. »Das kann ich nicht annehmen, mein Neffe«, sagte er. »Sicher könnt Ihr das, o Scheich«, hielt ich entgegen. »Mit diesem Add-on spüre ich solange keine Schmerzen, wie Ihr dank der Kanister. Und wenn wir nicht bald Wasser finden, sterben wir ohnehin beide.« »Das stimmt, mein Liebling, aber …« »Gehen wir weiter, mein Großvater«, unterbrach ich ihn. Die Sonne ging langsam unter und es begann abzukühlen. Etwas später machten wir Pause. Papa leerte einen der Kanister. Dann marschierten wir weiter. Ich spürte, wie ich hungrig wurde. Ich hatte ja auch, abgesehen von den lausigen paar Datteln der Bayt Tabiti, zum letzten Mal vor achtundvierzig Stunden etwas gegessen, im Palast des
Emirs. Glücklicherweise hatte ich auch einen Daddy dabei, der den Hunger abblockte. Ich steckte ihn ein, und das Magenknurren verschwand. Papa mußte völlig ausgehungert sein, doch ich konnte ihm nicht helfen. Ich versuchte an nichts anderes zu denken, als an unseren Marsch durch die Weite Ödnis. Als wir wieder einmal eine Düne überquerten, drehte ich mich um und blickte zurück. Ich bildete mir ein, in dem blassen Mondlicht hinter einer weit entfernten Düne etwas hochwirbeln zu sehen. Ich betete darum, daß es nicht die Bayt Tabiti waren, die uns verfolgten. Als ich es Friedlander Bei zu zeigen versuchte, konnte ich die Staubwolke nicht mehr finden. Vielleicht hatte ich sie mir nur eingebildet. Die weite Wüste war ein hervorragender Nährboden für diese Art Halluzinationen. Nach zwei Stunden mußten wir wieder eine Pause einlegen. Papa sah ausgezehrt und mitgenommen aus. Er öffnete den anderen Kanister und trank ihn leer. Nun hatten wir kein Wasser mehr. Wir blickten uns an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich erklärte Papa mit tonloser Stimme: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Gott.« »Ich bezeuge, daß Mohammed der Prophet Gottes ist«, fügte ich hinzu. Wir standen auf und zogen weiter. Es dauerte nicht lange, und Papa fiel auf die Knie und begann sich zu übergeben. Sein Magen war leer, er würgte also nur. Aber die einzelnen Würgekrämpfe waren lange und heftig. Ich hoffte, er verlor nicht zuviel Wasser. Denn mir war bekannt, daß Übelkeit eines der ersten Anzeichen eines ernsten Flüssigkeitsverlusts war. Nach ein paar Minuten winkte er schwach, um mir zu verstehen zu geben, daß er weitergehen wolle. Von nun an hatte ich noch mehr Angst. Ich hegte keine falschen
Vorstellungen, daß wir uns ohne ein Wunder selbst retten könnten. Starke Muskelkrämpfe begannen mir zu schaffen zu machen und zum dritten Mal kramte ich in meinen Moddys. Ich steckte mir den Schmerzblocker-Daddy ein, wobei mir klar war, daß ich mich in einer ziemlich üblen Verfassung wiederfinden würde, sollte ich lange genug leben, um es jemals wieder herauszunehmen. Wie meine Freundin Chiriga zu sagen pflegt: »Irgendwann wird einem immer die Quittung präsentiert.« Nach Mitternacht und einer weitere Pause merkte ich, daß Papa zu schwanken begann. Ich ging zu ihm und berührte ihn an der Schulter. Er sah mich an, aber sein Blick schien ins Leere zu gehen. »Was ist, mein Sohn?« fragte er. Seine Stimme klang belegt und die Worte waren verwischt. »Wie geht es Euch, o Scheich?« »Ich fühle mich … merkwürdig. Ich bin nicht mehr hungrig, was ein Segen ist, aber ich habe schreckliche Kopfschmerzen. Vor meinen Augen tanzen unzählige kleine helle Flecken. Ich kann kaum mehr sehen. Und meine Arme und Beine brennen unsäglich. Symptome, die nichts Gutes verheißen.« »Ja, o Scheich.« Er sah mich an. Zum erstenmal, seit ich ihn kannte, entdeckte ich echte Traurigkeit in seinen Augen. »Ich will nicht mehr weitergehen.« »Ja, o Scheich«, antwortete ich, »dann werde ich Euch tragen.« Er protestierte, aber nicht sehr überzeugend. Ich bat ihn um Vergebung und schulterte ihn. Ohne die Daddys, die sämtliche Schmerzsignale meines Körpers ausblendeten, hätte ich ihn
keine fünfzig Meter weit tragen können. Ich zog weiter mit einem absolut falschen Gefühl des Wohlbefindens. Weder Hunger noch Durst, noch Müdigkeit machten mir zu schaffen. Und ich hatte noch einen Daddy, für den Fall, daß ich Angst bekäme. Es dauerte nicht lange und Papa schien im Delirium zu sein. Er begann leise vor sich hin zu murmeln. Es war an mir, uns beiden hier heraus zu helfen. Ich biß die Zähne zusammen und zog weiter. Mein aufgemotztes Hirn war lächerlich zuversichtlich, daß ich siegreich über die mörderischste Wüste der Welt triumphieren würde. Die Nacht verstrich. Ich stapfte wie ein Roboter durch den aufgewirbelten Sand. Dabei trocknete die ganze Zeit über mein Körper genauso aus wie Papas Organismus, der schließlich zusammengebrochen war. Und in meinen Muskeln bildeten sich Ermüdungsgifte. Hinter mir ging die Sonne auf, und ich spürte am Hinterkopf und im Nacken, wie es heißer und heißer wurde. Von Papa war jetzt überhaupt nichts mehr zu hören. Einmal, um acht Uhr morgens, verließ mich jede Kraft in den Armen und Beinen. Ich ließ Papa in den Sand plumpsen und brach neben ihm zusammen. Ich ruhte mich etwas aus. Mir war klar, ich trieb Mißbrauch mit meinem Körper. Vielleicht, so dachte ich, würde es helfen, ein paar Minuten hier regungslos liegen zu bleiben. Vermutlich verlor ich das Bewußtsein, denn als ich das nächste Mal auf die Uhr sah, waren zwei Stunden vergangen. Ich rappelte mich hoch und schulterte Papa erneut. Dann zog ich weiter. Ich marschierte, bis ich wieder zusammenbrach. Daraus
entwickelte sich ein Muster und bald hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Die Sonne stieg hoch am Himmel und ging wieder unter. Ich habe keine Ahnung, wie weit ich kam. Ich erinnere mich schwach daran, am Fuß einer großen Düne zu sitzen, Friedlander Beis Hand zu streicheln und zu weinen. Ich saß sehr lange dort und bildete mir dann ein, eine Stimme zu hören, die meinen Namen rief. Worauf ich Papa wieder hochnahm und weiterstolperte, immer der Stimme nach. Dieses Mal kam ich nicht weit. Vielleicht schaffte ich zwei oder drei Dünen, dann ließen mich meine Muskeln wieder im Stich. Ich konnte nur am Boden liegen, das Gesicht halb in den heißen, roten Sand gepreßt. Aus dem Augenwinkel konnte ich Papas Bein sehen. Ich war mir ziemlich sicher, daß ich nie wieder aufstehen würde. »Ich nehme Zuflucht …«, flüsterte ich. Mein Mund war zu trocken, um den Satz zu Ende zu sprechen. »Ich nehme Zuflucht bei dem Herrn der Welten«, vollendete ich ihn im Kopf. Wieder verlor ich das Bewußtsein. Als nächstes erinnere ich mich, daß es Nacht war. Wahrscheinlich war ich noch am Leben. Ein Mann mit einem strengen, hageren Gesicht, das von einer großen Hakennase dominiert wurde, beugte sich über mich. Ich wußte weder, wer er war, noch, ob er wirklich existierte. Er sprach mit mir, aber ich verstand ihn nicht. Er benetzte meine Lippen mit Wasser, und ich versuchte, ihm den Ziegenlederbeutel aus den Händen zu winden. Aber meine Arme gehorchten mir nicht. Wieder versuchte er mir etwas zu sagen. Dann streckte er die Hand aus und berührte meine Implantate. Voll Schrecken erkannte ich, was er vorhatte. »Nein!« krächzte ich. »Bitte, um der Liebe Allahs willen, nein!«
Er zog die Hand zurück und musterte mich noch einmal kurz. Dann öffnete er eine Ledertasche, holte eine altmodische Wegwerfspritze und eine mit einer Flüssigkeit gefüllte Phiole heraus und gab mir eine Injektion. Was ich wirklich wollte, war ein Glas sauberes, frisches Wasser. Aber ein Schuß Sonnein war auch okay.
5. Kapitel
Was zwischen unserer Entführung und der Rettung durch die Beni Salim geschehen war, wußte ich nun wieder. Die Tage danach jedoch würden wohl für immer im Nebel des Deliriums verschwunden bleiben. Scheich Hassanein hatte mich sediert und dann die Daddys herausgenommen. Sofort war ich geistig wie körperlich von einer Schmerzflut überwältigt worden. Ich war Hassanein dankbar, daß er mich mit dem Sonnein ruhig stellte, bis ich mich zu erholen begann. Nura war wach und beobachtete mich, als ich mich am Morgen aufsetzte und räkelte. Es dauerte etwas, bis mir klar war, wo ich mich befand. Die vordere und die hintere Zeltklappe waren offen und eine frische, warme Brise strich durch das Ziegenhaarzelt. Ich senkte den Kopf und betete: »O Gott, möge dieser Tag Glück bringen, trage Sorge dafür, daß kein Übel uns trifft!« »Der Segen Allahs sei mit Euch, o Scheich«, sagte Nura. Sie trat näher, eine Schale Kamelmilch und eine Platte Hummus, einem Brei aus Kichererbsen und Olivenöl. »Bismillah«, murmelte ich und brach mir ein Stück Brot ab. »Möge Ihr Tag gesegnet sein, Nura.« Worauf ich das Frühstück hinunterschlang. »Es ist schön, daß Ihr wieder Appetit habt. Möchtet Ihr noch etwas mehr?« Mein Mund war zu voll, deshalb nickte ich bloß. Nura verließ das Zelt, um eine zweite Portion zu holen. Ich atmete ein paarmal tief durch und überprüfte, inwieweit ich mich bewegen
konnte. Die Muskeln taten noch immer weh, aber ich hatte das Gefühl, bald wieder aufstehen zu können. Mir fiel ein, daß Hassanein mir erzählt hatte, die Beni Salim müßten dringend zu neuen Weidegründen für ihre Kamele ziehen. Die Vorstellung, ein paar hundert Kilometer mit ihnen marschieren zu müssen, baute mich nicht gerade auf. Es wurde also Zeit, daß ich lernte, ein Kamel zu reiten. Nura kam mit einer weiteren Platte Brot und Hummus zurück, und ich machte mich hungrig darüber her. »Der alte Scheich wird Euch besuchen, sobald Ihr fertig seid«, sagte sie. Das hörte ich gern. Ich wollte sehen, in welcher Verfassung sich Friedlander Bei nach diesem Martyrium befand, das wir durchgemacht hatten. Und das keineswegs schon vorüber war. Wir hatten noch eine lange Reise vor uns, die unter ebenso harten Bedingungen stattfinden würde. Der lebensrettende Unterschied war nur, daß wir diesmal mit den Beni Salim zogen, und die wußten, wo die Wasserstellen waren. »Papa und ich haben viel zu besprechen«, sagte ich. »Ihr müßt Euren Racheplan schmieden.« »Was wissen Sie darüber?« fragte ich. Sie lächelte. Mir fiel auf, daß sie sich ihr Kopftuch nicht mehr vors Gesicht hielt. »Ihr habt mir oft vom Emir und dem Qadi und dem Imam und Scheich Reda erzählt. Meistens habt Ihr nur Unverständliches vor Euch hin geplappert, aber ich habe genug verstanden. Und der alte Scheich hat mir dieselbe Geschichte erzählt.« Ich zog die Augenbrauen hoch und wischte die Platte mit einem Stück Brot sauber. »Was, denken Sie, sollten wir tun?« Sie wurde ernst. »Die Bedu bestehen auf Rache. Bei uns ist
das ein wichtiger Teil des Glaubens. Falls Ihr nicht in Eure Stadt zurückkehrt und Eure Feinde tötet, die sich gegen Euch verschworen haben, dann sind die Beni Salim nicht mehr Eure Freunde, wenn Ihr zu uns zurückkehrt.« Ich hätte beinahe gelacht, als sie von meiner Rückkehr in die Rub Al Khali sprach. »Selbst wenn der dafür Verantwortliche ein verehrter Imam ist? Selbst wenn er von den Fellahîn der Stadt geliebt wird? Selbst wenn er für seine Güte und Großzügigkeit bekannt ist?« »Dann ist er ein Imam mit zwei Gesichtern«, sagte Nura. »Manchen mag er weise erscheinen, was die Verehrung Allahs angeht, und gütig gegenüber seinen Brüdern im Islam. Und doch hat er Euch Böses angetan, also ist er in Wahrheit verdorben. Er nimmt das Geld Eures Feindes und verurteilt ungerechterweise unschuldige Männer zu einem Leben im Exil, das den sicheren Tod bedeutet. Das zweite Gesicht offenbart, daß das erste Gesicht eine Larve ist und ein Greuel in den Augen Gottes. Es ist Eure Pflicht, seinen Verrat mit der traditionell dafür vorgesehenen Strafe zu vergelten.« Ihre Leidenschaft überraschte mich. Ich fragte mich, warum diese Angelegenheit zwischen Papa und mir auf der einen und Dr. Abd ar-Razzaq auf der anderen Seite sie so aufwühlte. Sie sah, wie ich sie beobachtete, errötete und zog sich das Kopftuch vor das Gesicht. »Die Tradition der Bedu entspricht möglicherweise nicht den Gesetzen der Stadt«, erklärte ich. Ihre Augen blitzten. »Was heißt hier ›Gesetze‹? Es gibt nur richtig und falsch. Die Bedu-Frauen erzählen ihren Kindern eine Geschichte über den bösen Imam im Brunnen.«
»Nura, wenn uns ein Buchhalter geschädigt hätte, ginge diese Geschichte über den bösen Buchhalter im Brunnen, stimmt's?« »Ich weiß nicht einmal, was ein Buchhalter ist«, sagte sie. »Also hört zu. Vielleicht hat es einen bösen Imam von AshShâm, das ihr Damaskus nennt, gegeben oder nicht, als AshShâm die einzige Stadt in der Welt war. Die Bedu brauchen keinen Imam, weil alle Stammesmitglieder als Gleichgestellte zu Gott beten und sich keinem anderen unterordnen. Die schwachen Stadtmenschen waren auf die Hilfe eines Imam angewiesen, weil sie vergessen hatten, was es heißt, selbst sein Wasser zu finden und selbst für sein Essen zu sorgen, und weil sie von anderen abhängig geworden waren, die dies für sie taten. Und genauso waren sie vom Imam abhängig geworden, der ihnen den Weg zu Allah weisen mußte. Es war nun so, daß alle Menschen in Ash-Shâm den bösen Imam noch immer für einen guten Menschen hielten, da er darauf achtete, daß alle, die ihn predigen hörten, ihren armen Brüdern Geld schenkten. Der Imam selbst gab nie etwas von seinem Geld ab, weil er sehr daran hing. Er liebte das Gold so sehr, daß er seinen Einfluß an einen der gottlosesten und machthungrigsten Bürger von Ash-Shâm verkaufte. Als Allah erkannte, daß das Herz des Imam schwarz geworden war, sandte er einen seiner Engel zur Erde. Der Engel hatte den Auftrag, den Imam in die Wüste zu bringen und ihn so einzusperren, daß er die Menschen von Ash-Shâm nie wieder in die Irre führen könne. Der Engel fand den Imam in seiner geheimen Schatzkammer, wo er seine Gold- und Silbermünzen stapelte, und versetzte ihn in einen tiefen Schlaf. Dann nahm der Engel den Imam, setzte ihn auf seine Hand-
fläche und brachte ihn in das Herz der Rub Al Khali. Der Imam merkte nichts von alledem, denn er schlief noch immer tief und fest. Der Engel baute einen tiefen, tiefen Brunnen und setzte den Imam auf dessen Grund, wo es nur das bitterste und faulste Wasser gab. Dann hieß der Engel den Imam aufzuwachen. ›Yaa Allah!‹ rief der böse Imam. ›Wo bin ich und wie kam ich hierher?‹ ›O Sohn Adams, es ist zu spät, zu Gott zu flehen‹, sagte der Engel. Dabei grollte seine strenge Stimme wie das Donnern des Himmels, und die Brunnenmauern um den Imam bebten. ›Laßt mich heraus‹, bat der Imam angsterfüllt, ›und ich verspreche, mich zu ändern! Habt Gnade mit mir!‹ Der Engel schüttelte den Kopf und aus seinen Augen schossen fürchterliche Blitze. ›Nicht an mir ist es, zu urteilen oder Gnade walten zu lassen. Der Große Richter hat dich dazu verdammt, an diesem Platz zu bleiben. Denk an deine Taten und sorge dich um deine Seele, denn noch immer steht dir bevor, deinem Gott zu begegnen am Jüngsten Tag.‹ Mit diesen Worten verschwand der Engel und ließ den bösen Imam allein zurück. Es kam der Tag, als der Nachfolger des bösen Imam, der den Namen Salim trug und der Gründer unseres Stammes war, bei seinen Reisen auf diesen Brunnen stieß. Salim hatte den bösen Imam nie kennengelernt und unterschied sich von ihm wie die Sonne vom Mond. Dieser junge Mann war wirklich gütig und großzügig und beliebt beim Volk von Ash-Shâm, das ihn wegen seiner Tugendhaftigkeit zu seinem Imam ernannt hatte. Als Salim sich vorbeugte, um in den Brunnen zu sehen, war er überrascht, daß eine große Menge Tiere hineingefallen und
mit dem bösen Imam gemeinsam gefangen war. Die Tiere baten ihn, sie aus dem tiefen Brunnen zu befreien. Salim taten die Tiere so leid, daß er seine Keffiya aufwickelte und in das dunkle Loch hinunterließ. Das erste Tier, das an der Strickleiter in die Freiheit heraufkletterte, war eine Eidechse – die, die die Bedu ›Abu Qurush‹ nennen oder Vater der Münzen, weil ihr Schwanz am Ende so flach und rund ist. Abu Qurush war über seine Rettung so erfreut, daß er ein Stück seiner Haut Salim zum Geschenk machte und sagte: ›Falls du jemals in Not gerätst und Hilfe brauchst, verbrenne dieses Stück Haut, und ich komme.‹ Worauf er flugs über den heißen Sand davoneilte. Doch zuvor drehte er sich noch einmal um und rief zurück: ›Nimm dich in acht vor dem Sohn Adams, der sich im Brunnen befindet. Er ist ein böser Mensch, und du solltest ihn da drunten lassen!‹ Als nächstes zog Salim eine Wölfin heraus. Die Wölfin war genauso von Freude überwältigt wie die Eidechse. Sie riß sich zwei Barthaare aus und gab sie Salim mit den Worten: ›Falls du jemals an einem so schrecklichen Ort bist wie diesem, aus dem du mich gerettet hast, so verbrenne diese beiden, und ich komme.‹ Sie machte sich auf und davon, aber auch sie rief noch zurück: ›Aber wisse, o Mensch, der Sohn Adams in dem Brunnen ist sehr, sehr böse.‹ Salim holte all die anderen Tiere heraus und hörte sich ihre Warnungen an. Dann wickelte er sich wieder die Keffiya um den Kopf. Sein Landsmann, der böse Imam, rief hinauf zu ihm mit herzergreifender Stimme: ›Wie kannst du die Tiere retten und mich angesichts des Todes in diesem finsteren Loch zurücklassen? Sind wir nicht Brüder nach den Worten des Pro-
pheten, möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und Frieden seiner Seele?‹ Salim war hin- und hergerissen zwischen den Warnungen der Tiere und seiner Gutherzigkeit. Er kam zu dem Schluß, daß dieser unsichtbare Gefangene ein Mensch war wie er und ließ seine Keffiya noch einmal hinab in den Brunnen. Als er den bösen Imam befreit hatte, nahm er seine Reise wieder auf und kehrte nach vielen Wochen nach Ash-Shâm zurück.« »Das ist eine wunderbare Geschichte, Nura«, unterbrach ich sie mit einem Gähnen, »aber sie hört sich an, als ob sie ewig so weiter ginge, und ich erinnere mich, daß mir Ihr Onkel erzählt hat, die Beni Salim müßten bald zur nächsten Wasserstelle weiterziehen. Sie wollen doch sicher nicht, daß Ihre Kamele und Ziegen verhungern, während Sie hier dieses wundervolle BeduGarn für mich weiterspinnen.« Nura seufzte. »Ich werde sie schnell zu Ende erzählen«, sagte sie. Offensichtlich liebte sie es, Geschichten zu erzählen. Vielleicht war es nicht nett von mir, sie zu unterbrechen, aber ich hatte das Gefühl, sie wollte auf irgend etwas hinaus. Und wenn sie irgendeine Weisheit loswerden wollte, konnte sie das auch in fünf Sätzen tun statt in fünftausend. Natürlich hatte ich verstanden, daß Salim in dem Märchen für mich stand und der böse Imam für Dr. Abd ar-Razzaq. Ich war mir ziemlich sicher, den Ausgang der Geschichte zu kennen. »Salim kommt also in Schwierigkeiten und schuld daran ist der böse Imam. Drum ruft er die Eidechse und den Wolf.« »Eigentlich«, versuchte sie mich in die Schranken zu weisen, »kam Salim zunächst nicht in Schwierigkeiten. Er verbrannte die Eidechsenhaut und Abu Qurush erschien, bevor die letzte
Rauchfahne sich in der Luft aufgelöst hatte. ›Was wünschst du?‹ fragte die Eidechse. ›Ich möchte so reich sein wie ein König‹, sagte Salim. ›Das ist einfach zu bewerkstelligen. Du mußt nur tun, was ich dir sage. Nimm den Korb, mit dem dein Diener das Brot holt, und stelle ihn nachts vor das Stadttor. Bevor die Sonne aufgeht, mußt du ihn jedoch wieder holen.‹ Salim tat, wie ihm geheißen, und ließ den leeren Korb vor den Mauern des Königspalasts stehen. Als er ihn am Morgen wieder holte, fand er ihn mit Gold gefüllt.« »Brachte Salim das in Schwierigkeiten?« fragte ich. Nura winkte ungeduldig ab. »Geduld, Geduld. Ein paar Tage lang also lebte Salim gut. Er aß die besten Speisen, die in der Stadt erhältlich waren, kleidete sich wunderschön ein und genoß all die Freuden Ash-Shâms, die Allah nicht verboten hatte. Nach einiger Zeit jedoch bemerkte der König, daß ein Teil seines Schatzes fehlte. Er geriet vor Wut außer sich und erließ folgenden Erlaß: ›Wer immer den Dieb des königlichen Schatzes findet, soll dafür die wunderschöne Königstochter als Braut erhalten und dazu das halbe Königreich!‹ Diese Belohnung lockte die weisen und klugen Männer in Scharen an, die kamen, um die Schatzgewölbe des Königs zu untersuchen. Alle waren verwirrt, denn kein Mensch konnte, wie sie dem König ausnahmslos berichteten, in die Schatzkammer eingedrungen sein und das Gold gestohlen haben. Schließlich bat der klügste von allen um einige Arm voll trockener Palmwedel, mit denen er die Schatzkammer ausstreuen ließ. Dann zündete der kluge Mann die Palmwedel an und führte den König und seinen Hofstaat vor den Palast. Es dauerte nicht
lange und ein schwarzes Rauchband stieg aus einem schmalen Spalt in der Palastmauer. Der kluge Mann trat an den Spalt und untersuchte den Boden darunter, wo er im Staub winzige Fußspuren entdeckte. ›Seht nur, Eure Majestät!‹ rief er. ›Bei dem Dieb handelt es sich um keinen Menschen, sondern um eine Eidechse!‹ Der König, der wenig Geduld hatte mit klugen Männern, dachte, dieser da hielte ihn zum Narren. Und so befahl er, den klugen Mann abzuführen und ihm den Kopf abzuschlagen. Das war das Ende des klugen Mannes.« »Soll ich daraus eine Lehre ziehen?« wollte ich wissen. Nura lächelte. »Nein, die Geschichte geht ja noch weiter. Ich gab ihm ja nicht einmal einen Namen. Wie dem auch sei, dieser Vorfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Ash-Shâm und erreichte schließlich die Ohren des bösen Imam. Der böse Imam erkannte, daß die Hand der Königstochter und das halbe Königreich sein werden konnte, denn er hatte die Worte Abu Qurushs am Brunnen gehört. Er lief zum Audienzzimmer des Königs und rief: ›Der Dieb ist Euer Imam, Salim!‹ Der König bezweifelte, ob das der Wahrheit entsprach, doch er sandte seine Soldaten zu Salims Haus, wo diese das restliche Gold fanden. Salim wurde verhaftet, in Ketten gelegt und in das tiefste und stinkendste Verließ geworfen. Er wußte, wer ihn verraten hatte, und verfluchte seine Dummheit, die Warnungen der Tiere außer acht gelassen und den bösen Imam zur Freiheit verholfen zu haben. Salim schmachtete einen Tag und eine Nacht und einen weiteren Tag und eine weitere Nacht lang in seiner düsteren Zelle und dann fielen ihm die Worte der Wölfin ein. Er nahm die
Barthaare der Wölfin und verbrannte sie. Keine Sekunde war verstrichen, und die Wölfin stand vor ihm. ›Was wünschst du von mir?‹ fragte sie. ›Ich möchte nur, daß du mir hilfst, aus diesem schrecklichen Gefängnis freizukommen, so wie ich dir aus dem Brunnen half‹, sagte Salim. ›Heute nacht wirst du frei sein‹, antwortete die Wölfin, schlüpfte unter der Zellentür durch und war verschwunden. Viele Stunden vergingen, bis die dunkelste Stunde der Nacht gekommen war. Plötzlich erklang lautes Schreckensgeschrei aus dem Schlafgemach des kleinen Königssohns und -erben. Der König lief so schnell er konnte in das Zimmer und sah die Wölfin, wie sie den Kopf des Prinzen zwischen ihren langen, scharfen Fängen hielt. Immer wenn der König oder einer seiner Ratgeber sich zu nähern versuchte, knurrte die Wölfin laut und vernehmlich. Niemand konnte auch nur das geringste tun, um den Prinzen zu retten. Die Neuigkeit verbreitete sich in Windeseile im ganzen Palast. Die Wachposten im Verlies sprachen darüber, und Salim hörte, was sie sagten. ›Bringt mich zum König‹, rief er, ›und ich werde das Leben des Prinzen retten.‹ Die Wachposten lachten ihn aus, denn wenn die Tapfersten unter ihnen nichts ausrichten konnten, wie sollte da dieser Prediger etwas erreichen können? Schließlich überredete Salim die Wachposten, ihn zum König zu bringen. Sie eilten zum Schlafgemach des Prinzen. Sobald Salim eintrat, begann die Wölfin mit dem Schwanz zu wedeln und zu jaulen wie ein Hund, der sich darüber freut, seinen Herrn zu sehen. ›Die Wölfin wird verschwinden, ohne dem Prinzen auch nur ein
Haar zu krümmen‹, erklärte Salim, ›aber nur, wenn Ihr ihr das Herz des vorherigen Imam von Ash-Shâm bringt.‹ Der König trieb seine Soldaten zur Eile an, und sie liefen in die Stadt und fanden den bösen Imam. Sie nahmen ihn fest und schleiften ihn zum Palast, wo sie ihm den Kopf abhackten. Dann rissen sie ihm die Brust auf und schnitten ihm das Herz heraus. Sie legten es in eine goldene Schale, die Salim der Wölfin vorsetzte. Das Tier leckte ihm die Hand, schnappte sich das Herz des bösen Imam und trabte damit aus dem Palast hinaus in die Freiheit. Der König war so erfreut, daß er Salim begnadigte und ihm seine Tochter zur Frau gab!« Ich wartete kurz ab, um sicher zu gehen, daß die Geschichte nun auch wirklich zu Ende war. »Heißt das, ich soll Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq das Herz herausschneiden?« »Ja, und es einem Hund zum Fressen geben«, sagte Nura grimmig. »Obwohl wir in der Stadt mit diesen Dingen Schluß gemacht haben? Ich will damit sagen, wir sprechen hier über einen Theologen, nicht über Hitler oder Xarghis Khan.« Nura sah mich verständnislos an. »Wer ist das?« Ich lächelte. »Ach, das ist nicht wichtig.« Sie nahm mir die leere Platte und die Schale ab und verließ das Zelt. Kurz darauf trat Friedlander Bei ein. Er setzte sich neben mich in den Sand und nahm meine Hand. »Wie geht es dir, mein Liebling?« erkundigte er sich. Ich freute mich, ihn zu sehen. »Wie es Allah gefällt, o Scheich«, antwortete ich. Er nickte. »Sieh nur, dein Gesicht ist von dem Wind und der
Sonne völlig verbrannt. Und genauso deine Hände und Arme, mit denen du mich getragen hast!« Er schüttelte den Kopf. »Ich besuchte dich jeden Tag, als du ohne Bewußtsein warst. Ich sah, welche Schmerzen du littest.« Ich atmete tief aus. »Es mußte sein, mein Großvater.« Wieder nickte er. »Ich versuche wohl nur, meine Dankbarkeit auszudrücken. Es ist immer …« Ich hob die freie Hand. »Bitte, o Scheich, bringt uns nicht beide in Verlegenheit. Dankt mir nicht. Ich tat, was in meiner Macht stand, um uns das Leben zu retten. Jeder an meiner Stelle hätte genauso gehandelt.« »Doch du hast dich über deine Kräfte verausgabt und du hast dir um meinetwillen selbst geschadet, körperlich wie psychisch. Ich habe dir diese verfluchten Implantate gegeben und dich zu meiner Waffe gemacht. Jetzt hast du es mir mit grenzenlosem Mut entgolten. Ich bin beschämt.« Ich schloß kurz die Augen. Wenn das noch länger so ginge, wäre es so unerträglich wie der Marsch durch die Wüste. »Ich möchte darüber nicht mehr sprechen«, erklärte ich. »Wir haben nicht die Zeit, unseren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Wenn wir das alles durchstehen und in die Stadt zurückkehren wollen, um die uns zustehende Position wiedereinzunehmen, müssen wir uns auf einen geeigneten Plan einigen.« Papa rieb sich die Wange, wo die grauen Stoppeln in einen unregelmäßigen Bart übergingen. Er kaute an seiner Lippe, während er nachdachte. Anscheinend konnte er sich zu einer Entscheidung durchringen, denn ab diesem Moment war er wieder der alte Friedlander Bei, als den wir ihn damals im Budayin kannten und fürchteten. »Von den Beni Salim droht
uns keine Gefahr«, erklärte er. »Gut«, erwiderte ich. »Ich war mir nicht sicher, auf welcher Seite sie stehen.« »Sie fühlen sich für uns verantwortlich, bis wir in Mughshin sind. Wir gelten als Ehrengäste und werden mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt. Wir müssen darauf achten, ihre Gastfreundschaft nicht zu sehr zu strapazieren, denn sie geben uns zu essen, auch wenn das für sie bedeutet, selbst hungern zu müssen. Ich möchte nicht, daß das geschieht.« »Auch ich möchte das nicht, o Scheich.« »Von Mughshin habe ich noch nie gehört. Ich nehme an, es ist eine Ansammlung von ein paar Hütten und Zelten rund um einen großen Brunnen, irgendwo im Süden. Wir irrten uns, als wir dachten, der Inspektor in Najran habe uns mitten in der Weiten Ödnis absetzen lassen. Der Chopper flog viel weiter, als wir dachten. Man warf uns im nordöstlichen Teil der Dünen ab.« Ich runzelte die Stirn. »So nennen die Bedu diese gigantische Wüste«, erklärte Papa, »einfach Dünen. Sie haben noch nie von der Rub Al Khali gehört.« »Es macht keinen Unterschied, wo wir uns befanden«, warf ich ein. »Wenn uns die Beni Salim nicht gefunden hätten, wären wir schon lange tot.« »Wir hätten in die entgegengesetzte Richtung laufen sollen, nach Osten. Wir sind näher bei Oman als am westlichen Rand.« »Wir hätten es auch nicht bis Oman geschafft. Ziehen wir mit den Beni Salim weiter nach Süden?« »Ja, mein Neffe. Ihnen können wir trauen. Das ist in der Situation, in der wir uns befinden, wichtiger als Zeit oder Entfernung.«
Ich zog versuchsweise die Knie an, einfach um zu sehen, ob das noch ging. Es ging noch, und darüber war ich glücklich, auch wenn sie nach diesen zwei Wochen Zwangspause recht schwach waren. »Habt Ihr schon Pläne für die Zeit geschmiedet, wenn wir in Mughshin angekommen sind?« Er blickte hoch, über meinen Kopf hinweg, als habe er das Budayin und unsere Feinde vor Augen. »Ich weiß nicht, wo Mughshin ist, und nicht einmal der Scheich, Hassanein, kann es mir zeigen. Die Beni Salim haben weder Landkarten noch Bücher. Unter den Bedu haben mir einige versichert, es sei von Mughshin aus nicht schwierig, über die Berge zu einer Stadt an der Küste namens Salala zu gelangen.« Papa lächelte kurz. »Sie sprechen von Salala, als sei es der wundervollste Platz auf Erden, wo es jeden erdenklichen Luxus und jede Annehmlichkeit gibt.« »Berge«, seufzte ich. »Ja, aber keine hohen Berge. Zudem versprach mir Hassanein, in Mughshin nach vertrauenswürdigen Führern für uns Ausschau zu halten.« »Und dann?« Papa zuckte die Achseln. »Sobald wir die Küste erreicht haben, reisen wir per Schiff zu einer Stadt mit einem Flugplatz für Stratosphärenclipper. Wir müssen äußerst vorsichtig sein, wenn wir nach Hause kommen. Denn überall werden Spione sein …« Nura kam zurück. Diesesmal brachte sie zusammengelegte Kleidungsstücke. »Die sind für Euch, Scheich Marîd«, sagte sie. »Möchtet Ihr Euch frisch einkleiden und mit mir Spazierengehen?« Ich hatte es nicht eilig, meine schmerzenden Muskeln zu be-
wegen, aber ich konnte nicht ablehnen. Papa erhob sich und verließ das Zelt. Nura folgte ihm und schloß bei beiden Eingängen die Klappen, damit ich mich ungestört anziehen konnte. Ich erhob mich langsam und war bereit, im Falle heftiger Schmerzen die Sache für heute sein zu lassen. Anschließend breitete ich den Kleidungsstapel aus. Zuerst kam ein fadenscheiniger Lendenschurz, den ich umwickelte. Ich war mir nicht ganz sicher, wie die Beni Salim sowas trugen, aber das würde ich jetzt nicht herausfinden. Darüber zog ich einen langen, weißen Kittel, den die Bedu Tobe nannten. Die Armen in der Stadt trugen manchmal etwas Ähnliches, und auch Friedlander Bei zog öfters einen an, obwohl er damit seine Herkunft verleugnete. Über dem Tobe trug ich ein langes, weißes Hemd, das vorne bis ganz unten offen war und weite, lange Ärmel hatte. Als Kopfbedeckung befand sich eine saubere, weiße BaumwollKeffiya im Stapel, aber mein Akal war irgendwo verlorengegangen. Ich wickelte mir die Kopfbedeckung um und steckte die Enden fest nach Art dieser Bedu im Süden. Dann zog ich meinen inzwischen durch die Reise zerrissenen und fleckigen blauen Umhang an, den die Bayt Tabiti so bewundert hatten. Sandalen fand ich nicht im Stapel, daraus schloß ich, daß ich barfuß gehen konnte. Es fühlte sich hervorragend an, wieder auf den Beinen und angezogen zu sein und etwas vorzuhaben. Als ich aus dem Zelt trat, fühlte ich mich etwas befangen, weil ich angezogen war wie ein reicher Scheich aus der dekadenten, verweichlichten Welt jenseits der Rub Al Khali. Mir war bewußt, daß die Augen aller auf mir ruhten. Friedlander Bei, Nura und ihr Onkel Hassanein warteten auf
mich. Der Scheich der Beni Salim begrüßte mich mit einem breiten Lächeln. »Hier habe ich Eure Habseligkeiten. Ich bewahrte sie auf, da ich fürchtete, die Versuchung könnte für einige unserer jungen Männer zu groß sein«, sagte er und reichte mir meine Sandalen, meinen Zierdolch und meine Moddys und Daddys. Worüber ich mich außerordentlich freute. »Bitte, o Scheich«, bedankte ich mich bei Hassanein, »ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Ihr dies als Geschenk annehmen würdet.« Ich überreichte ihm den prachtvollen, juwelengeschmückten Dolch. Er nahm ihn und schien sprachlos. Nachdem er eine Weile den Blick nicht von ihm gewendet hatte, sagte er schließlich: »Beim Lichte meiner Augen, das ist nichts für mich! Das ist etwas für einen edlen Fürsten oder einen König.« »Mein Freund«, sagte Papa, »Ihr seid jedem Fürsten in diesem Land ebenbürtig. Nehmt ihn an. Dieser Dolch hat eine lange Geschichte, und Ihr werdet ihm Ehre erweisen.« Hassanein erging sich nicht in einer Dankeseloge. Er ruckte einfach und band sich den Zierdolch um die Hüfte. Nach Art der Bedu trug er den Dolch vorne, über dem Bauch. Er verlor kein Wort mehr darüber, aber offensichtlich freute er sich sehr über das Geschenk. Langsam spazierten wir durch die Reihen schwarzer Ziegenhaarzelte. Die Männer ließen die Augen nicht von uns. Sogar die Frauen blickten uns verstohlen nach, während sie sich um ihre Arbeit kümmerten. In nicht allzuweiter Ferne hüteten die Jungen die Kamel und die Ziegen bei den niedrigen, kümmerlichen Salzbüschen. Nicht gerade das beste Futter für die Tiere,
aber an diesem öden Ort mußte es reichen. Mir war sofort klar, was Hassanein damit meinte, der Stamm müsse weiterziehen. Hier gab es nicht viel zu futtern für die Tiere. Das Lager bestand aus einem Dutzend Zelten. Hier um Bir Balagh sah es nicht recht viel anders aus als in der Gegend, durch die Papa und ich gezogen waren. Es gab weder schattenspendende Bäume noch Dattelpalmen oder eine echte Oase. Das einzige, was für diesen langgestreckten Streifen zwischen zwei Dünenketten sprach, war ein großes Loch im Boden – die Wasserstelle. Wenn ein Reisender auf eine dieser Wasserstellen stieß, mußte er sie oft stundenlang ausgraben, weil die wandernden Dünen nicht lange brauchten, um sie wieder zuzuschütten. Mir wurde klar, wie hilflos Papa und ich gewesen wären, selbst wenn wir auf solch ein sandiges Loch gestoßen wären. Oft befand sich das Wasser drei oder mehr Meter unter der Oberfläche, und es gab weder Eimer noch Seile. Jeder nomadisierende Bedustamm hatte sein eigenes Seil, um das lebensspendende Wasser zu holen. Sogar wenn Allah uns das Glück gewährt hätte, ein solches bitteres Rinnsal zu finden, hätten wir leicht drei Meter darüber verdursten können. Der Gedanke ließ mich frösteln, und ich murmelte ein Dankgebet. Dann gingen wir vier weiter. In einem der nahegelegenen Zelte saßen ein paar Männer gemütlich zusammen und tranken Kaffee aus Täßchen, kleiner als ein Fingerhut. So vertrieben sich die männlichen Bedu normalerweise die Zeit im Lager. Einer der Männer sah mich, sagte etwas und warf seine Kaffeetasse auf den Boden. Unter den umsitzenden Männern entstand eine Unruhe, und er sprang auf und rannte laut
schreiend und wild gestikulierend auf mich zu. »Was soll das?« fragte ich Hassanein. Der Scheich schnitt dem jungen Mann den Weg ab. »Das sind unsere Gäste«, hielt er ihn auf. »Sei ruhig, oder du entehrst uns alle.« »Da ist der, der uns entehrt!« schrie der wütende Bedu, wobei er mit seinem langen, dürren Zeigefinger auf mich deutete. »Er macht es direkt unter unserer Nase! Er versucht sie zu verderben! Er verführt sie mit seinen sündhaften städtischen Sitten! Er ist kein aufrecht glaubender Muslim, möge die Religion seines ungläubigen Vaters verflucht sein! Sie bedeutet ihm nichts, und er wird sie zerstören und dann wieder zu seinem Harem unreiner Frauen zurückkehren!« Hassanein konnte den jungen Mann nicht davon abhalten, auf mich einzubrüllen und mir mit der Faust zu drohen. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber der ganze Stamm hatte sich um uns versammelt. Die ganze Geschichte geriet schnell außer Kontrolle. Nura wurde ganz blaß. Sie fing meinen Blick auf und sah schnell weg. Ich hatte Angst, sie würde jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Sagen Sie bloß nicht«, raunte ich ihr zu, »daß das Musaid, Ihr heimlicher Verehrer, ist?« Sie sah mich hilflos an. »Ja«, flüsterte sie. »Und jetzt hat er beschlossen, Euch zu töten.« Ich dachte daran, wie viel besser ich dran wäre, wenn ich Scheich Mahalis Einladung abgelehnt und mir statt dessen im Budayin einen angetrunken hätte.
6. Kapitel
Ich sah den Beni Salim zu, wie sie ihr Lager abbauten. Sie brauchten nicht lange. Jeder im Stamm hatte seine Aufgabe, die er schnell und effizient erledigte. Sogar der mißgelaunte Ibrahim bin Musaid, der nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, mich auf der Stelle umzubringen, war eifrig dabei, die Packkamele zusammenzutreiben. Er war ein dunkler, zum Grübeln neigender junger Mann, etwa zwanzig Jahre alt, mit einem langen, schmalen Gesicht. Wie einige der anderen jüngeren Beni Salim trug er keine Keffiya und sein Gesicht war eingerahmt von seiner wilden, strähnigen Haarpracht. Er hatte ein fliehendes Kinn, was seinem Gesicht einen unglücklichen, dummen Ausdruck verlieh. Aber seine schwarzen Augen blickten düster unter dicken Augenbrauen auf die Welt. Seine Beziehung zu Nura war komplizierter, als ich gedacht hatte. Es handelte sich nicht nur um unerwiderte Liebe, was in einer geschlossenen Gemeinschaft wie einem Bedustamm schon schlimm genug gewesen wäre. Hassanein erzählte mir, daß bin Musaid der Sohn eines von zwei Brüdern sei und Nura die Tochter des anderen. Unter den Beni Salim wird ein Mädchen bei seiner Geburt seinem ältesten Cousin versprochen und kann niemand anderen heiraten, wenn er es nicht freigibt. Bin Musaid hatte nicht die Absicht, das zu tun, obwohl Nura offen gezeigt hatte, daß sie einen anderen jungen Mann namens Suleiman bin Sharif heiraten wollte.
Durch mich war alles noch verfahrener geworden, denn bin Musaid hatte seine ganze Eifersucht auf mich konzentriert. Wahrscheinlich war ich ein dankbareres Objekt als bin Sharif, da ich ein Außenseiter war und noch dazu ein verweichlichter Zivilisationsmensch. Bin Musaid zeigte überdeutlich, daß es ihm ganz und gar nicht paßte, wenn Nura auch nur eine Stunde bei mir verbracht hatte. Vor allem die langen Nächte meiner Rekonvaleszenz waren ihm ein Dorn im Auge. Für ihn machte es keinen Unterschied, daß ich die meiste Zeit über ohne Bewußtsein gewesen war. Es hielt ihn nicht ab, auf alles mögliche unziemliche Verhalten anzuspielen. An diesem Morgen jedoch fehlte die Zeit für weitere Beschuldigungen. Die Kamele kauerten am Boden, während die Männer der Beni Salim die zusammengelegten Zelte, ihre paar Habseligkeiten und Vorräte in der Nähe stapelten. Die Luft war erfüllt mit Lärm und dem Blöken und Schnarren der Kamele, die mitbekamen, was hier los war, und sich in ihrem Unbehagen einig waren. Einige schnappten nach ihren Besitzern, die das Gepäck festzuzurren versuchten, und die Bedu mußten schnell zur Seite springen, wollten sie nicht gebissen werden. Als alles aufgeteilt und ordentlich verstaut war, waren wir reisefertig. Bin Sharif, Nuras Freund, brachte mir eine kleine Kameldame namens Fatma. Die Herde des Stamms bestand aus ein paar Dutzend Kamelen, aber davon waren nur zwei oder drei Bullen. Bin Sharif erklärte mir, die übrigen Bullen würden sie verkaufen oder schlachten, weil sie es für unsinnig hielten, ein Tier mit Futter und Wasser zu versorgen, das keine Milch gebe. Ich sah, wie einer der Männer ein Kamel bestieg, das sich be-
reits in Bewegung gesetzt hatte. Er kletterte einfach auf einen Vorderfuß, indem er sich mit den Zehen oberhalb des Knies festklammerte, und zog sich dann über den Nacken des Kamels in den Sattel. Zu dieser Art von Nonchalance war ich noch nicht bereit. Ich wartete also, bis bin Sharif Fatma sich hinkauern ließ, wozu er sie mit einem Stock gegen die Vorderbeine schlug und sie mit demselben »Khirr, khirr!« lockte, wie der Bayt Tabiti. Dann zog ich mich unbeholfen in den mit Schaffell bezogenen Holzsattel. Bin Sharif ließt das Tier wieder aufstehen und reichte mir eine Führungsleine und einen Reitstock. Ich sah, daß man Friedlander Bei wie mir auf ein kleines Kamel geholfen hatte. »Im Namen Allahs, des gnädigen Erbarmers!« rief Scheich Hassanein und führte die Beni Salim weg von Bir Balagh nach Süden. »Allahu akbar! Gott ist am Größten!« riefen seine Stammesgenossen. Und damit waren wir auch schon unterwegs auf unserer Drei-Tages-Reise nach Khaba, der nächsten Wasserstelle. Papa manövrierte sein Kamel links neben meines. Rechts von mir ritt Hilal, einer der zwei Beni Salim, die uns in der Wüste gefunden hatten. Ich genoß diese neue Erfahrung nicht besonders und konnte mir auch nicht vorstellen, die drei Tage nach Khaba im Sattel zu bleiben, ganz zu schweigen von den zwei Wochen, die wir nach Mughshin brauchen würden. »Wie fühlst du dich, mein Neffe?« erkundigte sich Papa. Ich stöhnte. »Ich hasse es.« »Diese Sättel sind nicht so bequem wie die der Nord-Bedu. Heute abend werden wir Muskelschmerzen haben.«
»Seht«, mischte sich Hilal ein, »wir sitzen nicht im Sattel wie die Städter. Wir knien.« Tatsächlich kniete er auf dem Rücken seines Kamels. Eingezwängt in den Holzsattel, hatte ich genug Probleme damit, das Gleichgewicht zu halten und nicht hinunterzufallen. Hätte ich versucht, so wie Hilal zu knien, wäre ich beim nächsten schlingernden Schritt des Kamels die drei Meter nach unten geplumpst. Und hätte mir zu meinem schmerzenden Rücken auch noch einen gebrochenen Nacken geholt. »Vielleicht sollte ich einfach absteigen und zu Fuß gehen«, sagte ich. Hilal grinste und entblößte dabei seine kräftigen, weißen Zähne. »Seid fröhlich, mein Bruder!« sagte er. »Ihr seid am Leben und unter Freunden!« Ich war wirklich noch nie mit solch schrecklich fröhlichen Menschen wie den Bedu zusammengewesen. Den gesamten Weg von Bir Balagh bis Khaba sangen sie ein Lied nach dem anderen. Wahrscheinlich war das der einzige Zeitvertreib. Ab und zu ritt einer der jungen Männer zu einem seiner Cousins und balgte sich mit ihm von Kamelrücken zu Kamelrücken, wobei jeder versuchte, den anderen von seinem Reittier zu stoßen. Die Möglichkeit, sich dabei die Knochen zu brechen, schien sie nicht zu schrecken. Nach etwa anderthalb Stunden begannen sich mein Rücken, der Nacken und die Beine zu melden. Ich konnte mich nicht richtig strecken und merkte, daß es immer schlimmer wurde. Dann fielen mir meine Daddys ein. Zuerst zögerte ich, mir wieder den Schmerzblocker einzuschieben, aber schließlich war ja nur der kombinierte Mißbrauch von Drogen und Daddys gefährlich, nicht wahr? Ich holte also den Daddy raus und
steckte ihn mir rein – wobei ich mir gelobte, ihn nicht länger als nötig drinzulassen. Ab da war der Ritt auf dem Kamel keine solche Tortur mehr für meine verkrampften Muskeln. Langweilig blieb er aber noch genauso. Den restlichen Tag über fühlte ich mich einigermaßen wohl. Oder, was es besser trifft, ich fühlte mich so gut wie unbesiegbar. Wir hatten überlebt, nachdem wir in der Rub Al Khali ausgesetzt worden waren – natürlich mit der Hilfe der Beni Salim – und nun waren wir auf unserem Weg nach Hause, auf unserem Rachefeldzug gegen Reda Abu Adil und seinen folgsamen Imam. Wieder einmal hatte ich Friedlander Bei gezeigt, daß ich ein ehrenhafter und mutiger Mann war. Ich bezweifelte, daß er je wieder darauf zurückgreifen würde, mein Schmerzzentrum hochgehen zu lassen, um meine Kooperation zu erzwingen. Auch wenn im Augenblick die Welt nicht vollständig in Ordnung war, war ich zuversichtlich, daß sie es bald sein würde. Ich hatte das Gefühl, aus einer mystischen Quelle durchströmte mich eine große Energie. Während ich mich rittlings an Fatma klammerte, stellte ich mir vor, wie Allah unsere Verbündeten beflügelte und für Verwirrung unter unseren Feinden sorgte. Unsere Ziele waren ehrenvoll und lobenswert, daher, folgerte ich, war Gott auf unserer Seite. Schon vor der Entführung war ich meinen religiösen Verpflichtungen ernsthafter nachgekommen. Wenn die Beni Salim für die fünf vorgeschriebenen Gebete anhielten, schloß ich mich jedesmal mit aufrichtiger Hingabe an. Als wir in ein Tal zwischen zwei parallel ausgerichteten Sanddünen kamen, ließ uns Hassanein anhalten, um das Nacht-
lager aufzuschlagen. Die Männer ließen die Kamele sich hinlegen und luden sie ab. Anschließend trieben die Jungen sie bei ein paar niedrigen, dürr aussehenden Büschen zusammen. »Seht Ihr die Haram, die Salzbüsche?« fragte Suleiman bin Sharif. Er hatte zusammen mit Ibrahim bin Musaid Fatma und Papas Kamel abgeladen. »Ja«, antwortete ich. Die Haram hatten dürre, rötlich-grüne Blätter und waren die traurigsten Pflanzen, die ich je gesehen hatte. »Sie sind nicht dürr, auch wenn sie wie trockene Stecken aussehen, die man in den Sand gespießt hat. Seit zwei Jahren ist in diesem Teil der Dünen kein Regen mehr gefallen, aber wenn es morgen regnen würde, würden die Haram in einer Woche blühen und könnten zwei weitere Jahre überleben.« »Die Beni Salim sind wie die Haram«, erklärte bin Musaid und musterte mich dabei voller Verachtung. »Wir sind nicht wie die Städter, die ohne ihren christlichen Tand nicht leben können.« ›Christlich‹ war anscheinend die schlimmste Beleidigung, die ihm einfiel. Mir lag die Antwort darauf auf der Zunge. Etwas in die Richtung, daß bin Musaid mich in der Tat an die Haram erinnere, aber daß ich mir ihn nicht blütenübersät vorstellen könne, denn dazu sei bei ihm nicht ein bißchen Regen, sondern ein ausgiebiges Bad nötig. Doch dann beschloß ich, dies lieber für mich zu behalten. Ich sah schon die Schlagzeile vor mir: CLUBBESITZER AUS DEM BUDAYIN STIRBT IN SALZBUSCHMASSAKER. Die Frauen schlugen die Ziegenhaarzelte für die Nacht auf und Hassanein bot Papa und mir großzügig an, sein Zelt zu
benutzen. »Danke, o Scheich«, lehnte ich ab, »aber es geht mir inzwischen gut genug, um am Feuer zu schlafen.« »Seid Ihr sicher?« fragte Hassanein. »Es wirft einen Schatten auf meine Gastfreundschaft, wenn Ihr heute nacht unter Gottes Sternenhimmel schlaft. Es wäre mir wirklich eine Ehre …« »Ich nehme Eure gütige Einladung an, Scheich Hassanein«, unterbrach ihn Friedlander Bei. »Mein Enkel möchte das Leben der Bedu kennenlernen. Er hängt noch immer romantischen Vorstellungen über das Nomadentum an, deren Keim zweifelsohne auf Omar Khayyâm zurückgeht. Eine Nacht am Feuer wird ihm guttun.« Hassanein lachte und ging zu seiner Frau, um ihr mitzuteilen, sie solle Platz in ihrem Zelt schaffen für Friedlander Bei. Ich hingegen hoffte, die Nacht würde nicht zu kalt werden. Zumindest hatte ich meinen Umhang, um mich warm zu halten. Wir nahmen gemeinsam das einfache Abendbrot aus getrocknetem Ziegenfleisch, Reisbrei, Brot, Kaffee und Datteln ein. Ich hatte den Tag über richtig Hunger bekommen und konnte mich nicht erinnern, jemals eine bessere Mahlzeit als diese gegessen zu haben. Dazu trug die Gesellschaft das ihre bei. Die Beni Salim hatten Papa und mich durchweg willkommen geheißen, es war, als sei ich als einer von ihnen geboren worden. Das heißt, ich wurde fast durchweg willkommen geheißen. Abseits stand natürlich Ibrahim bin Musaid. Mit Friedlander Bei hatte Nuras Cousin keine Probleme, aber mir zeigte er nach wie vor die kalte Schulter. Und jedesmal, wenn er meinen Blick auffing, brummte er etwas vor sich hin. Doch ich stand unter dem Schutz Scheich Hassaneins und war daher absolut sicher vor seinem Neffen. Und bin Musaid war klug genug, um zu
erkennen, daß er nur lange genug ausharren mußte. Ich würde dann schon wieder verschwinden. Nach dem Essen nahm ich den Schmerzdaddy heraus. Bis auf leichte Schmerzen im Rücken und im Nacken fühlte ich mich okay. Ich sah zu, wie ein paar Männer aufstanden, um nachzusehen, ob die Jungen den Kamelen auch die Vorderbeine richtig zusammengebunden hatten für die Nacht. Wir waren noch immer fünf oder sechs Männer am Feuer, und es entspann sich ein gemütlicher Plausch über die Männer; die Ehefrauen hatten zu kochen und Zelte für die Nacht herzurichten. Einer gab ein paar Geschichten über bin Shahira zum Besten, der, wie viele Beni Salim, nach seiner Mutter genannt wurde, statt nach seinem Vater. »Daß er den Namen seiner Mutter trägt, hat ihn sein Leben lang verrückt gemacht«, erzählte er. »Als wir Jungen waren, beschwerte er sich ständig über seine tyrannische Mutter. Und wen heiratet er dann? Die Tochter des alten Wadud Ali. Badia die Chefin nannten wir sie immer. Jetzt ist er der größte Pantoffelheld, der je auf einem Kamel saß. Heute beim Gebet, glaube ich, bat er Allah, die Bayt Tabiti möchten uns überfallen und nur sie mitnehmen. Nur sie und sonst nichts!« »Min ghayr sharr«, sagte einer der ums Feuer Sitzenden, der das nicht lustig fand. Mit diesem abergläubischen Spruch wollte er das Übel abwenden, das bin Shahira erbeten hatte. Vor dem losen Mundwerk der Beni Salim war niemand sicher, mit Ausnahme der Männer natürlich, die am Lagerfeuer saßen. Sogar Scheich Hassanein mußte als Zielscheibe für die eine oder andere sarkastische Bemerkung darüber herhalten, wie er mit seinem hitzköpfigen Neffen, bin Musaid, und seiner Nichte Nura umging. Offensichtlich waren bin Musaid und bin
Sharif nicht die einzigen Männer im Stamm, die ein Auge auf Nura geworfen hatten. Doch da bin Musaid ihr ältester Cousin war, hatte er einen unerschütterbaren Anspruch auf sie. Mal drehte sich das Gespräch um dieses Thema, mal um ein anderes. Einer der älteren Männer hub zu einem Vortrag über eine lange zurückliegende Schlacht an, in der er sich besonders hervorgetan hatte. Die jüngeren beschwerten sich, sie hätten die Geschichte schon hundertmal gehört, aber das hielt den alten Krieger nicht ab. Hilal und bin Turki standen auf und setzten sich neben mich. »Erinnert Ihr Euch an uns, o Scheich?« fragte Hilal, der beinahe den ganzen Tag neben mir geritten war. »Ja, natürlich«, antwortete ich. »Ihr seid die klugen jungen Männer, die uns in der Wüste gefunden haben.« Hilal und bin Turki lächelten einander zu. »Mein Cousin würde Euch gerne eine Frage stellen«, sagte Hilal. »Nur zu«, ermutigte ich sie. Bin Turki war ein hübscher, zurückhaltender junger Bursche. Sogar hier im schummrigen Licht des Lagerfeuers konnte ich erkennen, daß er schrecklich errötete. »O Scheich«, fing er an, »wenn Ihr in die Stadt zurückkehrt, werdet Ihr dann weit weg von China sein?« Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. »Sehr weit weg, bin Turki«, antwortete ich. »Warum?« »Einen Zehn-Tages-Marsch?« fragte er. »Oder dauert es zwanzig Tage?« Ich hielt inne, um die Sache schnell durchzurechnen. Die Kamele der Beni Salim schafften fünf Kilometer in der Stunde. Und sie waren etwa zwölf Stunden am Tag auf den Beinen. Das
machte dann etwa sechzig Kilometer. Und bis nach China waren es … »Hunderte von Tagen, o mein Freund, über Wüsten, Meere und hohe Gebirge.« Bin Turki blinzelte ein paarmal. »O Scheich«, stammelte er, »nicht einmal Allahs Welt ist so groß.« Er dachte, ich lüge ihn an, aber er brachte es nicht über sich, einen Gast seines Stammes offen zu beschuldigen. »Doch, sie ist so groß. Die Dünen sind nur ein Teil Arabiens. Und ganz Arabien verhält sich zur Welt wie … eine Kamelstute zur ganzen Herde.« »Wallâhi!« flüsterte Hilal, was soviel heißt wie ›Beim allmächtigen Gott!‹ und einer der stärksten Schwüre der Beni Salim ist. Sie griffen selten auf Derberes zurück. »Warum interessierst du dich so für China, bin Turki?« fragte ich. Diese Menschen hatten weder von England, Nuevo Tejas, noch den westlichen Ländern der muslimischen Welt gehört. »Sagte nicht der Prophet – möge Allahs Segen auf ihm ruhen –: ›Sucht das Wissen, und wenn Ihr bis China geht‹? Ich dachte, ich könnte vielleicht mit Euch in Eure Stadt gehen und von dort aus nach China weiterziehen.« Hilal lachte. »Bin Turki ist richtig wissensdurstig«, frotzelte er. »Er hat schon das ganze Wissen getrunken, das es hier in den Dünen gibt.« »Du brauchst dafür nicht nach China zu gehen«, sagte ich. »Wenn du wirklich etwas lernen willst, kannst du ja mit uns ziehen, wenn wir Mughshin erreicht haben. Würde dir das gefallen?« Bin Turki flüsterte nun zitternd: »Ja, o Scheich.« »Spricht etwas dagegen, daß du mit uns kommst?
Brauchen dich die Beni Salim? Verbietet dir möglicherweise Scheich Hassanein, ein paar Monate wegzugehen?« »Ich habe darüber noch nicht mit dem Scheich gesprochen«, erklärte bin Turki. »Die Beni Salim brauchen dich nicht«, warf Hilal ein. »Du bist ohnehin zu nichts zu gebrauchen. Das hieße nur, ein durstiger Bauch weniger, der das Wasser aus den Wasserstellen der Dünen trinkt. Nein wirklich, mein Bruder, Scheich Hassanein wird dir seinen Segen geben und dich ziehen lassen.« Kurze Zeit wurde es ganz still, als bin Turki über die Folgen seines Wunsches nachdachte. Wir hörten zu, wie die dürren Blätter der mimosenähnlichen Blätter des Ghaf-Baums im Feuer knisterten und zischten. Dann nahm der junge Kerl seinen ganzen Mut zusammen. »Wenn Scheich Hassanein seine Zustimmung gibt«, fragte er, »könnte ich mich Euch dann anschließen?« Ich lächelte ihm zu. »Kennst du den Weg über die Berge von Mughshin zu dieser Stadt an der Küste?« »Nach Salala?« erkundigte sich bin Turki. »Ja, ich war schon öfters dort. Mindestens zwei- oder dreimal.« »Dann würden wir uns sogar glücklich preisen, wenn du uns begleitest. Sprich mit Scheich Hassanein darüber und finde heraus, was er davon hält. Es ist eine große, weite Welt da draußen, und du wirst dir wünschen, die Beni Salim nie verlassen zu haben.« »Wenn das geschieht, werde ich in die Dünen zurückkehren, inshallah.« Hilal sah mich an und dann bin Turki, als ihm klar wurde, daß sein Freund um des unvorstellbaren Lebens jenseits der
Wüste willen möglicherweise ihre Gemeinschaft verlassen würde. »La illah ill'Allah«, sagte er erstaunt. »Es gibt keinen Gott außer Gott.« Bin Musaid kam ans Feuer und blickte mich finster an. »Ihr braucht heute nacht nicht hier im Sand schlafen«, erklärte er, »Ihr könnt mein Zelt mit mir teilen.« Sein mürrischer Gesichtsausdruck strafte sein großzügiges Angebot Lügen. Vielleicht hatte Hassanein ihn sich etwas zur Brust genommen. »Möge Allah dich dafür belohnen, bin Musaid«, entgegnete ich, »aber heute nacht möchte ich unter dem freien Sternenhimmel schlafen.« »Gut«, meinte er. Er hatte nicht vor, mich zu überreden. Einer der anderen reichte ihm einen Ziegenlederbeutel voll Kamelmilch, und er nahm Platz, um daraus zu trinken. Bei den Bedu gilt es als anstößig, im Stehen zu trinken. Fragen Sie mich nicht, warum. Nura schloß sich uns an. Doch sie schenkte Musaid nicht einmal einen Blick. »Mein Onkel möchte gerne wissen, ob Ihr einen Wunsch habt«, erkundigte sie sich. Vor kurzem noch wäre ich schwach geworden und hätte den Scheich um ein paar Drogen gebeten. »Sag Hassanein, daß es mir sehr gut geht«, erklärte ich. »Nura«, sagte Hilal, »erzähle uns, wie damals Abu Zayd von den Bayt Tabiti gerettet wurde!« »Es gibt keine Geschichte über Abu Zayd und die Bayt Tabiti«, mischte sich ein anderer ein. »Laß Nura ein, zwei Minuten Zeit, und es gibt eine«, sagte bin Turki. Bin Musaid stöhnte angewidert, stand auf und schritt davon
in die hereinbrechende Dunkelheit. »Hoffentlich ist er wie ein Kamelbulle ausgestattet«, meinte Hilal. »Das ist die einzige Weise, auf die der seine Frau glücklich machen kann.« Alle schwiegen peinlich berührt und niemand wagte es, Nura anzusehen. »Möchte nun jemand die Geschichte von Abu Zayd hören?« fragte sie schließlich. »Ja!« meldeten sich ein paar. Abu Zayd ist eine beliebter Held in den arabischen Erzählungen und Legenden. Sein sagenumwobener Stamm ist für alles mögliche von den römischen Ruinen bis zu den geheimnisvollen Petroglyphen in der Rub Al Khali verantwortlich. »Alle, die ihr den Propheten liebt«, begann Nura, »stimmt mit ein: ›Möge Allah Gefallen an ihm finden und ihn erretten.‹ Eines Tages nun fand Abu Zayd sich in einem Teil der Dünen wieder, durch den er noch nie zuvor gekommen war. Keinen Strauch und keinen Felsen erkannte er wieder, und er ahnte nicht, daß er sich am Rande jener schrecklichen Gipsebene befand, die wir Abu Khawf nennen oder Vater des Schreckens. Er führte sein treues Kamel, Wafaa, hinab in diese Ebene, die sich vor ihm erstreckte und für deren Durchquerung man acht Tage braucht. Nach drei Tagen hatte Abu Zayd sein ganzes Wasser aufgebraucht. Am Ende des nächsten Tages, als er die Mitte der Abu Khawf erreicht hatte, quälte ihn der Durst, und sogar Wafaa, sein Kamel, fing an zu stolpern. Ein weiterer Tag verging, und Abu Zayd fürchtete um sein Leben. Er betete zu Gott und erklärte, wenn es Allahs Wille sei, würde er es vorziehen, die Abu Khawf lebend zu verlassen. In diesem Augenblick vernahm er eine laute Stimme. Ihm entge-
gen kam, mit zwei mit prallen Ziegenlederbeuteln beladenen Kamelen im Schlepptau, ein Bayt Tabiti. ›Salam aleikum, mein Bruder!‹ rief der Fremde. ›Ich heiße Abduh bin Abduh und ich gebe Euch Wasser!‹ ›Aleikum as-salam‹, entgegnete Abu Zayd, dem ein Stein vom Herzen gefallen war. Er sah zu, wie der Bayt Tabiti einige mit Wasser gefüllte Beutel nahm und Wafaa damit belud. Dann reichte ihm Abduh bin Abduh einen Beutel Ziegenmilch, aus dem Abu Zayd gierig trank. ›Ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen‹, sagte er. ›Ihr habt mich vor dem Tod in dieser schrecklichen Gipswüste bewahrt. Noch nie habe ich größere Gastfreundschaft und Großmut erfahren. Ich bestehe darauf, daß Ihr mit Euren Kamelen kehrt macht und mit mir in die nächste Oase zieht. Dort will ich Euch angemessen belohnen.‹ ›Natürlich war ich dabei keineswegs auf eine Belohnung aus. Doch wenn Ihr darauf besteht.‹ Und er machte kehrt mit seinen Kamelen, worauf die zwei Männer den vor ihnen liegenden Teil der Abu Khawf, des Vater des Schreckens durchquerten. Zwei Tage später kamen sie in Bir Shaghir an, einer Ansiedlung, die sich um die Wasserstelle mit dem frischesten Wasser der Dünen gebildet hatte. Abu Zayd hielt sein Versprechen und kaufte Unmengen von Mehl, Butter, Datteln, Kaffee, Reis und Dörrfleisch, die er Abduh bin Abduh zum Geschenk machte. Danach bedankten sich die beiden beieinander und trennten sich, um wieder ihrer eigenen Wege zu gehen. Auf den Tag genau ein Jahr später hatte Abu Zayd sich wieder in den Dünen verirrt. Doch diesesmal lief er von einer anderen Richtung in die Abu Khawf. Nach drei Tagen erkannte er, daß das Schicksal ihn wieder in dieselbe Notlage geführt
hatte wie im Jahr zuvor. Er betete zu Gott: ›Yaa Allah, dein Wille ist wie das Netz der Seidenspinne. Ehre und Ruhm sei Gott!‹ Und auf wen sollten sie am fünften Tag, als Abu Zayd, der kein Wasser mehr hatte, und sein Kamel, Wafaa, schon schwach wurden, mitten in der Gipsebene treffen? Auf denselben Bayt Tabiti! ›Gott segne Euch!‹ rief Abduh bin Abduh. ›Das ganze Jahr über habe ich meinen Freunden erzählt, wie großzügig Ihr seid. Ich hoffte, Euch wieder zu treffen, denn Ihr sollt wissen, daß Ihr bei meinem Volk berühmt seid für Eure Dankbarkeit.‹ Abu Zayd war überrascht, doch wieder überredete er Abduh bin Abduh, mit seinen Kamelen kehrt zu machen und nach Bir Shahir zu ziehen. Diesesmal kaufte er dem Bayt Tabiti soviel Mehl, Butter, Datteln, Kaffee, Reis und Dörrfleisch, daß er ihm auch noch ein drittes Kamel schenken mußte, um all das zu tragen. Dann schworen sie sich ewige Freundschaft und gingen getrennte Wege. Doch bevor er Abduh bin Abduh aus den Augen verlor, drehte sich Abu Zayd noch einmal um und rief ihm nach: ›Geht in Sicherheit, mein Bruder, und erfreut Euch an meinen Geschenken, da Ihr mir ein zweites Mal das Leben gerettet habt. Nie werde ich vergessen, was Ihr getan habt, und solange meine Söhne und Enkel diese Luft atmen, werden sie Euer Lob singen. Aber hört, O Glücklicher: ich bin kein reicher Mann. Solltet Ihr mich nächstes Jahr wieder in der Abu Khwaf finden, geht an mir vorbei und laßt mich verdursten! Denn ein drittes Mal kann ich es mir nicht leisten, Euch zu danken!‹« Die Männer am Lagerfeuer brachen in schallendes Gelächter
aus und Nura stand zufrieden lächelnd auf. »Gute Nacht, meine Brüder«, verabschiedete sie sich. »Möget Ihr morgen gesund erwachen.« »Und du bist die Tochter des Wohlergehens«, erwiderte bin Sharif. Das ist ein Bedu-Sprichwort, möglicherweise ist es auch nur bei den Beni Salim geläufig. Nura hob eine Hand und ging über den offenen Lagerplatz zum Zelt ihres Vaters. Der Morgen würde früh anbrechen und die unverheirateten Männer machten es sich bald bequem für die Nacht. Ich wickelte mich in meinen Mantel und versuchte mich zu entspannen. Schließlich hatte ich morgen wieder einen langen Reisetag vor mir. Bevor ich einschlief, vergnügte ich mich noch mit allerlei Phantasien darüber, wie sich wohl meine Rückkehr in die Stadt abspielen würde. Ich stellte mir vor, wie Indihar und Chiri und Yasmin freudentränenüberströmt auf mich zuliefen und Allah priesen, weil ich am Leben und wohlauf war. Wie Reda Abu Adil bibbernd in seinem einsamen Palast saß und vor Angst mit den Zähnen knirschte, denn bald würde die Zeit der Vergeltung kommen. Ich stellte mir vor, wie Friedlander Bei mich mit Unsummen belohnen und mir erzählen würde, er habe jemand Außenstehenden beauftragt, die Sache mit Dr. Sadiq Abd arRazzaq zu bereinigen, damit ich mich nicht darum zu kümmern bräuchte. Zum Frühstück gab es Reisbrei, Datteln und Kaffee. Es war weder besonders einladend noch reichlich. Doch es gab ausreichend Wasser von Bir Balagh. Allerdings war es anfangs brackig, und nach einem Tag in den Ziegenlederbeuteln schmeckte es – nun, nach Ziegenleder. Ich sehnte mich schon danach, zur Wasserstelle von Khaba zu kommen, von dem die Beni Salim
sagten, dort gebe es das letzte gute Wasser vor dem langen Marsch nach Mughshin. Am zweiten Tag ritt Friedlander Bei wieder neben mir. »Ich habe über die Zukunft nachgedacht, mein Neffe«, ergriff er das Wort und gähnte dabei. Es lag sicherlich Jahre zurück, daß er auf dem Boden schlafen und mit so kleinen Rationen hatte vorliebnehmen müssen. Doch ich hatte noch kein Wort der Klage von ihm gehört. »Die Zukunft«, sagte ich. »Imam ar-Razzaq zuerst, und anschließend Abu Adil? Oder andersrum?« Papa schwieg eine Weile. »Habe ich mich nicht klar ausgedrückt, daß du Scheich Reda unter keinen Umständen Schaden zufügen sollst?« erklärte er. »Weder ihm, noch seinen Söhnen, falls er Söhne hat.« Ich nickte. »Ja, ich weiß, ich weiß. Aber was genau meint Ihr mit ›Schaden zufügen‹? Körperlichen Schaden? Dann werde ich ihm kein Haar krümmen. Doch Ihr werdet sicherlich nichts einzuwenden haben, wenn wir sein Geschäft zerstören und ihn seines Einflusses in der Stadt berauben. Das verdient er auf alle Fälle.« »Das verdient er auf alle Fälle, weiß Gott. Wir können ihm seinen Einfluß nicht nehmen. Dazu fehlen uns die Mittel.« Ich lachte bitter. »Erlaubt Ihr mir, es zu versuchen?« Papa winkte ab, damit war das Thema erledigt. »Als ich von der Zukunft sprach, meinte ich unsere Pilgerreise.« Das war nicht das erste Mal, daß er die Reise nach Mekka aufs Tapet brachte. Ich tat so, als wisse ich nicht, worüber er sprach. »Pilgerreise, o Scheich?« fragte ich. »Du bist noch jung und noch viele Jahrzehnte liegen vor dir,
in denen du dieser Pflicht nachkommen kannst. Bei mir ist das anders. Der Prophet, möge Allahs Segen auf ihm ruhen, legte uns allen die Pflicht auf, zumindest einmal im Leben nach Mekka zu pilgern. Ich habe diese heilige Pflicht Jahr um Jahr verschoben und nun fürchte ich, sind nur noch wenige Jahre übrig. Ich hatte vor, dieses Jahr nach Mekka zu ziehen, aber als der Monat für die Pilgerreise gekommen war, war ich zu krank. Es ist mir ein großes Bedürfnis, konkrete Pläne für nächstes Jahr zu machen.« »Ja, o Scheich, selbstverständlich.« Mich bewegte im Augenblick hauptsächlich unsere Rückkehr in die Stadt und was dann zu tun war; Friedlander Bei war darüber längst hinaus und schmiedete bereits Pläne für die Zeit danach, wenn das Leben sich wieder normalisiert hatte. Diese Einstellung würde ich mir gerne abgucken. Der zweite Tagesmarsch war nicht viel anders als der erste. Wir machten Tempo über die hohen Dünen, und Pausen gab es nur, um die vorgeschriebenen Gebete einzuhalten. Mittagspausen gab es bei den Beni Salim nicht. Der wiegende Gang Fatmas, meines Kamels, hatte eine einschläfernde Wirkung, und manchmal fiel ich in einen unruhigen Schlaf. Ab und zu rief einer der Männer ohne äußeren Anlaß: »Es gibt keinen Gott außer Gott!« Die anderen stimmten ein, um dann wieder zu schweigen und ihren Gedanken nachzuhängen. Das Tal zwischen den Dünen, in dem der Stamm hielt, um das Lager für die zweite Nacht aufzuschlagen, sah aus wie das Lager in der letzten Nacht. Ich fragte mich, wie sie es anstellten, in dieser riesigen Wüste von einem Ort zum anderen zu finden. Die Angst durchzuckte mich: und wenn sie es überhaupt nicht
konnten? Wenn sie nur so taten, als ob sie den Weg kannten? Was würde geschehen, wenn das Wasser in den Ziegenlederbeuteln ausginge? Während ich darauf wartete, daß Suleiman bin Sharif Fatma zum Niederkauern brachte, vergaß ich diese dummen Gedanken. Ich glitt über ihren Buckel und streckte meine schmerzenden Muskeln. Ich war den ganzen Tag ohne die Hilfe meiner Daddys geritten und war stolz auf mich. Nun ging ich zu Papa und half ihm von seinem Reittier. Dann sprangen wir beide ein und halfen den Beni Salim beim Aufbau des Lagers. Es war wieder eine dieser wunderbaren, friedlichen Nächte in der Wüste. Der erste Mißton kam auf, als Ibrahim bin Musaid auf mich zu trat, mir beinahe seine Nase ins Gesicht rammte und rief: »Ich lasse Euch nicht aus den Augen, Mann aus der Stadt! Mir entgeht nicht, wie Ihr Nura anglotzt. Ich sehe, wie sie Euch schamlose Blicke zuwirft. Bei meiner Ehre und dem allmächtigen Gott schwöre ich, daß ich sie eher töte, als daß ich zulasse, daß Ihr Euch über die Beni Salim lustig macht!« Damit war das Maß voll. Am liebsten hätte ich dem Schweinekerl einen ordentlichen Haken versetzt, aber ich wußte, daß die Beni Salim bei körperlicher Gewalt keinen Spaß verstanden. Ein Nasenstüber wäre für bin Musaid Anlaß genug, mich umzubringen. Und dabei hätte er das Verständnis des ganzen Stammes. Ich griff mir in den Bart – so schwören die Bedu einen Eid – und sagte: »Ich habe Nura nicht entehrt und auch nicht die Beni Salim. Ob man dich entehren kann, bezweifle ich, denn dazu müßtest du ja eine Ehre haben.« Ein Raunen ging durch die Umstehenden, und ich fragte mich, ob ich wohl zu weit gegangen war. Dazu neige ich ab und
zu. Wie dem auch sei, bin Musaids Miene verdüsterte sich, aber er sagte nichts darauf. Als er davonstürmte, wußte ich, daß ich einen Feind fürs Leben gewonnen hatte. Er blieb stehen, drehte sich noch einmal zu mir um, hob den dünnen Arm und deutete zornbebend auf mich: »Ich töte sie!« Ich wandte mich zu Hilal und bin Tukri, aber die zuckten nur die Achseln. Bin Musaid war mein Problem, nicht ihres. Es dauerte nicht lange, und am anderen Ende des Lagers brach der nächste Streit aus. Fünf Menschen brüllten aufeinander ein, und mit jedem Augenblick geriet ihre Auseinandersetzung lauter und gewalttätiger. Ich sah, wie bin Musaid und Nura wild gegeneinander einfuchtelten. Worauf bin Sharif, der junge Mann, der Nura heiraten wollte, ihr zu Hilfe eilte. Ich dachte schon, die beiden Burschen würden sich gleich an die Gurgel gehen. Eine ältere Frau kam dazu und begann ebenfalls, auf Nura einzubrüllen. »Das ist Umm Rashid«, erklärte Hilal. »Sie hat ein Temperament wie ein Wüstenfuchs.« »Ich verstehe nicht, was sie sagt.« Bin Turki lachte. »Sie wirft Nura vor, mit ihrem Ehemann zu schlafen. Ihr Mann ist zu alt, um überhaupt noch mit jemand zu schlafen, was jeder Beni Salim weiß, aber Umm Rashid schiebt die Schuld für die Vernachlässigung durch ihren Mann Nura in die Schuhe.« »Ich verstehe das alles nicht. Nura ist ein liebes, braves Mädchen, das nichts getan hat. Sie verdient das alles nicht.« »Lieb und gut zu sein, reicht in diesem Leben schon, um das Böse anzuziehen«, erklärte Hilal stirnrunzelnd. »Zuflucht suche ich beim Herrn der Welten.«
Umm Rashid kreischte und flatterte wie ein verrücktes Huhn mit den Armen vor Nura herum. Bin Musaid mischte sich mit ein und beschuldigte Nura mehr oder weniger, den Mann der Alten zu verführen. Bin Sharif versuchte sie zu verteidigen, aber er konnte kaum ein Wort einschieben. Endlich erschien Nuras Vater, Nashib, auf der Bildfläche. Er kam aus seinem Zelt, gähnte und kratzte sich den Bauch. »Was soll das alles?« fragte er. Worauf ihm Umm Rashid in das eine Ohr und bin Musaid in das andere brüllten. Nuras Vater lächelte müde und winkte mit den Händen ab. »Nein, nein«, erklärte er, »das kann nicht sein. Meine Nura ist ein braves Mädchen.« »Deine Nura ist eine Schlampe und eine Hure!« schrie Umm Rashid. Nun reichte es Nura. Sie lief davon – nicht in das Zelt ihres Vaters, sondern in das ihres Onkels Hassanein. »Ich lasse nicht zu, daß ihr sie so beschimpft«, verteidigte Sharif sie wütend. »Ah, und das ist ihr Zuhälter!« gab ihm die Alte heraus, wobei sie die Hände an die Hüften legte und herausfordernd den Kopf zur Seite neigte. »Ich warne dich, wenn du dieses Miststück nicht von meinem Mann fernhältst, wirst du das bereuen. Nach dem Koran darf ich das. Der Rechte Weg erlaubt mir, sie zu töten, wenn sie meinen Haushalt bedroht.« »Das stimmt nicht«, warf bin Sharif ein. »Das steht nirgends geschrieben.« Umm Rashid achtete nicht auf ihn. »Wenn du weißt, was gut für sie ist«, sagte sie zu Nashib gewandt, »hältst du sie von meinem Mann fern.« Nuras Vater lächelte nur. »Sie ist ein braves Mädchen«, wie-
derholte er. »Sie ist unberührt, eine Jungfrau.« »Ich ziehe dich zur Verantwortung, mein Onkel«, meldete sich bin Musaid zu Wort. »Es ist mir lieber, sie ist tot, als daß sie von so einem Ungläubigen aus der Stadt verdorben wird.« »Was für einem Ungläubigen aus der Stadt?« fragte Nashib verwirrt. »Wenn jemand so lieb und gut ist wie Nura«, sagte Hilal nachdenklich, »gibt es eine Menge Leute, die ihm weh tun wollen.« Ich nickte. Am nächsten Morgen fiel mir wieder ein, was er gesagt hatte, als ich Nuras leblosen Körper entdeckte.
7. Kapitel
In einer halbkreisförmigen Dünenkuhle nahe ihres Lagers standen die Beni Salim dicht zusammengedrängt um Nuras Leiche. Sie lag auf dem Rücken, der rechte Arm ruhte auf dem Sandhügel, als wolle sie in den Himmel greifen. Die Augen starrten weit geöffnet in den wolkenlosen Morgen. Ihr Hals war von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt, der goldene Sand war ganz schwarz von ihrem Blut. »Wie ein Tier«, flüsterte bin Turki. »Sie wurde abgeschlachtet wie eine Ziege oder ein Kamel.« Die Bedu standen in Gruppen zusammen, Friedlander Bei und ich standen bei Hilal und bin Turki. Weiter weg knieten Nashib und seine Frau am Boden und stießen laute Klageschrei aus. Nashib wirkte benommen und wiederholte ständig: »Es gibt keinen Gott außer Gott. Es gibt keinen Gott außer Gott.« Nicht weit entfernt waren Ibrahim bin Musaid und Suleiman bin Sharif in eine heftige Auseinandersetzung verwickelt. Bin Sharif deutete auf Nuras Leiche und bin Musaid hob die Hände, als wolle er einen Schlag abwehren. Daneben stand Scheich Hassanein. Er blickte düster drein und nickte, als ihn sein Bruder, Abu Ibrahim, ansprach. Zu dem Lärm und der allgemeinen Verwirrung trugen alle ihren Teil bei, entweder indem sie lautstark ihre Vermutungen anstellten, debattierten oder beteten. Auch aus dem Koran wurde viel zitiert. »Wahrlich, jene zu Unrecht dahingemetzelt werden«, zitierte Hilal, »geben das Recht auf Rache weiter an ihre Kinder und Kindeskinder, die
die Mörder solange verfolgen, bis Allahs Feuer ihre Eingeweide verzehrt. Allah spricht sie am Auferstehungstage nicht mit Güte an. Harte Strafe wartet auf sie!« »Gepriesen sei Allah«, entgegnete bin Turki, »aber wer ist der Erbe Nuras, der diese Blutschuld begleichen soll?« Hilal schüttelte den Kopf. »Nur Nashib, ihr Vater. Aber ich glaube nicht, daß er viel tun wird. Er neigt nicht zu Rachegelüsten.« »Vielleicht ihre Onkel«, warf ich ein. »Und wenn sie es nicht tun, werden wir uns dieser Angelegenheit annehmen«, erklärte Friedlander Bei. »Das ist eine sinnlose Tragödie. Dieses Mädchen ist mir sehr ans Herz gewachsen. Sie war ausgesprochen liebenswürdig zu mir, als ich krank darniederlag.« Ich nickte. Ich spürte, wie die Wut in mir aufstieg, dasselbe heiße, furchterregende Gefühl, das sich immer bei mir einstellte, sobald ich Zeuge eines Mordes wurde. Doch die anderen Morde waren zu Hause passiert. Im Budayin gehörten Verbrechen und gewaltsamer Tod zum Alltag. Meine hartgesottenen Freunde hoben deshalb kaum eine Augenbraue. Das hier war etwas anderes. Dieser Mord hatte innerhalb einer verschworenen Gemeinschaft stattgefunden, einem Stamm, dessen Mitglieder aufeinander angewiesen waren. Mir war klar, daß hier in der Wüste der Gerechtigkeit schneller und besser Genüge getan wurde als in der Stadt. Worüber ich froh war. Vergeltung würde Nura nicht wieder lebendig machen, aber die Gewißheit, daß die Stunden ihres Mörders gezählt waren, half etwas. Allerdings ließ sich nicht unmittelbar feststellen, wer sie um-
gebracht hatte. Die zwei, die wegen ihrer offenen Auseinandersetzung am vorherigen Abend am ehesten dafür in Frage kamen, waren bin Musaid und Umm Rashid. Scheich Hassanein erhob die Arme und bat um Aufmerksamkeit. »Dieses Mädchen muß bis Sonnenuntergang begraben werden«, erklärte er. »Und ihr Mörder muß gefunden und bestraft werden.« »Und der Blutpreis muß bezahlt werden!« rief der gramerfüllte Nashib. »Alles wird so geschehen, wie der Koran es befiehlt«, versicherte ihm Hassanein. »Abu Ibrahim, hilf mir, unsere Nichte zurück ins Lager zu tragen. Hilal, du und bin Turki beginnt das Grab zu schaufeln.« »Möge Gott ihr gnädig sein!« sagte einer der Umstehenden, als Hassanein und sein Bruder Nura in einen Umhang wickelten und sie hochhoben. Wir bildeten eine kleine Prozession von der halbkreisförmigen Sandkuhle durch einen engen Graben zurück ins Lager. Der Scheich wählte eine Stelle für den letzten Ruheplatz Nuras, und Hilal und bin Turki holten zwei zusammenklappbare Schaufeln und begannen, in dem harten Bauch der Wüste das Grab auszuheben. Inzwischen war Hassanein für ein paar Minuten in sein Zelt verschwunden. Als er wieder herauskam, war seine Keffiya ordentlicher drapiert. Vermutlich hatte er sich auch einen seiner zwei Moddys eingeschoben, wahrscheinlich den Moddy, der ihm die Weisheit eines religiösen Sunni-Führers verlieh. Die Beni Salim waren noch immer außer sich und voller Wut. Ringsum wurde lauthals diskutiert, man versuchte, den Mord zu verstehen. Der einzige, der sich nicht beteiligte, war
bin Musaid. Er zog es anscheinend vor, sich abzusondern. Er fing meinen Blick auf und fixierte mich seinerseits über die freie Fläche hinweg. Schließlich drehte er sich langsam um und wandte mir den Rücken zu – eine offene Beleidigung. »Scheich Marîd«, richtete Hassanein das Wort an mich. »Ich möchte mit Euch sprechen.« »Hm? Ja, kein Problem.« Er führte mich in das Dunkel seines Zeltes und bot mir einen Platz an. Ich nahm sein Angebot an. »Verzeiht mir bitte«, begann er, »aber ich muß Euch einige Fragen stellen. Wenn es Euch nicht stört, lassen wir den Kaffee und Einleitungskonversation weg. Im Augenblick will ich nur herausfinden, wie Nura starb. Erzählt mir, wie Ihr sie heute morgen auffandet.« Ich war absolut nervös, obwohl mich Hassanein wahrscheinlich nicht als Täter in Betracht zog. Ich gehörte schon als Kind immer zu denen, die auf die Frage des Lehrers, wer den die schmutzigen Ausdrücke an die Tafel geschrieben habe, dunkelrot wurden und schuldbewußt dreinsahen, auch wenn sie es gar nicht gewesen waren. Wichtig war jetzt nur, so sagte ich mir, tief Luft zu holen und dem Scheich zu erzählen, was passiert war. Ich atmete tief durch. »Ich muß aufgestanden sein, kurz bevor es dämmerte. Ich mußte mich erleichtern und ich erinnere mich daran, daß ich mich fragte, wie lange es wohl noch dauert, bevor uns der alte Hamad bin Mubarak mit seinem Gebetsruf weckt. Der Mond stand tief am Horizont, aber der Himmel war so hell, daß es mir nicht schwer fiel, meinen Weg durch die Dünen östlich vom Lager zu finden. Als ich fertig war, stolperte ich zurück zum Feuer. Ich muß einen anderen Weg gegangen
sein, weil ich Nura zuvor nicht gesehen habe. Sie lag ausgestreckt vor mir, genauso wie ihr sie gesehen habt. Im blassen Mondlicht sah ihr blutleeres Gesicht gespenstisch aus. Mir war sofort klar, daß sie tot ist. Ich beschloß, sofort zu Eurem Zelt zu kommen und die anderen nicht zu stören, bevor Ihr davon erfahren hattet.« Hassanein sah mich ruhig an. Mit dem Imam-Moddy verhielt er sich besonnener und sprach auch bedächtiger. »Ist Euch sonst etwas aufgefallen? Habt Ihr jemanden bemerkt? Waren Fußspuren zu sehen? Vielleicht die Tatwaffe?« »Ja«, antwortete ich, »Fußspuren waren da. Doch ich kann Fußspuren im Sand nicht so gut lesen wie im aufgeweichten Boden, o Scheich. Die Fußspuren müssen wohl von Nura und ihrem Mörder stammen.« »Habt Ihr Schleifspuren gesehen, die darauf hinweisen, daß sie dort hingezogen wurde?« Ich versuchte mich an die mondbeschienene Szenerie zu erinnern. »Nein«, sagte ich schließlich, »Schleifspuren habe ich ganz bestimmt nicht gesehen. Sie muß dorthin gegangen sein und sich mit dem Täter getroffen haben. Oder sie wurde getragen. Sie muß gelebt haben, als sie dort ankam, denn es führt keine Blutspur ins Lager.« »Nachdem Ihr mir von Nura erzählt habt, habt Ihr da noch mit jemand anderem gesprochen?« »Vergebt mir, o Scheich, aber als ich ans Feuer zurückkam, war bin Turki wach und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich erzählte ihm von Nura. Er geriet ganz außer sich, wodurch Hilal aufwachte, und kurze Zeit später wußten es alle anderen.« »Alles geschieht nach Allahs Willen«, erklärte Hassanein,
wobei er die Arme ausstreckte, die Handflächen nach oben gekehrt. »Ich danke Euch für Eure Aufrichtigkeit. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen und mir bei der Befragung anderer helfen?« »Ich tue, was ich kann«, antwortete ich, überrascht darüber, daß er mich um meine Mithilfe bat. Vielleicht dachte er, für Städter wäre so etwas nichts Ungewohntes. Nun, in meinem Fall hätte er damit recht. »Dann holt meinen Bruder, Nashib.« Ich ging wieder hinaus. Hilal und bin Turki waren noch immer dabei, das Grab auszuheben, kamen aber nur langsam voran. Ich ging zu Nashib und seiner Frau, die am Boden neben ihrer in den Umhang gewickelten Tochter knieten. Ich beugte mich zu ihnen hinunter und berührte den Alten an der Schulter. Er sah mich mit leeren Augen an. Ich fürchtete schon, daß er einen Schock erlitten hätte. »Kommt«, sagte ich, »der Scheich möchte euch sprechen.« Nuras Vater nickte und stand langsam auf. Er half auch seiner Frau auf die Beine. Sie stieß laute Klageschreie aus und schlug sich mit der Faust gegen die Brust. Von dem, was sie da schrie, verstand ich kein Wort. Ich führte die beiden in Hassaneins Zelt. »Möge der Frieden Allahs mit euch sein«, begrüßte sie der Scheich. »Nashib, mein Bruder, ich teile deinen Kummer.« »Es gibt keinen Gott außer Gott«, murmelte Nashib. »Wer hat das getan?« rief seine Frau. »Wer hat mir mein Kind genommen?« Ich fühlte mich wie ein Eindringling, als ich Zeuge ihres Schmerzes wurde. Dazu kam, daß ich ihnen nicht helfen konn-
te. Ich saß etwa zehn Minuten lang einfach ruhig da, während Hassanein beruhigend auf die beiden einredete und versuchte, sie soweit zu bringen, daß sie seine Fragen beantworten konnten. »Der Tag der Auferstehung wird kommen«, tröstete er sie. »Und an diesem Tag wird Nuras Gesicht strahlen, wenn sie den Herrn sieht. Und das Gesicht ihres Mörders wird angstverzerrt sein.« »Gepriesen sei Allah, der Herr der Welten«, betete Umm Nura. »Der gnädige Erbarmer, der Herr der über das Jüngste Gericht.« »Nashib …«, hub Hassanein an. »Es gibt keinen Gott außer Gott«, murmelte der Bruder des Scheichs, der kaum wußte, wo er sich befand. »Nashib, wer, glaubst du, hat deine Tochter umgebracht?« Nashib blinzelte ein-, zweimal und setzte sich dann auf. Er strich sich mit seinen langen Fingern durch den grauen Bart. »Meine Tochter?« flüsterte er. »Es war Umm Rashid. Diese Verrückte sagte, sie würde sie umbringen. Und jetzt hat sie es getan. Und du mußt dafür sorgen, daß sie dafür zahlt.« Er sah seinem Bruder direkt in die Augen. »Sie muß zahlen. Dafür mußt du sorgen, Hassanein. Schwöre es beim Grab unseres Vaters!« »Nein!« rief seine Frau. »Sie war es nicht! Es war bin Musaid, dieser eifersüchtige, bösartige Hund! Er war es!« Hassanein warf mir einen gequälten Blick zu. Ich beneidete ihn nicht um seine Verantwortung. Wiederum versuchte er ein paar Minuten lang, Nuras Eltern zu beruhigen. Dann führte ich sie aus dem Zelt.
Als nächstes wollte Hassanein Suleiman bin Sharif sprechen. Der junge Mann betrat das Zelt des Scheichs und setzte sich auf den sandigen Boden. Offensichtlich hatte er sich selbst kaum unter Kontrolle. Er blickte wild hin und her und ballte ständig die Hände in seinem Schoß. »Salam aleikum, o Guter«, begrüßte ihn Hassanein. Dabei kniff er die Augen zusammen, offensichtlich beobachtete er bin Sharif genau. »Aleikum as-salam, o Scheich«, antwortete der Junge. Es verstrich einige Zeit, bevor Hassanein das Wort wieder an ihn richtete. »Was weißt du darüber?« fragte er schließlich. Bin Sharif richtete sich auf, als sei er mit einer Nadel gestochen worden. »Was ich darüber weiß?« schrie er. »Wie sollte ich über so etwas Furchtbares etwas wissen?« »Das muß ich herausfinden. Wie standest du zu Nura bint Nashib?« Bin Sharif sah zwischen mir und Hassanein hin und her. »Ich liebte sie«, antwortete er tonlos. »Ich nehme an, alle Beni Salim wußten darüber Bescheid.« »Ja, das war allgemein bekannt. Und glaubst du, sie erwiderte deine Zuneigung?« Ohne zu zögern, antwortete er: »Ja, da bin ich mir sicher.« »Aber ihr konntet nicht heiraten. Ibrahim bin Musaid hätte das nie erlaubt.« »Gott schwärze das Gesicht dieses Hundes!« rief bin Sharif. »Gott zerstöre sein Haus!« Hassanein hob die Hand und wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte. »Hast du sie umgebracht? War es dir lieber, Nura bint Nashib tot zu sehen als die Frau bin Musaids?«
Bin Sharif versuchte zu antworten, brachte aber keinen Ton heraus. Er holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Nein, o Scheich, ich habe sie nicht umgebracht. Das schwöre ich beim Leben des Propheten, möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und der Friede mit ihm sein.« Hassanein erhob sich und legte bin Sharif die Hand auf die Schulter. »Ich glaube dir«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte dir in deinem Kummer beistehen.« Bin Sharif sah ihn gequält an. »Wenn Ihr den Mörder gefunden habt«, flüsterte er, »müßt ihr mich das Werkzeug sein lassen, das ihn vernichtet.« »Es tut mir leid, mein Sohn. Diese harte Pflicht ist mir auferlegt.« Es sah nicht so aus, als ob Hassanein sich über diese Pflicht freuen würde. Bin Sharif und ich gingen nach draußen. Jetzt war Umm Rashid an der Reihe. Ich ging zu ihr, aber als ich bei ihr war, wich sie zurück. »Friede sei mit Euch, o Frau«, sagte ich. »Der Scheich wünscht Euch zu sprechen.« Sie war völlig verschreckt und starrte mich an, als stünde ein Afrit vor ihr. Weiter zurückweichend rief sie: »Sprich nicht mit mir! Du bist kein Beni Salim und bedeutest mir nichts!« »Bitte, o Frau. Scheich Hassanein wünscht …« Sie fiel auf die Knie und begann zu beten. »O mein Herr! Große Prüfungen und großes Leid wurde mir auferlegt, viele Sorgen und Kümmernisse mußte ich ertragen, wenig Gutes habe ich getan und meine Fehler und Sünden lasten schwer auf mir. Deshalb, mein Herr, flehe ich dich an in deiner Größe …« Ich versuchte, sie hochzuziehen, aber sie fing sofort wieder an, auf mich einzuschreien und mich mit den Fäusten zu bear-
beiten. Hilflos wandte ich mich Hassanein zu, der sah, in welchen Schwierigkeiten ich steckte, und aus seinem Zelt kam. Ich wich zurück, und Umm Rashid fiel wieder auf die Knie. Der Scheich beugte sich zu ihr hinunter und redete leise auf sie ein. Ich sah, wie sie heftig den Kopf schüttelte. Er sprach weiter auf sie ein, wobei er mit einer Hand gestikulierte. Sein Gesichtsausdruck war milde, doch er sprach zu leise, als daß ich ihn hätte verstehen können. Wieder schüttelte sie den Kopf. Schließlich hakte Hassanein sie unter und half ihr auf die Beine. Sie fing an zu schluchzen und er begleitete sie zum Zelt ihres Mannes. Anschließend kehrte er in sein eigenes Zelt zurück und suchte seine Kaffee-Utensilien zusammen. »Wen möchtet Ihr als nächstes sprechen?« fragte ich. »Setzt Euch, Scheich Marîd«, sagte er. »Ich mache Kaffee.« »Der einzige wirkliche Verdächtige außer Umm Rashid ist Ibrahim bin Musaid.« Hassanein fuhr fort, als habe er mich nicht gehört. Er schüttete eine große Handvoll Kaffeebohnen in eine kleine eiserne Pfanne mit einem langen Stiel. Diese setzte er auf die glühenden Kohlen des Kochfeuers, das seine Frau am Morgen angefacht hatte. »Wenn wir am Morgen gut wegkommen«, sagte er, »sollten wir Khaba problemlos morgen zum Abendgebet erreichen, inshallah.« Ich sah auf das Lager hinaus, konnte Friedlander Bei aber nirgends entdecken. Die beiden jungen Burschen hoben noch immer das Grab für das tote Mädchen aus. Ein paar Beni Salim standen noch dabei und wendeten die Angelegenheit hin und her, doch die meisten waren bereits in ihre Zelte zurückgekehrt oder kümmerten sich um ihre Tiere. Bin Musaid stand allein,
den Rücken noch immer uns zugekehrt, als ob ihn das alles nicht berühre. Als die Kaffeebohnen zur Zufriedenheit Hassaneins geröstet waren, ließ er sie abkühlen. Er stand auf und holte einen kleinen Ziegenlederbeutel. »Hier«, sagte er, »meine Frau macht jeden Morgen frisches Laban für mich, ganz gleich, was geschieht.« Vergorene Kamelmilch, eine Art Joghurt. Ich nahm den Ziegenlederbeutel und murmelte »Bismillah«. Dann nahm ich einen Schluck und dachte darüber nach, wie merkwürdig es doch ist, daß alle, von meiner Mutter angefangen bis hin zu Scheich Hassanein, mir vergorene Kamelmilch aufzudrängen versuchten. Sie schmeckte mir nicht wirklich, aber um ihn in seiner Gastfreundschaft nicht zu verletzen, tat ich so. Ich gab ihm den Beutel zurück, und er nahm einen Schluck Laban. Inzwischen waren die Kaffeebohnen abgekühlt, und er gab sie in einen Messingmörser und zerstieß sie mit einem Stößel aus Stein. Er hatte zwei Kaffeekessel; der eine war aus poliertem Messing, das nur so blitzte, der andere war ganz schwarz vor Ruß. Er öffnete den rußigen Kessel, in dem noch die Reste des Frühstückskaffees waren, und warf die frisch zerstoßenen Bohnen hinein. Dazu goß er etwas Wasser aus einem Ziegenlederbeutel und fügte eine Prise Cardamompulver hinzu. Dann stellte er den schwarzen Kessel aufs Feuer und rührte den Kaffee so lange vorsichtig um, bis er kochte. »Danken wir Allah für Kaffee!« sagte Hassanein und goß ihn von dem rußigen Kessel in den glänzenden und wieder zurück in den rußigen und noch einmal in den glänzenden. Dadurch blieb der größte Teil des Kaffeesatzes zurück. Schließlich steckte
er noch ein Stück Hanf als Filter in den Schnabel des glänzenden Kessels. »Il hamdu illah!« sagte er. Gepriesen sei Gott. Er holte drei Kaffeetäßchen. Ich nahm ein Täßchen und sagte: »Möge Eure Tafel stets überquellen, o Scheich.« Er füllte meine Tasse, sah hoch und rief dann: »Ibrahim bin Musaid! Komm! Es gibt Kaffee!« Bin Musaid drehte sich um und sah uns an. Offensichtlich verstand er nicht, was der Scheich vorhatte. Langsam kam er auf uns zu. »O Scheich«, sagte er mißtrauisch, »habt Ihr nicht Wichtigeres zu tun?« Hassanein zuckte die Achseln. »Alles hat seine Zeit. Die Beni Salim haben viel Zeit. Jetzt ist die Zeit für Kaffee, für Erquickung und Labung!« Er reichte ihm eines der Täßchen. Wir tranken eine Tasse Kaffee und noch eins. Hassanein plauderte über sein Lieblingskamel, dessen Füße wund geworden waren und ihn wahrscheinlich nicht mehr über die Steinwüste in den Süden tragen würden. Es ist üblich, drei Täßchen Kaffee zu trinken und dann durch das Schwenken der leeren Tasse kundzutun, daß man genug habe. Nach der dritten Tasse lehnte sich Hassanein zurück und sah bin Musaid an. Das Schweigen wurde dick und bedrohlich. Schließlich lachte bin Musaid laut auf. »Das ist eine Finte, o Scheich. Ihr hofft, mich durch Euren Kaffee und Eure Gastfreundschaft zu beschämen. Ihr denkt, ich werde Eure Knie umklammern und Allah um Vergebung bitten. Ihr glaubt, ich habe Nura umgebracht.« Er stand auf und schmetterte zornig die Porzellantasse auf
den Boden, wo sie zersprang. Hassanein zuckte zusammen. »Ich habe nichts dergleichen gesagt«, meinte er. »Sucht Euren Mörder woanders, o Scheich«, rief bin Musaid wütend. »Seht Euch Euren Gast hier genauer an, den Ungläubigen aus der Stadt. Vielleicht kennen nur er und Allah die Wahrheit.« Mit diesen Worten drehte er sich um, ging quer über das Lager und verschwand in seinem schwarzen Zelt. Ich wartete darauf, daß Hassanein das Wort ergriff. Einige Minuten verstrichen, in denen er nur verdrießlich dasaß, als hätte er etwas Verdorbenes gegessen. Als meine Geduld beinahe erschöpft war, seufzte er tief. »Wir haben nichts erfahren«, sagte er traurig. »Überhaupt nichts. Wir müssen wieder von vorne anfangen.« Er stand langsam auf, und ich tat es ihm nach. Wir gingen hinüber zu Hilal und bin Turki, die noch immer das Grab für Nura schaufelten. »Noch etwas tiefer, o ihr Erhabenen«, sagte Hassanein. »Aber wenn ihr fertig seid damit, legt das Mädchen nicht hinein.« »Wir sollten sie bald beerdigen«, meinte bin Turki und hielt sich, als er hochsah, die Hand vor die Augen, damit ihn die Sonne nicht blendete. »Der edle Koran …« Hassanein nickte. »Sie soll vor Sonnenuntergang beerdigt werden, wie es das Gesetz Gottes vorschreibt. Aber legt sie nicht in das Grab, bevor ich es euch sage.« »Ja, o Scheich«, antwortete Hilal. Er warf bin Turki einen Blick zu, doch der zuckte nur die Achseln. Keiner von uns hatte eine Ahnung, was Hassanein im Sinn hatte. »In Hadramaut, das ist ein Scheichtum im Absatz des arabischen Stiefels«, erklärte Hassanein, »muß ein Mörder manch-
mal eine Feuerprobe auf sich nehmen. Natürlich ist das alles Aberglaube und so eine Probe ist nur so viel wert wie der Glaube, der in ihre Macht gesetzt wird.« Ich merkte, daß er mich aus dem Lager hinaus, zu der Kamelherde führte. Die Jungen waren auf die Ghaf-Bäume geklettert, die in den engen Dünentälern wuchsen. Sie hatten grüne Äste abgeschnitten und die Kamele taten sich daran gütlich. Hassanein fuhr fort mit seiner Geschichte über die Hadramaut. »Die Zeremonie findet stets am Morgen statt, nach dem Gebet zum Tagesanbruch. Der Zeremonienmeister versammelt den des Mordes Angeklagten, die Zeugen, die Familie des Opfers und alle anderen Beteiligten. Für die Probe braucht er eine Messerklinge, die über dem Feuer erhitzt wurde. Wenn er der Meinung ist, daß das Messer heiß genug ist, muß der Angeklagte seinen Mund öffnen. Der Meister wickelt sich seine Keffiya um die Hand und packt die Zunge des Angeklagten. In der anderen Hand hält er das glühende Messer, das er auf die Zunge des Mannes legt. Zuerst mit der einen flachen Seite, dann mit der anderen.« »Und was soll das?« fragte ich. Hassanein ging zu seinem Lieblingskamel, einer Stute, und tätschelte sie am Hals. »Ist der Mann unschuldig, wird er auf der Stelle ausspucken können. Doch der Meister wird ihm in der Regel ein paar Stunden Gnadenfrist einräumen. Danach wird seine Zunge untersucht. Sieht sie sehr verbrannt aus, wird er als schuldig verurteilt. Er wird sofort hingerichtet, es sei denn, die Familie des Opfers akzeptiert ein vernünftiges Blutgeld. Sind keine Anzeichen für eine Verbrennung erkennbar oder ist nur eine leichte Verfärbung feststellbar, wird er für
unschuldig erklärt und freigesprochen.« Ich fragte mich, worauf der Scheich hinauswollte. Er ließ das Kamel sich hinkauern und begann es zu satteln. »Und bei den Beni Salim existiert dieser Brauch nicht?« Hassanein lachte. »Wir sind nicht so abergläubisch wie die Wilden der Hadramaut.« Meiner Meinung nach waren die Beni Salim abergläubisch genug, doch ich hielt es für klüger, das für mich zu behalten. »Wollt Ihr ausreiten?« fragte ich. »Nein«, antwortete Hassanein. Er warf dem Kamel zwei Palmfasermatten über den Rücken, direkt hinter dem Höcker, und legte darauf seinen hölzernen Sattelrahmen. Den Rahmen band er über dem Widerrist, vor dem Höcker, fest. Darauf legte er ein dickes Palmfaserkissen über den Holzrahmen, rückte es zurecht hinter dem Höcker und band es mit einem Seil fest. Dieses Kissen stand hinten hoch auf, wie eine Art unbequeme Rückenlehne. Dann wickelte Hassanein eine Decke über das Kissen und darüber kam ein schweres Schaffell. Mit dicken Wollstricken wurde alles fixiert. Er trat einen Schritt zurück, betrachtete sein Werk und befand es für gut. Er packte die Führungsleine des Tieres, ließ es aufstehen und führte es zurück in das Lager. »Wißt Ihr, wer der Mörder ist?« fragte ich. »Noch nicht, aber bald. Ich hörte einmal einen Mann in Salala davon erzählen, wie in anderen Ländern Verbrecher überführt und bestraft werden.« Wehmütig schüttelte er den Kopf. »Ich dachte nicht, daß ich je darauf zurückgreifen müßte.« »Ihr wollt dazu dieses Kamel benützen?« Er nickte. »Ihr wißt, die Araber sind nicht das einzige gewitz-
te und kluge Volk auf der Welt. Manchmal scheint mir, unser Stolz steht uns im Weg, Ideen zu übernehmen, die uns weiterhelfen könnten.« Er führte das Kamel direkt an den Rand des Grabes, aus dem Hilal und bin Turki Schaufel um Schaufel herauswarfen. »Ich brauche die Hilfe von euch dreien«, erklärte der Scheich und ließ das Kamel sich wieder niederkauern. Dabei deutete er auf die im Umhang eingewickelte Leiche Nuras. »Ihr wollt sie auf den Sattel setzen?« fragte Hilal. »Ja«, antwortete Hassanein. Wir drei sahen uns an und dann den Scheich. Doch wir halfen ihm, das tote Mädchen hochzuhieven. Er brauchte noch ein paar Stricke, um sie festzubinden, damit sie nicht herunterfiel, sobald das Kamel aufstand. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, aber es erschien mir ziemlich bizarr. »Steh auf, Ata Allah«, murmelte Hassanein. Seine Kamelstute hieß ›Gottesgeschenk‹. Er drängte sie, und sie beschwerte sich, aber langsam kam sie auf die Beine. Der Scheich zog nochmal an der Führungsleine und führte sie im Kreis um das Lager. Hilal, bin Turki und ich schauten verwundert zu, wie Hassanein das Kamel wegführte. »Ist das ein Brauch der Beni Salim?« fragte ich. »So eine Art wandernde Totenwache, wo die Angehörigen an dem einen Ort bleiben und die Leiche auf Wanderschaft geht?« »Nein«, entgegnete bin Turki stirnrunzelnd. »Ich habe den Scheich noch nie so erlebt. Vielleicht hat ihn der Mord an seiner Nichte in den Wahnsinn getrieben.« »Werden bei den Bedu oft Menschen umgebracht?« erkundigte ich mich.
Die zwei Burschen sahen einander an und zuckten die Achseln. »Genauso oft wie woanders auch, nehme ich an«, antwortete bin Turki. »Ein Stamm überfällt den anderen und dabei sterben einige. Das zieht Blutrache nach sich, und die Fehde beginnt. Manchmal zieht sich so eine Fehde über Jahre hin, über Jahrzehnte oder sogar über Generationen.« »Aber innerhalb eines Stammes, wie hier, gibt es selten einen Mord«, warf Hilal ein. »Das ist unnatürlich.« Hassanein wandte sich um und rief: »Kommt, Scheich Marîd, kommt mit mir!« »Ich verstehe nicht, was er da macht«, sagte Hilal. »Ich glaube, er hofft auf diese Art herauszufinden, wer der Mörder ist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie das gehen soll«, antwortete ich und lief Ata Allah und ihrer makaberen Last hinterher. Inzwischen waren viele Beni Salim aus ihren Zelten gekommen und deuteten auf Hassanein und das Kamel. »Mein Baby! Mein Kind!« kreischte Nuras Mutter. Sie riß sich von ihrem Mann los und lief stolpernd auf das Kamel zu. Dabei betete sie laut und erhob zwischendurch Anschuldigungen, bis sie weinend zusammenbrach. Nashib ging zu ihr und versuchte ihr auf die Beine zu helfen, aber sie ließ sich nicht trösten. Nuras Vater schaute ratlos auf seine Frau hinunter und dann hoch zu dem Bündel, das seine Tochter war. Ihm schien nicht ganz klar zu sein, was hier vor sich ging. Suleiman bin Sharif kam quer über das Lager und trat uns in den Weg. »Was macht Ihr? Das ist eine Schande!« »Bitte, o Erhabener«, antwortete Hassanein, »du mußt mir dein Vertrauen schenken.«
»Sagt mir, was Ihr da macht«, beharrte bin Sharif. »Ich möchte dafür Sorge tragen, daß jedem hier klar ist, was mit Nura geschah, dem Licht unserer Tage.« »Aber es gibt keinen im Stamm, der davon noch nicht gehört hätte.« »Davon zu hören ist eine Sache. Die Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen ist eine andere.« Bin Sharif hob vor Widerwillen die Arme und ließ den Scheich das Kamel weiter im Kreis führen. Wir erreichten das Zelt Umm Rashids. Die Alte schüttelte nur den Kopf. Ihr Mann, der wirklich zu altersschwach war, um mit einer Frau herumzuschäkern, steckte den Kopf aus dem Zelt und greinte, weil er etwas zu essen wollte. Umm Rashid murmelte ein Gebet in Nuras Richtung, dann verschwand sie im Zelt. Als wir dreiviertel unseres Rundweges zurückgelegt hatten, sah ich, daß Ibrahim bin Musaid uns mit einem Ausdruck tiefsten Hasses beobachtete. Er stand da wie aus Sandstein gemeißelt und drehte nur leicht den Kopf, als wir näher kamen. Er sagte nichts, als wir an ihm vorbeigingen und wieder das Grab erreichten, das Hilal und bin Turki aus dem Wüstenboden gescharrt hatten. »Ist die Zeit gekommen, sie zu beerdigen, o Scheich?« fragte ich. »Schaut zu und lernt«, antwortete Hassanein. Statt das Kamel anzuhalten, führte er Ata Allah am Grab vorbei und begann, das Lager ein zweites Mal zu umkreisen. Ein lautes Seufzen ging durch die Beni Salim, die uns zusahen und genauso verwirrt waren wie ich.
Nuras Mutter stand neben unserem Weg und verfluchte uns laut. »Hundesohn!« schrie sie und bewarf Hassanein mit Sand. »Möge Euer Haus zerstört werden! Warum laßt Ihr meine Tochter nicht in Frieden ruhen?« Sie tat mir leid, aber Hassanein zog einfach weiter, ohne eine Miene zu verziehen. Mir war nicht klar, warum er das tat, er schien mir unnötig grausam zu sein. Nashib stand reglos neben seiner Frau. Allmählich schien er mitzubekommen, was um ihn herum vorging. Bin Sharif hatte etwas Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was Hassanein hier machte. Sein Zorn war etwas abgekühlt. »Ihr seid ein weiser Mann, o Scheich«, erklärte er. »Das habt Ihr über die Jahre hinweg bewiesen, in denen Ihr die Beni Salim sicher und gerecht geführt habt. Ich füge mich Eurem Wissen und Eurer Erfahrung, aber dennoch denke ich, daß dies hier eine Beleidigung der Toten ist.« Hassanein blieb stehen und ging zu bin Sharif. Er legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. »Vielleicht bist du eines Tages der Scheich dieses Stammes«, sagte er. »Dann wirst du die Leiden verstehen, die es mit sich bringt, Führer zu sein. Doch du hast recht. Was hier geschieht, ist ein Unrecht meiner Nichte gegenüber, doch es geht nicht anders. Ham kitab.« Das bedeutete: »Es steht geschrieben.« Was zwar nichts erklärte, aber bin Sharif zum Schweigen brachte. Bin Sharif sah dem Scheich in die Augen und senkte schließlich den Blick. Als wir mit unserer Prozession fortfuhren, sah ich, wie er langsam und in Gedanken versunken auf sein Zelt zuging. Ich hatte bisher nicht viel Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen, aber ich hatte von ihm den Eindruck eines intelligenten, ernsthaften jungen Mannes gewonnen. Falls Hassanein
recht behalten und bin Sharif ihm einmal nachfolgen würde, würden die Beni Salim wohl in guten Händen bleiben. Ich hielt den Blick einfach geradeaus gerichtet, etwas unglücklich darüber, Teil dieser merkwürdigen Prozession zu sein. Es war wieder ein typischer Tag für die Weite Ödnis, und der Wind blies mir den heißen Sand ins Gesicht, bis es mir reichte. Ich hatte genug. Und Friedlander Bei mochte denken, was er wollte, ich fand das Bedu-Leben nicht im mindesten romantisch. Es war hart und schmutzig und, was mich anging, ohne die geringste Annehmlichkeit, die das Leben lebenswert machte. Darum beneidete ich sie nicht. Ich betete, daß Allah mich bald in die Stadt zurückkehren ließe, denn mir war klar geworden, ein guter Nomade würde ich nie werden. Am Ende des Rundgangs stand bin Musaid, der sich noch nicht von der Stelle bewegt hatte. Er fixierte uns noch immer mit zusammengekniffenen Augen, die Arme über der Brust verschränkt. Er sagte kein Wort und hatte sich keinen Zentimeter bewegt. Es war beinahe greifbar, wie er unter der Anstrengung, sich unter Kontrolle zu halten, am ganzen Leib bebte. Er schien jeden Augenblick zu explodieren. Wenn es soweit war, wollte ich nicht in seiner Nähe sein. »Genug, o Scheich?« fragte bin Turki, als wir wieder am Grab angelangt waren. Es begann sich schon wieder langsam mit feinem Sand zu füllen, den der Wind über den Wüstenboden blies. Hassanein schüttelte den Kopf. »Noch eine Runde«, sagte er. Mir sank das Herz. »Werden Sie erklären, was das soll, o Scheich?« fragte ich ihn.
Hassanein wandte mir den Kopf zu, doch sein Blick ging über mich hinweg, weit in die Ferne. »Am Ende der Welt lebte einst ein Volk«, begann er mit müder Stimme zu erzählen, »ein Volk so arm wie wir, das genauso ein Leben der Wanderschaft und Mühsal führte. Wurde einer von ihnen getötet, so trugen ihn die Stammesältesten fünf-, sechsmal um ihr Lager. Beim erstenmal hielt jeder inne, um zu sehen, was hier geschah. Und sie versammelten sich, um gemeinsam um das unglückliche Opfer zu trauern. Beim zweiten Mal sah nur die Hälfte von ihnen zu. Beim dritten Mal interessierte es nur noch ein paar von ihnen. Und beim fünften oder sechsten Mal war nur noch ein Zuschauer da, der wissen wollte, was mit der Leiche geschah, und das war der Mörder.« Ich sah mich im Lager um und entdeckte, daß beinahe alle wieder an ihre Arbeit gegangen waren. Zwar war heute morgen ein bei allen beliebtes Mädchen gestorben, aber deshalb war noch immer viel zu tun, wenn die Beni Salim oder ihre Tiere nicht hungern und dürsten wollten. Wir führten Ata Allah langsam im Kreis, wobei nur noch bin Musaid und ein paar andere uns zusahen. Nuras Vater blickte sich nach seiner Frau um, aber die war schon vor langem im Zelt verschwunden. Nashib stand gegen ein gespanntes Seil gelehnt und starrte uns mit leeren Augen an. Als wir zu bin Musaid kamen, trat er uns in den Weg. »Möge Allah Euer Leben dafür zerstören«, knirschte er zornbebend. Dann ging er in sein Zelt. Als wir diesmal bei den zwei jungen Burschen angelangten, erhielten sie von Hassanein ein paar Anweisungen. »Sucht nach der Mordwaffe«, trug er ihnen auf. »Ein Messer. Hilal, du
suchst, wo Scheich Marîd Nuras Leiche fand. Und du, bin Turki, suchst beim Zelt ihrer Eltern.« Wir gingen am Grab vorbei und begannen unsere letzte Runde. Wie Hassanein vorhergesagt hatte, hatten wir nur noch einen Zuschauer: Nashib, seinen Bruder, Nuras Vater. Bevor wir ihn erreichten, lief Hilal auf uns zu. »Ich habe es gefunden!« rief er. »Ich habe das Messer gefunden!« Hassanein nahm es und untersuchte es kurz. Er zeigte es mir. »Seht Ihr?« sagte er. »Das ist Nashibs Zeichen.« »Ihr eigener Vater?« Ich war überrascht. Ich hätte gewettet, daß bin Musaid der Mörder war. Hassanein nickte. »Ich vermute, er fing an, sich Sorgen zu machen, an dem Klatsch und den Gerüchten könnte doch ein Körnchen Wahrheit sein. Wenn Nura entehrt wäre, hätte er nie den Brautpreis für sie bekommen. Wahrscheinlich tötete er sie, weil er dachte, dafür würde ein anderer zur Verantwortung gezogen – mein Neffe Ibrahim oder die alte Umm Rashid – und er könnte so wenigstens das Blutgeld kassieren.« Ich sah zu Nashib, der noch immer mit leerem Gesichtsausdruck neben seinem Zelt stand. Ich war entsetzt, daß jemand wegen so eines Blödsinns seine eigene Tochter töten konnte. Die Rechtsprechung ist bei den Bedu einfach und direkt. Scheich Hassanein hatte alles, was er brauchte, um sich sicher zu sein, daß Nashib der Mörder war. Und doch gab er Nashib eine Chance, trotz der Beweislast seine Unschuld zu beteuern. Als wir bei ihm ankamen, merkten die anderen Beni Salim, daß wir den Mörder gefunden hatten. Sie kamen aus ihren Zelten und blieben stehen, um zu sehen, was nun geschehen würde. »Nashib, Sohn meines Vaters«, begann Hassanein, »du hast
deine eigene Tochter getötet, Fleisch von deinem Blut und Geist von deinem Geist. ›Tötet nicht Eure Kinder aus Angst vor der Armut‹, heißt es im edlen Koran, ›wir werden für sie und für Euch sorgen. Sehet!, sie zu töten ist eine schwere Sünde.‹« Nashib hörte ihm mit gesenktem Kopf zu. Er schien kaum mitzubekommen, was geschah. Seine Frau war zusammengebrochen. Sie lag schluchzend am Boden und rief Allah an. Einige der anderen Frauen kümmerten sich um sie. Bin Musaid hatte sich abgewandt, seine Schultern bebten. Bin Sharif starrte Nashib nur an, völlig verwirrt. »Leugnest du, schuldig zu sein?« fragte Hassanein. »Wenn du es wünschst, kannst du deine Unschuld am großen Schrein Scheich Ismail bin Nasrs beschwören. Aber denke daran, daß erst im Jahr vor dem letzten Jahr Ali bin Sahib einen Meineid vor diesem heiligen Schrein schwor und binnen einer Woche an einem Schlangenbiß starb.« Das war derselbe Scheich Hassanein, der mir zuvor versichert hatte, die Beni Salim seien nicht abergläubisch. Ich fragte mich, wie sehr er von Schwüren an heiligen Schreinen und ähnlichem überzeugt war und wie weit der ganze Zauber nur um Nashibs willen aufgefahren wurde. Der Mörder, Nuras eigener Vater, antwortete so leise, daß nur Hassanein und ich ihn verstehen konnten: »Ich schwöre keinen Eid.« Das war sein Schuldeingeständnis. Hassanein nickte. »Dann wollen wir Nura für die Zeit bis zum Jüngsten Gericht vorbereiten. Morgen bei Sonnenaufgang kannst du für deine Seele beten, Nashib. Und dann werde ich tun, was meine Pflicht ist, inshallah.« Nashib schloß die Augen. Noch nie zuvor habe ich im Gesicht eines Menschen so einen herzzerreißenden Schmerz
gesehen. Ich dachte, er würde jeden Moment ohnmächtig. Wir brachten Nura zurück zum Grab. Zwei Frauen holten ein weißes Leintuch, das als Leichentuch diente, und wickelten das Mädchen darin ein, wobei sie weinten und beteten. Hassanein und Abu Ibrahim, Nuras Onkel, legten sie ins Grab und der Scheich sprach ein Gebet für sie. Dann gab es nichts zu tun, als das Grab wieder zuzuschaufeln und mit ein paar Steinen zu markieren. Hassanein und ich sahen zu, wie Hilal und bin Turki ihre Arbeit beendeten. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich weiß nicht, was der Scheich dachte, aber ich fragte mich, warum so viele Menschen glaubten, mit einem Mord ihre Probleme lösen zu können. Ob nun in der vor Menschen brodelnden Stadt oder hier in der leeren Wüste – kann denn das Leben tatsächlich so unerträglich werden, daß nur der Tod eines anderen helfen kann? Oder liegt es einfach daran, daß wir ganz tief drinnen nie so recht glauben, das Leben eines anderen sei wirklich genauso viel wert wie unser eigenes? Als die beiden jungen Männer mit ihrer traurigen Arbeit fertig waren, schloß sich Friedlander Bei uns an. »Möge der Segen Allahs auf ihr ruhen und der Friede mit ihr sein«, sagte er. »Scheich Hassanein, Euer Bruder ist geflohen.« Hassanein zuckte die Achseln, als hätte er gewußt, daß das geschehen würde. »Er sucht den Tod in der Wüste, statt von meiner Hand zu sterben.« Er reckte sich und seufzte. »Doch wir müssen ihm folgen und zurückholen, falls es Gottes Wille ist. Diese Tragödie ist noch nicht vorbei.«
8. Kapitel
Nun, so sehr ich die Vorstellung auch haßte, die Zeit bei den Beni Salim hatte mein Leben verändert. Dessen war ich mir ziemlich sicher. Als ich auf Fatma so dahindöste, hing ich meinen Tagträumen über die Zeit nach unserer Rückkehr in die Stadt nach. Besonders gut gefiel mir die Vorstellung, wie ich auf Reda Abu Adil losplatzte und ihm den großen Kuß gab, der bei den sizilianischen Unterweltkönigen als Todeszeichen galt. Dann fiel mir wieder ein, daß Abu Adil tabu war, und ich suchte mir ein anderes Objekt der Begierde. Wem könnte ich noch den Hals umdrehen? Hajjar? Dem sowieso, aber Hajjar eins überzubraten war bei weitem nicht so befriedigend. Friedlander Bei, da war ich mir sicher, erwartete eine höhere Charge. Eine Fliege machte sich in meinem Gesicht zu schaffen, verärgert verscheuchte ich sie. Ich machte die Augen auf, um zu sehen, ob sich etwas geändert hatte – aber alles war noch wie zuvor. Wir schaukelten noch immer über die Sandberge namens Uruq ash-Shaiba. Und das waren Berge und keine Hügel. Ich hatte nicht gewußt, daß Dünen so hoch werden konnten. Die Sandgipfel der Uruq ash-Shaiba erhoben sich zweihundert Meter hoch und erstreckten sich nach Osten wie Wellen gefrorenen Sonnenlichts. Manchmal war es sehr mühsam, die Kamele auf den Rücken dieser Berge hinaufzubringen. Oft mußten wir absteigen und die Tiere am Zügel hochführen. Die ganze Zeit über waren die
Kamele widerwillig, hin und wieder mußten wir sogar ihre Last erleichtern und einen Teil selber tragen. An den Abhängen war der Sand weich, verglichen mit dem harten, dichten Wüstenboden, und selbst für die Kamele, die an sich sicher auf den Beinen sind, wurde es schwierig, sich die Dünenkämme hochzukämpfen. Ging es dann abwärts, was natürlich viel steiler war, liefen die Tiere ständig Gefahr, zu stolpern und sich ernsthaft zu verletzen. Wenn das eintrat, konnte es uns das Leben kosten. Wir hatten zu sechst die Verfolgung aufgenommen. Ich ritt neben Hassanein, der, ohne daß dies offen ausgesprochen worden wäre, unser Anführer war. Sein Bruder, Abu Ibrahim, ritt neben bin Musaid, und Suleiman bin Sharif ritt neben Hilal. Bei der nächsten Rast kauerte sich der Scheich auf den Boden und zeichnete eine grobe Skizze in den Sand. »Das ist der Weg von Bir Balagh über die Wasserstelle von Khaba nach Mughshin«, erklärte er und ritzte eine gekrümmte, von Norden nach Süden verlaufende Linie in den Sand. Etwa dreißig Zentimeter rechts davon ritzte er eine zweite Linie in den Sand, die zur ersten parallel verlief. »Das hier ist Oman. Möglicherweise glaubt Nashib, beim König von Oman Zuflucht suchen zu können. Aber da würde er sich gewaltig täuschen. Der König von Oman ist schwach, da hat der Emir von Muscat die Hand drauf, und der ist ein strenger Verfechter der islamischen Rechtsprechung. Da würde Nashib nicht viel länger leben, als wenn er zu den Beni Salim zurückkehrte.« Ich deutete auf den Raum zwischen dem Westweg und der Grenze zu Oman. »Was ist das hier?« fragte ich. »Dieses Gebiet haben wir gerade erreicht«, gab mir Hassanein zu Antwort und strich über den honigfarbenen Sand. »Diese
hohen Sanddünen hier sind die Uruq ash-Shaiba. Dahinter jedoch kommt noch etwas Heimtückischeres.« Er fuhr mit dem Daumen entlang der Grenze zu Oman. »Die Umm as-Samim.« Das hieß soviel wie ›Mutter des Giftes‹. »Was hat es denn damit auf sich?« fragte ich. Hassanein sah hoch zu mir und blinzelte. »Umm as-Samim«, wiederholte er den Namen, als würde das allein schon alles erklären. »Nashib ist mein Bruder und ich glaube, ich weiß, was er vorhat. Ich denke, das hier ist sein Ziel, denn er zieht es vor, sich seinen Tod selbst zu suchen.« Ich nickte. »Ihr seid also nicht unbedingt darauf erpicht, ihn einzuholen?« »Wenn er in der Wildnis sterben möchte, lasse ich das zu. Aber trotzdem sollten wir darauf vorbereitet sein, ihn abzufangen, wenn er statt dessen hier zu entkommen sucht.« Er wandte sich an seinen Bruder »Musaid, nimm deinen Sohn und reite an die Nordgrenze der Umm as-Samim. Bin Sharif, du und Hilal, ihr reitet nach Süden. Dieser Edle aus der Stadt und ich folgen Nashib an den Rand der Treibsandwüste.« Wir teilten uns also auf und planten, uns mit den anderen Beni Salim in Mughshin wiederzutreffen. Wir hatten nicht viel Zeit, denn in der Uruq ash-Shaiba gab es keine Wasserstellen. Wir mußten mit dem Wasser in den Ziegenlederbeuteln auskommen, bis wir Nashib eingeholt hatten. Der Tag verstrich, und ich wurde mit meinen Gedanken alleine gelassen. Hassanein war nicht besonders gesprächig, und es gab auch nicht viel zu besprechen. Ich hatte einiges von ihm gelernt. Mir kam es so vor, als ob ich mich in der Stadt manchmal selbst lähmte, wenn ich endlos über richtig und falsch und
all die Grauschattierungen dazwischen nachgrübelte. Hier in den Dünen waren die Entscheidungen klarer. Zu lange zu warten, sämtliche Aspekte einer Handlung abzuwägen, konnte fatale Folgen haben. Ich gelobte mir, wenn ich wieder in der Stadt war, die Denkweise der Bedu beizubehalten. Ich würde das Gute belohnen und das Böse bestrafen. Das Leben war zu kurz, um sich mit Relativierungen und mildernden Umständen aufzuhalten. In diesem Augenblick stolperte Fatma, faßte aber sogleich wieder Tritt. Die Unterbrechung des rhythmisch dahinschaukelnden Rittes riß mich aus meiner Nabelschau und erinnerte mich daran, daß es naheliegendere Probleme gab. Dennoch konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, es sei Allahs Wille gewesen, daß ich diese Lektion lernte. Es kam mir vor, als sei der Mord an Nura arrangiert worden, um mir eine Lehre zu erteilen. Warum Nura deshalb sterben mußte, konnte ich nicht verstehen. Hätte ich den tiefreligiösen Friedlander Bei danach gefragt, hätte er nur mit den Achseln gezuckt und gesagt: »Es gefällt Gott.« Eine unbefriedigende Antwort, aber die einzige, die ich bekommen würde. Gespräche über solche Themen gingen unvermeidlich in eine Art spätpubertäre Diskussion darüber über, warum Allah das Böse in der Welt duldete. Gepriesen sei Allah, der Unergründliche! Scheich Hassanein und ich ritten bis Sonnenuntergang, dann hielten wir an und schlugen in einer kleineren Ebene zwischen zwei riesigen Dünen unser Lager auf. Ich hatte immer gehört, es sei klüger, in der Nacht unterwegs zu sein und in der heißen Sonne zu schlafen, aber die Beni Salim hielten es für sicherer,
entgegen dieser Allerweltsweisheit zu handeln. Schließlich hatte Fatma schon tagsüber, wenn sie sehen konnte, wo sie hintrat, genug Probleme, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Nachts wäre das eine Herausforderung des Schicksals. Ich nahm Fatma die Last ab und band sie mit einer langen Kette fest, die es ihr erlaubte, sich das kärgliche Abendessen selbst zu suchen. Weil wir mit leichtem Gepäck reisen mußten, hatten wir auch nicht viel mehr zu essen. Wir kauten unsere zwei oder drei Streifen getrocknetes Ziegenfleisch, während Hassanein über einem kleinen Feuer den Pfefferminztee zubereitete. »Wie weit noch?« fragte ich, während ich ins Feuer schaute. Er schüttelte den Kopf. »Das ist schwer zu sagen, wenn man nicht weiß, was Nashib vorhat. Falls er tatsächlich durch die Umm as-Samim will, ist unsere Aufgabe morgen mittag beendet. Falls er uns entkommen will – was ihm nicht gelingen wird, da er nur überleben kann, wenn er bald Wasser findet – müssen wir ihn von drei Seiten umzingeln und dann kann es zu einer Konfrontation kommen. Doch ich setze darauf, daß mein Bruder sich letztendlich ehrenhaft verhalten wird.« Etwas verstand ich nicht. »O Scheich«, fragte ich, »Ihr nanntet die Umm as-Samim ›Treibsandwüste‹. Ich dachte immer, so was gäbe es nur in Holoshows und dann auch nur entlang eines nicht gerade überzeugenden Dschungelpfads.« Hassanein lachte kurz auf. »Ich habe noch nie eine Holoshow gesehen.« »Der Treibsand schaut dort wie dicker Schlamm aus. Und warum sollte man, wenn man Wasser überqueren kann, nicht über ein dichteres Medium kommen? Man wird ja nicht sofort
hinuntergezogen.« »Hinuntergezogen?« fragte der Scheich. Er runzelte die Stirn. »Viele Männer fanden den Tod in der Umm as-Samim. Aber keiner wurde hinuntergezogen. ›Hindurchgefallen‹ ist der passendere Ausdruck. Die Treibsandwüste besteht aus einem sumpfigen See aus nicht trinkbarem Wasser, der von einer Kruste alkalischer Kristalle bedeckt ist, die von den Flüssen aus den Bergen entlang der Grenze zu Oman herausgewaschen werden. An manchen Stellen trägt diese Kruste das Gewicht eines Mannes. Allerdings sieht man diese Kruste nicht, weil sie vom Wüstenwind mit Sand zugeweht wurde. Aus der Ferne sieht die Umm as-Samim wie eine ruhige, sichere Ebene am Wüstenrand aus.« »Aber wenn Nashib sie zu überqueren versucht …« Hassanein schüttelte den Kopf. »Möge Allah seiner Seele gnädig sein.« Dabei fiel uns ein, daß wir zu spät mit unserem Sonnenuntergangsgebet dran waren, wenn auch nur ein paar Minuten. Wir fegten eine kleine Fläche frei und führten die rituellen Waschungen mit dem sauberen Sand durch. Dann beteten wir und schlossen noch ein Gebet für Nuras Seele ein und eine Bitte um Führung, die uns alle betraf. Anschließend war es Zeit zu schlafen. Ich war erschöpft. Es wurde eine unruhige Nacht, in der ich merkwürdige Träume hatte. An einen kann ich mich noch erinnern – eine starke Vaterfigur kam darin vor, die mir ständig Vorhaltungen machte, auch ja am Freitag in die Moschee zu gehen. Dabei erlaubte mir die Vaterfigur nicht einmal, in irgendeine alte Moschee zu gehen, sondern es mußte die sein, die auch sie
besuchte. Wobei sie mir nicht sagte, welche das war. Erst als ich aufwachte, merkte ich, daß das gar nicht mein Vater gewesen war, sondern Jirji Shaknahyi, mein Partner während der kurzen Zeit, in der ich für die Polizeiabteilung der Stadt gearbeitet hatte. Der Traum beunruhigte mich aus zwei Gründen zutiefst: ab und zu machte ich mir noch immer Vorwürfe wegen Shaknahyis Tod, und ich fragte mich, wie er dazu kam, für die strenge und brüske Art in meinen Träumen zu stehen. So war er überhaupt nicht gewesen. Warum raubte er mir jetzt die Ruhe, statt, sagen wir mal, Friedlander Bei? Wir nahmen eine weitere Mahlzeit aus getrocknetem Ziegenfleisch und Tee zu uns, bevor wir die Kamele beluden und uns aufmachten, Nashib zu suchen. Normalerweise gab es zum Frühstück nur Reisbrei und Datteln. »Eßt soviel Ihr wollt«, sagte Hassanein. »Vor uns liegt ein Tag voller unerfreulicher Ereignisse. Eßt und trinkt nur, denn wir werden nicht mehr Halt machen, bevor mein Bruder tot ist.« Wie kann er darüber nur so ruhig sprechen? dachte ich. Ich hatte mich für hart gehalten, aber dieser Wüstenhäuptling zeigte mir, was wahre Härte und Stärke waren. Ich warf Fatma den kunstvoll gearbeiteten Sattel über den Rücken, und sie spielte wie immer die Widerwillige. Ich nahm die Hälfte unserer Vorräte vom Sattel und brachte das Kamel auf die Beine. Wahrlich keine einfache Aufgabe. Des öfteren schon habe ich mir gewünscht, die Beni Salim wären einer dieser Wüstenclans, der auf wundervollen Pferden durch die Landschaft jagte. Statt dessen hatte ich dieses störrische, stinkende Vieh. Na gut, so gefiel es Allah.
Wir trieben die Kamele nach Osten, zur Umm as-Samim. Hassanein hatte recht, das würde ein unerfreulicher Tag werden. Doch am Ende würde eine Lösung kommen, eine Katharsis für den Scheich, inshallah. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir waren beide in unsere düsteren Gedanken gehüllt, wie wir da auf unseren Kamelen saßen und langsam unserem Treffen mit Nashib entgegen schaukelten. Ein paar Stunden waren auf diese Weise vergangen, als der Scheich grimmig rief: »Allahu Akbar! Da ist er!« Ich sah sofort hoch. Ich mußte wohl gedöst haben, denn mir war die weite, glitzernde Ebene vor uns zuvor nicht aufgefallen. Am Rand im Westen stand ein Mann, der sein Kamel absattelte, als ob er ein Lager aufschlagen wolle. »Immerhin«, sagte ich, »nimmt er das arme Tier nicht mit.« Hassanein wandte sich zu mir und starrte mich an. Normalerweise hatte er einen Sinn für Humor, doch der war jetzt wie weggebrannt. Er wirkte hart und eine Spur rachedurstig. Wir trieben die Kamele an, so sehr wir konnten, und ritten die hohen Dünen hinunter wie eine Bande Bedu auf Beutezug. Als wir nur noch fünfzig Meter von Nashib entfernt waren, drehte er sich zu uns um. Sein Blick war weder wütend noch voller Angst, nur ungemein traurig. Er hob den Arm und winkte uns zu. Ich weiß nicht, was er damit sagen wollte. Dann drehte er sich wieder um und lief auf die helle Kruste der Umm as-Samim zu. »Nashib!« rief Hassanein verzweifelt. »Warte! Kehre mit uns zu den Beni Salim zurück, wo dir wenigstens vergeben werden kann, bevor ich dich töten muß! Ist es nicht besser, inmitten deines Stammes zu sterben als hier draußen, an diesem schreck-
lichen Ort und ganz allein?« Nashib schenkte den Worten seines Bruders keine Beachtung. Als wir ihn beinahe eingeholt hatten, hob er zögernd den Fuß und betrat die sandbedeckte Kruste. »Nashib!« rief Hassanein. Dieses Mal drehte sich der Mörder um. Er legte die Hand auf sein Herz, berührte anschließend mit den Fingern die Lippen, küßte sie und führte sie an die Stirn. Es schien der längste Augenblick der Weltgeschichte, doch schließlich drehte er sich wieder um und machte ein paar weitere Schritte auf der alkalischen, sandverwehten Kruste. »Vielleicht wird er …« Beim Entsetzensschrei Nashibs, als er beim nächsten Schritt durch die Kruste brach, blieben mir die Worte im Halse stecken. Ohne die geringste Chance fiel er in den sumpfigen See darunter. Sein Kopf tauchte noch einmal kurz auf, aber er schlug hilflos um sich. Die Schwimmkunst zählt nicht zu den unerläßlichen Überlebenstechniken der Beni Salim. »Im Namen Allahs, des gnädigen Erbarmers«, klagte Hassanein. »Möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und der Friede mit ihm sein.« »Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Gott«, sagte ich, beinahe so erschüttert wie mein Begleiter. Ich schloß die Augen, obwohl jetzt nichts mehr zu sehen war als das kleine Loch, das Nashib in die Salzkruste gebrochen hatte. Es war das letzte Zeichen von ihm. Er starb sehr schnell. Es blieb nichts mehr zu tun und die karge Umgebung gebot, den Stamm in Mughshin so schnell wie möglich zu finden. Hassanein war diese Notwendigkeit klarer als mir, weshalb er wortlos von seinem Kamel stieg, die Zügel von Nashibs Kamel
nahm und es über den heulenden Sand zu seinem Tier führte. Was es hier zu trauern gab, erledigte der Scheich im Schweigen, als wir unserem Ziel entgegen nach Südwesten schlingerten. Ich kann mich nicht daran erinnern, an diesem Tag noch ein Wort mit Hassanein gewechselt zu haben. Er trieb unsere kleine Gruppe an bis zum äußersten und wir ritten bis eine oder zwei Stunden in die Nacht hinein. Nur für das Gebet zu Sonnenuntergang hielten wir kurz an. Dazu machte der Scheich nicht viele Worte: »Der südliche Teil der Dünen ist jetzt hungrig. Es gibt wenig Wasser und Weidemöglichkeit für die Kamele. In diesem Teil der Wüste herrscht zur Zeit eine Dürre.« Zum Teufel damit, beinahe hätte ich ihn gefragt, wie an einem Ort wie der Weiten Ödnis eine Dürre herrschen könne. Woran merkt man das? Wahrscheinlich kann man den gesamten Niederschlag eines Jahres in einem Viertelliterglas fassen. Doch da Hassanein offensichtlich nicht zu einem Gespräch aufgelegt war, blieb ich ruhig. Etwa zwei Stunden nachdem wir unser Lager aufgeschlagen, unser karges Mahl zu uns genommen und unsere Decken beim Feuer ausgebreitet hatten, stießen Hilal und bin Sharif zu uns. Ich war froh, sie zu sehen, obwohl die jüngsten Ereignisse so drückend über diesem Wiedersehen hingen wie die Angst vor Gott. Die zwei Neuankömmlinge machten sich ihr Lager neben dem Feuer zurecht. »Wir konnten Euch und Nashib von weitem sehen«, erzählte Hilal. »Sobald wir sahen, daß Ihr den Rand der Umm as-Samim verlaßt, war uns klar, daß sich Nashib umgebracht haben mußte. Darauf zogen wir quer durch die Dünen, um Euch abzufangen. Wir hätten Euch früher einge-
holt, doch Ihr müßt ein kräftezehrendes Tempo geritten sein.« »Ich möchte mich hier nicht länger aufhalten als unbedingt notwendig«, knurrte Hassanein. »Unsere Nahrungs- und Wasservorräte …« »Sind ausreichend, denke ich«, fiel ihm bin Sharif ins Wort. »Ihr möchtet nur das, was geschehen ist, hinter Euch lassen.« Der Scheich starrte ihn lange an. »Kritisierst du mich, Suleiman bin Sharif?« fragte er ihn mit einer Stimme so grimmig, wie man sie sich grimmiger kaum vorstellen konnte. »Yaa salaam, das würde ich nicht wagen«, sagte der junge Mann. »Dann breite deine Decke aus und versuche zu schlafen. Wir haben morgen eine lange Reise vor uns.« »Wie Ihr sagt, o Scheich«, antwortete Hilal. Ein paar Augenblicke später träumten wir alle unter dem schwarzen, kalten Himmel der Rub Al Khali. Am nächsten Morgen bauten wir das Lager ab und machten uns auf, uns unseren Weg durch die Wüste zu suchen. Wobei Hassaneins Gedächtnis unsere einzige Stütze war. Tagelang waren wir unterwegs, schweigend bis auf Hassanein. Und auch der sprach nur, wenn es unumgänglich war: »Zeit zu beten!«, »Hier anhalten!« oder »Genug für heute!« Ansonsten hatte ich mehr als genug Zeit für Introspektion, das können Sie mir glauben, die ich auch nutzte. Ich war zu dem Schluß gekommen, daß mich die Zeit bei den Beni Salim nicht nur verändert hatte, sondern daß ich, sobald ich nach Hause kam – und nicht falls ich nach Hause kam –, mein Verhalten drastisch ändern würde. Auf meine Unabhängigkeit war ich immer wahnsinnig erpicht gewesen, doch nun wünschte ich mir irgendwie die
Anerkennung dieses rauhen Clans und seines schweigsamen Führers. Schließlich waren wir so lange, so viele Tage, unterwegs, daß die Gedanken an die Stadt verblaßten. Ich dachte nur noch daran, die nächste Stadt sicher zu erreichen, das nächste BeduDorf am Südrand der Dünen. Und daher war ich ungemein froh, als Hassanein uns anhielten ließ und zum Horizont deutete, in etwa nach Süd-Südwest. »Die Berge«, kündigte er an. Ich schaute hin, konnte aber keine Berge entdecken. »Das sind die letzten paar Kilometer in den Dünen. Wir sind jetzt in Ghanim.« Sicher, o Scheich, wenn Ihr meint. Für mich sah alles noch immer so aus wie zuvor. Aber wir drehten etwas nach Süden und stießen bald auf den Jahrhunderte alten Pfad von Khaba nach Mughshin, der auf der anderen Seite des Qarra-Gebirges entlangführte. Mughshin war unser Ziel, dort würden wir den übrigen Stamm treffen. Wenn die Beni Salim über Mughshin redeten, hörte sich das an, als wäre es Singapur oder Edo oder New York. Ich hatte mir vorgenommen, mich mit einer Meinung zurückzuhalten, bis ich die Gelegenheit hatte, es selbst zu erkunden. Ein, zwei Tagesreisen später begann das Gelände höher zu werden, und ich zweifelte nicht mehr daran, daß der Scheich wußte, wohin er uns führte. Am Fuß der Berge, die zwischen uns und der Küste lagen, war Mughshin. Vor meinem geistigen Auge konnte ich den Ort sehen, so viele Geschichten hatten mir meine Gefährten erzählt. Der Schock der Wahrheit traf mich also völlig unvorbereitet. Mughshin bestand aus fünfzig oder sechzig Zelten – die übliche Handelsware aus Europa –, die sich
über eine weite Ebene verteilten, um den jeweiligen Bewohnern genügend Privatsphäre zu gewähren. Ein starker, beißender Wind trieb den Sand durch das Dorf, und niemand war zu sehen. Bin Sharif und Hilal waren außer sich vor Freude, als das Dorf in Sichtweite war. Sie standen auf dem Rücken ihrer Kamele, schwenkten ihre Gewehre und riefen die üblichen Gebete. »Geht«, sagte Hassanein, »und schaut, ob unser Stamm schon da ist. Wo wir gewöhnlich unser Lager aufschlagen, ist es anscheinend noch leer.« »Es kann gut sein, daß wir schneller waren«, meinte bin Sharif. »Wir kommen schneller voran als der langsame Zug der Beni Salim.« Der Scheich nickte. »Dann warten wir hier auf sie.« Hilal kniete in seinem Sattel und rief etwas, das ich nicht verstand. Dann trieb er sein Kamel an, bin Sharif folgte ihm dicht auf den Fersen. Hassanein deutete auf das Dorf. »Ist Eure Stadt noch größer?« wollte er wissen. Das brachte mich aus der Fassung. Ich blickte auf die Handvoll grüner und grauer Zelte. »In gewisser Weise ja«, antwortete ich, »und in gewisser Weise sicherlich nicht.« Der Scheich brummte. Die Zeit für Plaudereien war vorbei. Er gab seinem Kamel einen Tritt, und ich folgte ihm langsam. Ein Art Siegestaumel bewältigte sich meiner, weil ich in dieser extrem untertechnisierten Umgebung überlebt hatte. Das Tuning meines Schädels hatte mir seit der Rettung durch die Beni Salim nicht viel genutzt. Ich hatte sogar versucht, nicht mehr auf die Schmerz-, Hunger- und Durstblocker zurückzu-
greifen, weil ich mir selbst beweisen wollte, daß ich alles genauso ertragen konnte wie die unmodifizierten Bedu. Natürlich war ich auch nicht nur annähernd so diszipliniert wie sie. Wenn der Schmerz, Hunger oder Durst zu groß wurde, zog ich mich dankbar hinter das Schutzschild meiner SchädelSoftware zurück. Übertreibung macht keinen Sinn, besonders wenn nur der eigene Stolz auf dem Spiel steht. In den Dünen schien mir der Preis für Stolz zu hoch zu sein. Es stimmte, die Beni Salim waren noch nicht da. Scheich Hassanein führte uns an den Platz, wo sein Stamm gewöhnlich lagerte, und wir schlugen ein provisorisches, ungeschütztes Biwak auf. Sehnsüchtig sah ich zu den Dauerzelten hinüber! Ich hätte ein Menge Geld bezahlt, um so eins zu mieten. Schließlich war der Wind beißend kalt und trug eine Menge Sand mit. Eine frühere Version von Marîd Audran hätte gesagt: »Zum Teufel damit!«, um hinüber zu gehen und in einem dieser Zelte zu schlafen. Jetzt hielt mich nur mein Stolz, mein teurer Stolz, davor zurück, Hassanein und die zwei jungen Männer zu verlassen. Was sie von mir hielten, war mir wichtiger als meine Bequemlichkeit. Das war neu. Am nächsten Tag war es ziemlich langweilig. Es gab nichts zu tun, solange die Beni Salim uns nicht eingeholt hatten. Ich sah mir das Dorf an, was schnell erledigt war. Ich entdeckte einen kleinen Souk, in dem die ehrgeizigeren Mughshin-Händler Decken auf dem Boden ausgebreitet hatten, auf denen sie ihre Waren auslegten. Es gab frisches Fleisch und beinahe frisches Fleisch, Gemüse, Datteln und anderes Obst, und die Stützen der Bedu-Kost: Reis, Kaffee, Dörrfleisch und Kohl, Karotten und noch ein paar andere Gemüsesorten.
Überrascht war ich, als ich auf einen Greis stieß, der nur sieben kleine Plastikkärtchen auf seiner Decke ausgebreitet hatte: Daddys aus Salala, die über die Berge gebracht und Gott-weißwoher importiert worden waren. Neugierig sah ich sie mir an. Es interessierte mich, was dieser gerissene alte Bursche an die paar Dröhnschädel verkaufte, die sich in der Rub Al Khali herumtrieben. Es gab zwei Heiliger-Imam-Daddys, wahrscheinlich die gleichen wie das von Hassanein; zwei Medizindaddys; ein Daddy mit den diversen südarabischen Dialekten; ein exotisches Sexmanual für Einzelgänger; und ein Kompendium der Scharia, des religiösen Gesetzes. Letzteres, dachte ich, wäre ein schönes Geschenk für den Scheich. Ich fragte also den Alten nach dem Preis. »Zweihundertfünfzig Riyal«, klärte er mich auf. »Ich habe keine Riyal«, gestand ich, »nur Kiam.« Ich hatte fast vierhundert Kiam, die ich vor Inspektor al-Bishah in Najran versteckt hatte. Der Alte musterte mich scharf. »Kiam, hm? In Ordnung, einhundert Kiam.« Nun war ich dran mit Erstaunt-Dreinsehen. »Das ist zehnmal soviel, wie das Ding wert ist!« rief ich. Er zuckte bloß die Achseln. »Irgendwann wird einer kommen, der meint, es sei hundert Kiam wert, und dann verkaufe ich es für hundert Kiam. Nein, nein. Aber weil Ihr ein Gast in unserem Dorf seid, gebe ich es Euch für neunzig.« »Ich zahle fünfzehn dafür«, hielt ich dagegen. »Dann geht, sucht Eure Gefährten. Ich bin auf Euer Geld nicht angewiesen. Gott der Allmächtige wird für mich sorgen,
und es wird mir an nichts fehlen, inshallah. Achtzig Kiam.« Ich zeigte ihm meine leeren Hände. »So einen stolzen Preis kann ich nicht zahlen. Fünfundzwanzig Kiam kann ich mir leisten, aber höher kann ich nicht gehen. Nur weil ich hier fremd bin, bin ich noch lange nicht reich.« »Fünfundsiebzig«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Seine Art zu handeln war eher als netter Sozialritus einzustufen denn als ernstgemeinter Versuch, mir mein Geld zu entlocken. Das ging noch ein paar Minuten so weiter, bis ich schließlich vierzig Kiam für den Rechtsbeistand-Daddy zahlte. Der Alte verneigte sich vor mir, als sei ich ein bedeutender Scheich. Was ich aus seiner Sicht ja auch war. Ich nahm den Daddy und machte mich auf den Weg zu unserem Lagerplatz. Bevor ich zwanzig Meter weit gekommen war, hielt mich ein anderer Dorfbewohner auf. »Salam«, grüßte er. »Alaikum as-salam«, erwiderte ich. »Seid Ihr daran interessiert, o Erhabener, einige besonders hervorragende und seltene Persönlichkeitsmodule auszuprobieren?« »Na ja«, sagte ich, neugierig geworden, »vielleicht.« »Wir haben da ein paar … sehr ungewöhnliche, wie Ihr sie nirgends sonst finden werdet, weder in Najran, noch jenseits der Berge, Salala.« Ich lächelte nachsichtig. Schließlich kam ich nicht aus einer Hinterwäldlerstadt wie Najran oder Salala. Meiner Meinung nach hatte ich ein paar der merkwürdigsten und perversesten Moddys der Welt ausprobiert. Und doch reizte es mich zu wissen, was dieser dürre Kameljockey anzubieten hatte. »Ja«,
antwortete ich, »zeigt sie mir.« Er war sehr nervös, als hätte er Angst, jemand könnte uns hören. »Es könnte mich die Hand kosten, daß ich Euch diese Moddys zeige, die wir verkaufen. Wenn Ihr jedoch ohne Geld hineingeht, würde uns das beide schützen.« Ich verstand nicht ganz. »Was soll ich mit meinem Geld machen?« »Der Händler, der Euch den Daddy verkaufte, hat metallene Geldkassetten, o Scheich. Gebt ihm Euer Geld und er wird es sicher aufbewahren, Euch eine Quittung geben und einen Schlüssel für die Kassette. Dann kommt in mein Zelt und probiert die Moddys aus, so lange Ihr wollt. Wenn Ihr Euch entschieden habt, ob Ihr kaufen wollt oder nicht, gehen wir zurück und holen Euer Geld. Auf diese Weise können wir, wenn eine Amtsperson die Demonstration unterbricht, beweisen, daß Ihr nicht kaufen wolltet und ich nicht verkaufen wollte, weil Ihr, o Erhabener, kein Geld bei Euch habt.« »Wie oft werden Eure ›Demonstrationen‹ unterbrochen?« wollte ich wissen. Der Bedu-Schieber sah mich an und blinzelte ein paarmal. »Ab und zu«, sagte er, »ab und zu, o Scheich. Das ist eines der Risiken, die zu diesem Geschäft gehören.« »Ja, ich weiß. Das ist mir bekannt.« »Dann, o Erhabener, kommt mit mir und gebt Euer Geld Ali Mohammed, dem alten Händler.« Diesem jungen Mann traute ich nicht ganz, aber der alte Kaufmann hatte einen ehrlichen Eindruck im altmodischen Sinne auf mich gemacht. Wir marschierten zu seiner Decke. Der Jüngere sagte: »Ali
Mohammed, dieser Herr möchte sich unser Angebot an EinserModdys ansehen. Er ist bereit, sein Geld bei Euch zu hinterlegen.« Ali Mohammed sah mich scheel an. »Er ist nicht von der Polizei oder einer dieser Unruhestifter?« »Allein das Gespräch mit diesem edlen Scheich überzeugte mich von seiner Vertrauenswürdigkeit«, erwiderte der Jüngere. »Ich schwöre bei allen Schreinen aller Imams, daß er keine Schwierigkeiten machen wird.« »Wir werden ja sehen«, brummte Ali Mohammed mißmutig. »Wieviel Bares hat er denn bei sich?« Ich zögerte kurz und holte dann einen Großteil meiner Geldrolle heraus. Ich wollte ihm nicht alles geben, was aber beiden klar zu sein schien. »Ihr dürft nichts in der Tasche behalten«, erklärte Ali Mohammed. »Zehn Riyal würden ausreichen, um uns drei eine schwere Strafe einzuhandeln.« Ich nickte und reichte ihm auch den Rest. Wer A sagt muß auch B sagen, sagte ich mir. Nur daß ich ein paar hundert Kiam rausrücken mußte. Der alte Händler verschwand in einem nahegelegenen Zelt. Er blieb nur zwei, drei Minuten aus. Als er zurückkam, händigte er mir einen Schlüssel und eine handgeschriebene Quittung aus. Wir dankten einander, wie es üblich ist, und dann brachte mich mein nervöser Führer zu einem anderen Zelt. Wir hatten noch nicht die halbe Strecke zurückgelegt, als er sagte: »O, habt Ihr die fünf Kiam Depotgebühr für den Schlüssel hinterlegt, o Scheich?« »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Welche Depotgebühr? Es
ist das erste Mal, daß ich von einer Depotgebühr höre.« »Es tut mir aufrichtig leid, o Herr, aber wir können Ihnen die Moddys nicht zeigen, bevor Ihr die Depotgebühr bezahlt habt. Es sind nur fünf Kiam.« Langsam wurde mir unwohl. »Da«, sagte ich und gab der heimtückischen Vogelscheuche die Quittung zu lesen. »Hier steht nichts über die Depotgebühr, o Scheich«, gestand er ein. »Aber es sind nur fünf Kiam mehr und dafür könnt Ihr Euch den ganzen Tag mit den Moddys Eurer Wahl vergnügen.« Ich war der Vorstellung, an Moddys ›nur für Erwachsene‹ zu kommen, zu leicht auf den Leim gegangen. »Stimmt«, gab ich ihm recht. »Ihr habt gesehen, wie ich dem Alten das ganze verdammte Geld gab. Ich habe keine fünf Kiam mehr.« »Das ist ein Problem, o Weiser. Ich kann Euch die Moddys nicht zeigen, wenn die Depotgebühr nicht bezahlt ist.« Da war mir klar, daß sie mich dran gekriegt hatten, daß es wahrscheinlich gar keine Moddys gab. »Stimmt«, gab ich ihm wütend heraus. »Gehen wir zurück und holen wir das Geld.« »Ja, o Scheich, wenn Ihr das wünscht.« Ich kehrte um zu Ali Mohammeds Decke. Er war verschwunden. Spurlos verschwunden. Den Eingang zu dem Zelt, in dem sich die Geldkassetten befanden, bewachte ein Riese mit einem finsteren Gesicht. Ich ging zu ihm hin, zeigte ihm meine Quittung und verlangte, eingelassen zu werden, um mein Geld zu holen. »Ich kann Euch nicht einlassen, so lange Ihr die fünf Kiam Depotgebühr nicht bezahlt habt«, wies er mich ab. Sein Geknurre dabei war für einen Menschen höchst ungewöhnlich. Ich versuchte es mit Drohen, Bitten, Versprechen einer gro-
ßen Belohnung beim Eintreffen Friedlander Beis mit den übrigen Beni Salim. Er sprang auf nichts an. Schließlich gestand ich mir ein, über den Tisch gezogen worden zu sein, und wandte mich zu meinem nervösen Führer um. Er war auch verschwunden. Da stand ich nun mit einer wertlosen Quittung in der Hand und einem Schlüssel – der wahrscheinlich der teuerste wertlose Schlüssel der Welt war – und der Erkenntnis, soeben eine Lektion in Sachen Stolz erhalten zu haben. Eine ziemlich teure Lektion, aber nichtsdestoweniger eine Lektion. Mir war klar, daß Ali Mohammed und sein junger Kompagnon wahrscheinlich bereits halb über die Qarra Berge drüber waren und daß sich auch der Bedu-Muskelprotz, sobald ich ihm den Rücken zukehrte, aus dem Staub machen würde. Ich fing an zu lachen. Diese Anekdote würde ich Friedlander Bei nicht erzählen. Ich konnte einfach sagen, man hätte mich in der Nacht ausgeraubt, während ich schlief. Und irgendwie stimmte das ja auch. Ich ging und machte mich lustig über mich und meine vermeintliche Überlegenheit. Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq, der uns an diesen schrecklichen Ort verbannt hatte, hatte mir letztendlich einen Gefallen erwiesen. Mehr als einen, denn ich hatte einige Illusionen verloren, die ich mir über mich gemacht hatte. Ich verließ die Wüste als ein anderer, als der ich hineingeplumpst war. Vier oder fünf Tage später trafen die Beni Salim ein, was mit lautstarker Wiedersehensfreude und vielen, vielen Feiern begangen wurde. Ich überzeugte mich, daß Friedlander Bei den Treck gut überstanden hatte und so glücklich und gesund wirkte wie nie zuvor. Bei einer der vielen Wiedersehensfeiern
umarmte mich Scheich Hassanein wie ein Familienmitglied und nahm Friedlander Bei und mich offiziell in den Stamm auf. Ich fragte mich, ob das je gelegen kommen würde. Und natürlich schenkte ich Hassanein den Scharia-Daddy, worüber er sich sehr freute. Am nächsten Tag bereiteten wir uns für unsere Abreise vor. Bin Turki wollte uns begleiten und über die Berge zu der Küstenstadt Salala führen. Von dort würden wir auf dem ersten Schiff, das nach Qishn fuhr, eine Passage buchen. Qishn lag etwa hundertzwanzig Kilometer weiter im Westen und war die nächste Stadt mit einem Shuttle-Flughafen. Wir waren auf dem Weg nach Hause.
9. Kapitel
An Bord des Stratosphärenshuttles Imam Mohammed al-Baqir war der Service kaum besser als an Bord des Flugzeugs, das uns nach Najran, ins Exil, geflogen hatte. Wir waren zwar jetzt keine Gefangenen, aber in unserem Flugpreis waren keine Mahlzeiten und nicht mal freie Getränke enthalten. »Das haben wir davon, ans Ende der Welt gespült worden zu sein«, sagte ich. »Nächstesmal sollten wir daran arbeiten, in einer komfortableren Ecke zu landen.« Friedlander Bei nickte nur. Er fand diese Bemerkung nicht witzig. Es war, als sei die Zukunft für ihn voll solcher Entführungen und unerfreulicher Abenteuer. Friedlander Beis nicht vorhandener Sinn für Humor war schon beinahe so etwas wie ein besonderes Kennzeichen für ihn. Er hatte ihm den Aufstieg vom mittellosen Immigranten zu einem der zwei einflußreichsten Männer der Stadt ermöglicht. Und er hatte zu seiner übertriebenen Vorsicht beigetragen. Friedlander Bei vertraute niemandem, selbst denen nicht, die er über viele Jahre hinweg immer wieder geprüft hatte. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mir traute. Bin Turki sagte kaum ein Wort. Er saß nur da, das Gesicht gegen das Bullauge gepreßt, und gab gelegentlich einen aufgeregten Kommentar ab oder stieß einen unterdrückten Ausruf der Überraschung hervor. Es war gut, ihn bei uns zu haben, denn er erinnerte mich an die Zeit, bevor ich des modernen Lebens überdrüssig geworden worden war. All das war neu für
bin Turki, der wie eine Vogelscheuche herausstach in dem ärmlichen Salala – einer Stadt, die ihre Existenz einer Kreuzung verdankte. Mir graute bei dem Gedanken, was mit ihm geschehen könnte, wenn er mit uns nach Hause kam. Ich war mir nicht sicher, ob es besser war, ihn so schnell wie möglich zu korrumpieren und zu verderben – damit er den Wölfen des Budayin nicht mehr so hilflos ausgeliefert war – oder seine liebenswerte Unschuld zu schützen. »Die Flugzeit von Qishn nach Damaskus beträgt vierzig Minuten«, kam die Durchsage des Kapitäns. »Alle Passagiere haben ausreichend Zeit, ihren Anschlußflug zu erreichen.« Eine gute Nachricht. Auch wenn wir nicht genug Zeit hatten, uns Damaskus, die älteste ständig bewohnte Stadt der Welt anzusehen, war ich froh, möglichst schnell in unsere Stadt zu kommen. Wir würden etwa fünfunddreißig Minuten Aufenthalt in Damaskus haben und dann mit einem anderen Stratosphärenclipper direkt in die Stadt fliegen. Wieder zu Hause sein! Wir würden zwar hilflos wie frisch geschlüpfte Küken sein und uns nicht frei bewegen können, aber zumindest wären wir daheim. Friedlander Bei schaute nach dem Start lange unverwandt aus seinem Fenster, in Gedanken versunken, über die ich nur Mutmaßungen anstellen konnte. Schließlich sagte er: »Wir müssen uns klar werden, wo wir hingehen, wenn der Clipper von Damaskus in der Stadt landet.« »Warum gehen wir nicht einfach zur Residenz?« fragte ich. Er sah mich ein paar Sekunden lang mit ausdruckslosem Gesicht an. »Weil wir in den Augen des Gesetzes noch immer Verbrecher sind. Für das, was dort als ›Recht‹ gilt, sind wir
flüchtige Gesetzesbrecher.« Das hatte ich alles vergessen. »Sie wissen gar nicht, was der Ausdruck bedeutet.« Papa winkte ungeduldig ab. »Sobald wir unser Gesicht in der Stadt zeigen, verhaftet uns dein Kommissar Hajjar und stellt uns wegen dieses unaufgeklärten Mordes vor Gericht.« »Sprechen in der Stadt alle diesen arabischen Kauderwelsch?« meldete sich bin Turki zu Wort. »Ich verstehe nicht einmal, worum es geht!« »Ich fürchte ja. Aber du wirst dich bald in den Dialekt eingewöhnen, der in der Stadt gesprochen wird«, erklärte ich ihm, bevor ich mich wieder Papa zuwandte. Diese ernüchternde Erkenntnis machte mir deutlich, daß unsere Probleme noch lange nicht vorbei waren. »Was schlagt Ihr vor, mein Onkel?« »Wir brauchen jemanden, der vertrauenswürdig ist und bereit, uns für etwa eine Woche bei sich aufzunehmen.« Ich verstand nicht ganz. »Eine Woche? Was soll in dieser Woche geschehen?« Friedlander Bei ließ mich die ganze Macht seines eiskalten Lächelns spüren. »Bis dahin werden wir eine Unterredung mit Scheich Mahali arrangiert haben. Wir machen ihm klar, daß man uns um die Möglichkeiten betrogen hat, die uns vom Gesetz her zustehen. Daß wir das Recht auf Einspruch haben und daß wir ihn, den Emir, mit größtem Nachdruck bitten, unsere Rechte zu schützen, da er dadurch zugleich die Korruption des Beamtenapparats, die direkt unter seiner Nase stattfindet, aufdeckt.« Mich schauderte, und dann dankte ich Allah, daß nicht ich das Ziel dieser Nachforschung war – zumindest nicht lange
genug, um deshalb nervös zu werden. Ich fragte mich, wie gut wohl Kommissar Hajjar und Dr. Abd ar-Razzaq schliefen. Und ob sie etwas von dem Netz ahnten, das sich über sie legte. Die Vorstellung ihres bevorstehenden Untergangs bereitete mir ein ungemeines Vergnügen. Ich mußte wohl wieder eingeschlafen sein, denn kurze Zeit später weckte mich einer der Stewards auf. Er wollte sich vergewissern, ob bin Turki und ich uns zur Landung angeschnallt hatten. Bin Turki untersuchte seinen Gurt und fand heraus, wie der Schließmechanismus funktionierte. Ich zeigte mich kooperativ, weil es dem Steward so eine Freude zu machen schien. Jetzt brauchte er sich nicht mehr den Kopf über meine diversen Glieder zu zerbrechen, die einzeln ins Cockpit geschleudert würden, falls der Pilot das Flugzeug bis zum Rumpf in die Sanddünen jenseits der Stadtmauer bohren würde. »Ich glaube, das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, o Scheich«, sagte ich. »Was meinst du?« fragte Papa. »Man nimmt an, wir seien bereits tot«, erklärte ich. »Damit haben wir einen Vorteil. Es könnte etwas dauern, bis Hajjar, Scheich Reda und Dr. Abd ar-Razzaq merken, daß ihre zwei im Nichts deponierten Leichen in Angelegenheiten herumstochern, die sie lieber nicht ans Licht gebracht sähen. Vielleicht sollten wir langsam vorgehen, um unsere Entdeckung möglichst lange hinauszuzögern. Wenn wir mit Pauken und Trompeten in die Stadt marschieren und Flagge zeigen, werden unsere Quellen sofort versiegen.« »Ja, sehr gut, mein Neffe«, stimmte Friedlander Bei zu. »Du beginnst die Weisheit der Logik zu meistern. Eine Schlacht
führt selten zum Sieg, wenn nicht Logik den Angriff leitet.« »Aber ich habe von den Beni Salim auch gelernt, welche Gefahren es mit sich bringt zu zaudern.« »Die Beni Salim würden nicht im Verborgenen sitzen und Pläne aushecken«, mischte sich bin Turki ein. »Die Beni Salim würden auf ihre Feinde losstürmen und das Gewehr sprechen lassen. Und dann würden sie die Kamele die Toten in den Staub trampeln lassen.« »Wir haben keine Kamele, die wir herumtrampeln lassen können. Trotzdem gefällt mir die Herangehensweise der Beni Salim«, antwortete ich. »Die Erfahrungen in der Wüste haben dich tatsächlich verändert«, sagte Papa. »Aber wir werden nicht zaudern. Wir werden langsam vorgehen, aber unnachgiebig. Und sollte es notwendig werden, uns einer der Schlüsselpersonen zu entledigen, dann werden wir das ohne Bedauern tun.« »Außer natürlich, wenn es sich dabei um Scheich Reda Abu Adil handelt«, warf ich ein. »Ja, natürlich.« »Ich würde gerne die ganze Geschichte kennen. Warum wird Scheich Reda verschont, wenn andere und bessere – wie zum Beispiel sein Freund, der Imam – unserer Ehre geopfert werden?« Papa seufzte tief. »Es gab eine Frau«, antwortete er und wandte sich wieder dem Bullauge zu. »Sprecht nicht weiter«, sagte ich. »Ich muß die Einzelheiten nicht kennen. Eine Frau, das erklärt sehr viel.« »Eine Frau und einen Schwur. Scheich Reda hat anscheinend den Eid vergessen, den wir schworen, aber ich nicht. Wenn ich
tot bin, bist du von diesem Eid entbunden, aber nicht früher.« Ich atmete tief durch. »Das muß ja eine ganz besondere Frau gewesen sein.« Soviel hatte er mir noch nie über die Grundregeln erzählt, die seinen lebenslangen Konflikt mit seinem Rivalen, Abu Adil, bestimmten. Friedlander Bei ließ sich nicht herab, darauf zu antworten. Er starrte nur hinaus in den schwarzen Himmel und auf den dunklen Planeten, dem wir entgegeneilten. Über die Lautsprecheranlage kam die Aufforderung, sitzen zu bleiben, bis der Stratosphärenclipper vollständig zum Stillstand gekommen war und anschließend die übliche Viertelstunde lang abgekühlt hatte. In gewisser Weise war das recht frustrierend, denn ich hatte schon immer einmal Damaskus besuchen wollen, und da waren wir nun und hatten nicht die Gelegenheit, etwas anderes als den Terminal zu sehen. Die Imam Mohammed al-Baqir machte sich zum Landeanflug bereit. Noch ein paar Minuten, und wir hatten festen Boden unter den Füßen. Ich zitterte kurz vor Erleichterung. Das ist bei mir immer so. Nicht daß ich Angst davor habe, in einer Rakete in den Himmel geschossen zu werden, nur wenn ich dann an Bord bin, verliere ich plötzlich meinen ganzen Glauben an die moderne Physik und den modernen Flugzeugbau, und ich falle in die alten angsterfüllten Kindheitsvorstellungen zurück, daß sie es nie schaffen werden, so viele Tonnen Stahl in die Luft zu bekommen, und selbst wenn sie es schaffen sollten, sie nie da oben halten können. Am schlimmsten ist es beim Start. Wenn das Schiff nicht in Millionen Funken zerstiebt, beginne ich mich zu entspannen und an den Gedanken zu gewöhnen, daß wir die Kurve gekratzt haben. Ich warte auf eine
Durchsage des Piloten in der Art wie: »Auf Anweisung der Bodenkontrolle wird dieser Flug abgebrochen, sobald wir ausreichend in Bodennähe sind. Es war ein Vergnü …« Die Landung in Damaskus war sanft. Danach starrten wir fünfzehn Minuten lang aus den Bullaugen, während der Stratosphärenclipper wieder die von der IAA geforderter Toleranzen erreichte. Papa und ich hatten nur drei kleine Taschen, die wir über das Vorfeld zum Terminal trugen. Wir brauchten nicht lange, um herauszufinden, wo wir hin mußten, um unseren Anschlußflug nach Hause anzutreten. Ich ging in den kleinen Souvenirladen, um für mich und vielleicht für Indihar und Chiri etwas zu kaufen. Zu meiner Enttäuschung mußte ich feststellen, daß beinahe alle Andenken ein Etikett wie ›Made in the Western Reserve‹ oder ›Made in Occupied Panama‹ trugen. Ich gab mich mit ein paar Holo-Karten zufrieden. Kaum hatte ich damit begonnen, eine davon an Indihar zu schreiben, hörte ich auch schon wieder auf. Zweifelsohne wurden die Telefone in Papas Palast jetzt abgehört und die Post wurde wohl ebenso von nicht gerade wohlgesinnten Augen eingehend geprüft. Eine Holo-Karte mit der Ankündigung unserer triumphalen Rückkehr konnte unsere Deckung auffliegen lassen. Bestimmt hatten sich Indihar und alle meine Freunde schon vor Wochen mit meinem tragischen Ableben abgefunden. Was wir wohl vorfanden, wenn wir in die Stadt zurückkamen? Wahrscheinlich würde ich sehr viel darüber erfahren, wie wer zu mir stand. Youssef und Tariq würden sich wahrscheinlich um Friedlander Beis Besitz kümmern, aber Kmuzu mußte in
meinem Tod seine Freiheit gesehen haben und wohl schon lange über alle Berge sein. Ich war ganz aufgeregt, als ich ins nächste Shuttle kletterte. Der Gedanke, daß uns die Nasrullah zurück in die Stadt brachte, machte mich ganz unruhig. In weniger als einer Stunde waren wir wieder zu Hause. Die gegnerischen Bündnisse und Verschwörungen, die auf unseren Tod aus gewesen waren, würden ins Wanken geraten, vielleicht sogar stürzen, sobald wir uns an die Arbeit machten. Ich freute mich schon richtiggehend auf unsere Rache. Das hatten mir die Beni Salim beigebracht. Dieser Flug entpuppte sich als der kürzeste Langstreckenflug, den ich je gemacht hatte. Ich preßte die Nase gegen das Bullauge, als könnte ich, wenn ich mich mit aller Macht konzentrierte, die Nasrullah steuern helfen und sie noch ein Quentchen schneller machen. Mir kam es so vor, als wären wir gerade gestartet, als der Steward vorbeikam und uns aufforderte, uns für die Landung anzuschnallen. Mir ging durch den Kopf, ob uns der Sitz wohl ausreichend schützen würde, wenn wir auf die Erde hinunterstürzen und uns in einen dreißig Meter tiefen Krater bohren würden. Ob wir wohl dann einfach aufstehen und unverletzt durch den Feuerball nach Hause gehen konnten? Wir drei hielten uns nicht lange im Terminal auf. Friedlander Bei war zu bekannt, um hier lange unerkannt zu bleiben. Und dann würde Abu Adil davon erfahren und dann hieße es wieder … ab in die Wüste. Oder einen Schuß durch die vier Gehirnlappen. »Was nun, o Scheich?«, fragte ich Papa. »Gehen wir ein Stückchen«, sagte er. Ich folgte ihm auf dem Weg zum Terminal hinaus und zu einem Taxistand. Bin Turki,
darauf bedacht, sich nützlich zu machen, trug die Taschen. Papa wollte sich in die nächste Warteschlange einreihen, aber ich hielt ihn zurück. »Diese Fahrer haben alle ein ziemlich gutes Gedächtnis«, erklärte ich. »Und sie sind wahrscheinlich bestechlich. Es gibt da einen Fahrer, auf den ich immer zurückgreife, der für unsere Bedürfnisse hervorragend geeignet ist.« »Ah«, sagte der alte Herr. »Du hast ihn in der Hand? Du weißt etwas, das nicht ans Licht kommen soll?« »Noch besser, o Scheich. Aus gesundheitlichen Gründen kann er sich nichts von einer Stunde auf die nächste merken.« »Ich verstehe nicht ganz. Leidet er an einer Hirnverletzung?« »Man könnte es so ausdrücken, mein Onkel.« Dann erzählte ich ihm von Bill, dem verrückten Amerikaner. Bill war lange vor mir in die Stadt gekommen. Kosmetische Körpermodifikationen bedeuteten ihm nichts – Aussehen spielte für Bill keine Rolle. Schädelverdrahtereien ebensowenig. Statt dessen hatte er etwas wirklich Verrücktes machen lassen: er hatte einen der Winkelmediziner von der Promenade dafür bezahlt, ihm eine Lunge durch einen Beutel ersetzen zu lassen, der ständig eine bestimmte Dosis RPM Marke Lichtgeschwindigkeit in seinen Blutkreislauf tröpfeln ließ. RPM verhält sich zu den anderen Halluzinogenen wie ein Löffel voll Saccharinpulver zu einem Körnchen Zucker. Ich bereue jetzt noch zutiefst die paarmal, die ich es probierte. Seine chemische Bezeichnung lautet l-ribopropylmethionin, aber die Leute auf der Promenade nennen es heutzutags ganz einfach ›Hölle‹. Das erste Mal, als ich es nahm, erging es mir dermaßen übel, daß ich es nochmal probieren mußte, weil ich es einfach nicht fassen konnte, daß es so schlimm war. Es war eine Belei-
digung des Bildes als ›Beherrscher aller Drogen‹, das ich mir von mir selbst machte. Alles Geld der Welt reicht nicht aus, um mich dazu zu bringen, das Zeug noch einmal zu nehmen. Und das war der Stoff, der Tag und Nacht, Stunde um Stunde, in Bills Arterien tröpfelte. Man muß nicht erwähnen, daß Bill völlig hinüber war – und zwar für immer. Er sieht weniger wie ein Taxifahrer aus als wie ein besessener Hellseher, der drauf und dran ist, die gesamte königliche Familie zu verführen, und eines Mitternachts als Leiche in einem eisigen Fluß aufgefunden wird. Mit Bill zu fahren war auch etwas für Irre, weil er ständig das Steuer herumriß, um Dingen auf der Straße auszuweichen, die nur er sah. Und er war überzeugt, daß Dämonen – Afrits – neben ihm auf dem Beifahrersitz saßen, ihn abzulenken und in Versuchung zu führen versuchten und eine solche Belästigung darstellten, daß es seine ganze Aufmerksamkeit brauchte, um nicht in einem bösen Unfall auf der Autobahn umzukommen. Mich hat Bill mit seinem ständigen Gemurmel immer fasziniert. Er war eine Art Anti-Rollenmodell für mich. Ich sagte mir immer wieder: »Du könntest genauso enden wie er, wenn du nicht aufhörst, permanent Pillen zu schlucken.« »Und doch empfiehlst du diesen Fahrer?« fragte mich Papa zweifelnd. »Ja, denn alles, was Bill an Konzentrationsfähigkeit aktivieren kann, paßt in ein Nadelöhr und läßt noch genug Platz für eine fünfstöckige Flohpyramide. Er ist vollkommen verblödet. Am nächsten Tag wird er sich nicht mehr an uns erinnern können. Möglicherweise hat er uns bereits vergessen, wenn wir aus
seinem Taxi aussteigen. Manchmal tritt er geistig weg, bevor man ihn bezahlt hat.« Papa strich sich über den weißen Bart, der dringend einer Rasur bedurfte. »So ist das. Er ist also nicht bestechlich, weil er so ehrlich wäre, sondern weil er sich an nichts erinnern kann.« Ich nickte. Ich hielt bereits nach einer Telefonzelle Ausschau. Als ich eine sah, warf ich ein paar Münzen ein und nannte Bills Commcode. Ich mußte es fünfzehnmal läuten lassen, aber schließlich meldete sich Bill. Er war, wo er immer war, auf der anderen Seite des Osttors zum Budayin, am Boulevard ilJameel. Es dauerte ein paar Minuten, bis Bill wieder einfiel, wer ich war. Und das, obwohl wir uns seit vielen Jahren kannten. Er sagte, er hole uns am Flugplatz ab. »Jetzt müssen wir uns genau überlegen«, sagte Friedlander Bei, »wo wir hinfahren.« Ich kaute an einem Fingernagel, während ich darüber nachdachte. »Chiris Club wird mit Sicherheit überwacht.« Chiris Club war ein Nachtclub an der Promenade. Papa hatte Chiriga gezwungen, den Nachtclub an ihn zu verkaufen. Worauf er ihn mir zum Geschenk machte. Bis dahin hatte Chiri zu meinen besten Freunden gehört, aber danach brachte sie es kaum über sich, mit mir zu sprechen. Ich überzeugte sie davon, daß das alles Papas Idee gewesen war, und verkaufte ihr eine Fünfzig-Prozent-Beteiligung am Club. Seither waren wir wieder Kumpel. »Wir können es nicht wagen, einen unserer alten Freunde zu kontaktieren«, sagte Papa. »Vielleicht ist das die Antwort.« Er ging zu dem Telefon und telefonierte kurz. Als er wieder aufhängte, lächelte er mir zu und sagte: »Ich glaube, ich habe die
Lösung gefunden. Ferrari hat ein paar leere Zimmer über seinem Nachtclub. Ich habe ihm gesagt, daß ich heute nacht Hilfe brauche. Außerdem habe ich ihn an ein paar Gefallen erinnert, die ich ihm über die Jahre hinweg erwiesen habe.« »Ferrari?« fragte ich nach. »Der Blaue Papagei? Da geh ich nie hin. Der Schuppen hat mir zuviel Klasse.« Der Blaue Papagei gehörte zu diesen vornehmen Schuppen, in denen man sich schick anziehen mußte und wo Champagner zu südamerikanischer Live-Musik serviert wurde. Signor Ferrari glitt zwischen den Tischen durch und begrüßte die Gäste freundlich, während sich an der Decke die Ventilatoren langsam drehten. Kein einziger nackter Busen war zu sehen – für mich war das die reinste Geisterbahn. »Um so besser. Wir lassen uns von deinem Chauffeurfreund zum Hintereingang von Ferraris Lokal bringen. Die Tür ist offen. Wir richten uns in den Räumen im Obergeschoß ein und unser Gastgeber schließt sich uns um zwei Uhr morgens an, wenn der Nachtclub schließt, inshallah. Was den jungen bin Turki angeht, ist es wohl sicherer, wir schicken ihn voraus in unser Haus. Schreibe auf eine deiner Holo-Karten eine kurze Nachricht und unterschreibe sie, ohne deinen Namen zu benutzen. Das wird für Youssef und Tariq reichen.« Ich verstand, was er wollte, und kritzelte schnell eine Nachricht auf eine der Holo-Karten aus Damaskus: »Youssef und Tariq: Das ist unser Freund bin Turki. Behandelt ihn gut, bis wir zurückkommen. Bis bald (Unterschrift) Der Maghrebiner.« Ich gab bin Turki die Karte. »Danke, o Scheich«, sagte er. Er zitterte noch immer vor lauter Aufregung. »Ihr habt bereits mehr für mich getan, als ich
Euch je zurückzahlen kann.« Ich zuckte die Achseln. »Mach dir deshalb keine Sorgen, mein Freund. Wir werden eine Arbeit für dich finden.« Dann wandte ich mich an Friedlander Bei. »Ich vertraue auf Euer Urteil, was Ferrari angeht, o Scheich, weil ich selbst nicht weiß, wie ehrlich er ist.« Was Papa wieder zum Lächeln brachte. »Ehrlich? Ich traue keinem ehrlichen Mann. Für jeden Verräter gibt es immer ein erstes Mal, wie du erfahren hast. Nein, es ist eher so, daß Signor Ferrari Angst hat. Und darauf kann man sich verlassen. Was seine Ehrlichkeit betrifft, er ist nicht ehrlicher als jeder andere im Budayin.« Also nicht besonders ehrlich. Ein Punkt für Papa. Ich dachte darüber nach, wie ich die Zeit bei Ferrari verbringen würde, und legte mir einen Plan zurecht. Bevor ich jedoch darüber mit Friedlander Bei sprechen konnte, rauschte Bill an. Bill starrte mit diesem lodernden Blick aus seinem Taxi. »Ja?« fragte er. Papa murmelte: »Im Namen Allahs, des gnädigen Erbarmers.« »Im Namen Christy Mathewsons, des Toten und Begrabenen«, brummte Bill als Antwort. Ich sah Papa an. »Wer ist Christy Mathewson?« Friedlander Bei zuckte nur leicht die Achseln. Ich war zwar neugierig, aber mir war klar, daß es ein Fehler wäre, ein Gespräch mit Bill anzufangen. Entweder würde er vor Wut explodieren, oder er würde ununterbrochen drauflos quasseln, und dann könnten wir den Blauen Papagei für heute abschreiben. »Ja?« fragte Bill drohend.
»Steigen wir in das Taxi«, sagte Friedlander Bei ruhig. Wir kletterten hinein. »Zum Blauen Papagei im Budayin. Fahren Sie zum Hintereingang.« »Ja? Die Promenade ist für Fahrzeugverkehr gesperrt. Und wir sind Fahrzeugverkehr, oder werden es sein, wenn wir losfahren. Und wir werden alle losfahren, weil wir …« »Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Verkehrsordnung«, unterbrach ihn Papa. »Ich gebe Ihnen die Erlaubnis.« »Ja? Auch wenn wir Feuerdämonen dabei haben?« »Mach dir auch darüber keine Gedanken«, sagte ich. »Wir haben eine Sonderberechtigung.« Das war mir gerade eingefallen. »Ja?« stieß Bill hervor. »Bismillah«, betete Papa. Bill gab Gas und wir schossen aus dem Flughafenparkplatz, rasten und sausten und stoben um die Kurven. Bill beschleunigte immer, wenn er an eine Ecke kam, als könne er es nicht erwarten zu sehen, was dahinter war. Irgendwann wird es ein riesiger Lastwagen sein. Bumm. »Yaa Allah!« rief bin Turki entsetzt. Allmählich ging sein Geschrei in ein angsterfülltes Stöhnen über, das die ganze Fahrt über anhielt. Eigentlich war die Fahrt verhältnismäßig ereignislos – zumindest nach meinen Maßstäben. Ich war Bills Fahrerei schließlich gewohnt. Papa drückte sich ganz tief in den Sitz, schloß die Augen und murmelte ständig »bismillah, bismillah«. Und Bill blieb bei seinem unsinnigen Monolog darüber, wie sich Baseballspieler über angeschnittene Bälle beschwerten. »Du solltest mal gegen einen Afrit schlagen müssen. Das ist erst
schwierig, einen Ball aus Feuer berechnen! Selbst wenn du ihn triffst, kriegst du ihn nicht über das Infield hinaus, weil er in rote und gelbe Funken zerstiebt. Probier das mal! Dann würden die Leute vielleicht kapieren …« Und so weiter. Am schönen Boulevard il-Jameel bogen wir ab und fuhren durch das Osttor in den Budayin. Sogar Bill merkte, daß für seine übliche Waghalsigkeit zu viele Fußgänger auf der Promenade unterwegs waren. Wir fuhren also langsam zum Blauen Papagei und um den Block herum zum Hintereingang. Als Papa und ich ausstiegen, zahlte Friedlander Bei und gab Bill ein bescheidenes Trinkgeld. Bill winkte mit einem von der Sonne rot gebrannten Arm. »War nett, euch kennenzulernen«, sagte er. »In Ordnung, Bill«, antwortete ich. »Wer ist Christy Mathewson?« »Einer der besten Spieler, die es je gab. ›Die Große Sechs‹, nannten sie ihn. So vor etwa zweihundert, zweihundertfünfzig Jahren.« »Vor zweihundertfünfzig Jahren!« rief ich erstaunt. »Ja?« Bill war verärgert. »Was geht's dich an?« Ich schüttelte den Kopf. »Du weißt, wo Friedlander Beis Haus ist?« »Klar«, sagte Bill. »Was ist denn? Habt ihr vergessen, wo ihr es hingelegt habt? Es stand doch nicht einfach auf und ging von selber weg.« »Hier sind nochmal zehn Kiam. Fahre meinen jungen Freund zu Friedlander Beis Haus und sieh zu, daß er sicher ankommt.« »Klare Sache«, meinte der Taxifahrer.
Ich guckte auf den Rücksitz, wo bin Turki kauerte, entsetzt darüber, daß er nun allein mit Bill durch die große Stadt fahren mußte. »Wir sehen uns in ein oder zwei Tagen«, erklärte ich ihm. »Bis dahin kümmern sich Youssef und Tariq um dich. Bis dann!« Bin Turki schaute mich nur mit weit aufgerissenen Augen an, schluckte ein paarmal, brachte aber kein verständliches Wort heraus. Ich drehte mich um und folgte Papa zum unverschlossenen Hintereingang des Blauen Papagei. Ich war mir sicher, daß Bill das ganze Gespräch vergessen haben würde, sobald er bin Turki am Haus abgeliefert hatte. Wir gingen die Wendeltreppe aus poliertem Hartholz hoch und kamen zu einem Treppenabsatz, von dem zwei Türen wegführten. Die linke Tür war verschlossen, wahrscheinlich führte sie in Ferraris Privatwohnung. Die rechte Tür führte in einen großzügigen Salon, der im europäischen Stil gehalten war mit der dunklen Holztäfelung, den Topfpalmen und dem Klavier in der Ecke. Die Möbel jedoch waren von ausgesuchtem Geschmack und modern. Vom Salon gelangte man in eine Küche und zwei Schlafzimmer, die jeweils ein Bad hatten. »Hier kann man es aushalten, denke ich.« Als Antwort brummte Papa nur und ging in eines der Schlafzimmer. Er war beinahe zweihundert Jahre alt und hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich. Er machte die Tür hinter sich zu, und ich blieb im Salon, wo ich leise auf dem Klavier herumklimperte. Nach etwa zehn, fünfzehn Minuten kam Signor Ferrari herauf. »Ich habe etwas gehört hier oben«, entschuldigte er sich, »und wollte sicher gehen, daß sie es sind. Fand Signor Bei alles
zufriedenstellend?« »Ja, allerdings, und wir möchten Ihnen beide für Ihre Gastfreundschaft danken.« »Nicht der Rede wert.« Ferrari war ein richtiger Fettwanst, den man in einen einfachen weißen Leinenanzug gestopft hatte. Er trug einen roten Filzfez mit einer Quaste und rieb sich ständig nervös die Hände, was den verbindlichen, einschmeichelnden, ja schon fast öligen Ton in seiner Stimme Lügen strafte. »Doch«, entgegnete ich, »ich bin sicher, Friedlander Bei wird eine Möglichkeit finden, Ihre Güte zu würdigen.« »Falls das sein Wunsch ist«, schwenkte Ferrari ein, wobei er mich aus seinen Schweinsäuglein scheel anblickte, »wäre es mir ein Ehre, dies anzunehmen.« »Ich bin sicher.« »Nun muß ich zurück zu meinen Gästen. Sollten Sie einen Wunsch haben, rufen Sie einfach 111 an. Meine Angestellten haben die Anweisung, Ihnen jeden Wunsch zu erfüllen.« »Ausgezeichnet, Signor Ferrari. Wenn Sie noch einen Augenblick warten würden, ich möchte gerne eine kurze Nachricht schreiben. Könnte einer Ihrer Angestellten das für mich überbringen?« »Nun …« »Nur zu Chirigas Club, an der Promenade.« »Gewiß.« Ich schrieb schnell an Chiri. Daß ich tatsächlich noch am Leben sei, aber daß sie das für sich behalten solle, bis wir unseren Namen reingewaschen hätten. Und daß sie Ferraris Nummer mit der 777 am Schluß wählen solle, wenn sie mir etwas mittei-
len möchte. Aber daß sie das keinesfalls von dem Telefon im Club aus machen sollte, weil das möglicherweise abgehört wurde. Ich legte den Brief zusammen und gab ihn Ferrari, der mir versprach, er würde ihn in fünfzehn Minuten übergeben. »Dankeschön für alles, Signor«, sagte ich und gähnte. »Ich lasse Sie nun allein«, verabschiedete sich Ferrari. »Sie brauchen zweifelsohne eine Ruhepause.« Ich brummte und machte die Tür hinter ihm zu. Dann ging ich in das zweite Schlafzimmer und legte mich auf das Bett. Ich erwartete, daß das Telefon jeden Moment klingelte. Es dauerte nicht lange. Ich meldete mich mit einem kurzen: »Wer ist dran?« Natürlich war es Chiri. Am Anfang war nur aufgeregtes Geschnatter zu hören, doch allmählich verstand ich einzelne Wörter. »Du bist wirklich am Leben? Das ist nicht irgendein Trick?« Ich lachte. »Doch, du hast recht, Chiri, ich habe mir das alles ausgedacht und in die Wege geleitet, bevor ich starb. Du sprichst mit einer Aufzeichnung. Hey, natürlich bin ich am Leben! Hast du wirklich geglaubt …« »Hajjar hat erzählt, daß du wegen Mord hochgenommen worden bist, du und Papa, und daß man euch ins Exil geflogen hat, aus dem ihr unmöglich zurückkommen könnt.« »Nun, Chiri, hier bin ich.« »Zum Teufel, wir haben alle Schreckliches durchgemacht, als wir dich für tot hielten. Und jetzt erzählst du mir, wir haben ganz umsonst getrauert?« »Um mich hat jemand getrauert?« Ich muß zugeben, auf perverse Art gefiel mir diese Vorstellung.
»Ich habe mir auf alle Fälle die Augen rot geheult, und ein paar von den Mädchen … und Indihar. Sie dachte, sie sei zum zweiten Mal Witwe geworden.« Ich kaute kurz an meiner Unterlippe. »Okay, du kannst es Indihar sagen, aber niemand sonst. Kapiert? Nicht Saied, dem Halb-Hadschi, oder einem meiner anderen Freunde. Sie stehen alle unter Verdacht. Von wo aus rufst du an?« »Aus der Telefonzelle hinten im Imbiß.« »Okay, Chiri. Denk dran, was ich gesagt habe.« »Wie wär's, wenn ich dich morgen besuchen würde?« Ich dachte drüber nach und kam zu dem Schluß, das sei nicht allzu riskant. Und ich wollte Chiris Kannibalengrinsen wirklich wieder sehen. »In Ordnung. Du weißt, wo wir sind?« »Über dem Blauen Papagei?« »Mhm.« »Schwarzes Mädchen sehr, sehr glücklich. Bis morgen, Bwana.« »Alles klar«, sagte ich und legte auf. In meinem Kopf schwirrten die Gedanken und halb ausgereiften Pläne nur so durcheinander. Ich versuchte Schlaf zu finden, lag aber eine Stunde oder so wach. Schließlich hörte ich Friedlander Bei in der Küche herumkramen. Ich stand auf und sah nach. »Ist hier irgendwo ein Teekessel?« brummte Papa. Ich sah auf meine Uhr. Es war viertel nach zwei Uhr morgens. »Warum gehen wir nicht einfach nach unten?« sagte ich. »Ferrari sperrt jetzt zu.« Papa dachte darüber nach. »Das würde ich gerne tun«, sagte er. »Mir ist jetzt danach, mich hinzusetzen, zu entspannen und
ein paar Gläser Tee zu trinken.« Wir gingen nach unten. Ich überprüfte sorgfältig, ob auch ganz bestimmt alle Gäste den Blauen Papagei verlassen hatten, und dann setzten Papa und ich uns an einen der Tische. Einer von Ferraris Lakaien brachte ihm eine Kanne Tee und nach dem ersten Glas hätte niemand mehr gemerkt, daß Papa gerade aus einem grausamen und gefährlichen Exil zurückgekommen war. Er schloß die Augen und genoß jeden Tropfen davon. ›Kultivierter Tee‹, nannte er das, wonach er sich jedesmal sehnte, wenn er den dünnen, alkalischen Tee der Beni Salim trinken mußte. Ich blieb an der Tür stehen und behielt das Trottoir draußen im Auge. Ein paarmal zuckte ich zusammen, als Polizeiautos auf der gepflasterten Promenade vorbeiholperten. Schließlich holte uns die Müdigkeit ein, und wir wünschten Signor Ferrari ein zweites Mal Gute Nacht. Darauf stiegen wir die Treppe hoch in unser Versteck. Kaum hatte ich mich ausgezogen und war in Ferraris bequemes Gästebett geklettert, schlief ich auch schon. Ich schlief etwa zehn Stunden lang. Es war der erfrischendste und wunderbarste Schlaf, an den ich mich erinnern konnte. In einem sauberen Bett hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen. Wieder riß mich das Telefon aus dem Schlaf. Ich griff nach dem Hörer neben meinem Bett. »Ja?« meldete ich mich. »Signor Audran«, war Ferraris Stimme zu hören, »hier sind zwei junge Damen, die zu Ihnen möchten. Soll ich sie hochschicken?« »Bitte«, antwortete ich und fuhr mir mit der Hand durch die zerrauften Haare. Ich legte auf und zog mich schnell an.
Im Treppenhaus war Chiris Stimme zu hören. »Marîd? Welche Tür? Wo bist du, Marîd?« Ich hatte nicht mehr die Zeit, mich zu duschen oder zu rasieren, aber das war mir egal und Chiri wohl auch. Ich machte die Tür auf und war verblüfft, auch Indihar zu sehen. »Kommt rein«, flüsterte ich. »Wir müssen leise sein, weil Papa noch schläft.« »In Ordnung«, sagte Chiri leise und kam in den Salon. »Hübsch hat's Ferrari hier oben.« »O, das ist nur seine Gästesuite. Wie seine eigene Suite aussieht, kann man nur ahnen.« Indihar trug Schwarz wie eine Witwe. Sie trat auf mich zu und berührte mein Gesicht. »Ich bin froh, dich wohlauf zu sehen, Gemahl«, sagte sie und wandte sich schluchzend ab. »Etwas möchte ich wissen«, fragte Chiri und ließ sich in einen antiken Ohrensessel plumpsen. »Hast du nun den Polizisten umgebracht oder nicht?« »Ich habe keinen Bullen umgebracht«, erwiderte ich aufgebracht. »Das hat man Papa und mir angehängt. Man verurteilte uns in Abwesenheit und warf uns in der Weiten Ödnis ab. Jetzt, wo wir wieder da sind – und du kannst Gift drauf nehmen, daß es jemanden gibt, der damit nicht gerechnet hat –, müssen wir dieses Verbrechen aufklären, um unsere Namen reinzuwaschen. Und wenn es soweit ist, werden Köpfe rollen. Im wörtlichen Sinne.« »Ich glaube dir, Gemahl«, sagte Indihar, die neben mir auf der wertvollen Couch saß, die zu Chiris Ohrensessel paßte. »Mein … verstorbener Ehemann und ich waren mit dem ermordeten Polizisten befreundet. Er hieß Khalid Maxwell und
war ein freundlicher, großzügiger Mensch. Ich möchte nicht, daß sein Mörder ungestraft davonkommt.« »Ich verspreche dir, meine Gemahlin, das wird nicht geschehen. Er wird teuer dafür bezahlen.« Eine Augenblick lang legte sich eine merkwürdige Stille über uns. Ich fühlte mich unwohl und sah zu Indihar, die auf ihre im Schoß gefalteten Hände hinunterblickte. Chiri kam uns zu Hilfe. Sie hüstelte höflich und sagte: »Hab' dir etwas mitgebracht, Herr Chef.« Ich sah hinüber zu ihr. Ihr tätowiertes Gesicht strahlte vor Freude. Sie hielt mir einen Plastikschuber mit Moddys entgegen. »Meine Moddys!« rief ich glücklich. »Scheinen ja alle drin zu sein.« »Hier hast du genug irres Zeug für die Zeit, die du auf Tauchstation bist«, meinte Chiri. »Und da ist noch etwas, mein Gemahl.« Indihar hatte ein gelbbraunes Plastikding auf der ausgestreckten Hand. »Mein Pillenschächtelchen!« Darüber freute ich mich noch mehr als über die Moddys. Ich nahm es und machte es auf. Es war gesteckt voll mit Beauties, Sunnies, Paxium und allem, was ein hart arbeitender Mann auf der Flucht brauchte, um in einer feindlichen Welt bei Verstand und in Form zu bleiben. »Allerdings«, räusperte ich mich verlegen, »versuche ich gerade, damit etwas kürzer zu treten.« »Das ist gut, Gemahl«, sagte Indihar. Was sie nicht offen aussprach, war, daß sie noch immer einen Groll auf mich hatte. Sie glaubte, der Tod ihres ersten Mannes ginge auf mein Konto – und das meines Drogenkonsums. Mir das Pillenschächtelchen zu bringen war eine große Geste.
»Wo habt ihr das alles her?« fragte ich sie. »Von Kmuzu«, erklärte Chiri. »Ich habe dem hübschen Kerlchen so lange Honig ums Maul geschmiert, bis er nicht mehr wußte, wie er dran ist.« »Das kann ich mir vorstellen«, lachte ich. »Jetzt weiß Kmuzu also auch, daß ich wieder da bin.« »Hey, es ist bloß Kmuzu«, begehrte Chiri auf. »Dem kannst du vertrauen.« Ja, ich vertraute Kmuzu. Mehr als sonst jemand. Ich wechselte das Thema. »Meine Gemahlin, wie geht es meinen Stiefkindern?« »Sie sind alle wohlauf«, antwortete sie und lächelte zum erstenmal. »Sie möchten wissen, wo du bleibst. Ich glaube, die kleine Zahra hat sich in dich verliebt.« Ich lachte, obwohl mir bei diesem Teil der Nachricht nicht ganz wohl zumute war. »Wir sollten jetzt wieder gehen«, meldete sich Chiri zu Wort. »Der Maghrebiner hier muß daran gehen, seine Rachepläne zu schmieden, stimmt's Marîd?« »Mehr oder weniger. Vielen Dank, daß ihr vorbeigeschaut habt. Und vielen Dank für die Moddys und das Pillenschächtelchen. Das war sehr aufmerksam.« »Aber nicht doch, Gemahl«, erwiderte Indihar. »Ich werde zu Allah beten und ihm für deine Rückkehr danken.« Sie trat zu mir und küßte mich zurückhaltend auf die Wange. Ich brachte die beiden zur Tür. »Und der Club?« erkundigte ich mich. Chiri zuckte die Achseln. »Immer das gleiche. Das Geschäft geht schlecht, die Mädchen versuchen noch immer, uns bis aufs
Hemd auszurauben, und den Rest kennst du ja.« Indihar lachte. »Der Rest ist, daß der Club wahrscheinlich Geld einfährt wie verrückt und du einen Traktor brauchst, um deinen Anteil zur Bank zu karren.« Mit anderen Worten, die Welt war in Ordnung. Außer, was Friedlander Beis und meinen persönlichen Freiraum anging. Doch auch hier hatte ich die eine oder andere Idee, wie ich die Dinge zum besseren wenden konnte. »Salaamtak«, verabschiedete sich Indihar mit einer Verbeugung. »Allah yisallimak«, entgegnete ich. Darauf gingen die beiden Frauen, und ich schloß die Tür. Ich machte beinahe auf dem Absatz kehrt, ging in die Küche um ein Glas Wasser und schluckte ein paar Sunnies. Ich schwor mir, nicht in meine alten Angewohnheiten zurückzufallen. Aber für mein Heldentum glaubte ich mir schon eine Belohnung gönnen zu können. Dann würde ich das Pillenschächtelchen weglegen und nur in Notfällen hervorholen. Aus Neugier sah ich mir die Moddys und Daddys im Schuber an und entdeckte, daß Chiri mir ein kleines Geschenk dagelassen hatte – ein neues Sexmoddy. Ich sah es mir genauer an. Nach dem Aufkleber war es Inferno in der Nacht, einer von Honey Pílars frühen Aufnahmen. Aber die Aufnahme war aus der Sicht von Honey Pílars Partner. Ich ging ins Schlafzimmer, zog mich aus und legte mich aufs Bett. Dann steckte ich mir den Moddy rein und murmelte »Bismillah«.
Als erstes fiel Audran auf, daß er wesentlich jünger war, wesentlich kräftiger und so voller Vorfreude, daß es schon an Verzweiflung grenzte. Er fühlte sich wunderbar und lachte, als er sich auszog. Die Frau mit ihm im Schlafzimmer war Honey Pílar. Audran liebte sie von dem Augenblick an, als er sie zum erstenmal gesehen hatte, mit einer alles verzehrenden Leidenschaft. Das war vor zwei Stunden gewesen. Er dachte, es sei bereits ein großes Privileg, sie nur ansehen und unbeholfene Gedichte für sie schreiben zu dürfen. Daß sie beide miteinander ins Bett gehen würden, war mehr, als er zu hoffen gewagt hatte. Sie legte langsam und aufreizend Kleidungsstück um Kleidungsstück ab und legte sich dann zu Audran aufs Bett. Ihre Haare waren platinblond und ihre Augen von einem außergewöhnlichen Grün, so grün wie die reinen, kühlen Wellen des Ozeans. »Ja?« sagte sie. »Bist du sehr verletzt?« Ihre Stimme war lasziv und wohlklingend. Inferno in der Nacht war einer von Honeys frühen Sexmoddys, die eine rudimentäre Story hatten. Audran merkte, daß er ein verwundeter Held aus dem Katalanischen Freiheitskampf war und Honey spielte die mutige Tochter des bösen Herzogs von Valencia. »Es geht mir gut«, antwortete Audran. »Du brauchst unbedingt eine Massage«, flüsterte sie und strich mit den Fingerspitzen sanft über seine Brust bis hinunter zu den Schamhaaren. Dort hielt sie inne und blickte ihn, auf seine Erlaubnis wartend, an. »O, bitte, mach nur weiter«, sagte Audran.
»Für die Revolution.« »Sicher.« Und dann liebkoste sie seinen Schwanz, bis er es nicht mehr aushielt. Er strich mit den Fingern durch ihr duftendes Haar, bevor er sie packte und auf den Rücken drehte. »Deine Wunden!« rief sie. »Du hast mich auf wunderbare Weise geheilt.« »O wie herrlich!« seufzte sie, als Audran in sie eindrang. Zuerst bewegten sie sich ganz langsam, dann wurden sie immer schneller und heftiger, bis Audran vor purer Lust schier zerplatzte. Nach einer Weile setzte sich Honey Pílar auf. »Ich muß gehen«, sagte sie traurig. »Es sind noch mehr Verwundete da.« »Ich verstehe«, erwiderte Audran. Er faßte nach dem Moddy und zog ihn raus. »O Gott«, murmelte ich. Es war schon eine Zeit her, daß ich mit Honey Pílar zusammen gewesen war. Allmählich drängte sich mir der Gedanke auf, daß ich für diesen Spaß zu alt wurde, ich war kein junger Spund mehr. Wie ich so keuchend auf dem Bett lag, wurde mir klar, daß ich gefährlich nahe daran gewesen war, den Löffel abzugeben. Vielleicht gab es auch Sexmoddys von Paaren, die seit zwanzig Jahren miteinander verheiratet waren. Das würde eher meinem Tempo entsprechen. Jemand klopfte an meiner Tür. »Mein Neffe«, rief Friedlander Bei, »ist alles in Ordnung?« »Ja, o Scheich«, antwortete ich. »Ich frage nur, weil ich dich aufschreien hörte.«
Genau. »Das war nur ein Alptraum. Ich dusche mich schnell und dann komme ich zu Euch, o Erhabener.« »Sehr gut, mein Neffe.« Ich stand auf und duschte mich schnell, zog mich an und ging in den Salon. »Ich hätte gern etwas Sauberes zum Anziehen«, sagte ich. »Das hier trage ich, seit wir entführt wurden. Und jetzt, denke ich, ist es endgültig hinüber.« Papa nickte. »Darum habe ich mich schon gekümmert. Ich habe Youssef und Tariq bereits benachrichtigt. Sie werden jeden Moment hier auftauchen und frische Kleidung und Geld bringen.« Ich saß in dem Ohrensessel und Papa saß auf der Couch. »Ich nehme an, Eure Geschäfte liefen reibungslos, mit den beiden am Steuer.« »Ich vertraue Youssef und Tariq mein Leben an und mehr: meine geschäftlichen Angelegenheiten.« »Ich freue mich, sie wiederzusehen.« »Du hattest bereits Besucher. Wer war das?« Ich schluckte. Auf einmal kam mir die Idee, Papa könne Indihars und Chiris Besuch als ernste Gefährdung unserer Sicherheit interpretieren. Schlimmer noch, er könnte es als strafbare Dummheit auffassen. »Meine Ehefrau und meine Partnerin, Chiriga«, erklärte ich. Plötzlich wurde meine Mund ganz trocken. Aber Papa nickte bloß. »Es geht beiden gut, hoffe ich?« »Ja, Allah sei gepriesen.« »Es freut mich, das zu hören. Nun …« Er wurde unterbrochen, als es an der Tür zum Treppenhaus klopfte. »Mein Neffe«, sagte er ruhig, »sieh nach, wer da ist. Lasse niemand herein
außer Tariq und Youssef, nicht einmal, wenn sie Freunde von dir sind.« »Ich verstehe, o Scheich.« Ich ging an die Tür und lugte durch den Spion. Es waren tatsächlich Tariq und Youssef, Papas Kammerdiener und Butler. Und die Manager seiner Besitztümer. Als ich die Tür aufmachte, wurde ich enthusiastisch begrüßt. »Willkommen zu Hause!« rief Youssef. »Allah sei Dank für Eure sichere Heimkehr! Auch wenn wir keinen Augenblick diese Geschichte geglaubt hätten, Ihr beide wärt irgendwo in einer weit entfernten Wüste gestorben.« Tariq trug ein paar Schalenkoffer in den Salon und stellte sie ab. »As-salam alaikum, yaa Scheich«, sagte er zu mir, bevor er sich zu Papa wandte und es wiederholte. »Alaikum as-salam«, entgegnete Friedlander Bei. »Erzählt mir, was ich wissen muß.« Sie hatten die Geschäfte wirklich am Laufen gehalten. Von einem Großteil der Angelegenheiten, die sie mit Papa besprachen, hatte ich keine Ahnung, aber mit zwei Problemen hatte ich zu tun gehabt. Das erste war der Versuch der Kappadokier, die Unabhängigkeit von Anatolien zu erringen. Ich hatte mich mit Vertretern der Kappadokier getroffen – wie lange war das schon her? Es kam mir vor wie viele Monate, aber es konnten nur ein paar Wochen gewesen sein. Youssef wurde deutlich. »Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß die Kappadokier eine gute Chance haben, die anatolische Regierung in ihrer Provinz zu stürzen. Mit unserer Hilfe ist es keine Frage mehr. Und es würde uns nicht viel kosten, relativ gesehen, sie lange genug an der Macht zu halten.«
Lange genug? Lange genug wofür? Ich rätselte. Es gab noch eine Menge für mich zu lernen. Nachdem die geopolitischen Themen abgehandelt waren, fragte ich: »Was ist mit dem Datalink-Projekt?« »Zieh es durch«, sagte Papa. »Wir brauchen jemand für eine Führungsposition, der nicht zu unserem Haus gehört«, erklärte Tariq. »Natürlich wird diese Führungsposition nicht mit wirklicher Macht oder tatsächlichem Einfluß ausgestattet – das bleibt alles im Haus –, aber wir brauchen … hm … eine Art …« »Hanswurst«, sagte ich. Tariq blinzelte. »Ja«, stimmte er zu, »genau.« »Du arbeitest daran, nicht wahr, mein Neffe?« fragte Papa. Ich nickte. »Ich baue jemanden für diese Position auf, ja.« »Sehr gut.« Friedlander Bei stand auf. »Alles scheint gut zu laufen. Ich habe nichts anderes erwartet. Doch ihr werdet dafür belohnt werden.« Youssef und Tariq verbeugten sich und murmelten ihren Dank. Papa legte Tariq die linke Hand auf den Kopf und Youssef die rechte. Er sah aus wie ein Heiliger, der seine Gefolgsleute segnet. »O Scheich«, meldete ich mich, »gibt es da nicht noch ein Problem?« »Hmm?« sah er mich fragend an. »Was Scheich Mahali betrifft.« »Ach ja, vielen Dank, daß du mich daran erinnert hast. Youssef, ich möchte gerne, daß du für mich und meinen Enkel ein Treffen mit dem Emir vereinbarst. Sag ihm, daß wir uns über unseren Flüchtlingsstatus im klaren sind, aber erinnere ihn
auch daran, daß man unser Recht auf Berufung gegen dieses zurechtgebastelte Urteil vorenthielt. Wir glauben, ihn von unserer Unschuld überzeugen zu können, und bitten nur um die Gelegenheit, unseren Fall darzustellen.« »Ja«, erklärte Youssef. »Ich verstehe. Es wird nach Euren Wünschen geschehen.« »Eher nach den Wünschen Allahs«, hielt Papa dagegen. »Nach den Wünschen Allahs«, murmelte Youssef. »Ist der Junge sicher angekommen?« erkundigte ich mich. »Bin Turki?« fragte Tariq. »Ja, wir haben ihn in einer leeren Suite untergebracht und alles, was er sieht, überwältigt ihn vollkommen. Er hat sich mit Umm Jirji angefreundet, Eurer Gemahlin.« Ich verzog den Mund. »Wunderbar«, sagte ich. »Da ist noch etwas«, meldete sich Friedlander Bei zu Wort, der Herrscher über die halbe Stadt. »Ich hätte gerne ein Hinund Rückticket nach Najran im Königreich Asir.« Lassen Sie sich gesagt sein, das brachte mein Blut auf den Gefrierpunkt.
10. Kapitel
Mir kam es vor, als sei ein Jahr vergangen seit meinem ersten Besuch im Palast des Fürsten. Aber es konnten nur wenige Wochen gewesen sein. Doch ich war in dieser Zeit ein anderer geworden. Ich hatte das Gefühl, eine genauere Vorstellung zu haben und weniger intellektuelle Einwände gegen direkte Aktionen. Ob das nun von Vor- oder von Nachteil für meine Zukunft in der Stadt war, mußte sich erst herausstellen. Bei Tageslicht war der Fürstensitz noch schöner, als er am Abend meines Hochzeitsempfangs gewesen war. Die Luft war sauber und eine kühle Brise sorgte für Erfrischung. Das Plätschern der Brunnen entspannte mich, als ich durch die Gärten Scheich Mahalis ging. Wir kamen zum Palast, und ein Diener öffnete die Tür. »Wir sind mit dem Emir verabredet«, erklärte Friedlander Bei. Der Diener musterte uns genau und kam zu dem Schluß, daß wir weder Verrückte noch Mörder waren, und nickte. Wir folgten ihm eine lange Galerie hinunter, die entlang eines Innenhofes führte. Er öffnete die Tür zu einem kleinen Audienzraum. Wir traten ein und nahmen Platz, um auf den Scheich zu warten. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut, ungefähr so, als sei ich in einer Prüfung beim Schummeln erwischt worden und wartete nun auf den Direktor, der kam, um mich zu bestrafen. Der Unterschied war nur, ich war nicht beim Schummeln erwischt worden; hier ging es um Mord an
einem Polizisten. Und die Strafe würde nicht auf zehn Tatzen lauten, sondern auf den Tod. Ich beschloß, Papa die Verteidigung zu überlassen. Er hatte anderthalb Jahrhunderte mehr Erfahrung im verbalen Eiertanz als ich. Wir warteten etwa eine Viertelstunde in angespanntem Schweigen auf den Scheich. Dessen Auftritt – in Begleitung von drei Männern – fiel dann eher geschäftig denn zeremoniell aus. Der Scheich sah in seiner weißen Gallebeya und der Keffiya sehr gut aus. Zwei seiner Begleiter trugen dunkelgraue Geschäftsanzüge im europäischen Stil, der dritte trug den Umhang und den dunklen Turban eines Korangelehrten. Offensichtlich war er Scheich Mahalis Wesir. Der Fürst nahm auf einem schönen, mit Schnitzwerk verzierten Stuhl Platz und wandte sich uns zu. »Worum geht es?« fragte er ruhig. »O Fürst«, sagte Friedlander Bei und trat nach vorne. »Wir wurden zu Unrecht des Mordes an einem Polizisten beschuldigt, Khalid Maxwell. Dann hat man uns, ohne uns einen öffentlichen Prozeß zu gewähren oder wenigstens die Gelegenheit, unseren Anklägern gegenüberzutreten und uns zu verteidigen, einfach entführt – direkt vom Besitz Eurer Hoheit, nach dem Hochzeitsempfang, den Ihr für meinen Großenkel gabt. Wir wurden zu einem Stratosphärenclipper gebracht und mit der Nachricht konfrontiert, bereits verurteilt zu sein. Als wir in Najran landeten, wurden wir an Bord eines Hubschraubers gebracht und in die Arabische Wüste hinausgeworfen, in den südlichen, den schrecklichsten Teil, der unter dem Namen Rub Al Khali bekannt ist. Wir hatten großes Glück und überlebten.
Dazu bedurfte es des großen Mutes und Opfergeistes meines geliebten Großenkels, der uns am Leben erhielt, bis wir von einem nomadischen Stamm der Bedu gerettet wurden, möge Allahs Segen mit ihnen sein. Erst jetzt gelang es uns, wieder in die Stadt zu kommen. Wir bitten Euch, dieser Angelegenheit Eure Aufmerksamkeit zu schenken, da wir glauben, das Recht auf eine Berufung zu haben und eine Chance, unseren Namen reinzuwaschen.« Der Emir beriet sich leise mit seinem Ratgeber. Dann wandte er sich wieder uns zu. »Mir war davon nichts bekannt«, sagte er ruhig. »Ebensowenig wußte ich davon«, meldete sich der Wesir zu Wort. »Und Eure Akte sollte vor einem Prozeß über meinen Schreibtisch gehen. Wie dem auch sei, ohne diese Zustimmung kann solch ein Urteil niemals rechtmäßig sein.« Friedlander Bei trat vor und reichte dem Wesir die Kopien der Anklage und des Urteils, das er vom Qadi bekommen hatte. »Das ist alles, was wir einsehen konnten. Es trägt die Unterschriften des Qadi und von Dr. Abd ar-Razzaq.« Der Wesir studierte die Dokumente einige Augenblicke lang, bevor er sie an den Fürsten weitergab. Der warf einen Blick darauf und sagte: »Auf dieser Urkunde befindet sich weder meine Unterschrift noch die meines Wesirs. Also ist sie nicht gültig. Ihr werdet Eure Berufung bekommen – in etwa einem Monat. Dann werde ich Kommissar Hajjar, Dr. Abd ar-Razzaq und diesen Qadi kommen lassen, der mir unbekannt ist. In der Zwischenzeit lasse ich untersuchen, warum diese Angelegenheit ohne unser Wissen behandelt wurde.« »Wir danken Euch für Eure Großzügigkeit, o Fürst«, erklärte
Friedlander Bei ehrerbietig. Der Emir winkte ab. »Da gibt es nichts zu danken, mein Freund. Ich komme nur meiner Pflicht nach. Jetzt erklärt mir: hat einer von euch oder habt ihr beide etwas mit dem Tod dieses Polizisten zu schaffen?« Friedlander Bei trat einen Schritt näher und sah dem Fürst in die Augen. »Ich schwöre bei meinem Leben und dem Leben des Propheten – möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und der Friede mit ihm sein –, daß wir nichts mit dem Tod Inspektor Maxwells zu tun hatten. Wir beide kannten den Mann nicht einmal.« Scheich Mahali rieb sich gedankenverloren seinen sorgfältig gepflegten Bart. »Wir werden sehen. Jetzt kehrt nach Hause zurück, denn Eure Frist von einem Monat verrinnt bereits.« Wir verbeugten uns und verließen das Audienzzimmer. Ich atmete tief aus, nachdem ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. »Wir können nach Hause gehen!« Papa wirkte sehr glücklich. »Ja, mein Neffe«, sagte er. »Und gegen unsere Mittel und ein Monat Vorbereitungszeit können Hajjar und der Imam nicht hoffen, ankommen zu können.« Mir war nicht klar, worauf er hinauswollte, aber ich hatte vor, so bald wie möglich wieder mein normales Leben aufzunehmen. Ich war ausgehungert nach einem ruhigen Leben mit den vertrauten Problemchen und den Gefahren, die nicht größer waren als die Maus auf der Damentoilette in meinem Nachtclub. Doch wie ein großer französischer Dichter aus der grauen Vorzeit einmal schrieb: »Der Mensch denkt und Gott lenkt.« Die Zeit würde unweigerlich kommen, und dann war es wie-
der soweit, das war mir ganz tief drinnen klar. Es war immer so. Deshalb vermied ich es jetzt, irgendwelche Pläne zu schmieden. Ich konnte darauf warten, daß mir Allah in seinem unerfindlichen Wohlwollen seine Absichten kundtun würde. Manchmal braucht es allerdings ein paar Tage, bis der Herr der Welten sich einen vornimmt. Bis dahin entspannte ich mich einfach in Chiris Club, machte es mir bequem auf meinem Stammplatz an der Thekenecke. Etwa vier, fünf Nächte später sah ich, wie Chiriga, meine Partnerin und Barmädchen, ein mickriges Trinkgeld von einem Kunden einsteckte. Sie grinste ihn an, daß ihre spitz zugefeilten Zähne blitzten und dem Kunden das Blut in den Adern gefror, und kam zu mir, ans andere Ende der Theke. »Knausriger Knilch«, sagte sie und stopfte sich das Geld in eine Tasche ihrer engen Jeans. Ich schwieg. Ich war in einer ziemlich melancholischen Stimmung. Um drei Uhr morgens und nach einer langer Reihe Drinks ist das mein üblicher Zustand. »Weißt du«, sagte ich schließlich und sah Yasmin auf der Bühne zu, »als ich ein Kind war und darüber nachdachte, wie es wohl sein wird, wenn ich erwachsen bin, sah das anders aus. Ganz anders.« Chiris schönes schwarzes Gesicht entspannte sich zu einem ihrer seltenen Lächeln. »Ich stellte es mir auch anders vor. Ich hätte nie gedacht, daß ich in dieser Stadt landen würde. Und wenn, dann auf alle Fälle nicht im Budayin. Mir schwebte eine bessere Gegend vor.« »Doch wir sind hier gelandet.« Chirigas Lächeln schwand. »Hier bin ich gelandet, Marîd, wahrscheinlich für immer. Dir stehen alle Türen offen.« Sie nahm mein leeres Glas und mischte mir noch einen Weißen
Tod. So hatte Chiri meinen Lieblingsdrink getauft, Gin, Bingara und ein Schuß von Roses Limonensaft. Ich brauchte nicht noch einen Drink, aber mir war danach. Sie legte mir einen alten, zerfetzten Korkuntersatz hin und eilte dann an das vordere Ende der Theke. Ein Kunde war gekommen und hatte sich in die Nähe der Tür gesetzt. Chiri deutete auf mich und zuckte die Achseln. Der Kunde stand auf und kam langsam den Gang zwischen der Theke und den Tischen herunter. Als er näher kam, sah ich, daß es Jacques war. Jacques ist sehr stolz darauf, in einer muslimischen Stadt Christ zu sein, und er bildet sich eine Menge darauf ein, daß er zu drei Viertel Europäer ist, wo die meisten Araber sind. Weshalb Jacques ein Dummkopf ist und eine Zielscheibe. Er ist einer meiner drei alten Kumpel: Saied, der Halb-Hadschi, ist mein Freund, Mahmoud kann ich nicht ausstehen und Jacques ist irgendwo in der Mitte. Was er macht oder sagt, ist mir scheißegal – und allen anderen auch, soweit mir bekannt ist. »Wie geht's dir, Marîd?« fragte er und nahm neben mir Platz. »Wir haben uns ganz schön Sorgen um dich gemacht in den letzten Wochen.« »Alles in Ordnung, Jacques«, sagte ich. »Möchtest du was zu trinken?« Yasmin hatte ihr drittes Lied getanzt, griff nach ihren Kleidern und eilte von der Bühne, um den paar mißgelaunten Kunden, die noch da waren, etwas Trinkgeld abzuquetschen. Jacques runzelte die Stirn. »Ich hab' heute nicht viel Geld dabei. Darüber möchte ich mit dir reden.« »Mhm«, sagte ich. In den Monaten, seit ich Clubbesitzer war, hatte ich alle einschlägigen Geschichten gehört. Ich gab Chiri ein Zeichen, meinem alten Kumpel Jacques ein Bier zu zapfen.
Wir sahen ihr zu, wie sie ein großes Glas füllte und es die Theke herunter brachte. Sie stellte es vor Jacques ab, sagte aber kein Wort. Chiri kann ihn nicht ausstehen. Jacques gehört zu den Typen, denen – stünde ihr Haus in Flammen – die meisten Menschen im Budayin zur Warnung eine Postkarte schreiben und in den Briefkasten stecken würden. Yasmin, jetzt mit einem kurzen Lederrock bekleidet und einem schwarzen Büstenhalter aus Spitze, kam zu uns her. »Bekomm' ich etwas für meinen Tanz, Jacques?« sagte sie mit einem netten Lächeln. Für mich ist sie die Tänzerin, die auf der Promenade den meisten Sex hat, aber da Jacques streng heterosexuell ist und Yasmin nicht gerade als Mädchen geboren wurde, glaubte ich nicht, daß sie Glück bei ihm haben würde. »Ich habe nicht viel Geld …«, fing er an. »Gib ihr was«, sagte ich kühl. Jacques warf mir schnell einen Blick zu, fischte dann aber aus seiner Tasche einen Ein-Kiam-Schein. Yasmin bedankte sich und ging zum nächsten Kunden. »Willst du mich weiter ignorieren, Yasmin?« fragte ich sie. »Wie geht's deiner Ehefrau, Marîd?« rief sie, ohne sich umzudrehen. »Ja«, hakte Jacques grinsend ein, »sind die Flitterwochen schon vorüber? Du hängst die ganze Nacht hier rum?« »Mir gehört der Schuppen hier, falls dir das nicht bekannt ist.« Jacques zuckte die Achseln. »Ja, aber Chiri könnte ihn genauso gut ohne dich führen. Sie hat das schon gemacht, wenn ich mich richtig erinnere.« Ich drückte den Zitronenschnitz in meinen Drink und kippte
ihn hinunter. »Du wolltest also um diese späte Stunde nur auf ein Bier reinschauen?« Jacques verzog den Mund zu einem angedeuteten Lächeln. »Da ist etwas, um das ich dich bitten wollte.« »Hab' ich mir schon gedacht.« Ich winkte Chiri mit meinem leeren Glas. Sie hob nur die Augenbrauen. Ihrer Meinung nach trank ich in letzter Zeit zuviel und auf diese Weise gab sie mir das zu verstehen. Ich hatte keine Lust auf Widerspruch. Normalerweise war Chiri für striktes Nichteinmischen. Sie glaubte, jeder Mensch habe das Recht auf seine eigene umwerfende Dummheit. Ich gab ihr nochmal ein Zeichen, diesmal etwas vehementer, und endlich nickte sie und mixte noch einen Weißen Tod, in einem frischen Glas. Sie marschierte herunter zu mir, knallte es vor mich auf die Theke und marschierte wieder hoch, ohne ein Wort zu sagen. Mir war nicht klar, worüber sie sich so aufregte. Jacques nippte etwas an seinem Bier und stellte das Glas wieder genau auf die Mitte des Untersetzers. »Marîd«, wandte er sich an mich, die Augen auf eine hübsche Geschlechtsumwandlung namens Lily gerichtet, die müde ihre Nummer auf der Bühne tanzte. »Würdest du dir die Mühe machen, Fuad zu helfen?« Was läßt sich zu Fuad sagen? Auf der Promenade hatte er den Spitznamen il-Manhous, was soviel heißt wie ›das ewige Arschloch‹ oder so ähnlich. Fuad war ein großer, dürrer Kerl mit einem wirren Haarschopf, den er in einem fettigen Knoten trug. Als Kind muß er irgendeine Krankheit gehabt haben, weil seine Arme so dünn und zerbrechlich aussahen wie dürre Stecken mit riesigen, geschwollenen Gelenken. Er meinte es
wohl gut, aber er wirkte wie ein mitleiderregendes Hündchen. Es lag ihm so viel daran, geliebt zu werden und es allen recht zu machen, daß er einem ganz schön auf die Nerven gehen konnte. Einige der Clubtänzerinnen beuteten ihn richtiggehend aus, schickten ihn auf Botengänge oder zum Essenholen und gaben ihm weder Geld dafür noch dankten sie es ihm. Wenn ich über ihn nachdachte, was nicht allzu oft geschah, tat mir der Kerl leid. »Fuad ist nicht besonders helle«, sagte ich. »Er hat immer noch nicht kapiert, daß diese Nutten, in die er sich dauernd verliebt, ihn bei der ersten Gelegenheit bis aufs Hemd ausrauben.« Jacques nickte. »Aber mir geht es nicht um seine Intelligenz. Ich meine, würdest du ihm helfen, wenn es um Geld ginge?« »Nun, ich halte ihn für eine traurige Gestalt, aber ich kann mich nicht daran erinnern, daß er jemals jemandem etwas getan hätte. Ich glaube, dazu ist er einfach nicht schlau genug. Ja, ich würde ihm wohl helfen. Kommt drauf an.« Jacques atmete tief durch. »Also hör gut zu«, sagte er, »er will, daß ich ihm einen großen Gefallen tue. Sag mir, was du davon hältst.« »Es ist jetzt Zeit, Marîd«, rief Chiri vom anderen Thekenende. Ich warf einen Blick auf die Uhr, es war beinah halb vier. Nur noch zwei Kunden waren im Club, und die saßen schon beinahe eine Stunde da. Seit einer Stunde war niemand mehr dazugekommen – außer Jacques. An diesem Abend würden wir kein Geschäft mehr machen. »Okay, meine Damen«, erklärte ich den Tänzerinnen, »ihr könnt euch jetzt anziehen.«
»Ja!« rief Pualani. Sie und noch vier Mädchen liefen zur Garderobe, um ihre Straßenkleidung anzuziehen. Chiri begann mit der Abrechnung. Die zwei Kunden, die soeben noch in ein tiefschürfendes Gespräch mit Kandy und Wendy vertieft waren, sahen einander verwirrt an. Ich stand auf und schaltete mit einem Händedruck die Deckenlampen aus, dann setzte ich mich wieder neben Jacques. Ich war schon immer der Meinung, daß es keinen einsameren Ort gibt als eine Bar im Budayin, die gerade zumacht. »Was will Fuad von dir?« fragte ich leicht entnervt. »Das ist eine lange Geschichte«, erklärte Jacques. »Hervorragend. Warum bist du nicht vor acht Stunden gekommen, als mir mehr danach war, lange Geschichten zu hören?« »Also paß auf. Heute nachmittag kommt Fuad und hat dieses lange, traurige Gesicht auf – du weißt schon. Wo man meinen könnte, das Ende der Welt sei gekommen, und er habe gerade gemerkt, daß man ihn dazu nicht eingeladen hat. Ist ja auch egal, ich sitze also mit Mahmoud und dem Halb-Hadschi im Solace. Wir essen eine Kleinigkeit und da kommt Fuad. Er holt einen Stuhl und setzt sich zu uns. Fängt auch noch an, von meinem Teller zu essen.« »Ja, das hört sich ganz nach unserem Kleinen an«, sagte ich. Ich betete zu Allah, Jacques möge schneller zum Punkt kommen als Fuad. »Ich schlug ihn auf die Hand und sagte ihm, er solle abziehen, wir hätten etwas Wichtiges zu besprechen. Das stimmte zwar nicht, aber ich hatte keine Lust, mich mit ihm abzugeben. Er sagt, er brauche jemanden, der ihm hilft, sein Geld wieder-
zubekommen. Saied sagt: ›Fuad, du hast dir doch nicht wieder von einem dieser fleißigen Mädchen dein Geld klauen lassen?‹ Und Fuad meint, nein, diesmal wäre es etwas anderes. Dann zieht er so eine Art Dokument heraus und reicht es Saied, der einen Blick drauf wirft und es mir gibt. Und ich seh' es mir an geb' es Mahmoud weiter. ›Was ist denn das?‹ will Mahmoud wissen. ›Es ist ein Bankscheck über zweitausendvierhundert Kiam‹, erklärt Fuad. ›Und wo hast du den her?‹ frag' ich ihn. ›Das ist eine lange Geschichte‹, sagt er.« Ich schloß die Augen und hielt das eiskalte Glas gegen meine pochenden Schläfen. Ich hätte mir meinen SchmerzblockerDaddy reinschieben können, aber der war zu Hause in meinem Aktenkoffer, in meiner Suite in Friedlander Beis Residenz. »Jacques«, sagte ich gefährlich leise, »du hast gesagt, das wäre eine lange Geschichte, und jetzt sagt Fuad, es wäre eine lange Geschichte, und ich will keine lange Geschichte hören! Okay? Kannst du dich einfach von jetzt an auf die Höhepunkte beschränken?« »Klar, Marîd, reg dich nicht auf. Er erzählte nur, daß er an diesen Betrag seit Monaten hingespart hat, daß er von einem Kerl aus Rasmiyya einen gebrauchten Elektrobus kaufen will. Er meinte, es sei billiger, in so einem Bus zu leben, als eine Wohnung zu mieten. Und daß er vorhat, wegzufahren und seine Leute in Tripolis zu besuchen.« »Da kommt Fuad her? Das wußte ich gar nicht.« Jacques zuckte die Achseln. »Ist ja auch egal, er erzählte, der Typ aus Rasmiyya habe für den Bus zweitausendvierhundert
Kiam verlangt. Fuad schwört, der Bus sei in einem prima Zustand gewesen und nur da und dort hätte man etwas reparieren müssen. Er hatte also das Geld beisammen und ließ einen Bankscheck auf den Namen dieses Typen ausstellen. An dem Nachmittag marschierte er dann den ganzen Weg vom Budayin nach Rasmiyya, und dann stellte sich heraus, daß der Typ den Bus schon an jemand anders verkauft hatte, obwohl er Fuad versprochen hatte, ihn für ihn zurückzubehalten.« Ich schüttelte den Kopf. »Fuad, typisch. Was für ein verdammter Pechvogel.« »Fuad marschiert also den ganzen Weg zurück zum Osttor, sieht uns im Café Solace und erzählt uns sein Leid. Mahmoud lachte ihn nur aus und Saied trug Rex, sein Arschloch-Moddy, daher nahm er Fuad gar nicht wahr. Doch mir tat er irgendwie leid.« »Mhm«, sagte ich. Mir fiel es schwer zu glauben, daß Fuad Jacques leid tat. Wenn dem so war, müßte sich der Himmel öffnen oder etwas in der Richtung geschehen, was wohl nicht der Fall war. »Was wollte Fuad von dir?« Jacques rutschte unruhig auf dem Hocker umher. »Na ja, anscheinend hatte Fuad nie ein eigenes Bankkonto. Er bewahrt sein Geld in einer alten Zigarrenschachtel oder sowas auf. Deshalb mußte er sich den Bankscheck auf den Namen eines anderen ausstellen lassen und jetzt weiß er nicht, wie er seine zweitausendvierhundert Kiam zurückbekommt.« »Aha«, sagte ich. Jetzt begann ich zu verstehen, in welcher Klemme er steckte. »Er will, daß ich den Scheck für ihn einlöse«, sagte Jacques. »Dann mach's doch.«
»Ich weiß nicht, es ist eine Menge Geld.« »Dann laß es.« »Ja, aber …« Allmählich wurde ich ärgerlich. »Was, zum Teufel, Jacques, erwartest du von mir in dieser Angelegenheit?« Ein paar Sekunden lang starrte er in sein leeres Bierglas. Noch nie hatte ich erlebt, daß er sich so unwohl in seiner Haut fühlte. Über die Jahre hatte er sich voll Schadenfreude daran gelabt, mich ständig an meine Abstammung zu erinnern: daß ich halb Franzose und halb Berber war, während er mir um ein ganzes europäisches Großelternteil überlegen war. Es muß ihn ganz schön an seinem Selbstwertgefühl kratzen, hierher zu kommen und mich um Rat zu bitten. »Maghrebiner«, sagte er, »in letzter Zeit hast du dir den Ruf erworben, einer zu sein, der die Dinge in Ordnung bringt. Du weißt schon, Probleme lösen und so.« Klar doch. Seit ich Friedlander Beis Rächer wider Willen geworden war, mußte ich mich direkt und mit Gewalt mit ein paar ziemlich üblen Kerlen auseinandersetzen. Seither sahen mich viele meiner Freunde mit anderen Augen. Ich stellte mir vor, wie sie sich einander zuraunten: »Paß auf Marîd auf – neuerdings kann er dafür sorgen, daß dir die Knochen gebrochen werden.« Ich wurde ein Faktor, mit dem man im Budayin zu rechnen hatte – in der ganzen Stadt, und auch außerhalb. Manchmal behagte mir das nicht. So sehr mich die Aufgaben interessierten, die mir Papa auftrug, trotz all der sagenhaften Macht, über die ich nun verfügen konnte, gab es noch immer viele Tage, in denen ich mir nichts sehnlicher wünschte, als in Ruhe meinen
kleinen Nachtclub zu führen. »Was erwartest du von mir in dieser Angelegenheit, Jacques? Dem Typen Bescheid zu stoßen, der Fuad verarscht hat? Ihn bei der Gurgel zu packen und so lange zu schütteln, bis er ihm den Bus verkauft?« »Nein, Marîd, das ist Unsinn. Der Kerl hat den Bus ja gar nicht mehr.« Ich war am Ende meiner Geduld angelangt. »Was dann, verdammt nochmal?« Jacques sah mich kurz an und sah dann sofort wieder weg. »Ich hab' Fuads Bankscheck mitgenommen und jetzt weiß ich nicht, was ich damit machen soll. Was meinst du?« »O Gott, Jacques, ich würde ihn halt einlösen. Ich würde ihn auf mein Konto einzahlen und darauf warten, bis es verrechnet wird. Sobald die zweitausendvierhundert Kiam da sind, würde ich sie abheben und Fuad geben. Aber nicht zuvor. Warte zuerst darauf, ob der Scheck gedeckt ist.« Über Jacques' Gesicht huschte ein unsicheres Lächeln. »Danke, Marîd. Weißt du, daß sie dich inzwischen auf der Promenade Al-Amîn nennen? – ›Den Vertrauenswürdigen.‹ Du bist neuerdings ein großer Mann im Budayin.« Einige meiner ärmeren Nachbarn hatten begonnen, mich Scheich Marîd den Vertrauenswürdigen zu nennen, weil ich ihnen etwas Geld geliehen und ein paar Suppenküchen eröffnet hatte. Keine große Sache. Schließlich verlangt der Koran von uns, uns um das Wohlergehen der anderen zu kümmern. »Ja«, sagte ich mit säuerlichem Unterton. »Scheich Marîd. Das bin ich, stimmt.« Jacques kaute an seiner Unterlippe und gelangte zu einer
Entscheidung. »Warum machst dann du es nicht?« sagte er. Er zog den hellgrünen Scheck aus seiner Hemdtasche und legte ihn vor mir auf die Theke. »Warum gehst du nicht hin und löst ihn für Fuad ein? Mir fehlt einfach die Zeit dazu.« Ich lachte. »Dir fehlt die Zeit?« »Ich habe andere Probleme. Außerdem gibt es den einen oder anderen Grund, warum ich nicht möchte, daß die zweitausendvierhundert Kiam auf meinem Konto auftauchen.« Ich sah ihn einfach nur an. Das war so typisch Jacques. »Dein Problem, Jacques, ist, daß du heute abend wirklich nahe an einer guter Tat dran warst, aber im letzten Moment ertappst du dich dabei und schaffst den Absprung. Nein, ich sehe keinen Grund, warum ich es tun sollte.« »Ich frage dich als Freund, Marîd.« »Ich werde folgendes tun. Ich stehe für Fuad gerade. Wenn du soviel Angst davor hast, übers Ohr gehauen zu werden, garantiere ich für den Scheck. Hast du was zum Schreiben dabei?« Jacques reichte mir einen Kugelschreiber und ich drehte den Scheck um und indossierte ihn, zuerst mit dem Namen des Typen, der Fuads Herz gebrochen hatte, und dann mit meiner eigenen Unterschrift. Darauf schob ich ihm den Scheck mit den Fingerspitzen zu. »Das ist sehr nett von dir, Marîd.« »Weißt du, Jacques, du hättest bei den Märchen besser aufpassen sollen, als du ein Kind warst. Du benimmst dich wie ein böser Prinz, der einfach an einer armen, alten, in Not geratenen Frau vorbeigeht. Schlechte Prinzen werden am Schluß immer von einem Dschinn gefressen, mußt du wissen. Oder seid ihr Typen mit überwiegend europäischem Blut gegen solche
Volksweisheiten immun?« »Ich brauche keinen Moralvortrag«, knurrte Jacques. »Hör mal«, sagte ich, »im Gegenzug erwarte ich etwas von dir.« Er lächelte zaghaft. »Klar, Marîd. Geschäft ist Geschäft.« »Und ein Mann muß tun, was ein Mann tun muß. So funktioniert das hier. Ich möchte, daß du einen kleinen Job für mich übernimmst, mon ami. Seit ein paar Monaten spricht Friedlander Bei davon, daß er mit der Datalink-Industrie ins Geschäft kommen möchte. Er sagte mir, ich solle Ausschau halten nach einem hellen, hart arbeitenden Mann, der ihn in dem neuen Unternehmen vertritt. Wie würde es dir gefallen, ganz unten einzusteigen?« Jacques gute Laune war mit einemmal verflogen. »Ich weiß nicht, ob ich die Zeit dazu habe«, sagte er mit besorgt klingender Stimme. »Es wird dir gefallen. Du wirst soviel Geld verdienen, inshallah, daß du deine anderen Geschäfte völlig vergißt.« Hier hatten wir einen der Fälle, in denen Gottes Wille mit dem Friedlander Beis übereinstimmte. Seine Augen wanderten hin und her wie die eines kleinen Tieres, das in der Falle saß. »Ich möchte wirklich nicht …« »Ich denke, du möchtest schon, Jacques. Aber mach dir jetzt keine Gedanken deshalb. Wir sprechen darüber in ein, zwei Tagen beim Mittagessen. Jetzt bin ich froh, daß du zu mir gekommen bist mit deinem Problem. Ich denke, letztendlich wird das für uns beide von Vorteil sein.« »Muß das jetzt am Bankomaten einlösen«, sagte er, stand auf und murmelte etwas in seinen Bart, als er hinaus in die Nacht
ging. Ich hätte darauf gewettet, daß er zutiefst bedauerte, an diesem Abend an Chiris Club vorbeigekommen zu sein. Beinahe hätte ich über den Gesichtsausdruck gelacht, den er aufhatte, als er ging. Nicht viel später kam ein großer, kräftiger, düster dreinblickender Schwarzer mit einem kahlrasierten Schädel in den Club. Das war mein Sklave, Kmuzu. Er blieb gleich neben der Tür stehen und wartete darauf, daß ich Chiri und die Tänzerinnen ausbezahlte und die Bar zusperrte. Kmuzu war gekommen, um mich nach Hause zu fahren. Und um mir in Friedlander Beis Auftrag hinterherzuspionieren. Chiri freute sich immer, ihn zu sehen. »Kmuzu, Schatz, setz dich her und trink etwas!« rief sie. Das war zum erstenmal in sechs Stunden, daß sie fröhlich klang. Aber sie würde kein Glück bei ihm haben. Chiri war wirklich hinter Kmuzus Körper her, doch er schien ihr Interesse nicht zu erwidern. Ich denke, Chiri bereute schon die rituellen Narben und Tätowierungen auf ihrem Gesicht, da sie ihn zu stören schienen. Dennoch bot sie ihm jeden Abend wieder einen Drink an, und er antwortete jedesmal, als gläubiger Christ trinke er keinen Alkohol. Statt dessen ließ er sich ein Glas Orangensaft einschenken. Und erklärte ihr, daß er keine Beziehung zu einer Frau in Betracht ziehe, solange er seine Freiheit nicht erlangt hätte. Er weiß, daß ich vorhabe, ihn freizulassen, aber jetzt noch nicht. Zum einen, weil Papa – Friedlander Bei – mir Kmuzu gegeben hat und nicht zulassen würde, daß ich Leute nach Gutdünken freiließe. Zum anderen … nun ja, so sehr ich es hasse, es zuzugeben, aber ich hatte Kmuzu gerne in dieser Rolle. »Das wär's, Herr Chef«, sagte Chiri. Sie hatte die Tagesein-
nahmen genommen, nach unserer Vereinbarung die obere Hälfte eingesteckt und klatschte nun den noch immer ansehnlichen Reststapel Kiam vor mich auf die Theke. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mit meinen Schuldgefühlen zu Rande kam, jeden Tag soviel Geld einzunehmen, ohne wirklich zu arbeiten. Aber am Ende hatte ich es geschafft. Es machte mir nichts mehr aus, weil ich Gutes tat, was mich etwa fünf Prozent meiner wöchentlichen Einnahmen kostete. »Kommt, holt euch euer Geld«, rief ich. Ich mußte nicht zweimal rufen. Das Assortiment aus echten Mädchen, Geschlechtsumwandlungen und noch nicht operierten Debs, die bei Chiri in der Nachtschicht arbeiteten, stellte sich an, um sich den Lohn und die Provision auf die Getränke, die sie an den Mann gebracht hatten, auszahlen zu lassen. Windy, Kandy und Pualani nahmen ihr Geld und liefen hinaus in die Nacht, ohne ein Wort zu sagen. Lily, die seit Monaten in mich verschossen war, küßte mich auf die Wange und flüsterte mir ins Ohr, ob ich nicht mit ihr auf einen Drink ausgehen wolle. Ich tätschelte nur ihren scharfen kleinen Hintern und wandte mich Yasmin zu. Die warf ihr wundervolles schwarzes Haar über die Schulter. »Wartet Indihar auf dich?« sagte sie. »Oder schläfst du noch immer alleine?« Sie nahm mir die Scheine aus der Hand und folgte Lily hinaus. Sie hatte mir nie vergeben, daß ich geheiratet hatte. »Willst du, daß ich ihr Bescheid stoße, Marîd?« fragte Chiri. »Nein, danke.« Ich fand es nett, daß sie sich meinetwegen Gedanken machte. Zwischen uns hatte es ein paar unglückliche Mißverständnisse gegeben, aber ansonsten war Chiri seit lan-
gem meine beste Freundin in der Stadt. »Alles okay mit Indihar?« erkundigte sie sich. »Alles bestens. Ich sehe sie kaum. Sie und die Kinder haben eine eigene Wohnung im anderen Flügel von Papas Residenz. Yasmin hatte recht, ich schlafe allein.« »Mhm. Das wird nicht mehr lange dauern. Mir ist nicht entgangen, wie du Indihar angesehen hast.« »Das war nur eine Art Vernunftehe.« »Mhm. Ich hab' mein Geld und geh' jetzt nach Hause. Keine Ahnung, warum, auf mich wartet schließlich auch niemand. Ich habe alle Sexmoddys, die Honey Pílar je machte, aber niemanden zum Bumsen. Werde mir wohl wieder meinen alten Schal um die Schultern legen, mich in meinen Schaukelstuhl setzen und meinen Erinnerungen nachhängen. Und so lange hin- und herschaukeln, bis ich einschlafe. Ganz schöne Verschwendung meiner sexuell besten Jahre.« Dabei sah sie Kmuzu ununterbrochen mit großen, runden Augen an und bemühte sich wirklich mit aller Kraft, ein Grinsen zu unterdrücken. Allerdings ohne Erfolg. Schließlich nahm sie ihre Umhängetasche und einen letzten Schluck Tende aus ihrem Privatbestand und ließ Kmuzu und mich allein im Club zurück. »Man braucht Euch nicht jede Nacht hier, yaa Sidi«, sagte Kmuzu. »Die Frau, Chiriga, ist durchaus imstande, für Ordnung zu sorgen. Es wäre besser für Euch, zu Hause zu bleiben und Euch um dringendere Angelegenheiten zu kümmern.« »Welche Angelegenheiten meinst du, Kmuzu?« fragte ich, während ich die Lichter ausmachte und ihm auf das Trottoir hinaus folgte. Ich sperrte den Nachtclub zu und ging die Promenade hinunter zum großen Osttor und auf den Boulevard il-
Jameel, wo mein Auto abgestellt war. »Dir habt wichtige Angelegenheiten zu erledigen für den Herrn des Hauses.« Damit meinte er Papa. »Papa kann noch eine Weile ohne mich auskommen. Ich erhole mich noch von den Strapazen.« Um nichts auf der Welt wollte ich zu den Bonzen gehören. Ich wollte nicht Scheich Marîd Audran al-Amîn sein. Ich sehnte mich verzweifelt danach, mir wieder mühselig meinen Lebensunterhalt zusammenzukratzen, vielleicht ab und zu auf ein warmes Essen verzichten zu müssen, aber dafür mein eigener Herr zu sein. Was ich nicht wollte, war, daß alle anderen Bonzen, die ihre Finger im Spiel hatten, hinter mir her sind. Darüber konnte man mit Friedlander Bei nicht reden. Er hatte auf alles eine Antwort. Das konnte eine Bestechung sein oder eine Belohnung – und manchmal war es Folter. Genauso hätte man sich bei Gott über Sandflöhe beschweren können. Er hat sich um Wichtigeres zu kümmern. Eine warme Brise trug miteinander widerstreitende Duftnoten heran: Bratenduft aus einer der Garküchen, verschüttetes Bier, den Duft von Gardenien und den Gestank von Kotze. Unten an der Kreuzung spülte ein verhungert aussehender Mann in einem langen weißen Hemd und einer weißen Baumwollhose mit einem Plastikschlauch den Müll der Nacht vom Trottoir in den Gully. Als wir näherkamen, grinste er zahnlos und lenkte den Wasserstrahl in die andere Richtung. »Scheich Marîd«, krächzte er. Ich nickte ihm zu, war mir jedoch sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Sogar mit Kmuzu an der Seite kam ich mir schrecklich einsam vor. Der Budayin löste das manchmal aus bei mir, beson-
ders zu sehr später Stunde. Selbst die Promenade, in der es nie ganz ruhig war, war ziemlich verlassen und unsere Schritte hallten wider auf dem Pflaster. Aus einem Club weiter unten drang Musik, der rauhe Lärm durch die Entfernung zu sanfter Melancholie zurechtgeschliffen. Ich hatte den Bodensatz meines letzten Weißen Todes in einem Plastikbecher mitgenommen und schluckte ihn nun. Er schmeckte wie Eiswasser mit Limonensaft, der Gin war nur noch zu ahnen. Auf das Ende der Nacht war ich noch nicht eingestellt. Als wir in die Nähe des Torbogens im Osten des ummauerten Viertels kamen, fühlte ich, wie mich eine gewaltige Vorahnung überkam. Ich erschauderte richtiggehend. Ich war nicht sicher, ob das ein geheimnisvolles Zeichen meines Unbewußten war oder nur die Folge von zu vielen Drinks und Übermüdung. An der Ecke zur Dritten Straße blieb ich stehen. Kmuzu blieb ebenfalls stehen und sah mich fragend an. Blendendhelles, blutrotes Neonzickzack rahmte eine Holo-Werbung für eine der billigen Kafiristani-Kliniken für Körpermodifikation an der Promenade ein. Einen Augenblick lang sah ich dem Holo zu, sah zu, wie sich ein pummeliger Junge mit einem Pfannenkuchengesicht in ein schlankes, sinnliches Mädchen verwandelte. Es lebe das Wunder der Zeitraffer-Holos und der Chirurgie nach Wahl. Ich wandte den Blick nach oben, in den Himmel. Mit einemmal war mir klar, daß meine Gnadenfrist zu Ende ging, daß ich die nächste Etappe auf dem Weg meiner Entwicklung in Angriff nehmen mußte. Natürlich war dieses Gefühl schon öfters über mich gekommen. Sogar schon ziemlich oft, um genau zu sein, aber diesmal war es anders. Heute hatte ich
überhaupt keine illegalen Drogen im System. »O Gott«, murmelte ich. Mich fröstelte in dieser Wüstensommernacht, und ich lehnte mich gegen die Schaufensterfront der Klinik. »Was ist, yaa Sidi?« fragte Kmuzu. Ich sah ihn einen Augenblick lang an, dankbar dafür, daß er hier bei mir war, und erzählte ihm, was mir soeben durch meinen wirren Kopf gegangen war. »Das war keine Botschaft von den Sternen, yaa Sidi. Das hat Euch der Herr des Hauses heute morgen erzählt. Ihr hattet eine etwas unglückliche Menge Sonneintabletten eingenommen, vielleicht erinnert Ihr Euch deshalb nicht daran. Der Herr des Hauses sagte, er hätte über den nächsten Akt der Rache entschieden.« »Das habe ich befürchtet, Kmuzu. Hast du eine Ahnung, was er damit meint?« Mir gefiel die Vorstellung besser, hier handle es sich um eine verrückte Anwandlung aus dem Kosmos. »Er teilt mir nicht alle seine Gedanken mit, yaa Sidi.« Ich hörte ein leises Rauschen und drehte mich um, mir war plötzlich unwohl. Es war nur der Wind. Wir gingen die Promenade weiter hinunter, und der Wind wurde immer stärker und lauter. Schließlich riß er Papierfetzen mit sich fort und Laub und wirbelte alles zusammen wild durch die Gegend. Wolken zogen am Nachthimmel auf, verdeckten die Sterne und verbargen den fetten gelben Mond. Und dann erstarb der Wind, genau in dem Augenblick, als wir vom Budayin auf den Boulevard jenseits der Mauer traten. Plötzlich war alles wieder ruhig und still. Der Himmel war noch überzogen, und der Mond nur ein blasser Schein hinter einer
silbernen Wolke. Ich wandte den Kopf, um einen Blick auf das Osttor zu werfen. Ich glaube nicht an Vorwissen und Vorahnungen, aber ich erinnere mich noch genau an die Unruhe, die ich empfand, als Kmuzu und ich zu meiner cremefarbenen westfälischen Limousine schritten. Natürlich sagte ich Kmuzu nichts davon. Er bleibt in jeder Situation rational, was schon beinahe abstoßend ist. »Ich möchte möglichst schnell nach Hause, Kmuzu«, erklärte ich ihm, während er die Tür aufsperrte. »Ja, yaa Sidi.« Ich stieg in den Wagen und wartete, daß er außen herumging und sich hinters Lenkrad setzte. Er gab den Zündungscode ein und steuerte den Elektrowagen auf der breiten Schnellstraße Richtung Norden. »Heute fühle ich mich ziemlich merkwürdig«, jammerte ich, lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne und schloß die Augen. »Das sagt Ihr beinahe jeden Tag.« »Diesmal meine ich es. Ich fühle mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut. Alles erscheint mir verändert. Ich sehe diese Mietshäuser, und sie kommen mir wie menschliche Ameisenhaufen vor. Ein Fetzen Musik dringt an mein Ohr, und plötzlich höre ich einen Schmerzensschrei aus dem Nichts kommend. Ich bin nicht in der Stimmung für mystische Offenbarungen, Kmuzu. Was kann ich tun, daß das aufhört.« Er lachte leise. »Ihr solltet nüchtern werden, yaa Sidi.« »Ich hab' dir gesagt, das ist es nicht. Ich bin nüchtern.« »Natürlich, yaa Sidi.« Ich sah zu, wie die Stadt an meinem Fenster vorbeiglitt. Mir war nicht danach, mich weiter mit ihm rumzustreiten. Ich
fühlte mich nüchtern und hellwach. Ich fühlte mich voller Energie – was mir um vier Uhr morgens zuwider ist. Es ist einfach die falsche Zeit für enthusiastische Zustände dieser Art. Aber dafür gab es natürlich eine einfache Lösung: eine große Dosis Butaqualid HCL, sobald ich zu Hause war. Dank der Beautys würde ich ein paar Minuten köstliche Verwirrung genießen können, um dann wegzutreten und eine ganze Nacht herrlich durchzuschlafen. Am nächsten Morgen würde ich mich an dieses unerfreuliche Interludium der Klarheit nicht einmal erinnern. Wir fuhren schweigend dahin und allmählich wich diese seltsame Stimmung. Kmuzu steuerte Friedlander Beis Palast an, der an das christliche Viertel angrenzte. Herrlich, nach Hause zu kommen, sich ein paar Minuten heiß zu duschen, dann noch etwas zu lesen, bevor man einschläft. Einer der Gründe, warum ich jede Nacht bis zum Schluß in Chiris Club blieb, war, daß ich niemanden im Haus in die Arme laufen wollte. Um vier Uhr früh schliefen sie alle tief und fest. Bis zum Morgen mußte ich nicht fürchten, jemanden zu sehen. »Yaa Sidi«, sagte Kmuzu, »am Abend kam ein wichtiger Anruf für Euch.« »Ich höre das Telefon vor dem Frühstück ab.« »Ich denke, davon solltet Ihr schon jetzt erfahren.« Das klang gar nicht gut. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, wo das Problem liegen sollte. Früher beantwortete ich mein Telefon ungern, weil ich bei so vielen Menschen Schulden hatte. Doch jetzt hatten die anderen bei mir Schulden. »Es war doch nicht etwa mein lange vermißter Bruder? Ist er aufgetaucht und möchte nun mein Glück mit mir teilen?«
»Nein, es ist nicht Euer Bruder, yaa Sidi. Und selbst wenn er es wäre, würdet Ihr Euch nicht freuen …« »Das war nicht ernst gemeint, Kmuzu.« Kmuzu ist ein schlauer Bursche, und ich würde mich mittlerweilen schwer tun ohne ihn, aber er hat ein riesiges, gähnendes, schwarzes Loch, wo bei anderen der Sinn für Humor sitzt. »Was war es denn dann für eine Nachricht?« Er schwenkte von der Straße in die Auffahrt zu Papas Villa ein. Am Tor warteten wir lange genug, damit der Wachposten uns identifizieren konnte, und dann rollten wir langsam die geschwungene Auffahrt hoch. »Ihr wurdet zu einem festlichen Abendessen eingeladen«, erklärte er, »das zu Ehren Eurer Rückkehr gegeben wird.« »Mhm«, sagte ich. Ich hatte in den letzten Tagen bereits zwei oder drei davon über mich ergehen lassen. Anscheinend fühlten sich die meisten von Friedlander Beis Speichelleckern im Budayin dazu verpflichtet, uns zu bewirten, aus Angst, sonst ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Immerhin hatte mir das einige freie Abendessen und ein paar nette Geschenke eingebracht. »Wer ist es denn dieses Mal? Frenchy?« Ihm gehörte der Club, in dem Yasmin früher arbeitete. »Ein weitaus bedeutenderer Mann. Scheich Reda Abu Adil.« Ich schaute ihn ungläubig an. »Ich wurde eingeladen, mit unserem größten Feind zu dinieren?« »Ja, yaa Sidi.« »Wann findet das Essen denn statt?« »Heute abend nach dem Abendgebet, yaa Sidi. Scheich Redas Terminkalender ist dicht, es ging bei ihm nur heute abend.« Ich atmete tief durch. Kmuzu hatte den Wagen am Ende der
weißen Marmortreppe angehalten, die zu der Eingangstür aus Mahagoni führte. »Ob es wohl Papa etwas ausmacht, wenn ich heute morgen länger schlafe.« »Der Herr des Hauses gab mir ausdrücklich die Anweisung, sicherzustellen, daß Ihr mit ihm frühstückt.« »Darauf freue ich mich nun ganz bestimmt nicht, Kmuzu.« »Auf das Frühstück? Dann achtet darauf, nur Leichtes zu essen, wenn Ihr Probleme mit dem Magen habt.« »Nein«, entgegnete ich leicht enerviert, »auf dieses Abendessen mit Scheich Reda. Ich hasse es, überrumpelt zu werden. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was hinter diesem Treffen steckt, und die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, daß Papa es für richtig hält, mich darüber aufzuklären.« Kmuzu zuckte die Achseln. »Euer Urteilsvermögen wird Euch helfen, yaa Sidi. Und ich werde bei Euch sein.« »Danke, Kmuzu«, sagte ich und stieg aus dem Wagen. Daß er bei mir war, trug wesentlich mehr zu meinem Wohlbefinden bei als die Vorstellung, mich nur auf mein Urteilsvermögen verlassen zu müssen. Aber das konnte ich ihm schlecht sagen.
11. Kapitel
Dieser Tag wird für mich immer ›Der Tag der drei Mahlzeiten‹ bleiben. Die Mahlzeiten an sich waren eigentlich nichts Besonderes – ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, was ich an diesem Tag gegessen habe. Bedeutungsvoll ist, was während der drei Mahlzeiten geschah und was dabei geredet wurde. Der Tag begann damit, daß Kmuzu mich eine halbe Stunde früher wachrüttelte, als ich eigentlich aufstehen wollte. Mein Wecker-Daddy war auf halb sieben gestellt, aber Friedlander Bei hatte unser Frühstück eine halbe Stunde vorverlegt. Ich hasse es aufzustehen, ganz gleich, ob es sich – dank Weckerchip – um einen hellwachen, beflügelten Tagesbeginn handelt oder – dank Kmuzu – um ein schwerfälliges und von Gähnen begleitetes Sich-aus-dem-Bett-Wälzen. Ich war der Meinung, wenn Allah gewollt hätte, daß wir so früh aufstehen, hätte er den Mittag nicht erfunden. Genauso hasse ich es zu frühstücken. In letzter Zeit jedoch frühstückte ich viermal die Woche gemeinsam mit Friedlander Bei. Wahrscheinlich würde das nur schlimmer werden, je mehr Verantwortung Papa mir auflud. Zu diesen Treffen kleidete ich mich immer arabisch. Die Gallebeya hatte ich öfters an als die Blue Jeans, das Hemd und die Stiefel. Meine alten Lieblingsklamotten hingen im Schrank und schienen mich jedesmal, wenn mein Blick auf sie fiel, stumm zu tadeln.
Die Jeans erinnerten mich ständig daran, was ich aufgegeben hatte, seit Papa mich mit seinem Zauberstab berührt hatte. Viel von dem, was früher ›Freiheit‹ für mich bedeutete, hatte ich eingetauscht. Das Komische an der Sache war nur, daß alle meine Freunde das und noch viel mehr drangegeben hätten, um in diesem Luxus zu leben. Zuerst hatte ich Papa dafür gehaßt, daß er mir meine Freiheit genommen hatte. Inzwischen jedoch erkannte ich trotz der zeitweiligen Anflüge des Bedauerns im Dunkel der Nacht, daß mir Friedlander Bei eine große Chance gegeben hatte. Mein Horizont hatte sich in einem Maße erweitert, wie ich es früher nicht zu träumen gewagt hätte. Nichtsdestoweniger war ich mir klar darüber, daß ich weder die Annehmlichkeiten noch die neuen Verantwortungen und Pflichten ablehnen konnte. In gewisser Weise war ich der sprichwörtliche Vogel im sprichwörtlichen Käfig. Aber das Geld war nett. Ich duschte mich also und pflegte meinen roten Bart und dann zog ich den Umhang und die Keffiya an, die Kmuzu für mich ausgewählt hatte. Anschließend gingen wir nach unten in das kleine Eßzimmer. Natürlich war Friedlander Bei bereits da. Tariq, sein Kammerdiener, bediente ihn. Kmuzu ließ mich an meinem gewohnten Platz Platz nehmen und blieb hinter meinem Stuhl stehen. »Guten Morgen, mein Neffe«, begrüßte mich Papa. »Voller Zuversicht hoffe ich, daß es dir wohlergeht.« »Il-hamdu lillah«, entgegnete ich. Gepriesen sei Gott. Zum Frühstück gab es eine Schale gedämpfte Weizenflocken mit Orangenschalen und Nüssen, eine Platte Eier, eine Platte Wurst und natürlich Kaffee. Papa ließ sich von Tariq ein paar
Eier und etwas Lammbraten vorlegen. »Ich habe dir einige Tage Entspannung genehmigt, o Erhabener«, sagte er. »Aber die Zeit der Ruhe ist nun vorbei. Ich wünsche zu wissen, was du getan hast, um das Datalink-Projekt voranzutreiben?« »Ich glaube, ich habe einen ausgezeichneten Agenten in meinem Freund Jacques gefunden. Ich tat ihm einen Gefallen und nun, denke ich, ist er bereit, mir im Gegenzug einen kleinen Gefallen zu tun.« Papa strahlte mich an wie einen Musterschüler. »Sehr gut, mein Sohn! Es freut mich, daß du die Wege der Macht so schnell erfaßt hast. Nun will ich dir das Datalink-Terminal zeigen, das du – oder besser dein Freund benutzen wirst.« Tariq ging hinaus und kehrte kurz darauf mit einer Art hartschaligem Aktenkoffer zurück. Er legte ihn auf den Tisch, öffnete ihn und hob den Deckel. »Wow«, sagte ich, beeindruckt von dem Design des Terminals, »eine kleine Schönheit.« »Richtig«, stimmte Friedlander Bei zu. »Es ist mit Commlink ausgestattet und einem herkömmlichen Datalinkdrucker. Aus Kostengründen nimmt dieses Modell keine gesprochenen Befehle an. Alles muß manuell eingegeben werden. Doch ich gehe davon aus, daß das Datalink-Projekt binnen sechs Monaten bis einem Jahr die Entwicklungskosten eingefahren hat und wir anfangen können, diese Terminals mit über die Stimme betriebenen Modellen zu ersetzen.« Ich nickte. »Und meine Aufgabe ist es, jeden Bar-, Nachtclub- und Restaurantbesitzer im Budayin dazu zu bringen, so ein Ding zu mieten. Ich versteh' das nicht. Warum sollen die Leute fünfundzwanzig Fîqs für einen Informationsdienst bezah-
len, den sie von der Stadt umsonst haben können?« »Wir haben einen Vertrag mit der Stadt«, erklärte Tariq. »Die Sonderkommission des Emirs beschloß, daß die Stadt sich den Informationsdienst nicht länger leisten kann. Innerhalb der nächsten Wochen werden sämtliche freien Info-Terminals durch unsere Geräte ersetzt werden, inshallah.« »Das ist mir bekannt. Ich wollte wissen, was ich tun soll, wenn sich die Barbesitzer schlichtweg weigern, so ein Ding zu mieten?« Friedlander Beis Augen blitzten kühl. »Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte er lächelnd. »Wir haben Spezialisten, die die widerstrebenden Eigentümer überzeugen werden.« »Spezialisten.« Dieser Euphemismus gefiel mir. Papas Spezialisten heißen alle Guido, Zwerg und Igor. »Am besten wäre«, fuhr Papa fort, »wenn du und dein Freund ein paar Tage als Team arbeiten würdet, bevor du ihn allein losschickst. Sobald wir den Budayin abgedeckt haben, können wir unsere Kontrolle noch verschärfen. Wir können feststellen, wer den Service benutzt und welche Fragen er stellt. Denn alle müssen sich mit einer offiziellen Kennung anmelden. Wir können sogar dafür sorgen, daß bestimmte Informationen nicht an alle gehen.« »Aber das werden wir nicht tun«, sagte ich. Ein, zwei Sekunden lang schwieg Papa. »Natürlich nicht«, sagte er schließlich. »Das würde den Grundsätzen unseres heiligen Propheten widersprechen.« »Möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und der Friede mit ihm sein«, antwortete ich automatisch.
Tariq legte mir eine Broschüre hin. »Hier sind sämtliche Befehle verzeichnet«, erklärte er. »Und das Ende des Buches enthält eine kleine Tasche mit einer ID-Karte, damit Ihr für Eure Anfragen nicht zahlen müßt.« »Danke. Ich werde mich heute noch mit diesen Befehlen vertraut machen und morgen gehe ich mit Jacques zu den Clubbesitzern in der Promenade.« »Ausgezeichnet, mein Neffe«, sagte Papa. »Was nun unsere Rache betrifft, hielte ich es für am besten, wenn die Entdeckung des wirklichen Mörders von Khalid Maxwell mit der Aufdeckung der gegen uns gerichteten Verschwörung einherginge. Ich werde nur die eleganteste Lösung akzeptieren.« »Und wenn Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq gar nichts damit zu tun hat?« erkundigte ich mich nach dem Imam, der Hajjar und seinen Schlägern die Erlaubnis erteilt hatte, uns zu kidnappen. Papa explodierte beinahe vor Wut. »Fang mir nicht mit diesem Sohn eines siechen Kamels an!« brüllte er. Einen solchen Gefühlsausbruch hatte ich noch nie an ihm erlebt. Sein Gesicht wurde krebsrot, und er schüttelte die Fäuste, als sein Zorn mit ihm durchging. »O Scheich …« »Die Menschen im Budayin sind verrückt vor Angst!« fuhr er fort und schlug auf den Tisch. »Sie denken nur noch daran, was passiert, wenn wir ein weiteres Mal entführt werden und nicht mehr zurückkehren. Es kursieren häßliche Gerüchte, wir hätten die Kontrolle verloren, unsere Partner würden nicht mehr geschützt. Die letzten Tage verbrachte ich damit, unsere beunruhigten Freunde aufzurichten und zu besänftigen. Ich schwöre beim Leben meiner Kinder, ich lasse mich weder schwächen
noch zur Seite drängen! Ich habe einen Plan, mein Neffe. Warte nur ab, ob es diesem verfluchten Imam gelingt, mich von den Menschen zu trennen, die mich lieben. Wenn er nichts damit zu tun hat, dann sorge dafür, daß er etwas damit zu tun hat.« »Ja, o Scheich.« O Gott. So lief das an diesem Frühstückstisch. Munter wurden Bestrafungen und Belohnungen ausgeteilt, ohne groß zu berücksichtigen, ob sie auch angemessen waren. Manchmal erinnerte mich Friedlander Bei an die launischen griechischen Götter bei Homer – launisch deshalb, weil sie ganze Völker vernichteten, nur weil sie sich einbildeten, beleidigt worden zu sein, oder ganz ohne Grund. Selbst als Papa über das Datalink-Projekt sprach, war mir klar, daß ihn nun der Haß antrieb und daß das solange so bleiben würde, bis er einen tödlichen Schlag gegen die richten konnte, die sich gegen uns verschworen hatten. Friedlander Beis Motto lautete: »Gleichziehen ist die beste Rache.« Nichts sonst würde helfen, kein Vergeben, weil man moralisch überlegen war, und keine ironischen oder symbolischen Gesten. Nicht nur die Beni Salim legten Wert auf eine angemessene Vergeltung. Das Prinzip war ausdrücklich im edlen Koran festgelegt, und es war Bestandteil der muslimischen Weltsicht, was die westliche Welt bei zahllosen Gelegenheiten auf schmerzhafte Weise erfahren mußte. Jemand würde sterben – Hajjar, Scheich Mahali, Dr. Abd ar-Razzaq, der wirkliche Mörder Khalid Maxwells –, und an mir schien es zu liegen, die Entscheidung zu treffen. Friedlander Bei runzelte nachdenklich die Stirn. »Da ist noch ein Stein in meinem Schuh«, sagte er schließlich. »Ich spreche
von Polizeikommissar Hajjar. Glücklicherweise ist es nicht schwer, sich so einer Belästigung zu entledigen.« »Arbeitete er nicht einmal auch für Euch?« fragte ich. Papa blickte zur Seite und tat so, als spucke er auf den Boden. »Er ist ein Verräter. Er arbeitet für den, der ihm gerade am meisten Geld bietet. Er war ehrlos, treulos. Ich bin froh, daß er nun für Scheich Reda arbeitet und nicht für mich. Ich konnte ihm nicht trauen, als er mein Mann war. Jetzt weiß ich, wo er steht. Und vermutlich könnte ich ihn jederzeit zurückkaufen, wenn ich das wollte. Möglicherweise tue ich es. Und wenn ich ihn dann habe, kann ich meinen Schuh ausleeren, wie es mir paßt.« Er sprach von Mord. Es ist noch nicht allzu lange her, da hätte mich diese saloppe Art Papas, über die Ermordung eines Menschen zu sprechen, abgestoßen. Die Zeiten waren vorbei. Ich betrachtete die Angelegenheit wie ein Bedu, und ich wußte, daß Papa vollkommen recht hatte. Es kam nur darauf an, die Sache richtig zu planen. Sämtliche Einzelheiten mußten noch ausgearbeitet werden, aber das war nicht schwierig. Mich störte nur, daß Papa zuvor davon gesprochen hatte, den Imam auszuschalten, und nun von Hajjar. Nach meiner Meinung sollten wir nicht die Stadt entvölkern, um unserem gerechten Zorn Genüge zu tun. Ein paar Minuten später war ich in meinem Büro und gab Befehle in mein Datenterminal ein. Ich stellte fest, daß ich mit dieser kleinen Maschine praktisch über jeden in der Stadt alles herausfinden konnte. Meine geheimen Sonderbefehle erlaubten mir einen freien Zugriff auf Informationen, von denen der Normalbürger nicht einmal wußte, daß sie aufgezeichnet wur-
den. Mir wurde ganz schwindlig, als ich die Macht fühlte, die sich mir auftat. Ich konnte meine Freunde und Feinde ausspionieren. Ich kam mir vor wie ein Hightech-Schnüffler, und das war ein grandioses Gefühl. Als ich mit dem Datalink-Terminal klar kam, forderte ich eine Liste von den Telefonanrufen an, die Dr. Abd ar-Razzaq in den letzten zwei Monaten tätigte, ein- wie hinausgehenden. Die eingehenden Telefonanrufe waren nur durch die Commcodes ausgewiesen. Dann wiederholte ich die Prozedur für den Commcode, den Kommissar Hajjar auf der Polizeiwache verwendete. Ich fand heraus, daß Hajjar und der Imam in diesen acht Wochen elfmal miteinander gesprochen hatten. Wahrscheinlich hatten sie auch noch von anderen Apparaten aus miteinander telefoniert, aber das mußte ich nicht alles bis ins letzte Detail wissen. Vor einem Gericht würde es ohnehin nie als Beweis zugelassen werden. Eine halbe Stunde bevor ich zu Mittag essen wollte, meldete Kmuzu Besuch an. Es waren Indihar und bin Turki, der junge Beni Salim. »Erquickender Morgen«, begrüßte ich sie. »Erleuchtender Morgen, Gemahl«, entgegnete Indihar. »Ich hoffe, wir stören dich nicht bei der Arbeit.« Ich lud sie ein, es sich auf der Couch bequem zu machen. »Nein, überhaupt nicht. Es freut mich, euch zu sehen. Und ich wollte sowieso gleich eine Mittagspause einlegen. Kann ich euch irgendwie helfen?« »Deine Mutter läßt dich grüßen«, sagte Indihar. »Sie fragt sich, warum du sie seit deiner Rückkehr erst einmal besucht hast.«
Die Wahrheit war, daß ich mich noch immer nicht wohl fühlte in ihrer Gegenwart. Vor ein paar Monaten war sie in der Stadt angekommen, völlig abgerissen und schrill aufgetakelt. Sie war fast ihr ganzes Leben lang eine Nutte gewesen, aber ich hatte sie aufgenommen und ihr eine Suite im Ostflügel gegeben. Und sie hatte sich Mühe gegeben, ihren Stil herunterzufahren und sich an Friedlander Beis Haus anzupassen. Wir hatten viel miteinander geredet und uns am Ende ausgesöhnt, aber sie brachte mich noch immer aus der Fassung. Mir war klar, das war mein Problem und nicht ihres, und ich versuchte, damit fertigzuwerden. Doch das war mir noch nicht ganz gelungen, obwohl meine Mutter eine Menge Gutes tat in der Stadt. Sie hatte mit meinem Geld Suppenküchen und Unterkünfte aufgebaut und leitete sie nun. Ihr Verhalten war sicher lobenswert, aber ich konnte einfach nicht aus meiner Erinnerung streichen, wie schockiert ich war, als ich sie nach so langer Zeit wiedersah. »Sag Umm Marîd, daß ich sehr viel zu tun hatte, um herauszufinden, was während meiner Abwesenheit geschah. Sag ihr, daß ich sie bald besuchen werde. Und grüße sie von mir, sag ihr, daß ich sie liebe und um Verzeihung bitte, weil ich sie so vernachlässigte.« »Ja, Gemahl«, erwiderte Indihar. Ich glaube nicht, daß sie meine Antwort zufriedenstellte, aber sie beließ es dabei. Bin Turki räusperte sich. »Ich habe Euch für sehr viel zu danken, o Scheich«, begann er. »Jeder Tag bringt Wunder über Wunder. Ich sehe Dinge, die meine Brüder nicht glauben würden, selbst wenn ich ihnen davon berichtete. Und doch wäre ich gerne frei, Eure Welt nach meinen Wünschen zu erkunden. Ich habe kein Geld und deshalb bin ich nicht frei.
Wir Beni Salim sind nicht daran gewöhnt, eingesperrt zu sein, nicht einmal unter solch angenehmen Bedingungen wie hier.« Ich kaute an meiner Unterlippe und dachte nach. »Du glaubst wirklich, daß du dich bereits außerhalb dieser Mauern zurechtfindest? Daß du bereits genug gelernt hast, um dich vor den gutgekleideten Wölfen der Stadt in acht zu nehmen?« Der junge Kerl zuckte die Achseln. »Möglicherweise gerate ich in Schwierigkeiten, aber ich nehme das Recht in Anspruch, das selbst herauszufinden.« Plötzlich hatte ich eine Eingebung. »Du wirst Geld brauchen, wie du schon gesagt hast. Käme es für dich in Betracht, für mich etwas zu erledigen? Wofür du einen bescheidenen Wochenlohn erhieltest?« Bin Turkis Augen wurden ganz groß. »Gewiß, o Scheich«, sagte er mit zitternder Stimme, »ich danke Euch für die Gelegenheit.« »Du weißt noch nicht, was ich von dir will«, antwortete ich trocken. »Erinnerst du dich an die Geschichte, wie wir entführt und in die Rub Al Khali gebracht wurden?« »Ja, o Scheich.« »Erinnerst du dich, wie ich von dem Inspektor in der Stadt Najran erzählte und seiner unnötigen Grausamkeit? Wie er den alten Scheich grundlos schlug?« »Ja, o Scheich.« Ich öffnete meine Schreibtischschublade und zog das Stratosphärenclipper-Ticket heraus. »Hier«, sagte ich. »Er heißt Inspektor al-Bishah. Du kannst morgen früh abreisen.« Das war alles. »Marîd!« rief Indihar erschrocken. Sie hatte erraten, auf wel-
che Mission ich den Jungen schickte, und war offensichtlich schockiert. Bin Turki zögerte kurz und nahm dann das Ticket an. »Gut«, sagte ich. »Wenn du zurückkommst, erhältst du fünftausend Kiam und pro Woche zweihundert Kiam. Damit kannst du dir ein Haus mieten oder eine Wohnung und dir dein Leben nach deinen Wünschen einrichten. Aber mein Dank und der Friedlander Beis wird dir für immer sicher sein.« »Das bedeutet mir mehr als das Geld«, murmelte bin Turki. »Indihar«, sagte ich, »würde es dir etwas ausmachen, unseren jungen Freund unter deine Fittiche zu nehmen? Ihm dabei zu helfen, sich eine Wohnung oder ein Haus zu suchen, und ihn zu beraten, wie er am besten auf sich und sein Geld achtet?« »Es würde mich glücklich machen«, antwortete sie. Sie wirkte beunruhigt, diesen neuen Marîd Audran kannte sie noch nicht. »Ich danke euch beiden«, erklärte ich. »Jetzt muß ich wieder arbeiten.« »Ich wünsche dir dann einen guten Tag, Gemahl«, verabschiedete sich Indihar und erhob sich. »Ja, vielen Dank, o Scheich«, schloß sich bin Turki an. Ich tat so, als nähmen mich meine Unterlagen vollkommen in Anspruch, und sie gingen schnell. Ich zitterte wie ein neugeborenes Lamm. Ich hatte diesen neuen Marîd Audran ebenfalls noch nicht gesehen. Ich wartete fünf Minuten, ich wartete zehn Minuten. Ich wartete darauf, daß sich in mir moralische Entrüstung regte, aber nichts geschah. Die eine Hälfte meines Ichs war quasi hinter mich getreten und beobachtete und beurteilte mich von außen. Und was ich da entdeckte, war äußerst beunruhigend.
Anscheinend hatte ich nicht die geringsten Gewissensbisse, anderen grausame Aufträge zu erteilen. Ich versuchte, in mich zu gehen und zu sehen, ob ich nicht eine Spur Traurigkeit darüber entdecken konnte. Vergeblich. Ich fühlte nichts. Kein Grund, stolz zu sein. Ich beschloß, daß ich davon niemandem erzählen konnte. Wie Friedlander Bei hatte ich gelernt, mit dem zu leben, was ich tun mußte. Ich schaltete mein Datenterminal aus, und als der Bildschirm schwarz wurde, begann ich mir Gedanken über das Mittagessen zu machen. Seit ich wieder da war, hatte ich zwar Jacques getroffen, aber weder Mahmoud noch Saied. Ich wußte, daß sie wahrscheinlich im Café Solace saßen, Karten spielten und klatschten. Und genau danach war mir plötzlich. Ich rief Kmuzu und sagte ihm, ich würde gern in den Budayin fahren. Er nickte wortlos und holte die westfälische Limousine. Wir parkten am Boulevard il-Jameel und gingen durch das Osttor. Die Promenade war voll mit Tagestouristen, die es bald bedauern würden, nicht auf den Rat ihres Hoteldirektors gehört zu haben, das Viertel hinter der Mauer zu meiden. Wenn sie nicht beizeiten verschwanden, würden ihnen die Ganoven hier jeden Kiam abknöpfen, den sie in ihren Taschen und Geldbeuteln mit sich trugen. Kmuzu und ich gingen zum Solace und meine drei Freunde saßen, wie vermutet, an einem Tisch im Patio neben dem Eisenzaun. Ich ging durch die schmale Tür und setzte mich zu ihnen. »Hallo, Marîd«, grüßte mich Jacques teilnahmslos. »Hallo, Kmuzu.« »Wie geht's, Marîd?« erkundigte sich Mahmoud.
»Ich hab' mich schon gefragt, was mit dir los ist«, sagte Saied, der Halb-Hadschi. Er war einmal mein bester Freund gewesen, hatte mich dann aber an Scheich Reda Abu Adil verraten, und seither behielt ich ihn scharf im Auge. »Mir geht's gut«, sagte ich. »Ihr habt wahrscheinlich ohnehin alle die Geschichte gehört.« »Ja, haben wir«, sagte Mahmoud, »aber wir haben sie nicht von dir gehört. Sie haben dich geschnappt, stimmt's? Aus dem Palast des Emirs heraus? Ich dachte, Papa hätte mehr drauf.« »Papa ist schon ziemlich ausgekocht«, entgegnete der HalbHadschi. »Aber Scheich Reda ist halt ausgekochter, als man glaubt.« »Da hast du allerdings recht«, stimmte ich ihm zu. »Kmuzu, setz dich«, sagte Jacques. »Du mußt bei uns nicht den Sklaven spielen. Wir mögen dich. Bestell dir ruhig was zu trinken oder was du sonst willst.« »Danke«, sagte Kmuzu tonlos. »Ich würde lieber stehen.« »Wir wollen aber, daß du dich setzt«, murrte Mahmoud. »Du machst uns nervös.« Kmuzu nickte, holte sich einen Stuhl von einem anderen Tisch und setzte sich. Der alte Ibrahim kam und nahm meine Bestellung auf. Ich wollte nur eine Platte Hummus und Brot und einen Gin und Bingara, um alles hinunterzuspülen. »Puh«, sagte Mahmoud. Ich wollte gerade antworten, wurde aber von einem Mann unterbrochen, der an den Eisenzaun getreten war. »Scheich Marîd«, wandte er sich hastig an mich, »erinnert Ihr Euch an mich?« Ich sah ihn einen Augenblick lang an, und obwohl ich wußte,
daß ich ihn schon einmal gesehen hatte, konnte ich mich nicht erinnern, wo und wann. »Es tut mir leid«, antwortete ich. »Ich heiße Nikos Kouklis. Vor ein paar Monaten habt Ihr mir Geld geliehen, damit ich meinen eigenen Suvlaki-Imbiß an der Neunten Straße aufmachen kann. Seither geht es mir besser, als ich je zu träumen gewagt hätte. Mein Geschäft ist erfolgreich, meine Frau ist glücklich und meine Kinder haben genug zu essen und sind gut angezogen. Hier. Es freut mich sehr, Euch Euer Geld zurückgeben zu können, und meine Frau hat eine Pfanne Baklava für Euch gebacken. Bitte nehmt dies an, zusammen mit meiner ewigen Dankbarkeit.« Ich war sprachlos. Ich hatte einer Menge Leute ab und zu ein Sümmchen Geld geborgt, aber das hier war das erste Mal, daß einer von ihnen ein großes Trara darum machte, es zurückzuzahlen. Ich fühlte mich geradezu unwohl dabei. »Behalte das Geld nur«, sagte ich. »Hebe es auf für deine Frau und deine Kinder.« »Es tut mir leid, o Scheich«, entgegnete Kouklis, »aber ich bestehe darauf, es zurückzuzahlen.« Ich verstand seinen Stolz und nahm das Geld mit einem höflichen Nicken an. Ich nahm auch die Platte Baklava an. »Möge dich der Erfolg weiterhin begleiten«, bedankte ich mich. »Möge das Schicksal dir gewogen bleiben.« »All das verdanke ich Euch«, erwiderte der griechische Wirt. »Ich werde für immer in eurer Schuld stehen.« »Vielleicht wird der Zeitpunkt kommen, sie zu begleichen«, sagte ich. »Ich werde alles tun, zu jeder Zeit«, verabschiedete sich Kouklis und verschwand rückwärtsgehend.
»O, Herr Großkotz«, spöttelte Mahmoud. »Ja«, gab ich ihm heraus, »richtig. Und was hast du jemals für andere getan?« »Na ja«, fing Mahmoud an. Ich unterbrach ihn. Ich kannte Mahmoud, seit er ein schmalhüftiges Mädchen namens Misty gewesen war, das für Jo-Mama arbeitete. Mir war klar, daß ich ihm nur so weit trauen wie ich ihn werfen konnte. Und mit dem Gewicht, das er inzwischen zugelegt hatte, war das etwa ein halber Meter. Statt dessen wandte ich mich an Jacques. »Du willst uns noch immer helfen?« »Selbstverständlich.« Jacques wirkte etwas ängstlich. Wie die meisten Menschen im Budayin schätzte er es durchaus, unter dem Schutz des Hauses Friedlander Bei zu stehen. Aber er war vor Angst aus dem Häuschen, wenn die Zeit kam, diese Großzügigkeit zurückzuzahlen. »Dann ruf mich morgen an, um Mittag rum«, sagte ich. »Du hast doch meine Nummer in Papas Villa?« »Mhm«, antwortete Jacques nervös. »Oh«, mischte sich Mahmoud ein, »du hast dich also auch verkauft?« »Schaut mal, wer da das Maul aufreißt«, hielt Jacques dagegen. »Der Büttel Scheich Redas selbst nimmt es sich heraus rumzukritteln.« Mahmoud erhob sich halb aus seinem Stuhl. »Ich bin niemandes Büttel.« »Ach nein, natürlich nicht«, sagte Saied. Ich ignorierte ihren kindischen Schlagabtausch. »Ich hab' die Hardware, Jacques, und ich hab' schon etwas damit rumge-
spielt. Sieht nach einem sehr guten Geschäft aus, sowohl für uns wie für die Clubbesitzer, die mitmachen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es könnte etwas Illegales im Spiel sein – wir haben sämtliche Genehmigungen der Stadt vorliegen, alles legal und lupenrein.« »Und was reizt dann Friedlander Bei daran?« wollte Mahmoud wissen. »Ich dachte immer, damit ihn etwas interessiert, muß es etwas krumm sein.« Der Halb-Hadschi lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah Mahmoud ein paar Sekunden lang an. »Weißt du, mein Freund«, sagte er schließlich, »irgendwann einmal wird irgend jemand sich um dieses verdammte Mundwerk kümmern, das du mit dir rumschleppst. Dann wirst du dir wünschen, nie das Geschlecht gewechselt und bei den großen Buben mitgemischt zu haben.« Dafür hatte Mahmoud nur ein verächtliches Lachen übrig. »Jederzeit, Saied«, sagte er, »wenn du glaubst, Manns genug zu sein.« Das Gezänk wurde unterbrochen, als Yasmin auftauchte. »Wie geht's?« fragte sie. »Prima«, meinte der Halb-Hadschi. »Wir sitzen gerade in der Sonne, trinken etwas, essen Baklava und hören zu, wie wir einander an die Gurgel gehen. Willst du etwas?« Yasmin reizte der Honigkuchen, aber sie zeigte mehr Selbstbeherrschung, als ich ihr zugetraut hätte. »Nein«, lehnte sie lächelnd ab, »geht nicht. Die Hüften sind in Ordnung, so wie sie sind.« »Da gebe ich dir recht«, sagte Jacques. »Du böser Junge«, lachte Yasmin.
»Hör mal, Yasmin«, meldete ich mich zu Wort. »Was, zum Teufel, willst du, Ehemann?« unterbrach sie mich gallig. »Ich wollte nur wissen, ob du diese Eifersuchtsmasche nicht mal lassen kannst.« »Was für eine Eifersuchtsmasche?« fragte sie hochnäsig. »Glaubst du, ich verschwende auch nur einen Gedanken an solches Kroppzeug wie dich und Indihar? Mir geht Wichtigeres im Kopf um.« Ich schüttelte den Kopf. »Wie ich es sehe, habe ich nach dem Islam die Möglichkeit, bis zu vier Frauen zu heiraten, wenn ich für ihren Unterhalt gleich gut sorgen kann. Das heißt, ich kann mich noch immer mit anderen treffen, auch wenn ich mit Indihar verheiratet bin. Und ich bin nur dem Namen nach mit ihr verheiratet.« »Ha!« rief Saied, »ich wußte es! Du hast die Ehe nie vollzogen, stimmt's?« Ich sah ihn finster an. »Yasmin«, fuhr ich fort, »hör auf damit, ja? Ich würde dich gern mal zum Essen einladen. Ich denke, wir sollten darüber sprechen.« Sie runzelte die Stirn und ermutigte mich nicht im geringsten. »Wir werden miteinander reden«, erklärte sie. »Reden wir heute abend im Club darüber, wenn Indihar dir erlaubt, auszugehen.« Sie nahm sich ein Stück Baklava, machte auf dem Absatz kehrt und rauschte hinaus auf die Promenade. Nicht lange danach stand ich auf und wünschte meinen Freunden einen guten Tag. Dann ließ ich mich von Kmuzu zu Papas Residenz zurückfahren. Ich mußte nochmal an den Schreibtisch zurück.
Die dritte Mahlzeit an diesem Tag fand natürlich chez Scheich Reda statt. Nachdem ich von meiner kleinen Mittagspause nach Hause zurückgekehrt war, versuchte ich noch etwas zu arbeiten. Es fiel mir äußerst schwer. Ich wußte, Friedlander Bei zählte sowohl beim Datalink-Projekt als auch bei der laufenden Stabilisierung beziehungsweise Destabilisierung der Muslimnationen, die uns um Hilfe angingen, auf mich. Doch an diesem Tag gingen mir die Gedanken an Abu Adil einfach nicht aus dem Kopf. Ich hätte zu gerne gewußt, was in seinem Hirn vorging. Warum hatte er uns zum Abendessen eingeladen? Um das zu Ende zu bringen, was er bei der Entführung vor ein paar Wochen angefangen hatte? Deshalb trug ich eine kleine Nadelpistole am Gürtel, hinten am Rücken. Ich hatte mich für die Nadelpistole entschieden, weil sie auf dem Röntgenschirm nicht erscheint. Sie war mit Nadlerpfeilen, ungiftigen, geladen. Ein paar von diesen Schweinedingern reißen genug Fleisch weg, um ewig in Erinnerung zu bleiben, falls das Ziel überlebt. Meine besten Klamotten hatte ich zum Hochzeitsempfang Scheich Mahalis getragen. Weshalb sie den Härten unserer Wüstenreise zum Opfer gefallen waren. Und den Zierdolch hatte ich Scheich Hassanein geschenkt. Diesen Abend zog ich die besten Sachen an, die ich noch hatte, eine lange weiße Gallebeya, in die mit cremefarbenen Seidenfaden per Hand Blumen gestickt waren. Eine wunderschöne Gallebeya, auf die ich sehr stolz war. Das Geschenk einer Familie aus dem Budayin, der ich etwas geholfen hatte. Ich trug Sandalen und eine schwarz-weiß gemusterte Keffiya. Dazu hatte ich mir einen Dolch samt Scheide eingesteckt, so wie
die Bedu ihn trugen, vorne, in der Mitte des Bauches. Als ich ihn an den Gürtel steckte, beschloß ich, Friedlander Bei zu fragen, ob wir bin Turki zum Abendessen mitnehmen konnten. Tariq und Youssef hatten wir bereits eingeplant. Wir wollten uns in Scheich Redas Festung nicht ohne eigene kleine Armee präsentieren. Papa stimmte zu, daß bin Turki nützlich sein könnte. Also begleitete er uns vier zu Scheich Redas Besitz im Westteil der Stadt, Hâmidiyya. Abu Adil hockte wie eine Kröte mitten in der schlimmsten Gegend der Stadt. Sein Besitz fand seines gleichen nur in der Residenz Papas und der Scheich Mahalis. Aber Scheich Redas Residenz war umgeben von den ausgebrannten, verlassenen, eingestürzten Mietshäusern Hâmidiyyas. Ich mußte dabei immer an den Satan denken, wie er in der Mitte seines Höllenreiches sitzt. Wir fuhren durch ein Tor in der hohen, braunen Ziegelmauer, die die Villa umgab, und hielten an, um uns vor der Wache auszuweisen. Anschließend stellten wir den Wagen ab und gingen alle fünf zum Haupteingang. Dieses Mal würden wir nicht zulassen, daß wir getrennt wurden. Der Mann, der die Tür öffnete, ließ uns anstandslos hinein und führte uns zu einem kleinen Speisesaal, in dem für zehn Personen gedeckt war. Wir nahmen an dem einen Ende der Tafel Platz und warteten auf den Auftritt Abu Adils. Und den hatte er. Eine Art stämmiger Leibwächter kam als erster, gefolgt von Scheich Reda im Rollstuhl, den sein kleiner Kenneth schob. Hinter den beiden kamen noch zwei Knochenbrecher. Zweifelsohne hatte der Scheich unsere Ankunft beobachtet und seine Gästeliste mit seinen Angestellten vervoll-
ständigt, um mit uns zahlenmäßig gleichzuziehen. Fünf gegen fünf. »Ich freue mich, daß Ihr meinem Haus die Ehre erweist«, begrüßte uns Abu Adil. »Wir sollten so etwas öfters machen. Vielleicht würde das die Spannungen zwischen uns lindern.« »Wir danken Euch für die Einladung, o Scheich«, entgegnete ich unwirsch. Kenneth sah mich abschätzend an. Dann lachte er leise und schüttelte den Kopf. Er hatte nur Verachtung für mich übrig, ich hatte keine Ahnung, warum. Möglicherweise würde ihm das Grinsen vergehen, wenn ich ihm die Finger und Zehen bräche. Ein harmloser Tagtraum, dachte ich. Diener brachten Platten mit Couscous, Kefta Kebabs, Lammbraten und Gemüse in wunderbaren, üppigen Soßen. »Im Namen Allahs, des gnädigen Erbarmers, möge es Euch munden!« sagte Scheich Reda. »Möge Eure Tafel stets überquellen, o Vater der Großzügigkeit«, antwortete Friedlander Bei. Papa und ich aßen nur wenig. Wir hielten Ausschau, ob wir irgendein Anzeichen eines Verrats von Seiten Abu Adils oder seiner Muskelmänner entdeckten. Bin Turki aß, als wäre es das erste Mal in seinem Leben. Ich bin sicher, so eine Tafel hatte er noch nie gesehen. Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Scheich Reda versucht wahrscheinlich, dich von unserem Haushalt wegzulocken.« Das meinte ich nicht ernst, es war nur ein Witz. Bin Turki wurde bleich. »Ihr denkt doch nicht, ich sei käuflich?« Seine Hände zitterten, so nahe daran war er, von seinen Gefühle übermannt zu werden.
»Das war nur ein Scherz, mein Freund«, beruhigte ich ihn. »Ah, gut. Euer Humor hier in der Stadt ist für mich manchmal schwer zu verstehen. Um ehrlich zu sein, ich verstehe nicht einmal, was hier heute abend vorgeht.« »Da bist du nicht der einzige.« Abu Adils Schläger sagten, wie üblich, nichts. Auch Kenneth schwieg, obwohl er mich kaum aus den Augen ließ. Wir aßen schweigend, als ob wir darauf warteten, daß jeden Augenblick eine schreckliche Falle zuschnappte. Als das Mahl schließlich beinahe zu Ende war, stand Scheich Reda auf und begann zu sprechen. »Wieder einmal ist es mir eine große Freude, Marîd Audran ein kleines Geschenk zu überreichen. Danken wir Allah, daß er und Friedlander Bei die schrecklichen Strapazen überstanden und heimkehrten.« Rundum den Tisch ertönte es: »Gepriesen sei Allah!« Abu Adil hob eine graue Schachtel hoch. »Das«, sagte er und öffnete sie, »ist die Uniform, die Ihrem Rang als Offizier der Jaish entspricht. Sie befehligen drei Züge loyaler Patrioten. In letzter Zeit wurden sie schon unruhig und fragten sich, warum Sie an ihren Aufmärschen und Übungen nicht teilnehmen. Ich dachte, ein Grund dafür könnte sein, daß Ihnen die Ausstattung dafür fehlt. Nun, diese Entschuldigung haben Sie nun nicht mehr. Scheich Marîd, tragen Sie diese Uniform in bester Gesundheit!« Ich war sprachlos. Das war noch lächerlicher als die ursprüngliche Ernennung. Weil ich nicht wußte, was ich dazu sagen sollte, stammelte ich ein paar Dankesworte und nahm die eingepackte Uniform an. Offiziersabzeichen waren bereits
beigefügt. Kurz darauf, als keiner von uns mehr einen Bissen hinunterbrachte, entschuldigte sich Scheich Reda und rollte aus dem Speisesaal, gefolgt von Kenneth und seinen drei Knochenbrechern. Bin Turki neigte sich zu mir und flüsterte: »Was fehlt ihm denn? Warum sitzt er in einem Rollstuhl? Er ist doch sicher reich genug, um sich die beste medizinische Hilfe zu besorgen. Selbst wir in der Rub Al Khali haben schon von den Wundern gehört, zu denen Eure Ärzte hier fähig sind.« Ich breitete die Hände aus. »Er ist nicht wirklich krank«, erklärte ich ihm leise. »Es ist sein ›Hobby‹, Module zu sammeln, die von wirklich Leidenden aufgenommen wurden, Menschen, die dem Tod nah sind. Diese Perversion nennt man Hölle-aufRaten. Er kann die schrecklichsten Qualen genießen – wenn das der passende Ausdruck ist –, und jederzeit, wenn es zu schlimm wird, das Moddy herausnehmen. Doch wahrscheinlich hält er Schmerzen ungewöhnlich gut aus.« »Das ist verachtenswert«, flüsterte bin Turki stirnrunzelnd. »Das ist Scheich Reda Abu Adil«, entgegnete ich. Zwei, drei Minuten später befanden wir uns alle auf dem Weg zu unserem Wagen. »Na, wie ist das«, rief Tariq. »Da sind wir einmal vorbereitet auf ihn und kommen bis an die Zähne bewaffnet in sein Haus, und dann tischt er uns nur ein protziges Essen auf und schmeißt Scheich Marîd eine Uniform an den Kopf.« »Was denkt Ihr, hat das zu bedeuten?« fragte Youssef. »Ich bin mir sicher, wir werden das sehr bald herausfinden«, sagte Papa. Ich wußte, er hatte recht. Irgend etwas Schräges war
bei diesem Essen gelaufen, ich hatte nur keine Ahnung, was. Und bedeutete das nun, daß wir verpflichtet waren, demnächst sie zu uns einzuladen? Wenn das so weiterging, würden die beiden Häuser früher oder später zusammen ins Kino gehen und sich am Holoset Preiskämpfe ansehen oder miteinander Bier trinken. Es war nicht zum Aushalten.
12. Kapitel
Ich wartete auf Yasmin, damit wir uns, wie verabredetet, aussprechen konnten, aber diese Nacht erschien sie nicht zur Arbeit. Um zwei Uhr früh ging ich nach Hause und überließ Chiri das Zusperren. Am nächsten Tag war kein Frühstückstreffen mit Papa angesetzt, deshalb sagte ich Kmuzu, daß ich gern etwas länger schlafen wollte. Er erlaubte es mir. Als ich aufwachte, ließ ich es langsam angehen. Ich nahm ein langes, heißes Bad und nahm mir noch einmal einen meiner Lieblingskrimis von Lutfy Gad vor. Gad war der größte palästinensische Schriftsteller des letzten Jahrhunderts, und ich glaube, ab und zu mache ich unbewußt seinen großen Detektiv, alQaddani, nach. Dann formuliere ich so knapp und ironisch wie al-Qaddani. Keinem meiner Freunde fiel das jemals auf, sie sind als Gruppe nicht sonderlich belesen. Als ich aus der Wanne auftauchte, zog ich mich an und ließ das ausgewogene Frühstück, das Kmuzu für mich hergerichtet hatte, links liegen. Er sah mich böse an, aber in den letzten Monaten hatte er kapiert, daß ich nichts aß, wenn mir nicht danach war. Außer Papa bestand darauf. Wortlos reichte mir Kmuzu einen Umschlag. Darin war ein Brief von Friedlander Bei an Kommissar Hajjar, in dem er für die Dauer der Ermittlungen zu Khalid Maxwells Tod meine erneute Aufnahme in die Stadtpolizei anforderte. Ich las den Brief durch und nickte. Papa hatte einen unheimlichen Sinn für sowas. Und er wußte, wann er etwas von der Polizei ›anfordern‹
konnte und es erhalten würde. Ich steckte den Brief in die Tasche und machte es mir in dem schwarzen Ledersessel bequem. Ich beschloß, daß es an der Zeit war, den Weisen Ratgeber zu Rate zu ziehen. Der Ratgeber war ein Persönlichkeitsmodul, das aufgrund meiner aktuellen Gefühlslage eine superrealistische Phantasie entwickelte, die meine Probleme ausdrückte und eine symbolische – und manchmal nicht mehr deutbare – Lösung anbot. »Bismillah«, murmelte ich und steckte mir den Moddy rein. Audran verwandelte sich in den großen persischen Dichter Hafiz. Der hatte ein Wohlleben geführt und seine Gedichte enthielten Bilder, die die strenggläubigeren Muslime ablehnten. Im Laufe der Jahre hatte Audran sich viele Feinde gemacht. Als er daher starb, wollten ihm die strenggläubigen Muslime bei seiner Beerdigung den Segen des traditionellen Begräbnisgebets verwehren. Sie verurteilten Audran mit seinen eigenen Worten: »Schrieb dieser Dichter nicht über Sünden wie das Trinken alkoholischer Getränke und das Schwelgen in Promiskuität?« fragten sie. »Hört euch nur seine Gedichte an: Mundschenk, komm her, komm her! Und reiche uns den Becher, Denn anfangs schien die Liebe frei und leicht, Doch dann erwies sie sich als schwer.« Darüber entspann sich ein langer Streit zwischen den Feinden und den Bewunderern Audrans. Schließlich wurde beschlossen, die Entscheidung von einer Zufallsauswahl eines seiner Gedichte
abhängig zu machen. Dazu wurde eine große Auswahl von Audrans Gedichten auf verschiedene Zettel geschrieben und in eine Urne gesteckt. Ein unschuldiges Kind sollte nun in die Urne fassen und ein Gedicht herausziehen. Folgenden Reim zog das Kind heraus: An der Beerdigung Audrans da nehmt nur teil, Denn der Sünder der er war, winkt ihm dennoch das Heil. Das Urteil wurde von beiden Seiten angenommen und die Beerdigung Audrans wurde mit allen Zeremonien durchgeführt. Als die Geschichte zu Ende ging, faßte Audran hoch und nahm das Moddy raus. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Bei diesen Phantasien, in denen ich tot war und über meiner eigenen Beerdigung schwebte, bekam ich immer eine Gänsehaut. Jetzt mußte ich mich entscheiden, was das bedeutete. Ich hatte seit fünfzehn Jahren kein Gedicht mehr geschrieben. Vorerst legte ich die Vision unter ›Sobald wie möglich mit Kmuzu besprechen‹ ab. Es war an der Zeit, dem gewaltsamen Tod Khalid Maxwells nachzugehen. Der erste Schritt, so beschloß ich, war, den für den Budayin zuständigen Bullenladen aufzusuchen, wo Kommissar Hajjar der Oberbulle war. Nicht daß ich Hajjar haßte, nur bei dem bloßen Gedanken an ihn standen mir schon die Haare zu Berge. Er gehörte nicht zu den Leuten, denen es Spaß machte, einer Fliege die Flügel auszureißen – er gehörte zu denen, die in das Zimmer nebenan gingen und anderen dabei durch ein geheimes Guckloch zusahen.
Kmuzu fuhr mich in der cremefarbenen westfälischen Limousine zu der Wache an der Walid-al-Akbar-Straße. Wie üblich war eine Bande kleiner Buben auf dem Trottoir zugange, die ich, nach links und rechts Münzen werfend, durchquerte. Was sie nicht davon abhielt, weiterzubetteln: »Eine milde Gabe, o Großzügiger!« Ich mochte die Kinder. Es war noch nicht so lange her, da lief ich selbst anderen hinterher und bettelte um Geld, um mir Essen kaufen zu können. Irgendwann im Laufe der Zeit hatten sich die Rollen vertauscht, und nun war ich der reiche Typ. Ich war reich, das stimmte, aber ich vergaß nie, wo ich herkam. Ich nahm den Kindern ihr Bakschisch nicht übel. Ich betrat die Polizeiwache und suchte den Computerraum im ersten Stock auf. Ein paarmal wurde ich von Typen in Uniform angemacht, aber ich sagte nichts, sondern zeigte ihnen einfach den Brief mit Friedlander Beis Unterschrift. Darauf schienen sich die Bullen geradezu wie Phantomgestalten in Luft aufzulösen. Ich wußte noch, wie man die Computer bedient. Sogar an das geheime Kennwort erinnerte ich mich: Miramar. Auf dieser Polizeiwache herrschte ein recht entspanntes Arbeitsklima, ich war daher zuversichtlich, daß in den letzten Monaten das Kennwort nicht geändert worden war. Man riskierte wohl lieber, daß ein Außenseiter an die Dateien gelangte, als der gesamten Belegschaft zuzumuten, sich ein neues Kennwort einzuprägen. Ich setzte mich an ein mitgenommenes, altes AnnameseTerminal und fing an, Befehle zu murmeln. Die für die Datenarbeit zuständige Inspektorin sah mich und eilte herüber zu mir. »Ich bedaure, mein Herr«, erklärte sie in einem Tonfall,
der nicht das geringste Bedauern vermuten ließ, »aber diese Terminals sind nicht für die öffentliche Benutzung.« »Sie erinnern sich nicht an mich, stimmt's?« fragte ich sie. Sie machte eine Auge zu und dachte nach. »Nein, und deshalb müssen Sie nun gehen.« Ich zog Papas Brief heraus und zeigte ihn ihr. »Ich bin in ein paar Minuten hier fertig«, erklärte ich. »Das muß ich überprüfen«, entgegnete sie und faltete den Brief zusammen, bevor sie ihn mir wieder gab. »Davon hat mir niemand etwas gesagt. Ich rufe den Kommissar an. Bis dahin Finger weg vom Terminal.« Ich nickte. Mir war klar, daß ich nun warten mußte, bis sie sich die Befehlshierarchie hindurchgefragt hatte. Es dauerte nicht lange. Ein paar Minuten später schnaubte Kommissar Hajjar persönlich in die Datenbibliothek. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, Audran?« brüllte er böse. Ich hielt ihm Papas Brief entgegen, machte jedoch keine Anzeichen, aufzustehen oder ihm etwas zu erklären. Der Brief sprach für sich und mir war danach, etwas Macht auszuspielen. Hajjar brauchte es, ab und zu auf seinen Platz verwiesen zu werden. Er riß mir das Schreiben aus der Hand und las es zweimal durch. »Was ist das?« fragte er barsch. »Das ist ein Brief. Und Sie wissen, von wem, Sie haben ihn ja gelesen.« Er schaute mich finster an und zerknüllte das Schreiben. »Mit diesem Brief kommen Sie bei mir nicht durch, Audran. Und was wollen Sie überhaupt? Sie wurden offiziell ausgewiesen. Ich sollte Sie auf der Stelle verhaften.«
Ich bedeutete ihm mit dem Zeigefinger, daß dem nicht so war. »Nein, nein, Hajjar. Der Emir hat uns eine Gnadenfrist gewährt, was Ihnen bekannt ist.« »Trotzdem«, entgegnete er. »Trotzdem«, fiel ich ihm ins Wort, nahm ihm den Brief aus der Hand und hielt ihn ihm gegen die Schläfe, »denken Sie, daß ich mit diesem Brief nicht weit komme, hm?« »Nicht die geringste Chance.« Dieses Mal klang er bereits weniger überzeugt. »Die Sache ist die«, erklärte ich ihm ruhig, »Papa hat eine Menge Leute, die zu Ihnen kommen könnten.« Hajjar fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Was, zum Teufel, wollen Sie eigentlich?« Ich lächelte ihn aufs Freundlichste an, als wäre nicht das Geringste gewesen. »Ich möchte nur dieses Terminal für ein paar Minuten benutzen.« »Das ließe sich wohl machen. Hinter was sind Sie her?« »Natürlich möchte ich unsere Namen reinwaschen. Ich will herausfinden, was Sie über Khalid Maxwell wissen.« Für einen Moment glomm die nackte Angst in seinen Augen. »Das kann ich nicht zulassen.« Ein merkliches Zittern war in seiner Stimme. »Das steht unter Verschluß und ist nur höheren Polizeirängen zugänglich.« Ich lachte. »Ich gehöre zu den höheren Polizeirängen, zumindest im Augenblick.« »Nein«, sagte er, »das lasse ich nicht zu. Der Fall ist abgeschlossen.« »Ich öffne ihn wieder«, entgegnete ich ihm und fuchtelte ihm mit dem zerknitterten Brief vor der Nase herum.
»Na gut«, sagte er, »fangen Sie an. Aber das wird Folgen haben. Ich warne Sie.« »Das hoffe ich, Hajjar. Und wenn es so weit ist, rate ich Ihnen, sich zu verziehen.« Er starrte mich ein paar Sekunden lang an. Dann sagte er: »Yallah, Ihre Mutter muß ein syphilitisches Kamel gewesen sein, Audran, und Ihr Vater ein Christenbastard.« »Kommt ziemlich nahe.« Damit drehte ich ihm den Rücken zu und fuhr fort, dem Terminal Befehle zu geben. Hajjar wird sich wohl davongemacht haben. Als erstes rief ich die Datei über Khalid Maxwell auf. Ich erfuhr nicht viel. Offensichtlich hatte bereits jemand daran rumgemurkst und sie so lange bearbeitet, bis sie nur noch ein Minimum an Information enthielt. Ich erfuhr, daß Maxwell seit vier Jahren bei der Polizei gewesen war, daß er eine Belobigung wegen Tapferkeit erhalten hatte und daß er getötet wurde, als er nicht im Dienst war. Nach dem Bullenrechner starb er, als er bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Friedlander Bei und meiner Wenigkeit vor Maxwells Haus in der ShamsAllee 23 einschritt. Das war natürlich Unsinn. Ich wußte nicht einmal, wo sich die Shams-Allee befand, mit Sicherheit nicht im Budayin. Maxwell war der zweite Polizeioffizier aus Hajjars Bezirk, der in diesem Jahr getötet wurde. Das sah nicht gut aus für Hajjar, noch schlechter sah es natürlich für den armen Maxwell aus. Ich ließ mir die Daten ausdrucken und verbrachte noch etwas Zeit damit, in anderen Dateien rumzusuchen. Kommissar Hajjars Dossier war noch weniger ergiebig als das letzte Mal, als ich nachgesehen hatte. Alles über seine Probleme mit der Abtei-
lung für interne Sicherheit war gelöscht worden. Es war nicht mehr viel übrig außer seinem Namen, seinem Alter und seiner Adresse. Ich wurde in meiner Datei als Mörder von Khalid Maxwell geführt (auf freiem Fuß; Berufung eingelegt). Was mich daran erinnerte, daß die Uhr lief. Nur noch ein paar Wochen waren von meiner Freiheit übrig. Es würde sehr schwer werden, von einer Gefängniszelle aus oder mit dem Kopf auf dem Hackblock meine Unschuld zu beweisen – und die Papas. Ich beschloß daher, ein bißchen Sand ins Getriebe zu werfen und abzuwarten, was passierte. Als ich die Wache verließ, fand ich Kmuzu im Wagen sitzen, etwas weiter oben in der Walid-al-Akbar-Straße. Ich setzte mich auf den Rücksitz und bat ihn, mich zum Osttor im Budayin zu fahren. Dort angelangt, schickte ich ihn nach Hause, weil ich nicht wußte, wie lange meine Geschäfte dauern würden. Das behagte ihm nicht, worauf ich ihm erklärte, ich könnte auch mit einem Taxi heimfahren. Stirnrunzelnd meinte er, er würde lieber auf mich warten, aber ich sagte ihm mit fester Stimme, er solle tun, was ich ihm aufgetragen habe. Ich nahm das tragbare Terminal mit, das Friedlander Bei und ich vertrieben. Als ich so die Promenade zum Café Solace hinaufging, läutete mein Telefon. Ich hakte es vom Gürtel und meldete mich: »Hallo.« »Audran?« fragte eine näselnde Stimme angeekelt. »Ja, wer ist denn dran?« »Kenneth. Ich rufe im Auftrag von Scheich Reda Abu Adil an.« Das erklärte den Ekel. Der in diesem Fall mit Sicherheit ge-
genseitig war. »Ja, Kenny, was wollen Sie?« Nach einer kurzen Pause antwortete er: »Ich heiße Kenneth, nicht Kenny. Ich fände es angebracht, wenn Sie sich das merken würden.« Ich grinste. »Klar, Kumpel. Warum rufen Sie an?« »Scheich Reda hat soeben erfahren, daß Sie in dem Fall Khalid Maxwell herumwühlen. Lassen Sie das.« Na, das war ja schnell gegangen. »Lassen?« »Genau«, sagte Kenneth. »Lassen Sie das. Scheich Reda macht sich Sorgen wegen Ihrer Sicherheit. Schließlich sind Sie Offizier der Jaish. Er fürchtet, Ihnen könnte etwas zustoßen, wenn Sie weiter nachforschen.« Ich lachte trocken. »Wissen Sie, was passiert, wenn ich nicht weiter nachforsche? Papa und ich werden die Berufung verlieren und zum Tod verurteilt.« »Das ist uns klar, Audran. Wenn Sie Ihren Hals retten wollen, gibt es zwei Möglichkeiten, den richtigen Weg und den falschen. Der richtige Weg ist, ein narrensicheres Alibi für die Mordnacht nachzuweisen. Der falsche Weg ist der, den Sie eingeschlagen haben.« »Großartig, Ken. Aber um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich kann mich nicht einmal daran erinnern, was ich in der fraglichen Nacht gemacht habe.« »Ich heiße Kenneth«, knurrte er, bevor er aufhing. Grinsend steckte ich das Telefon in den Gürtel. Jacques und Mahmoud spielten Domino im Café Solace. Ich holte mir einen Stuhl und setzte mich zu ihnen an den Tisch, um ihnen eine Weile zuzusehen. Der alte Ibrahim tauchte auf und fragte, was ich möchte. Ich bestellte einen Weißen Tod und
Mahmoud blickte neugierig hoch. »Wie lange bist du schon hier, Marîd?« fragte er. »Wir spielen Domino, und ich habe dich gar nicht kommen sehen.« »Noch nicht lange.« Ich wandte mich meinem anderen Freund zu. »Jacques«, sagte ich, »paßt es dir, heute nachmittag ins Datengeschäft einzusteigen?« Sein Blick sprach tausend Bände. Er bereute es zutiefst, jemals zugesagt zu haben. »Hast du nichts Wichtigeres zu tun?« fragte er. »Ich meine, wie deinen Namen und deinen Ruf reinzuwaschen.« Ich nickte. »Mach dir keine Gedanken, damit habe ich schon angefangen.« »Das haben wir gehört«, mischte sich Mahmoud ein. »Man erzählt sich auf der Promenade, daß du jemand suchst, dem du den Mord an Maxwell anhängen kannst«, erläuterte Jacques. »Statt daß du beweist, wo du in der Mordnacht warst«, ergänzte Mahmoud. »Du gehst die Sache völlig falsch an. Du machst dir's schwer.« »Genau dasselbe hat mir gerade Abu Adils Biegsamer Knabe erzählt«, sagte ich langsam. »Was für ein Zufall.« »Kenneth hat dir das gesagt?« fragte Mahmoud. »Siehst du, wahrscheinlich hat er recht.« Es gab dazu nichts, was ich sie fragen wollte, daher änderte ich das Thema. »Gehn wir jetzt, Jacques?« »Weißt du, Marîd, um die Wahrheit zu sagen, ich habe heute Magenschmerzen. Wie wär's mit morgen nachmittag?« »Oh, morgen machst du das alleine«, entgegnete ich lächelnd, »aber heute sind wir gemeinsam unterwegs.«
Ich wartete geduldig ab, bis Mahmoud das Dominospiel gewonnen hatte und Jacques seine Schulden beglich. »Scheint kein guter Tag für mich zu werden«, meinte Jacques. Er war, wie üblich, gut angezogen, hatte aber diese verdrießliche, christliche Miene auf, die seinen Freunden so auf die Nerven ging. Er sah aus, als wolle er sich absetzen und unter einem anderen Namen ein neues Leben beginnen. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und konnte kaum ein Lächeln unterdrücken. Er war so außer sich. »Was ist denn los, Jacques?« fragte ich. Er zog verächtlich die Oberlippe hoch. »Ich sag' dir eins, Marîd, dieser Job ist unter meiner Würde. Es paßt nicht zu mir, wie ein … gemeiner Vertreter rumzurennen.« Jetzt mußte ich lachen. »Sieh dich doch einfach nicht als Vertreter, wenn das dein Problem ist. In Wahrheit bist du ja auch keiner. Du bist viel mehr. Versuch, das ganze Bild zu sehen, o Erhabener.« Jacques wirkte nicht überzeugt. »Ich sehe das ganze Bild. Ich sehe, wie ich in eine Bar oder einen Club gehe, meine Ware vorzeige und versuche, aus dem Eigentümer Geld herauszuquetschen. Das ist erniedrigend für Menschen meiner Herkunft. Habe ich dir je erzählt, daß ich zu drei Viertel Europäer bin?« Ich seufzte. Das hatte er uns in den letzten sieben Jahren fast jeden Tag erzählte. »Hast du je darüber nachgedacht, wer in Europa den Einzelhandel macht?« »Amerikaner«, erwiderte Jacques achselzuckend. Ich rieb mir die schmerzende Stirn. »Vergiß die Vertreterei. Du bist kein Vertreter. Du bist ein EDV-Spezialist. Und wenn du im Geschäft bist, wirst du zum Informationsabfrageingeni-
eur befördert. Mit einer angemessenen Erhöhung deiner Provision.« Jacques funkelte mich an. »Du legst mich nicht rein, Marîd.« »Das ist das Großartige daran! Ich brauche dich nicht reinzulegen. Inzwischen bin ich mächtig genug, dir den Arm zu verdrehen, bis du froh bist, mir helfen zu können.« Jacques lachte schnaubend. »Niemand kann mir den Arm verdrehen, o Scheich. Du bist noch immer Abschaum von der Straße, genauso wie wir alle.« Ich zuckte die Achseln. »Das mag sein, mein christlicher Freund, aber ich bin Abschaum von der Straße mit Habib und Labib an der Seite.« »Wer ist das?« »Die Sprechenden Felsen«, antwortete ich ruhig. Die Farbe wich Jacques sichtlich aus dem Gesicht. Im Budayin kannte jeder Papas riesige Leibwächter, aber ich gehörte zu den wenigen Privilegierten, die sie beim Namen kannten. Natürlich konnte ich nicht sagen, welcher welcher war, aber das war in Ordnung, sie traten ohnehin immer zusammen auf. Jacques spuckte vor mir auf den Boden. »Es stimmt schon, was sie sagen, Macht korrumpiert.« »Du irrst dich, Jacques«, entgegnete ich ruhig. »Ich bedrohe keinen Freund. Diese Macht habe ich nicht nötig. Ich zähle einfach drauf, daß du dich für einen Gefallen revanchierst. Ich habe schließlich Fuads Scheck für dich gedeckt, und du hast eingewilligt, mir zu helfen.« Er zuckte zusammen. »Ja, das ist Ehrensache, ja, dann freue ich mich natürlich, mich für den Gefallen revanchieren zu können.«
Ich gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »Ich wußte, ich kann auf dich zählen.« »Jederzeit, Marîd.« Doch nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, bereitete ihm sein Magen noch immer Probleme. Wir kamen an Frenchys Club an, der auf der anderen Seite der Promenade, eine Straße weiter oben als meiner, lag. Frenchy war ein großer, bulliger, schwarzbärtiger Kerl, der aussah, als müsse er Fässer in einem Lagerhaus in einem sonnigen französischen Küstenort rollen. Er war einer der rauhesten Burschen, die ich je kennengelernt hatte. Auseinandersetzungen wurden bei Frenchy schnell beigelegt. »Wie geht's, Marîd?« rief Dalia, Frenchys Barmädchen. »Prima, Dalia. Ist Frenchy da?« »Er ist hinten. Ich hole ihn.« Sie warf ihren Lappen zur Seite und verschwand im Büro hinten. Es waren nicht viele Kunden da, aber es war auch noch früh. »Kann ich dir etwas bestellen?« fragte ich Jacques, während wir warteten. »Dem Herrn gefällt es nicht, wenn man Alkohol trinkt«, antwortete er. »Das solltest du wissen.« »Ich weiß«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, »daß Gott etwas gegen Alkohol hat. Aber er hat noch nie mit mir persönlich darüber gesprochen.« »Ach nein? Und was bedeutet es für dich, wenn du dich selbst abkotzt? Wenn du einen Bandriß hast? Wenn dir jemand das Gesicht einschlägt, weil du so betrunken warst, daß du den Falschen angemacht hast? Und hüte dich davor, blasphemisch zu sein.« Ich konnte ihn einfach nicht ernst nehmen. »Ich habe dich
auch schon mit ein paar Gläschen gesehen.« Jacques nickte heftig. »Ja, mein Freund, aber ich gehe anschließend zur Beichte und bete mein Bußgebet und damit hat sich's.« Vor weiteren religiösen Exegesen bewahrte mich gerade noch das rechtzeitige Auftauchen von Frenchy. »Was gibt's?« fragte er und setzte sich auf den Hocker rechts von mir. »Schön, dich zu sehen, Frenchy«, sagte ich. »Und ich freue mich, daß ich in deinem Club noch willkommen bin, aber wir haben wirklich nicht die Zeit, um lange rumzusitzen und ein Schwätzchen zu halten. Ich möchte dir etwas verkaufen.« »Du willst mir etwas verkaufen, Noraf«, sagte er in seinem üblichen, barschen Ton. »Warte eine Minute. Für solche Gaunertricks muß ich genug intus haben.« »Ich dachte, du hättest aufgehört zu trinken, wegen deines Magens.« »Jetzt hab' ich halt wieder angefangen«, sagte Frenchy. Er gab dem Barmädchen ein Zeichen und Dalia brachte ihm eine ungeöffnete Flasche Johnnie Walker. Ich weiß nicht, warum, aber die meisten ehemaligen Seeleute trinken nur Johnnie Walker. Das erste Mal fiel mir das drüben in Jo-Mamas Club auf bei den griechischen Handelsmatrosen und in den zwei Philippino-Bars in der Siebten Straße. Frenchy machte die Flasche auf und füllte sein Glas zur Hälfte. »Sollst eine faire Chance haben«, sagte er, schüttete den Whiskey hinunter, und füllte das Glas erneut. »Ich hätte gern einen Gin und Bingara«, rief ich dem Barmädchen zu. »Willst du etwas Limonensaft rein?« fragte Dalia.
Ich lächelte ihr zu. »Du vergißt nie etwas.« Sie schüttelte sich vor Ekel. »Wie könnte ich?« murmelte sie. »Was ist mit dir, Jacques?« »Habt ihr das ecuadorianische Bier vom Faß? Davon hätte ich gern eins.« Dalia nickte und zapfte Jacques sein Bier. Frenchy schüttete sein zweites Glas Whiskey hinunter und rülpste. »Eh bien, Marîd«, sagte er und rieb sich seinen dicken Bart, »was ist in dem Koffer?« Ich legte ihn zwischen uns auf die Theke und öffnete die Verschlüsse. »Es wird dir gefallen«, erklärte ich. »Bis jetzt noch nicht«, meinte Frenchy, »aber vielleicht in ein paar Minuten.« Er schüttete sich ein drittes Glas Johnnie Walker hinter die Binde. »Was hast du da, Marîd?« fragte Dalia und stützte sich mit den Ellbogen auf der Theke ab. Frenchy warf ihr einen finsteren Blick zu, wobei sein Kopf leicht wackelte. »Geh und wisch ein paar Tische ab«, trug er ihr auf. Der Schnaps machte sich bemerkbar. Das war gut. Ich öffnete den Koffer und zeigte Frenchy das DatalinkTerminal. Es war auf dem neuesten Stand und hatte gerade genug Speicher, um seinen Job nicht zu vergessen. Ohne eine Verbindung zu einem Mainframe-Rechner war es vollkommen nutzlos. Friedlander Bei hatte mit einer Elektronikfirma in Bosnien abgeschlossen, die Datalinks zu einem Preis lieferten, der deutlich unter dem marktüblichen Preis lag. Das war möglich, weil die bosnische Firma einem Firmenkonglomerat gehörte, das seinen Sitz in Bahrain hatte. Sowohl der Direktor wie der Vizepräsident der Marketingabteilung verdankten ihre Position, ihre Macht, ihr Geld und ihren angenehmen Lebens-
stil Papas politischer Einflußnahme vor zehn Jahren. Ich schenkte Frenchy das vierte Glas ein. »Merde alors«, murmelte er. »Friedlander Bei möchte, daß du der erste im Budayin bist«, erklärte ich ihm. Der bullige Franzose nippte an seinem Whiskey, statt ihn hinunterzustürzen. »Der erste von was? Und werde ich es überleben?« Ich lächelte. »Du hast die Chance, der erste in der Promenade zu sein, der so ein Datalink hat. Du kannst es da unten an der Theke aufstellen, wo die Leute es gut sehen können, wenn sie in den Club kommen.« »Mhm«, meinte Frenchy, »und warum, zum Teufel, soll ich sowas wollen?« Ich warf Jacques einen Blick zu, um zu sehen, ob er auch aufpaßte. »Diese Einheiten ermöglichen nicht nur den Zugriff auf den Infoservice der Stadt«, erläuterte ich. »Deine Kunden erhalten Zugang zu einem globalen Datennetz, das heißt praktisch unbeschränkte Informationen.« Frenchy schüttelte den Kopf. »Was müssen sie dafür bezahlen?« »Einen Kiam. Nur einen Kiam pro Anfrage.« »Minute, papillon! Der Infoservice der Stadt ist kostenlos. Man muß nur das Telefon abheben.« Wieder mußte ich lächeln. »Nicht mehr lange, Frenchy. Das weiß noch keiner, drum erzähl es bitte nicht weiter. Friedlander Bei hat der Stadt den Informationsdienst abgekauft.« Frenchy lachte. »Wie hat er das gemacht? Den Emir bestochen?«
Ich zuckte die Achseln. »Er überzeugte den Emir. Das ist nun egal. Der Emir sieht jetzt, daß Papa diese Dienstleistung besser erbringt als die alte Dienstleistungskommission. Natürlich hat Papa auch erklärt, daß für jede Transaktion ein kleiner Beitrag erhoben werden muß, um den Menschen eine angemessene Leistung bieten zu können.« Frenchy nickte. »Der kostenlose Infoservice läuft also aus. Und dafür gibt's dann diese Datalink-Einheiten. Und du und Papa kümmert euch drum und verteilt Informationshäppchen. Was ist, wenn jemand sich Papas Leben vornehmen will?« Ich wandte mich ab und trank wie nebenher mein Glas Weißen Tod halb aus. »Oh, wir werden leider den freien Zugang bestimmter Menschen zu bestimmten Daten beschränken müssen.« Frenchy schlug mit der Faust auf den Tisch und lachte lauthals. Eigentlich hörte es sich mehr wie ein Bellen an. »Er ist großartig!« brüllte er. »Er hat den Informationsaustausch abgewürgt und jetzt entscheidet er, wer davon profitiert! Wartet ab, bis Abu Adil davon erfährt.« Jacques rückte näher. »Davon habe ich nichts gewußt, Marîd«, flüsterte er. »Du hast mir kein Wort davon gesagt und dadurch, denke ich, wird unser Abkommen hinfällig.« Ich gab ihm zu verstehen, er soll sein Bier austrinken. »Deshalb bin ich heute mit dir mitgekommen«, erklärte ich ihm. »Ich will, daß du über die Zusammenhänge Bescheid weißt. Wir stehen am Beginn eines aufregenden Zeitalters.« »Aber ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt. In was gerate ich da hinein?« Ich breitete die Hände aus. »In eines der größten Geschäfte
der Geschichte.« In diesem Augenblick betrat ein Kunde den Club, ein großer Mann in einem Geschäftsanzug europäischen Stils. Sein graues Haar war exklusiv geschnitten und am Hals trug er eine Silberspange mit einer Menge Diamanten und ein paar großen Smaragden in der Mitte. Er hatte eine Aktentasche dabei, die nicht viel kleiner als meine war. Unter dem Eingang blieb er stehen, er wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit in Frenchys Bar gewöhnt hatten. Eine von Frenchys Tänzerinnen ging zu ihm und bat ihn herein. Ich kannte das Mädchen nicht. Vielleicht war sie neu im Budayin. Aber sollte sie es hier aushalten, würde ich mehr über sie erfahren, als mir lieb war. Sie trug ein langes Kleid aus einem hauchdünnen Material, so daß ihre kleinen Brüste und ihr Schamhaar sich deutlich abzeichneten, sogar in dem Schummerlicht hier. »Möchten Sie etwas zu trinken?« fragte sie. Der elegant gekleidete Herr sah sie von der Seite an. »Heißen Sie Theoni?« fragte er. Die Tänzerin ließ die Schultern hängen »Nein, aber sie ist da drüben. Theoni, da ist jemand für dich.« Theoni war eins der süßesten Mädchen auf der Promenade, völlig fehl am Platze in Frenchys Club. Sie hatte noch nie für mich gearbeitet, aber ich wäre überglücklich, sollte sie je wegen eines Jobs zu Chirigas Club kommen. Sie war klein, zierlich, geschmeidig und graziös und was die Chirurgie anging, war sie sehr zurückhaltend gewesen. Die wenigen Körpermodifikationen betonten ihre natürliche Schönheit, ohne aus ihr eine dieser Karikaturen zu machen, wie hier viel zu viele rumlaufen. Anders als die meisten Tänzerinnen, hatte sie sich nie das Hirn
verdrahten lassen. Und wenn sie sich nicht um einen Kunden kümmerte, saß sie allein hinten im Club, trank Sharâb und las ein Taschenbuch. Wahrscheinlich nahm mich das am meisten für sie ein, daß sie las. Sie tauchte aus dem Dunkel der Bar auf, begrüßte den Kunden und führte ihn zu einem Tisch direkt hinter uns. Dalia kam, um seine Bestellung aufzunehmen. Er verlangte ein Bier für sich und einen Champagnercocktail für Theoni. Frenchy schenkte sich eine weitere Gesundmacherrunde Johnnie Walker ein. »Dalia«, sagte er, »bring mir ein Glas Mineralwasser.« Er wandte sich mir zu. »Sie ist das beste Barmädchen auf der ganzen Promenade, weißt du das? Du glaubst, Chiri ist ein gutes Barmädchen. Ich würde Dalia nicht gegen Chiri tauschen und wenn du mir Yasmin dazugeben würdest. Gott, wie hältst du's nur aus mit der? Mit Yasmin, mein' ich. Immer zu spät. Sie ist hübsch für einen Jungen und sie bringt Geld, aber ihr Temperament …« »Frenchy«, unterbrach ich seinen alkoholisierten Monolog, »glaub mir, mir ist Yasmins Temperament bekannt.« »Das glaub' ich dir. Wie stellt sich Yasmin jetzt in der Arbeit an, seit du verheiratet bist?« Wieder lachte er laut und polternd, es schien ganz tief aus seiner Brust zu kommen. »Sprechen wir über das Terminal, Frenchy«, versuchte ich das Gespräch wieder auf den richtigen Kurs zu bringen. »Du wirst eins wollen, weil jeder auf der Promenade eins haben wird. Und wenn du keines hast, schadet das dem Geschäft. So, als wenn du kein Telefon oder keine Toiletten hast.« »Die Toiletten funktionieren eh nur dienstags und donnerstags«, brummte Frenchy. »Was ist denn für mich drin?«
Damit meinte er, so wie ich ihn verstand, was für ihn drin ist, wenn er das Terminal annimmt. »Also mein Freund, wir sind bereit, dir etwas Geld vorzustrecken, wenn du uns den Gefallen erweist, uns unser erstes Datalink in deinem Club aufstellen zu lassen. Eintausend Kiam, hier und jetzt und bar auf die Hand. Und dafür mußt du nichts tun. Du setzt einfach deinen Namen unter die Bestellung und morgen kommt der Installateur und stellt dir das Ding da unten an der Theke auf. Du brauchst keinen Finger krumm machen.« »Eintausend Kiam?« fragte er. Er lehnte sich nahe zu mir und schaute mir in die Augen. Sein Atem ging schwer. Unangenehm dabei war, daß er mir direkt ins Gesicht atmete. »Eintausend. Bar. Jetzt. Und das Schönste dran ist, Frenchy, du mußt es nicht zurückzahlen. Wir teilen die DatalinkEinnahmen mit dir 65 zu 35. Die Darlehensrückzahlung nehmen wir von deinen 35 Prozent weg. Dir wird das Geld nicht einmal fehlen. Und wenn alles beglichen ist, leihen wir dir nochmal tausend, bar auf die Hand, mit denen du machen kannst, was du willst.« Er rieb sich den Bart und blinzelte und versuchte, den Haken bei der Sache zu entdecken. »Ihr teilt die Einnahmen monatlich mit mir?« »35 Prozent gehören dir.« »Diese Darlehen sind also eher …« »Sie sind eher ein Geschenk!« meldete sich Jacques zu Wort. Ich sah ihn an. Ein paar Augenblicke lang kehrte Stille ein. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, daß Theoni sehr nah bei dem Kunden mit der juwelenbesetzten Spange saß. Sie glitt mit der Hand
seinen Schenkel hoch, was ihm äußerst unangenehm zu sein schien. »Woher kommst du, Schatz?« fragte sie und nippte an ihrem Cocktail. »Achaea«, antwortete er. Er schob ihre Hand von seinem Schoß weg. Frenchy hievte seinen schweren Körper hoch und griff nach zwei Gläsern jenseits der Theke. Er schenkte sie halb voll mit Whiskey und setzte eins vor mir und eins vor Jacques ab. Dann nahm er Jacques' Bierflasche und roch daran. »Pipi de chat«, schnaubte er verächtlich. »Trink mit mir.« Ich zuckte die Achseln und nahm das Whiskeyglas. Frenchy und ich stießen an und kippten das Zeug. Jacques hatte größere Probleme. Er war kein großer Trinker. »Marîd«, wurde Frenchy plötzlich ernst, »was geschieht mit mir und meiner Bar, wenn ich dein großzügiges Angebot ablehne? Wenn ich einfach nein sage? Schließlich ist das mein Club, und ich bestimme, was hier geht und was nicht. Ich will kein Datalink. Was wird Papa dazu sagen?« Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wie lange kennen wir uns schon, Frenchy?« Er sah mich nur an. »Nimm das Datalink«, erklärte ich ihm ruhig. Er war stark genug, um mich in zwei zu zerlegen, doch ihm war klar, daß ein kritischer Moment gekommen war. Mich einfach aus der Bar zu werfen, wäre die falsche Reaktion. Er seufzte tief und stand auf. »In Ordnung, Marîd«, sagte er schließlich, »setz mich auf die Liste. Aber bilde dir nur nicht ein, daß ich nicht weiß, was das bedeutet.« Ich zwinkerte ihm zu. »Es ist nicht ganz so schlimm, Fren-
chy. Hier sind deine tausend Kiam.« Ich zog einen versiegelten Umschlag aus der Tasche in meiner Gallebeya. Frenchy riß ihn mir aus der Hand und ging wortlos nach hinten in sein Büro. »Heute nachmittag«, erklärte ich Jacques, »kannst du diese tausend Kiam dem fettem Al und den anderen anbieten, aber sie kriegen das Geld erst, wenn das DatalinkTerminal installiert ist. Klar?« Jacques nickte und schob das noch immer nicht leere Whiskeyglas weg. »Und ich bekomme für jedes Terminal eine Provision?« »Hundert Kiam.« Ich war mir sicher, Jacques würde es sehr gut machen, das Projekt unseren Freunden und lieben Nachbarn zu verkaufen, vor allem mit dem Anreiz von hundert Kiam Provision pro Abschluß – und mit Friedlander Bei im Rücken. Papas Einfluß würde Jacques' Job um so viel einfacher machen. »Ich werde mein Bestes tun, Marîd«, sagte er. Nun klang er etwas zuversichtlicher. Er trank langsam den Rest seines ecuadorianischen Biers aus. Kurz darauf stand der Kunde aus Achaea auf und öffnete seinen Aktenkoffer. Er holte ein dünnes Päckchen heraus. »Das ist für Sie«, sagte er zu Theoni. »Öffnen Sie es nicht, bevor ich gegangen bin.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Wange, dann ging er hinaus in die warme Sonne. Theoni riß das Papier herunter und öffnete das Päckchen. Sie fand ein in Leder gebundenes Buch. Als sie es aufklappte, klingelte mein Telefon. Ich nahm es ab und meldete mich. »Ist da Marîd Audran?« vernahm ich eine heisere Stimme. »Ja.« »Hier ist Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq.« Der Imam, der unsere
Todesurteile unterzeichnet hatte. Ich war verblüfft. Theoni sprang auf und deutete auf den Herrn aus Achaea. »Wißt Ihr, wer das war?« rief sie tränenüberströmt. »Das war mein Vater!« Dalia, Jacques und ich sahen zu Theoni hinüber. So etwas passierte im Budayin ständig. Kein Grund, sich aufzuregen. »Ich möchte mit Ihnen darüber sprechen, wie Sie gedenken, Ihren Namen reinzuwaschen«, sagte Abd ar-Razzaq. »Ich stehe nicht dafür ein, daß ein muslimisches Gesetz gebrochen wird. Sie werden morgen um zwei Uhr bei mir Ihre Sache darlegen können.« Er hängte ein, bevor ich antworten konnte. Ich stellte das Datalinkvorführexemplar samt dem Koffer neben Jacques, er schloß den Deckel und machte sich auf den Weg. »Jetzt habe ich praktisch mit jedem gesprochen, der, wie ich mir vorstelle, etwas mit dem Khalid-Maxwell-Fall zu tun haben könnte«, erklärte ich Dalia. »Die erste Runde ums Dorf hätte ich damit hinter mir.« Sie sah mich an und wischte die Theke sauber. Sie hatte keine Ahnung, wovon ich sprach.
13. Kapitel
Ich lag im Bett und las bis drei Uhr früh einen neuen LutfyGad-Roman. Mein Magen rebellierte, in den Ohren summte es und nach einer Weile merkte ich, daß ich das Bettzeug schon naßgeschwitzt hatte. Ich befand mich also in der Eröffnungsrunde einer massiven Panikattacke. Aber bekanntlich halten Helden einiges aus. Al-Qaddani zum Beispiel, Gads durch nichts aufzuhaltender Detektiv, zerbrach sich nie den Kopf über seine Hilflosigkeit, lag nie die ganze Nacht wach und wünschte sich, er könnte abhauen und irgendwo anders ein neues Leben beginnen. Nach ein paar Stunden nervösen Zitterns beschloß ich, mein Leben in Ordnung zu bringen. Ich verließ sofort das durchnäßte Bett und holte mein braunes Pillenschächtelchen. Es war gestopft voll mit segensreichen Medikamenten. Ich überlegte ein paar Sekunden lang und wußte, was ich brauchte: Tranquilizer. Eigentlich wollte ich mit meiner alten Gewohnheit, mich mit Hilfe von Drogen auf Vordermann zu bringen, Schluß machen. Aber das hier war eine Situation, in der meine Lieblingspillen und -kapseln ganz klar indiziert waren. Ich entschied mich für Paxium und nahm zwölf von den lavendelfarbenen Tabletten und vier von den gelben. Das sollte der Angst den Zahn ziehen. Ich ging wieder zu Bett, drehte die Kissen um und las noch ein paar Kapitel, während ich auf die Wirkung des Paxiums wartete. Und ich muß zugeben, nach etwa einer halben Stunde
oder so spürte ich, wie sich die winzige Andeutung einer leichten Euphorie bemerkbar zu machen begann. Sie überlagerte meine Verzweiflung wie die Zuckerglasur ein Petit four. Darunter war ich noch immer halb wahnsinnig vor Angst. Ich stand auf und trapste barfuß ins Bad. Dort fischte ich mir acht Sonneintabletten, meine Lieblingsschmerzblocker, aus meinem Pillenschächtelchen. Zwar hatte ich nicht direkt Schmerzen, aber ich dachte mir, daß die Opiatwärme der Restangst den Garaus machen würde. Ich würgte die kalkigen Dinger mit einem Schluck warmen Mineralwassers hinunter. Als al-Qaddani vom israelischen Schurken geschnappt wurde und seine obligatorische Abreibung-pro-Roman erhielt, ging es mir schon wesentlich besser. Die Angst war nur noch eine abstrakte Erinnerung, und ich war voll des wunderbarsten Vertrauens, daß ich am kommenden Tag Dr. Sadiq Abd arRazzaq kraft meiner Persönlichkeit überwältigen würde. Ich fühlte mich sogar so phantastisch, daß ich diese Freude mit jemandem teilen wollte. Allerdings nicht mit Kmuzu, der mit Sicherheit Friedlander Bei von meinem nächtlichen Exzeß berichten würde. Nein, statt dessen zog ich mich ruhig an, schlich aus meinem Appartement und ging leise durch die langen, dunklen Gänge vom Westflügel in den Ostflügel. Als ich vor Indihars Tür stand, klopfte ich ein paarmal leise. Schließlich wollte ich nicht die Kinder wecken. Ich wartete eine Minute und klopfte etwas stärker. Endlich war etwas zu hören, und Senalda, das Kindermädchen aus Valencia, das ich eingestellt hatte als Hilfe für Indihar, öffnete die Tür. »Señor Audran«, sagte sie schläfrig. Sie rieb sich die Augen und starrte mich an. Es freute sie nicht besonders, so
früh am Morgen geweckt zu werden. »Es tut mir leid, Senalda«, erklärte ich, »aber ich muß dringend meine Frau sprechen.« Das Kindermädchen starrte mich ein paar Sekunden lang wortlos an, dann drehte sie sich um und verschwand im Dunkel der Wohnung. Ich wartete an der Tür. Nach einer Weile kam Indihar. Sie hatte einen Satinumhang umgeschlungen und wirkte aufgebracht. »Gemahl«, begrüßte sie mich. Ich gähnte. »Ich muß mit dir sprechen, Indihar. Es tut mir leid, daß es so früh ist, aber es ist sehr wichtig.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und nickte. »Das rate ich dir, Maghrebiner. In ein paar Stunden wachen die Kinder auf, und dann habe ich keine Zeit mehr, mich hinzulegen.« Sie trat beiseite und ließ mich hinein in den Salon. Inzwischen fühlte ich mich phantastisch, unbesiegbar. Vor fünfzehn Minuten hatte ich beschlossen, zu Indihar zu gehen, damit sie mir sagen konnte, wie tapfer und aufrecht und stark ich war, weil ich einfach brauchte, daß das jemand sagte. Jetzt jedoch sorgte das Sonnein dafür, daß ich alles bekam, was ich brauchte. Ich wollte nur noch über mein Unbehagen sprechen, was das strategische Vorgehen anging. Indihar konnte ich trauen, das war klar. Ich machte mir nicht einmal Gedanken, daß sie wütend auf mich sein könne, weil ich sie aus ihrem schönen, warmen Bett geholt hatte. Ich setzte mich auf eine der Couchen und wartete, daß sie mir gegenüber Platz nahm. Sie strich sich ein paarmal kurz mit ihren langen, schlanken Fingern über das Gesicht. »Indihar«, eröffnete ich das Gespräch, »du bist meine Frau.« Sie hörte auf, sich die Stirn zu massieren und sah mich an.
»Ich habe dir bereits gesagt«, stieß sie zwischen den Zähne hervor, »daß ich nicht mit dir schlafe. Wenn du mich mitten in der Nacht aufgeweckt hast, um mich in deinem Rausch …« »Nein, um das geht es überhaupt nicht. Ich möchte deine ehrliche Meinung zu etwas hören.« Sie sah mich an, ohne ein Wort zu sagen. Besänftigt schien sie nicht zu sein. »Du hast vielleicht bemerkt«, fuhr ich fort, »daß mir Papa in letzter Zeit immer mehr Verantwortung auflädt. Und daß ich auf einige seiner Methoden zurückgreifen mußte, obwohl ich sie im Grunde verabscheue.« Indihar schüttelte den Kopf. »Ich habe gesehen, wie du bin Turki zurück nach Najran geschickt hast, um diesen … Auftrag zu erledigen. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, daß du auch nur das geringste Problem hattest, einen Fremden ermorden zu lassen. Vor nicht allzu langer Zeit hätte dich das entsetzt, und du hättest es Youssef oder Tariq überlassen, sich darum zu kümmern.« Ich zuckte die Achseln. »Es mußte sein. Hunderte von Freunden und Geschäftspartnern sind von uns abhängig, wir können einfach nicht hinnehmen, daß uns jemand angreift. Wenn sowas ohne Folgen bliebe, würden wir unseren Einfluß und unsere Macht und unsere Freunde würden unseren Schutz verlieren.« »Wir, uns. Unbewußt hast du schon angefangen, dich mit Friedlander Bei zu identifizieren. Er hat es geschafft, dich ganz auf seine Seite zu ziehen, stimmt's? Was ist denn nur mit deiner Wut passiert?« Allmählich begann ich, trotz des Sonneins depressiv zu wer-
den. Das bedeutete, ich mußte noch mehr Sonnein nehmen, aber das ging nicht. Nicht vor Indihar. »Ich muß herausfinden, wer tatsächlich Khalid Maxwell umgebracht hat. Und dann muß ich dafür sorgen, daß mit ihm genauso verfahren wird, wie mit dem Inspektor in Najran.« Indihar lächelte kühl. »Du hast dir auch angewöhnt, auf eine merkwürdige Art um die Wahrheit herumzureden. ›Mit ihm muß verfahren werden‹ statt er wird ›umgebracht‹. Das ist ja, als hättest du dein Gewissen auf so einem verdammten Daddy abgespeichert, den du dir aber nie reinschiebst.« Ich stand auf und atmete tief aus. »Danke, Indihar. Ich bin froh, daß wir darüber gesprochen haben. Du kannst jetzt wieder zu Bett gehen.« Ich machte kehrt, verließ ihr Appartement und machte die Tür hinter mir zu. Ich fühlte mich schrecklich. Ich ging ruhig den Korridor hinunter, an dem die Wohnung meiner Mutter lag, und bog in den düsteren Gang im Haupttrakt. Eine dunkle Gestalt trat aus dem Schatten auf mich zu. Zuerst erschrak ich – es war immer möglich, daß ein schlauer Attentäter die menschlichen und elektronischen Wachen überwand –, doch dann erkannte ich, daß es Youssef war, Papas Butler und Assistent. »Guten Abend, Scheich Marîd«, sagte er. »Youssef«, entgegnete ich unwirsch. »Zufällig war ich gerade wach und hörte Euch auf dem Gang. Kann ich Euch irgendwie helfen?« Wir gingen gemeinsam weiter zum Westflügel. »Nein, nicht wirklich, Youssef. Danke. Du warst zufällig wach?« Er sah mich ernst an. »Ich habe einen leichten Schlaf.« »Aha. Ich bin nur unterwegs, weil ich etwas mit meiner Frau zu besprechen hatte.«
»Und wart Ihr zufrieden mit dem, was Umm Jirji Euch sagte?« Ich brummte: »Kann man nicht sagen.« »Vielleicht kann ich Euch dann helfen.« Ich wollte sein Angebot ablehnen, aber dann dachte ich mir, daß vielleicht Youssef am besten dafür geeignet war, um mein Gefühlsleben zu besprechen. »Indihar meinte, ich hätte mich im letzten Jahr sehr verändert.« »Da hat sie vollkommen recht, Scheich Marîd.« »Sie ist nicht glücklich über diese Veränderungen.« Trotz der Dunkelheit sah ich, wie Youssef die Achseln zuckte. »Ich würde von ihr nicht erwarten, daß sie dafür Verständnis aufbringt«, erklärte er. »Das ist eine sehr komplexe Angelegenheit, die nur mit Führungsaufgaben betraute Menschen verstehen können, also Friedlander Bei, Ihr, Tariq und ich. In den Augen aller anderen sind wir Ungeheuer.« »Ich bin in meinen eigenen Augen ein Ungeheuer, Youssef«, entgegnete ich traurig. »Ich möchte meine Freiheit wieder haben. Ich will keine Führungsrolle. Ich möchte jung und arm und frei und glücklich sein.« »Das wird nicht geschehen, mein Freund, Ihr solltet also aufhören, Eure Phantasie mit dieser Möglichkeit zu quälen. Ihr seid geehrt, da Euch viele Menschen anvertraut wurden. Ihnen schuldet Ihr, Euch so sehr anzustrengen, wie es Euch nur möglich ist. Das bedeutet, Konzentration, die durch keinerlei Selbstzweifel gestört wird.« Ich schüttelte den Kopf. Youssef begriff meinen Punkt nicht ganz. »Ich bin jetzt sehr mächtig«, erklärte ich langsam. »Woher weiß ich, daß ich diese Macht richtig einsetze? Zum Beispiel habe ich einen jungen Mann beauftragt, einen Schläger zu
beseitigen, der Friedlander Bei in Najran mißhandelte. Der heilige Koran sieht zwar Rache vor, aber nur auf derselben Ebene wie das vorangegangene Vergehen. Man könnte also den Inspektor ohne Schuldgefühle ordentlich verprügeln lassen, aber ihn zu beseitigen …« Youssef hob die Hand und unterbrach mich. »Ach«, lächelte er, »Ihr mißversteht sowohl die Botschaft Gottes wie Eure eigene Position. Was Ihr da über die Rache sagt, trifft sicherlich zu – für den Durchschnittsmenschen, der sich nur über sein eigenes Leben und das seiner nächsten Familie Gedanken machen muß. Aber wie man sagt: besondere Rechte gehen mit einer besonderen Verantwortung einher. Und das gilt auch umgekehrt. In diesem Haus hier stehen wir also über bestimmten platten Auslegungen von Allahs Geboten. Um den Frieden im Budayin und in der Stadt zu erhalten, müssen wir oft schnell und zielgerichtet handeln. Wenn wir mißhandelt werden, wie Ihr es genannt habt, müssen wir nicht darauf warten, daß jemand stirbt, bevor wir dagegen einschreiten. Wir sorgen für das Wohlergehen unserer Freunde und Geschäftspartner, indem wir umgehend handeln. Und daraus läßt sich schließen, daß wir nicht gegen die in den Lehren des heiligen Propheten enthaltene Botschaft verstoßen.« »Möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und der Friede mit ihm sein«, sagte ich. Ich bemühte mich um einen nichtssagenden Gesichtsausdruck, aber innerlich kochte ich. So eine lächerliche Haarspalterei hatte ich nicht mehr gehört seit damals, als der alte Scheich, der in unserer Gasse in Algier in einer Schachtel lebte, zu beweisen suchte, daß die Erde flach ist, weil die Stadt Mekka auch flach ist. Was nicht stimmt.
»Euer Widerstreben bereitet mir Sorgen, Scheich Marîd.« Ich winkte ab. »Das hat nichts zu bedeuten. Ich zögere immer, bevor ich tue, was getan werden muß. Aber du und Friedlander Bei, ihr wißt genau, daß ich meine Aufgaben immer erfüllt habe. Muß ich sie auch noch gerne tun?« Youssef lachte kurz auf. »Nein, wirklich nicht. Es ist sogar besser so. Würdet Ihr sie gerne tun, würdet Ihr riskieren, so wie Scheich Reda zu enden.« »Das möge Allah verhindern«, murmelte ich. Wir waren bei meiner Tür angelangt und ich verließ Youssef, damit er wieder zu Bett gehen konnte. Ich ging hinein, aber mir war nicht danach, schlafen zu gehen. Dazu war ich noch immer zu aufgewühlt. Ich blieb nur lange genug, um noch einmal vier Sonneintabletten zu nehmen und ein paar Triphets, damit mir die Power nicht ausging. Dann machte ich vorsichtig die Tür auf, um Kmuzu nicht aufzuwecken, und lugte hinaus in den Gang. Youssef war nirgends zu sehen. Ich schlich hinaus, lief die Treppe hinunter und setzte mich hinter das Steuer meiner Elektrolimousine. Ich brauchte noch einen Drink mit einer Menge lachender Menschen drumherum. Deshalb fuhr ich in den Budayin und gab mich der seltsamen und angenehmen Einsamkeit hin, die sich so früh am Morgen einstellt, wenn niemand sonst auf der Straße ist. Und kommen Sie mir bloß nicht mit ›Fahren unter Drogeneinfluß‹ – ich weiß, das ist blöd und man sollte mich erwischen und ein Exempel an mir statuieren. Ich dachte mir einfach, mit all den Damoklesschwertern über meinem Kopf würde mir garantiert nicht so etwas wie ein Verkehrsunfall zustoßen. Das war wieder die künstliche Zuversicht der Drogen.
Wie auch immer, ich kam ohne Zwischenfall am Osttor an und stellte mein Auto in der Nähe des Taxistands am Boulevard il-Jameel ab. Mein Club war zu – schon seit mehr als einer Stunde – und bei den meisten anderen waren ebenfalls schon die Lichter aus. Aber es gab noch eine Menge Spätlokale und Vierundzwanzigstunden-Cafés. Viele Tänzerinnen gingen nach der Arbeit noch rüber zum Bunker. Man könnte meinen, sie hätten nach acht Stunden Trinken mit Kunden genug, aber so funktionierte das nicht. Sie saßen gerne zusammen an der Theke und kippten einen Schnaps nach dem anderen und redeten über die Idioten, mit denen sie die ganze Nacht hatten plaudern müssen. Der Bunker war eine düstere, kühle Bar in der Siebten Straße, nahe an der Südmauer des Budayin. Dorthin machte ich mich auf den Weg. Im Hinterkopf hatte ich die schwache Hoffnung, vielleicht jemanden wie Yasmin zu treffen. Im Bunker war es laut und verraucht, und die Lampen hatte sie blau gestrichen, damit alle aussahen wie lebende Leichen. An der Theke war kein Hocker frei, deshalb setzte ich mich an einen freien Tisch an der Wand gegenüber. Kamal ibn ashShalaan, der Wirt, sah mich und kam herüber. Er wischte ein paarmal mit einem in Bier getränkten Lappen leicht über den Tisch. »Wie geht's heut nacht, Marîd?« erkundigte er sich heiser. »Geht so«, antwortete ich. »Gin und Bingara mit einem Schuß Roses Limonensaft, okay?« »Sicher. Brauchst du etwas Gesellschaft heut nacht?« »Darum kümmere ich mich selbst, Kamal.« Er zuckte die Achseln und ging, um meinen Drink zuzubereiten.
Vielleicht zehn Sekunden später setzte sich eine betrunkene Deb zu mir, die die Operation noch vor sich hatte. Sie hatte sich den Namen Tansy gegeben, aber bei der Arbeit sollten alle sie Nafka nennen. Niemand sagte ihr, was ›Nafka‹ auf Jiddisch bedeutete. »Laden Sie mich auf einen Drink ein?« eröffnete sie das Gespräch. »Ich könnte mich zu Ihnen rüber setzen und dafür sorgen, daß Ihr Tag mit einem Knall beginnt.« Sie kannte mich nicht. Sie dachte, ich sei so ein Idiot, den sie abzocken könnte. »Nicht heute, Schatz«, antwortete ich. »Ich warte auf jemand.« Sie lächelte verschmitzt unter ihren Augenlidern hervor. »Sie werden überrascht sein, was ich alles machen könnte, währendSie-warten.« »Nein, ich möchte mich gar nicht überraschen lassen. Kein Interesse. Tut mir leid.« Tansy stand auf. Sie schwankte leicht. Sie zwinkerte mir in Zeitlupe zu. »Ich kenne Ihr Problem.« Kichernd machte sie sich auf den Weg nach hinten. Nein, sie kannte mein Problem nicht. Allerdings hatte ich nicht viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn in den düsteren rückwärtigen Fluchten sah ich Yasmin aus der Damentoilette taumeln. Sie sah aus, als hätte sie bei der Arbeit eine Menge Drinks gekippt und auch hier schon den einen oder anderen. Ich stand auf und rief ihren Namen. Sie drehte sich langsam um, wie ein Apatosaurus, der sich nach dem nächsten Büschel Unkraut zum Futtern umsieht. »Wer's das?« sagte sie. Sie torkelte auf mich zu. »Ich bin's, Marîd.« »Marîd!« Sie lächelte gerührt und plumpste auf den Stuhl wie
ein Sack Zwiebeln. »Du hast mir gefehlt, Marîd! Hast du das Ding da unten noch?« sagte sie und begann unter dem Tisch unter meiner Gallebeya rumzufummeln. »Yasmin, hör mal …« »Ich bin wirklich müde, heut abend, Marîd. Bringst du mich in mein Appartement zurück? Bin etwas beschwipst.« »Das hab' ich gemerkt. Schau mal, ich wollte mit dir wirklich etwas besprechen, über …« Sie stand auf, beugte sich zu mir herunter und schlang die Arme um meinen Nacken. Sie fing an, mein Ohr mit der Zunge zu liebkosen. »Das hat dir doch immer gefallen, Marîd, erinnerst du dich?« »Das hat mir nie gefallen. Du verwechselst mich mit jemand.« Yasmin ließ ihre Hand über meine Brust gleiten. »Komm schon, Marîd, ich will nach Hause. Ich wohne jetzt hinten in der Vierzehnten Straße.« »In Ordnung.« Wenn Yasmin betrunken war und sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war nichts mehr zu machen. Ich stand auf, legte den Arm um ihre Schultern, sah nach, ob sie auch ihre Handtasche hatte, und zog sie mehr hinaus, als daß ich sie hinausführte. Wir brauchten mehr als eine halbe Stunde, um die sieben Straßen zurück zur Promenade zu laufen. Schließlich erreichten wir ihr Haus, und ich fand ihre Schlüssel in der Handtasche. Ich sperrte die Tür auf und brachte sie zu ihrem Bett. »Danke, Marîd«, säuselte sie. Ich zog ihr die Schuhe aus und machte kehrt, um zu gehen. »Marîd?« »Was ist denn?« Ich begann wieder müde zu werden. Ich wollte nach Hause und in mein Appartement schlüpfen, bevor
Youssef oder Tariq oder Kmuzu merkten, daß ich weggewesen war, und Friedlander Bei davon berichteten. Yasmin rief mich noch einmal. »Massierst du mich ein wenig am Rücken?« Ich seufzte. »In Ordnung, aber nur ein bißchen.« Ich begann also, ihr den Nacken zu massieren. Und während ich sie massierte, streifte sie ihren kurzen, schwarzen Rock ab. Dann versuchte sie, mir die Gallebeya über den Kopf zu ziehen. »Yasmin«, versuchte ich sie abzuhalten, »du bist betrunken.« »Mach's mit mir, ja?« sagte sie. »Dann bekomm' ich keinen Kater.« Nicht unbedingt die sinnlichste Einladung. Sie küßte mich intensiv und lange. In der Abteilung hatte sie nichts eingebüßt. Und sie wußte auch, was sie mit den Händen zu machen hatte. Es dauerte nicht lange und wir bumsten gierig. Ich glaube, sie schlief ein, bevor ich fertig war. Nach einem müden Orgasmus krachte ich neben ihr zusammen. Wie beschreibe ich am besten den Anbruch des neuen Tages? Ich schlief unruhig, halb auf und halb neben Yasmins nackter Matratze. Meine Träume waren in dem Maß lebhaft und verrückt, wie die Opiate und Aufputscher allmählich aus meinem Blutkreislauf verschwanden. Um zehn Uhr morgens wachte ich einmal auf, mit einem ekelhaften Geschmack im Mund und einem dumpfen Pochen hinter der Stirn. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand und sah mich in Yasmins Appartement um in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden. Schließlich entdeckte ich ihren anmutigen Rücken, ihre schlanke Taille und die geschwungenen Hüften. Was machte ich mit Yasmin im Bett? Sie haßte mich. Mir fiel das Ende der letzten Nacht ein. Ich gähnte und drehte mich weg von ihr. Einen Augenblick
später schlief ich bereits wieder. Ich träumte, daß meine Mutter mich anbrüllte. Das träumte ich häufig. Oberflächlich gesehen, hatten meine Mutter und ich unsere Probleme bereinigt und das ganze Konglomerat an Schuldgefühlen und Ressentiments war für immer beseitigt. Die Träume zeigten mir, daß diese Fortschritte eher kosmetischer Natur waren und ich tief drinnen noch immer unbehagliche und unverarbeitete Gefühle gegen sie hegte. Die Stimme meiner Mutter wurde sowohl lauter wie schriller, aber mir wurde nicht klar, worüber sie sich diesmal so aufregte. Ihr Gesicht wurde rot und häßlich und sie fuchtelte mit der Faust. Ihre Schimpftiraden in den Ohren, duckte ich mich, als sie auf meinen Kopf und die Schultern einzuprügeln begann. Ich wachte auf. Yasmin brüllte und schlug auf mich ein. Yasmin war früher ein ziemlich großer und gut gebauter junger Mann gewesen, so daß sie auch noch nach ihrer Geschlechtsumwandlung einen beachtlichen Gegner darstellte. Dazu hatte sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. »Raus hier! Raus hier!« brüllte sie. Ich rollte von der Matratze auf den kalten Fußboden. Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, daß es Mittag war. Ich verstand nicht, was Yasmins Problem war. »Du bist Mist, Audran!« plärrte sie. »Du bist Schneckenkotze, nutzt einfach meine Verfassung aus!« Obwohl wir schon so oft miteinander geschlafen und zusammen gelebt hatten, war es mir noch immer peinlich, in ihrer Gegenwart nackt zu sein. Ich wich zurück, um aus ihrer Reichweite zu kommen, und blieb nach vorne gebeugt stehen, um meine Nacktheit zu verbergen. »Ich habe deine Verfassung
nicht ausgenutzt, Yasmin«, sagte ich. Das Pochen hinter meiner Stirn begann wieder, aber diesmal war es schlimmer. »Ich hab' dich vor ein paar Stunden im Bunker getroffen. Du hast mich gebeten, dich nach Hause zu bringen. Ich wollte gerade gehen, da hast du mich gebeten, mit dir zu schlafen. Du hast mich gar nicht mehr losgelassen.« Sie hielt sich den Kopf und seufzte. »Ich kann mich daran überhaupt nicht erinnern.« Ich zuckte die Achseln, packte meine Unterwäsche und die Gallebeya. »Was soll ich da machen? Ich bin nicht verantwortlich dafür, woran du dich erinnern kannst.« »Woher soll ich wissen, daß du nicht ausgerastet bist, nachdem du mich heimgebracht hast, und dann über mich hergefallen bist, als ich dir ausgeliefert war?« Ich zog mir die Gallebeya über den Kopf. »Yasmin«, sagte ich traurig, »kennst du mich nicht besser? Habe ich jemals etwas getan, woraus du den Schluß ziehen könntest, daß ich zu einer Vergewaltigung fähig bin?« »Du hast Leute umgebracht«, gab sie mir zu Antwort. Aber der Dampf war nun raus. Ich balancierte auf einem Fuß und zog eine Sandale an. »Ich habe dich nicht vergewaltigt, Yasmin.« Die Spannung wich weiter aus ihr. »Ja? Wie war's denn?« Ich zog die andere Sandale über. »Es war großartig, Yasmin. Mit uns beiden war es immer phantastisch. Du hast mir gefehlt.« »Ja? Wirklich, Marîd?« Ich kniete mich neben die Matratze. »Schau mal«, sagte ich und blickte ihr in die dunklen Augen, »nur weil ich mit Indihar
verheiratet bin …« »Ich will nicht, daß du sie mit mir betrügst, Marîd. Indihar ist seit langem meine Freundin.« Ich machte die Augen zu und rieb sie mir. Dann sah ich wieder zu Yasmin. »Sogar der Prophet Mohammed …« »Möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und der Friede mit ihm sein«, murmelte sie. »Sogar der Prophet Mohammed hatte nicht nur eine Frau. Ich habe das Recht auf vier Frauen, wenn ich für alle gleich gut sorgen kann und sie fair behandle.« Yasmins Augen wurden größer. »Was sagst du da, Marîd?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, Schatz. Indihar und ich sind nur dem Namen nach verheiratet. Wir sind gute Freunde, aber ich glaube, sie hat etwas gegen mich. Und ich meine wirklich, was ich gesagt habe, du fehlst mir.« »Würdest du mich wirklich heiraten? Und was würde Indihar dazu sagen? Und wie …« Ich hob die Hand. »Das muß ich mir noch alles genau überlegen. Dann setzen wir uns alle zusammen und reden darüber. Möglicherweise ist ja auch Papa dagegen. Wie auch immer. In zwei Stunden treffe ich mich mit dem Imam der ShimaalMoschee. Da muß ich mich noch in Schale werfen.« Yasmin nickte, blickte mich aber skeptisch von der Seite her an. Ich vergewisserte mich, daß ich meine Schlüssel hatte und auch sonst alles, was ich mitgebracht hatte – vor allem mein unverzichtbares Pillenschächtelchen. Ich ging zur Tür. »Marîd?« rief sie mir hinterher. Ich drehte mich um und sah sie an. »Deine Zweitfrau mach' ich dir nicht. Ich will nicht die Die-
nerin für Indihar und ihre Kinder sein. Ich bestehe auf Gleichbehandlung, wie sie im Koran vorgeschrieben ist.« Ich nickte. »Wir haben noch viel Zeit.« Ich ging durchs Zimmer und bückte mich, um ihr einen Abschiedskuß zu geben. Es war ein sanfter, langer Kuß, aus dem ich mich nur schwer lösen konnte. Dann stand ich auf, seufzte und machte die Tür hinter mir zu. Yaa Allah, in was hatten mich die Drogen diesmal hineingeritten? Draußen, zwischen den Häusern, war es grau und feucht. Was meiner Stimmung entsprach, aber den Morgen nicht unbedingt angenehmer machte. Vor mir lag eine ziemliche Strecke, über die Promenade von der Vierzehnten Straße zum Osttor. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern und strich die Ladenfronten entlang, in der Hoffnung, von niemand erkannt zu werden. Mir war gar nicht nach einer Wiedersehensfeier mit Saied dem Halb-Hadschi oder Jacques oder einem anderen alten Spezi. Außerdem war die Zeit eh schon knapp. Ich mußte noch nach Hause, mich duschen und umziehen für meine Verabredung mit Abd ar-Razzaq. Wie üblich war den Weltenläufen egal, wonach mir der Sinn stand. Ich war noch keine hundert Meter gegangen, als eine hohe Knabenstimme rief: »Al-Amîn! O Freigebigster!« Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Es war ein hagerer Junge, etwa fünfzehn Jahre alt, größer als ich, mit einem schmutzigen weißen Hemd und einer weißen Hose. Seine grindigen Füße schienen noch nie Schuhe oder Sandalen gesehen zu haben. Um den schmutzverkrusteten Hals hatte er eine weiß und lila gemusterte Keffiya gebunden. »O Lichtstrahl des Morgens, o Scheich«, begrüßte er mich fröhlich.
»Gut, wieviel brauchst du?« sagte ich und griff in meine Tasche und zog meine zusammengerollten Geldscheine heraus. Er schaute verwundert drein und blickte sich dann nach allen Seiten um. »Ich wollte Euch nicht um Geld bitten, Scheich Marîd. Ich wollte Euch etwas mitteilen. Ihr werdet verfolgt.« »Was?« Das verblüffte mich nun wirklich und machte mich nicht gerade glücklich. Wer sich wohl auf meine Fährte gesetzt hatte, Hajjar oder Abd ar-Razzaq oder Abu Adil? »Es ist aber wahr, o Scheich. Gehen wir ein Stück zusammen. Auf der anderen Seite der Promenade, knapp fünfzig Meter hinter uns, steht ein dicker Kaffer in einer himmelblauen Gallebeya. Seht nicht hin zu ihm.« Ich nickte. »Möchte wissen, ob der die ganze Nacht vor Yasmins Wohnung saß und auf mich wartete?« Der Junge lachte. »Das behaupten jedenfalls meine Freunde.« Jetzt war ich wirklich erstaunt. »Woher weißt du – oder ihr –, wo ich die Nacht über war?« »Kauft Ihr mir etwas zu essen, o Vater der Großzügigkeit?« fragte er. Das erschien mir eine gute Idee. Wir machten kehrt und gingen zurück zu Kiyoshi, einem überdurchschnittlich guten japanischen Imbiß am Südende der Vierzehnten Straße. Bei dieser Gelegenheit konnte ich den Fettwanst näher begutachten, der sich verzweifelt bemühte, unauffällig zu erscheinen. Er sah nicht gefährlich aus, was aber nichts zu bedeuten hatte. Wir setzten uns an einen Tisch und sahen der holographischen Rockband zu, die zwischen uns auftauchte. Der Eigentümer des Imbiß hielt sich auch für einen Musiker, und seine Band trat an jedem Tisch auf, ob man das nun wollte oder nicht. Der Junge und ich teilten uns eine Doppelportion Hühn-
chen à la Hibachi. Wir glaubten, uns ungestört unterhalten zu können. »Ihr seid unser Beschützer, yaa Amîn«, sagte der Junge, während er gierig das Essen verschlang. »Wenn Ihr in den Budayin kommt, passen wir auf Euch auf, von dem Augenblick an, da Ihr durch das Osttor tretet. Wir haben ein Signalsystem, und so wissen wir immer, wo Ihr seid. Falls Ihr unsere Hilfe bräuchtet, wären wir sofort an Eurer Seite.« Ich lachte. »Das ist mir neu.« »Ihr wart gut zu uns mit Euren Suppenküchen und Unterkünften, deshalb hielten heute nacht meine Freunde ein Auge auf, während Ihr bei dieser Geschlechtsumwandlung, Yasmin, wart. Dabei fiel ihnen der Kaffer auf, der das selbe tat. Als ich heute morgen aufwachte, erzählten sie mir das alles. Paßt auf: Wenn Ihr diese Tonfolge hört« – er pfiff ein bekanntes Kinderlied – »wißt Ihr, daß wir da sind. Und daß es gilt aufzupassen. Vielleicht werdet Ihr verfolgt. Oder vielleicht sucht Euch die Polizei. Wenn dieser Pfiff ertönt, empfiehlt es sich, für eine Weile unsichtbar zu sein.« Ich lehnte mich zurück und ließ seine Worte auf mich wirken. Ich hatte also eine ganze Armee von Kindern, die mich beschützte. Ein großartiges Gefühl. »Worte sind zuwenig für meinen Dank«, sagte ich. Der Junge breitete die Arme aus. »Das ist nicht notwendig. Wir wünschten, wir könnten mehr tun. Aber die Bedürftigkeit meiner Familie übersteigt die der anderen. Und dadurch habe ich nicht so viel Zeit zur Verfügung, um …« Ich verstand ihn sofort. Ich zog meine Geldrolle wieder heraus und zählte hundert
Kiam ab. Ich schob sie ihm über den Tisch. »Da«, sagte ich, »zum Wohle deiner gesegneten Eltern.« Der Junge hielt die hundert Kiam mit einem Ausdruck des Erstaunens in der Hand und murmelte: »Ihr seid sogar noch großzügiger, als man sich erzählt.« Dann strich er das Geld ein. Na ja, ich fühlte mich nicht großzügig. Ich gab dem Burschen ein paar Kröten aus reinem Eigennutz, die meinem Kontostand nicht nennenswert schadeten. »Okay«, sagte ich und stand auf, »iß das fertig. Ich muß los. Die Augen werde ich offen halten. Wie heißt du denn?« Er blickte mir direkt in die Augen. »Ich bin Ghazi, o Scheich. Zwei kurze, tiefe Pfiffe, gefolgt von einem langen, hohen Pfiff bedeuten, daß einer der Buben Euere Bewachung einem anderen übergibt. Seid auf der Hut, Al-Amîn. Wir im Budayin brauchen Euch.« Ich legte die Hand auf sein langes, schmutziges Haar. »Mach dir keine Sorgen, Ghazi. Ich bin viel zu selbstsüchtig, um zu sterben. Auf Gottes Erdboden gibt es noch viel zu viele schöne Dinge, die ich noch nicht kennengelernt habe. Hier hält mich noch so manches.« »So zum Beispiel Geld verdienen, Geld versaufen, Geld verspielen und Yasmin?« lachte er. »He«, tat ich schockiert, »du weißt zuviel über mich!« »Ach«, sagte der Junge süffisant, »jedermann im Budayin weiß über Euch Bescheid.« »Na großartig«, murmelte ich. Ich ging wieder an dem Fettsack vorbei, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite herumgedrückt hatte, und lief die Promenade entlang Richtung Osten. Hinter und weit über
mir hörte ich jemanden das Kinderlied pfeifen. Den Rest des Wegs legte ich mit eingezogenem Kopf zurück, als könnte ich jeden Moment von hinten eine Pistole über den Schädel gezogen kriegen. Doch ich erreichte das andere Ende des ummauerten Viertels, ohne daß mir einer ans Leder wollte. Ich stieg in meinen Wagen und sah meinen Schatten nach einem Taxi winken. Es war mir egal, ob er mir weiter folgte, ich fuhr heim. Auch hier wollte ich niemandem über den Weg laufen, als ich mich die Treppe zu meinem Appartement hochschlich, aber wieder einmal standen die Sterne schlecht für mich. Zuerst traf ich Youssef und dann Tariq, die mich beide mit düsteren und mißbilligenden Mienen anschwiegen. Ich kam mir vor wie der Taugenichts der Familie, der das Vermögen verpraßte. Als ich meine Räume erreichte, wartete Kmuzu auf dem Gang. »Der Herr des Hauses ist sehr zornig, Yaa Sidi«, sagte er. Ich nickte. Das hatte ich erwartet. »Was hast du ihm erzählt?« »Ich habe ihm mitgeteilt, daß Ihr sehr früh aufgestanden seid und das Haus verlassen habt. Ich sagte ihm weiter, ich wisse nicht, wohin Ihr gegangen seid.« Ich atmete erleichtert auf. »Wenn du wieder mit Papa sprichst, sag ihm, daß ich mit Jacques weg war, um herauszufinden, wie weit er mit dem Datalink-Projekt gekommen ist.« »Das wäre eine Lüge, yaa Sidi, ich weiß wo Ihr gewesen seid.« Ich fragte mich, wie er das wieder wissen konnte. Vielleicht arbeitete der fette Schwarze, der mir gefolgt war, gar nicht für die Bösen. »Bringst du es nicht übers Herz, eine kleine Unwahrheit auszusprechen, Kmuzu, mir zuliebe?« Er sah mich strafend an. »Ich bin Christ, yaa Sidi«, war alles,
was er sagte. »Trotzdem danke.« Ich schob mich an ihm vorbei ins Bad, wo ich lange und heiß duschte und den harten Strahl meinen schmerzenden Rücken und die Schultern massieren ließ. Ich wusch mir das Haar, rasierte mich und trimmte meinen Bart. Langsam ging es mir besser, obwohl ich nur ein paar Stunden Schlaf gehabt hatte. Ich stierte eine Weile in meinen Schrank, bis ich mich entschieden hatte, was ich zu meiner Verabredung mit dem Imam anziehen sollte. Da mir etwas pervers zumute war, wählte ich einen konservativen, blauen Geschäftsanzug aus. Inzwischen trug ich kaum mehr westliche Kleidung, und wenn, ließ ich die Finger von Geschäftsanzügen. Kmuzu mußte mir den Schlips knoten. Nicht nur, daß ich es nicht konnte, ich weigerte mich ausdrücklich, es zu lernen. »Möchtet Ihr etwas essen, yaa Sidi?« Ich blickte auf meine Uhr. »Nein danke, ich schaffe es eh kaum mehr. Würdest du mich fahren?« »Selbstverständlich, yaa Sidi.« Aus irgendeinem Grund fand ich nichts dabei, in Bälde Dr. Abd ar-Razzaq gegenüberzustehen, dem Imam der größten Moschee in der Stadt und einem unserer führenden religiösen Denker. Das war gut so, weil es hieß, daß ich keine Tabletten und Kapseln einschmeißen mußte, um mich auf das Treffen vorzubereiten. In nüchternem Zustand und als Herr meiner Sinne könnte ich vielleicht das Treffen überstehen und den Kopf auf den Schultern behalten. Kmuzu parkte das Auto in zweiter Reihe vor der Westmauer der Moschee, und ich lief durch den Regen die ausgetretenen Granitstufen hinauf. Ich zog meine Schuhe aus und betrat die
schattenerfüllten Fluchten und Räume, die sich zu einem asymmetrischen Netzwerk unter hohen Gewölbebögen ergänzten. Zwischen manchen der Säulen hielten langgewandete Lehrer Gruppen ernst blickender Knaben religiöse Vorlesungen, zwischen anderen beteten einzelne oder kleine Gruppen. Ich ging durch eine lange und kühle Säulengasse zum rückwärtigen Teil der Moschee, wo sich die Arbeitsräume des Imam befanden. Zuerst sprach ich mit einem Sekretär, der mir mitteilte, daß Dr. Abd ar-Razzaq diesen Nachmittag etwas spät dran sei. Er bat mich, in einem kleinen, seitwärts gelegenen Warteraum Platz zu nehmen. Das einzige Fenster ging auf den Innenhof, war aber so schmutzig, daß man kaum hindurchblicken konnte. Der Warteraum erinnerte mich an meine Besuche bei Friedlander Bei, als ich noch nicht in seiner Residenz wohnte. Auch damals mußte ich mich immer in Geduld üben in einem Zimmer, das mit diesem hier viel gemein hatte. Ob das wohl ein psychologischer Trick der Reichen und Mächtigen war? Nach etwa einer halben Stunde öffnete der Sekretär die Tür und erklärte, der Imam würde mich jetzt empfangen. Ich stand auf, atmete tief durch, zupfte mein Jackett zurecht und folgte dem Sekretär. Er hielt eine schwere, wunderschön mit Schnitzereien verzierte Holztür auf, und ich ging hinein. Der Schreibtisch Dr. Sadiq Abd ar-Razzaqs befand sich in der dunkelsten Ecke des Zimmers. Wie er da so in seinem gepolsterten Ledersessel saß, konnte ich seine Gesichtszüge kaum erkennen. Auf seinem Schreibtisch brannte eine grünbespannte Lampe, aber als ich Platz nahm auf dem Sessel, den er mir anbot, tauchte sein Gesicht wieder ab in die konturlosen Schat-
ten des Zimmers. Ich wartete darauf, daß er das Wort an mich richtete. Ich rutschte in meinem Sessel hin und her, blickte mich um, sah aber nur Bücherregale, die bis außer Sichtweite und wohl an die Decke reichten. Es hing ein merkwürdiger Geruch in diesem Raum, eine Mischung aus altem, vergilbten Papier, Zigarrenrauch und Reinigungsmittel mit Fichtennadelduft. Er beobachtete mich eine Weile. Dann beugte er sich vor, wobei die untere Hälfte seines Gesichts in den Lichtschein geriet. »Monsieur Audran«, begann er mit brüchiger Altmännerstimme. »Ja, o Weiser.« »Sie zweifeln also die Beweise an, die eindeutig belegen, daß Sie und Friedlander Bei Inspektor Khalid Maxwell ermordeten.« Er pochte auf einen blauen Aktenordner. »Ja, die zweifle ich an, o Weiser. Ich habe den Streifenpolizisten nie getroffen. Weder Friedlander Bei noch ich haben irgend etwas mit diesem Fall zu tun.« Der Imam seufzte und lehnte sich zurück in das Dunkel. »Doch die Beweislage ist erdrückend gegen Sie. Das sollten Sie wissen. Ein Augenzeuge hat sich gemeldet.« Das war mir neu. »Ja. Wer ist dieser Augenzeuge? Und woher wissen Sie, daß er zuverlässig ist?« »Weil der Augenzeuge, Monsieur Audran, Kommissar bei der Polizei ist. Kommissar Hajjar, um genau zu sein.« »Arschloch!« brüllte ich. Dann hatte ich mich wieder in der Gewalt. »Entschuldigen Sie bitte, o Weiser.« Er winkte ab. »Es geht darum: Ihr Wort gegen das eines hochgestellten Polizeioffiziers. Ich muß mein Urteil gemäß der
islamischen Gesetze fällen, genau nach Vorschrift und unter Verwendung meiner zugegebenermaßen etwas eingeschränkten Fähigkeiten, Lüge und Wahrheit auseinanderhalten zu können. Daher muß ich sie eindringlichst darauf hinweisen, daß Sie schon eines hieb- und stichfesten Beweises bedürfen, weil andernfalls die Sache gegen Sie entschieden werden wird.« »Das leuchtet mir ein, Imam Abd ar-Razzaq. Wir haben manche Wege, Entlastungsbeweise zu finden, noch nicht genutzt. Daher sind wir optimistisch, genügend Beweismittel vorlegen zu können, um Sie umzustimmen.« Der alte Mann hüstelte heiser. »Das hoffe ich um Ihretwillen. Aber seien Sie versichert, mir geht es in erster Linie um Gerechtigkeit.« »Ja, o Weiser.« »Daher möchte ich jetzt wissen, wie Ihre nächsten Pläne aussehen, die diesen traurigen Vorfall betreffen.« Darum ging es also. Falls meine Pläne den Imam zu sehr schockierten, könnte er einfach sein Veto einlegen und damit stünde ich auf der sprichwörtlichen Düne in der Mittagssonne. »O Weiser«, hub ich langsam an, »uns ist zu Ohren gekommen, daß an der Leiche von Khalid Maxwell keine ordnungsgemäße Autopsie durchgeführt wurde. Ich erbitte die Erlaubnis, die Leiche exhumieren zu dürfen, damit sie der städtische Leichenbeschauer einer gründlichen Untersuchung unterziehen kann.« Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aber ich hörte ihn tief Luft holen. »Sie wissen, daß Allah gebietet, einen Toten sofort zu beerdigen.« Ich nickte. »Eine Exhumierung wird nur in den extremsten und drin-
gendsten Fällen genehmigt.« Ich zuckte die Achseln. »Darf ich Sie daran erinnern, o Weiser, daß mein Leben und das Leben von Friedlander Bei vom Ergebnis dieser Autopsie abhängen. Und ich bin mir sicher, daß Scheich Mahali dieser Ansicht ebenfalls anhängt, selbst wenn Sie das nicht tun sollten.« Der Imam donnerte seine runzlige Hand auf den Tisch. »Paß auf, was du sagst, Bursche!« zischte er. »Du drohst mir, mich zu übergehen? Gut, das wird nicht nötig sein. Ich erlaube die Exhumierung. Doch als Gegenleistung verlange ich, daß Eure Beweise in zwei Wochen auf dem Tisch liegen statt in einem Monat, wie bislang verabredet. Die Menschen dieser Stadt können nicht hinnehmen, daß die Gerechtigkeit länger hinausgezögert wird.« Er griff nach einem weißen Blatt Papier. Ich sah ihm zu, wie er einen kurzen Absatz abfaßte und unterzeichnete. Abd ar-Razzaq machte es uns fast unmöglich, unseren Namen reinzuwaschen. Zwei Wochen! Das gefiel mir überhaupt nicht. Zwölf wären gut. Aber ich beließ es dabei aufzustehen, verbeugte mich leicht und sagte: »Wenn Sie mich entschuldigen wollen, o Weiser, gehe ich gleich in das Büro des Leichenbeschauers im Budayin. Ich möchte nicht noch mehr von Ihrer wertvollen Zeit in Anspruch nehmen.« Ich konnte ihn nicht sehen, und er sagte nichts mehr zu mir. Er reichte mir nur das Blatt Papier. Ich warf einen Blick darauf. Es war die offizielle Anordnung für Khalid Maxwells Autopsie, durchzuführen während der nächsten zwei Wochen. Ich stand da in seinem abgedunkelten Büro und fühlte mich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Schließlich dachte ich: Leck mich am Arsch! und drehte mich um. Ich eilte zurück durch die
weitverzweigte Moschee, fand meine Schuhe und stieg wieder in mein Auto hinter Kmuzu. »Soll es nach Hause gehen, yaa Sidi?« »Nein, in den Budayin.« Er nickte und ließ den Motor an. Ich lehnte mich zurück und überdachte das Gehörte. Hajjar behauptete also, Augenzeuge gewesen zu sein? Gut, ich traute mir zu, seine Aussage zu erschüttern. Alles in allem hatte ich kein zu schlechtes Gefühl. Ich klopfte mir sogar selbst auf die Schulter für die Art und Weise, wie ich mit Abd arRazzaq umgegangen war. Dann erhielt ich zwei Telefonanrufe, die eine Ladung Dreck über meine hübsche, optimistische Stimmung kippten. Im ersten ging es um Geld. Mein Telefon läutete, und ich klappte es auf. »Hallo«, meldete ich mich. »Herr Marîd Audran? Hier ist Kirk Adwan von der Bank der Dünen.« Das war die Bank, wo ich meine Konten unterhielt. »Ja«, antwortete ich mißtrauisch. »Wir haben hier einen Scheck, der auf einen gewissen Faruk Hussein ausgestellt ist und zwar über den Betrag von zweitausendvierhundert Kiam. Ihre Unterschrift ist auf der Rückseite, genauso wie die von Herrn Hussein, die allerdings in Ihrer Handschrift zu sein scheint.« Oje. Der Scheck, den der arme Fuad Jacques gegeben hat. Jacques hatte gewartet, bis der Scheck gutgeschrieben werden konnte, dann hatte er die zweitausendvierhundert Kiam abgehoben und sie an Fuad weitergegeben. »Ja?« fragte ich.
»Herr Audran, Herr Hussein hat den Scheck als gestohlen gemeldet. Wir reißen uns nicht darum, dieser Sache nachzugehen, aber falls Sie die zweitausendvierhundert Kiam nicht bis morgen nachmittag um fünf Uhr eingezahlt haben, sehen wir uns gezwungen, die Polizei zu verständigen. Jede unserer Zweigstellen steht Ihnen zur Verfügung.« »Äh, einen Moment …« Zu spät. Adwan hatte aufgelegt. Ich schloß die Augen und fluchte leise. Was war das nun wieder? Wo war da die Pointe? Fuad war zu dumm, sich etwas so Kompliziertes auszudenken. Steckte da Jacques auch mit drin? Es war mir egal. Ich würde der Sache auf den Grund gehen, und wer immer Dreck am Stecken hatte, dem würde das sehr leid tun. Er sollte schon mal üben, wie man feinen, gelben Sand atmet. Ich war fuchsteufelswild. Sogar Selbstgespräche führte ich. Ungefähr eine Stunde verging. Kmuzu und ich aßen gerade im Café Solace, als das Telefon zum zweiten Mal läutete. »Ja«, sagte ich ungeduldig. »Selber ja, Audran.« Es war Kommissar Hajjar, der Diplomaugenzeuge höchstpersönlich. »Ich hab' da etwas, das ich mit Ihnen besprechen muß, Hajjar«, knurrte ich. »Nur zu, Noraf. Sagen Sie, hatten Sie heute nachmittag nicht eine Verabredung mit Imam Abd ar-Razzaq?« Ich kniff die Augen zusammen. »Woher wissen Sie das?« Hajjar schnaubte. »Ich weiß viel. Wie auch immer, ich frage mich, ob Sie mir erklären können, warum der Sekretär, als er eine Stunde nach Ihrem Besuch wieder das Arbeitszimmer des Imam betritt, den heiligen Mann tot vorfindet, ausgestreckt auf
dem Boden, mit einem halben Dutzend vergifteter Nadlerpfeile in seiner Brust?« Ich stierte nur auf Kmuzus Gesicht. »Hallo«, säuselte Hajjar, »hallo, Herr Verdächtiger, könnten Sie nicht sobald wie möglich bei mir vorbeischauen?« Statt einer Antwort steckte ich mir das Telefon an den Gürtel. Jetzt, da ich nur noch zwei Wochen hatte statt eines Monats, um unsere Unschuld zu beweisen, hatte ich mehr Ärger am Hals als je zuvor. Ich kramte in meiner Anzugjacke nach meinem Pillenschächtelchen – das war jetzt auf jeden Fall einer jener Momente, in denen illegale Drogen mehr als angebracht sind –, aber ich hatte es in meiner Gallebeya vergessen. Ich fragte mich, was würde Scheich Hassanein an meiner Stelle tun? Leider gab es nur eine mögliche Antwort: Fersengeld geben und ab in die Rub Al Khali, wo man nicht aufgespürt werden kann. Gar keine so schlechte Idee …
14. Kapitel
Noch am gleichen Nachmittag kümmerte ich mich um die beiden wichtigsten Probleme – ein weiterer Beweis dafür, um wieviel reifer ich geworden bin. Früher habe ich mich in meinem Schlafzimmer vergraben, die Birne voll Sonnein, und mich bemüht, meine Schwierigkeiten ein, zwei Tage zu vergessen. Bis die Sache ernst wurde. Seither habe ich die Erfahrung gemacht, daß es viel einfacher ist, die Krisen in Angriff zu nehmen, solange sie sich noch in der Gelbphase befinden. Zuerst mußte ich entscheiden, welches Problem dringlicher war. War es wichtiger, mein Leben zu retten oder mein Bankkonto? Das Verhältnis zu meinem Banker war eigentlich immer gut gewesen – besonders seit ich Papas Juniorchef bin und der Nutznießer von vielen dicken Geldumschlägen. Meines Erachtens konnte die Bank der Dünen ein oder zwei Stunden warten, aber die Geduld Kommissar Hajjars würde nicht so weit reichen. Es regnete immer noch, als Kmuzu mich zur Polizeiwache an der Walid-al-Akbar-Straße fuhr. Wie gewöhnlich mußte ich mir meinen Weg durch einen Haufen Buben mit schmutzverschmierten Gesichtern bahnen, die sich alle an mich drängten und laut um Bakschisch bettelten. Warum die Kinder wohl hier am Bullenladen rumhingen statt am Hotel Palazzo di Marco Aurelio, wo die reichen Touristen abstiegen? Vielleicht dachten sie, wer bei der Polizei aus und ein ginge, habe anderes im Kopf und sei darum großzügiger. Wie auch immer, ich warf einige
Kiam auf die Straße, und alle balgten sich um das Geld. Als ich die Treppe hinaufstieg, hörte ich einen der Jungen das bekannte Kinderlied pfeifen. Ich ging hinauf zu Kommissar Hajjars verglastem Büro, das mitten in der Ermittlungsabteilung lag. Er telefonierte, also ging ich einfach hinein und setzte mich neben seinem Schreibtisch auf einen unbequemen Holzstuhl. Ich griff nach einem Stapel Briefe, die für Hajjar bestimmt waren, und begann sie durchzusehen, bis er sie mir mit einem ärgerlichen Knurren wieder aus der Hand nahm. Dann bellte er etwas ins Telefon und knallte den Hörer auf. »Audran«, begrüßte er mich laut und vor Selbstzufriedenheit triefend. »Kommissar, was ist los?« Er stand auf und vertrat sich die Beine. »Ich weiß, daß Sie schneller als sie denken um einen Kopf kürzer gemacht werden.« Ich zuckte die Achseln. »Weil uns Abd ar-Razzaq zwei Wochen Zeit abgezwackt hat, um unsere Namen reinzuwaschen? « Hajjar blieb stehen, wandte sich zu mir und ein fieses Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Nein, du dummes Arschloch. Wegen des Mordes an dem alten Mann wird die ganze Stadt hinter Ihnen her sein, um Sie mit dem Kopf nach unten aufzuhängen. Sie werden Sie mit lodernden Fackeln aus dem Bett zerren und zerschnipseln und dann aus Ihren Innereien feinsäuberliche Häufchen bauen. Aus Ihren und denen von Friedlander Bei. Und es wird auch Zeit.« Ich schloß die Augen und seufzte matt. »Ich habe den Imam nicht umgebracht, Hajjar.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Betrachten wir
das ganze wissenschaftlich. Sie hatten um zwei Uhr einen Termin beim Imam. Nach Aussage des Sekretärs betraten Sie das Zimmer um viertel nach zwei. Sie waren eine gute Viertelstunde bei Abd ar-Razzaq. Der nächste Termin des Imam war erst um halb vier. Als der Sekretär um diese Zeit in das Arbeitszimmer kam, war Dr. Abd ar-Razzaq tot.« »Also hatte jemand eine gute Stunde Zeit, um am Sekretär vorbeizuschleichen und den Hurensohn umzubringen«, entgegnete ich gelassen. Hajjar schüttelte den Kopf. »Der Fall ist so gut wie abgeschlossen. Sie werden nicht mehr lange genug am Leben sein, um etwas über Khalid Maxwell herauszufinden.« Langsam ging er mir auf die Nerven. Er machte mich nicht nervös oder ängstlich – er ging mir nur auf die Nerven. »Haben Sie den Sekretär gefragt, ob er während dieser Stunde seinen Platz verlassen hat? Fragten Sie ihn, ob er jemand anderen gesehen hat?« Hajjar schüttelte den Kopf. »Völlig unnötig. Der Fall ist so gut wie gelöst.« Ich erhob mich. »Sie wollen mir also beibringen, daß ich meine Unschuld nun in zwei Mordfällen beweisen muß.« »Und zwar pronto. Wir werden die Neuigkeiten über den Imam bis zum Morgen zurückhalten. Der Emir will, daß wir auf die Unruhen und Demonstrationen vorbereitet sind. Und die Unruhen und Demonstrationen werden schrecklich werden. Und Sie werden sie hautnah mitkriegen, wenn Sie mich fragen, aus dem Innern eines eisernen Käfigs. Falls Friedlander Bei seinen Namen in der Maxwell-Sache reinwaschen möchte, muß er das ohne Sie erledigen. Denn Sie werden in wenigen Tagen
steif und kalt sein, außer Sie verschwinden aus der Stadt. Und glauben Sie mir, das dürfte nicht einfach sein, weil wir Sie keine Minute aus den Augen lassen werden.« »Ich weiß, ich weiß, der fette Neger.« Hajjar war peinlich berührt. »Er ist nicht mein bester Mann.« Ich ging zur Tür. Es lohnte sich nie, bei Hajjar vorbeizuschauen. »Bis später«, rief ich ihm über die Schulter zu. »Um nichts in der Welt möchte ich in Ihrer Haut stecken. Wie lange habe ich darauf gewartet, Audran. Wo soll's jetzt hingehen?« Ich drehte mich um und blickte ihm ins Gesicht. »O, eigentlich wollte ich anschließend beim Leichenbeschauer im Budayin vorbeischauen. Ich habe nämlich die Erlaubnis des Imam, Khalid Maxwell exhumieren zu lassen.« Sein Gesicht verwandelte sich in einen roten Ballon. »Was?« brüllte er. »Niemals! Nicht in meinem Zuständigkeitsbereich! Das erlaube ich nicht!« Ich grinste. »Das Leben ist hart, Kommissar«, sagte ich ihm, während ich ihn einen kurzen Blick auf die offizielle Erlaubnis von Abd ar-Razzaq werfen ließ. Mein Vertrauen in Hajjar war allerdings nicht so groß, als daß ich sie ihm in die Hand gegeben hätte. »Mehr brauche ich nicht. Wenn es ganz schlimm kommt, kann ich Scheich Mahali dazu bringen, daß er sie an der kurzen Leine hält.« »Maxwell ausbuddeln? Warum, zum Teufel?« brüllte Hajjar. »Es heißt, das Bild des Mörders brenne sich in die Netzhaut des Opfers ein und bleibe auch nach dem Tod erhalten. Schon gehört davon? Vielleicht finde ich heraus, wer den Streifenpolizisten umgebracht hat. Inshallah.«
Hajjar schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Das ist nur Aberglaube!« Ich zuckte die Achseln. »Wer weiß. Ich denke, es ist den Versuch wert. Bis dann.« Ich beeilte mich, aus seinem Büro zu kommen und ließ einen vor Wut kochenden Hajjar zurück. Ich stieg ins Auto, und Kmuzu fragte mich über die Schulter: »Alles in Ordnung, yaa Sidi?« »Noch mehr Ärger«, brummte ich. »In der Nähe gibt es eine Zweigstelle der Bank der Dünen, zehn Straßen die Promenade runter. Ich muß dort jemanden treffen.« »Ja, yaa Sidi.« Während wir uns unseren Weg durch den dichten Verkehr bahnten, überlegte ich, ob mir Hajjar den Mord am Imam tatsächlich anhängen konnte. Er hatte die Möglichkeit dazu, und ein Motiv ließ sich auch hindrehen. Reichte das für eine offizielle Anklage? Diese Tatsache, daß ich, mit Ausnahme des Mörders, wahrscheinlich der letzte war, der Dr. Sadiq Abd arRazzaq lebend gesehen hatte? Auf den Boden der Realität holte mich zurück, daß Hajjar eine offizielle Anklage gar nicht nötig hatte. Ab morgen betrauerten zweihunderttausend gramgebeugte Muslime den brutalen Mord an ihrem religiösen Führer. Da mußte nur noch jemand geschickt genug das Gerücht in Umlauf bringen, ich sei der Verantwortliche. Und ich zahlte für das Verbrechen, ohne jemals vor einem islamischen Richter zu stehen. Ich würde nicht einmal die Gelegenheit erhalten, mich zu verteidigen. Der Regen war mir jetzt egal. Nach der Sache mit Hajjar waren mir auch die zweitausendvierhundert Kiam einerlei. Ich betrat die Bank und blickte mich um. Im Hintergrund tönte
Muzzak zum sanften Duft von Rosen. Der Schalterraum war in Glas und Chrom gehalten. Rechts außen waren die Schalter mit den Angestellten, dahinter die Geldautomaten. Mir gegenüber saß das Führungspersonal. Ich ging zum Empfangsschalter und wartete, bis mir die Dame ihre Aufmerksamkeit schenkte. »Kann ich Ihnen helfen, mein Herr?« sagte sie gelangweilt. »Heute früh rief mich ein Herr Kirk Adwan an …« »Herr Adwan hat gerade einen Kunden. Nehmen Sie Platz. Er wird gleich kommen.« »Mhhhmmm«, sagte ich. Ich lümmelte mich in eine Couch und ließ den Kopf hängen. Wieder wünschte ich mir, ich hätte mein Pillenschächtelchen dabei. Oder meine Moddys. Wie schön wäre es, für eine Weile in die Persönlichkeit eines anderen zu schlüpfen. Endlich war Adwans Kunde fertig, und ich erhob mich, um zu seinem Schreibtisch hinüber zu gehen. Adwan war damit beschäftigt, Papiere zu unterzeichnen. »Gleich habe ich für Sie Zeit«, sagte er. »Nehmen Sie bitte Platz.« Ich setzte mich. Diesen Unsinn wollte ich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Adwan schloß seine Arbeit ab, blickte mit leeren Augen auf, betrachtete mein Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde, um mir schließlich sein professionelles Lächeln zu schenken. »Also«, sagte er mit einschmeichelndem Tonfall, »was kann ich für Sie tun?« »Sie haben mich heute morgen angerufen. Ich heiße Marîd Audran. Es gab Unklarheiten wegen eines Schecks über zweitausendvierhundert Kiam.« Adwans Lächeln war wie weggezaubert. »Ich erinnere mich.«
Seine Stimme war eisig. Herr Adwan mochte mich nicht, wie es schien. »Herr Faruk Hussein hat den Bankscheck als gestohlen gemeldet. Als der Scheck bei uns auflief, war nur sein Name vorne drauf und Ihrer hinten.« »Ich habe den Scheck weder gestohlen noch eingelöst, Herr Adwan.« Er nickte. »Aber sicher, mein Herr. Wenn Sie das sagen. Aber wie ich schon am Telefon erwähnte, falls Sie das Geld nicht zurückzahlen, müssen wir diese Angelegenheit der Polizei übergeben. Und ich fürchte, in dieser Stadt wird diese Art Diebstahl hart bestraft. Sehr hart.« »Ich werde der Bank den Schaden ersetzen«, sagte ich. Ich griff in meine Anzugtasche und holte meine Brieftasche heraus. Fünftausend Kiam hatte ich bar dabei. Davon zählte ich Zweitausendvierhundert ab und reichte sie ihm hinüber. Adwan nahm das Geld, zählte es und entschuldigte sich bei mir. Dann stand er auf und ging durch eine Tür mit der Aufschrift ›Eintritt verboten‹. Ich wartete. Was würde wohl als nächstes passieren? Würde Adwan mit einer Meute bewaffneter Wachleute zurückkommen? Würde man mir meine Kreditkarten abnehmen? Würde er die anderen Bankangestellten anführen in einem Reigen öffentlicher Verunglimpfung? Es war mir scheißegal. Als Adwan dann zurückkam, setzte er sich nur und faltete die Hände. »Wir sind froh, daß sie diese Affäre so schnell beendet haben.« Für einen Augenblick herrschte peinliches Schweigen. »Woher weiß ich überhaupt«, sagte ich schließlich, »daß es jemals einen gestohlenen Scheck gab? Sie verstehen, Sie riefen mich an,
erzählten mir, der Scheck sei gestohlen worden, ich kam hierher und legte die zweitausendvierhundert Kiam auf den Tisch, Sie standen auf und verschwanden, und als Sie zurückkamen, war das Geld weg. Woher weiß ich also, daß Sie es nicht auf Ihr eigenes Konto eingezahlt haben?« Adwan stutzte, öffnete dann eine Schublade seines Schreibtischs und zog aus einem Umschlag eine dünne Akte heraus, die er durchblätterte. Während er mich nicht aus den Augen ließ, murmelte er einen Commcode in sein Telefon. »Hier«, sagte er, »sprechen Sie selbst mit Hussein.« Ich wartete, bis der Mann am anderen Ende der Leitung sich meldete. »Hallo«, sagte ich. »Hallo, wer ist dran?« »Hier ist … tut nichts zur Sache. Ich sitze hier in einer Zweigstelle der Bank der Dünen. Irgendwie gelangte ein Scheck mit Ihrem Namen in meine Hände.« »Den haben Sie gestohlen«, sagte Hussein grob. »Ich habe ihn nicht gestohlen. Einer meiner Geschäftspartner wollte einem Freund einen Gefallen tun und bat mich, den Scheck zu indossieren und als gedeckt anzuerkennen.« »Nicht einmal lügen können Sie.« Da trampelte schon wieder einer auf meinen Nerven herum. »Hör mal, Freundchen«, sagte ich so geduldig wie möglich, »ich habe da diesen Freund namens Fuad. Der erzählte mir, daß er von Ihnen einen Bus kaufen wollte, aber Sie hätten ihn an jemanden anderes verkauft …« »Fuad?« fragte Hussein mißtrauisch nach. Und dann beschrieb er Fuad il-Manhous vom fettigen Haar bis hin zu den abgetragenen Schuhen.
»Woher kennen Sie ihn?« wollte ich verblüfft wissen. »Er ist mein Schwager«, sagte Hussein. »Manchmal bleibt er bei mir und seiner Schwester. Ich habe den Scheck wohl herumliegen lassen und Fuad dachte, keiner würde ihm draufkommen. Ich breche der Vogelscheuche die Arme.« »Hmm.« Ich war noch immer sprachlos, daß Fuad mit einer solch glaubhaften Geschichte aufwarten konnte. Soviel Zockerseele hätte ich ihm nicht zugetraut. »Es sieht so aus, als hätte er versucht, uns beide zu beschummeln.« »Na ja, ich kriege ja mein Geld von der Bank zurück. Sind Sie für den Scheck geradegestanden?« Ich wußte, was nun kam. »Jawoll«, sagte ich. Hussein lachte. »Dann viel Spaß bei dem Versuch, Ihr Geld von Fuad wieder zu bekommen. Der hat doch nie genug Geld, um damit zu klimpern, weil er nie zwei Münzen besitzt. Wenn er die Zweitausendvierhundert auf den Kopf gehauen hat, können Sie nur mit dem Ofenrohr in die Wüste schauen. Wahrscheinlich hat er die Stadt längst verlassen.« »Ja, Sie haben recht. Ich bin froh, daß wir das geklärt haben.« Ich legte auf. Nach den großen Problemen würde ich mich um Fuad kümmern. Aber in gewisser Weise bewunderte ich Esel es auch, wie Fuad das durchgezogen hatte. Er hatte mein Vorurteil gegen ihn benutzt, meines und das von Jacques. Wir trauten ihm beide, weil wir dachten, für einen Bluff sei er zu bescheuert. Vor ein paar Wochen hatten mich Bedu-Schwindler über den Tisch gezogen, und jetzt Fuad. Ich hatte allen Grund, bescheiden zu sein. »Mein Herr?« sagte Adwan.
Ich gab ihm sein Telefon zurück. »Jetzt ist mir alles klar«, erklärte ich ihm. »Hussein und ich haben einen gemeinsamen Bekannten, der uns gegeneinander auszuspielen versuchte.« »Meinetwegen«, sagte Adwan, »der Bank lag nur daran, ihr Geld zu bekommen.« Ich stand auf. »Scheiß auf die Bank.« Mir kam sogar kurz der Gedanke, mein Konto bei der Bank der Dünen aufzulösen. Das Problem war nur, die Bank lag so günstig. Wenigstens Herrn Adwan hätte ich gerne auf seine Rotznase geschlagen. Das war ein langer Tag gewesen, und ich hatte in Yasmins Wohnung auch nicht viel Schlaf gefunden. Langsam ging mir der Saft aus. Als ich wieder ins Auto stieg, tröstete ich mich damit, daß ich noch einen kleinen Besuch machen und es mir dann an der Theke meines Clubs gemütlich machen würde, wo ein paar nackte, weiblich geformte Körper sich zur Musik wanden. »Nach Hause, yaa Sidi?« fragte Kmuzu. »Nichts da, mein Freund, keine Ruhepause den Bösewichten«, sagte ich, lehnte mich zurück und massierte meine Schläfen. »Zurück ans Osttor des Budayin. Ich muß mit dem Amtsarzt sprechen. Danach ruhe ich mich ein paar Stunden bei Chiriga aus. Ich muß mich ein wenig entspannen.« »Ja, yaa Sidi.« »Du kannst gerne mitkommen. Du weißt ja, daß Chiri dich gerne um sich hat.« Im Rückspiegel konnte ich sehen, wie sich Kmuzus Augen verengten. »Ich warte auf Euch im Wagen«, sagte er förmlich. Die Aufmerksamkeit, die im Chiri schenkte, war ihm gar nicht recht. Oder sie war im sehr recht, und das war es, was ihn störte.
»Es kann aber ein paar Stunden dauern«, sagte ich zu ihm. »Genauer: ich habe vor zu bleiben, bis sie schließen.« »Dann fahre ich inzwischen nach Hause. Ihr könnt mich anrufen, wenn Ihr mich braucht.« Wir brauchten nur wenige Minuten, um die Strecke in den Budayin zurückzulegen. Ich stieg aus, beugte mich zu Kmuzu hinunter und verabschiedete mich. Da stand ich nun im lauwarmen Regen und sah dem crèmefarbenen Viertürer hinterher. Um ganz ehrlich zu sein, es war mir nicht so eilig mit meinem Besuch beim Amtsarzt. Meine Toleranzschwelle für Schrecklichkeiten war sehr niedrig. Und ein schrecklicher Anblick erwartete mich, als ich die Gerichtsmedizin Ecke Erste Straße und Promenade betrat. Die Stadt unterhielt zwei Leichenschauhäuser; eines war für die Stadt an sich zuständig, und das hier war für den Budayin reserviert. Das Viertel hinter der Mauer spuckte so viele Leichen aus, daß es eine eigene Firma für Leichenverwertung beschäftigen konnte. Was ich allerdings nie ganz verstanden habe, war, warum das Leichenschauhaus am Ostende des Budayin, der Friedhof aber am Westende lag. Man möchte meinen, es wäre praktischer, wenn beide näher zueinander lägen. Ich war schon öfters in der Leichenhalle gewesen. Meine Freunde und ich nannten sie ›Halle der Schrecken‹, weil sie jede grauenerregende Vorstellung, die man haben mochte, mit Leichtigkeit übertraf. Sie war nur spärlich erleuchtet, und die Belüftung verdiente diesen Namen kaum. Die Luft war heiß und stickig, und es stank nach menschlichen Ausscheidungen, Leichen und Formaldehyd. Das Büro des Leichenbeschauers verfügte über zwölf Fächer, in denen die Leichen gelagert wer-
den konnten, aber schwere Körperverletzung, Pech und natürliche Todesursachen sorgten meist schon bis Mittag dafür, daß diese Zahl erfüllt war. Die später Eingelieferten wurden nebeneinander auf den zerbrochenen, schmutzigen Kacheln des Bodens gelagert. Ein Hauptbeschauer und zwei Assistenten versuchten mit der nie abreißenden Flut von Leichen fertig zu werden. Reinlichkeit mochte ein ernstzunehmendes Problem sein, aber keiner der drei Angestellten hatte auch noch die Zeit, den Boden zu wischen. Kommissar Hajjar schickte gelegentlich Sträflinge herüber in die Leichenhalle, um etwas aufzuräumen, aber das war keine begehrte Arbeit. Da die Erbauer der Leichenfächer vergessen hatten, Abflußrinnen einzuplanen, mußten diese alle paar Tage per Hand ausgewischt werden. Diese Fächer wurden so zu wundervollen Brutstätten für jede Art von Bakterien und Keimen. Die bedauernswerten Gefangenen kehrten oft mit allem möglichen, von Tuberkulose bis Gehirnhautentzündungen, ins Gefängnis zurück, Krankheiten, die man sich kaum mehr holen konnte. Einer der Assistenten trat mit einem gehetzten Gesichtsausdruck auf mich zu. »Was kann ich für dich tun?« fragte er. »Leiche oder was?« Instinktiv wich ich vor ihm zurück. Ich hatte Angst, von ihm berührt zu werden. »Ich habe die Erlaubnis vom Imam der Shimaal-Moschee, die Exhumierung einer Leiche anzuordnen. Es handelt sich um ein Mordopfer, das nie einer offiziellen Autopsie unterzogen wurde.« »Exhumierung, mhm«, sagte der Assistent und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich durchquerte den gekachelten Raum. Auf
einem der beiden metallenen Autopsietische war eine nackte Leiche ausgestreckt. Die Szenerie wurde durch ein schmutziges, zerbrochenes Oberlicht erhellt und durch eine Reihe flackernder Neonröhren. Das Formaldehyd brachte meine Augen zum Tränen und meine Nase zum Tröpfeln. Ich war dankbar, als ich sah, daß der Assistent mich zu einer festen Holztür am Ende des Untersuchungsraumes führte. »Da hinein. Der Doktor wird in ein paar Minuten auftauchen. Er ist gerade beim Essen.« Ich zwängte mich durch die Tür in das winzige Büro. Die Wände standen mit Hängeordnern voll. Außerdem war da ein Schreibtisch, auf dem sich die Ordner, Akten, Bücher, Computerplatten stapelten und weiß der Teufel, was noch. Gegenüber stand ein Stuhl inmitten von noch mehr Papier, Büchern und Schachteln. Ich setzte mich. Der Stuhl war in all dem Gerümpel eingekeilt. Ich fühlte mich wie in einer Falle in dem finsteren Loch, aber es war besser wie der Raum da draußen. Nach einer Weile kam der Amtsarzt herein. Er musterte mich einmal über den dicken Rand seiner Brille hinweg. Neue Augen sind heute so billig und so leicht zu bekommen, daß man kaum mehr Menschen mit Brillen sieht. Gleich im Budayin gab es eine Reihe guter Augenläden. »Ich bin Dr. Besherati. Sie kommen wegen einer Exhumierung?« »Ja, mein Herr.« Er setzte sich. Ich konnte ihn hinter all dem Gerümpel auf dem Schreibtisch nicht ausmachen. Er nahm eine Trompete vom Boden auf und lehnte sich zurück. »Dazu brauche ich eine Bestätigung von Kommissar Hajjars Büro.«
»Ich war schon bei ihm. Ich habe die Erlaubnis vom Imam Abd ar-Razzaq, der es mir gestattet, die postume Untersuchung durchführen zu lassen.« »Dann rufe ich den Imam an«, sagte der Amtsarzt. Er spielte ein paar Töne auf seiner Trompete. »Der Imam ist tot«, sagte ich leise. »Aber Sie können sich an seinen Sekretär wenden.« »Wie meinen?« Dr. Besherati schaute mich verblüfft an. »Er wurde heute nachmittag ermordet. Nachdem ich sein Arbeitszimmer verlassen hatte.« »Möge der Segen Allahs auf ihm ruhen und Frieden seiner Seele!« sagte er, dann murmelte er kurz vor sich hin. Vermutlich betete er. »Das ist ja schrecklich. Eine grauenhafte Sache. Ist der Mörder schon gefaßt?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht.« »Ich hoffe, er wird in Stücke gerissen«, sagte Dr. Besherati. »Wegen Khalid Maxwells Autopsie …« Ich reichte ihm die geschriebene Anweisung von der Hand des toten Dr. Abd arRazzaq. Er legte die Trompete wieder auf den Boden und besah sich das Dokument. »Ja, selbstverständlich. Warum bestehen Sie eigentlich auf dieser Untersuchung?« Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Zuerst hörte er mir mit einem abwesenden Gesichtsausdruck zu, aber als der Name Friedlander Beis fiel, war er ganz Ohr. Papa wirkt oft magisch auf manche Zeitgenossen. Am Schluß stand Dr. Besherati auf und reichte mir über den Tisch hinweg die Hand. »Bitte grüßen sie Friedlander Bei von mir«, sagte er nervös. »Ich werde die Exhumierung persönlich
überwachen. Heute noch wird damit begonnen, Inshallah. Was dann die eigentliche Autopsie betrifft, sie wird morgen früh um sieben Uhr durchgeführt. Ich mag es, wenn die meiste Arbeit vor der Mittagshitze getan ist. Sie können sich ja denken, warum.« »Selbstverständlich.« »Wollen Sie bei der Autopsie zugegen sein?« Ich kaute auf meinen Lippen und dachte nach. »Wie lange wird sie dauern?« Der Amtsarzt zuckte die Achseln. »Ein paar Stunden.« Dr. Besheratis Ruf wies ihn als jemanden aus, dem Friedlander Bei und ich trauen konnten. Aber ich wollte ihm Gelegenheit geben, dieses Vertrauen unter Beweis zu stellen. »Dann komme ich gegen neun Uhr vorbei, und Sie geben mir dann einen Bericht. Falls es etwas zu zeigen gibt, zeigen Sie es mir dann. Ansonsten fällt mir kein Grund ein, warum ich Ihnen im Weg herumstehen sollte.« »Das versteh' ich«, sagte er, als er mich am Arm faßte und mich persönlich durch die Holztür zurück in die ›Halle der Schrecken‹ führte. Ich drängte mich an ihm vorbei, um möglichst schnell ins äußere Wartezimmer zu kommen. »Ich weiß es zu schätzen, daß sie mir Ihre kostbare Zeit opfern«, sagte ich. »Danke!« Er winkte ab. »Nicht der Rede wert. Friedlander Bei hat mir öfter als nur einmal geholfen. Vielleicht ließe es sich morgen einrichten, daß ich Ihnen, wenn wir mit Maxwell fertig sind, die Einrichtungen meines kleinen Reiches demonstriere?« Ich starrte ihn entgeistert an. »Mal sehen«, brachte ich gerade noch heraus.
Er zückte sein Taschentuch und putzte sich die Nase. »Verstehe, verstehe voll und ganz. Seit zwanzig Jahren bin ich nun hier, und ich hasse es wie am ersten Tag.« Er schüttelte den Kopf. Wieder draußen, schnappte ich nach frischer Luft wie ein Ertrinkender. Noch nie hatte ich ein paar Drinks so nötig wie jetzt. Als ich die Promenade hinaufging, vernahm ich um mich herum eine Menge Pfiffe. Ich lächelte. Meine Schutzengel taten ihre Arbeit. Es war früh am Abend, und die Clubs und Cafés begannen sich zu füllen. Einige nervöse Touristen waren unterwegs, die sich fragten, ob sie mit ihrem Leben spielten, wenn sie irgendwo saßen und ein Bier tranken. Wahrscheinlich fanden sie es heraus – auf dem harten Weg. Die Nachtschicht hatte gerade übernommen, als ich Chiris Club betrat. Es ging mir sofort besser. Kandy war auf der Bühne und tanzte dynamisch zu einem Sikh-Propagandalied. Eine Musikrichtung, die mir gar nicht schnell genug aus der Mode kommen konnte. »Jambo, Herr Chef!« rief Chiri und ließ mir ein strahlendes Lächeln zukommen. »Wie geht's, Liebling«, begrüßte ich sie. Ich setzte mich an das hintere Ende der Theke. Chiri mischte einen Weißen Tod zusammen und brachte ihn mir. »Bereit für eine weitere wunderbare, exotische Nacht auf der Promenade?« sagte sie, warf einen Korkuntersatz vor mich auf die Theke und stellte den Drink darauf ab. Ich runzelte die Stirn. »Die sind weder wunderbar noch exotisch. Stets dieselbe langweilige Musik und dieselben gesichtslo-
sen Kunden.« Chiri nickte. »Das Geld sieht auch immer gleich aus, aber deshalb werfe ich es nicht zum Bett raus.« Ich sah mich im Club um. Meine drei Kumpel, Jacques, Saied, der Halb-Hadschi und Mahmoud saßen an einem Tisch vorne an der Theke und spielten Karten. Das war ungewöhnlich, weil der Halb-Hadschi den Tänzerinnen nichts abgewinnen konnte und Jacques schon beinahe militant heterosexuell war und es kaum über sich bringen konnte, mit den Debs und Geschlechtsumwandlungen auch nur zu sprechen, und Mahmoud – so weit es mir bekannt war – überhaupt keine sexuellen Vorlieben hatte. Deshalb hingen sie die meiste Zeit im Café Solace herum oder im Patio bei Gargotier. Ich ging hinüber zu ihnen, um sie in meinem bescheidenen Lokal willkommen zu heißen. »Wie geht's euch denn?« erkundigte ich mich und zog mir einen Stuhl her. »Gut«, erklärte Mahmoud. »Sag mal«, fing Jacques an und studierte aufmerksam sein Blatt, »was war das eigentlich neulich bei Frenchy für ein Trubel mit dem Mädchen, Theoni?« Ich kratzte mich am Kopf. »Du meinst, als sie aufsprang und losschrie? Na ja, der Kunde, bei dem sie sich solche Mühe gegeben hatte, gab ihr doch ein Geschenk, erinnerst du dich? Als er Frenchys Club verließ, packte sie es aus, und es stellte sich heraus, daß es ein Fotoalbum mit einer Menge niedlicher Babyfotos war und eine Art Tagebuch über die ersten Monate. Es stellte sich heraus, daß der Typ Theonis wirklicher Vater war. Seine Frau verschwand mit Theoni, als sie erst acht Monate alt war. Seither suchte sie ihr Vater. Und es kostete ihn eine
Menge Zeit und Geld, sie wiederzufinden.« Der Halb-Hadschi schüttelte den Kopf. »Muß eine ganz schöne Überraschung für Theoni gewesen sein.« »Ja, es war ihr sehr peinlich, daß ihr Vater sah, wo sie arbeitet. Er gab ihr hundert Kiam Trinkgeld und versprach ihr, bald wiederzukommen. Jetzt ist ihr auch klar, warum es ihm so unangenehm war, als sie ihn anheizen wollte.« »Wir versuchen hier Karten zu spielen, Maghrebiner«, mischte sich Mahmoud ein. Er war so einfühlsam wie eine rostige Rasierklinge. »Habe gehört, ihr wollt den toten Bullen ausgraben.« Ich war überrascht, wie schnell sich das rumgesprochen hatte. »Was hältst du davon?« fragte ich ihn. Mahmoud sah mich kurz an. »Ist mir völlig egal.« »Was spielt ihr denn?« erkundigte ich mich. »Bourré«, sagte Saied. »Wir bringen's dem Christen bei.« »Bisher ein sehr teurer Unterricht«, sagte Jacques. Bourré ist ein ruhiges, täuschend einfaches Spiel. Ich kenne kein anderes Kartenspiel, bei dem man so viel Geld so schnell verlieren kann. Nicht einmal beim amerikanischen Poker ist das möglich. Ich kibitzte eine Weile. Anscheinend war allen drei die Exhumierung ziemlich egal. Darüber war ich froh. »Hat einer von euch in letzter Zeit Fuad gesehen?« fragte ich. Jacques sah hoch. »In den letzten Tagen nicht. Um was geht's?« »Der Scheck war gestohlen«, erklärte ich. »Ha! Und die Sache blieb an dir hängen, stimmt's? Tut mir leid, Marîd. Das konnte ich nicht wissen.« »Klar, Jacques«, knurrte ich.
»Von was redet ihr?« wollte Saied wissen. Jacques legte los und erzählte ihnen die ganze Geschichte in epischer Breite, mit vielen rhetorischen Mätzchen und Tonfallvariationen und Übertreibungen. Am Schluß stand ich da wie der letzte Idiot. Seine eigene Rolle bei der Affäre spielte er natürlich herunter. Die drei brachen in brüllendes Gelächter aus. »Du hast dich von Fuad über den Tisch ziehen lassen?« schnappte Mahmoud nach Luft. »Fuad? Das wird dir dein ganzes Leben lang nachhängen. Die Geschichte muß ich unbedingt weitererzählen!« Ich sagte kein Wort. Mir war klar, daß ich mir das nun lange anhören konnte, wenn ich Fuad nicht ausfindig machte und für diese Dummheit bezahlen ließ. Im Augenblick konnte ich nichts machen, außer wieder aufzustehen und zurück an meinen Platz an der Theke zu gehen. Auf dem Weg dorthin hielt Jacques mich auf: »Du hast jetzt ein Datalink-Terminal hier, hast du's schon gemerkt, Marîd? Und ich bekomme noch Geld von dir, für die anderen, die ich bisher verkauft habe. Hundert Kiam pro Stück, hast du gesagt.« »Schau mal mit den unterzeichneten Lieferverträgen vorbei«, antwortete ich kühl. Ich preßte die Limonenspalte aus und nippte am Weißen Tod. Chiri beugte sich zu mir über die Theke. »Du läßt Khalid Maxwell exhumieren?« »Könnte was herauskommen dabei.« Sie schüttelte den Kopf. »Schlimm genug. Die Familie hat eh schon so viel durchgemacht.« »Ja, das ist wahr.« Ich trank nochmal von der Gin-BingaraMischung.
»Was soll das mit Fuad?« wollte sie wissen. »Vergiß es. Aber wenn du ihn siehst, sag mir sofort Bescheid. Er schuldet mir etwas Geld, das ist alles.« Chiri nickte und ging ans andere Ende der Theke, wo ein Kunde Platz genommen hatte. Ich sah Kandy zu, wie sie ihr letztes Lied über die Bühne brachte. Als ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, drehte ich mich um und sah Yasmin und Pualani. »Wie war dein Tag, Geliebter?« erkundigte sich Yasmin. »Ging so.« Ich hatte keine Lust, darüber zu reden. Pualani lächelte. »Yasmin hat erzählt, ihr beide heiratet nächste Woche. Glückwunsch.« »Was?« entgegnete ich verblüfft. »Was soll das mit nächster Woche? Nicht einmal einen offiziellen Heiratsantrag habe ich ihr gemacht. Ich habe nur gesagt, daß das eine Möglichkeit wäre. Da gibt es noch einiges nachzudenken. Und ich habe im Augenblick eine Menge Probleme am Hals. Und dann muß ich noch mit Indihar sprechen und mit Friedlander Bei …« »Ups«, sagte Pualani und schaute, daß sie weg kam. »Hast du mir heute morgen was vorgemacht?« fragte Yasmin. »Hast du versucht, ungeschoren aus meiner Wohnung zu kommen, ohne die Prügel, die du dir verdient hast?« »Nein!« widersprach ich verärgert. »Ich habe nur gesagt, daß wir möglicherweise ganz gut zusammenpassen. Aber ich war nicht so weit, ein Datum festzulegen oder so.« Yasmin war verletzt. »Während du dich rumtreibst und dir über alles mögliche klar werden mußt, habe ich anderes zu tun – ich kann nicht ständig hier rumhängen, woanders warten auch noch Leute auf mich. Verstehst du? Ruf mich an, wenn du
mit deinen sogenannten Problemen durch bist.« Damit ging sie, den Rücken demonstrativ gerade, und setzte sich zu dem neuen Kunden. Sie legte die Hand in seinen Schoß. Ich bestellte mir noch einen Drink. Ich blieb lange sitzen, trank und plauderte mit Chiri und mit Lily, der hübschen Geschlechtsumwandlung, die immer vorschlug, wir sollten uns zusammentun. Um elf Uhr klingelte mein Telefon. »Hallo?« meldete ich mich. »Audran? Hier ist Kenneth. Sie erinnern sich an mich.« »Aber klar, der Augapfel Abu Adils, nicht wahr? Scheich Redas kleiner Liebling. Was gibt's? Schmeißen Sie gerade eine Junggesellenparty, zu der ich Ihnen ein paar Jungs rüberschicken soll?« »Ich nehme Sie gar nicht zur Kenntnis, Audran. Das tue ich nie.« Ich war mir sicher, daß Kenneth mich mit einer geradezu irrationalen Intensivität haßte. »Warum rufen Sie an?« fragte ich. »Am Freitag nachmittag halten die Jaish eine Parade ab, um gegen den grausamen Mord an Imam Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq zu demonstrieren. Scheich Reda wünscht, daß Sie in Uniform erscheinen, um in diesem historischen Augenblick das Wort an die Jaish zu richten und um die Einheit zu treffen, die Ihrem Befehl untersteht.« »Woher wissen Sie die Sache mit Abd ar-Razzaq? Hajjar sagte, er würde bis morgen niemandem davon mitteilen.« »Scheich Reda ist kein ›niemand‹. Das sollte Ihnen bekannt sein.« »Da haben Sie recht.« Kenneth hielt inne. »Des weiteren soll ich Ihnen auf den
Wunsch Scheich Redas hin mitteilen, daß er absolut gegen die Exhumierung Khalid Maxwells ist. Auf die Gefahr hin, bedrohend zu wirken, muß ich diese Gefühle Scheich Redas an Sie weitergeben. Er sagte, wenn Sie an dieser Autopsie festhalten, werden Sie sich damit für immer seinen Haß zuziehen. Das sollte man nicht leichthin abtun.« Ich lachte. »Kenny, hören Sie mal, sind wir nicht bereits grimmige Gegner? Hassen wir uns nicht bereits bis aufs äußerste? Und haben sich Friedlander Bei und Abu Adil nicht längst gegenseitig im Würgegriff? Was macht da noch eine kleine Autopsie aus zwischen solchen Erzfeinden?« »In Ordnung, Sie dummes Arschloch«, sagt Kenneth schroff. »Ich habe meinen Auftrag erledigt und die Nachrichten weitergegeben. Freitag, in Uniform, am Boulevard il-Jameel, vor der Shimaal-Moschee. Es ist besser, Sie tauchen auf.« Dann legte er auf. Ich steckte das Telefon zurück an den Gürtel. Die zweite Runde durchs Dorf war damit erledigt. Ich sah Chiri an, und sie hielt mir ein Glas hin. Die lange Nacht war noch nicht zu Ende.
15. Kapitel
Diese Nacht schlief ich gute vier Stunden. Nach der kurzen Nacht zuvor fühlte ich mich ausgelaugt und ziemlich am Ende. Als mich mein Schlaf-Daddy um sieben Uhr dreißig weckte, schwang ich die Beine aus dem Bett und auf den Teppich. Ich legte den Kopf in die Hände und atmete ein paarmal tief durch. Mir war wirklich nicht nach Aufstehen zumute und auch nicht danach, mich kopfüber in die Schlacht zu stürzen, für die sich die feindlichen Armeen bereits aufgestellt hatten. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Ich hatte noch eine Stunde, bis Kmuzu mich zu meinem Treffen mit dem Leichenbeschauer in den Budayin fahren würde. Wenn ich mich in fünf Minuten duschte, anzog und frühstückte, konnte ich noch bis halb neun schlafen. Ich fluchte leise vor mich hin und stand auf. In meinem Rücken knackste es. An so etwas konnte ich mich überhaupt nicht erinnern. Vielleicht wurde ich zu alt, um die ganze Nacht aufzubleiben, zu trinken und mich mit Leuten anzulegen. Eine deprimierende Vorstellung. Ich konnte nicht richtig aus den Augen sehen, schaffte es aber dennoch ins Bad, wo ich die Dusche einschaltete. Fünf Minuten später merkte ich, daß ich mit offenen Augen nach oben in den heißen Strahl sah. Ich war im Stehen eingeschlafen. Ich griff nach der Seife und seifte mich ein, anschließend drehte ich mich langsam und ließ mich von dem harten Wasserstrahl abbrausen. Ich trocknete mich ab und zog eine saubere, weiße Gallebeya und darüber einen roten Umhang an. Was das Frühs-
tück anging, mußte ich eine Entscheidung treffen. Schließlich ging's dann in die Kammer des Schreckens. Vielleicht konnte ich mit dem Essen bis später warten. Kmuzu sah durch mich hindurch, das soll neutral wirken, bedeutet aber äußerste Mißbilligung. »Ihr wart ziemlich betrunken letzte Nacht, yaa Sidi«, sagte er, als er die Platte mit den Eiern und den Lammpasteten vor mir abstellte. »Da mußt du jemand anderen meinen, Kmuzu.« Beim Anblick des Essens vor mir wurde mir ganz unwohl. Kein Lamm, nicht jetzt. Kmuzu stand neben meinem Stuhl und verschränkte die muskulösen Arme. »Würde es Sie erzürnen, wenn ich Ihnen eine Beobachtung mitteilte?« fragte er. Nichts, was ich sagen konnte, würde ihn davon abhalten. »Nein, bitte, schieß los!« »Ihr wart in letzter Zeit nachlässig, was Eure religiösen Pflichten angeht, yaa Sidi.« Ich drehte mich um und sah in sein hübsches, dunkles Gesicht. »Was, zum Teufel, schert dich das? Wir haben nicht einmal denselben Glauben, wie du mich stets zu erinnern pflegst.« »Jeder Glaube ist besser als überhaupt kein Glaube.« Ich lachte. »Da bin ich nicht so sicher. Ich könnte ein paar …« »Ihr wißt, was ich meine. Liegt Euer Selbstwertgefühl wieder so darnieder, daß Ihr Euch nicht würdig genug fühlt, um zu beten? Das ist ein Trugschluß, yaa Sidi.« Ich stand auf und brummte: »Das geht dich nichts an.« Zurück im Schlafzimmer, suchte ich nach meinen Moddys und
Daddys. Das Frühstück hatte ich nicht angerührt. Die neurale Software war im Schlafzimmer nicht zu finden, also suchte ich im Salon danach. Wo sie auch nicht war. Schließlich entdeckte ich sie unter einem Handtuch auf dem Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Ich wühlte in den kleinen Plastikplättchen. Im Laufe der Zeit hatte ich eine ansehnliche Sammlung zusammenbekommen. Aber jetzt wollte ich die ganz besonderen, die ich bekommen hatte, als ich mir meinen Schädel hatte tunen lassen. Das waren die Daddys für meine spezielle zweite Implantation, die Daddys, die unangenehme Körpersignale unterdrückten. Diese Software hatte mir das Leben in der Rub Al Khali gerettet. Ich steckte sie mir rein und atmete vor Erleichterung auf. Keine Schläfrigkeit plagte mich mehr und kein Hunger. Und ein Daddy nahm sich der zunehmenden Angst an. »In Ordnung, Kmuzu«, sagte ich fröhlich. »Packen wir's an! Es gibt eine Menge zu tun.« »Gut, yaa Sidi, aber was ist mit dem Essen hier?« Ich zuckte die Achseln. »In Eritrea hungern die Menschen. Schick' es ihnen.« Wie üblich hatte Kmuzu keinen Sinn für diese Art von Humor. Ich beließ es dabei, sah nach, ob ich die Schlüssel dabei hatte, und ging hinaus auf den Gang. Ich wartete nicht auf ihn, ich wußte ja, er würde gleich kommen, sondern ging gleich nach unten. Als er den Wagen angelassen hatte und beim Haupteingang vorfuhr, stieg ich ein, und wir fuhren schweigend in den Budayin. Am Osttor ließ er mich aussteigen. Wieder hatte ich viel zu erledigen, wozu ich Kmuzu nicht brauchte, also schickte ich ihn
nach Hause. Ich sagte ihm, ich würde ihn anrufen, wenn ich das Auto brauchte. Manchmal ist es großartig, einen Sklaven zu haben. Als ich in die Leichenhalle kam, wartete eine unangenehme Überraschung auf mich. Dr. Besherati hatte noch nicht einmal mit Khalid Maxwells Leiche angefangen. Er sah hoch zu mir und entschuldigte sich: »Herr Audran, verzeihen sie mir, ich bin heute morgen etwas spät dran. Letzte Nacht und heute früh war ziemlich viel los. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Normalerweise kommen die meisten Morde während der heißen Monate rein.« Ich beschränkte mich auf ein »mhm«. Kaum zwei Minuten hier, hatte ich schon Nasen- und Augenprobleme mit dem Formaldehyd. Die Unterdrückungsdaddys halfen dabei überhaupt nichts. Ich sah zu, wie die Assistenten des Leichenbeschauers zu einem der zwölf Leichenfächer gingen, es öffneten und Maxwells Leiche heraushoben. Etwas ungeschickt hievten sie sie auf einen der zwei Arbeitstische. Auf dem anderen lag bereits eine Leiche, an der bereits mit der Zerlegung begonnen worden war. Dr. Besherati zog sich das eine Paar Gummihandschuhe aus und ein anderes an. »Schon mal bei einer Autopsie dabeigewesen?« fragte er? Er schien in bester Laune zu sein. »Nein.« Mich fröstelte. »Sie können nach draußen gehen, wenn Ihnen komisch wird.« Er griff nach einem langen schwarzen Schlauch und drehte einen Wasserhahn auf. »Das ist ein besonderer Fall«, erklärte er, während er Maxwell abspülte. »Er war schon ein paar Wochen unter der Erde, dadurch erfahren wir weniger als
bei einer frischen Leiche.« Es stank entsetzlich, und das Wasser aus dem Schlauch richtete dagegen nichts aus. Mich würgte es. Einer der Assistenten sah mich an und lachte. »Falls Sie das hier für schlimm halten, dann warten Sie nur, bis wir ihn aufschneiden.« Dr. Besherati ging darauf nicht ein. »Im offiziellen Polizeibericht steht, die Todesursache sei ein aus nächster Nähe abgefeuerter Schuß aus einer Schockpistole. Wäre er aus einer größeren Entfernung abgefeuert worden, wäre nur die Nerven- und Muskelfunktion für eine Weile beeinträchtigt gewesen, so daß er sich nicht mehr hätte bewegen können. Doch offensichtlich wurde der Schuß ganz nahe an der Brust abgefeuert. Das führt in der Regel zum sofortigen Herzstillstand.« Während er so dozierte, wählte er ein großes Skalpell aus. »Bismillah«, murmelte er und setzte von den Schlüsselbeinen bis zum Brustbein einen Y-förmigen Schnitt, den er dann bis zur Leistengegend weiterführte. Ich mußte einfach wegschauen, als die beiden Assistenten Haut und Gewebe anhoben und samt den Muskeln von den Knochen ablösten. Dann hörte ich es knacken, als mit irgendeinem Instrument der Brustkorb aufgebrochen wurde. Als der Brustkorb dann aus der Leiche entfernt war, sah das Loch in der Brust nur noch aus wie eine Illustration in einem Biologiebuch für Anfänger: gar nicht mal so schlimm. Mit einem hatten die beiden allerdings recht behalten: Der Gestank steigerte sich ins Unerträgliche. Und das würde sich so schnell nicht ändern. Dr. Besherati spritzte die Leiche mit dem Schlauch noch etwas ab. Dabei blickte er zu mir herüber. »Im Polizeiprotokoll habe ich übrigens gelesen, daß Ihr Finger am Abzug der
Schockpistole gewesen sein soll.« Kopfschüttelnd erwiderte ich ungehalten: »Ich war nicht einmal …« Er hob beschwichtigend die Hand. »Ich habe nichts mit Strafverfolgung oder Bestrafung zu tun. Ihre Schuld oder Unschuld ist vor Gericht noch nicht festgestellt worden. Persönlich habe ich keine Meinung zu diesem Fall. Allerdings möchte ich meinen, daß Sie im Falle der Schuld nicht gar so wild auf die Autopsie sein dürften.« Ich ließ mir das durch den Kopf gehen und fragte dann: »Werden wir denn viel an brauchbarer Information finden?« »Wie ich schon sagte: Mehr wäre zu holen gewesen, wenn er nicht die ganze Zeit in einem Sarg unter der Erde gelegen hätte. Zu allererst ist sein Blut verfault. Es ist jetzt schwarz und zähflüssig, und im Sinne der Gerichtsmedizin fast wertlos. Aber andererseits haben Sie noch Glück gehabt, daß der Mann eine arme Haut war. Weil es sich seine Familie nicht leisten konnte, den Körper einbalsamieren zu lassen. Darum werden wir möglicherweise noch zwei oder drei Dinge aufspüren, die uns etwas über die Tat verraten.« Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Tisch. Stück für Stück holte jetzt einer der Assistenten die inneren Organe aus der Bauchhöhle. Khalid Maxwells eingeschrumpelten Augäpfel starrten mich an. Das Haar war strähnig und wie Stroh, ohne Glanz und Spannkraft. Auch die Haut war im Sarg stark eingetrocknet. Wahrscheinlich war er zum Zeitpunkt des Mordes um die Dreißig gewesen. Jetzt hatte er das Gesicht eines achtzigjährigen Mannes. Es begann sich alles leicht um mich zu drehen, als würde ich träumen.
Der zweite Assistent sah mich an und gähnte. »Möchten Sie Musik hören?« fragte er und langte nach hinten, um ein billiges Holosystem einzuschalten. Das Ding spielte natürlich den gottverdammten Sikh-Propagandasong, den auch Kandy immer auflegen ließ, wenn sie zum Tanzen an der Reihe war. »Nein, bitte, schalten Sie das aus«, forderte ich. Der Assistent zuckte die Achseln und drückte den Aus-Knopf. Sein Kollege trennte inzwischen die Organe voneinander, vermaß und wog sie, bis dann Dr. Besherati ein dünnes Scheibchen abschnitt, in ein Reagenzglas legte und dieses luftdicht verschloß. Die übrigen Fleisch- und Organreste wurden auf einem Nebentisch achtlos auf einen Haufen geworfen. Dem Herzen schenkte der Gerichtsmediziner allerdings seine ganze Aufmerksamkeit. In einem eher beiläufigen Ton sagte er: »Ich neige der Meinung zu, daß die Entladung einer Schockpistole am Herzen ein ganz bestimmtes, einmaliges Verzerrungsmuster hinterläßt. Wenn diese Theorie dereinst allgemein akzeptiert ist, werden wir die Schockpistole anhand dieses Musters genauso sicher identifizieren können, wie heute ein Ballistik-Labor bereits die Geschosse aus ein- und derselben Projektilwaffe bestimmen kann.« Dabei zerschnipselte er das Herz in salamidünne Scheibchen zur späteren Begutachtung. Ich hob die Brauen. »Was wollen Sie in diesem Herzgewebe finden?« Dr. Besherati blickte nicht einmal auf. »Das Muster besteht aus explodierten und nicht explodierten Zellen. Wie gesagt, ich bin mir hundertprozentig sicher, daß jede Schockpistole ihren Fingerabdruck, wenn man so sagen will, hinterläßt.« »Aber ein Gericht erkennt dies noch nicht als Beweismittel
an?« »Noch nicht, aber es wird dazu kommen. Hoffe ich jedenfalls. Es würde meinen Job und den Job der Polizei und den der Rechtsbeistände sehr erleichtern.« Dr. Besherati streckte sich und ließ dann die Schultern kreisen. »Mir tut schon wieder das Kreuz weh. In Ordnung, fangen wir mit dem Schädel an.« Ein Assistent setzt einen Schnitt am Hinterkopf entlang der Haarlinie von einem Ohr zum anderen. Der andere zog Maxwells Skalp auf groteske Weise nach vorne ab, bis der dem Leichnam über das Gesicht fiel. Derweilen wählte der Amtsarzt eine kleine Elektrosäge aus, die nach ihrer Inbetriebnahme den Raum mit einem Sirren erfüllte, das mir die Haare zu Berge stehen ließ. Es wurde noch schlimmer, als der Doktor anfing, den Schädel kreisförmig aufzuschneiden. Nachdem Dr. Besherati die Säge abgeschaltet hatte, hob er vorsichtig die Schädeldecke ab und untersuchte sie sorgfältig auf Risse oder andere Zeichen von Gewalteinwirkung. Dann untersuchte er das Gehirn, erst an Ort und Stelle, schließlich ließ er es behutsam auf den Untersuchungstisch glubschen. Wie das Herz, wurde auch das Hirn in feine Scheibchen geschnitten und in Glasschälchen verpackt. Endlich war die Autopsie vorbei. Ich blickte auf meine Uhr; neunzig Minuten waren vorbeigeflogen, während ich dem Doktor in einer Art grauenerregenden Faszination zugesehen hatte. Dr. Besherati nahm seine Proben und verließ die ›Halle der Schrecken‹ durch einen Torbogen. Ich sah derweilen den Assistenten beim Aufräumen zu. Sie nahmen einfach einen Plastikbeutel und stopften alle Organe,
auch das Gehirn, achtlos hinein. Der Beutel wurde mit einem Stück Draht verschlossen und in Maxwells Brusthöhle gestopft, die Rippen zusammengedrückt und fertig. Jetzt wurde die Leiche mit großen und schlampigen Stichen wieder zugenäht. Dann setzten sie dem Schädel seine Decke wieder auf, zogen den Skalp einigermaßen darüber und steckten die Kopfhaut am Nacken behelfsmäßig fest. Es erschien mir als eine recht mechanische und unwürdige Art, wie hier mit einem tüchtigen Mann nach seinem Tod umgegangen wurde. Aber mußte hier nicht alles mechanisch und unwürdig sein, bei zwanzig oder mehr Autopsien, die vor dem Abendessen erledigt werden mußten? »Wie geht es Ihnen?« fragte ein Assistent mit einem leichten Grinsen im Gesicht. »Sie wollen nicht kotzen oder sowas?« »Mir geht es gut. Aber was passiert jetzt mit ihm?« fragte ich und deutete auf Maxwells Leiche. »Ab in den Sarg, ab ins Loch, noch vor dem Morgengebet muß alles vorbei sein. Machen Sie sich um ihn keine Sorgen. Der hat nichts gespürt.« Mich fröstelte. »Möge der Segen Allahs mit ihm sein und Friede seiner Seele.« »Was immer Sie sagen«, stimmte der Assistent gleichgültig zu. Dr. Besherati rief von dem Gewölbe aus nach mir: »Kommen Sie herüber, dann zeige ich Ihnen, was ich mit Muster meinte.« Ich folgte ihm in einen hohen Arbeitsraum. Das Licht war hier besser, aber der Gestank schien noch eine Idee bestialischer als draußen. Rundum füllten Regale die Wände aus. Jedes Regalbrett stand in Viererreihen voll mit Plastikbehältnissen;
von der Decke bis zum Boden gab es keine Lücke. Dr. Besherati bemerkte meinen Blick. »Wenn ich das Zeug nur loswerden könnte«, sagte er traurig. »Was ist das eigentlich?« »Proben. Wir sind gesetzlich verpflichtet, jede Gewebeprobe zehn Jahre lang aufzubewahren. So Dinge wie die Herz- oder Gehirnproben, die ich gerade Maxwell entnommen habe. Aber das Formaldehyd stellt ein Problem dar, auch wenn die zehn Jahre um sind. Darum läßt uns die Stadtverwaltung die alten Proben weder verbrennen noch beerdigen, noch hinunterspülen – wegen Vergiftungsgefahr. Mir geht langsam der Platz aus hier drinnen.« Ich ließ meinen Blick über die Reihen gleiten. »Was wollen Sie also damit anstellen?« Er schüttelte den Kopf. »Was weiß ich. Wir überlegen, ob wir ein Kühlhaus mieten sollen. Die Stadt ist dafür zuständig. Aber die Stadt schert sich einen Dreck um mein Büro und wie es darin aussieht. Die würden uns hier unten am liebsten vergessen.« »Wenn ich den Emir treffe, werde ich ein Wort für Sie einlegen.« »Das würden Sie tun?« fragte er hoffnungsfroh. »Wie auch immer, blicken sie hier durch.« Er deutete auf ein Mikroskop, das wohl neu war, als Dr. Besherati zum erstenmal davon träumte, die medizinische Fakultät der Uni zu besuchen. Ich blinzelte durch das Okular und sah blutiges Zellgewebe. Mehr nicht. »Was soll ich mir ansehen?« »Das hier ist ein wenig Muskelgewebe von Khalid Maxwell.
Sehen Sie das unregelmäßige Muster, von dem ich vorhin gesprochen habe?« Da ich keine Ahnung hatte, wie gesundes Zellmaterial aussieht, konnte ich mir auch nicht vorstellen, wie der Treffer aus der Schockpistole das Gewebe verändert haben könnte. Ich sagte: »Ich fürchte nein. Ich muß einfach Ihr Urteil anerkennen. Denn Sie sehen ja etwas, oder? Und falls wir irgendwo Gewebe auftreiben könnten, das die gleichen Veränderungen nach Beschuß aufweist, dann würden Sie vor Gericht beschwören, daß dieselbe Pistole benutzt worden ist?« »Das könnte ich zwar auf meinen Eid nehmen«, sagte er bedächtig, »aber es würde vor Gericht niemandem helfen, weil es als Beweismittel nicht anerkannt ist.« »Wir haben hier etwas, und wir werden es zu verwenden wissen«, sagte ich wie in Gedanken. Während er mich durch die ›Halle der Schrecken‹ und den Vorraum hinausbegleitete, sagte Dr. Besherati noch: »Hoffentlich fällt Ihnen etwas ein. Hoffentlich können Sie Ihren Namen reinwaschen. Ich werde mich in Ihrem Fall besonders anstrengen und wahrscheinlich bereits heute abend erste Ergebnisse haben. Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich wissen. Ich stecke gewöhnlich zwölf bis sechzehn Stunden hier unten und das sechs Tage die Woche.« Ich sah mich um und meinte: »Verdammt viel Zeit in einer Umgebung wie dieser.« Er zuckte nur die Achseln. »Außer Khalid Maxwell warten noch sieben Mordopfer auf ihre Untersuchung. Selbst nach all diesen Jahren frage ich mich bei jeder Leiche aufs Neue, wer die arme Seele war, wie sie gelebt hat, welche schreckliche Ge-
schichte dazu geführt hat, daß sie auf meinem Tisch zu liegen kommt. Für mich sind es alles Menschen. Menschen, Herr Audran, keine steifen Leichen. Sie verdienen meine ganze Arbeitskraft. Für manche bin ich die einzige Möglichkeit, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt. Die letzte Möglichkeit.« »Hier leisten sie alle vielleicht der Gemeinschaft einen letzten Dienst: Wenn es Ihnen gelingen sollte, die Mörder zu identifizieren, dann kann die Gesellschaft besser vor ihnen geschützt werden.« »Ja, vielleicht.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Manchmal ist Gerechtigkeit das Wichtigste auf dieser Welt.« Ich dankte Dr. Besherati für seine Hilfe und verließ die Halle. Er schien seine Arbeit im Grunde zu lieben und zugleich die Bedingungen zu hassen, unter denen er sie verrichten mußte. Auf dem Weg aus dem Budayin kam mir plötzlich der Gedanke, daß ich eines Tages so wie Khalid Maxwell enden könnte, mit meinen Innereien über einen Tisch aus rostfreiem Stahl verteilt und Herz und Hirn in Scheiben geschnitten und in kleinen weißen Plastikbehältern verstaut. Ich war froh, daß ich unterwegs war, sogar wenn es zu Hajjars Polizeiwache ging. Es war nicht weit, durch das Osttor hindurch, über den Boulevard il-Jameel, ein paar Straßen weiter unten im Süden, an der Ecke zur Walid-al-Akbar-Straße. Doch leider wurde ich zu einem kleinen Umweg gezwungen. An der Straßenkante stand Papas langer, schwarzer Wagen und davor, auf dem Trottoir, Tariq, als hätte er besonders scharf nach mir Ausschau gehalten. Er sah nicht gerade fröhlich aus. »Friedlander Bei möchte Euch sprechen, Scheich Marîd«, sagte er. Er hielt die Tür zum Fond auf, und ich stieg ein. Ich
hatte erwartet, daß Papa im Wagen säße, aber ich war allein. »Warum hat er nicht Kmuzu geschickt, Tariq?« fragte ich. Er blieb mir die Antwort schuldig, schlug die Tür zu und ging um den Wagen herum. Nachdem er sich hinter das Steuer gesetzt hatte, bahnten wir uns unseren Weg durch den Verkehr. Doch statt zur Residenz zu fahren, brachte mich Tariq in den Osten der Stadt. Die Gegend, durch die wir fuhren, kannte ich nicht. »Wohin fahren wir?« wollte ich wissen. Keine Antwort. Oh, oh. Ich lehnte mich zurück und begann mich zu fragen, was hier los war. Ein grauenvoller, gräßlicher Verdacht stieg in mir auf. Hier war ich schon einmal gewesen, vor langer Zeit. Mein Verdacht verdichtete sich, als wir durch die ärmlichen östlichen Vorstädte kurvten. Der Blocker-Daddy arbeitete hart, meine Angst wegzublocken, doch meine Hände waren dennoch schweißnaß. Schließlich bog Tariq in eine geteerte Einfahrt hinter einem blaßgrün gestrichenen Motel ein. Sofort erkannte ich wieder das kleine, handgeschriebene Schild MOTEL BELEGT wieder. Tariq parkte das Auto und machte mir die Tür auf. »Zimmer 19«, teilte er mir mit. »Ich weiß«, entgegnete ich, »ich kenne den Weg.« Einer der Sprechenden Felsen stand an der Tür zu Zimmer 19. Mit leerem Gesichtsausdruck sah er auf mich herunter. Gegen diesen Riesen war ich machtlos, deshalb wartete ich einfach, bis er sich entschieden hatte, was mit mir geschehen solle. Schließlich knurrte er und trat beiseite, gerade weit genug, daß ich mich an ihm vorbeizwängen konnte.
Drinnen sah das Zimmer noch gleich aus. Hier war nichts verändert worden, seit meinem letzten Besuch, als ich zum erstenmal Friedlander Beis Aufmerksamkeit erregt hatte und in seine Pläne und Intrigen eingeplant wurde. Die Möbel waren alt und abgenutzt, ein europäisches Bett und ein Schreibtisch, ein paar Sessel mit zerschlissenen Bezügen. Und in der Mitte saß Papa an einem Klapptisch. Neben ihm stand der andere Sprechende Fels. »Mein Neffe«, begann Papa mit düsterer Miene. In seinen Augen war keine Liebe zu entdecken. »Hamdilla as-salama, yaa Scheich«, begrüßte ich ihn. »Gepriesen sei Gott, der seine Hand über Euch hält.« Aus den Augenwinkeln suchte ich nach einer Fluchtmöglichkeit. Natürlich gab es keine. »Allah yisallimak«, wünschte er mir barsch den Segen Allahs. Dabei enthielt seine Stimme soviel Zuneigung wie eine gerade abgefeuerte Kugel. Wie ich mir schon dachte, rückten die Sprechenden Felsen zu mir auf, einer stand links und einer rechts von mir. Ich sah sie an und dann wieder Papa. »Was habe ich getan, o Scheich?« flüsterte ich. Ich spürte die Hände der Sprechenden Felsen auf den Schultern. Ihr Druck wurde immer stärker, bis sie mir die Schulterknochen aufzuknacken schienen. Ohne den SchmerzblockerDaddy hätte ich laut aufgeschrien. Papa stand vom Tisch auf. »Ich habe zu Allah gebetet, du mögest einen anderen Weg einschlagen, mein Neffe«, erklärte er. »Du hast mich unaussprechlich betrübt.« Das Licht prallte von seinen Augen zurück, sie sahen aus wie schmutzige Eissplit-
ter. Doch betrübt wirkten sie nicht. »Was meint Ihr?« fragte ich. Klar wußte ich, was er meinte. Die Felsen drückten fester zu. Der auf meiner linken Seite – Habib oder Labib, ich kenne sie nie auseinander – hob meinen Arm zur Seite. Die eine Hand auf der Schulter, begann er den Arm zu drehen. »Er sollte stärker leiden«, sagte Friedlander Bei nachdenklich. »Nehmt ihm die Chips aus den Implantaten.« Der andere Fels kam Papas Auftrag nach und, ja, ich litt stärker. Ich hatte das Gefühl, daß mir der Arm ausgekugelt wurde, und stöhnte laut auf. »Weißt du, warum du hier bist, mein Neffe?« sagte Papa und trat näher. Er schaute auf mich herab und legte mir die Hand auf die Wange, die inzwischen naß war von Tränen. Der Fels hörte nicht auf, mir den Arm nach hinten zu drehen. »Nein, o Scheich«, krächzte ich. Zu mehr war ich nicht fähig. »Drogen«, erklärte Papa. »Du wurdest zu oft in der Öffentlichkeit unter dem Einfluß von Drogen gesehen. Du weißt, was ich davon halte. Du hast das heilige Wort des Propheten mißachtet, möge Allahs Segen mit ihm sein und Friede seiner Seele. Er verbietet Drogengenuß. Ich verbiete Drogengenuß.« »Ja.« Mir war klar, daß ihn der Affront gegen ihn stärker erzürnte als der Verstoß gegen unseren heiligen Glauben. »Du wurdest bereits in der Vergangenheit des öfteren verwarnt. Dies ist die letzte Verwarnung. Wenn du dein Verhalten nicht änderst, mein Neffe, wird Tariq dich wieder abholen. Aber er wird dich nicht hierher bringen. Er wird dich hinausfahren aus der Stadt, weit hinaus in die Wüste. Zurückkommen wird er ohne dich. Und dieses Mal besteht nicht die geringste
Hoffnung, daß du lebend nach Hause kommst. Tariq wird nicht so nachlässig sein wie Scheich Reda. Auch wenn du mein Enkel bist. Ich habe noch andere Enkel.« »Ja, o Scheich«, flüstere ich. Die Schmerzen waren unerträglich. »Bitte.« Er warf den Felsen einen Blick zu. Sie traten sofort einen Schritt zurück. Der Schmerz blieb. Er würde noch lange bleiben. Langsam stand ich auf, mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Warte noch einen Augenblick, mein Neffe«, fuhr Friedlander Bei fort. »Noch sind wir nicht fertig.« »Yallah«, erwiderte ich. »Tariq«, rief Papa den Fahrer herein. »Tariq, gib meinem Neffen die Waffe.« Tariq trat auf mich zu und sah mir in die Augen. Ich bildete mir ein, eine Spur von Mitgefühl zu entdecken. Das war zuvor noch nicht dagewesen. Er zog eine Nadelpistole heraus und reichte sie mir. »Was ist das für eine Pistole, o Scheich?« fragte ich. Papa zog die Brauen zusammen. »Das, mein Neffe, ist die Waffe, mit der der Imam, Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq, getötet wurde. Das sollte dich in die Lage versetzen, den Mörder zu finden.« Ich starrte auf die Nadelpistole, als sei sie ein außerirdisches Artefakt. »Wie …« »Den Rest mußt du selbst herausfinden.« Ich richtete mich auf und sah dem weißhaarigen Greis direkt in die Augen. »Wie kamt Ihr an diese Pistole?« Papa winkte ab. Anscheinend hielt er es nicht für wichtig, daß ich die Antwort darauf kannte. Ich sollte nur herausfinden,
wem sie gehörte. Damit wußte ich, daß das Gespräch vorüber war. Friedlander Beis Geduld ging zu Ende – seine Geduld mit mir und mit der Art und Weise, wie ich die Nachforschungen anstellte. Plötzlich durchzuckte mich der Gedanke, daß er womöglich log. Vielleicht war die Nadelpistole gar nicht die Mordwaffe. Doch in dem ungeheuren, komplizierten Netz aus Intrigen und Finten, das ihn und mich und Scheich Reda umgab, spielte das eventuell gar keine Rolle. Vielleicht war nur wichtig, daß die Waffe als Mordwaffe designiert worden war. Tariq half mir zum Auto. Langsam kroch ich auf den Rücksitz, die Nadelpistole gegen die Brust gepreßt. Bevor er die Tür zumachte, reichte mir Tariq noch die Blocker-Daddys. Ich sah ihn an, doch mir fehlten die Worte. Dankbar nahm ich sie und steckte sie mir rein. »Wohin soll ich Euch fahren, Scheich Marîd?« fragte Tariq, als er hinter dem Steuer Platz nahm und den Wagen anließ. Drei Möglichkeiten standen auf meiner Liste. Am liebsten wäre ich nach Hause gefahren, in mein Bett geklettert, hätte ein paar Sonneinpillen eingeworfen und abgewartet, bis die Schmerzen im Arm und in der Schulter nachließen. Doch mir war klar, daß Kmuzu das nie zulassen würde. Da das nicht ging, wäre Chiris Club und ein paar Gläser Weißer Tod die nächste Wahl gewesen. Doch ein Blick auf die Uhr sagte mir, daß noch nicht einmal die Tagschicht angefangen hatte. An dritter Stelle und Sieger mangels Alternativen war die Polizeiwache. Ich mußte einem wichtigen Hinweis nachgehen. »Bring mich in die Walid-al-Akbar-Straße, Tariq«, antwortete ich. Er nickte. Die Fahrt zurück in die vertrauteren Viertel
der Stadt war lang und holperig. Ich saß hinten, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen, und lauschte dem weißen Rauschen der Blocker in meinem Hirn. Ich spürte nichts. Die Schmerzen und die negativen Gefühle wurden elektronisch ausgeschaltet, ich hätte genauso gut tief und traumlos schlafen können. Ich dachte nicht einmal darüber nach, was ich tun würde, wenn ich an der Polizeiwache angekommen war. Tariq riß mich aus dieser Verschnaufpause. »Wir sind da.« Er hielt das Auto an, sprang heraus und machte mir die Tür auf. Ich stieg schnell aus, mit dem Schmerzblocker war das kein Problem. »Soll ich auf Euch warten, Scheich Marîd?« »Ja, es wird nicht lange dauern. Ach, übrigens, hast du Papier und etwas zu schreiben dabei? Ich möchte die Nadelpistole nicht mit rein nehmen, brauche aber die Seriennummer.« Tariq durchsuchte seine Taschen und fand das Gesuchte. Ich krakelte die Nummer auf die Rückseite irgendeiner Visitenkarte, die ich in die Tasche meiner Gallebeya steckte. Dann lief ich die Stufen hinauf. Ich wollte Kommissar Hajjar aus dem Weg gehen. Deshalb suchte ich direkt den Computerraum auf. Diesmal nickte mir die diensttuende Inspektorin nur zu. Anscheinend gehörte ich schon zum Inventar hier. Ich setzte mich an eines der vertrauten Terminals und rief das Programm auf. Als mich der Computer fragte, was ich wollte, murmelte ich: »Waffenregistrierung.« Diverse Wahlmenüs erschienen und schließlich fragte mich der Computer nach der Seriennummer der gesuchten Waffe. Ich holte die Visitenkarte heraus und las die Buchstaben- und Zahlenkombination ab.
Der Computer kaute das ganze ein paar Sekunden lang durch, dann füllte sich der Bildschirm mit äußerst erhellender Information. Die Nadelpistole war auf den Namen Kommissar Hajjars höchstpersönlich gemeldet. Ich lehnte mich zurück und starrte auf den Bildschirm. Hajjar? Warum sollte Hajjar den Imam umbringen? Weil Hajjar Scheich Reda Abu Adils zahmer Bulle war. Und Scheich Reda gedacht hatte, auch Abd ar-Razzaq in der Tasche zu haben. Aber der Imam hatte einen gefährlichen Fehler gemacht – er hatte mir erlaubt, Khalid Maxwell exhumieren zu lassen, gegen den ausdrücklichen Wunsch Abu Adils. Da hatte anscheinend noch ein letzter Funken Integrität in ihm gesteckt, eine übertünchte Loyalität der Wahrheit und Gerechtigkeit gegenüber, und deshalb ordnete Abu Adil seinen Tod an. Scheich Reda sah hilflos zu, wie sein Plan, Friedlander Bei und mich loszuwerden, langsam in seine Bestandteile zerfiel. Und jetzt mußte er, um den eigenen Arsch zu retten, dafür sorgen, daß er nicht mit dem Tod von Khalid Maxwell in Verbindung gebracht werden konnte. Auf dem Bildschirm waren noch mehr Daten zu sehen. Ich erfuhr, daß die Nadelpistole nicht gestohlen, sondern von Hajjar vor drei Jahren ordentlich registriert worden war. Die Datei enthielt Hajjars Adresse, die aber, wie ich sicher wußte, nicht mehr stimmte. Bei weitem interessanter jedoch fand ich, daß die Datei Hajjars vollständiges Strafregister enthielt, jeden einzelnen Fehltritt und jedes Vergehen, das er begangen hatte, seit er in die Stadt gekommen war. Außerdem war da eine ausführliche Aufzählung sämtlicher Anklagen, die gegen ihn vorgebracht worden waren, einschließlich der wegen Drogen-
handel, Erpressung und Wucher, dessen er aber nie überführt wurde. Ich mußte lachen, weil Hajjar sich solche Mühe gegeben hatte, diese Einträge aus seiner Personaldatei und der Kriminaldatenbank der Stadt zu löschen. Doch diesen Eintrag hier hatte er vergessen, und der würde vielleicht eines Tages dazu beitragen, den Schweinehund zu hängen. Ich hatte gerade den Bildschirm gelöscht, als ich Hajjars jordanischen Akzent vernahm. »Wieviel Zeit haben Sie noch, bis Sie der Mann mit der Axt holt, Maghrebiner? Sind Sie auf dem laufenden?« Ich schwenkte den Stuhl herum und lächelte ihn an. »Alles klärt sich. Ich denke, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.« Hajjar beugte sich herunter und sog die Luft durch seine Zähne. »Nein? Was haben Sie gemacht, ein Geständnis gefälscht? Wem wollen Sie es anhängen? Ihrer Mama?« »Alles was ich brauche, habe ich in Ihrem Computer gefunden. Vielen Dank, daß Sie mich daran haben arbeiten lassen. Sie waren ein fairer Partner, Hajjar.« »Wovon, zum Teufel, reden Sie?« Ich zuckte die Achseln. »Die Autopsie von Maxwell brachte einiges an Information, aber keinen schlüssigen Beweis.« Der Kommissar brummte: »Ich habe versucht, Ihnen das klar zu machen.« »Also habe ich hier ein bißchen rumgesucht. Ich sah mir die Polizeibibliothek der Stadt an und stieß auf einen höchst interessanten Artikel. Es gibt da, scheint's, eine neue Methode, die Mörder über die verwendete Schockpistole zu überführen.
Haben Sie schon davon gehört?« »Nein. Eine Schockpistole kann man nicht nachweisen. Hinterläßt keine Beweismittel. Keine Kugeln, keine Pfeile, gar nichts.« Ich dachte, noch ein paar Lügen für eine gute Sache konnten nicht schaden. »Nach dem Artikel hinterläßt jede Schockpistole ein ganz bestimmtes Muster in den Zellen des Opfers. Sie wollen sagen, Sie haben den Artikel nicht gelesen? Sie machen Ihre Hausaufgaben nicht, Hajjar.« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und wurde von einer ziemlich besorgten Miene abgelöst. »Sie erfinden das doch alles?« Ich lachte. »Was verstehe ich schon davon? Wie könnte ich mir so etwas ausdenken? Ich habe Ihnen gesagt, ich bin soeben in Ihrer eigenen Bibliothek darauf gestoßen. Nun muß ich zu Scheich Mahali und ihn bitten, Maxwell nochmal exhumieren zu lassen. Der Leichenbeschauer hat nicht nach diesen Schockpistolenspuren geguckt. Wahrscheinlich wußte er auch nichts davon.« Hajjar wurde ganz blaß. Er packte mich an der Gallebeya, kurz unter dem Hals. »Wenn Sie das tun«, knurrte er, »wird Sie jeder gute Muslim in der Stadt in Stücke reißen. Ich warne Sie. Lassen Sie Maxwell in Ruhe. Sie hatten Ihre Chance. Wenn Sie noch immer nicht die Beweise haben, die Sie brauchen, haben Sie halt kein Glück.« Ich verdrehte ihm den Arm, und er ließ mich los. »Vergessen Sie es«, sagte ich. »Klemmen Sie sich ans Telefon und erzählen Sie Abu Adil, was ich Ihnen gesagt habe. Ich stehe knapp davor, meinen Namen reinzuwaschen und dafür zu sorgen, daß je-
mand anders seinen Kopf auf den Hackstock legt.« Hajjar holte aus und schlug mir kräftig ins Gesicht. »Sie gehen zu weit, Audran.« Er wirkte zutiefst erschrocken. »Verschwinden Sie hier und lassen Sie sich nicht mehr blicken. Nicht, bevor Sie bereit sind, die beiden Morde zu gestehen.« Ich stand auf und schubste ihn weg. »Ja, da haben Sie recht, Hajjar.« So gut hatte ich mich seit Tagen nicht mehr gefühlt. Ich verließ den Computerraum, lief die Treppe hinunter zu Tariq, der auf mich wartete. Ich ließ mich von ihm zurück in den Budayin fahren. Diesen Morgen hatte ich eine Menge erreicht, aber jetzt war Mittag, und ich dachte, ich hätte mir etwas zu essen und eine kleine Pause verdient. Gleich hinter dem Osttor, in der Ersten Straße, gegenüber von der Leichenhalle, lag Melouls Restaurant. Meloul war Maghrebiner wie ich, und er hatte noch ein Lokal, nicht weit weg von der Polizeiwache. Die Polizisten gingen gern dorthin, und der Laden lief so gut, daß er noch einen zweiten aufgemacht hatte im Budayin, den sein Schwager führte. Ich setzte mich an einen kleinen Tisch im hinteren Teil des Restaurants, den Rücken zur Küche, so daß ich den Eingang im Auge hatte. Melouls Schwager kam herüber und reichte mir mit einem freundlichen Lächeln die Speisekarte. Er war untersetzt und hatte eine riesige Hakennase, den dunklen Teint der Berber und eine Glatze. Nur über den Ohren stand jeweils noch ein dünner Rand schwarzer Haare. »Sliman«, stellte er sich vor. »Wie geht es Ihnen?« »Gut, danke. Ich habe schon bei Meloul gegessen, und es hat mir sehr geschmeckt.« »Es freut mich, das zu hören. Wir haben hier noch ein paar
Gerichte aus Nordafrika und aus dem Mittleren Osten hinzugefügt. Ich hoffe, Sie zufriedenstellen zu können.« Ich las die Karte und bestellte eine Schale kalten Joghurt und Gurkensuppe und als Hauptgericht Hühnereintopf. Zur Überbrückung der Wartezeit brachte mir Sliman ein Glas süßen Pfefferminztee. Das Essen kam schnell, es war reichlich und gut. Ich ließ mir Zeit und genoß jeden Bissen. Gleichzeitig erwartete ich einen Telefonanruf von Kenneth, in dem er mir mitteilte, daß Scheich Reda mir sämtliche Höllenqualen an den Hals wünschte, wenn ich nicht von der zweiten Exhumierung lassen würde – dieser so schön eingefädelten Kabale. Als ich fertig war, zahlte ich und gab Sliman ein großzügiges Trinkgeld. Kaum draußen, hörte ich einen Jungen das Kinderlied pfeifen. Ich wurde also beschattet. Mit dem vollen Bauch nach dem Essen und den Blockerdaddys im Kopf war mir das eher egal. Ich konnte schon auf mich aufpassen. Das hatte ich schließlich oft genug bewiesen. Ich begann, die Promenade hinaufzugehen. Ein zweiter Junge stimmte in das Kinderlied ein. Ich bildete mir ein, es klang irgendwie dringend, weshalb ich innehielt. Plötzlich war mir nicht ganz wohl in meiner Haut, ich blickte mich um und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung war. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich, daß Hajjar auf mich zu rannte, so schnell ihn die Beine trugen. Er hob die Hand. Darin hielt er eine Schockpistole. Er schoß, landete aber keinen Volltreffer. Trotzdem war ich völlig benommen, mir wurde ganz heiß, und dann brach ich auf dem Trottoir zusammen. Mein ganzer Körper zuckte krampfartig. Er
gehorchte nicht mehr meinem Willen. Muskelkontrolle war unmöglich. Nicht weit von mir entfernt stürzte ein Junge zu Boden. Er bewegte sich überhaupt nicht.
16. Kapitel
Sie nahmen die Blocker-Daddys heraus und legten mich ins Bett. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden fehlt mir jede Erinnerung. Als ich am Tag darauf langsam wieder zu mir kam, zitterte ich noch immer am ganzen Körper und konnte nicht einmal ein Glas Wasser halten. Kmuzu umsorgte mich ständig. Er saß auf einem Stuhl neben meinem Bett und brachte mich auf den aktuellen Stand der Ereignisse. »Konntet Ihr sehen, wer auf Euch schoß, yaa Sidi?« wollte er wissen. »Wer auf mich schoß?« fragte ich erstaunt nach. »Das war Hajjar, niemand sonst. Ich sah ihn so deutlich, wie ich dich sehe. Hat ihn denn niemand sonst gesehen?« Kmuzu runzelte die Stirn. »Niemand meldete sich und identifizierte den Täter. Es gab nur einen Zeugen, und das war einer der beiden Jungen, die versucht hatten, Euch zu warnen. Seine Beschreibung war jedoch zu grob und ungenau, um für die Suche nach dem Mörder von Wert zu sein.« »Mörder? Dann ist der andere Junge …« »Er ist tot, yaa Sidi.« Tief betroffen nickte ich, ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurücksinken und schloß die Augen. Da gab es allerhand, worüber ich noch nachdenken mußte. Ob wohl der ermordete Junge Ghazi war? Hoffentlich nicht. Ein paar Minuten später schoß mir etwas anderes durch den Kopf. »Hat jemand für mich angerufen, Kmuzu?« fragte ich.
»Vor allem: gab es einen Anruf von Scheich Reda oder seinem kleinen Liebling, Kenneth?« Kmuzu schüttelte den Kopf. »Chiriga und Yasmin haben angerufen. Und Eure Freunde Saied und Jacques kamen sogar hierher, aber Ihr wart nicht in der Verfassung, sie zu empfangen. Scheich Reda hat sich nicht gemeldet.« Das war sehr wichtig. Ich hatte Hajjar vorgemacht, es gäbe eine zweite Exhumierung, und darauf hatte er sehr schnell und sehr heftig reagiert. Er war sogar soweit gegangen, meine Erkundigungen mit einer Ladung aus der Schockpistole zu stoppen. Wahrscheinlich dachte er, er könnte es so aussehen lassen, als sei ich mitten auf dem Trottoir im Budayin mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen. Das Problem mit Hajjar war, daß er nicht ganz so schlau war, wie er immer meinte. Er konnte es nicht durchziehen. Mit ziemlicher Sicherheit teilte er seinem Chef, Scheich Reda, von meinen Plänen mit. Aber dieses Mal blieb die Warnung von Kenneth aus. Möglicherweise wußte Abu Adil, daß ich nur bluffte. Möglicherweise glaubte er nicht, daß eine zweite Exhumierung Khalid Maxwells noch recht viel Neues bringen konnte. Möglicherweise war er sich seiner Sache so sicher, daß er es nicht für nötig hielt anzurufen. Das war also die dritte Runde durchs Dorf. Und dieses Mal war nur noch einer interessiert gewesen: Hajjar. Ich war im tiefsten Inneren überzeugt, daß er beide Morde begangen hatte. Und es überraschte mich nicht. Khalid Maxwell hatte er im Auftrag Abu Adils umgebracht und anschließend hatte er versucht, mir den Mord anzuhängen. Er hatte Dr. Sadiq Abd arRazzaq ermordet und einen unschuldigen Jungen umgelegt.
Das Problem war nur, daß ich zwar nun die Wahrheit kannte, aber sie nicht vor Gericht vorbringen, geschweige denn beweisen konnte. Ich war sogar zu zittrig, um ein Buch zu halten. Deshalb sah ich mir den ganzen Nachmittag lang das Programm im Holoset an. Es lief ein Bericht über die Beerdigung des Imam, die am Tag zuvor stattgefunden hatte, nachdem er vierundzwanzig Stunden lang aufgebahrt worden war. Hajjar hatte recht gehabt, es gab Unruhen. Die Straßen um die Shimaal-Moschee waren Tag und Nacht vollgepfropft mit Tausenden von Trauernden. Darunter drehten einige ein klein wenig durch. Sie drängten sich vor der Moschee, sangen und ritzten sich selbst die Arme und Köpfe mit Rasierklingen. Die Menschenmassen wogten mal in die eine, mal in die andere Richtung, Dutzende von Demonstranten wurden dabei getötet – unter der Menge begraben oder zertrampelt. Ständig erschallten schrille Rufe nach Gerechtigkeit und Rache. Ich wartete, ob Hajjar meinen Namen an die Nachrichtenleute weitergegeben hatte, aber der Kommissar war hilflos, er konnte seine Drohung nicht wahrmachen. Nicht einmal eine Mordwaffe hatte er, um den Mord mit einem Verdächtigen in Verbindung bringen zu können. Das einzige, was er vorzuweisen hatte, waren ein paar dünne Hinweise, die sich aus den Umständen konstruieren ließen. Vor ihm war ich sicher, zumindest eine Weile. Als ich die Berichte darüber satt hatte, schaltete ich um und sah mir eine Oper aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts an, Die Hinrichtung Rushdies. Sie trug nicht gerade zu meiner Aufheiterung bei.
Die Erleuchtung kam mir genau in dem Moment, in dem Kmuzu mit einem Teller Hühnchen und Gemüsecouscous hereinkam, und sie mir zu essen geben wollte. »Ich glaube, jetzt habe ich ihn«, sagte ich. »Kmuzu, würdest du bitte die Büronummer des Leichenbeschauers abrufen und mir den Hörer ans Ohr halten?« »Sicher, yaa Sidi.« Er stand auf, besorgte sich die Nummer und murmelte sie ins Telefon. Dann hielt er es mir so hin, daß ich sowohl hören wie sprechen konnte. »Marhaba«, meldete sich eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Das war einer seiner Assistenten. »Gott sei mit Euch«, entgegnete ich. »Hier ist Marîd Audran. Ich bin der, der von ein paar Tagen die Autopsie von Khalid Maxwell angeordnet hat.« »Ja, Herr Audran. Da Sie nicht mehr vorbeikamen, schickten wir Ihnen die Ergebnisse zu. Können wir sonst noch etwas für Sie tun?« »Ja.« Mein Herz schlug schneller. »Auf mich wurde im Budayin mit einer Schockpistole geschossen, was mir noch immer etwas zu schaffen macht …« »Wir haben davon gehört. Bei diesem Anschlag starb ein Junge.« »Genau. Darüber möchte ich mit Ihnen sprechen. Wurde bei dem Jungen eine Autopsie durchgeführt?« »Ja.« »Jetzt hören Sie zu. Das ist sehr wichtig. Würden Sie Dr. Besherati bitten, das Zellmuster im Herzen des Jungen mit dem von Khalid Maxwell zu vergleichen? Ich vermute hier eine Übereinstimmung.«
»Hmm. Das klingt interessant. Aber Sie wissen, selbst wenn wir auf eine Übereinstimmung stoßen, wird Ihnen das nicht helfen. Nicht im Sinne des Gesetzes. Sie können nicht …« »Ich weiß, ich weiß. Ich möchte nur wissen, ob sich mein Verdacht bestätigt. Könnten Sie Dr. Besherati in meinem Namen bitten, sich möglichst schnell dieser Sache anzunehmen? Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß es um Leben und Tod geht.« »In Ordnung, Herr Audran. Er wird Sie wahrscheinlich im Laufe des Tages anrufen.« »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin«, dankte ich ihm überschwenglich. »Wie Sie meinen«, verabschiedete sich der Assistent und legte auf. Kmuzu legte das Telefon weg. »Logisch gedacht, yaa Sidi«, bemerkte er. Er lächelte fast. »Na, noch haben wir nichts erfahren. Wir müssen den Anruf des Doktors abwarten.« Ich hielt ein kleines Nickerchen und wurde von Kmuzus Hand an meiner Schulter geweckt. »Ihr bekommt Besuch.« Ich drehte den Kopf zur Tür und stellte fest, daß ich allmählich wieder die Kontrolle über die Muskeln gewann. Draußen im Salon waren Schritte zu hören und dann trat mein junger Bedu-Freund, bin Turki, ins Schlafzimmer. Er setzte sich in den Stuhl neben dem Bett. »As-salam alaikum, yaa Scheich«, begrüßte er mich ernst. Ich war außer mir vor Freude, ihn zu sehen. »Wa aleikum assalam«, antwortete ich lächelnd. »Wann bist du zurückgekommen?«
»Vor weniger als einer halben Stunde. Ich kam direkt vom Flughafen hierher. Was ist mit Euch passiert? Werdet Ihr wieder gesund?« »Jemand hat auf mich geschossen, aber diesmal war Allah auf meiner Seite. Der Angreifer wird sich nächstes Mal mehr Mühe geben müssen.« »Beten wir, daß es kein nächstes Mal geben wird, o Scheich.« Ich breitete nur die Hände aus. Es würde mit ziemlicher Sicherheit ein nächstes Mal geben. Wenn es nicht Hajjar war, war es ein anderer. »Jetzt erzähl' mir, wie war deine Reise?« Bin Turki schürzte die Lippen. »Erfolgreich.« Er zog etwas aus seiner Tasche und legte es neben meine Hand auf die Decke. Ich griff mit meinen zusammengekrampften Fingern danach und holte es etwas näher heran, um es besser betrachten zu können. Es war ein Plastiknamensschild mit der Aufschrift Insp. al-Bishah. Der Name des Schweinehundes in Najran, der Friedlander Bei und mich zusammengeschlagen hatte. Das hatte ich vollkommen verdrängt, aber so war es, ich hatte einen Mord befohlen. Gelassen hatte ich einen Mann zum Tod verurteilt, und nur sein Namensschild erinnerte noch an ihn. Wie fühlte ich mich nun? Ich wartete ein paar Sekunden lang und dachte, gleich würde sich das kalte Grauen in meinem Kopf breitmachen. Nichts dergleichen geschah. Manchmal hat man keine Probleme mit dem Tod anderer. Ich spürte nur Gleichgültigkeit und den dringenden Wunsch, möglichst schnell durchzuziehen, was anstand. »Gut, mein Freund«, sagte ich. »Du erhältst eine Belohnung dafür.« Bin Turki nickte und nahm das Namensschild wieder an
sich. »Wir sprachen über eine Stellung, durch die ich ein regelmäßiges Einkommen hätte. Inzwischen habe ich die Zivilisation und Kultur hier in der Stadt zu schätzen gelernt. Ich würde gerne noch eine Weile bleiben, bevor ich zu den Beni Salim zurückkehre.« »Wir freuen uns, dich hier bei uns zu haben. Ich möchte mich auch gerne bei deinem Stamm bedanken für die überbordende Gastfreundschaft und Herzlichkeit, die uns dort zuteil wurde, als wir allein und verlassen in der Wüste waren. Ich dachte dabei, eine feste Siedlung für sie zu bauen, vielleicht in der Nähe von der Oase, die …« »Nein, o Scheich«, unterbrach mich bin Turki, »Scheich Hassanein würde ein solches Geschenk nie annehmen. Es gab ein paar Beni Salim, die den Stamm verließen und sich feste Betonhäuser bauten. Wir sehen sie einmal oder zweimal im Jahr, wenn wir durch ihre Dörfer ziehen. Die meisten jedoch bleiben den alten Stammesbräuchen treu. So findet das auch Scheich Hassanein am besten. Wir kennen schon solchen Luxus wie Gasöfen und Elektrizität, aber wir sind Bedu. Wir würden nicht unsere Kamele gegen Lastwagen eintauschen und unsere Ziegenhaarzelte gegen ein Haus, das uns an einen festen Platz bindet.« »Ich habe dabei nie daran gedacht, daß die Beni Salim das ganze Jahr an einem festen Platz leben würden«, erklärte ich. »Aber vielleicht hätte der Stamm gern eine bequeme Unterkunft am Ende der jährlichen Wanderung.« Bin Turki lächelte. »Das ist gutgemeint, aber das Geschenk, das Ihr Euch vorstellt, wäre für die Beni Salim tödlich.« »Wie du sagst, bin Turki.«
Er stand auf und nahm mich bei der Hand. »Ich werde Euch jetzt ruhen lassen, o Scheich.« »Allah schütze dich, mein Neffe«, verabschiedete ich ihn. »Allah yisallimak«, sagte er und verließ das Zimmer. An diesem Abend läutete gegen sieben Uhr das Telefon. Kmuzu ging ran. »Es ist Dr. Besherati«, teilte er mir mit. »Ich will mal sehen, ob ich das Telefon halten kann«, sagte ich und nahm es ihm ab. Ich war zwar noch etwas ungeschickt, aber es ging einigermaßen. »Marhaba«, meldete ich mich. »Herr Audran? Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung. Das Muster in den Herzzellen von Khalid Maxwell und dem Jungen sind identisch. Meiner Meinung besteht nicht der geringste Zweifel, daß sie mit derselben Schockpistole erschossen wurden.« Gedankenverloren starrte ich ein paar Sekunden vor mich hin. »Danke, Dr. Besherati«, sagte ich schließlich. »Natürlich beweist das nicht, das der Mörder in beiden Fällen dieselbe Person ist. Es können ja zwei verschiedene Personen dieselbe Waffe benutzt haben.« »Das ist mir klar. Aber die Chance ist sehr groß, daß es sich um denselben Mörder handelt. Jetzt weiß ich genau, was ich zu tun habe und wie ich dabei vorgehen werde.« »Ich weiß zwar nicht, was Sie meinen«, schloß der Leichenbeschauer, »aber ich wünsche Ihnen auch diesmal Glück. Möge der Frieden mit Ihnen sein.« »Und möge er auf Ihnen ruhen.« Damit legte ich das Telefon auf. Während ich meine Feinde bestrafte und meine Freunde belohnte, beschloß ich, mir etwas für Dr. Besherati zu überle-
gen. Er hatte sich auf alle Fälle eine Anerkennung und einen Dank verdient. Diesen Abend schlief ich früh ein. Am nächsten Morgen war ich soweit erholt, daß ich aufstehen und mich duschen konnte. Kmuzu wollte, daß ich jede Anstrengung vermied, aber das ging nicht. Es war Freitag, der Sabbath, und ich mußte zur Parade der Jaish. Ich frühstückte ausgiebig und zog mir die taubengraue Uniform an, die mir Scheich Reda gegeben hatte. Die Hosen hatten an jedem Bein einen schwarzen Streifen und waren gut geschnitten, und zwar so, daß sie in hohe, schwarze Stulpenstiefel paßten. Die Jacke war mit einem Stehkragen versehen, auf dem die Leutnantsabzeichen aufgenäht waren. Dazu kam noch eine Art Pickelhaube. Als ich mich fertig angezogen hatte, sah ich mich im Spiegel an. Die Ähnlichkeit mit einer Naziuniform schien mir nicht zufällig zu sein. »Wie seh' ich aus, Kmuzu?« fragte ich. »Das seid nicht Ihr, yaa Sidi. Das ist mit Sicherheit nicht Euer Stil.« Lachend nahm ich die Schirmmütze ab. »Nachdem Abu Adil so nett war, mir diese Uniform zu schenken, kann ich sie ja wenigstens einmal für ihn tragen.« »Ich verstehe nicht, warum Ihr das tut.« Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht bin ich neugierig?« »Ich hoffe, der Herr des Hauses sieht Euch nicht in diesem Aufzug, yaa Sidi.« »Das hoffe ich auch. Bitte fahr' jetzt den Wagen vor. Die Parade findet am Boulevard il-Tameel statt, in der Nähe der Shimaal-Moschee. Wahrscheinlich müssen wir das Auto ir-
gendwo abstellen und ein Stück zu Fuß laufen. Es sind noch immer viele Leute an der Moschee.« Kmuzu nickte. Er ging nach unten und ließ die westfälische Limousine an. Ich folgte ihm, nachdem ich mich dagegen entschieden hatte, Drogen oder Moddys einzustecken. Schließlich wußte ich nicht genau, auf was ich mich da einließ, und da schien es mir eine gute Idee zu sein, wenigstens einen klaren Kopf zu haben. Am Boulevard angelangt, war ich überrascht, wie groß der Andrang war. Kmuzu suchte sich einen Weg durch das Gassengewirr, um in die Nähe des Aufmarschplatzes der Jaish zu kommen. Es dauerte nicht lange, und wir gaben auf und gingen den Rest zu Fuß. Wir bahnten uns unseren Weg durch die Menschenmenge, wobei mir wohl die Uniform etwas half. Vorne war ein Podest zu sehen, auf dem ein Rednerpult aufgebaut war. Sie hatten es mit den Jaish-Fahnen und -Symbolen geschmückt. Ich bildete mir ein, Abu Adil und Kenneth dort oben zu erkennen, beide in Uniform. Scheich Reda unterhielt sich mit einem Offizier, er trug keines seiner widerwärtigen Hölle-auf-RatenModdys. Darüber war ich froh – ich wollte mich nicht mit einem Abu Adil auseinandersetzen, der so tat, als leide er an einer tödlichen Krankheit. »Kmuzu«, wandte ich mich an meinen Sklaven, »ich versuche, auf das Podest hinaufzukommen und mit Scheich Reda zu sprechen. Probier du, dich hintenrum ranzuarbeiten und in der Nähe zu bleiben. Vielleicht brauche ich dich überraschend.« »Ich verstehe, yaa Sidi«, antwortete er besorgt. »Seid vorsichtig und laßt Euch auf keine unnötigen Risiken ein.«
»Das werde ich bleiben lassen.« Ich glitt langsam durch die Menge, bis ich die hintersten Ränge der Jaish erreicht hatte, die in Kompanien auf dem neutralem Gebiet des Boulevard aufgestellt waren. Von hier aus war es einfach, mich nach vorne durchzuarbeiten. Auf der gesamten Wegstrecke nickten mir meine Kameraden zu und salutierten mir. Ich ging um das Podest herum und stieg die drei Stufen hoch. Reda Abu Adil hatte mich noch immer nicht gesehen, ich ging zu ihm hin, um ihn zu begrüßen. Seine Uniform war weitaus eleganter als meine. Das lag zum einen daran, daß seine Knöpfe, glaube ich, aus Gold waren, während alle anderen sich mit Messingknöpfen zufriedengeben mußten, und zum anderen an den goldenen, geschwungenen Schwertern an seinem Kragen statt der Messinghalbmonde. »Na, wen haben wir denn da?« rief Abu Adil verblüfft. »Mit Ihnen habe ich wirklich nicht gerechnet.« »Ich wollte Sie nicht enttäuschen, General.« Mit einem Lächeln wandte ich mich an seinen Gehilfen. »Und wie geht's, Kenny?« Kenneth war Oberst und genoß jede Minute in den Stulpenstiefeln. »Ich habe Sie gewarnt, mich so zu nennen«, fauchte er. »Jaja, das haben Sie.« Ich kehrte ihm den Rücken zu. »Die Jaish sind doch ein paramilitärischer Verband. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als sie eine Gruppe waren, der es nur darum ging, die Stadt von Fremden und Ausländern zu befreien. Jetzt tragen wir stolz die Symbole des rechten Glaubens. Dabei schoß mir gerade der Gedanke durch den Kopf: Ist Ihr Kenneth einer von den unsrigen? Ich hätte gewettet, daß er ein Christ ist. Oder ein Jude.«
Kenneth packte mich an der Schulter und wirbelte mich herum. »Ich bezeuge, es gibt keinen Gott außer Gott«, zitierte er, »und Mohammed ist der Prophet Gottes.« Er amüsierte mich. »Großartig! Sie machen das schon ganz prima. Nur weiter so!« Abu Adils Gesicht verdüsterte sich. »Hört auf mit dem kindischen Gezänk. Heute gibt es wichtigeres, was das Nachdenken lohnt. Das hier ist die erste, große Demonstration in der Öffentlichkeit. Hunderte von Rekruten werden sich daraufhin melden, die Anzahl der Jaish wird sich verdoppeln. Das zählt hier.« »Aha«, hakte ich nach, »und was ist mit dem armen alten Abd ar-Razzaq? Zählt der nur noch als Leiche?« »Warum sind Sie hier?« wollte Abu Adil wissen. »Wenn Sie sich nur über uns lustig machen wollen …« »Nein, General, überhaupt nicht. Natürlich sind wir nicht immer ganz einer Meinung, aber ich bin völlig dafür, in dieser Stadt aufzuräumen. Ich kam hierher, weil ich die drei Züge sehen wollte, die ich führen soll.« »Gut, gut«, beruhigte sich Abu Adil. »Ausgezeichnet.« »Ich traue ihm nicht«, warf Kenneth ein. Abu Adil wandte sich ihm zu. »Ich auch nicht, mein Freund, aber das heißt nicht, daß wir sämtliche Umgangsformen außer acht lassen. Heute werden wir von einer Menge Menschen beobachtet.« »Versuche doch, deine Feindseligkeiten etwas unter Kontrolle zu halten, Kenneth«, erklärte ich. »Ich bin bereit, zu vergeben und zu vergessen. Wenigstens für den Augenblick.« Er sah mich nur finster an und blickte dann weg. Abu Adil legte mir die Hand auf die Schulter und deutete auf
eine Einheit, die sich rechts vor dem Podest aufgestellt hatte. »Das sind Ihre Züge, Leutnant Audran. Sie bilden die AlHashemi-Formation. Dazu gehören die besten Männer, die wir haben. Warum gehen Sie nicht hinunter und begrüßen Ihre Unteroffiziere? Wir fangen demnächst mit der Ausbildung an.« »In Ordnung.« Ich stieg vom Podest runter und ging vor meiner Einheit auf und ab, blieb vor den drei Feldwebeln stehen und begrüßte sie. Dann ging ich durch die gemeine Mannschaft, als inspizierte ich sie. Die meisten Soldaten machten einen eher desolaten Eindruck auf mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie neben einer richtiger Militäreinheit gut aussehen würden. Aber schließlich planten die Jaish nicht, gegen eine Armee anzutreten. Sie wurden geschaffen, um Geschäftsleute und abtrünnige und ungläubige Intellektuelle einzuschüchtern. Vielleicht eine Viertelstunde später sprach Abu Adil ins Mikrophon und befahl, mit der Parade zu beginnen. Meine Einheit hatte nichts zu tun dabei, sie mußte nur die Zuschauer zurückhalten. Einige besonders ausgebildete Einheiten zeigten, was sie konnten, marschierten hin und her und jonglierten mit ihren Holzprügeln in Gewehrform. Das ging eine Stunde so in der heißen Sonne. Ich befürchtete schon, einen ernsten Fehler gemacht zu haben. Mir wurde schwach, und die Beine begannen zu zittern. Ich hatte nur noch einen Wunsch: mich hinzusetzen. Endlich war die letzte Schaukompanie mit ihrer Vorstellung fertig und wieder bereit, Abu Adil, der ans Rednerpult trat, zuzuhören. Er bearbeitete die Jaish eine weitere halbe Stunde mit einer flammenden Rede über den schrecklichen Mord an Dr. Abd ar-Razzaq und wie
wir alle unsere Treue zu Allah und den Jaish beschwören müßten und niemals ruhen durften, bevor der brutale Mörder nicht gefaßt und nach den Geboten des Islam hingerichtet worden sei. Scheich Reda hatte die Männer in Uniform da unten offensichtlich so weit – sie konnten ihre Blutgier kaum noch bändigen. Dann rief er völlig überraschend mich ans Mikrophon. Ein, zwei Sekunden starrte ich ihn an, bevor ich zum Podest zurücklief. Ich trat ans Mikrophon, und Abu Adil zog sich zurück. Nervöses Schweigen legte sich über die Uniformierten unten, aber hinter ihnen sah ich Zehntausende von blutdürstigen Männern und Frauen, die nach einem Opfer gierten, an dem sie ihre angestaute Wut auslassen konnten. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen würde. »Meine Kameraden, meine Brüder vor Allah«, fing ich an und hob die Arme, um nicht nur die Jaish, sondern auch den Mob dahinter miteinzuschließen. »Die Zeit der Rache ist gekommen.« Die Menschenmenge unter mir brach in zustimmendes Gebrüll aus. »Wie Scheich Reda schon sagte, ist es nach den Lehren des edlen Koran unsere heilige Pflicht, diese Untat zu rächen. Wir müssen den finden, der unseren heiligen Imam niederstreckte, und ihn die ganze Härte unserer Gerechtigkeit hautnah spüren lassen.« Wieder schrie die Menge auf, doch diesmal klang es eher wie ein merkwürdiges hungriges Wehklagen, das mir kalte Schauer über den Rücken jagte. »Das ist unsere Aufgabe. Doch unsere Ehre und unser Glaube und die Achtung vor dem Gesetz gebieten, daß wir unseren Zorn beherrschen. Wir wollen verhindern, am Falschen Rache zu üben. Aber wie können wir die Wahrheit herausfinden?
Meine Freunde, meine Brüder und Schwestern im Islam, ich kenne die Wahrheit!« Das brachte den Mob unter mir zum Aufschreien und Abu Adil und Kenneth hinter mir schnappten überrascht nach Luft. Ich knöpfte meine Jacke auf, zog die Nadelpistole heraus und hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten. »Das ist die Mordwaffe! Damit wurde unser Imam getötet!« Die Reaktion war schrecklich, sie schien kein Ende mehr zu nehmen. Die hysterischen Massen drängten nach vorne und die Infanteristen der Jaish versuchten verzweifelt, die Menschen davon abzuhalten, das Podest zu stürmen. »Ich weiß, wem diese Nadelpistole gehört!« rief ich. »Soll ich Euch den Namen nennen? Wollt Ihr wissen, wer Dr. Sadiq Abd ar-Razzaq schamlos und kaltblütig ermordete?« Ich wartete ein paar Sekunden, wohlwissend, daß der Aufruhr nicht nachlassen würde. Es ging mir nur um die Wirkung. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, daß Kenneth auf mich losgehen wollte, Abu Adil ihn aber am Arm zurückhielt. Das überraschte mich. »Sie gehört Polizeikommissar Hajjar, der aus Jordanien in unsere Stadt immigrierte. Einem Mann, der bereits viele Verbrechen begangen hat, die aber lange Zeit nicht bestraft wurden. Ich weiß nicht, warum er diese grausame Tat beging. Ich weiß nicht, warum er uns unseren Imam entriß. Ich weiß nur, daß er der Mörder ist und in diesem Augenblick nicht weit von hier in der Polizeiwache in der Walid-al-Akbar-Straße sitzt, zufrieden mit sich und stolz auf sein sündhaftes Werk. Daß er sich in der Sicherheit wiegt, sicher zu sein vor der gerechten Vergeltung des Volkes.« Ich wollte noch mehr sagen, aber das war unmöglich. Von
diesem Augenblick an wurde der Mob zu einem rasenden Tier, das sich hin und herzubewegen und zu beben schien. Stimmen erhoben sich, schrille Schreie ertönten, die niemand verstand, und um uns herum wurde lauthals gesungen und geflucht. Auf geheimnisvolle Art schien sich der Haufen zu organisieren, als würden Anführer gewählt und Entscheidungen getroffen. Langsam ließ das Mobungeheuer ab vom Podest und den Jaish und wandte sich nach Süden, wälzte sich den wunderschönen Boulevard il-Jameel hinunter, Richtung Polizeiwache, wo es nach Kommissar Hajjar verlangen würde. Hajjar hatte gewußt, wie der empörte Mob reagieren würde. Er hatte gewußt, wie schrecklich er sich in seinem hirnlosen Zorn gebärden würde. Doch er hatte nicht gewußt, gegen wen er sich richten würde. Ich konnte meine Augen nicht abwenden. Nach einer Weile trat ich zurück, weg vom Mikrophon. Die Nachmittagsparade der Jaish war vorüber. Viele der Uniformierten da unten hatten ihre Truppe verlassen und sich dem wutentbrannten Pöbel angeschlossen. »Ausgezeichnete Arbeit, Audran«, hörte ich Abu Adil sagen. Ich sah ihn an. Er schien es völlig ernst zu meinen. »Das kostet Sie einen Ihrer nützlichsten Mietlinge«, entgegnete ich. »Irgendwann wird einem immer die Quittung präsentiert, nicht wahr?« Abu Adil zuckte bloß die Achseln. »Hajjar hatte ich bereits abgeschrieben. Ich weiß gute Arbeit zu schätzen, Audran, selbst wenn es sich um die meines Feindes handelt. Aber seien Sie gewarnt. Daß ich Ihnen gratuliere heißt noch lange nicht, daß ich nicht bereits an einem Plan arbeite, Sie dafür zahlen zu
lassen. Diese ganze Sache hier hat sich zu einem Desaster für mich ausgewachsen.« Ich lächelte. »Das haben Sie sich selbst zuzuschreiben.« »Denken Sie daran: ich werde Sie dafür zahlen lassen.« »Ich bin mir sicher, daß Sie das versuchen werden.« Mit diesen Worten verabschiedete ich mich und kletterte die Stufen an der Podestrückseite hinunter. Unten stand Kmuzu. Er führte mich weg vom Boulevard, weg von vorwärtsdrängenden Massen, hin zu unserem Wagen. »Bitte zieht diese Uniform aus, yaa Sidi«, sagte er. »Wie bitte? Soll ich etwa in der Unterwäsche nach Hause fahren?« »Wenigstens die Jacke könnt Ihr ablegen. Es macht mich ganz krank, wofür das steht.« Ich tat ihm den Gefallen und warf die Jacke auf den Rücksitz. »Na«, fragte ich ihn und streckte mich dabei, »wie war ich?« Kmuzu drehte sich zu mir um und lächelte kurz – eine seltene Gunst. »Hervorragend, yaa Sidi.« Dann konzentrierte er sich wieder auf den Verkehr. Ich entspannte mich und ließ mich in den Rücksitz sinken. Die leichte Unruhe, die Abu Adil, Kommissar Hajjar und der Imam Abd ar-Razzaq in mein Leben gebracht hatten, war nun vorüber, so sagte ich mir. Jetzt konnte das Leben wieder in das normale Fahrwasser zurückkehren. Der Fall war abgeschlossen. Was Scheich Reda selbst anging, mußten sämtliche Pläne, diesem Schweinekerl alles adäquat heimzuzahlen, in die ferne Zukunft vertagt werden, wenn es Allah gefiel, Friedlander Bei heim ins Paradies zu holen. Bis dahin hatten Papa und ich unseren guten Ruf wiederher-
gestellt. Am nächsten Tag trafen wir uns mit dem Emir und machten ihn mit den Hintergründen und den Beweismitteln vertraut, was die Fälle Khalid Maxwell, Abd ar-Razzaq und Kommissar Hajjar anging. Ich hielt es nicht für notwendig, mit Details zu dem plötzlichen Ableben eines gewissen Inspektors al-Bishah aus Najran aufzuwarten oder anderen einschlägigen Themen. Daraufhin beauftragte Scheich Mahali einen seiner Verwaltungsmenschen, uns von den falschen Anschuldigungen zu befreien und jede Erwähnung des Todes von Khalid Maxwell aus unseren Akten zu tilgen. Es gefiel mir, wie schnell ich wieder in den alten Trott zurückfiel. Ich saß wieder an meinem Schreibtisch und sah mir die Unterlagen über eine revolutionäre Partei durch, die in meiner Heimat Mauretanien zunehmend an Einfluß gewann. Kmuzu stand neben mir und wartete darauf, von mir angesprochen zu werden. Ich sah hoch. »Worum geht es?« fragte ich ihn. »Der Herr des Hauses möchte Euch sprechen, yaa Sidi.« Ich nickte, ahnungslos, was mich erwartete. Bei Papa läßt es sich manchmal schwer voraussagen, ob man geholt wird, um bestraft oder belohnt zu werden. Mein Magen machte sich bemerkbar. Hatte ich mir etwa wieder sein Mißfallen eingehandelt? Warteten die Sprechenden Felsen schon darauf, mir die Knochen zu brechen? Glücklicherweise war das nicht der Fall. Friedlander Bei lächelte, als ich sein Arbeitszimmer betrat, und lud mich ein, mich neben ihn zu setzen. »Ich trug dir auf, eine elegante Lösung für unsere Schwierigkeiten zu finden, mein Neffe, und ich bin sehr zufrieden mit dem, was du erreicht hast.« »Es freut mich, das zu hören, o Scheich«, antwortete ich er-
leichtert. »Ich habe eine, wie ich denke angemessene, Belohnung für die Leiden und die Arbeit, die du meinetwegen auf dich genommen hast.« »Eine Belohnung ist nicht notwendig, o Scheich«, entgegnete ich. Natürlich schätze ich Belohnungen wie jeder andere auch, aber es gehörte sich einfach, zuerst mal so zu tun, als wolle man das Geschenk nicht annehmen. Papa ignorierte mich. Er schob mir einen dünnen Umschlag und einen kleinen Karton zu. Ich sah ihn fragend an. »Nimm nur, mein Neffe. Es bereitet mir große Freude, dir das zu schenken.« Im Umschlag steckte natürlich Geld. Kein Bargeld, dafür war die Summe zu groß. Es war ein Wechsel über eine Viertelmillion Kiam. Ein paar Sekunden lang war ich völlig sprachlos, dann schluckte ich und legte den Umschlag wieder auf den Schreibtisch. Schließlich griff ich nach dem Karton und öffnete ihn. Darin befand sich ein Moddy. Friedlander Bei war aus religiösen Gründen ein ausgesprochener Gegner von Persönlichkeitsmodulen. Daher war es sehr ungewöhnlich, daß er mir eins schenkte. Ich warf einen Blick auf den Aufkleber. Bei dem Moddy handelte es sich um eine Nachschöpfung meines Lieblingsromanhelden, Lutfy Gads Detektiv al-Qaddani. Ich lächelte. »Danke, mein Onkel«, sagte ich leise. Das Moddy bedeutete mir mehr als die Riesensumme Geld. Diese Geste drückte eine Wärme aus, die sich nicht in Worte fassen ließ. »Das Modul habe ich extra für dich anfertigen lassen«, erklärte Papa. »Ich hoffe, es wird dir Vergnügen bereiten.« Nach
ein paar Sekunden wurde sein Gesichtsausdruck wieder ernst. »Jetzt berichte mir über das Datalink-Projekt. Und ich brauche einen Report über die letzten Maßnahmen, was die Entwicklung in Kappadokien angeht. Des weiteren müssen wir uns, nachdem Kommissar Hajjar tot ist, Gedanken über einen zuverlässigen Nachfolger machen.« Monate voller Qual wettgemacht durch eine Minute Ausgelassenheit. Was kann man sich mehr wünschen?