Nr. 353
Der Krüppel von Arsyhk Ein Tyrann wird geboren von Kurt Mahr
Pthor, dessen Horden Terra überfallen sollten, h...
22 downloads
380 Views
282KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nr. 353
Der Krüppel von Arsyhk Ein Tyrann wird geboren von Kurt Mahr
Pthor, dessen Horden Terra überfallen sollten, hat sich längst wieder in die unbekannten Dimensionen zurückgezogen, aus denen der Kontinent des Schreckens urplötzlich materialisiert war. Atlan und Razamon, die die Bedrohung von Terra nahmen, gelang es allerdings nicht, Pthor vor dem Start zu verlassen. Der ungebetene Besucher ging wieder auf eine Reise, von der niemand ahnt, wo sie eines Tages enden soll. Doch nicht für lange! Denn der überraschende Zusammenstoß im Nichts führte dazu, daß der »Dimensionsfahrstuhl« Pthor sich nicht länger im Hyperraum halten konnte, sondern zur Rückkehr in das normale Raum-Zeit-Kontinuum gezwungen wurde. Und so geschieht es, daß Pthor auf dem Planeten der Brangeln niedergeht, nachdem der Kontinent eine Bahn der Vernichtung über die »Ebene der Krieger« gezogen hat. Natürlich ist dieses Ereignis nicht unbemerkt geblieben. Sperco, der Tyrann der Galaxis Wolcion, schickt seine Diener aus, die die Fremden ausschalten sollen. Darauf widmet sich Atlan sofort dem Gegner. Um ihn näher kennenzulernen und seine Möglichkeiten auszuloten, begibt sich der Arkonide zu den Spercoiden. Das Ziel, dem Atlan nach vielen Abenteuern im All und auf fremden Welten näherkommt, ist eine Konfrontation mit Sperco selbst, dem Herrn von Wolcion, der, bis er seine speziellen Fähigkeiten entdeckte, nur ein bedauernswerter Krüppel war – DER KRÜPPEL VON ARSYHK …
Der Krüppel von Arsyhk
3
Die Hautpersonen des Romans: Sperco - Ein Braisling wird zum Tyrannen. Öpner - Spercos Zwillingsbruder. Ningon, Soquon, Srikor und Pirju - Spercos erste Gefolgsleute. Sajdor - Kommandant eines Raumschiffs der Kääts.
AUF ROPPOC Ein gellender Fanfarenstoß tönte durch die riesige Halle. Hunderte von Geschöpfen, die entlang der grauen Mauern aufgereiht waren, zuckten unwillkürlich zusammen. Ihre Augen, Fühler, Sensoren oder was sie sonst an optischen Wahrnehmungsorganen besitzen mochten, richteten sich auf das hohe Gestell im Vordergrund des gewaltigen Raumes. Dröhnend verkündete die Stimme eines Unsichtbaren: »Sperco ist die Macht – die Spercotisierten sind seine Diener! Zeigt dem Mächtigen die Achtung, die ihm gebührt!« Das Gestell ragte etwa drei Viertel des Weges bis zur Decke der Halle empor. Es trug eine Plattform, und dort, wo die Plattform gegen die vordere Hallenwand stieß, befand sich ein Portal. Dieses Portal öffnete sich, nachdem das letzte Wort der dröhnenden Stimme verklungen war. Erneut erscholl ein schriller Fanfarenstoß. Die Geschöpfe auf dem Grund der Halle, die angesichts der zyklopischen Mauern wie winzige Insekten wirkten, machten die Geste der Ehrerbietung – ein jedes nach seiner Art, denn sie kamen von vielen verschiedenen Welten und waren auf Wunsch des mächtigen Sperco hier zusammengeführt worden, um an einem Projekt zu arbeiten, an dem Spercos Herz hing. Als ihre Blicke von neuem zu der Plattform hinaufwanderten, gewahrten sie das Wesen, das durch das Portal hervorgetreten war und jetzt am vorderen Plattformrand stand. Seine äußere Erscheinung war alles andere als beeindruckend. Ein Terraner hätte es vermutlich für eine verkrüppelte Riesenfledermaus gehalten. Es stand auf dürren,
schwächlich wirkenden Beinen. Ebenso dürr, dafür um so länger, waren die Arme, die von schmalen Schultern herabbaumelten. Der Rücken des Wesens schien mit einem Überschuß an Haut ausgestattet zu sein, die zahlreiche schlotternde Falten bildete. Die Falten reichten bis zur oberen Hälfte der dürren Beine und schienen dort festgewachsen. Das seltsame Wesen hatte riesige, leuchtende Augen mit katzenähnlichen Schlitzpupillen. Der Schädel lief vorne spitz zu. Ein Paar fühlerähnliche Auswüchse krönten ihn zu beiden Seiten der runden, flachen Stirn. Das Wesen trug ein Gestell auf dem Rücken, das eindeutig künstlicher Herkunft war. An diesem Gestell hingen die Hoffnungen und Gebete derer, die auf dem Grund der Halle den großen Augenblick erwarteten. Denn das Gestell sollte den Wunschtraum des Gebieters zur Wirklichkeit werden lassen. Sie aber, die dort unten mit bangen Sehorganen zur Plattform hinaufstarrten, waren diejenigen, die das Gestell erschaffen hatten. Sie waren Wissenschaftler und Techniker aus allen Provinzen des riesigen Reiches, das Sperco untertan war. Wenn das heutige Experiment gelang, dann war ihnen die Zuneigung des Mächtigen sicher. Mißlang es dagegen, dann würden sie bei der nächsten Zusammenkunft ein oder zwei Dutzend weniger sein; denn Sperco hatte eine wahrhaft barbarische Art, Mißerfolge zu bestrafen. In der riesigen Halle war es still geworden. Das lag nicht nur an der Spannung, mit der die versammelten Wissenschaftler und Techniker den Versuch erwarteten, es hing auch mit dem unheimlichen Fluidum zusammen, das von dem Wesen auf der Plattform ausging. Das dort oben war Sperco! Ein Zwerg im
4
Kurt Mahr
Vergleich zu vielen, die auf dem Grund der Halle standen, und in den Augen der meisten häßlich und widerlich anzusehen. Aber er besaß die Macht. Und wer sich dieser Macht nicht bedingungslos beugte, den löschte er aus. Sperco reckte sich. Das Experiment begann.
* Ein helles Knistern war zu hören: Die Feldprojektoren, die ein unsichtbares Netz erzeugten, das Sperco im Fall eines Mißlingens vor dem Absturz bewahren sollte, waren in Tätigkeit getreten. Das Wesen mit dem Gestell auf dem Rücken stieß einen durchdringenden Schrei aus, der bis in den hintersten Winkel der Halle zu hören war. Dann schwang es sich über den Rand der Plattform. Unter dem Einfluß der Geräte, die das Gestell enthielt, entfalteten sich die blaugrauen Hautmassen auf Spercos Rücken. Zwei Flügel entstanden, der eine ein wenig kürzer und breiter als der andere. Sperco wankte. Er betätigte krampfhaft die Muskeln, die für die Bewegung der Flughäute sorgten. Aber es kam nicht mehr als ein mühsames Flattern dabei zustande. Sperco drohte zu stürzen, aber die Fäden des unsichtbaren Netzes bremsten seinen Fall. Er begann von neuem mit den Flügeln zu schlagen. Diesmal gewann er ein paar Meter an Höhe. Aber als er die Flughäute ausbreitete, um den Gleitflug zu probieren, da wurde er plötzlich kopflastig und schoß ein Stück weit wie ein Stein in die Tiefe. Abermals fing das unsichtbare Netz ihn auf. Sperco tat noch ein paar Flügelschläge und landete sodann, nicht eben sanft, auf dem Boden der Halle. Er schleuderte das Gestell von sich. Die riesigen Augen glühten in hellem Zorn. Mit einer Stimme, deren donnernde Lautstärke in keinerlei Einklang mit der Schmächtigkeit seines Wuchses stand, schrie er:
»Ihr habt versagt! Der Versuch ist mißlungen! Man wird die Verantwortlichen bestrafen. Ihr, die ihr diesmal der Strafe entgeht, macht euch unverzüglich an die Arbeit! Ein neues Gerät muß hergestellt werden.« Die Zugänge zur Halle öffneten sich. Scharen von Robotern strömten herein. Die Wissenschaftler und Techniker wurden durch die offenen Türen hinausgetrieben. Eine kleine Gruppe Roboter aber nahm sich Spercos an und geleitete den Mächtigen in sein Quartier.
* In dem Raum, von dem aus er die Geschicke seines Reiches lenkte, erholte sich Sperco von der Enttäuschung, die das mißlungene Experiment ihm bereitet hatte. Sein Herz war kalt. Er hatte die fähigsten Techniker und Wissenschaftler hier in seiner Burg MOAC zusammengeholt. Ihre Aufgabe war es, dem Mächtigen die Fähigkeit des Fliegens zu verschaffen – eine Fähigkeit, die die Natur ihm verweigert hatte, indem sie ihn verkrüppelt und mit verkümmerten Flughäuten aus dem Ei hatte kriechen lassen. Von Fachleuten erwartete Sperco, daß sie Erfolge erzielten. Blieben die Erfolge aus, dann bezichtigte er die Fachleute der Unfähigkeit und des Versagens. Es gab aber nichts auf der Welt, was Sperco mehr haßte als die Unfähigkeit oder das Versagen. Beides wurde unweigerlich mit dem Tod geahndet. Ein Signal gab ihm zu verstehen, daß sein persönlicher Diener in seiner Gegenwart zu erscheinen wünsche. Sperco betätigte einen Kontakt, woraufhin sich einer der Eingänge öffnete. Ein Wesen, das in einen unförmigen, mit zahlreichen Noppen verzierten Raumanzug gekleidet war, trat ein. »Was willst du?« fragte Sperco. Aus dem mit einer dunkelbraunen, schmalen Quarzscheibe bewehrten Helm quarrte die Stimme des Dieners: »Die Verantwortlichen sind ermittelt wor-
Der Krüppel von Arsyhk den, oh Herr!« Sperco machte eine wegwerfende Armbewegung. »Man soll mit ihnen verfahren, wie ihnen gebührt«, sagte er. Der Diener machte die Geste der ergebenen Zustimmung. Aber er rührte sich nicht vom Fleck. »Sonst noch etwas?« herrschte Sperco ihn an. »Ja, oh Herr. Die Vorankündigung einer Nachricht.« »Von wem?« »Von der WAHRHAFTIGKEIT, oh Herr.« »Aha!« machte Sperco. »Noch keine Daten?« »Nein, oh Herr. Die WAHRHAFTIGKEIT hat zunächst Kommunikationskontakt hergestellt. Mit dem Eintreffen der ersten Daten wird in Kürze gerechnet.« »Melde dich, sobald du Daten hast!« befahl Sperco. »Gewiß, oh Herr!« antwortete der Diener und entfernte sich so rasch wie möglich. Die Gedanken des Mächtigen waren von dieser kurzen Unterbrechung kaum beeinflußt worden. Als der Diener den Raum verlassen hatte, kehrten sie zu dem zurück, womit sie zuvor beschäftigt gewesen waren. »Sperco wird fliegen!« lautete der Wahlspruch des Herrschers über ein riesiges Sternenreich. Fliegen zu können, war eine Fähigkeit, die die Natur ihm versagt hatte, aus irgendeiner Laune heraus. Die Natur hatte ihm noch mehr versagt. Als er zur Welt kam, war er der kümmerlichste aller Braislinge, ein Anlaß für mancherlei spöttisches Getuschel am Hofe des Königs, dessen Sohn er war. Sperco hatte alle diese Hindernisse überwunden. Er hatte ein Reich erbaut, das mächtiger und größer war, als sein Vater es sich in seinen kühnsten Träumen erdacht hätte. Er war der Herrscher über eine Galaxis. Er selbst, aus eigener Kraft, hatte wettgemacht, was die Natur an ihm verbrochen
5 hatte. Er würde, aus eigener Kraft, auch das letzte Handikap beseitigen. Er würde die Fähigkeit des Fliegens erwerben, wie es eines Braisen würdig war. Spercos Gedanken kehrten in die ferne Vergangenheit zurück.
1. Nikhor, die Wolkenstadt, spannte sich über eine gewaltige Fläche inmitten des Garmanago-Landes. Nikhor war die mächtigste aller Städte, denn in ihr hatte Kirstan, der König der Braisen, seine Residenz. Das Garmanago-Land war im Grunde genommen eben. Aber aus dieser Ebene ragten, meistens zu Gruppen geordnet, steile Felsen, die sich bis zu schwindelnden Höhen erhoben. Zwischen den Felsen, weil ihnen dort die Witterung besonders bekömmlich war, wuchsen Aqiroda-Bäume, die zumeist mit mehreren mächtigen Strünken aus dem Boden drangen, wobei die Strünke sich ein paar Dutzend Meter über dem Boden zu einem einzigen Stamm vereinten, der an Höhe mit dem Felsen wetteiferte und schließlich eine Krone bildete, die selbst der in der Kunst des Fliegens versierteste Braise nur im Laufe einiger Minuten umrunden konnte. Über die Felsen und die Bäume spannte sich das Netz, das die Braisen die Wolkenstadt Nikhor nannten. Die Gebäude der Stadt waren Nester – so hätte ein unvoreingenommener Fremder sie wohl genannt – in denen die Braisen hausten. Die Nester waren untereinander durch kräftiges Seilwerk verbunden, das die Braisen aus den Fasern des Aqiroda-Baumes gewannen. Das Seilwerk verband die Nester der großen Stadt zu einem widerstandsfähigen Ganzen, das selbst dem gröbsten Sturm mit Leichtigkeit zu widerstehen vermochte. Im Zentrum der Wolkenstadt Nikhor gab es ein Nest, das so groß war, daß es nahezu die gesamte Krone eines Aqiroda-Baums umfaßte. So gewaltig war das Nest, daß es den Baum zu belasten begonnen hatte. Er
6 fing an, sich zu neigen, und sein Laubwerk starb ab. Dies war das Nest der königlichen Familie, und seitdem sie das Absterben des Laubes bemerkt hatten, überlegten sich die Braisen, an welcher Stelle sie ihrem König ein Nest errichten konnten, das seiner würdig war. Denn Kirstan war wegen seiner Weisheit gerühmt, wegen seiner Gerechtigkeit geehrt und wegen seiner Milde geliebt, und es war für die Braisen eine Selbstverständlichkeit, daß sie es sich zur Aufgabe machten, dem König und seiner Familie ein neues Nest zu bauen. Einige der angesehensten Bürger von Nikhor hatten ein Komitee gebildet, dessen erste Aufgabe war, einen geeigneten Bauplatz für das neue königliche Nest zu finden. Das war nicht so einfach, wie man denken mochte. Die Felsen und Aqiroda-Bäume von Nikhor waren dicht besiedelt, und man durfte sicher sein, daß der König keinen Vorschlag annehmen würde, durch den andere Braisen aus ihrem bisherigen Heim vertrieben wurden. Die Lösung wurde schließlich von Omidion gefunden, einem reichen Mann, den Kirstan vor kurzem zum königlichen Ritter geschlagen hatte und der seitdem im Konzil des Königs saß. Omidions Vorschlag war außergewöhnlich kühn, weshalb es niemand wunderte, daß der Gedanke nicht zuvor schon geäußert worden war. Es gab nämlich ungefähr im Zentrum der riesigen Stadt Nikhor eine Gruppe von Felsen, die man die Fünf Brüder genannt hatte. Sie bestanden aus anderem Gestein als die herkömmlichen Monolithen, die der Stadt als Stütze dienten. Sie waren von blendendem Weiß und ragten hoch über die Kuppen der anderen Felsen und die Kronen der Aqiroda-Bäume hinaus. Wegen ihres fremdartigen Aussehens und der ungewöhnlichen Höhe waren sie bislang nicht in die Stadtplanung von Nikhor einbezogen worden. Während einer Sitzung des Komitees erhob sich Omidion, der königliche Ritter, und sprach: »Wahrhaftig, wir könnten unserem König
Kurt Mahr keinen deutlicheren Beweis unserer Verehrung erbringen, als indem wir sein neues Nest in den Fünf Brüdern errichten. Gewiß, es wird ein ehrgeiziges Unterfangen sein. Die Fünf Brüder müssen untereinander verspannt werden. Es ist ein Netzwerk zu schaffen, das dem Nest Halt bietet. Die Wände des Nestes müssen besonders stark aufgeführt werden, damit sie erstens hoch über die Kuppen der Fünf Brüder hinausragen und zweitens den Winterstürmen trotzen können. Aber das alles läßt sich machen, wenn wir nur den Willen dazu haben.« Omidions Vorschlag stieß auf begeisterten Beifall. Das Komitee tagte bis lang in die Nacht hinein, um die weitere Vorgehensweise zu erarbeiten. Man beschloß, mit dem Bau des neuen Königsnests sofort zu beginnen. In etwa zwei Monaten würde Kirstan mit seinem Hof in das Sommernest am Südrand der Stadt umziehen. Bis der nächste Winter kam, würde das neue Nest in den Fünf Brüdern längst fertiggestellt sein. Als die Sitzung sich endlich auflöste, da blieben zum Schluß noch zwei Männer übrig – nämlich Omidion selbst und der alte Karmitar, der als erster vor etlichen Monaten angeregt hatte, die Bürgerschaft müsse dem König ein neues Nest bauen. Karmitar wandte sich an den königlichen Ritter und meinte: »Das war ein ausgezeichneter Vorschlag, Omidion! Woher nimmst du nur die Vorstellungskraft, um auf solch brillante Gedanken zu kommen?« Omidion schmunzelte. »Dir kann ich es ja sagen – und ich nehme an, beizeiten wird es ohnehin herauskommen. Die Idee stammt nicht wirklich von mir.« »Sondern?« fragte Karmitar überrascht. »Von den Squoonern.«
* Die Squooner waren ein geheimnisvolles Volk, das in der Tiefe des Landes Garmanago lebte. Während die Braisen nach Licht
Der Krüppel von Arsyhk und Sonne strebten und keine Gelegenheit verstreichen ließen, ihre Schwingen auszubreiten und durch den Äther zu gleiten, fühlten sich die Squooner in der Dunkelheit wohl. Sie lebten nur zum Teil auf der Oberfläche des Landes. Die Natur hatte es so eingerichtet, daß die Braisen und die Squooner trotz der Verschiedenartigkeit ihres Wesens den Drang verspürten, miteinander zu siedeln. Das heißt: wenn die Braisen sich eine neue Stadt bauten, hoch droben zwischen Felsen und den Kronen der Aqiroda-Bäume, dann zogen kurz darauf auch die Squooner ein – drunten, in der Tiefe, zwischen den Wurzelballen der Bäume und den Füßen der Felsen. Was genau die beiden Völker voneinander hatten, wäre wahrscheinlich schwer zu definieren gewesen. Für die Braisen jedoch stand fest, daß die Squooner verschiedene magische Künste beherrschten, deren man sich gern bediente, wenn in einer schwierigen Lage kein anderes Mittel mehr weiterhalf. So war es kein Wunder, daß Omidion, als ihm klar wurde, daß das Komitee aus eigener Kraft zu keiner Lösung kommen werde, den Weg nach unten genommen und von den schlauen Squoonern erfahren hatte, wo man dem König ein neues Nest bauen sollte. Von all diesen Vorgängen hatte Sperco, der damals noch ein Braisling war, dazumal keine Ahnung. Braislinge nannten die Braisen ihre Nachkommen, bis diese das Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatten. Sperco besaß überhaupt keine Erinnerung an das alte königliche Nest – jenes, das den Aqiroda-Baum so belastet hatte, daß er sich zu neigen begann und die Bürger von Nikhor den Entschluß faßten, ihrem König ein neues Nest zu bauen. Sein Gedächtnis setzte an einem jener Tage ein, die die königliche Familie im Sommernest am Südrand der Stadt verbrachte. Sommerneste waren leicht vergängliche und ebenso leicht wiederherzustellende Gebilde. Während der warmen Monate boten sie einen angenehmen Aufenthalt. Von den
7 Winterstürmen wurden sie auseinandergerissen. Es gab nicht allzu viele Braisen, die sich den Luxus eines Sommernests leisten konnten. Der König war selbstverständlich einer von ihnen. Spercos früheste Erinnerung war die an eine laue Sommernacht, in der es ihm gelang, seiner Wärterin zu entkommen und bis zum höchsten Deck des Nestes emporzuklettern, das dem Himmel zu geöffnet war und auf dessen Boden man Erde aufgehäuft hatte, so daß dort Pflanzen wuchsen, Bäume, Büsche und Gras, die zusammen einen kleinen Park bildeten. Auf dem nächstunteren Deck hatte König Kirstan zu einer Feier geladen. Die Zeit war bereits vorgeschritten. Mitternacht war längst vorüber. Wenn sich zwischen den Reden und Gesängen eine Pause ergab, dann kamen gewöhnlich mehrere von des Königs Gästen durch die Öffnungen im Boden des Parks heraufgeflattert, um sich an der frischen Luft zu ergötzen. Sperco hatte einen Lieblingsplatz. Er lag nur ein paar Schritte unterhalb des Nestrands. Man mußte klettern, um dort hinauf zu gelangen. Aber Sperco, dem die Natur die Gabe des Fliegens verwehrt hatte, war dafür um so gewandter im Klettern. Er saß auf diesem Platz und starrte in den sternerfüllten Himmel hinauf. Der Anblick der Sterne half ihm, alle Erniedrigungen, die der vergangene Tag gebracht hatte, zu vergessen – solange wenigstens, bis ein neuer Tag anbrach und die Häßlichkeiten, die Spötteleien und was das Leben sonst noch barg von neuem begannen. Auch in dieser Nacht hockte Sperco auf seinem Lieblingsplatz und strich über die verwachsenen Hautfalten auf seinem Rücken, die von Rechts wegen mächtige Schwingen hätten sein sollen. Durch die Löcher im Boden des Parks hörte er den Lärm des Festes. Als die Gesänge verstummten, wußte er, daß alsbald die Schar der Besucher den Park bevölkern würde. Es lag ihm daran, von niemand gesehen zu werden. Also zog er sich bis an den äußersten Nestrand
8 zurück und verhielt sich still. Da begann es, unter ihm in den Büschen zu knacken und zu knistern. Er hörte gedämpfte Stimmen. Zwei Männer kamen dort den Rand des Nestes herauf. Er erkannte die helle und durchdringende Stimme des alten Karmitar, den der König zu seinen Freunden zählte. Karmitar und sein Begleiter schritten bis dorthin, wo der Park endete, weil die steil ansteigende Nestwand den künstlich aufgeschütteten Boden nicht mehr zu halten vermochte. Außerhalb der letzten Buschreihe ließen sie sich nieder. Sperco hockte nur wenige Fuß über ihnen. Er erkannte jetzt auch den zweiten Mann: Es war der königliche Ritter Omidion, der in Kirstans Konzil saß. Karmitar und Omidion sprachen über schwerwiegende Dinge. Karmitar sagte: »Ich bin selbst einer der ältesten im Land. Aber ich bin kein König. Wenn ich dahingehe, braucht sich über meine Nachfolge niemand den Kopf zu zerbrechen. Anders ist es mit Kirstan. Er hat zwei Söhne: Öpner und Sperco. Kirstan ist alt. Eines Tages werden wir ihn nicht mehr sehen und wissen, daß er sich in das Land des Todes begeben hat. Wer tritt seine Nachfolge an?« Omidion kicherte und antwortete: »Das ist keine ernst gemeinte Frage. Oder etwa doch?« »Ich sehe, du hältst die Sache für einfach«, reagierte Karmitar. »Aber vergiß nicht, daß nach unseren Gesetzen das Alter des Königssohns für die Nachfolge keine Rolle spielt. Im übrigen ist Sperco nur ein paar Augenblicke jünger als Öpner.« »Wer wird ihn ernst nehmen?« lachte Omidion. »Stell sie nebeneinander: den Krieger und den Krüppel. Ich sage dir: wenn Sperco Anspruch auf den Thron erhebt, dann wird es ringsum im Land ein solches Gelächter geben, daß der Krüppel sich ins nächste Astloch verkriecht, um sich nie wieder sehen zu lassen.« Sperco hörte diese Worte. Sein Herz verhärtete sich, und er begann, nicht nur Omidion, sondern auch seinen Bruder Öpner zu
Kurt Mahr hassen.
* Im Sommer fand auch das Fest der Sieben Ringe statt. Es bot den männlichen Braislingen, die im kommenden Winter zu Erwachsenen initialisiert werden würden, eine Gelegenheit, ihr geistiges und körperliches Geschick zu beweisen. Das Fest der Sieben Ringe hatte schon immer bei den Fünf Brüdern stattgefunden – auch damals schon, als die Felsengruppe noch nicht das königliche Nest enthielt, das nun schon etliche Jahre alt war und mit einem Durchmesser von über einhundert Metern ein sehr imposantes Bauwerk war, würdig des großen Königs. Sperco, nur wenige Minuten jünger als sein Zwillingsbruder Öpner, war im Lauf der Jahre immer bitterer geworden. Das belauschte Gespräch zwischen Omidion und Karmitar hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Er war ein scharfer Beobachter geworden, dem keine Regung in seiner Umgebung entging. Allmählich hatte er herausgefunden, daß die Welt ihm zweierlei Gefühle entgegenbrachte: Spott und Mitleid. Leute, die ihn ernst nahmen, gab es nicht. Zu Spercos eifersüchtigem Haß auf seinen Bruder Öpner, hatte sich inzwischen die Besessenheit gesellt, daß er, der Krüppel, der Welt eines Tages zeigen werde, daß er Öpner weit überlegen war. Sperco hatte zumindest vorläufig die Hoffnung aufgegeben, daß sich an der Verwachsenheit seines Körpers etwas ändern lasse, und sich auf das Erwerben von Wissen konzentriert. Er war ein ungemein wißbegieriger Schüler und sog das, was die Lehrer ihm vermittelten, auf wie ein trockener Schwamm das Wasser. Die Lehrer allerdings durchschauten ihn. Anstatt ihn wegen seiner Leistungen zu bewundern, begriffen sie, daß er sich nur deswegen auf die Wissenschaften gestürzt hatte, weil er für seine körperlichen Mängel kompensieren wollte, und empfanden Mitleid mit ihm. Nun also war die Zeit herangekommen,
Der Krüppel von Arsyhk da das Fest der Sieben Ringe gefeiert werden sollte. Die Sieben Ringe bestanden aus geweihtem, goldhaltigem Metall, hatten einen Durchmesser von etwa einer Handspanne und besaßen einen Querschnitt, der etwa dem Fünffachen eines Fingers entsprach. An einem der Felsen, die die Gruppe der Fünf Brüder bildeten, waren senkrecht untereinander sieben Halterungen angebracht. In diesen Halterungen wurden die Ringe gelagert, und zwar so, daß sie waagerecht von der steil abstürzenden Felswand wegstanden. Die Halterungen waren jeweils zwei Meter voneinander entfernt, so daß der unterste Ring sich rund zwölf Meter unterhalb der obersten befand. Die Halterungen waren überdies so gearbeitet, daß sie den Ring losließen, wenn jemand nur fest genug an ihm zog. Die Aufgabe der Braislinge, die zum Fest der Sieben Ringe zugelassen wurden, war, den Felsen anzufliegen und möglichst viele Ringe aus ihren Halterungen zu reißen. Da die Braisen die Kunst des Fliegens bis ins letzte beherrschten, schien dies keine sonderlich schwierige Aufgabe zu sein. Man hätte meinen mögen, daß jeder, der sich an dem Wettbewerb beteiligte, mühelos alle sieben Ringe davonschleppen könne. Die Schwierigkeit lag darin, daß gerade an der Stelle, an der die Ringe angebracht waren, eine kräftige Antithermik herrschte. An der Außenseite der Fünf Brüder stieg die über den Wipfeln der Aqiroda-Bäume erhitzte Luft mit mächtigem Zug nach oben. Aber die Ringe waren an der Seite des Felsens angebracht, die sich dem Nachbarfelsen zuwandte. Die an der Außenseite aufwärts strömende Warmluft erzeugte zwischen den Felsen eine Zone heftigen Unterdrucks und somit einen Sog, der die fliegenden Braislinge in die Tiefe riß, wenn sie sich zu langsam bewegten. Gewöhnlich flogen die Wettbewerber von Süden her an, also quer durch den fünfeckigen Innenraum, dessen Eckpunkte die Fünf Brüder bildeten. Die meisten waren mit irgendeiner Art von Gerät bewaffnet, das ih-
9 nen helfen sollte, mit einem Zupacken mehrere der kostbaren Ringe zu erwischen. Man hatte dabei schon die abenteuerlichsten Gebilde beobachtet, und gewisse Leute befürchteten, daß aus einer Schau der fliegerischen Geschicklichkeit im Lauf der Zeit ein Wettbewerb handwerklichen Erfindergeists werden würde. Die Zuschauer verfolgten den Wettkampf aus den Baumkronen des Aqiroda-Waldes, aus dem sich die Fünf Brüder erhoben. Für den König und sein Gefolge war gewöhnlich eine herrschaftliche Loge unweit der Stelle eingerichtet, an der sich die Sieben Ringe befanden. An dieser Gewohnheit hatte sich auch dann nichts geändert, als der König das neue Nest bezog, das hoch oben zwischen den Zinnen der Fünf Brüder thronte. Denn von dort aus waren die Vorgänge bei den Sieben Ringen nur schwer zu beobachten. Dem eigentlichen Wettkampf gingen umfangreiche Auswahlkämpfe von mehreren Wochen Dauer voraus. Denn gewöhnlich meldeten sich etliche tausend Braislinge für den Wettbewerb, während an der endgültigen Ausscheidung nicht mehr als ein Dutzend Kämpfer teilnehmen durften. So wollte es die Überlieferung. In den vergangenen drei Jahren hatte sich jedesmal Öpner, der älteste Sohn des Königs, unter den auserwählten zwölf befunden, und im vergangenen Jahr war er, mit einer Beute von vier Ringen, der Sieger gewesen. Mit vier Ringen hatte er den absoluten Wettbewerbsrekord eingestellt. Am frühen Morgen des Wettkampftages waren die zwölf Braislinge am Nordrand des königlichen Nestes aufgereiht. Die Zuschauer bezogen ihre Plätze. Das Fest der Sieben Ringe war von jeher ein Volksfest gewesen, an dem jeder teilnahm, an dem jeder seine Freude hatte. Die meisten Familien hatten sich auf den ganzen Tag eingerichtet und Proviant mitgebracht. Die, deren Nester in der Nähe des Nordrands der Felsengruppe lagen, vermieteten Aussichtsplätze zu horrenden Preisen. Es gab fliegende Händler, die allerhand Waren anboten, so daß auch
10 der nicht zu hungern und zu dürsten brauchte, der vergessen hatte, seine eigenen Vorräte mitzubringen. Die Ankunft des Königs und seines Gefolges wurden durch eine Serie von KanukaTönen bekanntgegeben. Die Kanuka war eine Mischung aus Sprachrohr und Musikinstrument. Sie war aus dem Holz eines bestimmten Baumes gefertigt und hatte einen langen, dünnen Stil, der am vorderen Ende aufgewölbt war. Ob sie die Funktion eines Musikinstruments oder Sprachrohrs versah, hing allein davon ab, wie der Benutzer seine Lippen formte. Als die Herolde in die Kanuka bliesen, erhob sich in den Kronen des Aqiroda-Waldes allgemeiner Jubel. Teils galt er dem König, teils rührte er aus der Freude her, daß der spannende Wettkampf nun endlich beginnen könne. Es gab an diesem Tag wahrscheinlich im ganzen Braisen-Volk nur einen, der nicht an der allgemeinen Freude teilnahm: Sperco. In den vergangenen Wochen hatte er im königlichen Nest von nichts anderem reden hören als davon, wie Öpner dieses Jahr den Sieg ganz bestimmt davontragen werde, wie er wahrscheinlich einen neuen Rekord aufstellen würde und wie er damit die Ehre des Königshauses vergrößerte und den Braisen zeigte, daß er ein würdiger Nachfolger Kirstans sein werde. Sperco hatte mit dem Gedanken gespielt, sich krank zu stellen und dem Fest fernzubleiben. Er hatte diese Absicht schließlich aufgegeben – aus dem einfachen Grund, weil es ihm denkbar erschien, daß Öpner, um auch wirklich den Sieg zu erringen, seine Kühnheit übertrieb und sich dabei den Hals brach. Diesen Augenblick aber wollte Sperco auf keinen Fall versäumen. Wenige Minuten später ertönte die Kanuka von neuem. Diesmal wurde sie als Megaphon benützt. Einer der Herolde verkündete mit einer Stimme, die weithin über die Wipfel des Aqiroda-Waldes schallte: »Der tapfere Bennitor ist der erste Wettbewerber!«
Kurt Mahr Hoch oben schwang sich ein Braisling von der Nordkante des königlichen Nestes. Man sah, daß er ein kompliziertes Gerät bei sich trug. Bennitor flog ein paar weite Kreise, um sich den Zuschauern zu zeigen. Dann wandte er sich nach Süden, um die Sieben Ringe aus der herkömmlichen Richtung anzufliegen. Er verschwand hinter den Fünf Brüdern. Unter der Menge der Zuschauer wurde es still. Ein paar Minuten vergingen. Plötzlich reckten sich in der Königsloge die Hälse. Bennitor war erspäht worden. Er kam aus dem Schatten der Felsen. Mit großer Geschwindigkeit schoß er zwischen den zwei Monolithen hindurch, zwischen denen die Ringe montiert waren. Sein Gerät öffnete sich, schnappte nach mehreren Ringen gleichzeitig – und blieb hängen. Rufe der Angst wurden laut. Bennitor sackte wie ein Stein in die Tiefe. Er hielt sich an seinem Gerät fest, aber so sehr er auch daran zerrte – es hatte sich in den Ringen verfangen und war nicht wieder frei zu bekommen. Bennitor ließ schließlich los. Mit einem kräftigen Stoß erreichte er den Rand der Aufwindzone, entfaltete die Schwingen und glitt am Rand des Felsens entlang in die Höhe. Lauter Beifall belohnte den mutigen Akt, obwohl Bennitor keinen einzigen Ring erbeutet hatte. Von der Höhe des königlichen Nestes wurde jetzt die Instandhaltungsmannschaft an Bord eines schüsselförmigen Behälters herabgelassen. Man entfernte Bennitors Gerät und ließ es einfach in die Tiefe stürzen. Der nächste Wettbewerber war an der Reihe. Ihm gelang es, einen Ring zu erbeuten. Die Begeisterung der Menge wuchs. Der dritte Kämpfer hatte Pech. Er verfehlte die Ringe gänzlich und wäre um ein Haar in den Wald hinab abgestürzt. Von dort gab es so gut wie kein Entkommen. Äste, Zweige und Stämme, zusammen mit den Schlingpflanzen, die sich gerne auf Aqiroda-Bäumen ansiedelten, bildeten eine derart verfilzte Masse, daß selbst der schmächtigste Braise seine Flügel dort nicht hätte entfalten können.
Der Krüppel von Arsyhk Öpner war der sechste Bewerber. Als sein Name ausgerufen wurde, senkte sich Stille über das Land. Öpner verließ den Rand des Felsens mit elegantem Schwung. Während er seine erste Runde drehte, sahen die Zuschauer, daß er nur mit einer Lanze bewaffnet war. Man wußte nicht, was man davon halten sollte. Der Königssohn verlor nicht viel Zeit. Mit ein paar kräftigen Schwingenschlägen erhob er sich hoch über die Zinnen der Fünf Brüder. Man er, wartete von ihm, daß er nach Süden abdrehen werde, um die Sieben Ringe auf dem üblichen Wege anzufliegen. Aber Öpner hielt eine besondere Überraschung parat. Nach dem letzten Flügelschlag faltete er die Schwingen plötzlich auf dem Rücken. Sofort begann er zu stürzen. Wie ein Stein schoß er in die Tiefe, immer schneller. Schreie gellten auf. Die Zuschauer sprangen von ihren Sitzen und verfolgten mit entsetzten Blicken den rasenden Sturz, der unweigerlich in den Tod führen mußte. Was war mit Öpner geschehen? War er bewußtlos geworden? Hatten ihn die Kräfte verlassen? Da plötzlich: Die Lanze fuhr mit einem kräftigen Ruck vorwärts. Schneller, als das Auge zu folgen vermochte, durchdrang sie alle sieben Ringe gleichzeitig. Im selben Augenblick spreizte Öpner die Schwingen. Nur wenige Fuß über dem Blätterdach fing er den Sturz ab. Ein kurzes Flattern brachte ihn in den Bereich der aufwärtsströmenden Warmluft. In geringer Höhe glitt er über die königliche Loge. Man hörte ihn den Siegesschrei ausstoßen, als er die Lanze weit vor sich hin hielt. Alle sieben Ringe hingen an der Lanze! Da erhob sich ein ungeheurer Tumult. Schreie gellten, Öpners Name wurde von Tausenden von Kehlen gerufen. Die Zuschauer winkten, die Herolde bliesen in ihre Kanuka. Es war wie in einem Tollhaus. Inmitten des Lärms aber hörte Sperco seinen Vater Kirstan mit leuchtenden Auge und fast ehrfürchtigem Stolz sagen: »Öpner – das wird ein König sein, wie ihn
11 dieses Land noch nie zuvor gehabt hat!«
2. Es war kein Wunder, daß Sperco von da an noch bitterer war als zuvor. Eine Zeitlang zeigte er seinen Haß für Öpner ganz offen. Erst als er von seinem Vater zur Rede gestellt wurde, barg er den Haß in seinem Herzen und ging seinem Bruder nach Möglichkeit aus dem Weg. In seiner Bitterkeit hatte Sperco keinen anderen Gedanken als den, daß er seinem Bruder eines Tages werde zeigen müssen, daß in Wirklichkeit er, der Krüppel, der überlegene war. Diese Idee erfüllte ihn mit solcher Besessenheit, daß er heimlich Körperertüchtigung zu betreiben begann, ohne zu erkennen, daß er auf dem Gebiet physischer Kraft und Gewandtheit Öpner nie werde schlagen können. Öpner war die Idealgestalt des heranwachsenden Braisen – einen Meter achtzig groß, mit hellen, grünlich leuchtenden Augen, mächtigen Schwingen, die er bis zu einer Spannweite von fast zehn Metern zu recken vermochte, und einer ins Blaue schimmernden Haut, die die Farbe gehärteten Stahls hatte. Sperco dagegen war nur bis zu einer Größe von anderthalb Metern gewachsen, und es war nicht zu erwarten, daß er noch größer werden würde. Seine Arme und Beine waren kümmerlich dünn. Die Flügel waren ihm auf dem Rücken zusammengewachsen und sahen aus wie ein unordentlicher Umhang, in den er sich gekleidet hatte. Seine Hautfarbe war ein wenig ansprechendes Grau, und die verkümmerten Schwingen zeigten ein blasses Dunkelgrau, während sie bei Öpner das herrliche Nachtschwarz der Jugend und Gesundheit besaßen. Man muß den Gemütszustand, in dem Sperco sich befand, in Rechnung ziehen, um zu verstehen, warum er, der sich später zum Herrscher über eine ganze Galaxis aufschwingen würde, jede Gelegenheit benutzte, um sich aus dem königlichen Nest zu
12 schleichen und an abgelegenen Orten das Fliegen zu üben, obwohl ihm die Schwingen zusammengewachsen waren. Er hatte sich vorgenommen, besser zu sein als sein Bruder, und da Öpner in erster Linie auf dem Gebiet körperlicher Gewandtheit glänzte, erschien es Sperco in seiner vom Haß verzerrten Logik selbstverständlich, daß er eben auf diesem Gebiet mit Öpner in Wettbewerb treten müsse. Einige Wochen lang übte er sich im Gebrauch der Schultermuskeln. Er glaubte, er müsse nur genug Druck auf die verwachsenen Schwingen ausüben, um sie zum Entfalten zu bringen. In seinem getrübten Verstand meinte er sogar, Fortschritte feststellen zu können, und eines Tages wagte er den ersten Flugversuch. Er kauerte auf einem dicken Ast, nur wenige Meter über dem Blätterdach des Aqiroda-Waldes. Der Baum, den er sich ausgesucht hatte, ragte ein Stück weit über seine Artgenossen hinaus. In einer Entfernung von kaum zehn Meter befand sich ein weiterer Ast, den Sperco sich als Ziel ausgesucht hatte. Er stieß sich ab und pumpte wie wild mit den Schultermuskeln. Die Schwingen auf seinem Rücken entfalteten sich teilweise. Aber sie benahmen sich nicht wie Flügel, sondern eher wie ein zu klein geratener Fallschirm. Sperco hatte den Ast kaum verlassen, da war er schon so weit abgesunken, daß es keine Hoffnung mehr gab, das Ziel zu erreichen. Er geriet in Panik. Er betätigte die Muskeln noch schneller, aber seinen Sturz konnte er dadurch nicht abfangen. Rauschend und krachend durchbrach er das Blätterdach des Waldes. Zweige, Äste, Schlingpflanzen huschten an ihm vorbei. Es wurde immer dunkler. Ein paarmal prallte er mit schmerzhafter Härte auf, als ein Ast seinem Sturz in den Weg kam. Er wurde herumgewirbelt. Er verlor die Orientierung – wußte nicht mehr, wo oben und unten war. Er sah nichts mehr, weil es rings um ihn finster geworden war. Als er schließlich auf den Boden prallte,
Kurt Mahr da war nur noch ein Funke Bewußtsein in Sperco. Und selbst dieser Funke erlosch, als der Schmerz des Aufpralls Spercos Gehirn erreichte.
* Schließlich hörte er Geräusche – piepsende und fiepende Laute. Er lag still und versuchte sich zu erinnern. Sein Mißgeschick fiel ihm ein. Er war bis auf den Boden des Waldes gestürzt. Er probierte die Muskeln. Sie schienen ihm zu gehorchen, wenn sie auch schmerzten. Er öffnete die Augen und stellte fest, daß mildes, angenehmes Halbdunkel ihn umgab. Er sah huschende Gestalten und wußte plötzlich, was das Piepsen und Fiepen zu bedeuten hatte. Es waren Laute der Sprache, die die Squooner sprachen. Die Gestalten, die er sah, waren Squooner, maulwurfsähnliche Geschöpfe mit düster gefärbtem Fell, die um ihn bemüht zu sein schienen. Behutsam richtete Sperco sich auf. Dabei stellte er fest, daß er auf einem Lager aus weichem, frischem Laub ruhte, das die Squooner am Fuß eines Baumstamms eigens für ihn aufgeschüttet zu haben schienen. Sperco wußte zunächst nicht, was er von der Lage halten sollte. Einerseits war er erleichtert, daß sein Sturz nicht schwererwiegende Folgen gehabt hatte. Andererseits fühlte er sich in der Gegenwart der Squooner unbehaglich. Es war finster und roch muffig hier unten auf dem Grund des Waldes. Die Luft war mit Feuchtigkeit und fremdartigen Gerüchen gesättigt. Und überdies waren die Squooner, zumal für ein Mitglied des königlichen Hauses, keine akzeptable Gesellschaft. Zwar bedienten sich die Braisen gerne der magischen Künste, die die maulwurfsähnlichen Wesen beherrschten. Aber der Umstand, daß sie sich in der Magie auskannten, hatte den Squoonern bislang nicht zu gesellschaftlicher Anerkennung verholfen. Sperco wußte, daß die Mehrzahl der Squooner die braisische Sprache beherrsch-
Der Krüppel von Arsyhk ten. Er wandte sich an eine der hin und her huschenden Gestalten und erkundigte sich barsch: »Was geht hier vor? Warum bringt ihr mich nicht nach oben ans Licht, wo ich hingehöre.« Sofort eilte einer der Squooner herbei. Es war annähernd so groß wie Sperco und bewegte sich aufrecht, wenn auch watschelnd, auf zwei platten, breiten Füßen. Große, dunkle Augen, die aus ihren Höhlen hervorzuquellen schienen, beherrschten das bepelzte Gesicht. »Die Ärzte sind sich noch nicht einig darüber, ob du transportiert werden kannst, Königssohn«, antwortete der Squooner mit hoher Stimme, aber in einwandfreiem Braisisch. »Du kennst mich?« fragte Sperco verwundert. »Jeder kennt die Familie des großen Königs Kirstan«, lautete die Antwort. »Wer bist du? Einer der Ärzte?« »Ich bin Ningon, ein Jünger der heilenden Magie und ein Arzthelfer.« »Hat man mich untersucht? Bin ich verletzt?« »Du hast Verletzungen erlitten. Nicht so sehr vom Aufprall auf den Boden als von den Zusammenstößen mit den Ästen und Schlingpflanzen. Der Schaden ist jedoch nicht ernster Art. Beizeiten wirst du wieder gesund werden – wenigstens so gesund, wie du vor deinem Sturz warst.« Diese Bemerkung erregte Spercos Zorn. Er beugte sich blitzschnell nach vorne und bekam den Squooner an seinem Pelz zu fassen. »Wie meinst du das?« herrschte er ihn an. In diesem Augenblick ging mit dem Pelzwesen eine seltsame Veränderung vor sich. Die großen dunklen Augen, die bis jetzt halb traurig, halb ängstlich geblickt hatten, leuchteten plötzlich auf. Sie strahlten Wärme und Freundlichkeit aus. Der Squooner trat näher an Spercos Lager. »Wie meine ich was?« erkundigte er sich sanft. »Was du eben gesagt hast«, antwortete
13 Sperco verwirrt. »Ich kann es dir nicht erklären, Herr«, sagte Ningon mit unterwürfiger Freundlichkeit. »Aber ich kann dir versichern, daß ich dich nicht verletzen wollte. Ich werde dich nie verletzen wollen, Herr!« »Das will ich hoffen«, murmelte Sperco und streckte sich verwirrter als zuvor wieder auf seinem Lager aus. Was ihm erst später zu Bewußtsein kam, war, daß er soeben den ersten Akt der »Spercotisierung« vollzogen hatte.
* Etwa eine Stunde später näherte sich ein Squooner seinem Lager. Sperco, dem es schwerfiel, die bepelzten Wesen voneinander zu unterscheiden, war nicht sicher, ob er Ningon vor sich hatte. Da entdeckte er das freundliche Leuchten in den Augen des Squooners und war von da an seiner Sache sicher. »Du bringst Neuigkeiten?« fragte er. »Gewiß, Herr«, antwortete Ningon demütig. »Die Ärzte haben entschieden, wie zu erwarten war.« »Wie ist das?« »Der Große Weise soll über deinen Zustand entscheiden. Wenn er dich für transportfähig erklärt, dann wollen wir dich wieder nach oben bringen.« Bei diesen Worten fiel ein Schatten über das freundliche Gesicht des Squooners, und seine Augen wurden trübe. »Das gefällt dir nicht?« fragte Sperco überrascht. »Mein Herz gehört dir, Herr«, antwortete Ningon traurig. »Du wirst mich nicht mit dir nehmen. Ich werde hier zurückbleiben und mich vergebens nach dir sehnen.« Spercos Gedanken wirbelten wild durcheinander. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß ihm ein anderes Wesen so offen seine Zuneigung gestand. In solchen Worten hatte nicht einmal Minar, seine eigene Mutter, zu ihm gesprochen. Ohne daß er es wußte, war er an einen
14
Kurt Mahr
Wendepunkt in seinem Leben gekommen. Er hätte sich über Ningons Liebe einfach freuen und daraus die Hoffnung schöpfen können, daß er noch andere finden werde, die ihm ebenfalls Freundschaft entgegenbrachten. Aber die Erlebnisse der vergangenen Wochen hatten seine Bitterkeit zu stark werden lassen. Er sah in Ningon nicht einen Freund, sondern ein Geschöpf, das er ausnutzen konnte. Bevor er damit begann, wollte er jedoch herausfinden, ob er auf andere Squooner dieselbe Wirkung ausübte wie auf Ningon. Wenn das der Fall war, dann lag ihm gar nicht mehr so viel daran, nach Nikhor zurückgebracht zu werden, wenigstens nicht für den Augenblick. Das Lächeln, mit dem er Ningon bedachte, war ein Lächeln der Falschheit. »Wir wollen sehen«, erklärte er mit herablassender Sanftheit. »Vielleicht brauchen sich unsere Wege so bald nicht zu trennen. Wird der Große Weise hierherkommen?« »Oh nein, Herr!« antwortete Ningon. »Man wird dich zu ihm bringen.« »Wie? Wo lebt der Große Weise?« Ningon schien glücklich darüber zu sein, daß der, den er seinen Herrn nannte, so viele Fragen stellte. Es erfüllte ihn mit Begeisterung, daß er mit seinen Antworten und Erklärungen von Diensten sein konnte. »Der Große Weise lebt in der Tiefe, oh Herr«, antwortete er. »Er ist der Herr der Dunkelheit. Überhaupt wirst du finden, daß die Squooner nicht nach Licht streben, sondern nach Finsternis. Das Licht ist der Feind der Magie. Nur im Dunkel gedeiht der Zauber.«
* Diese Worte würden lange in Spercos Gedächtnis bleiben. Fürs erste allerdings wurde er abgelenkt. Mehrere Squooner brachten eine sorgfältig verfertigte Bahre herbei, auf die er gebettet wurde. Ningon war stets zugegen und spielte den Aufseher. Sperco erkannte, daß sich alles nach seinen Anwei-
sungen richtete. Unter Ningons Kommando nahmen die Squooner schließlich die Bahre auf und setzten sich in Marsch. Sperco hatte den Vorgang aufmerksam beobachtet. Besonders interessierte ihn, ob es noch andere Squooner gab, die ihm dieselbe Zuneigung entgegenbrachten wie Ningon. Das schien nicht der Fall zu sein. Die Pelzwesen behandelten ihn behutsam, aber ohne Anteilnahme. Ihre Augen waren so dunkel und traurig, wie Ningons Augen ursprünglich gewesen waren. Bevor … bevor … Sperco suchte nach einer Erklärung. Er wollte wissen, wodurch Ningon so plötzlich verändert worden war. Aber es fiel ihm nichts ein. Soweit er es beurteilen konnte, war die Änderung spontan geschehen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen jener Vorgänge, die nur unter einer ganz bestimmten Kombination von Umständen und Voraussetzungen zustande kommen und sich im Laufe eines Lebens nur einmal ereigneten. Spercos Aufmerksamkeit wandte sich seiner Umgebung zu. Es schien ihm, daß dort, wo die Squooner ihn hinführten, der Wald dichter wurde. Die Finsternis nahm zu, bis der an das helle Sonnenlicht gewöhnte Braisling nur noch Schatten wahrnahm. Mit einemmal wurde es kühler. Er konnte plötzlich die Schritte der Squooner hören, während sie bisher auf dem feuchten, weichen Laubteppich völlig unhörbar gewesen waren. Weit voraus tauchten ein paar Lichter auf. Sie bewegten sich flackernd. Sperco erkannte schließlich, daß es sich um Fackeln handelte, die an den steinernen Wänden eines unterirdischen Raumes montiert waren. Sie verbreiteten ein unruhiges Licht und zugleich einen Geruch, der sich lähmend auf die Sinne legte. Sperco nahm zur Kenntnis, daß er den Boden des Waldes längst verlassen hatte und durch einen Stollen hierhergebracht worden war. Es war feucht und kühl hier unten. Von den Wänden tropfte das Wasser. Tausende
Der Krüppel von Arsyhk von Tropfen schimmerten und glitzerten im Widerschein der Fackeln. Sperco, der an die Weite des Himmels und das helle Licht der Sonne gewöhnt war, wurde es unheimlich zumute. Der Raum war rund und maß etwa zwanzig Schritte im Durchmesser. Wie hoch die Decke reichte, konnte Sperco nicht sehen. Es gab keinen Zugang außer dem, durch den man ihn gebracht hatte. Die Bahre wurde im Zentrum des Runds abgestellt. Ein paar Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah. Da wandte sich Sperco an einen der Squooner, die die Bahre getragen hatten und jetzt rechts und links von ihm standen. »Worauf warten wir?« fragte er halblaut. Er hätte die Frage an Ningon gerichtet, aber der war, wie Sperco sich mit einem Rundblick überzeugte, in der Nähe des Eingangs zurückgeblieben. Der Squooner antwortete nicht. Sperco meinte, er habe ihn vielleicht nicht gehört, und wiederholte die Frage mit lauterer Stimme. Als er auch darauf keine Antwort bekam, beugte er sich zur Seite, berührte den Squooner mit der ausgestreckten Hand und sagte ärgerlich: »Ich habe dich etwas gefragt. Wirst du mir antworten?« Der Squooner zuckte unter der Berührung zusammen. Die Art, wie er sich Sperco zuwandte, gab diesem zu verstehen, daß er eigentlich recht unfreundlich hatte reagieren wollen. Dann aber widerfuhr ihm dasselbe, was vor kurzem Ningon zugestoßen war. Seine Augen begannen in warmem, freundlichem Glanz zu leuchten. Er beugte sich zu Sperco nieder und flüsterte: »Wir warten auf den Großen Weisen. Er wird jeden Augenblick erscheinen, Herr!« Da sank Sperco auf seine Bahre zurück. Mit einemmal war ihm klar, wie es hatte geschehen können, daß Ningon aus einem halb melancholischen, halb mürrischen Squooner im Handumdrehen zu seinem ergebensten Diener wurde. Es war nicht, wie er zuerst angenommen hatte, ein Fall unter Millionen. Es war ein Fall, der jede Sekunde von neu-
15 em eintreten konnte, solange sich Squooner in Spercos Nähe befanden. Und was noch wichtiger war: er selbst, Sperco, hatte die Kontrolle darüber, wie oft es sich ereignete. Er wußte nicht, was für eine Macht es war, die ihm innewohnte. Aber er wußte genau, was er zu tun hatte, um alle Squooner zu seinen treu ergebenen Dienern zu machen. Er brauchte sie nur zu berühren.
* In diesem Augenblick ereignete sich eine Art Explosion. Es gab einen halblauten Knall. Feuer sprühte aus dem steinernen Boden, und eine grünlich leuchtende Rauchwolke stieg auf. Sperco folgte dem merkwürdigen Vorgang mehr mit Verwunderung als mit Furcht. Er sah, wie der Qualm sich teilte und eine grotesk maskierte und vermummte Gestalt aus der Wolke hervortrat. Er gewahrte außerdem, daß die vier Träger und selbst Ningon sich zu Boden geworfen hatten. Der Maskierte war, der Größe und seinen Bewegungen nach zu urteilen, ebenfalls ein Squooner. Er tat watschelnd ein paar Schritte nach rechts, dann nach links, sodann rückwärts und schließlich vorwärts. Dabei murmelte er mit einer Stimme, die dumpf hinter seiner Maske hervorklang, vor sich hin. Er war mit einem Gewand bekleidet, das bis zum Boden reichte und mit buntem Glas besetzt zu sein schien; denn es funkelte und glitzerte in soviel verschiedenen Farben, die in verwirrendem Reigen hin und her tanzten, daß die Augen die Orientierung verloren. Die Maske, die der Squooner vor dem Gesicht trug, hatte ovale Form. Sie war ebenfalls mit glitzernden Glasstücken besetzt, die wahllos verstreut waren. So blendend war das Lichterspiel, daß Sperco die Öffnungen der Maske nicht erkennen konnte, durch die der Große Weise sah. Der eigenartige Tanz des Weisen ging eine Zeitlang so fort. Sperco hätte den Maskierten brennend gern berührt. Aber es schi-
16 en nicht zu den Gewohnheiten des Magiers zu gehören, sich seinen Patienten zu nähern. Während er tanzte, wurde seine Stimme immer lauter. Sie sprach Worte der pfeifenden, fiependen Squooner-Sprache in immer rascherer Folge. Schließlich sprang der Maskierte mit einem mächtigen Satz in die Höhe. Noch bevor er den Boden wieder berührte, schrie er hastig ein paar Worte. Dann gab es von neuem eine schwache Explosion. Funken stoben auf, eine Dampfwolke entstand. Als der Dampf sich verteilte, war der Große Weise verschwunden. Die Träger erhoben sich vom Boden. Sie packten die Griffe der Bahre, hoben sie auf und setzten sich in Bewegung, als hätten sie nichts anderes im Sinn, als so schnell wie möglich von diesem gespenstischen Ort zu entkommen. Sperco verhielt sich still. Sein Plan war fertig. Er sprach kein Wort, bis die Träger die Bahre neben dem Lager abstellten, auf dem er zuvor geruht hatte, und ihn sorgfältig darauf betteten. Da erst fragte er: »Wie hat der Große Weise entschieden?« Drei der fünf Squooner, die sich in der Nähe befanden, reagierten auf seine Frage überhaupt nicht. Zwei andere dagegen – Ningon und der Träger, den er in der Höhle des Großen Weisen berührt hatte – sprachen gleichzeitig: »Er empfiehlt, daß man dich noch zwei Tage beobachtet und dann wieder zu ihm bringt.« Sperco lächelte. Es wäre ihm ungelegen gekommen, hätte der Magier entschieden, daß er jetzt schon nach Nikhor zurückgebracht werden könne. Eine solche Entscheidung hätte ihn zu eiligem Handeln gezwungen, und Eile, das wußte Sperco, war oft die Mutter des Mißerfolgs. Die drei Träger, die er noch nicht berührt hatte, waren inzwischen davongegangen. »Der Große Weise ist in der Tat, was sein Name sagt«, erklärte Sperco. »Er hat mich sehr beeindruckt.« Ningon und der andere Squooner schienen sich über diese Äußerung zu freuen.
Kurt Mahr »Wie ist dein Name?« fragte Sperco den, den er unten in der Halle berührt hatte. »Ich bin Soquon, oh Herr.« »Ningon und Soquon – ihr zwei werdet mich nicht verlassen, nicht wahr?« erkundigte sich Sperco. »Um nichts in der Welt«, antworteten die beiden gleichzeitig. »Das ist gut«, seufzte Sperco. »Ich bin müde. Bitte bleibt in meiner Nähe!«
* Sperco hatte nicht gelogen: Er war müde. Aber seine Gedanken hielten ihn noch eine Zeitlang wach. Ungeahnte Möglichkeiten hatten sich ihm plötzlich eröffnet. Es standen ihm so viele Wege offen, daß er nicht wußte, welchen er zuerst gehen sollte. Das Unglück, das ihn befallen hatte, war in Wirklichkeit ein Glück gewesen. Man brachte ihm plötzlich Zuneigung entgegen! Und besser noch: Er selbst hatte es in der Hand, zu bestimmen, wieviel Zuneigung man ihm entgegenbrachte. Er schlief schließlich ein. Sein Vorhaben erforderte einen ruhigen, kühlen Verstand. Es mochte erforderlich sein, in Bruchteilen von Sekunden zu reagieren. Er brauchte den Schlaf. Als er aufwachte, war es ringsum noch finsterer als zuvor. Droben, hock über den Wipfeln des Aqiroda-Waldes, hatte die Sonne aufgehört zu scheinen. Es war Nacht. Sperco konnte die Hand nicht vor Augen sehen. An seinem Plan änderte das nichts. Er richtete sich auf und begann zu stöhnen. Er setzte die Rückenmuskeln in Bewegung und brachte sie dazu, daß sie die zusammengewachsenen Flughäute so bewegten, daß es aussah, als sei sein ganzer Körper ins Wallen geraten. Dabei stöhnte er immer lauter und gab alle paar Augenblicke auch einen halb erstickten Angstschrei von sich. Auf das Ergebnis brauchte er nicht lange zu warten. Zwei Squooner kamen aus der Dunkelheit herbeigeeilt: Ningon und Soquon. Ningon trug eine Fackel, die einen ge-
Der Krüppel von Arsyhk spenstischen Lichtschein rings um das Lager des Braislings warf. »Was ist dir, Herr?« stieß Soquon entsetzt hervor. »Ich habe Schmerzen!« ächzte Sperco. »Meine Wunden platzen auf. Ich werde sterben, wenn ihr mich nicht alsbald zu dem Großen Weisen bringt, daß er mich mit seinen Künsten behandelt.« Während er fortfuhr, den Sterbenskranken zu spielen, beobachtete er die beiden Squooner aus den Augenwinkeln. Sie sahen einander an. Sie waren unschlüssig. Schließlich erklärte Ningon: »Bei aller Liebe, oh Herr, können wir dich nicht auf geradem Weg zu dem Großen Weisen bringen. Er würde uns töten, wenn wir es nur versuchten.« Sperco reagierte mit noch lauterem Stöhnen. »Nur ein Arzt, oh Herr, kann entscheiden, daß du vor den Großen Weisen gebracht werden mußt«, stieß Ningon hastig hervor. »Wenn du erlaubst, schicke ich Soquon, daß er einen Arzt holt. Wenn der Arzt dich sieht, wird er sicher befürworten, daß man den Großen Weisen anruft.« Sperco sank, scheinbar entkräftet, auf sein Lager zurück. »Holt … holt den Arzt«, brachte er mit letzter Kraft hervor. »Aber … eilig …« Dann schloß er die Augen. Er hörte, wie Soquon sich entfernte. Es vergingen nur ein paar Minuten, dann näherten sich von neuem Schritte. Sperco blinzelte unter den Lidern hervor. Soquon, jetzt ebenfalls mit einer Fackel bewaffnet, kam in Begleitung eines anderen Squooners. Das mußte der Arzt sein. Die Squooner wechselten hastige Worte in ihrer pfeifenden Sprache. Dann beugte sich der Arzt über den kranken Braisling. »Ich bin Srikor, ein Gelehrter der heilenden Magie«, sagte er auf braisisch. »Kannst du mich hören?« Sperco öffnete die Augen. Er tat so, als bereite es ihm Mühe. »Ich kann … hören«, hauchte er. »Der Große Weise … nur er … helfen!«
17 Dabei hob er den rechten Arm, als wolle er eine um Hilfe flehende Geste machen. Es schien ihm dabei aber die Kraft auszugehen. Der Arm sank herab, und dabei berührte Spercos Hand die Schulter des Arztes. Die Wirkung war genau so, wie Sperco sie erwartet hatte. Srikor stutzte ob der unerwarteten Berührung. Gleich darauf aber begannen seine Augen zu leuchten. Er nahm die schwache Hand des Kranken behutsam von seiner Schulter und bettete Spercos Arm auf das weiche Lager. »Es wird alles geschehen, was du wünschst, Herr«, sagte er dazu.
* So bekam Sperco, der Königssohn von Nikhor, an diesem Tag den Großen Weisen gleich zweimal zu sehen. Diesmal allerdings verlief die Szene weniger feierlich. Srikor, der Arzt, war den Trägern vorangeeilt – anscheinend, um den Großen Weisen auf die bevorstehende Ankunft eines dringenden Falles vorzubereiten. Als Spercos Bahre in der runden Höhle abgesetzt wurde, war der Magier bereits zur Stelle – zwar maskiert wie zuvor, aber ohne Donner, ohne Funken und ohne grünlich leuchtenden Dampf. Sperco fuhr fort, den Schwerkranken zu simulieren. Er hörte Srikor und den Magier sich in aufgeregtem Tonfall unterhalten. Der Große Weise schien eine angeborene Abneigung dagegen zu haben, seinen Patienten zu nahe zu kommen. Aber Srikor gelang es schließlich, ihn davon zu überzeugen, daß diesem Kranken nur geholfen werden könne, wenn der Magier sich selbst, und zwar unmittelbar, um ihn kümmerte. Der Große Weise kam näher. Noch immer spielte Sperco den dem Tode Nahen. Gleichzeitig aber beobachtete er scharf die Maske des Magiers. Die fremde Macht, die der Braisling besaß und über deren Besitz er sich erst vor wenigen Stunden klar geworden war – würde sie durch das Gewand, durch die Maske des Magiers hindurch wirken? Oder mußte er, wie er es bei Ningon,
18
Kurt Mahr
Soquon und Srikor getan hatte, die Haut oder den Pelz des Squooners berühren? Der Große Weise beugte sich über ihn. Er gewahrte Spercos brennenden Blick und erklärte sofort, in der Sprache der Braisen: »Ihr habt euch täuschen lassen! Dieser hier ist nicht krank!« Da begriff Sperco, daß es um Sekunden ging. Er sprang von der Bahre auf. Mit beiden Händen griff er nach der Maske des Großen Weisen, für den der Angriff völlig überraschend kam. Ein kräftiger Ruck, und die Maske fiel. Zum Vorschein kam das Angesicht eines alternden Squooners, dessen ansonsten dunkelgrauer Pelz mit farblos-weißen Haaren durchsetzt war. Sperco griff sofort zu. Seine Hand senkte sich auf den Schädel des Squooners. Die Reaktion, die er jetzt schon dreimal beobachtet hatte, trat sofort ein. Der Große Weise zuckte unter der Berührung zusammen. Alsbald aber nahmen seine Augen einen warmen, freundlichen Schimmer an. Sperco sagte zu ihm: »Du bist mein Freund und wirst mich nicht verlassen, nicht wahr?« Die Augen des Alten strahlten noch heller als zuvor. Mit lauter Stimme antwortete er: »Ich bin Pirju, oh Herr, und werde immer für dich da sein!« Sperco sah sich um. Die vier Träger, die ihn in die Höhle des Großen Weisen gebracht hatten, wußten nicht, wie ihnen geschah. Sie hatten sich niedergeworfen, sobald sie des Magiers ansichtig geworden waren und die Bahre niedergestellt hatten. Sperco sah sie, auf dem Boden liegend, aber den Blick nach oben gerichtet, damit ihnen nichts von den aufregenden Dingen entgehe, die sich in diesen Minuten abspielten. Sperco trat zu ihnen hin und berührte sie einen nach dem andern. »Wir alle sind eins«, sagte er dabei. »Unser ist die Macht, und wir werden sie nützen. Die Welt wartet auf uns.«
3.
Sperco verlor keine Zeit. Da er Pirju, den Großen Weisen, zu seinem Vasallen gemacht hatte, war er – zumindest hypothetisch – der Herr über alle Squooner, die in der Squooner-Stadt unterhalb Nikhor wohnten. In Wirklichkeit würde die Mehrzahl der Squooner der neuen Entwicklung mißtrauisch gegenüber stehen. Sperco durfte sich nicht darauf verlassen, daß Pirjus Ansehen Wunder wirken werde. Die Squooner mochten sich sogar gegen ihn wenden, wenn er den braisischen Königssohn zu rasch als die neue Autorität proklamierte. Die erste Anweisung, die Sperco dem Magier daher gab, lautete: Vorerst bleibt alles beim alten. Sperco schaffte sich einen Kader ergebener Squooner, indem er alle, die ihm über den Weg liefen, berührte. Letzten Endes, sagte er sich, würde er jeden einzelnen Squooner in diesem Land berühren müssen, um seiner Sache vollends sicher zu sein. Aber vorerst waren andere Dinge wichtiger. Mit einem Stab, der aus rund achthundert Squoonern bestand, war er vorerst ausreichend ausgestattet. Pirju, der nach außen hin immer noch als die höchste Autorität im Lande fungierte, war sein Erster Ratgeber. Ningon, Soquon, der Arzt Srikor und die vier Träger, die zugegen gewesen waren, als er den Großen Weisen berührte, bildeten seinen Inneren Stab. An die übrigen Squooner, die zu seiner Anhängerschaft gehörten, vergab er Ränge und Titel je nach Fähigkeit und Ansehen. Aber selbst der, der den niedrigsten Titel erhielt, fühlte sich durch diese Geste ausgezeichnet und war Sperco für sein Vertrauen dankbar. Spercos Plan hatte inzwischen feste Form angenommen. Er wollte die Macht – nicht nur über die Squooner, sondern auch über die, die in der Höhe lebten. Aber er war bereit, die Ausführung des Planes von einer Voraussetzung abhängig zu machen. Wenn »die dort oben« nach ihm suchen kamen und dadurch zu verstehen gaben, daß der abgestürzte Krüppel in irgendeiner Weise doch ihren Herzen nahe stand, dann würde Sperco ohne Widerstand nach Nikhor zurückkehren
Der Krüppel von Arsyhk und dafür sorgen, daß im Squooner-Land die Verhältnisse wiederhergestellt wurden, die vor seinem Sturz geherrscht hatten. Um sich Gewißheit zu verschaffen, sandte Sperco drei Viertel seines Stabes als Späher aus. Die Späher hatten an den Bäumen emporzuklettern, soweit sie sich getrauten, und auszukundschaften, ob von oben her Braisen unterwegs waren, die nach dem abgestürzten Sperco suchten. Sobald eine solche Bewegung entdeckt wurde, sollte der Späher an Sperco Bericht erstatten. Spätere Generationen haben an diesem eigenartigen Vorbehalt des sonst skrupellosen Sperco herumgerätselt und ihn psychologisch zu deuten versucht. Warum gab Sperco den Braisen noch eine letzte Chance? Wußte er, daß sie sich seiner Macht würden widerstandslos beugen müssen, wenn er sie angriff, und empfand er deswegen Mitleid mit ihnen? Eines steht mittlerweile fest: Sperco hat nie in seinem Leben für jemand Mitleid empfunden. Dieses Motiv scheidet also aus. Eine jüngere Hypothese argumentiert, daß es dem Krüppel nicht schlechthin darum zu tun war, die Macht zu erringen, sondern darum, in seiner Identität als Braise mächtig zu werden. Umgekehrt war festzustellen, daß nicht das Dasein als Krüppel schlechthin seine Bitterkeit erregte, sondern vielmehr der Umstand, daß er unter den Braisen als Krüppel galt. Sperco hatte ganz ohne Zweifel ein Identitätsproblem. Er wollte als Braise ernst genommen werden, nicht als irgendwer sonst. Wahrscheinlich hätte er seinen Plan auch dann durchgeführt, wenn eine braisische Suchexpedition auf dem Grund des AqirodaWaldes aufgetaucht wäre. Er hätte mühelos einen Grund gefunden, seinen Vorbehalt für null und nichtig zu erklären. Aber es hätte ihm in der Seele wohl getan, zu wissen, daß sich sein Volk um ihn kümmerte. So aber wirkte sich das, was eigentlich eine Geste den Braisen gegenüber hatte sein sollen, gerade ins Gegenteil aus. Als nach Ablauf mehrerer Tage feststand, daß man in
19 Nikhor gar nicht daran dachte, den verschwundenen Königssohn suchen zu lassen, da wuchs Spercos Bitterkeit bis ins Extrem. Anstatt Haß gegen seinen Bruder Öpner empfand er jetzt Haß gegen alle Braisen. Sperco versammelte seinen Inneren Stab sowie seinen Ersten Berater um sich und verkündete: »Es gibt für uns von jetzt an nur noch einen einzigen Lebenszweck: Der Hochmut der Braisen muß bestraft werden. Nikhor muß fallen. Die Macht muß unser werden!«
* Spercos erstes Projekt auf dem Wege der Rache zielte in zwei Richtungen gleichzeitig: Er mußte erstens die Zuneigung aller Squooner erobern, die in seinem Machtbereich lebten, und er mußte zweitens die Squooner dazu bringen, daß sie die Braisen zu hassen begannen, bis der Haß eine solche Intensität erreichte, daß sie einen Angriff auf die Stadt Nikhor wenigstens in Betracht ziehen würden. Das erste Ziel war leicht zu erreichen. Pirju ließ sich ohne Mühe dazu überreden, die Abgeschlossenheit seines bisherigen Daseins aufzugeben und sich öfter in der Öffentlichkeit zu zeigen. Pirju richtete die Institution öffentlicher Versammlungen ein, in denen er und seine engsten Mitarbeiter sich dem Volk der Squooner zeigten und zu ihm sprachen. Das Volk war begeistert. Es kam in großen Mengen, um den Großen Weisen zu sehen und zu hören. Sperco aber befand sich unter der Menge und berührte jeden Squooner, der ihm in die Quere kam. Seine besondere Begabung funktionierte fehlerfrei. Jeder Squooner, den er berührte, wandte sich ihm zu und gab ihm mit leuchtenden Augen zu verstehen, daß er einen neuen Freund gewonnen hatte. Wenn Sperco sich in der Menge bewegte, geschah es hin und wieder auch, daß er mit Leuten zusammenstieß, d.h. Leute berührte, ohne es eigentlich zu wollen. Sperco fand schnell heraus, daß solche Berührungen kei-
20 nerlei Wirkung hatten. Seine Gabe kam nur dann zur Geltung, wenn er mit Absicht einen physischen Kontakt herstellte. So gelang es Sperco also, innerhalb kurzer Zeit und mit geringer Mühe den Großteil der Squooner zu seinen ergebenen Freunden zu machen. Er war sich darüber im klaren, daß er mit dieser Vorgehensweise 95, 96 oder gar 97 Prozent aller Squooner erfassen würde. Ein Rest aber blieb, dem er nie nahe genug kam, um ihn zu berühren. Es gab Squooner, die Pirjus Versammlungen fern blieben, und darüber hinaus besagte die Statistik, daß es unmöglich war, jeden einzelnen Versammlungsteilnehmer zu berühren, selbst wenn man auf jeder Versammlung tätig war und zu allen Versammlungen immer derselbe Personenkreis erschien. Sperco gab sich damit zufrieden. Er mußte damit rechnen, daß ihm einst aus dem Kreis der wenigen, die er nicht hatte berühren können, ein ernsthafter Gegner erwuchs. Das war ein Risiko, das er in Kauf nehmen mußte. Je mehr Squooner er zu seinen Freunden machte, desto lauter wurde der Ruf unter dem Volk, daß dem »Freundlichen Fremden« – so nannte man Sperco – ein würdiges Amt verliehen werde, das ihm Gelegenheit gab, seine Güte und Weisheit zum Nutzen der Squooner zur Geltung zu bringen. Auf Spercos Geheiß antwortete Pirju auf derartige Vorschläge zunächst mit Zurückhaltung. Aber als die Forderung immer stürmischer wurde, da erklärte er sich – scheinbar zögernd – dazu bereit, dem Braisling den Titel »Erster Magier« zu verleihen, der nichts anderes besagte, als daß Sperco von nun an in der ungeschriebenen Rangfolge der squoonischen Hierarchie unmittelbar auf Pirju, den Großen Weisen, folgte. Mit großem Pomp wurde Sperco eine geräumige Höhle angewiesen, in der er fortan Residenz hielt. Außerdem wurde ihm ein Stab von Bediensteten zugeteilt, an dessen Spitze Ningon stand. Als dies geschehen war, hielt Sperco sein erstes Ziel für erreicht. Er mochte nicht alle Squooner zu Freunden gewonnen haben.
Kurt Mahr Aber es waren derer, die er nicht berührt hatte, so wenige, daß sie nicht ins Gewicht fielen. Sein zweites Vorhaben dagegen erwies sich, wie schon gesagt, als weitaus schwieriger. Es schien nämlich, daß die Squooner, obwohl sie von den Braisen mehr oder weniger verachtet wurden, dem Volk der Geflügelten gegenüber keine unfreundlichen Gefühle hegten. Sie akzeptierten als ein von der Natur gegebenes Gesetz, daß es immer zwei Völker geben müsse, von denen das eine einen hohen und das andere einen niederen Rang hatte. Sperco erkannte rasch, daß es ihm nicht gelingen werde, mit ein paar feurigen Reden den Haß der Squooner gegenüber den Braisen zu wecken. Er schlug eine andere Taktik ein. Er begann, den Squoonern aus seinem Leben zu berichten. Er schilderte ihnen seinen Lebenslauf. Er beschrieb, wie er vom Tag seiner Geburt an das Ziel von Spott und Verachtung gewesen war. Er berichtete über die Erniedrigungen, die er erlebt hatte. Sie glaubten ihm; denn sie waren überzeugt, daß er sie niemals belügen würde. Und sie begannen, Groll gegen die Braisen zu empfinden. Denn sie hatten Sperco ihr Herz geschenkt. Noch immer aber wagte Sperco nicht, ihnen klarzumachen, daß sie gegen die Braisen kämpfen mußten, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Hätte er in diesem Augenblick von Krieg gegen die Braisen gesprochen, er hätte wahrscheinlich die Zuneigung vieler seiner jüngst gewonnenen Freunde wieder verloren. Er erkannte die Gefahr allzu raschen Vorgehens und mied sie. Dann aber kam der Tag, an dem das Schicksal alles so einrichtete, wie er es haben wollte.
* Es kamen des öfteren Braisen von oben in die dunkle Stadt der Squooner auf dem Grund des großen Waldes. Sie bedurften der
Der Krüppel von Arsyhk Hilfe eines Magiers, sie wollten einen Blick in die Zukunft tun oder sich die Gunst einer Geliebten erwerben. Als Gegenleistung boten sie Waren, die die Squooner gerne in Empfang nahmen: grünlich schimmernde Eier aus den Nestern des Quijah-Vogels, die bei den Squoonern als Delikatessen galten, oder Werkzeuge, die die bepelzten Wesen beim Graben unterirdischer Stollen benützten. Sperco hatte Posten ausstellen lassen, die ihn vor der Ankunft eines Braisen warnten. Gewöhnlich hielt er sich dann in seiner Höhle auf, bis ihm bekannt gegeben wurde, daß der Braise die Stadt der Squooner wieder verlassen hatte. Eines Tages aber kam er beim Grübeln auf einen verblüffenden Gedanken. Er hatte nämlich darüber nachgedacht, ob seine Gabe, sich durch eine Berührung sofortige Freundschaft zu verschaffen, in ihrer Wirkung auf die Squooner beschränkt war oder ob vielmehr die Braisen die Ausnahme darstellten, indem sie die einzigen waren, auf die Spercos Begabung überhaupt nicht wirkte. Dabei fiel ihm ein, daß er wahrscheinlich noch nie im Leben einen Braisen absichtlich berührt hatte. Er war von allem Anfang an der Herumgestoßene gewesen. Man berührte ihn, seinen Berührungen dagegen wich man aus. Er konnte also nicht mit Bestimmtheit sagen, daß seine Fähigkeit auf die Braisen nicht wirkte. Es hatte, so glaubte Sperco sich plötzlich zu erinnern, noch kein entsprechendes Experiment stattgefunden. Er nahm sich vor, es bei nächster Gelegenheit durchzuführen. Die Gelegenheit bot sich bald. Die Posten meldeten einen Braisen, der sich durch das Gewirr der Äste und Zweige herabhangelte. Sperco begab sich zu dem Ort, an dem der Besucher voraussichtlich den Boden des Waldes erreichen würde. Er verbarg sich zunächst. Denn er wollte erst sehen, wer der Braise war und ob er ihn kannte. Auf sein Geheiß war auch Ningon zur Stelle, der den Besucher empfangen und ihn nach seinem
21 Begehr fragen sollte. Wie groß war Spercos Überraschung, als er in dem Braisen Omidion, den königlichen Ritter, erkannte. Seine Erinnerung wurde wach an jene Nacht, als er das Gespräch zwischen Omidion und Karmitar in seines Vaters Sommernest belauscht hatte. Sein Herz wurde hart. Omidion brachte ein Grabwerkzeug – einen langen hölzernen Stiel, an dessen einem Ende ein schaufelförmiges Metallblatt angebracht war. Die Squooner verstanden solche Werkzeuge mit großem Geschick zu handhaben. Sie ergänzten die Fähigkeiten, mit denen die Natur die Pelzwesen in Form schaufelartiger Hände und Füße ausgestattet hatte. Omidion ging auf Ningon zu. Er ließ die Schaufel einfach zu Boden fallen und sagte in überheblichem Tonfall: »Das wird euch mehr als reichlich belohnen für den kleinen Dienst, den ich von euch erwarte.« Ningon kam nicht mehr dazu, den Ritter nach seinem Wunsch zu fragen. In diesem Augenblick kam Sperco aus seinem Versteck hervor. Omidion erblickte ihn. Der Ausdruck der Verwunderung huschte über sein Gesicht. Gleich darauf aber stieß er ein höhnisches Lachen aus: »All ihr Geister der Luft! Der häßliche Zwerg ist noch am Leben! Und wir dachten, der Krüppel hätte sich den Hals gebrochen!« Sperco sprach kein Wort. Er schritt auf Omidion zu. »He! Was willst du?« rief der Ritter. Sperco streckte den Arm aus und berührte Omidion an der Seite. Omidion wich einen Schritt zurück. »Laß das sein, Mißgeburt!« schrie er grimmig. »Behalte deine schmutzigen Klauen bei dir!« Da brach der Damm, hinter dem Sperco allen Haß der vergangenen Jahre aufgestaut hatte. Er bückte sich blitzschnell und hob die Schaufel auf. Mit mächtigem Schwung wirbelte er das gefährliche Werkzeug herum und traf Omidion mit voller Wucht gegen
22
Kurt Mahr
den Schädel. Der königliche Ritter brach auf der Stelle zusammen. Ningon und seine Begleiter stürzten sich auf ihn, um ihn für die Gehässigkeiten zu bestrafen, die er zu Sperco gesagt hatte. Ningon aber fuhr betroffen wieder auf und stieß fast tonlos hervor: »Ich glaube, er ist tot!« So war es in der Tat. Spercos wuchtiger Schlag hatte Omidion getötet. Sperco empfand keinerlei Bedauern. Und die Squooner bestätigten ihm mit unmißverständlichen Worten, daß er alles Recht gehabt habe, den Beleidiger zu erschlagen. Nur eines erfüllte Sperco mit Unbehagen. Sein Versuch hatte bewiesen, daß die Braisen gegen seine freundschaftwirkende Gabe in der Tat immun waren. Er ordnete an, daß Omidions Leichnam verscharrt würde. In diesem Augenblick hatte er noch keine Ahnung, daß seine heutige Tat der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zu dem so sehnlichst erstrebten Ziel war: dem Krieg gegen die Braisen.
* Wenige Tage später erschien eine Delegation von Braisen, um sich bei den Squoonern nach dem Verbleib Omidions zu erkundigen. Die Braisen wurden von einer Schar erzürnter Squooner höchst unfreundlich empfangen. Die Squooner hielten ihre Sache für durchaus gerechtfertigt und machten keinen Hehl daraus, daß Omidion seines beleidigenden Verhaltens gegenüber dem Ersten Magier wegen erschlagen worden war. Als die Braisen darob Drohungen auszustoßen begannen, gingen die Squooner gegen sie vor, und es wäre den Geflügelten wahrscheinlich übel ergangen, wenn sie nicht schleunigst in die Höhe des Waldes geflohen wären. Als Sperco von diesem Vorfall erfuhr, verkündete er warnend, daß die Braisen zurückkehren würden, um Omidion zu rächen. Die Squooner hörten seine Worte, aber sie meinten, er sei zu besorgt. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß die Braisen einen Ra-
chefeldzug in die finsteren Tiefen des Waldes führen würden, wo sie im Gebrauch ihrer Flughäute behindert waren. Es stellte sich jedoch alsbald heraus, daß die Braisen sich auf ganz andere Art und Weise zu rächen gedachten. Sie unternahmen keinen groß angelegten Feldzug, sondern schickten kleine Kommandos in die Tiefe, die den ahnungslosen Squoonern an abgelegenen Orten auflauerten und sie umbrachten. Da begriffen die Pelzwesen allmählich, daß sie sich würden wehren müssen, wenn sie nicht ausgerottet werden wollten. Sie erinnerten sich, daß Sperco, der Erste Magier, Schwierigkeiten mit den Braisen vorausgesagt hatte, und wandten sich an ihn, um von ihm zu erfahren, wie sie sich wehren sollten. Denn die Squooner waren in der Tiefe ihrer Seele friedfertig und hatten keine Ahnung von den Dingen, die mit Kampf und Krieg zusammenhingen. Da begann Sperco, seine längst geplante Strategie in die Wirklichkeit umzusetzen. »Wenn ihr die Braisen abwehren wollt«, sagte er, »dann dürft ihr nicht warten, bis sie den Boden des Waldes erreichen. Ihr müßt sie droben in den Ästen abfangen, wo sie wesentlich unbeholfener sind als ihr. Außerdem braucht ihr Waffen, mit denen ihr euch der Geflügelten erwehren könnt.« Die Squooner waren, obwohl man es ihren schaufelförmigen Füßen und Händen nicht ansah, recht gewandte Kletterer. Von dieser Fähigkeit hatten sie bislang wenig Gebrauch gemacht, weil es erstens auf den Bäumen wenig für sie zu holen gab und weil sie zweitens alles, was über dem Boden des Waldes lag, für den Bereich der Braisen hielten, in den sie nicht hatten eindringen wollen. Mittlerweile war ihr Groll gegen die Geflügelten jedoch so groß, daß Bedenken dieser Art nicht mehr ins Gewicht fielen. Was die Waffen anbelangte, so hatte Sperco auch da eine Idee. Er zeigte den Squoonern, wie man die schaufelartigen Enden der Grabwerkzeuge so bearbeitete, daß aus den
Der Krüppel von Arsyhk Schaufeln flache, breite Lanzenspitzen wurden. Er ließ sie sich im Gebrauch der Waffen üben und brachte ihnen bei, wie man eine Lanze schleudern mußte, um einen Feind zu treffen. Einmal äußerte Pirju Bedenken über dieses Vorgehen. »Wenn wir alle Schaufeln in Lanzen verwandeln, werden wir nichts mehr haben, womit wir Stollen graben können«, sagte er. Da lachte Sperco ihn aus und fragte: »Weißt du denn nicht, wohin dies alles führt?« Der Große Weise blickte ihn verwundert an und antwortete: »Nein. Wohin soll es führen – außer vielleicht dazu, daß die Braisen uns endlich in Ruhe lassen?« Da gab Sperco endlich sein Geheimnis preis. Die Zeit war reif dafür. Ningon, Soquon und Srikor waren zugegen und hörten, wie er sagte: »Wir werden die Braisen nicht nur abwehren. Wir werden immer weiter in die Höhe vordringen und ihre Stadt Nikhor erobern. Wenn aber die Braisen erst unsere Sklaven sind, dann gehört uns alles, was sie in ihrem Besitz haben, und es wird uns an Schaufeln nicht mangeln.« So groß war der Einfluß, den Sperco auf die Geister und Gemüter der Squooner ausübte, daß Pirjus Augen noch heller zu leuchten begannen und er voller Begeisterung ausstieß: »Oh Herr, das ist der genialste Plan, der mir je zu Ohren gekommen ist!«
* Die Squooner waren mit Begeisterung bei der Sache, und als sie erst einmal begriffen hatten, wie man möglichst geräuschlos kletterte, das Laubwerk der Bäume als Deckung benutzte und den Feind eher angriff, wenn er sich unter, als wenn er sich über einem befand, entwickelten sie sich zu fähigen Kriegern. Es vergingen nur ein paar Wochen, da ge-
23 lang es keinem braisischen Kommando mehr, bis auf den Boden des Waldes vorzudringen. Sie wurden allesamt bereits in der Höhe abgefangen und entweder vernichtet oder in die Flucht getrieben. Sperco ermunterte seine Truppen, den Krieg in immer größere Höhen zu tragen. Tag für Tag redete er ihnen zu, daß dieser Kampf kein Ende finden werde, bis die Stadt Nikhor gefallen war. Die Verluste der Squooner hielten sich in Grenzen. Im Gewirr der Äste und Schlingpflanzen waren die Pelzwesen beweglicher und geschickter als die Braisen, die bisher nur im Fliegen gekämpft hatten. Die Braisen versuchten, das Gleichgewicht wieder herzustellen, indem sie immer stärkere Kommandos ins Feld schickten. Aber wenn es um Zahlen ging, waren die Squooner den Braisen schon immer wenigstens um das Fünffache überlegen gewesen. Sperco reagierte auf die Taktik der Braisen, indem auch er mehr Leute in den Kampf schickte. Die Auseinandersetzung, die mittlerweile schon mehrere Monate andauerte, fuhr fort, sich in immer größere Höhen zu ziehen. Bis schließlich die ersten Squooner-Kommandos zurückkehrten und berichteten, sie hätten Scharen flüchtender Braisen bis an ihre Nester verfolgt. Sperco hatte die Scharmützel im Ästegewirr des Waldes von Anfang an nur als Vorgeplänkel und Exerziergelegenheit für seine Kämpfer betrachtet. Er war sehr darauf bedacht, immer neue Squooner in die Kronen des Aqiroda-Waldes hinaufzuschicken. Er wollte nicht eine Kriegerkaste schaffen. Ihm lag im Gegenteil daran, daß alle Squooner das Handwerk des Krieges erlernten. Zu jedem Zeitpunkt befand sich jeweils höchstens ein Zehntel seiner Streitmacht im Kampf gegen die Braisen. Mit den übrigen neun Zehnteln exerzierte Sperco auf dem Boden des Waldes. Er hatte Attrappen braisischer Nester errichten lassen und unterrichtete die Squooner im Kampf von Nest zu Nest, in dem die Braisen überaus gewandt waren. Er hatte neue Waffen entwickelt und
24 schuf eine besondere Waffengattung, die Netztruppen, deren Aufgabe es war, inmitten des Kampfgewirrs Schnüre zwischen den Ästen in den höchsten Wipfeln des Waldes zu spannen. In diesen Schnüren würden sich die Braisen fangen, wenn sie im Flug auf die angreifenden Squooner herabstießen. Alles ging nach Plan. Als die Plänkeleien mit den Braisen die Ebene dicht unter den Kronen des Waldes erreicht hatten, wies Sperco seine Truppen an, von nun an nur noch hinhaltend zu kämpfen und nicht weiter vorzudringen. Er wollte die Braisen nicht vorzeitig darauf aufmerksam machen, daß unter Umständen ihre ganze Stadt in Gefahr war. Ohne Not würden sie auf einen derart revolutionären Gedanken nicht kommen. Es war unvorstellbar, daß das niedere Volk der Squooner sich erdreisten könne, eine braisische Stadt, noch dazu die Stadt des Königs, anzugreifen! Als der Krieg etwa ein Jahr gewährt hatte, erhielt Sperco plötzlich Nachricht, daß die Kampftätigkeit der Braisen nachgelassen habe. Das machte ihn stutzig. Die Squooner jubilierten und glaubten, den Geflügelten seien endlich der Mut und der Atem ausgegangen. Sperco aber kannte die Braisen als eine überaus hartnäckige Brut. Sie würden nicht einfach mitten im Krieg zu kämpfen aufhören, ohne zuvor entweder einen entscheidenden Sieg errungen zu haben oder vernichtend geschlagen worden zu sein. Es mußte einen anderen Grund für ihre Kriegsmüdigkeit geben. Sperco sandte behutsam seine Späher aus, die mittlerweile von einer Ebene dicht unterhalb der Stadt Nikhor aus arbeiteten, und erfuhr alsbald, was im Lande der Braisen vor sich ging. Der greise König Kirstan lag auf dem Sterbebett. Jede Stunde wurde damit gerechnet, daß er ins Land des Todes reiste. So groß die Trauer unter den Braisen über das Ableben des allseits geliebten Königs auch sein mochte, die Begeisterung, den unüberwindlichen Öpner als nächsten Herrscher zu erhalten, war weitaus größer. Es waren Vor-
Kurt Mahr bereitungen im Gang, den Tag, da Öpner den Thron bestieg, zu dem größten Fest aller Zeiten zu machen. Gesandte wurden an die anderen Städte der Braisen geschickt, um sie über den bevorstehenden Machtwechsel zu informieren. Die Braisen begannen, ihre Nester festlich zu schmücken. Kaum ein Gedanke galt dem sterbenden Kirstan. Alle Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den neuen König: Öpner, den Unüberwindlichen. Als Sperco dies erfuhr, da wußte er, daß seine Stunde endlich geschlagen hatte.
* An dem Tag, an dem Kirstan in das Land der Toten reiste, erschollen über den Wipfeln der Aqiroda-Bäume und über den Kuppen der Felsen von Nikhor die Trommeln der Trauer. So geziemte es sich, wenn ein geliebter König den letzten Weg als Irdischer antrat. In den Nestern der Braisen aber wurden die Zimbeln gestimmt, ertönte leise das Geräusch der Knattern, die zur Übung geschwungen wurden, und hin und wieder hörte man durch das Gedröhn der Trommeln hindurch den zaghaften Ton einer Kanuka, auf der ein Herold sich für das kommende Fest übte. Sobald der Schall der Trommeln bis zum Boden des Waldes drang, gab Sperco seinen Truppen den Marschbefehl. Zehntausende von Squoonern, etwa die Hälfte davon mit aus Schaufeln gearbeiteten Lanzen bewaffnet und die Garde der Netztruppen, unter der Last der aufgerollten Schnüre keuchend, begannen den Aufstieg, der etwa drei Stunden in Anspruch nehmen würde. Diesmal nahm Sperco selbst an dem Aufstieg teil. Er wollte an Ort und Stelle sein, wenn der Augenblick des Triumphes kam. Er trug keine Waffe außer einem Zeremoniendolch, den er sich von Pirju erbeten hatte. Wenn alles so ablief, wie Sperco es geplant hatte, würde der Dolch nur ein einziges Mal in Tätigkeit treten.
Der Krüppel von Arsyhk Die Trommeln hatten am späten Nachmittag zu rollen begonnen. Es würde Nacht sein, bis die Armee der Angreifer die Wolkenstadt Nikhor erreichte. Mit der Dunkelheit verband sich für die Squooner kein nennenswerter Vorteil; denn die Braisen waren ebenso nachtsichtig wie die Pelzwesen. Nur die Schnüre der Netztruppen, die wohlweislich aus dunklem Material gefertigt waren, würden sie vielleicht nicht so rasch wahrnehmen, wie es am hellichten Tage der Fall gewesen wäre. Nach zwei Stunden lauten Trommelns war der Trauer um den ins Land der Toten gereisten König Genüge getan. Die Trommeln schwiegen. Über den Fünf Brüdern erhob sich eine blaue Qualmwolke, die anzeigte, daß Kirstans Leichnam nach uraltem Brauch den Flammen übergeben worden war. Sobald die Wolke sichtbar wurde, begannen die Kanukas zu ertönen. Die königlichen Herolde schwangen sich in die Dunkelheit hinauf und verkündeten aus mächtigen Sprachrohren, daß von nun an Öpner als König über das Land der Braisen herrschen werde. Da gingen die Lichter über der Stadt an. Seit Tagen hatten die Braisen Fackeln entlang den Rändern ihrer Nester aufgesteckt. Jetzt zündeten sie sie an. Hunderte, Tausende, Zehntausende von flackernden Lichtpunkten sprangen aus der Dunkelheit hervor und tauchten die Wolkenstadt in ein märchenhaftes Licht. Aus den Nestern der Vornehmen erhoben sich die, die zur feierlichen Inthronisierung des jungen Königs geladen war. Prozessionen des braisischen Adels bewegten sich in gemessenem Flug auf das riesige Königsnest zwischen den Fünf Brüdern zu. Denn das Fest fand, obwohl es Sommer war, im Hauptnest der königlichen Familie, nicht etwa in dem für einen solchen Zweck zu wenig repräsentativen Sommernest statt. Als die Fackeln aufleuchteten, erreichte der Haupttrupp der Squooner die vorgeschobene Postenkette dicht unter der Oberfläche des Waldes. Sperco hatte seine Armee in
25 fünf Stoßkeile gegliedert. Vier davon, jeweils aus rund eintausend Kriegern bestehend, hatten Nikhor an vier weit voneinander entfernten Punkten anzugreifen und unter der Bevölkerung soviel Verwirrung wie möglich zu stiften. Der fünfte Keil, mehr als fünfmal so stark wie die übrigen vier, hatte das königliche Nest zum Ziel. Unterhalb der Kronen der Aqiroda-Bäume stiegen die Squooner-Krieger unter Spercos Führung in die Klüfte und Schründe des nördlichsten der Fünf Brüder und kletterten mit größtmöglicher Schnelligkeit in die Höhe. Sperco fieberte vor Rachsucht und Kampfeseifer. Als er aus einem engen Felskamin die hell beleuchteten Nester der riesigen Stadt überblickte, die jetzt unter ihm lagen, da malte er sich hämisch das Erstaunen aus, das die Braisen am nächsten Morgen überkommen würde, wenn sie erfuhren, daß anstatt Öpner dessen verachteter Bruder Sperco die Krone des braisischen Königshauses trug.
* Sperco kannte alle Wege, die in das königliche Nest führten. Er dirigierte seine Krieger zu einem wenig benutzten Eingang, der sich auf der untersten Nestebene befand und nur von Händlern benutzt wurde, die den königlichen Haushalt mit Nahrungsmitteln und ähnlichen Gebrauchsgütern versorgten. Der Eingang war, wie üblich, ein einfaches, unverkleidetes Loch in der Nestwand, hinter dem ein Gang mit aus Reisig geflochtenen Wänden schräg aufwärts führte. Vor dem Loch, auf einem Felsvorsprung, hockte ein Posten. Er war nicht bewaffnet. Die Funktion eines Postens im königlichen Nest war rein zeremoniell. Niemand rechnete damit, daß der König je des Schutzes seiner Garde bedürfen werde. Sperco war der erste, der den Vorsprung erreichte. Er hatte sich fast lautlos herangeschlichen. Als der Posten ihn in dem Dämmerlicht, das die Fackeln verbreiteten, über
26 die Felskante auftauchen sah, fuhr er erschrocken in die Höhe. Sperco hatte den Dolch in der Hand und die Hand auf dem Rücken geborgen. »Wer ist das?« fragte der Posten. »Nur keine Angst«, redete Sperco ihm zu. »Ich höre, der Adel ist zur Thronbesteigung des jungen Königs geladen. Ist das nicht so?« »Das ist so«, antwortete der Wächter mißtrauisch. »Na also – dann bin ich hier richtig!« lachte Sperco gehässig. »Ich gehöre nämlich zum höchsten Adel, oder kennst du mich vielleicht nicht?« Bei diesen Worten war er näher getreten. Der Posten fuhr entsetzt einen Schritt zurück. »Der Krüppel …!« stieß er hervor. »Das sei dein letztes Wort!« rief Sperco zornig. Er sprang den Wächter an. Der Dolch des Großen Weisen zuckte im Widerschein der Fackeln. Einen Atemzug später war der Posten tot. Sperco gab das verabredete Signal. Die Squooner kletterten über die Felskante herauf und drangen in den Nestgang ein. Sperco eilte ihnen voran und wies den Weg. Der große Saal, in dem die Feierlichkeiten soeben begannen, lag etwa im Zentrum des Nestes. Sperco kannte den an Hindernissen ärmsten Weg und führte seine Truppen dort entlang. Mit Braisen, denen man unterwegs begegnete, wurde kurzer Prozeß gemacht. Kein einziger entkam, um die versammelten Gäste vor der nahenden Gefahr zu warnen. Allmählich wurden die Geräusche des Festes vernehmbar. Die Braisen liebten es, wenn sich die Gelegenheit bot, laut zu sein. Sie hatten ihre Zimbeln mitgebracht und die Klappern. Im großen Thronsaal herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, der erst dann verstummen würde, wenn die Herolde eintraten und in die Kanuka stießen, um zu verkünden, daß der Einzug des Königs unmittelbar bevorstand. Sperco und die Squooner erreichten eine
Kurt Mahr breit angelegte Gangkreuzung. Die Unterführer der Squooner waren von Sperco in die Topologie des königlichen Nestes eingewiesen worden. Sie wußten, daß von dieser Kreuzung die Gänge abzweigten, die zu den verschiedenen Eingängen des Thronsaals führten. Ohne daß auch nur ein Wort verloren wurde, teilte sich die Armee der Squooner in drei annähernd gleich große Abteilungen, von denen jede auf einen anderen Zugang zum Thronsaal zustrebte. Vor dem Eingang, dem Sperco sich näherte, waren wiederum Posten aufgestellt. Von der Seite her mündete ein breiter, hell erleuchteter Gang, durch den die erlauchten Gäste kamen. Eine Gruppe von Gästen wurde soeben von den Posten abgefertigt. Sperco wartete, bis die Abfertigung beendet war. Dann schickte er eine Gruppe seiner Squooner vor, die den Posten den Garaus machten. Damit war einer der drei Zugänge fest in der Hand der Angreifer. Sperco konnte nur hoffen, daß die anderen beiden Abteilungen – eine davon unter Ningons Führung – ebenso erfolgreich waren. Er wartete. Spät eintreffende Gäste wurden von seinen Truppen abgefangen und unschädlich gemacht. Etwa zehn Minuten vergingen. Da erhoben sich drinnen im Saal die Herolde, setzten die Kanuken an und bliesen, bis unter den schmetternden Tönen auch die letzte Zimbel, die letzte Knatter verstummt war. Als die Kanuken schwiegen, erhob sich die Stimme des lautgewaltigsten Herolds und verkündete: »Der alte König ist tot! Es naht der junge König aus der Höhe!« Da beugten die Braisen im Saal, wie es am Tag der Krönung Sitte war, aus Ehrfurcht die Köpfe.
* Es gab einen vierten Eingang zum Thronsaal, den Sperco nicht hatte besetzen lassen. Er führte durch die Decke des großen Saales, und durch diesen Eingang kam, als die Stimme des Herolds verstummt war, Öpner,
Der Krüppel von Arsyhk der junge König. Er ließ sich in paar Meter weit fallen. Dann breitete er die Schwingen aus und landete sanft in der Mitte des großen Raumes, unmittelbar vor dem königlichen Thron, um den die ehrfürchtige Menge einen weiten Kreis gebildet hatte. Öpner sah sich um. Er nickte den Anwesenden freundlich zu. Dann schritt er in Richtung des Throns, der auf einem hölzernen Podest stand, das sich drei Stufen weit über den Boden des Saales erhob. Während drinnen die Braisen vor Andacht und Ehrfurcht den Atem anhielten, gab Sperco den Befehl zum Angriff. Soquon war der erste, der in den Saal eindrang. Er gab einen schrillen Pfiff von sich: das Signal für die anderen beiden Abteilungen. Die Braisen waren so sehr in die Zeremonie der Thronbesteigung vertieft, daß sie viel zu spät merkten, was sich an der Peripherie des Saales tat. Die Squooner pflügten blutige Furchen durch die erstarrte Menge. Vor allen Dingen Soquon war es, der den Adel der Braisen rechts und links niedermähte. Denn seine Aufgabe war es, dem Ersten Magier einen Weg zum königlichen Thron zu bahnen. Panik brach aus. Schreiend versuchten die Braisen, zu den Ausgängen zu flüchten – nur um dort von den Truppen der Squooner in Empfang genommen zu werden. Öpner, der junge König, hatte die Gefahr inzwischen erkannt. Er war unbewaffnet. Aber es erschien ihm nicht unmöglich, dem Gegner allein mit der Kraft seiner Muskeln beizukommen. Er wollte sich in die Höhe schwingen. Aber da hing plötzlich ein Gewicht an seinen Beinen, das ihn zu Boden zerrte. Er mochte die Schwingen bewegen, wie er wollte: Das Gewicht ließ ihn nicht los. Verwirrt sah er sich um. Sein Blick fiel auf die verkrüppelte Gestalt, die vor ihm am Boden kniete. Überraschung, Widerwillen, Bestürzung spiegelten sich in der Miene des jungen Königs. »Sperco … du?« stieß er hervor. Sperco richtete sich auf. Der blanke Haß
27 leuchtete aus seinen großen Augen. »Ich! Ja!« keuchte er. »Ich bin gekommen, um dem neuen König der Braisen die Reverenz zu erweisen.« Öpner gewann überraschend schnell seine Fassung zurück. Er lächelte. »Du bist gekommen, um dich zu rächen, nicht wahr?« fragte er. »Für all den Spott, mit dem man dich übergossen hat. Für all die Erniedrigungen, die du hast erleiden müssen.« »Für all den Spott«, wiederholte Sperco mit zischender Stimme. »Für all die Erniedrigungen. Du hast recht. Ich bin gekommen, um mich zu rächen.« Da lachte Öpner hell auf. »Du? Der verkrüppelte Zwerg? Wie willst du dich an mir rächen? Schau her – ich brauche nur einen Arm zu heben, und …« Weiter kam er nicht. Sperco sprang ihn an wie eine Katze. Der Glaube an die eigene Überlegenheit wurde Öpner zum Verhängnis. Er hatte den Arm noch um keine Handbreit bewegt, da hing ihm Sperco bereits an der Kehle. Der Dolch blitzte auf. Öpner gab einen stöhnenden Laut von sich. Sperco ließ von ihm ab. Öpner tat einen taumelnden Schritt rückwärts. Es zog sich wie ein Schleier über seine großen, hellen Augen, die mit dem Ausdruck unsäglichen Erstaunens auf den verkrüppelten Braisen gerichtet waren. »Du … hast …«, röchelte Öpner. Das waren seine letzten Worte. Er brach zusammen. Sperco trat hinzu und zog Pirjus Zeremoniendolch aus der tödlichen Wunde.
4. In dieser Nacht wurde Sperco zum König über alle Braisen und alle Squooner gekrönt. Er nahm einen Titel an, den es bisher nicht gegeben hatte: Herrscher über alle Nester und Höhlen von Arsyhk. Denn Arsyhk war der Name, den die Braisen ihrer Welt gegeben hatten. Mit diesem Titel gab Sperco der Welt zu verstehen, daß er sich als aller intelligenten Wesen Herr betrachtete, der Braisen
28 ebenso wie der Squooner. Der Überfall auf die Wolkenstadt Nikhor war ein voller Erfolg für Spercos Armee. Noch in derselben Nacht wurden die zusammengetrieben, gegen die Spercos Haß am gnadenlosesten brannte, und getötet. Als der nächste Tag anbrach, hing der Himmel über Nikhor voll schwerer Wolken – eine Seltenheit in den Tagen des Sommers und fast wie ein Fingerzeig des Schicksals, daß düstere Zeiten für die Braisen hereingebrochen waren. Innerhalb weniger Wochen reorganisierte Sperco die Administration der Königsstadt Nikhor von Grund auf. Sämtliche Positionen mit Verantwortung gingen in die Hände von Squoonern über. Als Sperco mit der Reorganisation fertig war, gab es keinen Braisen mehr, der genug Autorität hatte, um auch nur über den Bau eines neuen Nestes zu entscheiden. Inzwischen waren auf Spercos Geheiß Boten aus den Squooner-Stämmen, die unter anderen Braisen-Städten lebten, ausgesandt worden. Die Boten hatten den Magiern und ihren Helfern getreulich zu berichten, was in Nikhor geschehen war. Außerdem war es ihre Aufgabe, den Bepelzten klarzumachen, daß der neue König beabsichtigte, sämtliche Städte in Arsyhk auf dieselbe Weise zu reorganisieren wie Nikhor. Meistenteils wurden Spercos Botschaften von den außerhalb Nikhors lebenden Squoonern mit Kopfschütteln und Unverständnis aufgenommen. Es ereignete sich in den anderen Städten dasselbe, wogegen Sperco schon in Nikhor zu kämpfen hatte: Die Squooner waren an die bestehende Weltordnung derart gewöhnt, daß sie sie nicht als ungerecht empfanden und keinerlei Grund sahen, warum sie geändert werden sollte. Sperco hatte mit solcherart Widerstand gerechnet. In der Zwischenzeit hatte er mit großer Sorgfalt eine Schar kräftiger, männlicher Braisen aussuchen lassen, die samt und sonders aus solchen Leuten bestand, die eine Familie hatten und von denen bekannt war, daß sie sich ihrer Familie überdurchschnitt-
Kurt Mahr lich stark verbunden fühlten. Diese Leute wurden zu »königlichen Trägern« ernannt. Es war ein Traggestell für Sperco konstruiert worden. In diesem Gestell konnte er bequem sitzen, wenn es von vier königlichen Trägern durch die Lüfte transportiert wurde. Nachdem die Dinge in Nikhor sich stabilisiert hatten, ging Sperco auf Reisen. Er besuchte eine Stadt nach der anderen: niemals die Ebene der Braisen, sondern stets die Siedlung der Squooner auf dem Boden unter den Felsen und Aqiroda-Bäumen. Er sprach mit den Weisen und den Magiern und berührte sie dabei, und bald sahen sie die Dinge mit seinen Augen. Die Braisen in den Städten außerhalb Nikhor waren durch die Vorgänge in der Königsstadt verwirrt. Ohne einen Führer, der ihre Interessen vertrat, waren sie hilflos. Als die Squooner, durch Spercos persönliche Vorstellung überzeugt, zum Sturm auf die Nestersiedlungen der Braisen antraten, da fanden sie vielerorts nicht einmal den geringsten Widerstand. Sperco bewährte sich als geschickter Administrator. Er besaß die Fähigkeit, einen Squooner schon nach kurzem Gespräch gemäß seiner Eignung einzustufen. Er besetzte sämtliche wichtigen Posten in den Städten auf Arsyhk mit Squoonern, die ihm erstens treu ergeben waren, weil er sie berührt hatte, und die zweitens die Eignung für den ihnen zugewiesenen Posten besaßen. Es vergingen zwei Jahre, dann war Sperco absoluter Herr über alle Städte von Arsyhk, und die Braisen hatten schon zu vergessen begonnen, daß sie einst das herrschende Volk auf dieser Welt waren.
* Sperco war ein strenger, mitunter ein grausamer Herrscher. Aber unter seiner Herrschaft blühten die Wissenschaften. Sperco war von Natur aus wißbegierig. Auf seinen vielen Reisen, auf denen ihn die königlichen Träger transportierten, hatte er festgestellt, daß man sich nur lange genug in
Der Krüppel von Arsyhk ein und derselben Richtung zu bewegen brachte, um schließlich den Ausgangspunkt der Reise wieder zu erreichen. Das verwirrte ihn, denn er hatte gelernt, daß Arsyhk eine Scheibe sei, von deren Rändern man in die Hölle hinabstürzen konnte, wenn man sich nur weit genug vorwärts getraute. Er beauftragte eine Gruppe von squoonischen Magiern, dieses Rätsel zu erforschen, und teilte ihnen eine Schar Braisen zu, die den Magiern in technischen Dingen behilflich sein sollten. Eine Reihe von Jahren verging. Die Magier fanden heraus, daß Arsyhk nicht eine Scheibe, sondern eine Kugel war. Damit ließ sich erklären, warum Sperco den Ausgangspunkt seiner Reise erreichte, wenn er sich lange genug in gerader Richtung bewegte. Die Magier entdeckten ebenfalls, daß Arsyhk sich in einer kreisförmigen Bahn um die Sonne bewegte, und schließlich äußerten sie noch die Vermutung, daß die Sterne, die man des Nachts am Himmel sah, nichts weiter waren als Sonnen wie die, um die Arsyhk kreiste, nur um ein Vielfaches weiter entfernt. Die Braisen hatten inzwischen ein Material entwickelt, aus dem sich, wenn man es entsprechend behandelte, durchsichtige Gegenstände formen ließen, die den Lauf des Lichts veränderten, wenn es sie durchdrang. Mit Hilfe solcher Gegenstände, die man Linsen nannte, ließen sich Geräte erzeugen, durch die man in die Ferne blicken konnte. Diese Geräte wurden in den Nachthimmel gerichtet, und bald fanden die Magier heraus, daß wenigstens zwei der Lichtpunkte, die des Nachts am Himmel leuchteten, nicht fremde Sonnen waren, sondern Himmelskörper wie Arsyhk selbst, die mit Arsyhk zusammen um die gemeinsame Sonne kreisten. Diese Entwicklung nahm viele Jahre in Anspruch. Inzwischen war Pirju, der Große Weise, in das Land der Toten gereist. Sperco verzichtete darauf, seinen Posten neu zu besetzen. Er wollte, daß der Herrscher über alle Nester und Höhlen von Arsyhk als der
29 einzige und absolute Herr betrachtet werde. Die Existenz eines Großen Weisen hätte in den Gemütern besonders der Squooner womöglich Verwirrung schaffen können. Auch Srikor und Soquon hatten diese Welt bereits verlassen, und Ningon war alt geworden, aber noch immer Spercos engster Vertrauter. Sperco selbst schien nicht zu altern. Unter den Squoonern und Braisen, über die er herrschte, bildete sich das Gerücht, der König sei unsterblich. Sperco legte diesem nichts in den Weg. Es konnte seinem Ansehen nichts schaden, wenn er für unsterblich gehalten wurde. Im übrigen war er selbst fast schon bereit, an seine Unsterblichkeit zu glauben. Und dann kam der Tag, an dem sich ihm die Möglichkeit bot, seine Macht über alles bisher vorstellbare Maß hinaus zu erweitern. Das war der Tag, an dem Ningon, atemlos vor Aufregung, in seine Kammer im königlichen Nest von Nikhor gestürmt kam und hervorsprudelte: »Oh Herr! Es ist soeben ein riesiges und ganz fürchterliches Fahrzeug auf der Ebene im Süden des Garmanago-Landes niedergegangen!« Die Aufregung des Alten amüsierte Sperco. »Was für ein Fahrzeug ist es?« erkundigte er sich. »Und woher kommt es?« Ningon reckte den Arm in die Höhe. »Direkt aus dem Himmel ist es gekommen!« stieß er hervor. »Es bewegte sich durch die Luft und brauchte keine Flügel dazu. Es sieht aus wie die Kappen zweier Hutpilze, die man von den Stämmen getrennt und aufeinandergestülpt hat.« Sperco lehnte sich nach vorne. In diesem Augenblick war er geneigt zu glauben, daß Ningon entweder geträumt oder einen Becher Wein zuviel getrunken habe. »Bist du sicher, daß die Sache sich so verhält, wie du sie mir schilderst?« fragte er. »Oh ja, Herr!« beteuerte der Alte. »Ich habe es von mehreren Boten, die samt und sonders sehr verläßlich sind.« Sperco war seiner Sache nicht sicher.
30 »Ich werde mir das fremde Fahrzeug ansehen«, erklärte er schließlich. »Es sollen vier Träger antreten!« Ningon wandte sich zum Gehen. Schließlich aber fiel ihm noch etwas ein. »Eines hätte ich fast vergessen, oh Herr«, sagte er. »Was ist das?« »Wenn du dich dem fremden Fahrzeug näherst, dann erschrick nicht!« »Warum sollte ich erschrecken?« »Wegen seiner Größe!« »Ist es so gewaltig?« »Die Boten sagen, es rage doppelt soweit in die Höhe wie die Fünf Brüder!« Da fing Sperco an zu lachen.
Kurt Mahr
gann er allmählich zu glauben, daß an Ningons Bericht etwas Wahres gewesen sein müsse. Die Ausmaße des fremden Fahrzeugs stellten sich immer gigantischer dar. Sperco erkannte, daß er von dem hutförmigen Gebilde etwa einhundert Kilometer hatte entfernt sein müssen, als er es zum ersten Mal erblickte. Jetzt, aus der Nähe, gewahrte er andere Objekte, die sich in der Nähe des riesigen Fahrzeugs bewegten. Es waren kleine Scheiben, die mühelos durch die Luft glitten und die waghalsigsten Manöver ausführten. Über den Scheiben wölbten sich durchsichtige Kuppeln. Unter den Kuppeln sah Sperco die Umrisse fremdartiger Wesen, die die scheibenförmigen Fahrzeuge steuerten. Ningon hatte nicht gelogen. Das hutförmi* ge Gebilde war in der Tat mindestens dopDas Lachen verging ihm nur kurze Zeit pelt so hoch wie die Fünf Brüder. Es bestand später. Vier Träger brachten ihn in raschem aus einem hellgrau schimmernden Material, Flug bis an die Südgrenze des Garmanago-Lan- das Sperco für Metall hielt. In den Falten des. Dort gab es keinen Wald mehr, sondern und auf den Vorsprüngen der Fahrzeughülle nur noch gras- und buschbewachsene Ebene, gab es zahlreiche Öffnungen, und hin und durch die sich mehrere Flüsse schlängelten, wieder sah er, wie eine der Scheiben durch die in den großen Äquatorialozean mündeeine solche Öffnung ins Innere des Fahrten. Die Gegend war unbewohnt. zeugs flog, oder wie aus einer anderen ÖffSperco sah das fremde Fahrzeug schon nung eine neue Scheibe auftauchte. von weitem. Es ragte mitten aus der Ebene Sperco beschloß, die unglaubliche Szene auf und hatte die von Ningon beschriebene zunächst eine Weile zu beobachten. Er nahm Form. Der Hutpilz galt den Squoonern als an, daß er bemerkt worden war. Andererseits eine Art Delikatesse. Er hatte eine steil geschenkten die Fremden ihm keinerlei Beachwölbte Kappe, die viele sanft gewellte Faltung. Es war nicht zu erwarten, daß sie sich ten aufwies. Die Falten liefen vom unteren um ihn kümmern würden, wenn er sich mit Rand der Kappe bis zu der schmalen Pilzseinen vier Trägern irgendwo niederließ, um kuppe hinauf. dem eigenartigen Treiben zuzuschauen. Er Genauso sah das Fahrzeug aus. Nur schibefahl den Trägern, ihn am Rand eines Geen es aus zwei Pilzkappen zu bestehen, die strüpps abzusetzen. An dieser Stelle war er jemand übereinander gestülpt hatte. Ganz etwa zehn Kilometer von dem Riesenfahrdeutlich waren dort, wo das Fahrzeug den zeug entfernt. Boden berührte, zwei übereinander liegende Sperco wußte, daß es Wesen wie die, die gewellte Ränder zu sehen. in den huschenden Scheiben saßen, auf ArAls Sperco das seltsame Gebilde zum ersyhk nicht gab. Sie mußten also von einer sten Mal erblickte, glaubte er, ihm ziemlich anderen Welt kommen. Das riesige Fahrnahe zu sein. Als seine vier Träger aber imzeug hatte ihnen geholfen, die unendliche, mer weiterflogen und das Fahrzeug immer finstere und luftleere Weite zu überbrücken, höher vor ihm aufwuchs, ohne daß er ihm die nach der Ansicht der Magier die Welten merklich näher zu kommen schien, da bevoneinander trennte. Die Magier der Frem-
Der Krüppel von Arsyhk den mußten unvergleichlich weiser sein als die, die Sperco um sich hatte. Die Scheiben waren offenbar damit beschäftigt, die Umgebung des Landeplatzes des großen Fahrzeugs zu untersuchen. Vermutlich war dies der erste Besuch der Fremden auf der Welt Arsyhk. Sie fühlten sich, so glaubte Sperco zu verstehen, ihrer Sache nicht besonders sicher und wollten sich vergewissern, daß ihnen aus der Nähe keine Gefahr drohe. Er fand die Idee, die Repräsentanten einer fremden Zivilisation vor sich zu haben, schlechthin faszinierend. Das Wissen, das die Magier im Lauf der vergangenen Jahre angesammelt hatten, indem sie den Nachthimmel beobachteten und von den in solchen Dingen gewandten Braisen komplizierte Berechnungen durchführen ließen, war ihm immer ein wenig theoretisch und belanglos vorgekommen. Er hatte nicht im Ernst daran geglaubt, daß ein Squooner oder ein Braise jemals den Fuß auf die Oberfläche einer der fremden Welten setzen werde, deren Existenz die Magier postulierten. Hier aber hatte er Geschöpfe vor sich, die selbst von einer fremden Welt gekommen waren. Das Fahrzeug, das sie gebracht hatte, war gewiß in der Lage, sie auch wieder an den Ausgangsort ihrer Reise zurückzubringen. An Bord des hutförmigen Gebildes, für das Sperco in seinen Gedanken den Begriff »Sternenschiff« prägte, konnte auch ein Bewohner der Welt Arsyhk zu einer fremden Welt reisen. Der Gedanke ließ den Herrscher über alle Nester und Höhlen von Arsyhk nicht mehr los. Er würde Kontakt mit den Fremden aufnehmen. Er würde sie auf der Welt Arsyhk, deren König er war, willkommen heißen. Er würde sich ihnen nähern und sie berühren. Und wenn das Schicksal ihm wohlwollte, würden sie auf die Berührung so reagieren wie die Squooner. Soweit war er mit seinen Gedanken gekommen, da hörte er über sich in der Luft ein hohles Sausen. Er blickte auf und sah eine der flinken Scheiben im Steilflug auf sich
31 zu kommen. Nur ein paar Dutzend Meter entfernt ging das Fahrzeug in den Horizontalflug über. Es bremste scharf und kam unmittelbar über dem Gebüsch, an dessen Südrand Sperco mit seinen Trägern lagerte, zum Stehen. Die durchsichtige Kuppel schien plötzlich zu verschwinden. Einer der beiden Insassen des Fahrzeugs erhob sich und sprang über den Rand der Scheibe zu Boden. Er teilte die Büsche mit zwei kräftigen Armen und kam auf Sperco zu, den er als den Vornehmsten unter den hier Lagernden erkannt zu haben schien. »Kääts«, sagte er und dann noch ein paar Worte, die Sperco jedoch ebenso wenig verstand. Dabei deutete er auf eine Art Amulett, das er um den Hals trug.
* Sperco hatte nicht den Eindruck, daß der Fremde ihm übel wollte, und bewahrte seine Gelassenheit. Er nahm sich Zeit, das fremde Geschöpf von Kopf bis Fuß zu mustern. Im großen und ganzen hätte man sagen können, der Fremde sehe aus wie ein Braise ohne Flügel. Aber das war eine zu summarische Beschreibung. Das Wesen, das vor Sperco stand, hatte etwa die Höhe eines kräftigen, erwachsenen Braisen. Der Schädel war nicht rund, sondern eher kantig geformt. Die Augen erschienen Sperco unglaublich klein: Er wunderte sich, daß die Fremden daraus überhaupt etwas zu sehen vermochten. Sicherlich waren sie nicht nachtsichtig. Der Fremde hatte zwei kräftige Arme, die kürzer waren als die eines Braisen. Er ging und stand aufrecht und bediente sich dazu zweier Beine, die noch um etliche Grad stärker waren als die Arme. Der größte Teil des Körpers war mit metallisch schimmernder Kleidung bedeckt. Sperco sah, daß der Fremde sechs Finger an jeder Hand hatte. Außerdem trug er auf der Schädeldecke eine Art überaus langhaarigen Fells.
32 Das Wesen ließ Spercos Musterung zunächst geduldig über sich ergehen. Dann aber begann es von neuem zu sprechen. Wiederum deutete es auf das Amulett an seinem Hals. Dann beugte es sich ein wenig nieder, deutete auf einen der Büsche und gab einen Laut von sich, der wie »röp« klang. Sperco begriff mit einemmal, daß der Fremde ihn sprechen hören wollte. Er deutete ebenfalls auf den Busch und sagte: »Busch!« Von da an ging es wie am Fließband. Der Fremde deutete auf Gegenstände und nannte deren Namen in seiner eigenen Sprache. Sperco wiederholte ihn daraufhin in der Sprache der Braisen. Er wußte nicht, worauf dieses Experiment hinauslief. Aber vorderhand war er daran interessiert, den Fremden klarzumachen, daß sie ihm willkommen waren. Später ging das fremde Wesen dazu über, komplizierte Begriffe zu bilden. Mit vielen Handbewegungen und einigen Worten, die Sperco sich gemerkt hatte, wurde ihm zu verstehen gegeben, daß ein Busch höher sei als der andere, daß es im Schatten weniger warm war als in der Sonne, und so weiter. Willfährig brachte er alle diese Feststellungen auch in seiner eigenen Sprache zum Ausdruck, und seine Neugierde wurde immer größer, worauf der Fremde wohl aus sein mochte. Plötzlich trat das eigenartige Wesen einen Schritt zurück. Sein Blick schien in die Ferne gerichtet, und Sperco hatte unwillkürlich den Eindruck, daß ein wichtiger Augenblick unmittelbar bevorstehe. Der Fremde berührte das Amulett auf seiner Brust. Dann sprach er langsam ein paar Worte in seiner eigenen Sprache. Sperco hätte vor Überraschung fast aufgeschrien, als kurz danach das Amulett zu sprechen begann. Es brachte Worte in der Sprache der Braisen hervor. Sperco verstand ganz deutlich: »Ich bin ein Käät. Mein Name ist Sajdor. Wir sind freundlich.«
Kurt Mahr
* Nicht nur Sperco, auch die vier Träger waren eine Zeitlang starr vor Staunen. Schließlich gewann wenigstens Sperco seine Fassung soweit zurück, daß er aufstehen konnte. Er näherte sich dem Fremden und stieß fassungslos hervor: »Du sprichst unsere Sprache?« Der Fremde, der sich Sajdor nannte, antwortete mit seinen eigenen Worten. Und aus dem Amulett erklang es: »Noch nicht gut. Wir werden lernen.« »Von welcher Welt kommt ihr?« fragte Sperco. Auch jetzt begann das Amulett wieder zu sprechen. Aber es brachte Laute in Sajdors Sprache hervor. Sperco begriff allmählich, daß das Amulett in Wirklichkeit ein Gerät von fast unvorstellbarer Schlauheit war, das in der kurzen Zeit, da er mit Sajdor Namen und Begriffe ausgetauscht hatte, der braisischen Sprache halbwegs mächtig geworden war. Seine letzte Frage allerdings hatte es anscheinend nicht einwandfrei übersetzen können. Sajdor gab zu verstehen, daß er nicht wußte, wie er antworten sollte. Sperco begann zu gestikulieren. Er wies zum Himmel hinauf, wo all die fremden Welten zu sehen gewesen wären, wenn die Sonne nicht so grell geschienen hätte. Schließlich wiederholte er seine Frage. Diesmal verstand der Fremde. Seine Antwort kam laut und deutlich durch das Amulett: »Wir kommen von Rultäner.« Das besagte Sperco nicht viel. Er hatte die nächste Frage sofort zur Hand. »Bist du ein Führer unter den Kääts?« Auch hier mußte er noch ein paar zusätzliche Informationen vermitteln, bevor Sajdor die Frage verstand. Die Antwort lautete: »Ich bin der Befehlshaber dieses Sternenschiffs.« Da sagte Sperco: »Laß uns den Gruß der Freundschaft austauschen!«
Der Krüppel von Arsyhk Das Amulett übersetzte die Aufforderung nicht vollständig. Aber als Sperco mit ausgestrecktem Arm auf den Fremden zutrat, da konnte es keinen Zweifel über seine Absicht geben. Sajdor ergriff die dargebotene Hand und umschloß sie vorsichtig mit der seinen. »Wir wollen Freunde sein«, sagte Sperco und beobachtete dabei den Fremden scharf. »Freunde«, echote es aus dem Amulett. Eine seltsame Veränderung ging mit Sajdors Gesicht vor sich. Die scharfen Kanten verschwanden. Die kleinen Augen, die bisher überaus wachsam geblickt hatten, nahmen einen sanften und entspannten Ausdruck an. Der Fremde löste seine Hand aus Spercos Griff und legte sie Sperco auf die Schulter. »Wir werden gute Freunde sein«, drang es aus dem Amulett. Da wußte Sperco, daß er das gewagte Spiel gewonnen hatte. Die Wirkung seiner übernatürlichen Gabe war nicht auf die Squooner beschränkt. Er hatte soeben ein Wesen, das von einer fremden Welt kam, zu seinem ergebenen Freund gemacht.
* Sajdor rief ein paar Worte zu seinem Begleiter hinauf, der immer noch in der Scheibe saß. Dieser Begleiter setzte hierauf das Fahrzeug zwischen den Büschen ab und stieg ebenfalls aus. Sajdor sprach lange auf ihn ein. Sperco fühlte, daß der zweite Fremde mißtrauisch war. Er zögerte, als Sajdor ihn an der Schulter faßte und ihn auf die Braisen zuschob. Aus Sajdors Amulett erklang es: »Mein Freund, Pandar, traut … nicht so recht. Reiche ihm die Hand der Freundschaft!« Ein paar Worte gingen in der Übersetzung verloren. Aber Sperco war nur zu gewillt, der Aufforderung Folge zu leisten. Er streckte Pandar die Hand entgegen. Pandar ergriff sie, und noch im selben Augenblick verschwanden die Kanten aus seinem Gesicht, und die Augen blickten freundlich und
33 entspannt. Auch Pandar trug ein Amulett um den Hals. Er sprach: »Freund! Guter Freund!« »Ja, wir wollen Freunde sein«, bestätigte Sperco. Er hatte Mühe, die Worte in ruhigem Tonfall hervorzubringen. Er hätte schreien mögen! Sein Herz barst fast vor Triumph. Er hatte soeben den ersten Schritt in die Weiten des Weltalls hinaus getan. Die Kääts waren andere Wesen als die Squooner. Sie reagierten äußerlich anders als die Pelzwesen auf die Berührung. In Wirklichkeit aber war die Wirkung in beiden Fällen dieselbe. Er wies auf das große Fahrzeug. »Wieviele von euch sind auf dieser Welt gelandet?« wollte er wissen. Sajdor antwortete: »Wir sind insgesamt fünfhundert.« »Was wollt ihr hier?« »Wir wollen diese Welt erforschen. Wir wollen erfahren, wer hier lebt, ob er Feinde hat und ob er unseres Schutzes bedarf.« Ein wenig unsicher fügte er hinzu: »Wer hier lebt, das haben wir inzwischen erfahren. Unseres Schutzes scheint er nicht zu bedürfen.« Sperco machte eine alles umfassende Geste. »Ihr sollt von dieser Welt hören, die Arsyhk genannt wird«, rief er. »Wir wollen euch die Geschichte unserer Völker erzählen. Sieh, wir sind nur fünf und unbewaffnet. Von uns droht euch keine Gefahr. Rufe deine Leute zusammen. Sie sollen sich hier versammeln, und ich will zu ihnen sprechen. Sie sollen alles erfahren, was es über Arsyhk zu wissen gibt!« Noch hatten die Medaillons der Kääts die Sprache der Braisen nicht fest im Griff. Viele von den Worten, die Sperco sprach, gingen in der Übersetzung unter. Aber Sajdor begriff trotzdem, was von ihm verlangt wurde. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht mißtrauisch und ein wenig zurückhaltender gewesen. So aber stand er, ebenso wie Pandar, unter des Braisen Bann und tat willfährig, was dieser wünschte.
34
Kurt Mahr
Staunend sah Sperco, wie er ein winziges Gerät aus der Tasche zog und eine Zeitlang darauf einredete. Alsbald änderten die Flugscheiben, die rings um das große Fahrzeug unterwegs waren, ihren Kurs und kamen auf den Ort zu, an dem Sajdor, Pandar und die fünf Braisen sich befanden. Und aus den Öffnungen des Sternenschiffs quollen weitere Scheiben hervor. Die Ebene füllte sich mit Fahrzeugen und Kääts. Sajdor erteilte mit lauter Stimme Anweisungen. Die Kääts heckten sich auf den Boden. Sie bildeten einen Kreis, in dessen Mitte sie einen freien Platz ließen, von dem aus. Sperco zu ihnen sprechen würde. Die meisten von ihnen waren mit jenen Amuletten ausgerüstet, die auch Sajdor und Pandar um den Hals trugen. Das Merkwürdige war, daß alle Amulette die Sprache der Braisen in etwa demselben Maß beherrschten. Dabei hatte doch nur Sajdor mit Sperco Sprachübungen gemacht, so daß man eigentlich hätte annehmen müssen, sein Gerät sei das einzige, das etwas von der braisischen Sprache verstand. Sperco kam zu dem Schluß, daß die Amulette untereinander in einer Art geheimnisvoller Verbindung standen. Sperco begann zu sprechen. »Ich spreche im Namen der beiden Völker, die diese Welt bewohnen, der Braisen und der Squooner, indem ich die Kääts auf Arsyhk willkommen heiße! Euer Befehlshaber hat euch hier zusammengerufen, weil ihr von mir die Geschichte dieser Welt hören sollt. Bevor ich damit beginne, laßt mich reihum gehen und jeden von euch nach der Sitte dieses Landes begrüßen.« Er schritt die Reihen der Kääts entlang und berührte einen nach dem andern. Sie ließen sich die Begrüßung willig gefallen. Die Wirkung war vollkommen. Sperco spürte förmlich, wie sich die Herzen der Fremden ihm zuwandten. Er sah ihre Augen leuchten und wußte, daß das mächtige Volk der Kääts bald einen neuen Herrscher erhalten werde: Sperco, den Unbezwingbaren.
5.
Nachdem er die Kääts für sich gewonnen hatte, bereitete es ihm keinerlei Mühe, sie dazu zu überreden, daß sie ihn mitsamt einer Delegation von Squoonern sowie acht königlichen Trägern mit zu ihrer Heimatwelt Rultäner nähmen. Sajdor äußerte sich geradezu begeistert über diesen Vorschlag und gab zu verstehen, daß er ihn selber gemacht hätte, wenn Sperco nicht von sich aus auf diesen Gedanken gekommen wäre. Damit ergab sich für den Herrscher über alle Nester und Höhlen von Arsyhk die Notwendigkeit, für die Zeit seiner Abwesenheit Vorbereitungen zu treffen, so daß die Braisen nicht etwa in der Zwischenzeit eine Revolution veranstalteten und seine Herrschaft wieder über den Haufen warfen. Er ernannte den Squooner Abrigal zum Regenten. Abrigal war ein Emporkömmling. Aus der niedrigsten squoonischen Kaste geboren, hatte er es verstanden, sich dem Herrscher im Laufe der Jahre durch verschiedene Dienste, die Sperco so leicht niemand anders hätte übertragen können, wertvoll zu machen. Wo immer ein aufsässiger Braise spurlos verschwand, hatte Abrigal seine Hand im Spiel. Abrigal kannte keine Skrupel, das machte ihn für Sperco unbezahlbar. Für Abrigal galt nur der Wille des Königs, auch wenn dieser dem überlieferten Gesetz zuwider lief. Abrigals Regentschaft wurde mit großem Aufwand bekanntgegeben. Die Braisen zitterten, denn Abrigals barbarische Brutalität war im ganzen Land bekannt. Spercos Ratgeber wurden auf den neuen Regenten eingeschworen. Sperco machte seinem Stab klar, daß er in Kürze das Volk der Kääts beherrschen werde. Und er fügte hinzu: »Ihr habt euch alle ein Bild davon machen können, über wieviel technische Macht die Fremden verfügen. Sie haben Fahrzeuge, mit denen sie die Leere des Weltalls durchqueren, in dem nach dem Willen der Geister kein atmendes Wesen leben kann. Sie besitzen Waffen, die mächtiger sind als der Blitz des Wintergewitters. Ich verlange von euch bedingungslose Ergebenheit. Meine Abwe-
Der Krüppel von Arsyhk senheit wird nur wenige Monate, im Höchstfall ein Jahr dauern. Finde ich bei meiner Rückkehr, daß einer von euch sich die Zeit zunutze gemacht hat, um sich hinter meinem Rücken zum Herrscher von Arsyhk aufzuschwingen, oder stelle ich fest, daß die Braisen nicht scharf genug kontrolliert wurden, so daß sie einen Aufruhr veranstalten und die Machtverhältnisse auf Arsyhk umstülpen konnten, so werde ich keinen Augenblick zögern, diese Welt von den Kääts vernichten zu lassen.« Sie wußten, daß es ihm ernst war. Aber ihre Herzen brannten in unterwürfiger Liebe zu ihm, und sie versicherten ihm mit vielen Worten, daß während seiner Abwesenheit auf Arsyhk alles so sein werde, als hätte er diese Welt nie verlassen. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme bestand darin, daß es eine Sprechverbindung zwischen Arsyhk und Rultäner geben würde, solange Sperco sich in der Fremde befand. Der Herrscher hatte diesen Gedanken nur einmal in Sajdors Gegenwart zu äußern brauchen, und schon hatte der Kommandant der Kääts sich bereit erklärt, eine solche Verbindung einzurichten. Sperco hatte, als er seinen Gedanken aussprach, nicht ernsthaft geglaubt, daß es so eine Möglichkeit überhaupt gäbe. Sajdors Angebot überraschte ihn zunächst maßlos. Aber er gab sich Mühe, seine Überraschung nicht zu zeigen. Eine kleine Schwierigkeit entstand, als Sajdor erklärte, das Gerät, mit dem die Verbindung hergestellt wurde und welches er einen Sender-Empfänger nannte, müsse erst ausprobiert werden. Es lag Sperco nichts daran, daß sein bevorstehender Besuch auf Rultäner vorzeitig bekannt würde. Wenn er auf der Heimatwelt der Kääts erfolgreich sein wollte, mußte er unerwartet dort auftauchen. Er gab Sajdor also zu verstehen, daß er seinem technischen Sachverstand auch ohne Probe traue. Schließlich war der Tag der Abreise gekommen. Sajdor und seine Unterführer waren von den Squoonern mit Geschenken überhäuft worden. Spercos Gefolge bestand
35 aus zwölf Squoonern, zu denen der alte Ningon gehörte, und acht königlichen Trägern, die auf Rultäner dafür sorgen würden, daß sich der Herrscher über alle Nester und Höhlen auf Arsyhk auch in der Heimat der Kääts auf standesgemäße Weise bewegte. Die Kääts holten die königliche Delegation mit einer besonders großen Transportscheibe ab. Über der Wolkenstadt Nikhor erschallten die Kanukas der Herolde, als der König zu seiner ersten Reise durch die Finsternis des Weltalls aufbrach, und es gab wohl manchen Braisen, der sich in diesem Augenblick wünschte, daß das Dunkel und die Kälte Sperco verschlingen mögen. Die große Scheibe flog durch eine mächtige Öffnung in das gewaltige Sternenschiff ein. Es landete in einer großen, hell erleuchteten Halle, in der mehrere Fahrzeuge säuberlich aufgereiht standen. Sperco und seine Begleiter stellten mit großer Verwunderung fest, daß hier alles aus Metall bestand: der Boden, die Decke und die Wände. Man geleitete sie zu einer Stelle am Rand der Halle, an der sich in der Decke ein rundes Loch befand. Sajdor trat unmittelbar unter das Loch, nachdem er Sperco aufgefordert hatte, ihn genau zu beobachten. Eine unsichtbare Kraft griff nach ihm und trug ihn in die Höhe. Er verschwand durch die Öffnung in der Decke. Sperco traute dem Frieden nicht so recht und gebot einem der königlichen Träger, Sajdor zu folgen. Der Braise schrie ängstlich auf, als er plötzlich den Boden unter den Füßen verlor und aufwärts getragen wurde. Er zappelte vor Schreck, bis ihm einer der Kääts zurief, er solle sich ruhig verhalten. Da verschwand auch er, wie Sajdor vor ihm, durch das Loch in der Decke. Sperco ging als nächster. Er benahm sich würdevoll, obwohl er sich in der Tiefe seines Herzens vor dem unheimlichen Transportmechanismus fürchtete. Er gelangte durch einen kurzen Schacht in einen großen, runden Raum, über dem sich eine kuppelförmige Decke wölbte. Überall an den Wänden waren fremdartige Geräte installiert. Etwa
36 zwei Dutzend Kääts befanden sich hier. Sie saßen vor kleinen Tischen entlang der Rundwand und waren mit den Geräten beschäftigt, die anscheinend für die Steuerung des Sternenschiffs gebraucht wurden. In der Mitte der Halle aber erhob sich ein gläsernes Gebilde, das die Form eines Würfels hatte. Im Innern des Würfels gab es einen Tisch mit Geräten, ganz so, wie sie auch entlang der Wand angebracht waren. Hinter dem Tisch saß ein Käät, den Sperco noch nie zuvor gesehen hatte. Er wandte sich an Sajdor. »Wer ist das?« fragte er. »Das ist der Monitor«, antwortete der käätische Befehlshaber. »Er lebt isoliert von der übrigen Besatzung des Schiffes. Er hat einen Arbeitsplatz und einen Wohn- und Schlafplatz. Den Arbeitsplatz siehst du hier vor dir. Der Wohn und Schlafplatz liegt unter dem Boden dieses Raumes. Der Monitor ist während des gesamten Fluges von der Umwelt völlig abgeriegelt.« Sperco war beunruhigt. »Warum ist das so?« wollte er wissen. »Raumschiffe, die fremde Welten anfliegen, begegnen unbekannten Gefahren«, erklärte Sajdor. »Die Besatzung kann sich auf einer unbekannten Welt eine schleichende Krankheit zu ziehen, die erst nach Monaten oder Jahren wirksam wird und auf der Heimatwelt womöglich eine Seuche hervorruft. Die Leute können psychischer oder sonstiger Beeinflussung unterliegen. Der Monitor dagegen bleibt vor solchen Gefahren bewahrt. Durch die Energiebarriere, hinter der er sich aufhält, dringt kein Krankheitskeim, keine hypnotische Strahlung. Wenn unser Schiff auf Rultäner landet, wird man zuerst den Monitor einer gründlichen Untersuchung unterziehen und dann den Rest der Besatzung. Gibt es einen Unterschied zwischen den Untersuchungsbefunden, dann weiß man, daß der Besatzung unterwegs etwas Ungewöhnliches zugestoßen ist, das zunächst genau analysiert werden muß. Man bringt die Besatzung sodann in ein Lager und entläßt sie erst dann, wenn feststeht, daß
Kurt Mahr sie nichts Gefährliches an sich hat.« Da wußte Sperco, daß sich sein Plan in Gefahr befand. Er hatte eine hohe Meinung von der Technik der Kääts, und er traute ihr zu, daß sie bei der Untersuchung der Besatzung herausfinden würde, daß sie unter einem fremden Bann stand. Der Monitor dagegen war frei von diesem Bann. Wenn Sperco sein Vorhaben verwirklichen wollte, dann mußte er in den gläsernen Käfig des Monitors vordringen. Er mußte den Monitor berühren und ihn zu seinem Freund machen – oder das Spiel war ausgespielt!
* Man wies Sperco und seinem Gefolge Unterkünfte an, die in unmittelbarer Nähe des Kommandostands lagen, wie die Kääts die runde Halle mit der kuppelförmigen Decke nannten. Sperco erhielt einen besonders bequem ausgestatteten Raum, in dessen Wand eine Glasscheibe eingelassen war. Sajdor unterrichtete den Herrscher von Arsyhk im Gebrauch dieser Scheibe. Man brauchte nur ein paar Knöpfe zu drücken, und alsbald erschien auf der gläsernen Fläche ein Abbild der Umgebung des Sternenschiffs. Mit Hilfe weiterer Knöpfe konnte man den Blickwinkel verändern. Sperco lernte bald, wie man von dem Sternenschiff aus nach Osten, Süden, Westen und Norden blickte. Die Glasscheibe war wie ein Fenster, obwohl sich die Kabine, in der Sperco wohnte, nahe dem Mittelpunkt des Schiffes befand. Sajdor verabschiedete sich mit der Bemerkung, er hatte sich um die Vorbereitung des Starts zu kümmern. Sobald er gegangen war, schaltete Sperco das Bildgerät ab. Unruhig schritt er zwischen den Wänden seiner Unterkunft hin und her. Sein Verstand arbeitete. Er suchte nach einem Weg, wie die Gefahr beseitigt werden könne, die von dem Monitor ausging. Schließlich rief er Ningon zu sich. Der Alte war unverzüglich zur Stelle. Er musterte Sperco besorgt. Dann sagte er:
Der Krüppel von Arsyhk »Ich sehe dich bekümmert, oh Herr. Das macht mir das Herz schwer. Gibt es irgend etwas, das ich tun kann um dich zu erheitern?« Sperco ließ sich in eines der Sitzmöbel fallen, die die Kääts für ihn aufgestellt hatten. »Hast du den Monitor gesehen?« fragte Sperco. »Ich habe ihn gesehen, Herr«, antwortete Ningon. Ohne zu zögern, fügte er hinzu: »Er stellt eine Gefahr für uns dar, oh Herr. Denn du kannst mit ihm den Gruß nicht austauschen, der ihn begreifen macht, daß es keinen Herrn gibt außer dir.« Sperco musterte den Alten halb überrascht, halb mißtrauisch. Woher wußte Ningon von der unheimlichen Macht, die von seiner Berührung ausging? Die Squooner hatten Sperco als ihren Herrn akzeptiert, ohne sich jemals die Frage vorzulegen, wie ein Braise, und dazu noch ein unter seinem eigenen Volk verachteter Krüppel, Anspruch darauf erheben könne, der Herrscher aller Squooner zu sein. Sperco war bislang der Ansicht gewesen, daß die Squooner von dem Bann nichts wußten, mit dem er durch bloße Berührung jedes nichtbraisische Wesen belegte. Ningons Worte dagegen deuteten an, daß zumindest dem Alten der Vorgang durchaus klar war. Sperco musterte Ningon mit durchdringendem Blick. Dann fragte er: »Was weißt du von dem Gruß?« Ningons große Augen strahlten schwärmerisch. »Ich weiß, daß die Welt dich verkennt, oh Herr. Die Braisen zum Beispiel. Der Geist des Bösen hat ihnen das Herz verschlossen. Sie verachteten dich, und später, als du ihr König wurdest, begannen sie, dich zu hassen. Aber auch andere Wesen mögen, wenn sie dich lediglich zu sehen bekommen, nicht sofort erkennen, daß du zum Herrschen geboren bist und daß Weisheit und Güte die hervorstechenden Merkmale deines Charakters sind. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich dir zum ersten Mal begegnete, oh Herr. Auch ich gehörte zu den Ver-
37 stockten. Ich sah in dir nur einen Braisen, den wir so schnell wie möglich wieder loswerden sollten, damit er uns keine Schwierigkeiten eintrug. Dann aber berührtest du mich, oh Herr, und von da an war die Welt wie verwandelt. Ich sah plötzlich die Wahrheit und habe sie seitdem nie mehr aus dem Blick verloren.« In diesem Augenblick war Sperco, der Unerbittliche, echter Rührung so nahe, wie er ihr nie zuvor gekommen war – und nie wieder kommen würde. Er ließ sich dazu herab, den alten Ningon zu umarmen, eine Ehre, die dem Squooner für eine Zeitlang den Atem raubte. Sofort aber war Sperco wieder bei der Sache. »Du hast recht«, erklärte er. »Der Monitor bedeutet für uns deshalb eine Gefahr, weil er mich nicht kennt und den Gruß der Freundschaft noch nicht erhalten hat. Ich könnte Sajdor darum ersuchen, daß er den Monitor aus seinem gläsernen Käfig herausholt. Aber ich fürchte, daß die Einrichtung des Monitors an Bord käätischer Raumschiffe derart eingefleischt ist, daß Sajdor durch eine solche Bitte in ernsthafte Verwirrung gestürzt würde. Wir müssen also einen anderen Weg beschreiten.« »Weißt du schon welchen, oh Herr?« fragte Ningon begierig. »Ich habe eine Ahnung«, antwortete Sperco. »Der Käfig, in dem sich der Monitor aufhält, besteht nicht wirklich aus Glas, obwohl er uns so erscheint, sondern aus Energie. Energie ist etwas Unsichtbares, das die Kääts zum Betrieb ihrer Sternenschiffe und ihrer Geräte brauchen. Energie wird an Bord dieses Schiffes erzeugt. Wir brauchen nur die Maschine zu finden, die die Energie für den Käfig des Monitors erzeugt, und sie unbrauchbar zu machen. Dann wird der Käfig aufhören zu existieren, und ich kann dem Monitor den Gruß der Freundschaft entbieten.« Ningon war begeistert. »Das ist ein großartiger Plan, Herr!« rief er. »Wir sollten ihn so bald wie möglich
38
Kurt Mahr
ausführen.« »Dabei ist Vorsicht geboten«, warnte Sperco. »Wir kennen uns in diesem Fahrzeug nicht aus. Wir müssen also Fragen stellen, um die Maschine zu finden, die die Energie für den Käfig erzeugt. Das muß so geschehen, daß die Kääts keinen Verdacht schöpfen – auch dann nicht, wenn der Käfig zusammenbricht!« »Was soll ich tun, Herr?« erkundigte sich Ningon diensteifrig. »Vorläufig nichts«, lautete Spercos Antwort. »Die Fragen werde ich stellen. Wenn wir wissen, welches die richtige Maschine ist, dann trittst du in Tätigkeit.«
* Sperco mochte nicht viel von Raumschiffen, Maschinen und Energie verstehen, aber er fand sich in die ihm fremde Materie mit solcher Schläue, daß die Kääts ihm die zahlreichen Fragen, mit denen er sie bombardierte, lediglich als Zeichen seiner Wißbegierde auslegten. Weil sie ihn liebten, nahmen sie jede seiner Fragen ernst und beantworteten sie so gewissenhaft wie möglich. Inzwischen hatte das Sternenschiff die Welt Arsyhk längst verlassen. Sperco war beeindruckt von der Schwärze des Alls und dem Lichtermeer der Sterne, die viel zahlreicher zu sein schienen, als man von Arsyhk aus zu sehen vermochte. Aber die Andacht währte nicht lange. Sperco war inzwischen der festen Überzeugung, daß alle Sterne mitsamt den Welten, die sie umkreisten, von Rechts wegen ihm gehörten. Und über das, was einem ohnehin gehört, zeigt man sich nicht erstaunt. Die Kääts waren beeindruckt von der Nonchalance, mit der ihr Freund Dingen begegnete, die ihm noch vor wenigen Jahren völlig unbekannt gewesen waren. Und sie erkannten, daß er wirklich der war, für den sie ihn hielten, seitdem er ihnen den Gruß der Freundschaft geboten hatte: der wahre Herrscher. Später ging das Sternenschiff in einen an-
deren Raum über, den Sajdor »das Hyperkontinuum« nannte und über das es weiter nichts zu sagen gab, als daß sich seine Einzelheiten dem Blick entzogen, so daß das Fahrzeug der Kääts ständig durch eine konturlose, milchiggraue Weite zu gleiten schien. Es war, um ganz genau zu sein, nicht einmal der Vorgang der Bewegung zu beobachten. Sperco verließ sich auf die Kääts, die ihm versicherten, daß das Sternenschiff mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf sein Ziel zuschieße. Ohne solche Versicherung hätte er nach einem Blick auf die Bildflächen geglaubt, das Fahrzeug stehe still. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf das Nächstliegende. Im Lauf weniger Tage lernte er alles, was er über die Maschinen der Kääts zu wissen brauchte. Schließlich rief er Ningon zu sich und erklärte ihm, der Augenblick des Handelns sei gekommen. »Sag mir, was ich zu tun habe, Herr«, bat der Alte. »Ich werde es sofort ausführen.« »Es ist gefährlich«, warnte Sperco. »Die Maschine, um die es geht, ist besonders gesichert. Niemand hat Zutritt zu ihr. Wer sich ihr dennoch nähert, riskiert das Leben.« Ningon machte eine verächtliche Geste. »Was zählt mein Leben, Herr? Ich bin alt. Ich müßte ohnehin bald ins Land der Toten reisen. Wichtig ist nur, ob die Maschine wirklich außer Betrieb zu setzen ist – auch wenn ich dabei den Tod finde.« »Sie ist es«, versicherte Sperco. Als es im Innern des großen Sternenschiffs ruhig geworden war – die Kääts hatten eine künstliche Teilung zwischen Tag und Nacht an Bord ihres Fahrzeugs eingeführt – da schlichen sich Sperco und Ningon zu den Maschinenräumen, die auf den untersten Decks des Schiffes lagen. Sperco zeigte dem Alten das Aggregat, das den Käfig des Monitors mit Energie versorgte. Er wies ihn auf die scharfgebündelten Lichtbahnen hin und machte ihm klar, daß er keine dieser Bahnen stören dürfe, wenn er nicht von den Sicherheitsvorkehrungen getötet werden wollte, noch bevor er die Maschine erreich-
Der Krüppel von Arsyhk te. Er zeigte Ningon, wie er vom Sockel eines benachbarten Aggregats über die Lichtbarriere hinwegspringen könne, und dann bezeichnete er dem Alten die Schalter auf der Schalttafel auf der Vorderseite der Maschine, die er betätigen mußte, um das Energiefeld des Käfigs lahmzulegen. Danach zog Sperco sich zurück. Er begab sich in den Kommandostand. Er sah den Monitor in seinem Käfig an dem Arbeitstisch sitzen. Auf den Bildflächen waberte noch immer das konturlose Grau des Hyperkontinuums. Die Nachtwache bestand aus neun Kääts, die an ihren Schaltpulten beschäftigt waren. Sie winkten Sperco freundlich zu, aber ansonsten kümmerten sie sich nicht um ihn. Sperco stand in der Nähe des Käfigs. Er mußte bei der Hand sein, sobald das Energiefeld erlosch. Der Monitor durfte keine Gelegenheit bekommen, in sein unter dem Deck gelegenes Quartier zu entweichen. Sperco hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie er den Zusammenbruch des glasartig durchsichtigen Energiefelds bemerken werde; aber er war fest entschlossen, beim ersten geeigneten Anzeichen vorzustoßen und den Monitor zu berühren. Es tat ihm leid um Ningon. Denn er wußte, wovon Ningon keine Ahnung hatte: Das Manipulieren des Energieerzeugers war nicht nur schlechthin gefährlich, es brachte unweigerlich den Tod! Schließlich aber kam alles ganz anders, als Sperco es sich vorgestellt hatte. Der gläserne Käfig des Monitors begann zu flackern. Der Monitor sprang auf. Regenbogen tanzten durch die gläsernen Wände des würfelförmigen Gebildes. Sperco sah, wie der Monitor in einer Gebärde des Entsetzens beide Arme hob. Gleich darauf gab es einen grellen Blitz, und der laute Knall einer vehementen Explosion erschütterte den Kommandostand. Sperco selbst wurde von einer unsichtbaren Kraft erfaßt, von den Beinen gerissen und an die Wand geschleudert. Als er benommen wieder auf die Füße kam, heulten ringsum schrille Sirenen, durch die
39 offenen Schotte stürmten Scharen von Kääts in den Kommandostand, und da, wo früher der Energiekäfig des Monitors gewesen war, befand sich jetzt ein gezacktes und mit rußigen Rändern versehenes Loch im Boden. Sperco hielt sich abseits, während die Kääts eifrig den Ort des Unfalls untersuchten. Er sah sie über Sprechgeräte mit Mitgliedern der Besatzung verhandeln, die sich an anderen Orten des Fahrzeugs befanden. Als die Untersuchung lange genug angehalten hatte, ohne daß jemand es für nötig befunden hätte, ihn über deren Zweck und bisherige Erfolge aufzuklären, da schritt er auf die Menge der Kääts zu, die sich um das verbrannte Loch drängten, und erkundigte sich nicht eben freundlich: »Was geht hier vor?« Seine Frage schreckte sie auf. Aus der Menge schälte sich Sajdor. Er wirkte verlegen. »Verzeih, mein Freund«, sprach er durch sein Amulett, »aber hier ist soeben etwas Unerklärliches geschehen. Das Energiegehäuse ist zusammengebrochen, und der Monitor hat dabei den Tod gefunden.« »Ich weiß von dem Zusammenbruch«, erklärte Sperco. »Ich stand unmittelbar neben dem Käfig und wurde davongeschleudert.« Sajdors Besorgnis war echt. »Ist dir ein Schaden geschehen?« »Ich glaube nicht«, antwortete Sperco gelassen. »Hat man eine Ahnung, wie das Unglück zustande kam?« »Die Maschine ist ausgefallen, die den Käfig mit Energie versorgte. Um genau zu sein: Sie ist explodiert. Im Maschinenraum herrscht ein wahres Chaos.« Sperco machte die Geste des Verstehens. Dann sagte er: »Ich weiß womöglich, wie das geschah. Wenn eure Untersuchung kein Ergebnis bringt, dann ruft nach mir. Ich will euch sagen, was ich meine.« Er wandte sich ab und ließ den verblüfften Sajdor einfach stehen. Er hatte sein Quartier kaum erreicht, da bat Sajdor, ihn sehen zu dürfen. Sperco ließ ihn ein.
40
Kurt Mahr
»Du weißt, wodurch das Unglück verursacht wurde?« fragte er mit ungläubigem Staunen. »Ich sagte: womöglich«, verbesserte ihn Sperco. »Kommst du, um meine Meinung zu hören?« »Ich bitte dich darum«, sagte Sajdor respektvoll. »Mein Vertrauter, Ningon, der Alte – du kennst ihn – war überaus interessiert an allem, was mit den Maschinen dieses Sternenschiffs zu tun hatte«, berichtete Sperco. »Er wollte alles wissen, was ich von euch erfuhr, bis in die letzte Einzelheit. Er sprach davon, daß er selber lernen wolle, solche Maschinen zu bedienen. Ich warnte ihn vor Unvernunft. Aber es scheint, daß er meine Warnung in den Wind geschlagen hat. Er muß gegangen sein, um sich mit den Maschinen zu beschäftigen. Denn seit etwa einer Stunde kann ich ihn nirgendwo mehr finden.« Sajdor erschrak. »Das wäre ein entsetzliches Unglück!« stieß er hervor. »Es darf weder dir, noch einem aus deinem Gefolge während dieser Fahrt etwas zustoßen!« Sperco winkte verächtlich ab. »Mach dir darum keine Sorgen«, sagte er. »Wenn der alte Narr trotz meiner Warnung sich dennoch mit den Maschinen beschäftigt hat, so ist an seinem Geschick niemand anders schuld als er selbst.«
* In der Tat fanden die Kääts in den Trümmern der Maschine die Überreste eines Körpers, den sie mit ihren empfindlichen Instrumenten als den eines Squooners identifizierten. Sperco ließ sein Gefolge zusammentreten. Der alte Ningon war der einzige, der fehlte. Also mußte er es sein, dessen Überreste man bei der Maschine gefunden hatte. Sperco empfand kein Bedauern. Er hatte die Gefahr ausgeschaltet, die ihm von dem Monitor drohte. Das zählte – sonst nichts. Etwa anderthalb Tage später tauchte das Sternenschiff der Kääts aus dem milchigen
Grau des Hyperkontinuums auf, ein wenig später setzte es zur Landung auf Rultäner, der Heimatwelt der Kääts, an. Sperco befand sich im Kommandostand. Sajdor gab sich alle Mühe, die Oberfläche der Kääts-Welt mit Hilfe von Ausschnittsvergrößerungen so nahe wie möglich heranzuholen und dem Herrscher über alle Nester und Höhlen von Arsyhk einen möglichst detaillierten Überblick zu verschaffen. Sperco staunte – aber behielt die Erregung seines Gemüts für sich. Die Kääts waren soweit fortgeschritten, daß sie keine Bäume mehr brauchten, um Nester darin zu bauen, oder feuchten Waldgrund, um sich darin einzugraben. Ihre Wohnungen erhoben sich aus freiem Gelände, riesige Gebilde, die aus Stein oder einem ähnlichen Material gefertigt zu sein schienen. Die Gebäude ballten sich an gewissen Orten, die Sajdor als Städte bezeichnete, und zwischen den Städten zogen sich Straßen, die nicht nur ebenes, sondern in vielen Kurven und Windungen auch bergiges Gelände durchquerten. Rultäner wimmelte von Leben. Sajdor zeigte dem Braisen den Orterbildschirm, auf dem die funkengleichen Reflexe von anderen Sternenschiffen zu sehen waren, die in dieser Minute entweder auf Rultäner landeten oder von dort aufstiegen. Man sah, daß die Straßen voller Verkehr waren. Scheibenförmige Fahrzeuge bewegten sich mit großer Geschwindigkeit in allen Richtungen. Einem anderen an Spercos Stelle wäre es in diesem Augenblick mulmig zumute geworden. In Spercos Bewußtsein aber hatte sich inzwischen die Überzeugung festgesetzt, daß er von den Geistern des Schicksals dazu ausersehen war, nicht nur diese, sondern auch alle anderen Welten zu beherrschen. Er näherte sich daher Rultäner mit einer Art fast überheblicher Selbstverständlichkeit, als hätte er sein ganzes Leben hier zugebracht. Als Sajdors Schiff auf dem riesigen Hafen von Rultäneme, der Hauptstadt des Planeten, landete, da waren die Behörden über den Zwischenfall, der das Leben des Monitors
Der Krüppel von Arsyhk und eines Fahrgastes gekostet hatte, bereits informiert. Sajdor erhielt den Befehl, ein Quarantänekommando abzuwarten. Keiner seiner Leute, keiner seiner Fahrgäste durfte das Schiff verlassen, ehe nicht der Befehlshaber des Kommandos seine Zustimmung dazu gegeben hatte. Das Kommando kam wenige Minuten nach der Landung an Bord. Sein Befehlshaber war ein hoher Offizier. Sperco, scheinbar unter dem Einfluß einer spontanen Aufwallung handelnd, bedachte ihn mit dem Gruß der Freundschaft, ehe der Käät sich dagegen zur Wehr setzen konnte. Damit war das Eis gebrochen. Der Befehlshaber erlaubte, daß Sperco auch die übrigen Mitglieder seines Kommandos begrüßte. Die Untersuchung wurde höchst oberflächlich durchgeführt und ergab selbstverständlich keinen Grund zu Beanstandung. Zwei Stunden nach der Landung waren Sperco und sein Gefolge unterwegs zu ihrem Quartier, das man in unmittelbarer Nähe des Regierungspalasts für sie bereitet hatte. Der Ruhm war dem Herrscher über alle Nester und Höhlen auf Arsyhk vorausgeeilt. Noch an diesem Tag traf Sperco mit der höchsten Führungsspitze der käätischen Regierung zusammen, die aus drei weisen alten Männern bestand. Nachdem Sperco ihnen den Gruß, der Freundschaft dargeboten hatte, stand seinem Aufstieg zum Mächtigsten im käätischen Sternenreich nichts mehr im Wege.
* Die Jahre und Jahrzehnte, die nun folgten, waren voll hektischer Tätigkeit. Das Reich der Kääts bestand aus mehreren Dutzend Welten, die zum Teil seit langem besiedelt, technisch weit fortgeschritten und von der Mutterwelt Rultäner nahezu unabhängig waren. Sperco besuchte jede dieser Welten und brachte die Herrschenden in seinen Bann. Wie unter den Squoonern ließ er die existierende käätische Regierung zunächst bestehen und betrachtete sich lediglich als deren
41 Ratgeber. Als aber sein Wirken offenkundig wurde und die Kääts erkannten, wie rasch er unbotmäßige Kolonialregierungen wieder unter das Zepter von Rultäneme brachte, da wurde der Ruf immer lauter, daß Sperco zum alleinigen Regenten gemacht werden sollte. Es war nahezu gespenstisch, daß während all dieser Jahre niemand – oder doch beinahe niemand – auf den Verdacht kam, der braisische Krüppel verdanke seine Erfolge und seine Beliebtheit einer seltenen psychischen Begabung und nutze diese Gabe nicht zum Wohle seiner Untertanen, sondern um seinen privaten Ehrgeiz zu befriedigen. Vielleicht lag es aber auch daran, daß Sperco von solchen Zweiflern überaus schnell Wind bekam und sie durch seinen Geheimen Stab unschädlich machen ließ, bevor sie ihm gefährlich werden konnten. Als Sperco das große Reich der Kääts fest in der Hand zu haben glaubte, schickte er sich an, seinen Machtbereich weiter auszudehnen. Die Kääts trieben Handel und unterhielten diplomatische Kontakte mit mehreren anderen Sternenvölkern. Sperco hatte, als er zum Schlag gegen das erste dieser Völker ausholte, bereits einige Jahre wirksamer Vorarbeit geleistet: die Vertreter des Volkes, soweit sie in Rultäneme oder anderen käätischen Hauptstädten akkreditiert waren, standen samt und sonders unter seinem Einfluß, und auch einige der wichtigsten und reichsten Handelsleute hatte er bereits durch den Gruß der Freundschaft in seinen Bann gebracht. Seltsamerweise führte Sperco nur äußerst selten Kriege. Das erste nichtkäätische Fremdvolk zum Beispiel unterwarf er sich dadurch, daß er eines Tages mit großem Gefolge, zu dem auch die von ihm beeinflußten Diplomaten und Handelsleute gehörten, in der Hauptstadt auftauchte, den Mitgliedern der Regierung den Gruß der Freundschaft entbot und sie noch am selben Tag davon überzeugte, daß es für beide Völker besser sei, wenn sie einen Bund miteinander schlossen. Gemäß der Satzung des Bundes
42 sollten die beiden Völker nach wie vor jedes seine eigenen Interessen verfolgen können. Sie wurden unabhängig voneinander aus zwei Hauptstädten regiert. Lediglich im Verteidigungsfall sollten sie sich zusammenschließen und eine gemeinsame Front gegen den Feind bilden. Die Taniami, ein hochentwickeltes Volk von Echsenabkömmlingen, sahen in diesem Plan in der Tat nur Vorteile. Das Bündnis wurde geschlossen. Danach erst machte sich Sperco wirklich ans Werk. Er brachte die gesamte taniamische Hierarchie in seinen Bann, und nach knapp zwei Dutzend Jahren geschah es wie von selbst, daß die Taniami auf eine eigene Regierung verzichteten und sich seitdem nur noch von Rultäneme aus regieren ließen. In jenen Tagen der hektischen Expansion von Spercos Macht entstand, in Dutzenden von Sprachen, der berühmte Gruß: »Sperco ist die Macht – die Spercotisierten sind seine Diener!« Es wurde niemals laut darüber gesprochen, aber »Spercotisieren« – das war natürlich nichts anderes als »mit dem Gruß der Freundschaft begrüßen«. Spercos Furcht, daß es noch ein Volk geben könne, das ebenso wie die Braisen für seine Gabe unempfänglich war, hatte sich mittlerweile in soviel Fällen als grundlos erwiesen, daß der Tyrann zu der Ansicht gelangte, es gebe im ganzen Universum – außer eben dem Volk, dem er selbst entstammte – niemand, der sich seinem Bann entziehen konnte. Während seine Macht sich ausbreitete, entwickelte Sperco den Wunsch, sich auch körperlich zu vervollkommnen und das Fliegen zu erlernen, wie es eines Braisen würdig war. Mittlerweile standen ihm die Techniker und Wissenschaftler mehrerer Sternenvölker zur Verfügung. Er rief die Fähigsten unter ihnen zusammen und beauftragte sie, ein Gerät zu bauen, mit dem er sich durch die Luft bewegen konnte, als besäße er ein Paar gesunder Schwingen. Ein solches Vorhaben wäre mit Hilfe des Wissens, über das die unterjochten Völker verfügten, leicht durchzu-
Kurt Mahr führen gewesen. Aber Sperco wollte keinen Tornister mit einem Schwerkraftgenerator. Er wollte entweder die eigenen Flughäute so wiederhergestellt sehen, daß er sich ihrer bedienen konnte, oder mit einem Paar künstlicher Schwingen ausgestattet werden, denen jedoch niemand ansehen durfte, daß sie nicht natürlich gewachsen waren. An diesem Problem bissen sich zahllose Experten die Zähne aus. Je deutlicher es wurde, mit wieviel Schwierigkeiten dieser Plan verbunden war, desto versessener bestand Sperco auf seiner Durchführung. Im Lauf der machtpolitischen Entwicklung erschien es ihm schließlich angebracht, den Regierungssitz auf Rultäner zu verlassen und sich auf dem Planeten Roppoc anzusiedeln, der eine günstige, zentrale Lage hatte. Auf Roppoc wurde MOAC, die gigantische Burg des Tyrannen, errichtet. In dieser Burg wurde ein Saal gebaut, den Sperco für seine Flugübungen benutzte, und in MOAC waren auch die Wissenschaftler untergebracht, die – nunmehr schon seit Jahrhunderten – an der Verwirklichung des Tyrannentraums arbeiteten. Arsyhk, Spercos Heimatwelt, war im Zuge der Entwicklung zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Aber die Squooner, die Gefährten der ersten Stunde, vergaß Sperco nie. Sie waren die ergebensten von allen. Sie gehorchten ihm blindlings, und so kam es, daß Spercos Geheimer Stab nur aus Squoonern bestand und daß in zahlreichen Gouverneursposten auf den Welten, die dem Tyrannen Sperco untertan waren, ebenfalls Squooner saßen. Inzwischen beherrschte Sperco einen großen Teil der Galaxis Wolcion. Seine Berater hatten ihm zu verstehen gegeben – und er hatte ihren Rat angenommen – daß die Ausbreitung seiner Macht nicht mehr lange so reibungslos wie in der Vergangenheit vonstatten gehen werde. Die Völker, die außerhalb Spercos Reich lebten, wurden allmählich mißtrauisch. Sie fürchteten die Machtballung, die da an ihren Grenzen entstand, und sie waren auch nicht bereit, Sper-
Der Krüppel von Arsyhk cos Delegationen zu empfangen oder ihrerseits Abordnungen nach Roppoc zu senden. Sie riegelten sich ab. Es entstanden Bündnisse, die gegen Sperco gerichtet waren, und eines Tages, das war jedem klar, würde es zum Krieg kommen. Es sei denn, Sperco verzichtete auf seine Expansionsgelüste. Aber damit rechnete niemand. Sperco hatte die Angewohnheit, seine Schachzüge mit großer Sorgfalt vorzubereiten. Der Krieg, der ihm mittlerweile unausweichlich erschien, bildete dabei keine Ausnahme. Er wollte derjenige sein, der den ersten Schlag führte. Gleich sein erster Angriff mußte das Verteidigungsbündnis der Gegner bis in seine Grundfesten erschüttern. Sperco rechnete, daß die entsprechenden Vorbereitungen mehrere Jahre in Anspruch nehmen würden. Er war mitten im Planen, als ihn eine Nachricht erreichte, wie sie schlimmer nicht hätte sein können. Dem mächtigen Sperco war insgeheim ein neuer Gegner erwachsen, mit dem er nicht gerechnet hatte: die Natur selbst. Es war Abrigal, der ihm die Botschaft überbrachte. Nicht jener Abrigal, den er einst als Regenten auf Arsyhk zurückgelassen hatte, sondern einer seiner Nachkommen in direkter Linie. Die Familie Abrigal hatte seit jenem Tag, da Sperco seine Heimatwelt verließ, die engsten Vertrauten des Tyrannen gestellt. Abrigal vollführte die zeremonielle Verbeugung, die Sperco inzwischen als höfische Etikette eingeführt hatte, und erklärte: »Oh Herr, das Volk der Squooner ist am Sterben!«
6. Es war in der Tat so, daß die Squooner zu mutieren begonnen hatten. Höchstens noch eine Handvoll Squooner lebte auf der angestammten Heimatwelt, Arsyhk, in den Tiefen der Aqiroda-Wälder. Die übrigen standen auf den verschiedenen Welten, die Spercos Reich umfaßte, im Dienst des Tyrannen.
43 Die Natur dagegen hatte die Pelzwesen anscheinend als ein standortgebundenes Volk erschaffen. Weltraumstrahlung und die Bedingungen fremder Umwelten hatten auf das Gengefüge der überall in Wolcion verteilten Squooner eingewirkt. Die Veränderung der Erbsubstanz verlief überall in der gleichen Richtung, unabhängig davon, welchen besonderen Bedingungen der einzelne Squooner ausgesetzt war. Die neue Squooner-Generation kam unbehaart zur Welt! Abrigal zeigte ein paar Aufnahmen vor. Sperco schauderte. Die nackten Squooner wirkten wie bleiche Molche. »Sie sind nicht lebensfähig, Herr«, erklärte Abrigal. »Man kann sie nur in einer konditionierten Umgebung künstlich am Leben erhalten. Sonst sterben sie einfach.« Sperco handelte rasch und entschlossen. Von einem Tag zum anderen lenkte er die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, die er auf Roppoc versammelt hatte, auf ein neues Vorhaben: das Volk der Squooner am Leben zu erhalten. Die Wissenschaftler untersuchten die Einzelheiten der konditionierten Umgebung, von der Abrigal gesprochen hatte, und fanden bald heraus, daß es sich dabei um Bedingungen handelte, wie sie auf dem Grunde der Aqiroda-Wälder von Arsyhk herrschten. Alsbald machten sie sich an die Arbeit, ein Behältnis zu konstruieren, in dem ein pelzloser Squooner eben diesen Bedingungen ausgesetzt sein konnte, ohne dadurch seine Bewegungsfreiheit zu verlieren. Selbst Sperco mußte eingestehen, daß die Wissenschaftler sich ihrer Aufgabe mit Bravour entledigten. Nach nicht einmal einem Jahr hatten sie eine Montur entwickelt, die nicht viel anders aussah als die Raumschutzanzüge, deren raumfahrende Völker sich bedienten, wenn sie luftleere Welten betraten oder solche, die eine giftige Atmosphäre besaßen. Die Anzüge bestanden aus einer metallischen, aber flexiblen Substanz. Die Geräte zur Erzeugung einer konditionierten Umwelt waren in noppenähnlichen Auswüchsen untergebracht, die sich wie Verzie-
44
Kurt Mahr
rungen ausnahmen. Nach oben hin wurde die Montur durch einen Helm abgeschlossen, der ein aus quarzähnlichem Material bestehendes Sichtfenster enthielt. Das dunkelbraune Quarzmaterial erzeugte im Innern des Anzugs jenes trügerische Halbdunkel, wie es auf dem Boden der Wälder von Arsyhk herrschte. Von außen war es undurchsichtig. Inzwischen waren alle neugeborenen Squooner in eilig hergerichtete Quartiere gebracht worden, in denen sie mit Hilfe der Umweltkonditionierung überlebten. Sperco kurbelte die Industrie seines Reiches an und ließ sie die neu entwickelten Schutzanzüge zu Millionen ausstoßen. Die ersten Großversuche verliefen zufriedenstellend. Die Squooner kamen mit den Monturen gut zurecht. Sie waren in den Anzügen ebenso beweglich wie zuvor. Auch die Langzeitbeobachtung brachte keinerlei nachteilige Effekte ans Tageslicht. Außer vielleicht einem. Wenn ein Squooner in einen Unfall verwickelt wurde, in dessen Verlauf seine Schutzmontur Schaden erlitt, dann war ihm ein qualvoller Tod sicher. Selbst wenn man ihn sofort in einen neuen Anzug kleidete, siechte er dahin und war Stunden, höchstens Tage später tot. Sperco löste dieses Problem auf seine Weise. Er hieß die Techniker, in jede Montur einen Mechanismus einzubauen, der die Zerstörung des Squooners bewirkte, wenn dessen Anzug beschädigt wurde. Auf diese Weise, meinte der Tyrann, ersparte er seinen Untertanen unnützes Leiden.
* Aber damit waren Spercos Sorgen noch nicht vorüber. Er hatte sich kaum wieder den Kriegsvorbereitungen zugewandt, da wurde offenbar, daß die Natur nach einem zweiphasigen Plan arbeitete. Zuerst hatte sie die Squooner so mutiert, daß sie in keiner anderen Umgebung mehr leben konnten als der ihrer ursprünglichen Heimat, aber jetzt veränderte sie ihren Charakter. Sie machte die
Squooner zu sanften Lämmern, die vor jeglicher Gewalttat zurückschreckten und sich eher umbringen ließen, als einem andern ein Leid zuzufügen. Wiederum war es Abrigal, der Sperco die Hiobsbotschaft überbrachte. »Herr«, sagte er: »Die Truppen beginnen zu meutern. Sie wollen meine Aufträge nicht mehr ausführen. Sie sagen, sie haben Ehre, Milde und Anstand auf ihre Fahnen geschrieben und sind außer zu den harmlosesten Dingen zu nichts mehr zu gebrauchen.« Sperco leitete eine umfassende Untersuchung ein. Die Resultate waren niederschmetternd. Dieselben Squooner, denen er soeben das Leben gerettet hatte, indem er Anzüge für sie entwerfen und konstruieren ließ, die die Umwelt von Arsyhk simulierten, hatten sich von ihm abgewandt und wollten von nun an das Leben von Heiligen führen. Einige der Abtrünnigen wurden eingebracht und von medizinischen Wissenschaftlern untersucht. Die Wissenschaftler teilten Sperco mit, daß es sich bei der eigenartigen Entwicklung der neuen SquoonerGeneration wiederum um eine echte Mutation handele, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könne. Sperco stellte fest, daß er die sanftmütig gewordenen Squooner mit dem Gruß der Freundschaft wieder spercotisieren konnte. Aber inzwischen erforderte die Verwaltung seines riesigen Reiches seine Aufmerksamkeit in solchem Maß, daß er unmöglich soviel Zeit abzweigen konnte, wie zum Spercotisieren dieser und aller nachfolgender Squooner-Generationen nötig gewesen wäre. Er trug sich mit dem Gedanken, künftig auf die Hilfe des squoonischen Volkes ganz zu verzichten und die Squooner zu ersetzen – etwa durch junge Braisen, die den Haß ihrer Vorfahren gegen den verkrüppelten Sohn des legendären Königs Kirstan längst vergessen hatten und bereitwillig am Hof des Tyrannen dienten – freiwillig, wohlgemerkt, denn das Volk der Braisen war noch immer immun gegen die Spercotisierung. Da aber erreichte ihn eine Nachricht von
Der Krüppel von Arsyhk Rultäner, die ihn aufhorchen ließ. Es war auf Rultäner eine Suchexpedition angekommen, die die Kääts zu einer Zeit ausgesandt hatten, da sie von Arsyhk, den Braisen und den Squoonern noch keine Ahnung hatten. Die Mannschaft des Forschungsschiffs bestand aus den Nachkommen der ursprünglichen Besatzung. Das Fahrzeug war bis in den Leerraum jenseits des Randes der Galaxis Wolcion vorgedrungen und hatte auf seiner jahrhundertelangen Reise wundersame Planeten angeflogen und von dort allerhand Proben absonderlicher Lebensformen mitgebracht, die die wissenschaftliche Gemeinde in helle Aufregung versetzten. Sperco machte sich sofort auf den Weg nach Rultäner. Erstens mußte er sich der Loyalität der Besatzung versichern, die bei ihrer Rückkehr die Verhältnisse auf Rultäner ganz anders vorfand, als sie ihr von ihren Vorfahren beschrieben worden waren, und deshalb womöglich irritierende Fragen stellen würde. Zweitens aber hatte er von einer Ladung eigenartiger Pflanzen erfahren, die sich an Bord des Forschungsschiffs befanden und angeblich suggestive sowie charakterabsorbierende Fähigkeiten besaßen.
* Nicht ohne Absicht reiste Sperco an Bord eines Fahrzeugs, das zur Flotte der sanftmütigen Squooner gehörte. Es trug den Namen MILDE. Sperco hatte keine Bedenken, sich den Abtrünnigen anzuvertrauen. Sie waren mit seinen Methoden nicht einverstanden, aber gerade aufgrund ihres Gemütswandels würden sie ihm kein Härchen krümmen. Außerdem gedachte Sperco, die Besatzung der MILDE als Versuchsobjekte zu verwenden, wenn die seltsamen Pflanzen, von denen er gehört hatte, wirklich hielten, was sie versprachen. Seine Ankunft auf Rultäner wurde von den Kääts mit großem Pomp gefeiert. Die Begegnung mit der Besatzung des zurückgekehrten Forschungsschiffs verlief wie ge-
45 plant. Sperco lobte die Leute ob der Beharrlichkeit, mit der sie den Plan der Rückkehr nach Rultäner verfolgt und trotz aller Widerstände schließlich in die Wirklichkeit umgesetzt hatten, und teilte ihnen allen den Gruß der Freundschaft mit. Dann verlangte er, die seltsamen Pflanzen zu sehen. Die Kääts führten ihn an Bord des Forschungsschiffs. Der Kommandant des Fahrzeugs, ein älterer Mann namens Rawalpidior, berichtete, unterwegs von den erstaunlichen Erlebnissen, die die Expedition mit diesen Pflanzen gehabt hatte. »Sie sind von Natur aus unscheinbar, oh Herr«, sagte er, »aber unter geeigneten Bedingungen wachsen sie zu den herrlichsten Blumen heran, die je ein sehendes Auge erblickt hat. Das Wunderbare – oder vielmehr Erschreckende – sind aber die Umstände, deren es bedarf, um aus diesen Gewächsen schöne Blumen zu machen. Wir waren auf dieser Welt gelandet, die wir seitdem Far-a-lian, die Welt der Schreckblumen, nennen. Wir gingen vorsichtig zuwege, wie wir es gewohnt waren. Ein Heißsporn aber kam bei der Erforschung eines Waldgebiets von seiner Truppe ab. Wir suchten nach ihm und fanden ihn auf einer Lichtung, deren Boden kahl war bis auf einen einzigen Pflanzensproß, der unmittelbar neben dem Mann aus dem Boden ragte. Wir kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Sproß plötzlich in die Höhe wuchs, so rasch, Herr, daß der Blick die Bewegung verfolgen konnte, und wie aus dem oberen Ende des Sprosses eine wundersame Blüte hervordrang. Sie neigte sich und hing über dem Kopf des Mannes, dem unsere Suche galt. Er sah uns aus leeren Augen an. Schließlich aber schien er uns zu erkennen. Er sprang auf und sagte einfach: Gut, daß ihr gekommen seid. Er ging mit uns. Er war seitdem verändert. Er kannte keine Gefühle mehr. Er war kalt wie Stein. Seine früheren Freunde fühlten sich von ihm abgestoßen.« »Wo ist er jetzt?« wollte Sperco wissen.
46
Kurt Mahr
»Er lebt nicht mehr, Herr«, antwortete Rawalpidior. »Er wurde getötet, als er den Kommandostand unter seine Kontrolle zu bringen versuchte, nachdem er zwei unserer Wachen getötet hatte.« »Habt ihr weitere Versuche mit den Pflanzen angestellt?« »Wir haben uns gehütet, ihnen nahe zu kommen, Herr. Wir haben sie in einer besonders präparierten Kammer untergebracht. Tiere einer niederen Entwicklungsstufe, die wir in die Kammer hineinließen, zeigte keinerlei Wirkung. Andere dagegen, die höher entwickelt waren, wurden feindselig, bissig und gefährlich, nachdem sie eine Zeitlang in der Nähe der Pflanzen gewesen waren.« Mittlerweile hatte die Gesellschaft die Sperco bei der Besichtigung des Forschungsschiffs begleitete, das Hauptdeck erreicht. Sperco wandte sich an Abrigal, der sich stets in seiner unmittelbaren Nähe aufhielt. »Man soll fünf Leute von der MILDE bringen«, sagte er.
* Die nötigen Vorbereitungen waren selbstverständlich schon längst getroffen. An Bord der MILDE warteten fünf Squooner auf Spercos Ruf, und im Innern des Forschungsschiffes waren fünf Räume hergerichtet worden, so daß jeder Raum einen jungen Sproß der geheimnisvollen, charakterabsorbierenden Pflanze enthielt. Rawalpidior hatte dem Tyrannen versichert, daß der Prozeß mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ablaufe – das heißt: wenn die Squooner in der Tat ebenso wie die Kääts für die seltsame Wirkung der Pflanzen empfänglich waren. Die fünf Squooner, die Abrigal alsbald herbeibrachte, hatten keine Ahnung, was ihrer harrte. Die Räume, die man für sie vorbereitet hatte, wirkten jedoch harmlos genug, und als man ihnen erklärte, es werde weiter nichts von ihnen verlangt, als daß sie etwa eine Stunde lang den Pflanzensproß aus der Nähe beobachteten, waren sie sofort
dazu bereit. Denn seit der Wandlung ihres Wesens kannten sie selbst keine Falschheit mehr und trauten auch keinem anderen zu, daß er sie anlüge. Für Sperco und sein unmittelbares Gefolge war in der Nähe ein Beobachtungsraum eingerichtet. Auf mehreren Bildflächen konnte der Tyrann die Vorgänge in jeder der fünf Experimentierzellen aus allen denkbaren Blickwinkeln beobachten. Die fünf Squooner zeigten während des gesamten Versuchs annähernd identisches Verhalten. Sie näherten sich dem Pflanzensproß ohne Mißtrauen und betrachteten ihn von allen Seiten. Da der Sproß nur zwei Händebreit aus dem locker aufgeschütteten Boden wuchs, mußten sie sich dabei bücken. Das wurde ihnen mit der Zeit zu mühselig. Sie setzten sich nieder, und zwar da, wo das Erdreich endete, in keinem Fall mehr als anderthalb Meter von dem Sproß entfernt. Fast sah es aus, als hätte die geheimnisvolle Pflanze nur auf diesen Augenblick gewartet. Sie geriet in langsam pendelnde Bewegung. Gleichzeitig begann der Sproß mit wahrhaft atemberaubender Schnelligkeit zu wachsen. Aber auch mit den fünf Squoonern mußte eine Veränderung vor sich gegangen sein. Die Entwicklung der Pflanze hätte sie in Erstaunen versetzen müssen. Man hätte erwartet, daß sie überrascht aufsprangen und sich zur Sicherheit ein paar Schritte weit zurückzogen. Statt dessen blieben sie ruhig sitzen und rührten keinen Muskel. Es war, als befänden sie sich in einem Zustand der Trance. Etwa eine Viertelstunde verging, da entfaltete sich aus dem oberen Ende des Pflanzensprosses, der mittlerweile fast schon die Decke der niedrigen Kammer erreicht hatte, eine Blüte von unwirklicher Schönheit. Die Blütenblätter, die in leuchtenden Farben strahlten, bildeten einen glockenförmigen Kelch, der sich unter dem eigenen Gewicht in die Tiefe neigte und sich dem Squooner wie ein zusätzlicher Helm über den Schädel stülpen zu wollen schien. Dieser Vorgang fand in allen fünf Experi-
Der Krüppel von Arsyhk mentierzellen nahezu gleichzeitig statt. Als die Blütenkelche in geringer Entfernung über den behelmten Köpfen der Squooner zum Stillstand gekommen waren, bemerkte Rawalpidior, der zusammen mit Sperco den Ablauf des Experiments verfolgte: »Es besteht kein Zweifel daran, Herr, daß die Squooner auf die Pflanzen ebenso reagieren wie die Kääts.« »Der Versuch ist beendet?« fragte Sperco überrascht. »Er ist beendet, Herr«, bestätigte der Kommandant des Forschungsschiffs. »Du kannst die Squooner aus ihren Zellen entlassen und dich selbst überzeugen, auf welche Weise sie von den Pflanzen beeinflußt worden sind.«
* Die fünf Zellen wurden geöffnet. Abrigal befahl den Squoonern, sich zu erheben und ihm zu folgen. Sie gehorchten willig und wortlos. Abrigal brachte sie zu Sperco. »Ihr kennt Umoto, den Befehlshaber des Schiffes, das ihr MILDE nennt?« fragte der Tyrann. »Wir kennen ihn«, lautete die Antwort, die von fünf monotonen Stimmen gleichzeitig gegeben wurde. »Er hat meinem Befehl zuwider gehandelt. Er hat den Tod verdient. Ich trage euch auf, die Strafe an ihm zu vollstrecken. Bringt mir den Beweis dafür, daß ihr meinen Auftrag ausgeführt habt!« Wortlos wandten die fünf Squooner sich um und schritten davon, auf den Antigravschacht zu, der zum unteren Ausgang des Forschungsschiffs führte. Abrigal folgte ihnen in vorsichtigem Abstand und meldete Sperco wenige Minuten später, sie hätten eine Flugscheibe bestiegen und seien zur MILDE hinübergeflogen. Eine halbe Stunde verstrich. Da meldete sich Abrigal von neuem: »Die Flugscheibe ist wieder zum Vorschein gekommen! Sie hält Kurs hierher!« Nicht lange später standen zwei der fünf
47 Squooner vor Sperco. Einer von ihnen trug eine Montur, die der Tyrann mühelos als die des Befehlshabers Umoto identifizierte. Umoto war tot. Er hätte seinen Anzug selbst aus eigenem Entschluß nicht ablegen können, ohne dabei zu sterben. »Ihr seid gehorsam«, lobte Sperco die beiden Squooner. »Wo sind eure Gefährten?« »Die anderen töteten sie«, lautete die Antwort, die teilnahmslos gegeben wurde. »Sie erkannten, daß wir im Begriff waren, Umoto zu bestrafen, und setzten sich zur Wehr.« Sperco wandte sich an Abrigal. »Diese beiden Leute gehören ab sofort zu meinem Geheimen Stab«, erklärte er. Somit hatte Sperco auch das zweite Attentat, das die Natur gegen das Machtgefüge seiner Tyrannei verübte, wohlbehalten überstanden – mit Hilfe eines nahezu unglaublichen Zufalls, der ein seit Jahrhunderten überfälliges käätisches Forschungsschiff gerade zur rechten Zeit und mit akkurat der richtigen Ladung nach Rultäner zurückkehren ließ. Kein Wunder, daß der Tyrann jetzt fester denn je davon überzeugt war, daß das Schicksal selbst ihn als den Besitzer der ultimaten Macht auserwählt hatte. Es gab nichts mehr, das seinen Vormarsch aufhalten konnte! Sofort ging Sperco mit dem ihm eigenen Organisationstalent daran, die Behandlung neugeborener Squooner durch die »Wächter der Kampfkraft«, wie man die Pflanzen euphemistisch nannte, im großen Maßstab einzurichten. Die Pflanzen, die das Forschungsschiff mitgebracht hatte, wurden in einem besonders geschützten Bezirk angesiedelt und weiter gezüchtet. Da Sperco auf einen derart geringen Bestand an Pflanzensubstanz jedoch nicht auf die Dauer angewiesen sein wollte, rüstete er sofort eine neue Forschungsexpedition aus, die den Auftrag hatte, den Planeten anzufliegen, auf dem die Pflanzen gefunden worden waren, und ihrer soviele mitzubringen, wie die Laderäume zu halten vermochten. Da der Standort des Planeten bekannt war und die käätische Raumfahrttechnik sich besonders in den letzten
48 einhundert Jahren fast sprunghaft entwickelt hatte, stand nicht zu befürchten, daß die Expedition das Schicksal des erst nach Jahrhunderten zurückgekehrten Forschungsschiffs nachvollziehen werde. Mit ihrer Rückkunft wurde binnen weniger Monate gerechnet. Überall in seinem Reich, wo es nennenswerte Konzentrationen von Squoonern gab, richtete Sperco sogenannte Kampfkraftfarmen ein. Die weiblichen Squooner brachten dort ihre Nachkommen zur Welt. Die Neugeborenen wurden einige Monate lang in einem konditionierten Klima aufgezogen. Dann paßte man ihnen die Schutzmonturen an. Danach wurden sie in einen Raum mit einem »Wächter der Kampfkraft« gesperrt und verloren binnen kurzer Zeit jeglichen Hang zur Weichherzigkeit. Die Pflanzen saugten im wahrsten Sinne des Wortes alles, was am Charakter der Squooner im herkömmlichen Sinne »gut« war, in sich auf und ließen nur Skrupellosigkeit und bedingungslose Unterwerfung unter den Willen des Tyrannen übrig. Im Laufe dieser Entwicklung wandelte der Name »Spercoide« seine Bedeutung. Von nun an waren Spercoiden die Squooner, die die Behandlung durch die »Wächter der Kampfkraft« mitgemacht hatten. Die squoonische Weichherzigkeit gehörte schon eine Generation, nachdem sie zum ersten Mal bemerkt worden war, wieder der Vergangenheit an. Spercos straffe Organisation erfaßte auch den am entferntesten Ort geborenen Squooner und sorgte dafür, daß er von den Pflanzen behandelt wurde. Nur eine Gewohnheit verloren die Squooner nie mehr. Mochte es ein unterbewußtes Echo aus längst vergangenen Tagen sein oder ein Zeremoniell, das einfach beibehalten wurde, weil es niemand störte: Bis auf den heutigen Tag nannten sie ihre Raumschiffe nach Begriffen, die ihnen in jener halben Generationsspanne nach der Mutierung am Herzen gelegen hatten. Treue, Ehrlichkeit, Milde …
Kurt Mahr
AUF ROPPOC Als das Signal ertönte, ließ Sperco den Diener sofort ein. »Hast du Nachrichten von der WAHRHAFTIGKEIT?« fuhr der Tyrann den Spercoiden an. »Ja, Herr. Die WAHRHAFTIGKEIT meldet, daß sie die BESCHEIDENHEIT auf einer namenlosen Sauerstoffwelt gefunden hat. Die BESCHEIDENHEIT ist havariert und bedarf der Reparatur. Bei der Notlandung hat offenbar so große Verwirrung geherrscht, daß Camauke von Vallischor entkommen konnte.« Sperco sprang auf. »Hat man ihn wieder eingefangen?« zischte er. »Nein, Herr. Er ist spurlos verschwunden.« Spercos helle Augen strahlten im Feuer des Zorns. »Slosc!« stieß er hervor. »Das wird er mir büßen müssen! Wo ist Slosc?« »Er befindet sich an Bord der WAHRHAFTIGKEIT, Herr, und ist auf dem Weg hierher.« »Gut!« keuchte der Tyrann. »Ihm soll widerfahren, was ihm zusteht! Sonst noch etwas?« »Ja, Herr. An Bord der BESCHEIDENHEIT befand sich ein Spercoide namens Botosc, der bei Camaukes Flucht anscheinend eine undurchsichtige Rolle spielte. Man vermutet, daß er den Tekrothen zur Aufsässigkeit angestiftet und ihm dann die Flucht ermöglicht hat.« »Was ist mit diesem Botosc?« fragte Sperco mißtrauisch. »Man hat ihn einfangen können. Er ist ebenfalls an Bord der WAHRHAFTIGKEIT. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß er gar kein Spercoide ist. Er kann ohne Anzug leben!« Sperco starrte den Diener an und wußte nicht, ob er seinen Ohren trauen solle. »Ein Fremder, der sich als Spercoide aus-
Der Krüppel von Arsyhk
49
gibt?« murmelte er. »Den müssen wir uns ansehen! Das ist ein Frevel gegen die Würde des Herrschers.« Und dem Diener befahl er: »Die Ankunft der WAHRHAFTIGKEIT ist mir sofort zu melden. Ich will sie beide
sehen: Slosc und den Fremden!«
ENDE
ENDE