Das Erwachen – Der Kreis schließt sich! Version: v1.0
Der wahnsinnige Sturm peitschte Sand und Steine durch die Luft –...
27 downloads
828 Views
980KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Erwachen – Der Kreis schließt sich! Version: v1.0
Der wahnsinnige Sturm peitschte Sand und Steine durch die Luft – eine Luft, die zu kochen schien, die heulte und fauchte und schwefelig roch, als wäre sie der Atem eines unglaublichen, zürnenden Wesens, das die Geduld mit dem, was sich unter seinen Blicken zutrug, verloren hat te. Dort, wo die Toten gegraben hatten und wo sie wäh rend der Beschwörung verbrannt waren, brach jetzt etwas aus dem Schoß der Erde und stieg empor, kahl, runen übersät, groß wie ein Haus. Das Grab eines Geschöpfes, das weder leben noch sterben durfte und hier ewig für seine Sünden büßen sollte …
Was bisher geschah Dies ist der letzte Band des ersten großen VAMPIRA-Zyklus, der von Liliths Geburt bis zu ihrer Bestimmung reicht. Fast alle Handlungsfaden, die in der Vergangenheit ge knüpft wurden, finden nun ihren Abschluß. Daher gibt es an dieser Stelle keinen Über blick über die letzten Hefte, sondern eine kurze Gesamtsicht der Ereignisse ab Band 1. Geboren wird Lilith als Kind zweier Welten: Ihre Mutter Creanna ist Vampirin, ihr Vater Sean Lancaster ein Mensch. Von Anfang an scheint ihr Dasein einem Plan zu fol gen. Verborgen in einem magisch abgeschirmten Haus soll sie 100 Jahre schlafen, um dann einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Doch es kommt anders: Durch widrige Umstände erwacht Lilith zwei Jahre zu früh. Ihr Vater ist tot; er wurde beim Verlassen des Hauses von Vampiren ermordet. Ihre Mut ter fand bereits bei Liliths Geburt den Tod, denn dies ist ein ehernes Gesetz: Zwischen Mensch und Vampir darf es zu keiner Vereinigung kommen, aus der Leben hervorgeht. So ist Lilith für die Blutsauger ein Bastard, den es zu vernichten gilt; besonders der Kelchhüter Landru verfolgt sie unerbittlich. Der Lilienkelch, mit dem er lange Zeit über die Erde zog, dient der »Fortpflanzung« der Alten Rasse. Trinkt ein Kind das Blut eines Vampirs aus dem Kelch, stirbt es und erwacht zu untotem Leben. Doch der Kelch wurde Landru vor fast 300 Jahren gestohlen; seitdem sucht er ihn verzweifelt, denn sein Volk kann ohne ihn nicht überdauern. Lilith weiß nicht, zu welchem Zweck sie gezeugt wurde; das »Programm« wurde durch ihr Erwachen unterbrochen und wird sich erst in zwei Jahren vollenden. Bis dahin muß sie um ihr Überleben kämpfen … Beißt ein normaler Vampir einen Menschen, so wird dieser zur Dienerkreatur, die das Licht fürchtet, sich ebenfalls von Blut ernährt, den Keim aber nicht selbst weitergeben kann. Liliths Biß hat andere Auswirkungen: Ihre Opfer streben nach Uruk im heutigen Irak und beginnen dort ein Bauwerk freizulegen: einen Tunnel in die Vergangenheit. In diesem Korridor finden sich »Puzzleteile« über den Werdegang der Alten Rasse: daß sie seit Urzeiten neben den Menschen lebt und von einer Macht in Lichtgestalt pro tegiert wurde – dasselbe Licht, das nun Lilith beisteht, die Zeit bis zur Erfüllung ihrer Aufgabe zu überstehen! Dazu bedient es sich der Vampirin Felidae, die auch den Lilien kelch stahl. Nur langsam merkt Lilith, daß sie manipuliert wird, kann sich dagegen aber nicht wehren. Und nun laufen alle Fäden zusammen – am urzeitlichen Ende des Korri dors …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin. 98 Jahre schlief sie in einem Haus in Sydney, erwachte aber vor der Zeit. Die letzten zwei Jahre kämpfte sie gegen die Vampire, die in ihr einen Ba stard sehen. Nun wurde sie sich ihrer Bestimmung bewußt. Der Symbiont – Ein Wesen, das Lilith lange Zeit als Kleid diente und das fast jede Form annehmen kann. Nun hat es sie verlassen und kehrt zu seinem Ursprung zurück … Landru – Mächtigster der alten Vampire. 268 Jahre jagte er dem Lili enkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Feli dae gestohlen wurde. Er verfolgte Liliths Spur – bis in den Korridor hinein. Felidae – Vampirin im Auftrag des geheimnisvollen LICHTS. Sie hat ihr Soll erfüllt und wurde in ein Wächterwesen verwandelt, das den Eingang zum Korridor bewacht. Duncan Luther – Liliths ehemaliger Gefährte schloß sich den Toten an, die den Tunnel in Uruk freilegten. Nach der Zeremonie in der Ver gangenheit hatte auch er seine Aufgabe erfüllt und starb endgültig. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trinken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubringen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben.
Ich erlebe nicht, sondern erleide meine Taten. Sophokles Die Mißgeburt erschien aus dem Nichts. Nicht wie aus dem Nichts, sondern sie war tatsächlich von einem Wimpernschlag zum nächsten da. Direkt vor Landrus Augen zappelte, wimmerte und röchelte sie im Sand. Sie hatte drei Arme, aber nur ein Bein. Ihr behaartes, männli ches Genital baumelte dort, wo sich ein zweites Bein hätte befinden müssen, und die Haut war von Beulen übersät. Geschwülste, die aussahen, als wollten sie jeden Moment dem inneren Druck nachge ben und platzen. Die bleiche Kreatur wand sich am Boden. Ihre Augen standen of fen. Dennoch schien etwas wie die Nickhäute von Vögeln darüber zu liegen, denn Landru sah nur eine Schicht von vergilbtem Weiß. Blindheit, die ihm entgegenstarrte und sich bis auf den Grund seiner eigenen Augen bohrte! Er versuchte den Blick abzuwenden. Gleichzeitig zuckten die wulstigen Lippen der Gestalt, als versuchten sie, Worte zu formen, Sätze an ihn zu richten. Er war sicher, daß er nichts davon hören wollte. Um keinen Preis … »Verschwinde!« keuchte er. »Weiche von mir …!« Es klang, als wollte er den Satan vertreiben, und die Kreatur hielt tatsächlich inne. Doch dann – übergangslos – kreischte sie so wild, schrill und laut auf, daß Landru in seinem Kern erzitterte: »BasilE veCarlottaMarie …«
Wenn es nur Namen gewesen wären … Aber Landru sah auch die dazugehörigen Gesichter – sah sie in den blinden Augen des ande ren … »Still, du Monster!« Die Mißgeburt schürzte ihre Lippen. Eine fette Zunge fuhr wie eine giftig rote Schnecke aus dem Mund und hinterließ eine Schleimspur. Immer weitere Namen sprudelten hervor. Gesichter, im Moment ihres Todes aufgenommen, starrten Landru an. Es waren alles Menschen, deren Blut und Lebenskraft er über die Jahrhunderte hinweg gestohlen hatte, um die eigene Existenz zu er halten. Namen und Gesichter, die er längst vergessen zu haben glaubte, doch offenbar erinnerte sich etwas anderes für ihn. Aneinandergereiht ergaben die Opfer eine lange, lange Kette. Landru trat auf den Krüppel zu, der ihm zwar voller Schmerz, aber angstfrei entgegenstarrte. Noch immer sprangen Namen über die Klippen seines Mundes. Woher kannte er sie? »Still habe ich gesagt!« »MonicaHelenMarcieTheck …« Zu dem Gilb der Augen gesellte sich Verschlagenheit. Landru konnte nicht widerstehen. Er beugte sich hinab, preßte eine Hand auf die Stirn des Krüppels, zwang dessen Kopf in den Nacken und zog die Kreatur zu sich empor. Seine Zähne senkten sich ins blasse Fleisch. Er ließ sich keinen Tropfen dessen, was her vorquoll, entgehen. Warm rann das Blut durch seine Kehle. Landru verschmolz mit dem Häßlichen, der unter seinen Händen starb. Unweit entfernt materialisierte ein weiteres Wesen. Nicht nur äu ßerlich, auch innerlich häßlich und boshaft. Landru konnte sich nicht bezähmen. Er schleuderte den Krüppel,
dessen Herz nur noch mühsam schlug, von sich – und wandte sich dem Neuankömmling aus dem Nichts zu. Dann dem dritten. Er steigerte sich in eine wahre Orgie, in solche Ekstase, daß er nicht merkte, was sonst noch um ihn herum passierte. Weiter entfernt. Jenseits der Berge, woher er gekommen war. Wo der Korridor lag und wo die Toten gruben. Wo Blitz, Donner und Sturm aufgezogen waren – und wo SIE das Ritual der Erwe ckung vollzog. Seine Feindin Lilith Eden …
* Lilith riß die Arme hoch und genoß diese Pose wie einen Akt der Be freiung. Sie stand im Herzen des Sturms. Im Auge eines jenseitigen Tai funs. Ihr perfekt modellierter, ikonenhafter Körper wurde von nichts verhüllt. Die Warzen der großen, festen Brüste waren hart vor Erre gung, ausgelöst von äußerer und innerer Reizüberflutung. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie träumend im Haus 333, Pad dington Street in Sydney zugebracht. Damals schon einem Plan ge horchend, der hier ausgeheckt worden war … Kleine, scharfkantige Steine nagelten wie Geschosse auf sie nieder und schürften ihre Haut auf. Das unmenschliche Regenerationsver mögen ihres vampirischen Erbes heilte die Wunden beinahe ebenso rasch, wie sie sich auftaten. Zu nennenswertem Blutverlust kam es
nicht. Zu kostbar war dieser Saft. Zu … heilig. Heilig? Sie war irritiert und schockiert von ihrem Gedanken. Blitze, Donnergrollen, Wetterleuchten und die widernatürliche Finsternis dieser mittäglichen Stunde vergingen. Es wurde wieder hell, heiß und – still. Aber das Unheimliche hatte nicht wirklich aufgehört. Nun waber te es hochkonzentriert hinter den Augenwülsten eines monströsen, in Stein gehauenen Schädelfelsens, der der Erde entstiegen war. Ein steinerner Totenkopf mit flacher Stirn, augenlosen Höhlen und einem furchtbaren, drohenden Maul. Seinetwegen und wegen dem, was er barg, war Lilith gekommen. Sie wußte, worum es sich bei diesem ›Schädel‹ handelte: um ein Gefängnis, aus dem selbst der Ablauf der Zeit verbannt worden war. Um einen Ort vollkommener Stasis, an dem alles zu gletscher kalter Ruhe erstarrt war. Lilith überwand ihr leises Zögern und ging darauf zu. Auch in ihr legte sich der Sturm. Kalte Ruhe kehrte in sie ein. Sie fühlte die Anwesenheit des Runendämons, der in sie gefahren war. Nur mit ihm, einem traumhaften Schatten als Begleiter, ging sie auf das Grab zu, in dem die Zeit aufgehört hatte zu sein. Es gab keinen Durchlaß. Aber das riesige Haupt aus dunklem Stein wies an einigen Stellen Gravuren auf, die an stilisierte Tattoos erinnerten. Liliths Zunge formulierte eine Rune, die ÖFFNE DICH bedeutete. Wieder war es ein seltsamer und nicht ganz schmerzfreier Akt, diese Schriftsprache auszusprechen. Aber es gelang.
Der Dämon in Lilith wurde ein Stück kleiner, und die Gravur im ›Schädel‹ flammte auf, durchfraß den Stein und schuf eine genü gend große Öffnung, um einen Menschen (oder ein menschengroßes Wesen) eintreten zu lassen … Lilith wandte ihren Blick noch einmal von dem Schädelfelsen ab. Ihre Augen prüften die Umgebung, die wieder aussah wie vor der Entfesselung der Gewalten. Kein Lüftchen wehte mehr, und die Weite des Himmels wirkte unvergleichlich größer als dort, woher die schwarzhaarige Frau gekommen war. Des Nachts schien es so gar, als wäre dieses Firmament noch gar nicht ›fertig‹, erst im Ent stehen begriffen … Natürlich widersprach dieser Anschein allem, was künftige Ar chäologen, Paläontologen und Astrophysiker als unumstößliche Dogmen festschreiben würden. Nach deren Auffassung hätte ein Mensch sich Milliarden Jahre in die Vergangenheit zurückbegeben müssen, um eine mond- und fast sternenlose Zeit zu erreichen … Nein, eigentlich stand es in völligem Widerspruch zu jeder These, die wissen wollte, wie sich das Universum einst aus dem Urknall heraus geformt hatte! Lilith, aus deren Gesicht die so reizvolle Mischung aus Verwirrt heit, Anmut und Identitätssuche gewichen war und das jetzt nur noch Härte und Entschlossenheit ausdrückte, war zu den Anfängen der Zeit zurückgekehrt. Dennoch zählte ihr Weg nicht nach Milliar den, sondern lediglich nach einigen tausend Jahren! Die Schöpfung, so hatte Lilith aus Felidaes Blut erfahren, war sehr viel unbegreifli cher, als es der Götze Wissenschaft den Menschen weiszumachen versuchte. Die Schöpfung spielte mit ihren Kindern. Sie gab ihnen Methoden an die Hand, mit denen sie glaubten, alles verstehen, alles erklären zu können. Sie fanden verblichene Saurierknochen, versteinerte Fos silien, in Bernstein eingeschlossene Insekten … und jonglierten dar
auf fußend mit den Zeitaltern, die so weit zurückreichten, daß die menschliche Vorstellung sie nicht mehr verstehen, sondern sich nur noch in abstrakte Zahlengebilde flüchten konnte. Begreifen vermoch te kein Gehirn, was solche Forschung zu enthüllen vorgab. Irgendwann – als die Erleuchtung sie noch nicht erfüllt hatte – war sie auf eine Behauptung gestoßen, wonach moderne Forschung den gemeinsamen Vorfahr aller Männer auf 188.000 Jahre zurückdatier te. Ermittelt worden war dies anhand des Y-Chromosoms, das nur das männliche Geschlecht besitzt. Einen solchen ›Urmann‹ hatte es zweifellos ebenso einmal gegeben wie sein weibliches Pendant – aber auch hier trogen die Knochenund Werkzeugfunde, die ein langsames, schrittweises Werden zum Menschen vorgaukelten. Der Mensch, wie er den Vampiren zur Nah rung diente, war erschaffen worden. Und geschehen war dies hier – an diesem Ort, an dem sich Lilith gerade befand …! Was die Wissenschaft nie einräumen würde, um sich nicht selbst ad absurdum zu führen, war, daß es offenbar Mechanismen gab, die mit voller Absicht eine Evolutionsabfolge vortäuschten. Mechanis men, die wie ein ›verdecktes Programm‹ jenseits der sichtbaren Rea lität abliefen und dafür sorgten, daß der Mensch überzeugt war, sei ne Umwelt von Tag zu Tag besser zu verstehen … Lilith lächelte karg. Dann trat sie ins Innere des Grabfelsens. Dorthin, wo der alleinige Grund ihrer Existenz wartete. Die Ursa che, weshalb Felidae zur Verräterin an ihrem eigenen Volk gewor den war und Creanna zu Liliths Mutter ausgebildet hatte. Geh! Sie wartet auf dich! Erdrückt von der Last des Moments, der nicht aufhören, nicht vergehen will …! Lilith gehorchte.
* Landru kauerte inmitten von zuckenden Leibern. Er nahm ein Bad im Blut, versunken in einem Rausch, der die glorreichen Zeiten wie derauferstehen ließ, der verschüttete Erinnerungen wie eruptierende Lava hervorstieß. Und wie sonnenheißes Magma aus dem Erdkern gerieten auch diese Erinnerungen an der Oberfläche des Denkens immer mehr ins Stocken, wurden zäher und zäher und erstarrten schließlich zu blo ßen ›Gemälden‹ von surrealem Zauber: Landru in Gesellschaft Anums … Gemeinsam standen sie auf dem Dach des weißen Tempels und überschauten Uruk, die Stadt, in der sie lebten und herrschten und ihre Fühler in andere Teile der Welt ausstreckten, um zu ergründen, wie sie ihr Reich unter den Menschen ausdehnen konnten. Es war eine Zeit der Sorglosigkeit. Noch zeichnete sich kein Schatten am Horizont ab. Nichts, was IHNEN gefährlich hätte werden können. »Ich hatte einen Traum«, sagte Landru. Anum löste seinen Blick von den Straßen, in denen die Menschen Han del trieben und anderweitig für ihren Unterhalt schufteten. Alte und Jun ge, Männer und Frauen. Keiner dort unten, der den Blick zum Tempel hob, der über der Stadt thronte, vermochte die beiden Hohen Männer zu sehen, die sie beschauten. »Einen Traum?« fragte Anum. Seine edlen Züge paßten zu der Vorrang stellung, die er unter allen Hohen Männern und Frauen genoß. Niemand neidete es ihm, denn er war der Erstgeborene. »Ja«, sagte Landru. »Träumst du nicht?« »Doch. Immer. Auch jetzt. Ich flüchte dazu nicht in den Schlaf. Ich gleite ständig zwischen Traum und Wirklichkeit …« Landru hielt es nicht für nötig, etwas darauf zu erwidern.
»Wovon hast du geträumt?« fragte Anum schließlich. Er verschränkte die Arme vor der bronzefarbenen Brust. Außer Lendenschurz und Tiara war er nackt. Wie alle Hohen Wesen trug er keinen Schmuck, keinen falschen Zierrat. Er selbst war Schönheit genug. Nichts Künstliches hätte dieses Bild erhabener gestalten können. »Von Ischtar«, sagte Landru – und bemerkte wohl, wie sich Anums Hal tung leicht veränderte. »Ischtar?« »Ja. Ich teilte mit ihr mein Lager. Aber …« »Aber?« Anums Augen hatten sich verengt. Es war kein Geheimnis, daß er und die wundervolle Ischtar mehr Tage und Nächte miteinander zu brachten als andere ihres Standes. »Noch während sie mein Glied mit den Lippen liebkoste und ich ihr Gunst erwies, indem ich ihren Schoß küßte, überkam mich selbst im Traum Sorge.« »Sorge?« Anum trat einen Schritt näher auf Landru zu. Am blauen Himmel stand Schamasch, die Sonne, und wob ihre Strahlen zwischen ein paar blütenweißen Wolken hindurch. »Sorge um unsere Zukunft«, sagte Landru. »Was bereitet dir daran Sorge?« »Ich beobachte die Menschen.« Einen Moment schien es, als hielte Land ru dies bereits für die Antwort auf Anums Erkundigung. Doch dann fügte er hinzu: »Du weißt, daß es unter den Menschen nicht üblich ist, daß Ge schwister und andere eng Verwandte einander Gunst erweisen, wie WIR es untereinander tun …« Anums Blick war die Aufforderung, weiterzusprechen. »In diesem Traum«, seufzte Landru, »und auch danach, als ich mich wie der wach – und allein – auf meinem Lager fand, überkam mich plötzlich dieses Gefühl von … Verlorenheit. Wir stehen nicht nur über, sondern
auch außerhalb allem, was uns sonst umgibt. Wir sind die einzigen We sen, die nicht in den Prozeß von Werden und Vergehen, von Altern und Sterben eingebunden sind. Und als ich versuchte, mich an unsere Ur sprünge zu erinnern, scheiterte ich.« Er stockte kurz. »Es bereitet mir Schwierigkeiten, an eine Zukunft zu glauben, ohne eine Vergangenheit zu besitzen … Ich sprach schon mit Adad und Sin darüber. Ihnen ergeht es ähnlich. Auch sie konnten mir nichts über unsere Wurzeln sagen … kannst du es?« »Nein«, sagte Anum. »Aber das sollte dich nicht sorgen, sondern erfreu en. Wir sind einzigartig – ein jeder von uns. Du weißt, wie wir hier zu sammenfanden. Wir kamen aus allen Himmelsrichtungen und trafen uns in dieser Stadt. Wir fühlen, daß wir Geschwister sind, aber es ist eine ande re Art von Verwandtschaft, als die Menschen sie kennen. Deshalb brauchst du auch keine unguten Gefühle für deine Triebe zu entwickeln. Niemand verwehrt dir, es mit Menschen zu treiben. Auch ich wende mich hin und wieder den Städtern zu, um ihre Frauen aufzusuchen. Es ist eine andere Art von Lust, die mich im Zusammensein mit ihnen beflügelt, als es im Umgang mit meinesgleichen geschieht. – Hör auf, dich darüber zu sorgen. Lebe dein Leben, das dir geschenkt wurde, um über denen zu stehen, die du dir zum Vergleich heranziehst! Sie sind schwach, wir sind stark. Uns gehorcht sogar die Zeit, und all dies ziehen wir aus dem lebendigen Trunk, den sie –« , seine Hand machte eine stadtumfassende Geste, »– uns bieten!« »Vielleicht hast du recht.« »Ich habe recht! Und jetzt geh! Vertreibe die Trübsal, besuche Ischtar, wie du es schon im Traume tatest, und ich versichere dir, sie wird dir keine Gelegenheit zu weiteren unguten Gefühlen lassen! Nehmt euch Zeit! Nehmt euch ein paar Sterbliche, die ihr bestehlen und betrügen, mißbrau chen könnt! Es erhöht eure Befriedigung. Wir sehen uns in einigen Tagen wieder, und ich verspreche dir, daß du deine Träume künftig besser aussu chen wirst …«
Das Gemälde zersprang und machte Platz für ein anderes. Wieder spielte die Szene in Uruk, diesmal jedoch in einem der Räume des Tempels. Landru sprach mit Ischtar. Wann genau dieses Gespräch stattfand, ob unmittelbar nach der Unterredung mit Anum oder viel später, ließ sich schwerlich erkennen … Ischtars Stöhnen erfüllte den Raum, den sie mit gemeinsamer Magie für die Dauer ihres Zusammenseins gestaltet hatten. »Du bist ein guter Lieb haber«, lobte sie Landru, der sie stehend von hinten nahm und dabei seine Hände über ihre Brüste streifen ließ. Ihr ganz spezieller, intensiver Duft erregte ihn so sehr, daß er das Empfinden hatte, sein Glied würde noch in Ischtar beständig wachsen, eng umschlossen von ihrem rauhen Schoß. Er fühlte jeden Stoß, wie sie ihn fühlte. Und immer wieder betrogen sie die vergehende Zeit. Kurz vor dem Höhe punkt steuerte Landru sie beide im Zeitstrom zurück, und das Spiel be gann von neuem. Zwischendurch übernahm auch Ischtar die Initiative, und wenn es eine weitere Steigerung der Lust versprach, katapultierte sie ihre beiden Körper Stunden in die Zukunft. Später, als sie darangingen, den stimmungsvollen Raum in seine sparta nische Kargheit zurückzuführen und ihn von den Opfern zu säubern, die ihnen als Vorspiel gedient hatten, sagte Ischtar unvermittelt: »Kann ich mit dir reden?« Landru blickte sie verwundert an. Die Ernsthaftigkeit ihres Tons war unüberhörbar und beunruhigte ihn sogleich ein wenig. »Rede.« »Ich … hatte einen Traum, der mich sehr verwirrte.« Landru überlegte, ob sie sich lustig über ihn machen wollte. Ischtar war vieles zuzutrauen, und vielleicht hatte sie von Anum erfahren, was Landru ihm vorgetragen hatte … Aber dann wirkte ihr Blick so frei von jeder Arg list, daß er sich darauf einließ. »Was für ein Traum war das?« Ischtar rieb sich den Unterleib. »Ich träumte, ein …« Sie zögerte.
»Ein …?« »Ein Kind auszutragen!« Also will sie mich doch nur der Lächerlichkeit preisgeben, dachte er. »Von wem solltest du ein KIND empfangen haben?« Er versuchte seine Gefühle im Zaum zu halten, aber es mißlang. Wenn es das war, was sie er reichen wollte – ihn in Rage zu bringen –, dann gelang es ihr. »Von dir!« Er ballte die Hände zu Fäusten. Im letzten Moment schreckte er davor zurück, sich auf Ischtar zu stürzen und ihr Gewalt anzutun. (Welch ein Wahnsinn!) »Es war nur ein Traum«, milderte sie ihre eigene Aussage. »Ich sagte ja, es verwirrt mich selbst. Ich kann keine Kinder bekommen – keine der Ho hen Frauen vermag dies! Es ist der Preis unserer Unsterblichkeit … Aber genau das ist es, was mir Angst macht. Ich halte es für ein … Omen.« »Ein Omen?« Er bekam sich wieder in die Gewalt. Seine Hände ent spannten sich. »Ja. Daß etwas Schreckliches geschehen könnte. Mit mir – oder mit uns allen!« »Das ist töricht.« »So töricht wie dein Traum?« bellte sie ihn an. Ihre Schönheit litt unter der Verzerrung ihres Gesichts. Einen Moment lang schimmerte das Raub tier hindurch. Das Königstier dieser Wildnis, die sich Welt nannte und be herbergt wurde von Schwachen, die wie selbstverständlich die Beute der Starken wurden … Schweigend sah er sie an. Sie hatte zugegeben, daß Anum mit ihr über ihn gesprochen hatte. Seltsamerweise schmerzte ihn dies. »Mein Traum war anderer Natur«, sagte er. »Nicht wirklich«, widersprach sie. »Auch aus dir spricht die Sorge um unsere Zukunft!«
»Ich weiß nicht, wovon du redest! Sprich mit Anum! Er weiß Rat bei schlechten Träumen … Zumindest glaubte ich dies bisher …« »Sei nicht zornig mit mir. Ich sorge mich ehrlich! Der Gedanke, ein Kind auszutragen … weißt du eigentlich, wie anwidernd diese Vorstellung ist? … Der bloße Gedanke könnte ein Hinweis sein, eine Vorahnung, daß ich …« »Daß du …?« »Daß ich meine Unsterblichkeit verlieren werde …!« Landru zerrte eine der verkrüppelten, aus dem Nichts erschiene nen Gestalten – nicht Mensch, nicht Tier – an seine Lippen und sog die letzten Tropfen Blut aus dem noch warmen, aber bereits toten Körper. Im nachhinein wußte er, daß nicht nur Ischtars, sondern auch sei ne eigenen düsteren Ahnungen in jener Zeit begründet gewesen wa ren. Etwas hatte sich damals über Uruk und dem Rest der Welt zu sammengebraut, das sie nur langsam zu deuten gelernt hatten. Die volle Wahrheit aber hatten sie erst in dem ›Gemälde‹ erkannt, das jetzt vor seinem geistigen Augen wiedererstand: Nacht hatte sich wie ein finsterer Mantel über Uruk gebreitet. Das Ster nenmeer des Himmels wirkte wie eine Anhäufung von Löchern darin. An einigen Orten der Stadt brannten Lichter. Es war noch nicht so spät, daß alle Bewohner schliefen. Außerdem waren Hohe Wesen unterwegs, sich unter die Sterblichen zu mischen und sich dem Genuß ihrer Säfte hinzuge ben … Als Landru die Stufen des Tempels erklomm, um gesättigt heimzukeh ren, hörte er hinter sich einen Schrei. Er mochte als Ruf gemeint gewesen sein, denn er entsprang der Kehle eines anderen Hohen Mannes – Nomos – , aber er beinhaltete soviel Qual, wie Landru sie noch nie zuvor aus dem Mund eines der Seinen vernommen hatte. Im Umdrehen sah er Nomos, der noch fast am Beginn der Stufen stand,
fallen. Sofort eilte er zurück und beugte sich über ihn. »Was ist mit dir?« Die Augen des anderen blickten an einen Punkt, der Landru verborgen blieb und den er auch gar nicht kennenlernen wollte. Heiser kam die Ant wort: »Ich … sehe …!« Es klang, als würde er sagen: »Der Tempel stürzt ein!« »Ich verstehe nicht«, sagte Landru. Er drehte den Kopf, sah zum Tempel empor und sandte einen so intensiven Gedanken zu Anum, daß er hoffen konnte, gehört zu werden. »Ich sehe … das KOMMENDE!« Nomos’ Stimme sank herab zu einem Röcheln, das Landru einen nie ver spürten Schrecken einflößte. Die Hände, mit denen er den anderen Hohen Mann stützte, schienen sich plötzlich bewußt zu werden, daß nicht nur in Nomos’ Kopf, sondern auch mit seinem Körper etwas vorging, was nicht hätte sein dürfen … »Du warst ein paar Schritte in der … Zukunft?« fragte er, und er hoffte, Nomos würde bejahen. Es war normal, vor und zurück in der Zeit zu ge hen. Sie beherrschten diese Gabe, als gelte es, damit jemandem zu entrin nen, der immer wieder versuchte, ihrer habhaft zu werden und sie … Landru zuckte vor den eigenen Gedanken zurück. Was ist los? dachte er. Wieso spielen alle verrückt? Ich auch … Von oben stürmte Anum heran. Sein togaähnliches Gewand flatterte ihm Wind, den er selbst erzeugte. Hinter ihm folgten andere. Enlil, Ea … »Wer hat gerufen?« fragte Anum, als er bei ihnen ankam. »Ich«, sagte Landru. Nomos schien nicht in der Lage zu antworten. Er lag da, auf Landrus an gewinkeltes Knie gestützt, und blickte wieder in ein abseitiges Land, das sonst niemand mit Blicken erreichen konnte.
Die Zukunft. »Der … UNTERGANG …«, röchelte er plötzlich, »… steht … BEVOR …!« Anum stieß Landru beiseite und zerrte Nomos an den Armen hoch. Aber der Gefallene war zu schwach, sich selbst auf den Beinen zu halten. Er hing wie ein seltsames Ding vor Anums flammenden Augen. »WOVON REDEST DU?« Plötzlich kehrte Nomos’ Blick ins Jetzt zurück. Seine Lider flatterten. Sein Brustkorb hob und senkte sich, und ein Schatten von Alter schmiegte sich um seinen Mund. »Was …? Laß los!« Anum gab ihn frei. Nomos wankte, blieb aber stehen. »Was – wollt ihr alle von mir?« Er blickte in die Runde, wo Anum, Landru, Ea und Enlil ihn umstanden. »Du erinnerst dich nicht?« In Anums Stimme lag Schärfe. »Woran?« Es wurde klar, daß Nomos nicht schauspielerte. »An das, was du gerade sagtest: Daß der Untergang bevorsteht!« »Wessen Untergang?« »Das will ich von dir hören!« Nomos schüttelte den Kopf und machte ein paar unsichere Schritte die Stufen hinauf. Niemand sonst bewegte sich. Alle starrten nur ihn an. »Ich … fühle mich nicht wohl. Das ist alles. Ich war in der Stadt. An fangs amüsierte ich mich mit ein paar Kindern, die … Aber dann …« Sein Zustand, diese Art Verwirrtheit, wie noch kein Hohes Wesen sie je an den Tag gelegt hatte, verursachte nicht nur Landru tiefe Besorgnis. Je der, der Nomos sah, empfand ähnlich. »Gehen wir in den Tempel«, entschied Anum schließlich. »Kümmern wir uns um unseren Bruder. Ich werde außerdem hinabsteigen ins LICHT, um Rat einzuholen. Er sieht erschöpft aus …« Anum vermied das Wort, das besser zu Nomos’ Verfassung gepaßt hätte:
Alt. Nomos sah binnen Stunden um Jahre gealtert aus! So hatte es begonnen. Damals. In Uruk. Im Reich der Hohen We sen, von denen Landru nur eines gewesen war … Er stöhnte. Wo bin ich? dachte er. Was tue ich? Warum trinke ich ohne Durst aus diesen häßlichen Kreaturen? Wer – schickt sie mir? Sein Blick schweifte kurz zu dem Wald, dem paradiesischen Fle cken, der sich unweit von ihm ausbreitete. Er hatte versucht, ihn zu erreichen, in ihn einzudringen, nach Menschen zu suchen, die seinen Durst stillen konnten. Doch es war ihm unmöglich, dorthin zu gelangen. Obwohl kein sichtbarer Zaun ihn hinderte, war und blieb dieser Ort, an dem es vor Leben wim melte, unerreichbar für ihn! Als er die Augen auf sich spürte, die von dort zwischen den Bäu men auf ihn gerichtet schienen, vergrub er sein Gesicht in dem nächstbesten dampfenden Kadaver. Mit den Zähnen wühlte er dar in. Ekel überschwemmte ihn. Nicht Abscheu vor dem toten Fleisch, in das er seine Zähne stieß, sondern Abscheu vor sich selbst. Er konnte nicht verhindern, daß ein neues ›Gemälde‹ in ihm er wachte. Die Fortsetzung dessen, was mit Nomos’ sonderbarem An fall begonnen hatte … »Das LICHT schweigt«, sagte Anum – und erntete dafür die Blicke, die er erwartet hatte. Vor ihnen, wie aufgebahrt, lag Nomos auf einem Tisch, den er selbst hat te erstehen lassen. Landru, der seinen Blick nicht von dem Bruder wenden konnte, wünsch te, er hätte es ihnen überlassen. Aber dafür war Nomos zu stolz, und so mußten sie hinnehmen, daß die Unterlage immer wieder von züngelnden
Entladungen und anderen Anzeichen der Auflösung umlaufen wurde. Die Stimmung war gedrückt. Nein, katastrophal! »Meine Augen!« schrie Nomos gerade. »Ich sehe euch nicht mehr! Was …« Anum trat zu ihm und drückte seine Hand. »Wir sind da. Immer noch. Beruhige dich!« »Beruhigen …?« Nomos’ Lider versuchten sich über die erblindeten Pu pillen zu schieben, aber irgend etwas – wahrscheinlich sein eigener Wille – verhinderte es. Schlimmer als die Augen aber waren die anderen Anzeichen des körperli chen Verfalls. Jedesmal, wenn Nomos eine Zukunftsschau beging und kon kreter über den bevorstehenden UNTERGANG sprach, ging es wie ein Ruck durch seinen Körper, und er alterte sichtbar! »Ich habe nicht nur mein Augenlicht verloren«, flüsterte Nomos mit brü chiger Stimme, »sondern auch meine innere Balance, meine … Unsterb lichkeit …! – Warum hilft mir denn keiner?« Anum fuhr ihm über das Gesicht. Es wirkte tröstend. »Auch wenn das LICHT geschwiegen hat«, sagte er, »konnte ich doch fühlen, daß es bei uns ist – allgegenwärtig. Und daß alles, was geschieht, ein unaufhaltsamer Prozeß ist, dem wir uns so unterwerfen müssen, daß wir ihn akzeptieren – aber dennoch einen Ausweg daraus finden! Ich bin sicher –«, er wandte sich zurück an Nomos, nachdem er zuvor alle angesprochen hatte, »– daß DU derjenige sein sollst, der uns diesen Ausweg weisen soll!« »Ich …?« Nomos bäumte sich auf, fiel aber sofort wieder zurück. »Ja. Als du zum erstenmal von Untergang sprachst, dachte ich noch nicht, daß es auch uns betrifft. Inzwischen bin ich anderer Auffassung. Die Katastrophe, die du noch nicht näher beschrieben hast, könnte uns alle, nicht nur die Menschen, betreffen. Deshalb ist es wichtig, daß du sie näher erklärst. Daß du …«
Er verstummte, weil Nomos’ Körper von einem Zittern durchlaufen wurde, als litte er unter einem der Fieber der Menschen. Seltsam klar schnitt seine Stimme wenig später in die Stille, die nach Anums Verstum men eingetreten war. »Himmel und Erde werden ihre Schleusen öffnen! Es wird regnen – hun dertfünfzig Tage ohne Unterlaß! Dieser Regen wird alles Land ertränken, alles Leben, das darauf kreucht und fleucht! Auch uns!« »Was redete er da …« Anum gebot Ea, deren Stimme sich erhoben hatte, zu schweigen. »Wei ter!« drängte er Nomos. »Rede weiter! Was … siehst du noch von der Zu kunft? Gibt es einen Schuldigen für diese Katastrophe, oder …?« Nomos schien ihn nicht zu hören. Er hatte auch Eas Einwand nicht gehört, sondern sich aus eigenem Wunsch kurz unterbrochen. Jetzt fuhr er fort und proklamierte dumpf: »Die kommende Flut ist von Gottes Hand! Sie wird geschickt, um das Menschengeschlecht zu vernichten, das aus der Art geschlagen ist! Sie soll die Erde reinwaschen für einen Neubeginn! Nur wenige werden dem Tod entrinnen …« »Wer?« rief nun Landru, der sich nicht mehr beherrschen konnte und ganz unter dem Eindruck des Gehörten stand. »Wer wird entrinnen? WIR?« Nomos keuchte. Seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, und die hellsichtigen Momente, die er in Worte umsetzte, kosteten seine Haut die letzte Glätte. Runzeln und Falten begann, zu wuchern. Sein Atemzie hen klang kränklich. »Blut!« rief Anum. »Besorgt ein Opfer! Träufelt ihm Blut auf die Lip pen! Vielleicht läßt sich das, was ihn befallen hat, nicht ungeschehen ma chen – aber wenigstens sollten wir versuchen, es hinauszuzögern …!« Sofort stürmte Adad aus dem Raum.
Indes krächzte Nomos in rauhem Ton: »Jenseits der Berge, bei Susa, lebt ein frommer Mann mit seiner Familie. Einer der … Urväter … Noe, sein Name. Er ist erwählt, der Flut zu trotzen … Er kennt den Weg in die Zu kunft … Er allein …!« Jenseits der Berge … Das Gemälde verblaßte. Landru hielt ernüchtert inne. Der Rausch verflog, und er spürte, daß etwas Monumentales geschehen war. Nicht hier, sondern … Wie Phönix aus der Asche stieg er aus den Kadavern der Opfer, deren Blut ihm die Erkenntnis dargereicht hatte. Er verwandelte sich und stieg mit energischem Schlag seiner Schwingen dorthin, wo die Berge eine trennende Wand zwischen hier und dem Korridor bilde ten, aus dem Landru gekommen war. Dort war etwas geschehen. Etwas … Bedeutendes! Der Kontakt zu Duncan Luther, dieses lose, immaterielle Band, war zerrissen. Wie lange schon, wußte Landru nicht zu sagen, zu sehr hatte der Rausch ihn seine Wahrnehmung getrübt. Es war auch nicht das erstemal, daß der Kontakt zu Luther unterbrochen worden war. Doch diesmal, das spürte Landru, war es endgültig. Es fühlte sich an, als sei Tanors Geschenk gestorben. Zum zweiten mal und nun für immer …
* Lilith betrat den Schädelfelsen, der mit den letzten Atemzügen eines Wesens von dunkler, kaum vorstellbarer Macht erfüllt war. Dieser Atem, diese Luft strömte nun in Liliths Lungen, und der Gedanke daran verursachte Schauder. Der Raum, in den Lilith gelangte, war hell bis auf eine Ballung von
Finsternis in seiner Mitte. Dort hing eigenartig geformter, schwarzer Nebel über dem Boden. Erstarrt wie alles und mit Runen versehen, deren Bedeutung Lilith sofort klar wurde. Sie formulierten das Urteil, das über das darunter Verborgene ge sprochen worden war – das Ausmaß der Strafe, das diesen Ort aus der Zeit herausgelöst und für die Ewigkeit verschlossen hatte. Die Formeln, die hier als Runen über die Einhaltung des Urteils wachten, waren nur für diesen einen Zweck erdacht worden. Nie mand in der Zukunft wußte von ihrer Existenz. Niemand hatte sie überliefert – weil es niemanden gab, der dies vermocht hätte. Sie waren mit derjenigen begraben worden, die ein schreckliches Verbrechen begangen haben mußte. Ein Verbrechen, das Lilith auch nach dem Trunk aus dem Lilien kelch nicht kannte. Nacheinander las sie die Runen im Nebel. Der Dämon in ihr schrumpfte mit jedem Ton, der ihre Lippen ver ließ und wie ein Blitz in den Nebel fuhr, um das jeweilige Symbol zu löschen. Schließlich war nur noch eine einzige Rune übrig, und Lilith nahm Abschied von dem letzten Fragment der Agrippa. Deren Schrei, de ren Verzweiflung war ohne Bedeutung. Der Runendämon versuchte sich an einer Form von Leben festzuhalten, die noch irrealer war als das ›Leben‹ einer Dienerkreatur … Die letzte Rune öffnete zugleich jenem Strom den Zugang ins In nere des Schädelfelsens, der so lange verbannt gewesen war. Der Zeit. Und alles – alles! – hier änderte sich!
* Der Nebel fiel. Weil es kein Nebel war … Fasziniert starrte Lilith auf das Heer ledrig schwarzer Körper, die am Boden lagen. Fledermäuse, die sich aus dem dunklen Gewoge geformt hatten, herabgeregnet waren und nun etwas mit ihren Kör pern und ihren ausgebreiteten Schwingen zudeckten. Etwas … Lilith wußte, was es war. Aber nun wollte sie es sehen! Entschlossen ging sie auf die schrill fiepende, wogende Bewegung zu. Gewiß war es kein Zufall, daß es ausgerechnet Fledermäuse waren – die bevorzugte Verwandlungsform jener Spezies, als deren natürli che Feindin Lilith geboren worden war. Als sie noch etwa fünf Schritte von der lärmenden Schar entfernt war, stob diese vom Boden hoch. Knisternd entfalteten sich Flügel, die zuvor unter der Enge gelitten hatten. Es sah aus, als würde der gesamte Schwarm auf einmal vom Boden abheben und zur Schädel decke hinaufflattern, wo sich die Flugkünstler mit den Krallen ver hakten und mit dem Kopf nach unten aufhängten … Das alles dauerte nur wenige Sekunden, dann hing eine Traube unter der gewölbten Decke, die – wie alles hier – so glatt wirkte, als könnte nichts und niemand daran Halt finden. Liliths Blick war der aufsteigenden Schar gefolgt. Sie wußte jetzt, daß es sich um keine Fledermäuse handelte, son dern um eine urzeitliche Abart dieser Tiere. Es bereitete ihr keine Mühe, sich vorzustellen, wie nur wenige von diesen Tieren in der Zukunft, aus der sie kam, Entsetzen, Panik und Tod verbreitet hät
ten … Liliths Augen fanden zum Boden zurück. Denn dort lag das, was gerufen hatte. Über den Abgrund der Zeit hinweg. Das LICHT in seiner wirklichen, in seiner unmaskierten und mate riellen Form …
* In allen Dingen ist der größten Lust der Ekel benachbart. Cicero Benommen blickte Landru zu dem steinernen Monument, das an der Stelle emporwuchs, wo die Toten gegraben hatten. Er wünschte sich die Kraft zur Ruhe, die ihn in der Vergangenheit ausgezeichnet hatte. Aber die Vitalität, vom Aasen im Blut verur sacht, war nicht von solcher Qualität, daß er daraus Zuversicht und innere Balance zurückerringen konnte. Er war zerrissener denn je. Die Toten waren verschwunden. Von Duncan Luther, der Landru zuletzt von einem Symbionten umhüllt entgegengetreten war – einer Masse wie jene, die Lilith von ihrer Mutter Creanna geerbt hatte –, gab es keine Spur. Die ganze Umgebung war verlassen. Landru, der sich in seine eigentliche Gestalt zurückverwandelt hatte, schloß nicht aus, daß die Toten in dem Felsen verschwunden waren, der die Form eines fremdartig gestalteten Schädels besaß.
Aber als er sich diesem … Bauwerk nähern wollte, um sich davon zu überzeugen, vermochte er es nicht. Es war anders als bei der grünenden und blühenden Landschaft auf der anderen Seite der Berge. Dort war, er beim Versuch, darauf zuzugehen, irgendwie vom Weg abgelenkt worden. Hier bildete sich beim Versuch der Annäherung nur ein unüber windlicher, unerklärlicher Widerwille in ihm selbst, über einen be stimmten Punkt hinauszuschreiten! Landru wußte nicht, was dieses Monument darstellte. Auch nicht, wie genau es an diesen Ort gekommen war, denn es war nicht ein fach freigeschaufelt worden, sondern erhob sich aus der Senke, als hätte man es fertig hierher verpflanzt … Er fand sich damit ab, Duncan Luther verloren zu haben, und kon zentrierte sich wieder ausschließlich auf das Wesen, das er durch den Korridor verfolgt hatte. Auf den Bastard Lilith. Den Wechselbalg, der aus der Verbindung von Menschen und Vampir hervorgegangen war – die symbolische Verschmelzung bei der Welten. Den FEIND. Fast wie ein Schlafwandler begab sich Landru zu der Stelle, wo er bei seiner Ankunft in dieser fremden Zeit den Schlangenstab vergra ben hatte. Es mehrte sein Entsetzen kaum, daß er den Boden und die Steine, die er darüber gehäuft hatte, verändert fand. Es sah aus, als hätte sich die Erde gegen das, was ihr einverleibt worden war, zu wehren versucht. Sie sah aus wie Ischtars Haut da mals, als sie … Landru taumelte unter der Wucht der Erinnerung.
Er begriff erst jetzt, was damals geschehen war. An wem Ischtar die Opferschlange auf Anums Geheiß erprobt hatte – und sich fortan gräßlich entstellt unter Lumpen den Blicken der anderen Hohen We sen entzogen hatte. Der Mann aus der Zukunft … jener Dang-K’n, der im Hause des Händlers Khorsabad auftauchte*, war niemand anderes gewesen als Duncan Luther, Liliths ehemaliger Weggefährte und Freund, der in Indien gestorben, wiedererweckt und zu ihr zurückgeschickt wor den war. Um sie auszuspionieren. Und um – – zu verschwinden! dachte Landru mit dem klammen Gefühl, das seine Benommenheit in Betäubung verwandelte. Er war nicht mehr in der Lage, das, was auf ihn einstürzte, zu ver arbeiten. Ischtar hatte die Opferschlange an Duncan Luther, dem wiederer weckten Toten, erproben wollen. Auf den Planken jener Arche, die die Hohen Wesen mit Hilfe von Nomos, der zum Seher und Sterbli chen geworden war, nach den Plänen Noes erbauen ließen … Ischtar hatte die Zähne der Schlange in das Fleisch eines Wesens gestoßen, das den Tod ›kosmetisch verhüllt‹ in sich getragen … und wie eine grausame Krankheit an sie weitergegeben hatte! Fortan hatte sie begonnen, sich zu verändern und von den ihren zu entfremden. Ihre Schönheit war zu abstoßender Häßlichkeit de generiert. Ihre Haut von einer schimmelartigen, verdorben wirken den Schicht überwuchert worden … … wie jene Erde hier, unter der die Opferschlange lag! Dieser ganze absurde Vorgang pochte gegen die ehernen Gesetze des Kosmos. Deshalb streikte Landrus Verstand. Weil er sich nicht vorzustellen vermochte, wie ein künftig geborener Mensch ein viele tausend Jahre vorher lebendes, gottgleiches Machtwesen wie Ischtar *siehe VAMPIRA 40 & 44
hatte infizieren können. Es war … … WAHNSINN! Sein eigener Aufenthalt hier war WAHNSINN! Wer ersann so etwas? Wer brannte Löcher in die Realität und schlug eine Brücke zwi schen Gestern und Morgen? WER? Und … WARUM? Wohin sollte dies alles führen …? Es gab nur eine Antwort, die Landru sich angesichts solcher Ver gehen gegen die universelle Ordnung vorzustellen vermochte. In den Untergang. Es konnte nur in den totalen Untergang führen – für alles und je den …!
* Die Träumende hatte dem Zerspringen der Runen gelauscht, hatte die Annäherung von etwas Lebendigem erfühlt und auch den Rück fluß der Zeit in jenes Gefängnis, das ER für sie geschmiedet hatte. Eine ihrer ersten Regungen im Zuge ihres Erwachens war es, Zweifel zu empfinden, ob das, was sie vorhatte, überhaupt gelingen konnte. Ob ER es zulassen würde … Hier war es passiert. Und nur hier, nur jetzt durfte sie hoffen, IHM wiederzubegegnen. Denn ER, das hatte sie bei ihren Reisen durch die Zeit erfahren, würde diese Welt verlassen. Würde nur noch we nige Male zurückkehren!
Dieser Planet würde sich selbst überlassen bleiben, sobald der Schöpfungspool die beabsichtigte Größe und den vorgesehenen In halt erreicht hatte. Die Zukunft, in der die Träumende die Weichen für ihre Rückkehr zu IHM gestellt hatte, würde eine gottlose, eine gottverlassene Zeit sein … ungeeignet für ihr Streben … Sie wußte, daß sie ihren endgültigen Tod riskierte. Nicht nur die Totenstarre ihres Körpers – auch die des geflügelten Geistes, den kein Gefängnis zu halten vermochte. ER hatte ihr das Bewußtsein gelassen, damit sie über ihre Taten nachdenken konnte. Für ewig. Daß es ihr gelingen könnte, mehr daraus zu formen als Reue, hätte sie anfangs selbst nicht geglaubt. Doch dann … Hastig verbot sie sich, an etwas anderes zu denken als an das JETZT. JETZT entschied sich, ob sie überhaupt eine Zukunft haben würde. Das Erträumte mußte sich auch hier bewähren, sonst würde sie er fahren, was der Tod wirklich war, und den Saft verlieren, der auch ihr Leben bedeutete. Wie das ihrer Geheimen Kinder … Es geschah! Jetzt! Die so lange vermißte Zeit … nun floß sie zurück! SEINE Formeln, die Runen, die das Stasisfeld erzeugt hatten, in dem sie wie in einem zeitlosen Sarg geschlafen und geträumt hatte, waren von der Stim me der Gerufenen hinweggefegt worden! Und sofort floß Blut.
IHR Blut!
* Lilith erschrak, als sie des liegenden Körpers ansichtig wurde. Er ge hörte zweifellos einer Frau, und er war enthäutet! Fast zwangsläufig erwachte in Lilith die Erinnerung an die sieben Dörfer an den Hängen des Himalaya: Orte des ›Scherbengerichts‹, eines Kults, der sich der Häute dort lebender Menschen bediente, um auf diesem magischsten aller Pergamente die EWIGE CHRONIK niederzuschreiben.* Die nichtoffizielle Geschichte der Welt, in die auch das Okkulte, das Jenseitige und Verborgene Einlaß fand. Usha hatte ebenso ausgesehen wie diese Gestalt hier. Usha, die von den Bewohnern der Tempel auserwählt worden war, der BLUT BIBEL eine neue Seite hinzuzufügen … Lilith fühlte sich außerstande, auf das entblößte, rohe Fleisch zu zugehen, das gerade vor ihren Augen zu Leben erwachte. Und das sofort zu bluten begann, weil nichts das ›Gefäß‹ versiegel te, in dem es zirkulierte … SIE STIRBT! Der Gedanke besaß die Wucht einer Explosion direkt hinter Liliths Augen. Alles um sie herum begann sich zu drehen. Die alle Dämme brechende Hysterie erfaßte sogar die unter der Decke hängenden Geschöpfe. Wild peitschten ihre Schwingen die Luft – ohne jedoch die Krallen zu lösen. Sie blieben, wo sie waren. Abwartend. *siehe VAMPIRA 6-8
Lilith begriff plötzlich, wie wenig sie wirklich über den Sinn und Zweck ihres Tuns wußte. Felidae hatte sie DIE ERLÖSERIN genannt. Bestand ihre einzige Aufgabe darin, dieses zuckende Bündel Fleisch, das nach ihr gerufen hatte, von einem Zustand des NichtSterben-Könnens in den ersehnten Tod hinüberzuführen? Hatte Li lith nur deshalb die Runenfesseln lösen müssen, um zu töten, was aus eigener Kraft nicht sterben konnte …? In diesem Augenblick geschah etwas, das alles änderte. Aber es hätte sich keinen Moment mehr Zeit dafür lassen dürfen … Rechts und links glitten schwarze, amöbenhafte Schatten an Lilith vorbei auf die Enthäutete zu: die Symbionten, die zuletzt die Toten, die Liliths Keim in sich trugen, gekleidet hatten. Diese Diener waren von den entfesselten Energien des Erwe ckungsrituals verzehrt worden – die Symbionten nicht. Sie flossen jetzt auf die Enthäutete zu. Würden sie denn wirklich den dramatischen Blutverlust stoppen können? So wie Felidaes Riemenkleid für Jahrhunderte den Zerfall ihres zerschmetterten Körpers verhindert hatte …? Reglos beobachtete Lilith, was geschah. Es ging unglaublich schnell, und die ganze Wahrheit wurde erst offenbar, als der Leib der Enthäuteten bereits vollständig ummantelt schien von … Von? In voller Konsequenz begriff Lilith das Geschehene erst, als sich die Frau, die eben noch unrettbar dem Tod geweiht schien, bereits aus eigener Kraft aufgerichtet hatte und Lilith aus Augen entgegen starrte, die wie zwei Sterne des Himmels glommen. Es war der Moment, in dem Lilith klar wurde, was Felidae und sie
über Jahre hinweg auf der Haut getragen hatten: Kein sonstwie ge artetes, eigenständiges Lebewesen, wie Lilith es stets vermutet hatte. Es war einfach eines Anderen, einer Fremden Haut. Die Haut jener Frau, auf deren rohblutendes Fleisch sie nun zu rückgekehrt war …
* »Du weißt, wer ich bin?« »Ich weiß nur, daß ich kam, um dich zu erwecken«, antwortete Li lith. »Und dafür einen Teil meines Ichs aufgeben mußte.« »Ist es dir schwergefallen?« »Ich glaube … ja.« »Und jetzt?« »Jetzt ist es mir gleichgültig.« Das Wesen kam näher. Unwiderstehlich, unausweichlich. Eine Frau von berückender Schönheit – und zugleich morbider, zerstöre rischer Ausstrahlung. Sie war etwas größer als Lilith, und noch war ihr Haupt kahl, aber das tat ihrer fast exotischen Attraktivität keinen Abbruch. Zumal das Haar bereits zu sprießen begann, als hätte es nur darauf gewartet, endlich wieder den Nährboden zu erhalten, den es brauchte. Wild und ungestüm brach es hervor – wie die Medusenhaare der Symbionten, die nun nicht mehr als solche erkenntlich waren. Die Haut, die zurückgefunden hatte, woher sie ganz offenkundig einst kam, war makellos … … bis auf eine einzige Stelle. »Du blutest noch immer«, sagte Lilith sanft. Der Ton irritierte sie
selbst. Woher nahm sie diese Anteilnahme, die an Zärtlichkeit grenzte. Was empfand sie für dieses eben noch dem Tod geweihten und nun bereits übermächtig anmutenden Wesen? »Ich weiß. Du hast mir nicht alles zurückgebracht, was ich opferte.« Lilith brauchte keine nähere Erklärung. Sie wußte sofort, wovon die Rede war: von dem Stück, das nach dem kräfteraubenden Kampf gegen Feyn, als sie sich damals in der Gefangenschaft des Militärs befunden hatte, von ihrem Symbionten abgetrennt worden war. Mit einem Laserskalpell. Von Romano und dessen Kollegen.* Sie wußte nicht, was inzwischen aus dem Teilstück geworden war. Hätte sie damals schon seine wahre Bedeutung durchschaut, hätte sie größere Anstrengungen darauf verwandt, es zurückzuerkämp fen … »Ich weiß«, seufzte die gerade Erwachte und offenbarte damit, in Liliths Gedanken zu lesen, »ich bin schuld daran. Ich ließ dich zu lange im Ungewissen … Sieh es dir an!« Sie wandte Lilith den Rücken zu. »Beschreibe es mir!« Fasziniert starrte Lilith auf die münzgroße, herzförmige Fläche, die immer noch schimmerte und näßte, als wäre es lebendiges, aber seiner Haut beraubtes Fleisch … Sie beschrieb es und fügte hinzu: »Du wirst verbluten …« »Nicht, wenn du meine Wunde versorgst.« »Was muß ich tun?« Das Lächeln auf den Zügen wurde bizarr. »Ganz einfach … mich versorgen.« Lilith blickte die Frau fragend an. Dann verstand sie, und es mach te ihr nichts aus, der Anderen zu geben, was der Anderen vermut *siehe VAMPIRA 22: ›Ausgeliefert!‹
lich ohnehin gehörte und nicht mehr vorzuenthalten war. »Ich bin schwach«, seufzte die Frau mit den rötlichen, albinoiden Augen. »Du ahnst nicht, was hinter mir liegt.« »Sage es mir.« »Du würdest es kaum verstehen.« Es war eine Lüge – eine billige Ausflucht. Lilith krümmte sich vor Enttäuschung, denn sie begriff plötzlich, daß sie aus Sicht dieses Wesens nichts anderes war (und nie etwas anderes sein würde) als ein … Werkzeug. »Ich habe funktioniert, oder?« Die Frage schien die Andere zu irritieren. Sie stand jetzt genau vor Lilith. Ihre Brüste berührten sich beinahe. Sie war wunderschön, aber irgendwie kalt. Vielleicht lag es an der Haut, die sie umgab und an der nichts mehr an den Symbionten erinnerte, der Lilith einst ge kleidet und begleitet hatte. Überallhin. Nach Indien, Nepal, Skandi navien, England, Afrika, Japan … Alles Stationen ihres Wegs, ihres Versuchs der Selbstfindung. Von Anfang an hatte sie gefühlt, daß der Körper, der für sie kon struiert worden war, nicht paßte. Nicht richtig saß. Vielleicht hatte sie schon damals am meisten gestört, daß sie Taten vollbringen soll te, die nicht ihrem innersten Wollen entsprangen, sondern ihr aufge zwungen wurden … Die abgewandelte Kelchtaufe mit Felidaes Blut hatte die Karten neu gemischt und sie dahingehend verändert, daß sie nur noch für ihre Aufgabe lebte und skrupellos deren Durchsetzung vorantrieb. Doch nun, im Angesicht des Wesens, bei dem sie Mühe hatte, es ›Frau‹ zu nennen, kehrten die Zweifel zurück. Zugleich erlag Lilith jedoch der Anziehungskraft der Erweckten. Sie hätte nie die Hand gegen sie zu heben vermocht. Ein Blick aus
den rötlich schimmernden Augen genügte, um devote Unterwürfig keit in ihr zu wecken – den Wunsch, zu dienen. Den Wunsch, alles zu geben, damit es der Neugeborenen gutging … Das Verlangen, in die tieferen Geheimnisse dieses Geschöpfes und seiner Herkunft eingeweiht zu werden, wuchs jedoch längst in Li lith. Dafür brauchte es keines äußeren Anreizes. Als sich die ausdrucksvollen Lippen näherten, war sie überzeugt, nun ihr Blut hingeben zu müssen. Aber dann erfuhr sie den Kuß, und der sinnliche Mund trank nicht Liliths Blut, sondern ihren Atem … Lilith wurde schwindelig, dann gaben ihre Beine nach. Anfangs hielt die Andere sie noch fest, doch dann, als Lilith ohn mächtig zu werden drohte und alles nur noch verschwommen wahrnahm, wurde dieser letzte Halt, dieser letzte Anker gelöst. Lilith sank zu Boden. Sie spürte kaum, wie ihr Kopf auf den Boden des Grabfelsens schlug. Sie glaubte zu spüren, wie sich die Erweckte entfernte – und das einzige, was Lilith mit in das Dunkel nahm, war die erniedrigende Einsicht und endgültige Gewißheit, daß nie daran gedacht gewesen war, sie erfahren zu lassen, wer hier vom Antlitz der Erde getilgt worden war, von wem – und warum. Lilith Eden, das Kind einer Vampirin und eines Menschen, der verhaßte Wechselbalg, hatte ihren Zweck erfüllt. Mehr als das, was sie vollbracht hatte, war in diesem Spiel der Kräfte nie für sie vorge sehen gewesen. Es war vorbei! Und die Finsternis nahm sie warm in ihre Arme. Arme, die sich anfühlten wie die ledrigen Schwingen der Kreatu ren, die sich jetzt von der Decke des Schädelfelsens lösten und derje nigen zu folgen versuchten, mit der sie untrennbar verbunden wa ren …
* Der Schmerz, als die metallene Schlange zubiß, wirkte vertraut. Bei nahe vermißt. Der Stab grub keinen seiner Zähne in Landrus Hand, sondern Drähte, die sich wie kathederdünne Röhren den Weg durch Arm und Rumpf hinab in die Tiefe seiner Eingeweide bahnten. Dort schürten sie eine Form von Durst, die nach der zurückliegen den Blutorgie absolut fehl am Platze war. »Aaaahhh …« Landrus Gedanken folgten dem Laut, der sich aus seinem Rachen stahl. Der Drang, der seinen Körper in die Metamorphose locken wollte, beinhaltete alles, was er zeit seines Lebens gesucht und häu fig gefunden hatte: Lust, Befriedigung, Sättigung. Er war nicht nur der Hüter des Kelchs gewesen, sondern auch Individuum, rastloser Jäger nach Genuß … Nona kam ihm in den Sinn. Als er sie vor Jahrhunderten traf, hatte er der Werwölfin zu ihrem eigenen Fluch auch noch den der Unsterblichkeit verliehen. Sie trug keinen Vampirkeim, aber er hatte sie das Blut eines von ihr erlegten Menschen aus dem Lilienkelche trinken lassen. Es war das einzige Experiment dieser Art gewesen. Und es hatte eine Gefährtin geformt, die alles für ihn getan hätte. Seinetwegen hatte sie sogar den verraten, dessen Liebe gewiß aufrichtiger gewe sen war als die Landrus* … Aufrichtigkeit und Treue hatten nie zu seinen Stärken gezählt. *siehe VAMPIRA 19: ›Wolfsmond‹
Sich selbst jedoch war er treu geblieben. Selbst als der Schmerz nach dem Verlust des Hüteramts am größten gewesen und er sinn suchend durch die Welt geirrt war … Wie viele Fährten hatte er verfolgt, bis die Erkenntnis gewachsen war, das Opfer eines Komplotts, einer nie für möglich gehaltenen Verschwörung geworden zu sein …? Landru starrte auf den Stab in seiner Faust, als sei er Teil dieser Verschwörung. Anum hatte die Opferschlange einst an Bord der Arche gebracht, unmittelbar vor der Sintflut. Der Stab, ein sonderbares ›Ei‹, in des sen Besitz sich Lilith gebracht hatte, und der Lilienkelch waren die drei Dinge gewesen, die Anum vom LICHT ausgehändigt bekam, um den Fortbestand der Hohen Wesen zu sichern. So hatten sie damals geglaubt. Inzwischen schloß Landru die Möglichkeit nicht mehr aus, daß ei nes dieser ›Überlebensgeschenke‹ in Wahrheit den Schlüssel zum Untergang der Vampire darstellen mochte. Er schloß überhaupt nichts mehr aus. Opferschlange und Kelch hatten ihren Sinn, ihre Bewandtnis durch Taten erklärt. Das andere Objekt aber, wie ein Ei geformt, hat te sein Geheimnis gewahrt. Keiner der Hohen Männer und Frauen hatte je erfahren, warum es die Katastrophe an Bord der Dunklen Ar che überstehen sollte. Und dann waren sie ihrer Erinnerungen be raubt worden und hatten sich niedergelegt, waren in betäubenden Schlaf gefallen. Sie alle. Als Landru daraus erwacht war, um sein Hüteramt anzutreten, war ihm keinerlei Wissen mehr an sein Vorle ben geblieben. Jeder Gedanke an die Zeit der Hohen Blüte war er stickt worden. Warum? Und was war aus den Hohen Wesen geworden, die vor ihm von
Sippe zu Sippe gereist waren, um das dunkle Dasein zu verbreiten? Was war aus den Hütern geworden, die nach jeweils tausend Jahren ihr Amt niedergelegt und an den nächsten weitergegeben hatten? Landru versuchte sich zu erinnern, ob er seinem Vorgänger begeg net war. Ob er den Lilienkelch aus dessen Hand empfangen hatte – und was dann aus diesem Bruder oder dieser Schwester geworden war … Er scheiterte. Vieles war wieder in seinem Gedächtnis emporgestiegen. Aber nicht alles … Er starrte auf die Haut seiner Hände, als erwartete er, sie von dem selben Gift, derselben Krankheit befallen zu sehen, mit dem Ischtar einst den Einsatz der Opferschlange bezahlt hatte. Aber obwohl Landrus Hände in den pervertierten Boden getaucht waren, um den Stab auszugraben, gab es keine Anzeichen dafür, daß dergleichen zu befürchten war. Das einzige, was die Opfer schlange schürte, war sein unsinniger Durst. Die kaum zähmbare Begierde nach … Landru taumelte, als hätte ihn von hinten ein Knüppel ins Kreuz getroffen. Er wirbelte herum und starrte zu dem Fels, der wie ein dämoni sches Gesicht geformt war. Noch ehe er die Bewegung dort sah, fühlte er sie … Ohne zu überlegen, warf er sich hinter die nächste Bodenerhö hung. Der Stab in seiner Hand verwandelte sich in glühendes Eisen – zu mindest brannte es so. In dieser Intensität hatte Landru dieses Tö tungsinstrument noch nie zu spüren bekommen – nicht einmal bei den Opferungen auf der Arche, als mehr Menschenblut in seine Ge därme geflossen war als jemals danach. Als die Arche im Ararat vor
Anker ging und der ganze lebende Proviant an Bord dem von Anum verordneten Massaker zum Opfer fiel! Anum, der die STIMME des LICHTS gewesen war. Was war aus ihm geworden? Dem Mächtigsten von ihnen? In sei nem früheren Leben hatte Landru oft davon geträumt, zu sein wie er … Nun waren alle, nicht nur Anum, fort. Außer ihm, Landru, schien es keine Überlebenden zu geben – und wenn doch, dann irr ten sie durch die Welt, ihres Hüteramts entlassen, oder sie schliefen noch immer den traumlosen Schlaf im Dunklen Dom und warteten auf ein Signal, das nie mehr an sie ergehen würde, weil … Weil … Mühelos vermochte er anhand des stechenden Schmerzes dem Verlauf der Drähte zu folgen, die sich durch seinen Körper gewun den hatten. Die Schreie, die aus seiner Kehle drängten, verendeten irgendwo vorher. Kein Laut schaffte es hinaus. Der brachiale Schmerz aber, die in dieser Stärke nie erlebte Marter, half ihm, den Verstand nicht völlig zu verlieren, als sich der Tag plötzlich verfinsterte. Als sich brodelnde Wolken am Himmel formten und ein Aroma die Luft würzte, das nach Verwesung, nach Verdorbenheit und Fäulnis roch … Und als SIE dort aus dem Schädelfelsen trat. SIE, die er sofort erkannte, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte. Wie jedes Kind und jeder Schreckliche seine Mutter erkennt …
* Sie blieb stehen. Hinter ihr folgte der Aussatz ihrer Träume. Das, was ihr Leib selbst in der Stasis noch ausgeschieden hatte. Was ihn nach der
Selbstenthäutung wie eine schwarze Nebelkruste ummantelt und umsponnen hatte … Flügelrauschend stoben die Fledermaus-Kreaturen in den Him mel, aus dem wieder Blitze zuckten. Eines der Traumgebilde wurde getroffen, flammte auf und regnete wie Ruß zu Boden, erreichte ihn aber nie. Die Flocken vergingen im Nichts. Im Nichts … Die Erwachte wußte jetzt, daß ER sie ins Auge gefaßt hatte. Sie sah sich nach IHM um, nach einem Hinweis, wo er sich aufhalten könn te, und schlug die Richtung ein, die ein vages Gefühl ihr wies … Sicherer werdend, setzte sie Schritt vor Schritt. Die Luft zu spüren, die ihre morschen Lungen wieder elastisch machte, war ein banales Glück. Aber es bedeutete etwas Großes, etwas kaum noch Erhofftes: Sie war zurückgekehrt! Doch für wie lange? Würde ER ihre neue Existenz zulassen? Wür de ER sie überhaupt anhören? Das Brausen in der Luft verhieß nichts Gutes. So hatte es damals begonnen … Sie verdrängte die Erinnerung an das Ende. Ihr Körper war beinahe schmerzfrei – und allein dies schien ein Wunder, nach dem, was in der Stasis alles geschehen war. Auch der Fleck auf dem linken Schulterblatt, die rotrohe Fläche, die ihre heim kehrenden Häute ausgespart hatten, stellte keine Bedrohung mehr da. Mit der Kraft, die sie aus der Gerufenen übernommen hatte, wa ren die regenerativen Kräfte ihres Körpers wieder in Gang gekom men. Das offene Gewebe hatte sich geschlossen, sah nun aus wie eine herzförmige Narbe.
Sie orientierte sich. Die ganze Umgebung wirkte seltsam fremd, obwohl es – in Echt zeit – noch gar nicht lange her war, daß sich der Schädelfelsen mit ihr in die Tiefe gesenkt hatte, daß ihre überschätzte Macht zermalmt worden war von SEINEM Willen … Subjektiv hatte sie Jahrtausende in diesem Grab zugebracht. Die Verdammnis hatte ihren Körper in dem Moment konserviert, als der Schöpfer dieser Hülle seinen Odem daraus zurückgezogen und sich endgültig von ihr abgewendet hatte … »Halt!« Der verzweifelte Schrei übertönte den Lärm des Himmels, und als sie in die Richtung schaute, aus welcher der Ruf gekommen war, sah sie das Geheime Kind unsicher auf sich zukommen. Sie blieb stehen. Sie erschrak, weil sie in Gedanken bereits mit einer anderen, un gleich wichtigeren Konfrontation beschäftigt war …
* »Ich erkenne dich!« Landrus Stimme überschlug sich. Der Schmerz in seinen Eingeweiden erreicht den Höhepunkt. Er hatte sich nicht länger verbergen können. Seine Gefühle und die sich daraus ergebenden Reaktionen des Körpers verselbständigten sich. Mutter …? Wie ein Skalpell schnitt der Gedanke tief in sein so kühles, von ge schwärztem Blut durchflossenes Herz.
Sie sah ihn an, und Landru erinnerte sich der Warnung des toten Duncan Luther: »Geh! Fliehe von diesem Ort! Du hättest nie kom men dürfen! Du warst nie bestimmt, am Beginn teilzuhaben! Geh, oder ich müßte doch noch die Hand gegen dich erheben … Ja, geh! Sofort! Verkrieche dich in der Zeit. Bei GOTT, geh …!« Zärtlich hatte der Totenmund gesprochen. Und nun erkannte er, daß es nicht Duncan Luthers Worte gewesen waren, die ihn gewarnt hatten. Nein, SIE hatte durch den Mund des Toten zu ihm geredet! Und IHR Mund, der seltsam verschwommen blieb wie alles an ihr, sagte jetzt: »Ich erkenne dich auch! Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum zwingst du mich, dich zu …?« Er trat ihr entgegen, und ihr Blick streifte das glühende Eisen in seiner Faust, ohne darauf zu verweilen. Es glühte nicht wirklich, und doch hatte Landru das Gefühl, sein Innerstes würde darauf rös ten. »Erkläre es mir!« keuchte er, und Speichel rann aus seinen Mund winkeln. In diesem Moment erkannte er, daß er sie haßte. Sie war schuld! Sie hatte ihm all das angetan, was ihn seit so langer Zeit nicht mehr zur Ruhe kommen ließ! WARUM? »Warum?« rann es über seine austrocknenden, in der Hitze Risse bildenden Lippen. »Warum hast du mich und deine anderen Kinder verlassen? Die Kinder deiner Kinder …?« Um sie herum wurde es noch dunkler. Die schweren Wolken schlossen nun fast den kompletten Himmel. Wind peitschte Landrus Nacktheit ebenso wie ihre.
Sie sah nicht aus, als hätte sie überhaupt je Kinder geboren. Ihre Haut war straff, die Figur … Landru stockte. Wieder hatte er dieses Empfinden von Unscharfe, sobald er sie eingehender zu studieren versuchte. Als hüllte etwas sie ein, das … Ihre Haut. Konnte es mit ihrer Haut zusammenhängen? Etwas daran … be unruhigte ihn. »Du hast keinen Grund, mir irgend etwas vorzuwerfen«, sagte sie, und es klang, als wäre sie in großer Eile. Als versuchte sie ihn mit ein paar hingeworfenen Sätzen abzufinden. »Euretwegen habe ich ge nug erlitten! Ihr wurdet mir zum Verhängnis, und euretwegen wur de ich in diesen Kerker gesperrt!« Sie wies hinter sich, wo der Schä delfelsen fast die Wolken zu berühren schien, so tief hingen sie. »Du weißt nichts! Du hättest bleiben sollen, wo du warst! Der Tod wird auch für dich eine Erlösung sein – wie für mich! Ruhe, endlich Ruhe … Aber ich werde sie erst finden, wenn ER mir vergibt. Wenn ich –« »Wo bin ich hier?«, unterbrach Landru sie. »Wohin hat mich der Tunnel, den ich gegangen bin, geführt?« »Du weißt es nicht? Du bist hier und weißt es nicht …?« »Nein!« Wieder sah sie sich in alle Richtungen um, auch nach oben, als er wartete sie jemanden. »Geh! Geh mir aus dem Weg! Du bist nicht schuld an meinem Leid – aber du bist einer seiner Gründe. Du bist der letzte meiner Brut, der noch am Leben ist – und ich wünschte, auch dich hätten die Steine des Doms erschlagen. Du machst es mir so schwer, IHM entgegen zutreten …« Sie verstummte. Sie kehrte ihm den Rücken.
Landru schrie auf wie ein waidwundes Tier. »Bleib! So kannst du mich nicht abspeisen! Ich verlange …« Sie lachte heiser. »Du begreifst nichts …« Und ging davon. Auf die Berge zu, hinter denen jener paradiesische Wald lag. Der Ort, zu dem Landru keinen Zutritt hatte … Landrus Blicke folgten ihren geschmeidigen Bewegungen. Sie war wunderschön. Reizvoller als alles, was er je gesehen hatte. Und gleichzeitig unnahbar. Kalt wie das Blut eines Reptils. Blut … Sein Gedärm schien zu explodieren. Seine Züge verzerrten sich. Er winkelte den Arm an und sah der Schlange in die metalli schen Augen. (Sie liebt dich nicht mehr! Sie hat dich verstoßen!) Er las noch viele andere schreckliche Wahrheiten in diesen starren Augen. Als er den Kopf hob, war sie schon weit fort, und der Him mel war ein Stück näher gerückt. Blitz und Donner spalteten die Luft. Der Sturm zerrte an Landrus Körper. Der Stab, von ihr mit keinem Blick gewürdigt, brannte sich tiefer in sein Fleisch. Sekundenlang war Landru versucht, ihn sich ins ei gene Herz zu stoßen. Das eigene Blut zu trinken und mit der Schlan ge zu teilen. Wieder irrten seine Blicke durch die Dämmerung. Seine Mutter (Wirklich seine Mutter? Warum tat sie ihm das an? Warum verweigerte sie ihm die Antworten, die ihn schon so lange quälten?) war kaum noch erkennbar, so weit hatte sie sich bereits entfernt. Ich hasse sie. Ich HASSE sie …! Die Schlange in seiner Faust lächelte. Du bist durstig, sagte sie. Ich kenne einen wunderbaren Trunk. Geh.
Hol ihn dir …! Sie brauchte keine Verwandlung, um voranzukommen. Der Sturm trug sie die Bergpfade hinauf und auf der anderen Seite wieder hin unter. Ihre Gedanken riefen und flehten, und manchmal hatte sie den Eindruck, erhört zu werden. Doch dann wiederum … Sie wußte, was sie getan hatte. Besser noch als ER wußte sie es! Aber sie hatte gebüßt. Schlimmer als jedes andere menschliche Wesen hatte sie ihre blasphemischen Verbrechen gesühnt. Wenn ER sie erneut in die Stasis bannte, nicht erhörte, würde der Wahnsinn sein Netz um sie spinnen. Und dann? Was würden ihre Alpträume dann gebären? War ER sich darüber im klaren, welche Gefahren er damit beschwor? Nein! dachte sie. Nicht schon wieder! Ich darf nicht noch einmal in die sen Teufelskreis von Gedanken geraten, die IHM die Schuld aufbürden! Nur ich bin verantwortlich – ich …! Schattenhaft stiegen die Jahrhunderte, Jahrtausende der Qual in ihr hoch. Keine Sekunde war in ihrem Grab verstrichen, das ihr Kör per nie verlassen hatte – und doch war sie durch die Zeiten mar schiert. Hatte die Spur ihrer Geheimen Kinder verfolgt und sie schließlich gefunden. Fern von IHM. Hatte sie umsorgt und geför dert, bis ER zurückgekehrt war, einen zürnenden Blick auf die Gott losen geworfen und ihnen die Wasser des Untergangs geschickt hat te. Und wieder hatte sie einen Plan entwerfen müssen, die Ihren zu retten. Es war gelungen. IHM zum Trotz. Doch das war noch zu Beginn ihrer Marter gewesen. Zu einer Zeit, da sie ihre Fehler nicht eingestehen wollte, nicht einmal sich selbst. Die Menschen sagten, Zeit heile alle Wunden.
Bei ihr hatte die Zeit Jahrtausende währender Einsamkeit alle Wunden aufgerissen, eine nach der anderen, und sie hineinblicken lassen bis auf den Grund ihrer Seele. Bis die eigene Qual, das endlo se Leid und wechselnde Einsichten in die Vergehen, derer sie sich schuldig gemacht hatte, zu ihrer Läuterung führten. Wie ER es geplant haben mußte. Allein darauf fußte ihre Hoff nung: daß ihr Leid und ihr Wandel in SEINEM Sinne verlaufen wa ren. Denn allein dies war der Grundstein für den Plan, den sie nun verfolgte. Als sie ihr Zuhause erblickte, hoch oben von den Bergen herab, be gann ihr Herz wie rasend zu schlagen. Sehnsucht überkam sie. Der Garten in der Wüste war als einziges in weitem Umkreis von gärender Finsternis, von Sturm und Donnergrollen ausgenommen. In warmes Sonnenlicht getaucht, schimmerte er wie eine traumhafte Insel am Fuß des Gebirges. Dorthin zog es die einsame Gestalt – zurück zum Ort ihrer bei spiellosen Taten. Zurück zu dem, den sie betrogen hatte. Mehr als einmal …
* Manchmal hatte Landru den Eindruck, der Sturm meine ihn. Der Sturm wolle ihn dorthin zurückblasen, von wo er unvorsichtigerund unbefugterweise gekommen war. Aber er ließ sich nicht aufhalten. Etwas in ihm war zerborsten.
Ein letzter Rest von … Hoffnung. All die Jahre hatte er sich gewünscht, es gäbe eine andere Erklä rung als diese für die Geschehnisse um den Lilienkelch. Für sein Ver schwinden. Für den Verrat Felidaes und Creannas. Für die Geburt Lilith Edens … Aber die einzige Erklärung war tatsächlich, daß die Schöpfungs macht, die hinter der Alten Rasse, hinter den Hohen Wesen gestan den hatte, sich von diesen abgewandt hatte! Er konnte sich nicht damit abfinden. Er hatte alles verloren, woran er einmal geglaubt hatte. Er war der Finsternis verschrieben, aber das, was ihm darin Halt verlieh, womit er seine Taten, die kein Mensch je gutgeheißen hätte, vor sich selbst rechtfertigen konnte, löste sich plötzlich auf, bröckelte und zerfiel, ohne daß er das geringste dagegen unternehmen konnte. Eine Welt stürzte ein. Seine Welt! Und die Schlange hetzte: Hol es dir! Hol dir den wunderbaren Trunk! Er wußte, daß es nicht wahr war. Daß er sich, auch was das an ging, etwas vormachte. Der Stab in seiner Faust, die Drähte in seinem Gedärm waren nur das, woran er seine Haßgedanken festmachte. Wovon er seine Wut und seine Verzweiflung stimulieren ließ, damit er die Kraft fand … Das Wölfische, dem er sich immer hingezogen gefühlt hatte, schi en aus ihm hervorzubrechen, schien seinen Kiefer neu zu formen, ihm ein dickes Fell sprießen zu lassen, das ihn gegen den schlimms ten aller Wünsche wappnete. Doch die Metamorphose blieb aus. Die Schreie, die er von sich gab, blieben in ihm verschlossen. Dran gen nicht aus seinem Körper heraus. Er war am Ende seiner Kräfte.
Psychisch. Die Sättigung, die sein Körper erfahren hatte, bewahrte Landru nicht vor der zunehmenden Zerrüttung seines Geistes. Er sah nur noch eine Möglichkeit, sich selbst zu reinigen, freizu machen von all den Wirrheiten, die in seinem Kopf spukten, seit er IHR begegnet war. Es kostete ihn mehr Selbstüberwindung als Kraft, um sie einzuho len. Mit einer Grimasse, in der die Kreuznarbe zu pulsieren schien, überholte er sie und verstellte ihr den Weg. Für das Paradies diesseits der Berge hatte er keinen Blick. »Warum?« schrie er in ihr Gesicht, in dem sich Überraschung und Ärger spiegelten, aber keinerlei tiefere Besorgnis. Sie nimmt mich nicht ernst, dachte er. Aber das sollte sie tun! Einen Moment sah es aus, als wollte sie sich auf ihn stürzen. Ihrem Körper das Gewicht dieses Berges verleihen und Landru darunter zermalmen. Er wußte nicht, ob sie dazu fähig war. Er fühlte nur, daß sie auf dem Weg war, etwas zu tun, was sie end gültig von ihren Kindern und Kindeskindern lossagte und die Alte Rasse dem Verderben anheimgab. »Wo ist Lilith?« keuchte er. »Wo ist der Bastard, der gezeugt wur de, um den Weg hierher zu öffnen?« »Ich bin Lilith!« hielt sie ihm entgegen. »Vergiß die Andere, die meinen Namen trägt. Sie war nur wichtig, um mich aus dem Kerker zu befreien, den meine Träume allein nicht zu sprengen vermochten …!« Er starrte sie an. Nicht wichtig, wisperte es in seinem Hirn. Ihr ist nichts von Wert au ßer sie selbst …
ICH HASSE SIE! OH, WIE ICH SIE HASSE! Und mit diesem Gedanken warf er sich auf sie. Er tat, was ihm in diesem Moment die einzige logische Antwort auf ihre Verachtung zu sein schien … Er wollte, daß sie büßte, was sie ihm angetan hatte …!
* Lilith kam zu sich. Ihr Bewußtsein durchstieß die Mauer aus läh mender Schwäche. Sie erinnerte sich an das Blut, das aus der herzförmigen Wunde am Rücken der Frau ausgetreten war. Es war rot gewesen. Rot! Nicht schwarz! Sie hat auch nicht mein Blut getrunken, dachte Lilith. Ihr Diebstahl war anderer Natur. Ich kann mich kaum noch … bewegen … Lilith hob mühsam den Kopf. Entsetzt blickte sie an sich herab. Ihre Hände, die Arme, Beine … alles war faltenübersät. Sie sah aus wie die Hundertjährige, die sie tatsächlich war. Als hätte sich je mand die geliehene, angehaltene oder verlangsamte Zeit zurückge holt – um die eigene Beweglichkeit und Stärke zu steigern …! Matt sank sie zurück. Ihre Blicke tasteten durch das leere Gewölbe bis hinauf, von wo die seltsamen Tiere auf sie herabgestarrt hatten. Keine wirklichen Fle dermäuse. Eher traumverzerrte Abbilder davon. Jenen angriffslusti gen Hybriden ähnlich, die Lilith damals heimgesucht hatten, als sie in Himachal Pradeshs Begleitung zu den Tempeln des Himalaya aufgestiegen war.
Die Tempel. Die EWIGE CHRONIK. All diese Begebenheiten, die sie auf ihrer Suche nach dem Lilien kelch und ihrer Bestimmung zusammengetragen hatte, schienen Steine desselben Mosaiks zu sein … Ich werde sterben, ohne die Geschichte zu erfahren, dachte sie. Die Ge schichte dieser Frau, vor der mir schaudert. Was habe ich getan? Was habe ich alles zerstört? Beth ermordet – durch meine Hände. Duncan tot durch den verfluchten Keim, den ich in ihn pflanzte … Sie suchte nach Indizien, daß diese Erkenntnisse mehr in ihr be wegten als die Enttäuschung, die immer noch jedes Gefühl domi nierte. Nein, zu Mitleid mit ihren Opfern war sie nicht fähig. Nicht mehr. Auch das war ihr genommen worden. Ich werde sterben, dachte sie noch einmal, während sie den Fortlauf der Alterung ihres Körpers studierte. Der Lippenkontakt mit der Erweckten schien etwas in Gang ge setzt zu haben, das nun nicht mehr zu stoppen war. Alt werden, sterben, dachte Lilith. Bin ich nur gekommen, um den Platz einer anderen in dieser kalten Gruft einzunehmen? Sie schloß die Augen. Müde. Furchtbar müde. Und dann – hörte sie es. Noch einmal erging der Ruf des LICHTS an sie. Verzweifelter, düsterer, ehrlicher als jemals zuvor …
*
Ein erbarmungsloser Zweikampf war entbrannt. Mutter und Sohn legten alle Zurückhaltung ab, und der ehemalige Hüter ergab sich dem rotierenden Irrsinn seiner Gefühle. Lilith! hämmerte es in Landrus Schläfen. Lilith! Lilith! Lilith! Diese Frau, die ihn geboren und verstoßen hatte wie zwei Dutzend andere, behauptete denselben Namen zu tragen wie die ketzerische Frucht, die in Creannas Bauch herangewachsen war. Einen Moment erinnerte sich Landru beinahe genüßlich, wie er Sean Lancasters Kopf in Sydney vom Rumpf getrennt hatte. Im Gar ten des Hauses 333, Paddington Street … Dann war dieser Splitter an ihm vorbeigerast. Zurück in die Tiefe gefallen, die noch mehr Grausamkeiten verbarg. Das Leben war grausam, war Kampf. Ewiger Streit zwischen ›Gut‹ und ›Böse‹, Licht und Dunkel, Ordnung und Chaos. Landru stand auf der Seite des Chaos … und seine Mutter? Jenes Wesen, das ihn so erstaunt ansah, daß er für Momente sogar die Schlange in seiner Faust vergaß … Er hatte die bleiche Frau zu Boden gerissen, und gemeinsam roll ten sie den steilen Pfad hinab, der am Fuß der Berge endete. Es wa ren nur wenige Meter, aber sie vermittelten Landru bereits ein er schreckendes Bild seiner Gegnerin. Er hatte noch nie jemanden berührt, das sich so anfühlte. Ihre Haut war elastisch, aber chitinhart wie die eines obskuren Insekts. (Einer Gottesanbeterin.) Dann spürte er ihre Fingerspitzen in seinem ungeschützten Fleisch versinken. Ihr Gesicht tauchte über ihm auf. Atem, erregend fremd, erregend anders, züngelte über das Kreuzsymbol seiner Wange. Sie beugte sich vor und … küßte dieses Stigma aus den Tagen, als er
noch den Kelch besessen und mit ihm untotes Leben verbreitet hat te. Ihr Kuß entlud sich wie ein brutaler elektrischer Stoß, aber weiter hin blieben ihre Lippen wie ein Egel an seinem Gesicht kleben. Er meinte zu stürzen. In einen tiefen, dunklen Brunnen zu fallen. Ein Loch, einen Abgrund, der von diesem Ende des Universums bis zum anderen reichte … Ihr Lachen klirrte wie Glas. Wie zerreißendes Blech. Ihre Hand bekam seinen Hals zu fassen – und drückte zu. Landru glaubte den Knorpel seines Kehlkopfs knirschen zu hören. Feuerräder rotierten vor seinen Augen. Er atmete den Duft der Mut ter ein. (Warum hast du mich verlassen? Warum?) Seine Augen quollen aus den Höhlen. Die Faust, in der die Opfer schlange Wurzeln geschlagen hatte, pulsierte wie eine offene, furcht bare Wunde. Einmal meinte er, verschmortes Fleisch zu riechen – sein eigenes. Aber es waren nur Wahrnehmungen, die ihm sein überdrehter Verstand einredete. Er holte aus – und schlug zu. Schmetterte den weit geöffneten Schlangenrachen mit den hervor stehenden Zähnen gegen die Frau, die ihn geboren hatte … … und schrammte ab, ohne Wirkung zu erzielen. »Narr!« lachte sie. »Ich bin unverletzbar gegen das, was du mir an tun könntest! Was glaubst du, wer du bist? Was glaubst du, was du in der Hand hältst? Meinst du, ich lasse mich mit meinen eigenen Waffen umbringen …?« Es gelang ihm, ihren Würgegriff abzuschütteln. »Sag es mir!« krächzte er. »Sag mir, wer ich bin! Warum du mir das antust. Und den Kindern deiner Kinder! Hätte ich den geringsten Zweifel, daß du mich geboren hast, wäre alles leichter – aber ich
spüre es! Ich erinnere mich, in dir gewesen zu sein. In deinem Bauch …« »Schweig!« Sie klang, als wollte sie nicht daran erinnert werden. »Ich hasse dich!« Wieder holte er aus. Diesmal trafen die Zähne ihr Gesicht. Die glatten, bleichen Wangen … Aber sie schafften es nicht einmal, ihrer Schönheit einen Kratzer zuzufügen! Freiwillig löste sie die Lippen von seiner Narbe. »Du würdest mich besser verstehen, wenn du wüßtest, wie es ist, Jahrtausende in der toten Starre zuzubringen. Nicht bewußtlos, son dern bewußt. Aber hilflos. Zuerst ganz und gar hilflos. Es dauerte so lange, bis ich erkannte, was möglich war. Aber selbst dann noch sah ich die Jahrhunderte vorbeiströmen, ohne ihnen folgen zu dürfen. Aber ich durfte zusehen. Durfte alles sehen, was draußen geschah. Es war SEINE Strafe, mich nicht einfach zu töten, sondern den Lauf der Welt mitansehen zu müssen, während ER sich von seiner Schöp fung entfernte.« Der Fluß ihrer Worte kam ins Stocken. Eine Weile lagen sie re gungslos ineinander verschlungen am Boden. Ihre Worte wirkten in Landru nach, und fast sah es aus, als könnten sie den lodernden Haß in ihm dämpfen, löschen … »Was hast du getan, daß du so bestraft wurdest? Wofür wurdest du bestraft? Und von wem?« Sein Blick floh kurz zum bleiernen Himmel – dann dorthin, wo der paradiesische Wald im Schein der Sonne lag … Aus diesen beiden Richtungen hatte er sich, seit er hier war, beobachtet und taxiert gefühlt. Von Augen, die er niemandem hatte zuordnen können und die dennoch auf ihm gebrannt hatten wie … Feuer! »Genug! Du hältst mich auf, vergeudest meine Kraft, und ich weiß
nicht, wieviel Zeit mir bleibt, mich IHM zu stellen! Deine Zeit ist nun gekommen …« Soviel Anmut lag in ihren Bewegungen. Und soviel Kraft, unheimliche, widernatürliche Kraft. Sie griff nach dem Schlangenstab. Landru ahnte, was sie vorhatte. Sie wollte die Opferschlange neh men und gegen ihn richten! Wenn das geschah … Er riß den Arm zurück. Aber sie hatte bereits das Gelenk zu fassen bekommen, und der Ruck, mit dem sie seine Ausweichbewegung stoppte, wirkte so erschütternd mühelos, daß Panik in Landru auflo derte. »Neeeiiinn!« brüllte er. Er versuchte seine Magie zu entfesseln. Den lächerlichen Rest des sen, was hier davon geblieben war. In ihm wurde es so finster wie um ihn herum. Er konzentrierte sich. Er dachte daran, daß er – wenn er sterben mußte – sie mitneh men wollte. Mit in das Reich der Schatten. In das jenseitige Land … Sie ist nicht so stark, wie sie sich gibt! redete er sich zu. Sie wurde schon einmal besiegt! Tief drinnen wußte er, daß er sich selbst belog. Aber er klammerte sich an den Strohhalm seiner Rache. Sie zog die Hand, die den Schlangenstab hielt, auf sich zu. Er lockerte seinen Widerstand, als wäre er bereits gebrochen. Sie ließ sich täuschen. Ihr Griff verlor seine zwingende Kraft. Tri umphierend griff sie nach dem Stab selbst … In diesem Augenblick hüllte Landru seinen Arm in züngelnde Blit ze. In magisches Feuer, das ihm nicht schadete – und seiner Wider sacherin auch nicht.
Aber es lenkte sie ab. Es ermöglichte ihm, den Arm aus ihrer Umklammerung zu befrei en, ihn hochzureißen und zuzuschlagen. Einmal, zweimal … Blind. Wohin er traf, wurden die Zähne der Schlange abgeschmettert. Seine Mutter lachte heiser. (Mutter …!) In diesem Moment traf die Opferschlange etwas … Weiches, Nachgiebiges … und das Lachen, das im Sturm trieb, wandelte sich zu einem Schrei. Landru hielt verblüfft inne. Und dann kam es. Noch ehe er überhaupt begriff, was geschah, floß das Blut. Ihr Blut! Die Schlange hatte gefunden, wonach ihr die ganze Zeit schon dürstete …
* Es war, als würde Lilith die Stille der Gruft mit hinaus ins Freie neh men. Die Umgebung des Schädelfelsens schien in völligen Stillstand verfallen zu sein. Nur über dem fernen Gebirge tobte ein in seiner Lautlosigkeit mindestens ebenso gespenstisches Unwetter. Dreimal setzte Lilith zur Verwandlung an, ehe ihr um seine Ju gend betrogener Körper sich mühsam in die Luft erhob und auf das Zentrum des Sturms zuflog. Lilith gehorchte dem fernen Flehen fast reflexartig. Sie dachte
nicht darüber nach, ob sie es schaffen würde, den Ursprung des Ru fes zu erreichen. Sie lebte nur noch im Jetzt. In ihr war eine Leere, die keine Hoffnung mehr barg. Nicht mehr für sie selbst. Nach der erstickten menschlichen Stimme war nun absehbar, wann auch die vampirische in ihr verstummen würde … Lilith hörte auf, darüber nachzudenken. Benommen gab sie sich dem Schlag ihrer Flügel hin und der sonderbaren Ruhe, durch die sie sich auf ein Zentrum chaotischer Luftströmungen zubewegte. Aber noch ehe Lilith die stürmische Zone erreichte – endete auch dort jede Bewegung. In meiner Nähe erstirbt alles, dachte sie, obgleich sie sich nicht wirk lich für die Ursache der einkehrenden Ruhe hielt. Sie überquerte die Bergzinnen … … und zum erstenmal erspähte sie den Garten, von dessen Exis tenz sie nicht gewußt hatte. Dieses wie eine Fata Morgana in der Wüste flirrende Gebiet, eine unglaubliche Oase, in der sich Leben tummelte, wie Lilith es noch nie zuvor gesehen und gespürt hatte! Sie konnte gar nicht anders, als den Kurs dorthin zu ändern … Bis der Ruf erneut aufklang. In jeder Faser ihres Seins. Lilith ging tiefer. Was sie empfand, als sie die Frau reglos zwischen Sand und Felsen liegen sah, konnte sie nicht in Worte fassen. Vielleicht war es Genugtuung. Vielleicht steigerte es aber auch nur die Leere in ihr, weil es den Anschein weckte, als hätte nun alles, was sie je an Opfern gebracht hatte, seinen Sinn verloren! Die Rückverwandlung fiel ihr spürbar schwer. Ihre Konturen und Gliedmaßen schienen unschlüssig, ob sie sich überhaupt noch ein mal in die Form bringen sollten, in die sie bei der Geburt gepreßt
worden waren. Liliths Atem ging rasselnd. Dann kniete sie neben der leblos Daliegenden, die ihr die Jugend gestohlen hatte. Im ersten Moment sah sie aus wie tot. Sie lag auf dem Bauch, und in ihrem Rücken klaffte die Wunde, die schon einmal geblutet hatte. Nun sah sie aus wie ein ausgefranstes Herz. Als hätte etwas seine Klauen hineingegraben und schrecklich darin gewütet … Als Lilith nach dem Puls tastete, merkte sie, wie die Erweckte ihre Fühler nach ihr ausstreckte. Hilf … mir …! Kein gesprochenes Wort fiel. Lilith spürte die Stimme direkt und intimer als jede andere Art der Verständigung tief in ihrem eigenen Bewußtsein. Ihre erste Reaktion war Abwehr. Verneinung! Bitte …! Ich werde sterben – wegen dir! dachte Lilith. Du bist der schlimmste Vampir, den ich je traf! Du hast mir mein Leben – Sie unterbrach sich. Ihr Blick fand etwas, das unweit des niedergestreckten Körpers lag. Sie erkannte den Stab sofort. Es war jener, der in Tokio aus dem Safe ihrer Penthouse-Wohnung gestohlen worden war. Der Stab, der den Sammler Tomaso an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte und mit dem sie selbst unangenehme Erlebnisse verband … Wie kam er hierher? »Wer war hier?« fragte sie laut. »Hat sich dir jemand in den Weg gestellt, mit diesem … Ding?«
Sie war sicher, daß die Erweckte wußte, was gemeint war. Aber wieder klang nur der Hilferuf in ihr auf. Keine Antwort auf ihre Fragen. Lilith straffte sich, soweit dies in ihrem altersgebeugten Körper noch möglich war. »Du hast keine Macht mehr über mich. Ich fühle und höre dich – aber du kannst mir nichts mehr anhaben! Offenbar hast du bekommen, was du verdienst. Hier endet dein Weg – wie immer er begonnen hat … Du hast dich überschätzt …« Was glaubst du – zu gewinnen – wenn ich – sterbe …? hauchte die Sterbende, deren Haut nicht anzusehen, war, daß sie je einen ande ren gekleidet hatte. Lilith ertappte sich dabei, daß sie bedauerte, nie zu erfahren, wie alles zusammenhing. Und daß sich dort, woher sie gekommen war, in der fernen, künftigen Gegenwart, nichts, gar nichts an den Macht verhältnissen ändern würde. Die Vampire würden weiter ihr Unwesen im Verborgenen treiben. Würden Grausamkeiten verschleiern und Weichen stellen können, ihre Macht auch weiterhin zu festigen. Sie waren immer noch ge nug. Auch wenn der Lilienkelch nie wieder in ihre Hände fallen würde. Die Welt war voll von ihnen und ihren Dienerkreaturen! Der ganze zweijährige Kampf, den Lilith ihnen geliefert hatte, war letztlich … umsonst. Selbst wenn sie sich jetzt in den Korridor begab und ins Uruk der Gegenwart zurückbegab, würde das nur den Zeit punkt ihres Todes ändern, nicht den Tod selbst. Die gestohlene Ju gend konnte ihr niemand mehr zurückgeben. Diejenige, die es viel leicht vermocht hätte, hatte bereits alles verbraucht, lag selbst in den letzten Zügen … »Ich müßte dich hassen«, murmelte Lilith. Tu es! antwortete die Andere. Haß vermag … so viel! Haß hat mich
vielleicht … meine letzte Chance gekostet … »Ich kann es nicht«, sagte Lilith. »Selbst das Gefühl zu hassen hast du mir geraubt. Der Kelch. Felidaes Blut … Ich bin das Werkzeug, das du wolltest!« Hilf mir! Es ist die einzige Chance! »Worauf?« Es … ungeschehen … zu machen …! »Was?« Mein … Verbrechen … »Ich kenne deine Verbrechen!« Nicht das … schlimmste … »Du kannst mich nicht überzeugen! Wir beide werden sterben! Hier, jetzt!« Dann wäre alles … verloren … »Es ist alles verloren!« Nein … Lilith drehte die Erweckte auf den Rücken. Nirgends war Blut zu sehen. Auch dort nicht, wo das zerfetzte Fleisch aus dem herzförmigen Loch in der Haut hing. Kurz schweifte Liliths Blick dorthin, wo sich der paradiesische Wald erhob, und sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Bewertet … Ich werde … es … versuchen …, seufzte die Stimme in ihr. »Was versuchen?« fragte Lilith rauh, während ihre Blicke zurück fanden und sich an die gläsern starren Augen eines Körpers hefte ten, in dem nur noch ein Funke gestohlenen Lebens war. Leben, das keinem mehr nützte.
Dich zu … überzeugen …! Das wird dir nicht gelingen, dachte Lilith. Der Körper am Boden bäumte sich auf, als erlitte er den endgülti gen Todesstoß. Vorbei, dachte Lilith. Es ist vorbei. Doch im nächsten Moment kamen Bilder. Eine Flut fremder, zu erst verschwommener, dann immer klarer werdender, zusammen hängender Eindrücke und Erinnerungen … Ich bin …, erfuhr Lilith …. nicht von Satan, sondern von … Gott gebo ren! Ich war … die erste Frau, die er schuf! Das Urweib, das versagte … Und dort drüben, in jenem Hort der Schöpfung, hat alles begonnen …
* Wie alles begann Ich erwachte mit diesem trunkenen Gefühl berstender Lebensfreu de, an dessen Echo ich mich auch später noch oft zu klammern ver suchte. Um mich herum war es hell, und vielleicht milderte dies ein wenig mein Glück, doch damals war mir noch nicht bewußt, daß das Dun kel mich mehr anzog, mir mehr wohlige Geborgenheit schenkte als das Licht. Meine Augen weideten auf dem, was mich mehr interessierte als die Umgebung, in der ich geworden war: auf mir selbst! Erst nach einer Weile bemerkte ich, daß neben mir, schlafend, noch jemand lag, der kurz darauf erwachte. »Benenne dich«, sagte ich.
»Ich bin Adam«, erwiderte er. »Ich bin Lilith.« »Ich weiß. Du wurdest mir versprochen.« Er reichte mir die Hand. »Komm, laß uns gehen.« »Wohin?« »Es ist unsere Aufgabe, alles, was wir sehen, zu benennen. Allem einen Namen zu geben, wodurch es erst seinen künftigen Bestand erhalten wird …« »Wer gab uns die Namen?« Adam wies mit dem Arm zu einer mächtigen Säule, die vom Bo den bis zum Himmel reichte und dort das Gewölbe zu stützen schi en. Ich nickte, denn seine Worte hatten mich seltsam berührt. Er war anders beschaffen als ich, und während ich ihn anstarrte, hatte ich das Gefühl, selbst beobachtet zu werden. Nicht nur von diesem Mann, sondern auch von dem, was in dem Pfeiler des Himmels wohnte. Adams Gesicht war glatt und bartlos. Lediglich auf seiner Brust und um sein Geschlecht sprossen ein paar Haare. In der Entfernung grasten zutraulich wirkende Tiere. Ich versuchte zu tun, was Adam mir gesagt hatte, aber ich scheiterte und konnte sie nicht benennen. Auch der Mann vermochte es nicht, wofür er folgende Erklärung hatte: »Sie sind nicht von Dauer. Es sind bloße … Versuche. Finger übungen unseres Schöpfers …« Er lächelte zum erstenmal, als könn te er damit die Unsicherheit verbergen, die ihn bei seinen eigenen Worten beschlich. »Und wir?« fragte ich besorgt. »Was sind wir? Auch nur …?« »Das weiß nur ER«, fiel er mir ins Wort.
»Du bist älter als ich. Vielleicht hast du deshalb tiefere Einsichten. Weißt du auch, woraus wir geformt wurden?« Adam zeigte zum Boden. »Aus … Erde?« »Alles ist aus demselben Stoff. Jedes Tier, jede Pflanze …« Ich nahm es hin – obwohl … Schon damals spürte ich, daß mehr als nur Irdenes, mehr als nur Stoffliches in uns zusammengefügt wor den war. Adam und ich, wir waren anders als die Tier- und Pflan zenvielfalt, die uns umgab. Wir hatten beide etwas von … IHM mit bekommen! »Komm«, sagte er wieder und reichte mir die Hand. Ich löste mich aus meinen Gedanken. Meine Finger schmiegten sich um die seinen, und das Gefühl war angenehm. Dann hörten wir beide ein Geräusch. Das Geräusch, das IHN begleitete, als ER kam, um zu sehen, ob ich seinen Vorstellungen entsprach. Und ohne daß es mir jemand sagte, wußte ich, daß diese Begegnung darüber entscheiden würde, ob ich von Dauer sein durfte – oder nicht …
* ER war Macht. Pure Macht. Ich sah IHN nicht. Ich hörte nur das Ge räusch, das IHN begleitete beim Gang durch SEINE Schöpfung. Und die Stimme, mit der ER sich uns mitteilte, war nichts, was sich mit unserer Art zu reden vergleichen ließ. In dieser Stunde erfuhren wir, was außer dem Benennen der Natur noch von uns erwartet wurde. Daß wir die Urzelle eines Volkes bil den sollten, das sich diese Welt Untertan machen und über sie herr schen sollte. Herrschen über jedes andere Lebewesen, über die Vö
gel im Himmel, die Fische im Wasser und die Tiere zu Lande! Wir waren auserwählt, und dieser Garten war der Ort, von wo aus wir uns mehren und ausbreiten sollten. Die Früchte der Bäume und Sträucher sollten uns zur Nahrung dienen, nur zwei Bäume, direkt neben der Säule, die zum Himmel reichte, blieben davon ausgenom men. ER nannte sie den Baum des Lebens und den Baum der Er kenntnis. Sollten wir je von letzterem essen, so würden wir sterben.* Ich wußte sofort, daß ER uns damit versuchen wollte. Warum wa ren diese Bäume sonst so leicht erreichbar für uns …? Als ER gegangen war, brachen auch Adam und ich auf, seinen Willen zu erfüllen. Aber noch einmal schweiften meine Augen zu der Gruppe Tiere, die ich bei meinem Erwachen als erstes wahrgenommen hatte und von denen Adam festgestellt hatte, sie wären nicht von Dauer. Ich behielt für mich, daß ich sie wunderschön fand, phantastisch ge lungen, und daß ich mir vorzustellen versuchte, wie sie wohl mun den mochten …
* Als es Abend wurde und sich der erste Tag meines Lebens dem Ende zuneigte, rasteten wir am Ufer eines kleinen Sees, auf dem sich Wasservögel tummelten. Ich sah auch Bewegung unter der Oberflä che, und gemeinsam mit meinem Gefährten nannte ich alles beim Namen, was ich erkannte. Wofür uns keine Namen einfielen, ordnete Adam jenem zu, was nicht von Dauer sein würde – aber befremdlicherweise war es stets das, was mir selbst am interessantesten erschien, und ich wünschte *es sind tatsächlich zwei Bäume; siehe Bibel
mir nichts mehr, als daß mir ein Begriff dafür eingefallen wäre, um es zu erhalten … Den Kopf in Adams Schoß gebettet, versuchte ich mit ihm darüber zu sprechen. Aber er sah mich nur verwirrt an. Und nicht frei von Vorwurf. »Es … gefällt dir? Dieser Geschuppte dort zum Beispiel, der uns schon die ganze Zeit aus dem dunklen Wasser heraus anstarrt …? Ich kann nicht glauben, daß du …« Ich verschloß seine Lippen, indem ich ihn zu mir herabzog und ihn küßte. Beinahe zu spät hatte ich begriffen, daß wir uns nicht nur im Geschlechte unterschieden. Ich brachte ihn dazu, mich in seine Arme zu nehmen. Unbeholfen fanden wir zueinander … … und schon am nächsten Morgen fühlte ich, daß etwas anders geworden war. Ich watete allein ins seichte Wasser des Sees, während Adam noch schlief, und lauschte dem, was die Fische mir zu sagen hatten. Stumme Weisheiten, die mich ein wenig ablenkten von dem, was ich nicht benennen konnte. Mein Körper glühte noch nach von dem, was Adam und ich getan hatten. Mein Herz schlug schnell, und nicht einmal die Kühle des Sees konnte es beruhigen. Als ich Adam nach mir rufen hörte, kehrte ich zu ihm ans Ufer zu rück. »Wo warst du?« »Baden.« Er nickte, und den Rest des gerade begonnenen Tages, und auch die folgenden brachten wir damit zu, uns in dem Garten, den Gott uns geschenkt hatte, einzurichten. In der ersten Zeit durchstreiften
wir den Wald, der seine Grenzen hatte, nur gemeinsam. Von Tag zu Tag aber wuchs meine Unruhe, von der ich zunächst nicht wußte, worauf sie sich bezog. Doch dann merkte ich, wie Adams Nähe ihren Reiz für mich verlor, wie ich immer häufiger al lein durch die Weite des Gartens schlenderte, in dem das meiste be nannt war. Aber täglich erschien Neues, wie aus dem Nichts heraus, geformt aus dem Stoff, aus dem alles ist, und so hörte die Aufgabe, die uns erteilt worden war, nie ganz auf. Während ich sie zu vernachlässigen begann und es oftmals Adam überließ, die Dinge beim Namen zu nennen und ihnen dadurch Wirklichkeit einzuhauchen, spürte ich zunehmend, daß etwas in mir vorging. Daß ich – im kleinen – tat, was Gott im großen bewältigte. Ich war dabei, selbst etwas zu erschaffen. In mir reifte neues Leben! Doch statt mich darüber zu freuen, verfiel ich in unerklärliche De pressionen, die mich zunächst sogar hinderten, es dem Vater des Kindes zu offenbaren. Bald, das wußte ich, würde es sich jedoch nicht mehr verheimli chen lassen. Nicht vor Adam – und schon gar nicht vor GOTT …
* In diesen Tagen, da ich zu erkennen begann, daß mich weit mehr von Adam unterschied als nur die Äußer- und Innerlichkeiten unse rer Körper, plagten mich Träume, in denen ich mir selbst begegnete. Oder genauer: einem dunklen, im Wachzustand unterdrückten Teil von mir! Ich träumte davon, mit meinem Kind fortzugehen und an einem
Ort zu leben, wohin weder Adam noch Gott gelangen konnten … … und jedesmal erwachte ich schweißgebadet neben dem Mann, der seinen Samen in mich gepflanzt hatte. Auf Geheiß dessen, der alles Leben auf dieser Welt aus seiner Vorstellung heraus schuf – und es dann jeder Art selbst überließ, sich zu mehren und fortzu pflanzen. Wie Adam und ich handelte jedes kriechende Tier, jede im Schlick des Sees verborgene Muschel, jedes Insekt und jeder Vogel, der sei ne Bahnen am Himmel zog oder sein Nest im Geäst der mächtigen Bäume erbaute … Während ich mich fragte, was mit mir fehlgegangen war und ob ich zu denen gehörte, die in diesem Garten lebten, aber ›nicht von Dauer waren‹, erklärte mir der Vater des Kindes, das ich unter mei nem Herzen trug, wie er den lebenserhaltenden Fluß benannt hatte, der nicht nur den See speiste, an dem wir lebten, sondern den gan zen blühenden Garten. »Es ist der Paradiesstrom. Von ihm zweigen vier Arme in alle vier Richtungen des Himmels ab. Einen nannte ich Pischon. Er wird eines Tages bis Chawila, ins Goldland, reichen. Den zweiten nannte ich Gichon. Er wird das Land Kusch umfließen. Der dritte heißt Tigris, der vierte Euphrat.« »Gute Namen«, lobte ich, obwohl ich wünschte, er hätte mich al lein gelassen. Doch statt zu gehen, setzte er sich neben mich und nahm meine Hand, wie er es zuvor nur am ersten Tag unseres Seins getan hatte. »Was ist mit dir? Du bist so verändert. Nicht erst seit heute, schon eine ganze Zeit. Ich wollte IHN schon um Rat befragen, denn ich weiß mir nicht mehr zu helfen …« Ich erschrak. Wenn er Gott aufsuchte, würde dieser – spätestens dann – erkennen, was ich bisher zu verheimlichen wußte.
Doch da wir nackt waren, entging auch Adam nicht, wie sich mein Bauch täglich ein wenig mehr rundete. Und als ich nun seine Blicke auf der Wölbung ruhen sah, log ich: »Ich wollte warten, bis man es sehen kann. Ich dachte, es freut dich dann um so mehr …« Erwartungsvoll sah er mich an. Aber ich brachte die Worte kaum über die Lippen: »Ich – erwarte – ein – Kind …« Er lächelte. »Das ist es also. Wie schön«, sagte er, erhob sich und nahm seine Arbeit wieder auf. Da wußte ich endgültig, daß das Kind mir gehören sollte. Nur mir …
* Die beiden verbotenen Bäume besaßen eine unwiderstehliche Anzie hungskraft. Nachdem mein Geheimnis Adam offenbart war, hatte ich weniger Scheu, mich auch in SEINER Nähe zu bewegen. Viele Stunden brachte ich unter den reich beblätterten Wipfeln zu und be trachtete die Früchte, die im Gezweig hingen. Der Baum des Lebens trug silberne Äpfel, der der Erkenntnis gold farbene. Vergeblich suchte ich nach einer Frucht mit der Farbe, die ich am meisten verehrte, obwohl sie keine wirkliche Farbe war: Schwarz. Im Schatten des einen oder anderen Baumes sann ich nicht nur über das Verbotene nach, das zum Greifen nah über mir hing, son dern mehr noch über die Früchte in meinem Leib. Früchte, nicht Frucht.
Ich hatte bemerkt, daß mehr als ein Leben in mir heranwuchs. Meine Träume hatten es mir verraten, und bald darauf auch mein ei genes, sensibler gewordenes Gespür für die Vorgänge in meinem Leib, der von Tag zu Tag praller und mächtiger wurde. Auch die Be wegungen darin waren nicht mehr nur fühlbar, sondern oftmals be reits sichtbar. Wie Beulen traten dann Erhebungen hervor, die wie der verschwanden, sobald die Kinder in mir eine andere Position wählten … Ich war fasziniert. Und entschlossener denn je, von hier fortzuge hen. Allein mit ihnen zu leben. Irgendwo. Nur nicht in dieser Umge bung, unter den Augen einer Macht, die … … ich ablehnte. Ja, ich glaubte immer mehr, daß ich zu denen zählte, die IHM miß lungen waren und die ER ohnehin seines Paradieses verweisen wür de. Was ich nicht verstand, war, warum ich nicht längst durchschaut war. Eigentlich hätte ER mich sofort meines Namens berauben und verstoßen müssen: Daß es nicht geschah, ließen erste Zweifel an SEI NER Allmacht aufkommen. Aber war es wirklich denkbar, daß sich Gott von jemandem wie mir täuschen, belügen und betrügen ließ …? Vielleicht hätte ich es erfahren, wenn ich vom Baum der Erkennt nis gekostet hätte … Doch soweit ging ich nicht. Das einzige, worauf ich mich von nun an stärker einließ, waren meine Träume. Das Sehnen nach Dunkel heit, das mir anfangs krankhaft erschienen war, in dem ich aber Trost fand wie nirgends und bei niemandem sonst …
*
Die Tage vergingen im ewigen Frühling dieses Ortes, dessen Bedeu tung ich mehr und mehr durchschaute. Manchmal glaubte ich, es würde genügen, die Früchte auf dem Baum der Erkenntnis anzuse hen, um mir das enthaltene, verbotene Wissen anzueignen. Gott verließ sein Heim, jene in den Himmel schießende Säule aus unbekannter Energie, selten. Aber dann und wann hörte ich das Ge räusch, das IHN begleitete. Und meist schlug ich dann einen ande ren Weg ein, um IHM auszuweichen. Einmal gelang dies nicht, und SEINE Nähe, die ich urplötzlich spürte, ließ mich bereits vermuten, daß nun der Moment gekommen sei, da ER mich verstoßen würde. SEINE Worte schienen dies zunächst zu bestätigen. ›Ich sammele meine Fehlschläge ein‹, teilte er mir auf unausge sprochene Weise und so tief in mir mit, daß ich sicher war, jetzt gäbe es keine Ausflucht mehr, jetzt müßte er meine verzweifelte Abnei gung ihm und diesem Ort gegenüber erkennen. Als ich nichts erwiderte, fuhr er fort: ›Einige davon sind ver schwunden. Du weißt nichts über ihren möglichen Verbleib?‹ »Nein!« erwiderte ich heftig. »Wie könnte ich?« ›Vielleicht hast du etwas beobachtet. Einige der Fehlschläge könn ten sich untereinander vernichtet haben. Es muß so sein. Denn es gibt nichts, was ohne meinen Willen die Grenze zu überwinden vermag …‹ »Die Grenze?« echote ich. »Welche … Grenze?« ›Jenseits des Gartens ist Wüste. Sie wird erst von euren Nachkom men kultiviert. Sobald eine genügende Zahl vorhanden ist, wird die Grenze fallen. Dies trifft auf jede Art zu, die ich hier entwerfe und auf ihre Tauglichkeit hin prüfe …‹
Ahnte er wirklich nicht, was seine Worte in mir weckten? ›Du hast also nichts beobachtet? Und Adam auch nicht?‹ Noch mit keinem Wort war er auf den Zustand eingegangen, in dem ich mich unübersehbar befand. »Das mußt du Adam fragen. Mir fiel nichts auf.« Bevor er mich verließ (endlich!) und ich wieder freier atmen konn te, äußerte er etwas, was die Frage aufwarf, welches Spiel er mit mir spielte. ›Ich hoffe‹, hörte ich ihn zwischen meinen Gedanken, ›ihr vergeßt nicht, was ich euch aufgetragen habe. Ich übe schon lange Geduld, aber bislang wurde sie nicht belohnt. Warum mehret ihr euch nicht …?‹
* Als sich Adam an diesem Abend zu mir legte, war er ähnlich ver wirrt wie ich. »Gott hat mit mir gesprochen. Er sagte …« »Ich weiß, was er sagte – er war auch bei mir«, fiel ich ihm ins Wort. Ich lehnte halb gegen die borkige Rinde eines Pistazienbaumes und beobachtete, während ich meinen Bauch streichelte, eine Schild kröte, die unweit an den Blättern eines Strauches fraß. In diesem Moment wünschte ich mir einen Panzer wie sie. Etwas, in das ich hätte hineinkriechen können. Wo ich mit den Kindern in meinem Leib hätte allein sein können. »Ich verstehe nicht …« Wieder unterbrach ich ihn barsch. »Lüge! Es ist eine Lüge …!«
Ich hatte es kaum ausgesprochen, als ich das Geräusch hörte, mit dem ER kam. Die Hände auf meiner prallen Bauchwölbung erstarrten. Adam blickte zu Boden. Ich wußte, daß meine Rede ihn schockiert hatte. ER kam zu uns und erklärte: ›Ich sehe deinen runden Bauch. Aber er ist hohl. Taub. Wäre euer Kind darin, würde ich es fühlen!‹ Ich fühle sie, dachte ich. Ich fühle sie alle. Es sind so viele … Seltsam, wie froh es mich macht, daß nur ich sie erkenne … ›Ich gebe dir eine letzte Frist, Weib‹, sagte Gott. ›Schenke Adam die Kinder, die diesen Garten mit Leben erfüllen. Die den Boden kultivieren, das Vieh halten und meinen Willen in die Welt hinaus tragen werden. Seht die Tauben dort am Himmel! An dem Tag, da ihr sie zwi schen Falken fliegen seht, werde ich wiederkommen!‹ In dieser Nacht ließ Adam mich allein. Er wirkte verbittert, denn er glaubte seinem Gott mehr als mir. (Seinem Gott?) Ich aber sprach zu meinen Kindern. Ich wußte, daß sie in mir wa ren, auch wenn ich nicht zu erklären vermochte, warum nicht ein mal der, der mich erschaffen hatte, sie spürte. »Seid unbesorgt«, ermutigte ich sie. »Wir gehören zusammen, was immer geschehen mag!« Mir war, als hörte ich sie antworten. Ihre Bewegungen waren un verändert heftig, als balgten sie miteinander in meinem Bauch. Als Adam am frühen Morgen zurückkehrte, wollte ich seine Hän de auf mich legen, damit er fühlen konnte, wie falsch er sich von Gott beeinflussen ließ. Aber er wehrte ab.
Er hatte etwas dabei, das er mir zeigte. Es war der blutige Kadaver eines Tieres. Eines der Tiere, die von Gott gesucht worden waren. »Ich fand es am Ufer des Sees«, sagte er. »Dort liegen noch mehr. Ich verstehe das nicht. Der Herr sagte, daß er alles, was er als miß lungen betrachtet, ächtet. Diese Ächtung bedeutet zugleich, daß sich die wahre Schöpfung nicht an den Irrtümern vergreift … Aber was hat sie dann umgebracht? Manche liegen schon so lange dort, daß ihre Körper skelettiert sind. Dieses hier ist noch ganz frisch. Fleisch ist aus ihm herausgerissen. Fetzen von Fleisch. Etwas hat an ihm ge fressen …« Ich sah ihn nur an. Was interessierte mich dieses blutige Aas? Warum ignorierte man meine Kinder? Warum sah niemand, daß … Mir fiel ein, daß ich sie anfangs hatte verheimlichen wollen. Daß ich den Gedanken kaum hatte ertragen können, sie mit jemandem zu teilen … »Laß mich allein!« fauchte ich ihn an. »Geh! Zeig es Gott! Er wird dich danach noch mehr schätzen, denn mir, nur mir, wirft er Versa gen vor! Bitte ihn doch gleich um ein anderes Weib, eine andere Mutter für deine Kinder! Schließ weiter die Augen, damit du nicht siehst, was ich mit mir herumtrage! Vertraue auf sein Wort, statt auf das, was offensichtlich ist … Geh! Verschwinde! Ich ertrage deinen Anblick nicht länger!« Adam starrte erst mich, meinen prallen Bauch und dann den Ka daver in seinen Händen an. Dann ging er in die Dunkelheit, die es nicht erst gab, seit Gott Tag und Nacht geschieden hatte. Die Finsternis, das spürte ich, gab es schon, seit es Gott gab. Sie war viel mehr als die Abwesenheit von Licht. Sie war eine Kraft. Zu der ich mich mehr und mehr hingezogen fühlte.
* Dieses Tier trug keinen Panzer. Auf dürren Spinnenbeinen floh es durch das Gestrüpp. Sein plumper Körper schaukelte hin und her, die Mischung aus Hornschnabel und Rüssel klaffte panisch ausein ander, aber vor Entsetzen kam kein richtiger Ton heraus. Nichts, was mich oder andere beeindruckt hätte. Ich machte dem Fluchtversuch ein Ende. Trotz meines Zustands war ich ihm an Schnelligkeit und Beweglichkeit überlegen. Meine Hände stießen zu und hoben das zappelnde, mangustengroße Tier in die Höhe. Eines jener Geschöpfe, die ›nicht von Dauer‹ waren. Nein, dachte ich sarkastisch, nicht von Dauer, aber überaus wohl schmeckend! Ich biß ihm den kurzen Hals durch, und seine Bewegungen er lahmten. Mit Hilfe eines geeigneten Steins trennte ich sein Fell auf und schälte das Fleisch von den Knochen. Unter dem Blätterdach, wo die Jagd geendet hatte, kaute und verschlang ich dann, was ich für meine Kinder erbeutet hatte. Denn sie brauchten Kraft. Sie konnten nicht gedeihen, indem ich mich nur von den Früchten ernährte, die Adam herbeischleppte. Und die Bäume, an denen ich mich gern gelabt hätte, wuchsen di rekt neben dem Himmelspfeiler, in dem sich Gott eingerichtet hatte. Es wäre ihm nicht verborgen geblieben, wenn ich die Hand nach ei ner Frucht des Lebens oder der Erkenntnis ausgestreckt hätte. Ich aß über die eigentliche Sättigung hinaus, denn ich wußte, daß es schwieriger geworden war, mein Bedürfnis nach Fleisch zu ver bergen.
Seit Adam den Ort gefunden hatte, an den ich mich sonst mit mei ner Beute zurückgezogen hatte, verschlang ich sie nur noch dort, wo ich sie erlegte. Ich war gerade dabei, mich am See zu waschen, als der Vater mei ner Kinder zu mir kam und fragte: »Was ist das dort im Wasser? Diese … dunklen Schlieren?« »Saft von einer Frucht«, log ich. »Ich habe mich beim Essen damit besudelt.« Ich wußte nicht, ob er mir glaubte. Seine Augen ruhten lange, wie abwägend, auf mir. Dann sagte er: »Gott nahm die Leichen der Tiere mit in sein Haus. Er kündigte mir an, sie nach ihrem Mörder zu be fragen.« Mir stockte der Atem. Dennoch fragte ich in unbefangen klingen dem Ton: »Und warum erzählst du mir das?« »Ich dachte, es würde dich interessieren.« »Wie kommst du darauf?« Wieder betrachtete er mich. Dann zuckte er die Achseln und – Mir war, als rollte eine dunkle Welle auf mich zu. Durch mich hindurch! Ich hatte bis zu den Knien im Wasser gestanden, doch nun verlor ich das Gleichgewicht und stürzte vornüber. Wasser drang in Mund, Nase und Ohren, und die Welle, die in mir war, verlor sich in der Ferne. Ernüchtert wurde mir klar, daß ich am Ertrinken war – aber schon im nächsten Moment griffen starke Hände nach mir. Adam zog mich ans Ufer, wo ich hustend und spuckend wieder zu Atem kam. »Was hast du?« fragte er. »Bist du ausgerutscht?« Ich stützte mich auf meine Ellenbogen und sah zu ihm auf.
»Nein.« Da fühlte ich schon die nächste Welle. »Was dann?« »Ich glaube … es beginnt.« »Was beginnt?« »Die Geburt. Ich fühle, wie sie aus mir herausdrängen … meine Kinder …!«
* Das erste, einen Jungen, nannte ich Anum. Das zweite Enlil, das dritte Ischtar, das vierte … Es waren fünf. Fünf Kinder, die meinen Leib verließen und … »Ich begreife dich nicht! Gott hatte recht«, keuchte Adam. »Wie konntest du mich die ganze Zeit im Glauben wiegen, die Saat, die ich in dich pflanzte, sei aufgegangen?« Ich wartete, bis Schamasch gegangen war – vorher war ich nicht in der Lage zu sprechen. »Verzeih mir«, sagte ich. Durch meine V-förmig gespreizten Beine hindurch sah ich auf den schimmernden See hinaus, als könnte des sen geheimnisvolle Tiefe mir die Antwort geben, was geschehen war. Ich selbst wußte es nicht. Ich ahnte es nicht einmal. Dann erklang das Geräusch, und ER kam zu uns. ›Wie konntest du nur?‹ fragte Gott streng. Ich dachte zuerst, er meinte die Kinder, die ich mir eingebildet hat te.
Mein Bauch war wieder flach, wie an dem Tag, als ich die Augen aufgeschlagen und neben Adam ins Leben erwacht war. ›Wie konntest du wider das Verbot handeln?‹ Dort, wo meine Kinder hätten liegen müssen, fiel ein zappelndes Tier zu Boden, dessen Augen sich anklagend auf mich richteten. Ich erkannte es sofort. Und es erkannte mich. »Welches Verbot?« stellte ich mich unwissend. Das Geräusch kam näher. Es war, als stünde ER direkt neben mir. ›Du weißt, wovon ich rede: Fleisch zu essen! Der Mensch soll nicht essen, was ihm ähnlich ist! Von den Früchten der Bäume und des Feldes sollt ihr euch ernähren! Warum hältst du dich nicht daran? Oder willst du leugnen, die Tiere, die ich suchte und nach denen ich dich befragte, getötet und gegessen zu haben?‹ Ich wußte, daß es sinnlos war, zu leugnen. Eines meiner Opfer hatte mich verraten. ER hatte ihm das genom mene Leben wieder eingehaucht, um mich zu überführen. »Du hast nur die beiden Bäume neben deinem Haus unter Strafe gestellt«, erwiderte ich. »Ich wußte nicht …« ›Du wußtest – sonst hättest du es gleich eingestanden, als ich dich fragte.‹ Das Tier zu meinen Füßen fing an zu zetern, und es ärgerte mich, daß es nicht einmal zu den Delikatessen gezählt hatte. Und Adam sagte: »Gib mir ein anderes Weib, Herr! Ich bitte dich!« Angespannt wartete ich auf die Antwort meines Schöpfers. Im Grunde gab es keinen Zweifel in mir, wie sie ausfallen mußte. Ich an seiner Stelle hätte jedenfalls nicht gezögert, jemanden wie mich … ›Sie erhält eine letzte Chance‹, klang Gottes Stimme in mir auf und
lehrte mich erneut, wie groß die Unterschiede zwischen seinem und meinem Denken waren. ›Sie wird entsagen dem Fleisch, und sie wird auch ihre heiligste Pflicht erfüllen …!‹ Das Geräusch ging. Adam starrte auf mich herab. »Nimm es weg«, sagte ich und trat mit dem Fuß nach dem ge schwätzigen Bündel aus Federn und Fleisch. »ER hat vergessen, es mitzunehmen, und da ich ihm entsagen soll …« Es machte Adam keine Freude, das fühlte ich, aber ich wurde ein zweites Mal von ihm schwanger. Er beobachtete mit Skepsis, aber auch mit Ungeduld, wie sich mein Bauch von Tag zu Tag mehr wölbte. Ich hatte keine Angst vor dem, was kommen würde. Irgendwo in den Tagen seit meinem Werden war mir die Fähigkeit, Furcht zu empfinden, abhanden gekommen, und das machte mich dreist. Ich schenkte auch diesen Kindern (wieder fühlte ich sie zu mehre ren), wovon ich überzeugt war, daß sie es brauchten. Da Gott daran gegangen war, seine Fehlschläge einzusammeln und in einem abge trennten Bereich des Gartens unterzubringen – was er damit beab sichtigte, wußte ich nicht –, scheute ich mich nicht, seine gelungenen Arten heimzusuchen. Manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich mich selbst bei mei nem Tun beobachtete. Verwundert über die Ruhe, mit der ich tötete und aß, was ich nicht essen sollte … Noch mehr erstaunte mich aber, daß ich bis zuletzt unbehelligt blieb. ER suchte mich nicht auf, um mich nach den Früchten in mei nem Leib zu befragen – und auch nicht nach den Tieren, die ver schwanden. Adam sah ich selten. Weil ich ihn nicht sehen wollte. Ich zog mich in fernere Gebiete des Gartens zurück, und daß er selten nach mir
suchte, bewies mir, daß ich ihm zunehmend unheimlicher wurde. Es war mir egal. In diesen Tagen träumte ich oft von der wahren Dunkelheit, die in mir steckte. Noch vor Gott hatte ich begriffen, daß ich sein mißlun genstes Werk war. Und daß ich, wenn er es erkannte, keine Gnade zu erwarten hatte. Ich redete oft mit meinen Kindern und verlieh ihnen Namen, um ihr Sein zu stärken. Wenn ich im Schatten eines Baumes lag und mit ihnen Zwiesprache hielt, erstaunte es mich selbst, wie viele Namen ich fand … Es waren dreimal so viele wie beim erstenmal, und der Gedanke, eine solche Zahl von Kindern auszutragen, war selbst mir nicht geheuer. Ich war fast sicher, daß die Geburt dieser Kinder meine eigene Existenz kosten würde. Doch ich war bereit, den Preis zu zahlen, hoffte ich doch, in ihnen fortzuleben. Fern von hier. Außer Reichweite von IHM …
* Als auch Ea, Adad, Sin und die anderen meiner geheimen Kinder gegangen waren, als die ›Wellen‹, mit denen ich sie fortgetragen hatte, in mir abklangen, wurde es kalt neben mir. Schrecklich kalt. Gott kam mit einem häßlichen Mißklang. ›Wo sind sie?‹ fragte er. »Wer?« ›Eure Kinder!‹
Ich zeigte auf meinen flachen Bauch und auf meine Umgebung. »Es war wie beim ersten Mal: eine Täuschung. Offenbar vermag ich keine Kinder zu gebären. Entweder ist Adams Samen schlecht – oder ich bin es. Verstoße mich! Tu mit mir, was du mit allem tust, was dir mißlungen ist …!« ER forschte in mir. Versuchte einzudringen in mein Innerstes. Ich gestattete es, weil Gott den geheimsten Kern nicht finden und erkennen würde. Ich war nun sicher. Meine Träume hatten offen bart, wie ich mit der Kraft, die in mir pochte, umzugehen hatte. Im Grunde war ich IHM nicht miß-, sondern viel zu gut gelungen – auch wenn er es anders sehen würde … ›Du läßt mir keine andere Wahl. Ich verstoße dich tatsächlich und werde Adam ein neues Weib zur Seite stellen. Ich werde es aus ei nem Teil von ihm formen, auf daß sie besser miteinander in Ein klang stehen. Du aber wirst den Boden, den ich dir zuweise, nicht mehr verlassen. Du wirst dort leben, wo ich alle meine Fehlschläge sammele, bis zu dem Tag, da ich fortgehe und euch eure eigene Sphäre zuweise, in der ihr nichts mehr anrichten könnt!‹ »Du gehst fort?« fragte ich nach. ›Ja‹, erwiderte ER. ›Ich setze das Leben in Gang, weise ihm seinen Weg und seine Ordnung zu – aber ich wirke nicht nur an einem Ort. Ich bin überall.‹ Diesmal hörte ich nicht das Geräusch, mit dem ER kam oder ging. Weil ich ging. Ich fand mich an einem fernen Ort des Gartens wieder. Unter de nen, die mir schmeckten. Das hatte ER offenbar vergessen. Wie nachlässig von IHM …
* Meine Genugtuung, Gott und Adam hinter mir gelassen zu haben, schwand schnell. Ich begann mich nach den Kindern zu sehnen, die ich in mir ausgetragen – und dann verloren hatte. Ich wußte, daß es sie noch gab – irgendwo außerhalb der Grenzen dieses Gartens, in dem ER die Schöpfung vollzog, die die Welt der einst bevölkern sollte. Von Tag zu Tag wurde meine Sehnsucht größer. Und auch die Neugierde, wen Gott nun an Adams Seite gestellt hatte. Wen er ihm und sich zum Tröste erschaffen hatte … In meinen Träumen ersann ich Wege, die Gefangenschaft zu ver lassen. Wenn ich meine Kinder je wieder- und aufwachsen sehen wollte, mußte ich die Fesseln überwinden. Ich hoffte, daß das von mir Geborene auf sich allein gestellt lebensfähig sein würde – aber sicher konnte ich nicht sein. Also drängte die Zeit. Ich begann, das wahre Potential meiner Kräfte auszuloten. Die unsichtbaren Wälle, die Gott um diesen abgesonderten Teil seiner Schöpfung gelegt hatte, schienen leichter überwindbar als die Grenzen, die er um das Ganze geschaffen hatte. Also versuchte ich zuerst, sie zu überwinden. Mich dorthin zu rückzuschleichen, woraus ich verbannt worden war. Es war mir recht, daß ich auf diese Weise zugleich meine Neugier befriedigen konnte. Schon bald hatte ich herausgefunden, daß ein Hinausgelangen in meiner wirklichen Gestalt unmöglich sein würde. Deshalb übte ich mich in Verstellungen. In Verwandlungen. Nicht nur ich – auch die Tiere, auf die ich bald in ihrer eigenen Ge
stalt Jagd machte und sie damit bis zuletzt in tödlich-trügerischer Si cherheit wiegte, waren verblüfft, welches Talent ich bald darin ent wickelte. Zunächst schien es, als wären meiner Mimikry keine Grenzen ge setzt. Erst als ich so vermessen wurde, ein Menschenvorbild, Adam, nachahmen zu wollen, erkannte ich, daß es doch Grenzen gab, die nicht zu überwinden waren. Fortan feilte ich an der Vervollkommnung meiner Begabung … … und mußte feststellen, daß mir in keiner der Masken, derer ich mich bediente, ein Überschreiten gottgewollter Grenzen möglich war. Sie waren zwar unsichtbar, aber unüberwindlich. Man konnte durch sie hindurchsehen, und sie schienen hauch dünn, aber wenn man meinte, sie zu durchschreiten, fand man sich an einer anderen Stelle des Gefängnisses wieder! Der Zufall kam mir zu Hilfe, um doch noch einen Weg zu finden …
* Das Reptil starrte mich an, als wollte es mich hypnotisieren. Offen bar konnte es mich von jenseits der Barriere ebenso deutlich erken nen wie ich es. Adam hatte ihm den Namen Schlange gegeben, und irgend etwas daran faszinierte mich so sehr, daß ich mich spontan in ihr sechsbeiniges, mit elegant geformten Zähnen und gespaltenener Zunge versehenes Ebenbild verwandelte. Als ich auf der anderen Seite eine Maus aus dem Gehölz lugen sah, wünschte ich mir, sie zu verspeisen … … und dann sah ich, wie sich die Schlange drüben augenblicklich
in Richtung der Beute wandte und sie mit unglaublicher Schnellig keit einfing und verschlang! Was danach geschah, war noch irritierender. Ich schmeckte das Fleisch der Beute. Ich hatte das Gefühl, daß ich sie gefressen hätte …! Als ich mich zurückverwandelte und Ausschau nach der Schlange auf der anderen Seite hielt, war sie verschwunden. Offenbar hatte sie sich mit der Nahrung im Bauch davongemacht. Zunächst glaubte ich, mir die fremdartigen Gefühle und verzerr ten Wahrnehmungen eingebildet zu haben. Probeweise verwandelte ich mich erneut in das Reptil, das ich beobachtet hatte … … und fand mich plötzlich in veränderter Umgebung durch das Unterholz huschen. Nein, nicht mich, sondern das Vorbild, nach dem ich mich verwan delt hatte! In den folgenden Stunden und Tagen verbrachte ich fast alle Zeit damit, die Möglichkeiten, die sich durch meine Entdeckung erga ben, auszuloten. Ich fand heraus, daß ich, sobald ich ein Tier imitierte, dieses zu be einflussen vermochte – auch über die Grenze hinaus! Endlich hatte ich das Vehikel gefunden, nach dem ich gesucht hat te! Und bald darauf unternahm ich meine erste Erkundung im Körper der Schlange, die mir von allen Arten ›jenseits der Mauer‹ am sym pathischsten blieb.
*
Ich weiß nicht, ob es eine Art von Eifersucht war – oder ob einfach der dunkle Trieb, der in mir wucherte, es verlangte, daß ich sie vom ersten Augenblick an mit meiner Bosheit verfolgte. Ihr Name war Eva, und ich brachte viele Stunden in ihrer und Adams Nähe zu, an dessen Brust ich eine Narbe sah, die das bestä tigte, worüber Gott mit mir gesprochen hatte: Offenbar hatte er Eva aus einem Stück des Mannes geformt, der mir zwanzig Kinder schenkte, von denen ich keines zu Gesicht bekommen hatte. Noch nicht. Vielleicht niemals … Die Schuld daran gab ich nicht mir, sondern übertrug sie auf die, der ich nicht gönnte, daß sie meinen Platz einnahm. Und so schmiedete ich das Eisen der Intrige und der List. Ich schmeichelte mich bei Eva in Schlangengestalt ein, wenn Adam nicht in ihrer Nähe war. Und auch Gott nicht. Ich beeindruckte sie, indem ich zu ihr in der Sprache redete, die auch sie verstand. »Der Baum dort«, sagte ich züngelnd, »trägt wunderbare Früchte. Hast du je davon gekostet?« Eva erschrak. »Nein! Es ist uns verboten, von einem der beiden Bäume neben Gott zu essen!« »Warum?« fragte ich. »Ich weiß es nicht. Wir müssen sterben, sagt Adam, wenn wir das Verbot mißachten.« »O nein«, widersprach ich, »auf keinen Fall würdet ihr sterben! Vielmehr weiß Gott wohl, daß ihr, sobald ihr von den Früchten der Erkenntnis kostet, wie er sein würdet. Ganz so wie er! Ihr würdet endlich Gutes von Bösem unterscheiden können …!« Ich redete noch viel und lange auf sie ein. Ich verlieh jedem Wort
den Klang der Überzeugung, und allmählich wirkte das Gift. Eva begann, die Früchte der Bäume neben Gottes Wohnung mit anderen Augen zu sehen. Ich sah, wie es sie gelüstete, weise zu werden. Und als ich mich aus der Schlange zurückzog, wußte ich, daß das Feld bereitet war. Das Feld, dessen aufgehende Saat alles ändern würde. Ich mußte nicht lange warten, bis die Folgen meiner ruchvollen Tat bis hin in mein Exil zu spüren waren. Welches unverzeihliche Verbrechen und welchen Fehler ich be gangen hatte, wurde mir erst klar, als Gott mit Urgewalt über mich kam und mich strafte, wie ich es nie erwartet hätte …
* Als das Geräusch erklang, das IHN begleitete, genoß ich gerade das rohe Fleisch eines noch lebenden Tieres, dessen Zuckungen mich nicht am Genuß hinderten. Im Gegenteil. ER tötete es. Und diesmal ließ er mir keine Gelegenheit zu Lügen, Rechtferti gungen oder wie auch immer gearteten Stellungnahmen. Er gab mir zu verstehen, daß er nicht nur wußte, was geschehen war, sondern auch, wer es zu verantworten hatte. Ich erfuhr von ihm, daß Eva sich tatsächlich hatte hinreißen lassen, vom Baum der Erkenntnis zu essen – und auch Adam dazu verleitet hatte. ›Sie sind beide schon verbannt aus dem Paradies, das ich ihnen schuf!‹ erklärte er. ›Sie haben erfahren, was ihre Strafe ist. Daß von nun an Feindschaft herrscht zwischen Mann und Frau. Daß der Bo den ihrer Äcker verflucht sein wird und sie sich nur noch im
Schweiße ihres Angesichts ernähren können. Daß Eva ihre kommen den Kinder nur unter Schmerzen gebären kann, und daß auch ihre Kinder und deren Kinder diese Qualen erleiden müssen! Damit sie nicht auch noch vom Baum des Lebens essen und sich das ewige Leben aneignen, habe ich sie aus dem Garten verstoßen! Und auch die Schlange, die dir diente, Abtrünnige, habe ich gestraft. Sie ist von heute an verflucht. Auf dem Bauche soll sie kriechen und Staub fressen ihr Leben lang! Verfolgt soll sie werden von Mensch und Vieh, totgetreten, erschlagen, wo immer man ihrer ansichtig wird! – Und nun zu dir, Lilith …‹ Ich hatte längst das tote Fleisch von meinen Lippen genommen und fallen lassen. Die Ruhe, die kalte, sonderbare Ruhe, die mich so lange in meinem Tun bestärkt hatte, war verflogen. Ich zitterte wie Espenlaub. Ich sah die Pflanzen um mich herum welken und Tiere zu Stein erstarren, als ER auf mich zukam. So nahe wie noch nie, als wollte er in mich hineinfahren. ›Deine Strafe wird alles übertreffen, was ich je in einer Schöpfung ersann‹, klirrte es in meinem Herzen. ›Ich öffne die Grenze, so daß du hinausgehen kannst in die Wüste. Über die Berge, die du dort in der Ferne siehst. Dahinter habe ich ein Haus für dich geformt, in dem du fortan wohnen und leiden sollst. Kein Tag, an dem du dich nicht deiner schändlichen Taten erin nern wirst. Keine Stunde, keinen noch so kurzen Moment. Ich werde dich einsperren ins Nichts. Niemand wird dich finden, niemand sich deiner erinnern. Nur du selbst wirst niemals vergessen. Es wäre kei ne angemessene Strafe, wenn du es könntest …‹ So gelangte ich in das ›Haus‹, das ER für mich gebaut hatte. Als ich nach staubigem Weg darin ankam, verschloß er es hinter mir, und ich hörte seine Stimme, mit der er die magischen Runen zu
meinem ewigen Unfrieden formulierte, bis hinein in mein kaltes Grab. Ich wußte nicht, wie mir geschah, als mein Körper sämtliche Re gungen verlor. Zuerst dachte ich, daß dies der Tod wäre. Aber dann begriff ich die wahre Natur der Strafe. Selbst die Zeit floh vor mir! Mein Herz wurde zwischen zwei Schlägen angehalten. Mein gan zer Körper gelangte in einen Zustand zwischen Tod und Leben. Das einzige, was mich noch hielt und erhielt, war die völlige Abwesen heit dessen, was den Kosmos außerhalb meiner Gruft antrieb, ihn ewig in seiner Entwicklung begleitete: Zeit. Ich war aus ihrem Atem – Gottes Atem – herausgenommen worden. Das einzige, was mir noch blieb, was nicht ins Stocken geriet, wa ren meine Träume. Und deren Macht hatte ER unterschätzt …
* Die erste Zeit war finster. Absolut still und dunkel wie der Kern meines Ichs, den ich so lange hatte geheimhalten können, bis sein Streben nicht mehr zu übersehen war. Damals verfluchte ich Gott millionenfach und entwickelte den Haß, der es ermöglichte, mich an einem Ort zur Wehr zu setzen, von dem ER geglaubt hatte, er sei das eherne Bollwerk, das mich für alle Zeit vom Antlitz seiner Schöpfung fernhalten würde … Es kam anders. In der Schwärze meiner Umgebung und meiner Gedanken eroberte ich mir das Gefühl für meine verlorene Körper lichkeit zurück. Sie wurde mein Anker im Nichts.
Der Moment, von dem aus ich die Suche startete. Die Suche nach meiner Brut. Ohne Anum, Ischtar, Nomos und die anderen – ohne meine Ge heimen Kinder – wäre es vermutlich nie gelungen, meinen Kerker zu durchbrechen, seine Wände durchlässig für meine Wahrnehmun gen und für meine Einflußnahme zu machen. Die Früchte meines Leibes waren es, die mir halfen, das Grab we nigstens im Geiste zu verlassen. Wie lange ich damals schon begraben war, wußte ich zu dem Zeit punkt des ersten Kontaktes noch nicht. Ich machte mir völlig falsche Vorstellungen von den Abläufen jenseits meines Bernsteinblocks. Aber als ich begriff, wieviel Zeit verstrichen war, wurde mir auch klar, warum nicht einmal Gott die Kinder hatte aufspüren können. Ich hatte sie nicht nur in die Welt, sondern in die Zukunft geboren! In eine ferne Zeit, da die Menschen nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies darangegangen waren, ihren Lebensraum zu kultivieren und sich über viele ferne Länder auszubreiten! Gewiß ein Jahrtausend oder mehr mußte verstrichen sein, als ich die Stimmen meiner Kinder zu hören glaubte. Sie besuchten mich in meinen Träumen und redeten zu mir, wie einst, als sie sich noch in meinem Bauch gedrängt hatten! Nun lag ich in einem Bauch, in einer finsteren, kalten Höhle, und lauschte ihren Gesprächen, die sie untereinander führten. Lauschte besonders Anum, meinem Erstgeborenen, zu dem ich von Anfang an die größte Verbundenheit entwickelte … Es dauerte lange, bis ich begriff, daß es nicht nur Träume und Wunschvorstellungen waren, die mich ›hören‹ ließen. Noch länger brauchte es, den ersten Blick durch die Augen eines meiner Kinder zu tun – ähnlich wie ich damals durch die Augen der Schlange ge blickt hatte – ähnlich und doch unsagbar anders.
Und ich sah die Stadt und das veränderte Bild einer Welt, über die nicht SEINE, sondern MEINE Kinder zu regieren gelernt hatten …
* Das Volk nannte sich Sumerer, seine Stadt Uruk. Und dort in Uruk hatten sich meine Kinder, als ich sie fand, bereits perfekt eingerich tet – erwachsene Kinder. Als Findelkinder waren sie zunächst über ärmere Familien der Stadt verteilt gewesen, denen sie später als Arbeitssklaven hatten dienen sollen. Doch soweit war es nie gekommen. Vorher hatten die unglaublich schnell Heranwachsenden ihre Pflegefamilien bereits das Grauen gelehrt. Als sie sich ihrer besonderen, von mir vererbten Fähigkeiten be wußt geworden waren, knechteten sie den Gottkönig, der bis dahin über Uruk herrschte – und regierten von da ab selbst. Im Namen je nes Mannes, der ihr Marionettenkönig blieb, wurde ein riesiger Tempel erbaut, und meine Kinder zogen als Fleisch gewordene Gottheiten darin ein … Wie ich durch Anums Auge und Ohr herausfand, verstanden mei ne Kinder es, in begrenztem Maß mit der Zeit zu jonglieren. Ihre ausschließliche Nahrung, die ihnen die Kraft dazu verlieh, war Blut. Menschenblut. So wie ich mich einst verbotenerweise am Fleisch meiner Mitge schöpfe (und natürlich auch an deren Lebenssaft) vergangen hatte, so taten es mir meine Kinder nun auf ihre Weise nach. Ich konnte sie deshalb nicht tadeln. Damals noch nicht … Über viele Jahrzehnte hinweg gelang es mir, in den Tiefen des wei
ßen Tempels einen Ort zu schaffen, an dem ich mich unter großen Anstrengungen kurzzeitig manifestieren konnte. Dort begegnete ich Anum erstmals in Gestalt des LICHTS. Aber bis es dazu kam, vergingen Jahrhunderte der Gefangen schaft. Des quälenden Eingesperrtseins und der geringen Hoffnung, neben meinem Geist auch meinen Körper irgendwann wieder aus seinem Grab herausbewegen zu können. Auch meinen Träumen, meinem ruhelos schweifenden Geist wa ren Grenzen gesetzt. Wie damals im Paradies. Unüberwindliche Grenzen. Doch dann bemerkte ich Anzeichen einer besorgniserregenden Entwicklung, und aus bloßer Sorge um mein Fleisch und Blut wuchs ich über mich selbst hinaus! Lange hatte es ausgesehen, als hätte Gott seine Schöpfung aufge geben und sich selbst überlassen – anders war auch nicht zu begrei fen, warum er das Handeln meiner Kinder zugelassen hatte. Doch dann, eines Tages, schlug die Stimmung unversehens um. Die Natur begann in einer Weise zu entarten, daß es für mich bald keinen anderen Schluß mehr gab, als daß ER zurückgekehrt war! Gott hatte wieder ein Auge auf seine Schöpfung geworfen – und was er sah, konnte ihm nicht gefallen …
* Auch ohne Zutun meiner Kinder hatten die Menschen Wege be schritten und Charakterzüge entwickelt, die nicht mit dem in Ein klang standen, was ihr Schöpfer sich von ihnen erhofft hatte. Neid und Mißgunst regierten unter dem Volk, unabhängig vom je weiligen Stand. Die Reichen waren nicht glücklicher als die Ärmsten
der Armen. Und auch Armut war keine Gewähr für Demut. Es gab nur wenige, die sich überhaupt ihrer Herkunft erinnerten. Einer davon hieß Noe. Er lebte nicht in Uruk, sondern auf der an deren Seite des Zagros-Gebirges, bei Susa. Ich erfuhr durch Anums Ohren von ihm – und auch, daß Noe ei ner der ersten Nachkommen Adams und Evas sein sollte. Ein Mann von extremer Langlebigkeit, wenngleich er gewiß nicht vom Baum des Lebens hatte kosten dürfen. Das Paradies war verschlossen. Der Hort der Schöpfung hatte sei ne Pforten geschlossen, wenngleich er immer noch irgendwo un sichtbar existieren mochte, um die Evolution voranzutreiben. Als sich die Anzeichen drohenden Unheils, das nicht nur die Men schen, sondern unweigerlich auch meine Kinder treffen würde, ver dichteten, wirkte ich erstmals direkt auf eines der aus mir entsprun genen ›Hohen Wesen‹ ein. Ich wollte ihm spezielle Fähigkeiten verleihen, um seine Brüder und Schwestern auf das wahre Ausmaß der Bedrohung hinzuwei sen und Gegenmaßnahmen zu treffen. Zu meiner Bestürzung hatte ich erkannt, daß Gott an den Grundfesten der eigenen Schöpfung rüttelte und sie offenbar vollständig auslöschen wollte. Mit allem, was sie an Leben beinhaltete …! Aber mein Versuch, auf eines meiner Kinder einzuwirken, endete in einer Katastrophe für den Betreffenden. Nomos, so sein Name, er langte zwar die Hellsichtigkeit, die anderen zu warnen – aber der Preis, den er persönlich dafür zu zahlen hatte, war immens: Mein Eingriff raubte ihm nicht nur das Augenlicht, sondern auch das bis dahin kaum verrinnende Leben! Er wurde zum ›Sterbenden‹ – und für den Rest der Zeit, die ihm noch blieb, opferte er seine Kräfte, um seinen Brüdern und Schwes tern Kunde zu bringen von dem, was jenseits der Berge geschah. Wo
Noe, von Gott befohlen, eine Arche baute, um seine Familie als ein zige Menschen die bevorstehende Sintflut überdauern zu lassen und den Keim für neues menschliches Leben danach zu pflanzen … Mit Nomos’ Hilfe gingen meine Kinder daran, ein genaues Eben bild von Noes Arche zu erbauen. Ein Schiff, das dem Untergang trotzen sollte. Aber die Apokalypse des Menschengeschlechts, die ich nicht ver hindern konnte, warf andere, weiterreichende Probleme auf. Es war nicht damit getan, meine Kinder über die Flut hinaus zu retten – da nach würden die Probleme erst beginnen. Wovon sollten sie sich ernähren, wenn die Wasser wieder fielen? Von Noes wenigen Kindern und Kindeskindern konnten sie nicht lange zehren. Es hätte den Untergang nur um kurze Zeit hinausge zogen. Nein, Noes Nachkommen mußten unangetastet bleiben – zumin dest solange, bis sie sich wieder ausreichend über die Erde ausge breitet hatten … Es war schwer, aber ich entwarf einen Plan. Ich träumte mir die Zukunft meiner Kinder zusammen. Und in einem Kraftakt, wie er wahrscheinlich unwiederholbar blieb, wob ich aus meinem Geist drei Gegenstände, die ich in Anum zukommen ließ. Einen Kelch, einen Stab und ein Ei. Der Kelch sollte künftig den Kontakt zwischen meinen Kindern und mir erleichtern – und sie nach der Katastrophe in die Lage ver setzen, eigenen Nachwuchs zu zeugen; aber nicht nach Menschen art, die ihnen versagt blieb, sondern in einem rituellen Akt. Der Stab in Form einer beinlosen, von Gott gestraften Schlange war ebenfalls magischer Natur. Er sollte nicht nur meine Kinder während der bevorstehenden Flut nähren, sondern auch mich, um
mir zu ermöglichen, meine schützende Hand auch weiterhin über sie zu legen, damit Gott, falls er sie erkannte, nicht mit Blitz und Ha gel zermalmte. Dieses Blut half mir schließlich auch in höchster Not, die Kraft zu finden, mir die eigene Haut von meinem erstarrten Körper zu schä len und sie in den Lilienkelch zu träumen. Von wo aus sie rechtzeitig herausfloß, um sich auf die Außenplanken der Arche zu legen, weil meine Kinder nicht mehr rechtzeitig eine Schicht Teer gegen die Wasser des Untergangs hatten auftragen können. Meine Selbsthäutung war zugleich die Geburt der Symbionten, die ich später an eines meiner Kinder und an Creanna verlieh. Die Agrippa, jenes ›Ei‹, war in diesen Tagen noch hohl und leer. Es stellte den Beginn eines Versuchs dar, mir eine Behausung jenseits der Stasis zu erschaffen, in die ich mich selbst eines Tages vielleicht würde transferieren können. Der Runendämon jedenfalls existierte damals noch nicht einmal in meiner Vorstellung. Er nahm erst Gestalt an, lange nachdem die Ar che mit meinen Kindern im Berg Ararat vor Anker gegangen war und meine Kinder in einen ähnlichen Zustand verfielen wie ich, um die Zeit zu überdauern, bis die Menschen sich vom Gottes Zorn er holt haben würden. Damals unterschätzte ich die Langzeitwirkung meines Gefängnis se auf mich selbst. Damals hätte ich noch nicht für möglich gehalten, daß ich eines Tages meiner Taten müde werden könnte – und noch mehr der Ta ten meiner Kinder. Aber genau das geschah. Nach mehreren tausend Jahren, die draußen verstrichen. Jenseits meines Grabes … Zunächst lief alles wie von mir ersonnen. Die Ära der Hüter be
gann, als sich die Menschen weit über die Erde verbreitet und be gonnen hatten, sie sich ein zweitesmal Untertan zu machen. Damals erweckte ich das erste meiner Kinder. Harlorki. Er verbreitete, bar jeder Erinnerung an sein Vorleben, mit dem an die Hand gegebenen Kelch vampirisches Leben im Dunstkreis der Pharaonen, die das Gesicht jener Zeit prägten. In Harlorkis Amtszeit fiel auch jener mißglückte Versuch, wäh rend einer von ihm durchgeführten Kelchtaufe aus meinem Grab in die eigens dafür geschaffene Behausung zu entfliehen, die sich da mals schon im Altarstein des Dunklen Doms befand. Doch ich erreichte das ›Ei‹ nie. Ich erreichte nur, daß sich ein ge waltiger dunkler Teil von mir abspaltete – und dort aus dem Lilien kelch quoll, wo Harlorki ein neues Mitglied in den Orden der Herr schenden aufnehmen wollte. Die Bedeutung dieses Segments wurde mir erst nach und nach klar. In ihm hatte sich ein großer Teil meines Hasses manifestiert – der stärkste, dunkelste Teil meines Selbst. Was übrig blieb, war nun geschwächt – und bereitete, unmerklich erst und unbewußt, den Wandel vor. Später wurde der abgespaltene Teil unter großen Opfern gebän digt und in ein aufwendig erbautes Gefängnis, dem meinen fast ebenbürtig, verbannt: eine auf dem Kopf stehende, unterirdische Py ramide! Das gefräßige amorphe Wesen, dessen Vorliebe für schwarzes Blut ich mir nur damit erklären konnte, daß es zwar meinen Haß, nicht aber meinen Verstand enthielt und sich von dem ernährte, was ihm ähnlich war, erhielt den Namen Nexius. Ich hätte es wohl vergessen, wäre ihm nicht doch noch einmal Bedeutung zugekommen, als es viel, viel später darum ging, das eifrigste meiner Kinder auf eine
falsche Fährte zu locken.* Landru, meinen mich meuchelnden Sohn …
* Ich weiß nicht mehr genau, wann das, was ich meine ›Läuterung‹ nenne, mächtig genug wurde, daß ich nach Wegen zu sinnen be gann, meine Verfehlungen und meine Zerwürfnis mit Gott rückgän gig zu machen. Wahrscheinlich spielte die Erkenntnis eine Rolle, ein zweites Expe riment wie das, bei dem der Nexius freigesetzt wurde, nicht mehr riskieren zu wollen. Dies aber bedeutete, daß ich in der fernen Zu kunft, in die mein Geist bereits gewandert war, keinen Platz finden würde. Nicht den jedenfalls, den ich mir einstmals erträumte: Seite an Seite mit meinen Kindern. Als Herrscher über eine von Gott er neut verlassene oder aufgegebene Welt … Schließlich bereute ich, IHN und SEINE Schöpfung verraten zu ha ben! Der Wandel spielte sich nicht von heute auf morgen ab. Er brauch te viele Menschenalter, um sich in mir so bemerkbar zu machen, daß ich erkannte, woher meine ewige Unzufriedenheit rührte. Die Geburt und das Schicksal SEINES Sohnes, das ich mit Interes se und Beklemmung verfolgte, war vielleicht der letzte Stein des An stoßes, mich zur Umkehr zu bewegen. Zur Umkehr zu IHM. Wenn ich den beschrittenen Pfad weiter verfolgte, würde ich nie meinen Seelenfrieden finden – auch nicht in hunderttausend Jahren! Aber wie sollte ich es anpacken? *siehe VAMPIRA 41-43
Meine Vergehen waren mittlerweile so gewaltig, noch so viel schrecklicher in ihrer Summe geworden als damals, da mich Gottes Zorn getroffen und gestraft hatte …
* Obwohl der Gesandte Gottes, den manche seinen Sohn nannten, für ein paar Jahre auf Erden gewandelt war, wurden nirgends Anzei chen erkennbar, daß Gott selbst zurückgekehrt war. Er tat es nicht einmal, als sie den Messias kreuzigten – und das gab mir die end gültige Gewißheit, daß ich nur dort würde vor Gott treten und ihn um Verzeihung bitten können, wo er mich seine Macht einst fühlen ließ. In der Tiefe der Zeit, als er selbst noch schöpferisch und leibhaftig auf der Erde gewandelt war. Nach der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies. Unmittelbar nach meinen Verbrechen … Und so begann ich, ein Wesen in das ›Ei‹ im Ararat zu träumen, das jene Runen verkörperte, mit denen Gott mich in meinen Kerker verdammt hatte. Ich formte lebendige Schrift, die die Gegenformel beinhaltete, die mein starrer Körper selbst nicht auszusprechen ver mochte. Von der ich hoffte, daß sie mich eines Tages am Ursprung aller Taten in die Lage versetzen würde, in Gottes Arme zurückzu kehren und seine Vergebung zu erflehen. Danach machte sich mein schweifender Geist auf die Suche nach einem Vampir, der die Umkehr vollziehen konnte. Meine Wahl fiel auf eine Vampirin. Auf Salena. Natürlich war keines meiner Kinder eingeweiht, und so konnte es
geschehen, daß der damalige Hüter, Landru, all mein Hunderte von Jahren währendes Bemühen am Ende noch zunichte machte. Salena, die auf mein Geheiß ein lebendes Kind mit einem Men schen gezeugt hatte – womit ich die Versöhnung beider Naturen symbolisieren wollte –, fiel Landrus Gewaltausbruch zum Opfer. Sie starb in Edo, bevor sie das Kind gebären konnte, das einst durch den damals bereits geformten Korridor der Zeit hätte zurückfinden sol len, um mich zu erwecken. Nach diesem Fehlschlag und einer kurzen Phase der Besinnung und des Abwägens, ob es sinnvoll war, noch einmal von vorn zu be ginnen, erweckte ich ein Wesen, das Landru ebenbürtig war. Eine seiner im Dom schlafenden Schwestern: Ea, die sich selbst den Namen Felidae verlieh. Und Felidae raubte den Lilienkelch und taufte damit Creanna, die im Frühsommer 1896 mit Sean Lancaster in Sydney auf dem austra lischen Kontinent das Kind zur Welt brachte, das es vollbringen soll te. Schon sein Name sollte ein Omen für das diesmalige Gelingen sein: Lilith Eden. Es hieß wie ich. Und wies den Weg zurück ins Paradies. Alles weitere ist dir bekannt …
* … ist dir bekannt … Liliths Blick löste sich von den gläsernen Augen der Frau, die sie mit einer Sturzflut von Eindrücken übergossen hatte. Bilder, die Li lith unmöglich in der gebotenen Zeit einordnen oder bewerten konnte!
»Wenn du so geläutert wärst, wie du vorgibst – warum bist du dann immer noch rücksichtslos? Warum mußte ich meine menschli che Seite verleugnen, um zu dir zu gelangen? Warum mußte ich tö ten – und warum hättest du auch mich kaltlächelnd geopfert? All das habe ich nur erfahren, weil du am Ende bist! Aber vorher hast du auch mich zum Tode verurteilt. Sieh mich an! Sieh mich an, wenn du mit diesen Augen noch zu sehen vermagst! Hättest du mit mir geredet … mir rechtzeitig alles gesagt … Aber ich bezweifle, daß eine verbrecherische Seele wie du Gehör finden würde bei dem, den ich von Natur aus verabscheue. Dessen Symbole mir Qualen berei ten!« Nur deine vampirische Natur … haßt ihn … Aber die brauchtest du, um … stark zu sein … Stark genug … Lilith schüttelte den Kopf. Sie hatte den Eindruck, ihre verschlisse nen Halswirbel knacken zu hören. »Wir werden beide sterben – hier! Ich werde mich neben dich le gen und darauf warten, daß meine Kräfte mich endgültig verlassen.« Die erloschenen Augen der anderen Lilith glommen noch einmal auf. Nein. NEIN! HILF MIR, es zu vollenden … Nimm meine sterbende See le in dir auf und laß uns den letzten Weg gemeinsam gehen …! »Du mußt mich zwingen, wenn du das von mir willst.« Dafür bin ich bereits … zu schwach … Es geht nur mit deinem … Ein verständnis … Lilith spähte dorthin, wo ein Wald wie aus einem Traum lag. Vielleicht war es sogar ein Traum. Vielleicht war alles nur ge träumt. Aber wenn, dachte sie, war es an der Zeit, etwas zu tun, um dar
aus zu erwachen …
* Was … habe … ich … GETAN? Immer wieder lebte der begangene Mord in Landru auf. Unauf hörlich verfolgten ihn die Bilder und Wahrnehmungen, die ihn wäh rend der schändlichen Tat befallen hatten. Durch Zufall (gab es Zufälle?) hatte einer der Schläge mit dem Schlangenstab eine verwundbare Stelle auf dem Rücken seiner Mutter gefunden. Die metallischen Zähne hatten sich in ihr Fleisch geschla gen, und dann war ihr Blut geflossen! In ihn! Durch die gespensti schen Drähte und Schläuche, die von seinem Handballen aus, durch Arm und Rumpf, direkt in seinen Magen gelangt waren! Wie damals in der Arche von dem Menschenproviant, so hatte er nun aus seiner Mutter getrunken! So lange, bis ihre verzweifelte Gegenwehr erloschen und sie ster bend unter ihm erschlafft war! Diese Szene wiederholte sich pausenlos vor seinem geistigen Auge, seit er auf der Flucht war. Ja, auf der Flucht! Er wußte nicht genau, vor wem oder was – aber seit dem Moment, da die Opferschlange ihn freigegeben hatte, da sie, gesättigt, ihre ›Wurzeln‹ aus der Sterbenden zurückgezogen hatte, fühlte Landru sich verfolgt. Ähnlich war es gewesen, als er die ersten Schritte aus dem Korri dor in diese fremde Welt und Zeit getan hatte. (Es war erst ein paar Tage her, und dennoch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor.) Damals hatte er die wenigen Gestirne am Himmel auch wie Augen empfun
den, die ihn abschätzig betrachteten … Im nachhinein erschien es Landru, als wäre er vom ersten Moment an einer Reihe von Prüfungen unterzogen worden. Das aus dem Nichts erschienene Reh, das ihn unschuldig und vertrauensselig an gestarrt – und dann seinen schlimmsten Durst mit Blut gestillt hatte … Dann die Mißgestalten, unter denen er ein regelrechtes Massaker angerichtet hatte … Und schließlich der schlimme, feige Mord an seiner Mutter … Seine Wolfsgestalt verkrampfte sich. Das Gebirge hatte er bereits hinter sich gelassen. Das Mutterblut schuf eine Ausdauer, die ihm jedoch in jeder Sekunde seiner Flucht Unbehagen bereitete. Wohin konnte er fliehen? Natürlich blieb nur der Korridor, jener Tunnel nach Uruk. Aber was dann? Wohin sollte er sich dort wenden? Wie sollte er mit dem Bewußt sein weiterleben, nicht nur seine, sondern die Urmutter aller Vampi re getötet zu haben? Keine der Fragen von Bedeutung waren beantwortet worden. Er wußte immer noch nicht, wie er und die anderen Hohen Wesen aus dieser Frau, deren Blut rot ausgesehen und rot geschmeckt hatte, hat ten hervorgehen können! Nicht, wer sein Vater war! Nicht, warum sie ihre Kinder sich selbst überlassen und am Ende sogar bekämpft hatte! Von ihr stammte der Plan, Lilith Eden zu zeugen. Den Bastard, der mit Landru hierher gelangt war und dessen Schicksal ungeklärt – aber auch nicht mehr wichtig – war …! WARUM HABE ICH DAS GETAN?
WARUM? Während er sich dem Eingang des Korridors näherte, kam ihm zum erstenmal der Verdacht, daß er vielleicht gar nicht der Allein schuldige an dieser Tat gewesen sein könnte. Daß etwas ihn … angestiftet haben könnte … Die Schlange, die er neben der Sterbenden zurückgelassen hatte? Sie war das Sinnbild des Verrats … Aber sie war doch nur ein totes Stück Metall … War sie das wirklich? Wieder driftete Landrus Verstand in Orientierungslosigkeit ab. Er begriff, daß er nie eine bindende Antwort erhalten würde, daß Un gewißheit eine der Bürden war, die er von nun an mit sich schleppen mußte, solange er lebte. Solange er nicht die Kraft fand, sich selbst für das zu richten, was er getan hatte …! Der Schädelfelsen, der markanteste Hinweis für die Nähe des Kor ridorzugangs, wurde größer, je länger Landru in seiner Wolfsgestalt durch die dämmrige Wüstenlandschaft hetzte. Er wußte nicht, wie es darin aussah. Er wußte gar nichts über die tiefere Bedeutung dieses Ortes und der Vorgänge, die hier in Fluß geraten waren … Obwohl die steinerne Treppe in die Tiefe unsichtbar war, solange man sie nicht betreten hatte, fanden die Augen des Wolfs sie mühe los anhand der dorthin führenden Spuren, die kein Wind, kein Sturm verweht hatte. Und anhand der lebenden, lockenden Gaben, die darum her plat ziert waren …
*
Die alte Frau schleppte sich durch schattenlosen Sand, denn die Son ne war blutrot versunken, und Dämmerung kroch über das Land. Obwohl sie das Gefühl hatte, sich von dem blühenden Garten zu entfernen, statt sich ihm zu nähern, gab die Greisin ihre Hoffnung nicht auf, ihn doch erreichen zu können. Sie mußte es schaffen! Das darin Wohnende mußte sie anhören … erhören …! Ich habe mich geändert, dachte sie verzweifelt. Ich bin nicht mehr die Eitle und Anmaßende, die du bestraft hast! Das Dunkle ist aus mir gewi chen! Es bestimmt nicht mehr mein Handeln … Du hast gesehen, wie mei ne eigene Brut mich zu hindern versuchte, zu dir zurückzugelangen … Hör mich an! Laß mich ein in dein … Reich! Sie stolperte, stürzte über einen aus dem Sand ragenden Stein, und es war, als hätte ihr jemand die Beine mit einem Knüppel wegge schlagen und würde ihr zufauchen: Nieder! Knie nieder! Hinunter in den Staub! Zunächst versuchte sie, sich wieder aufzurichten. Doch dann setz te sie ihren Weg auf allen vieren fort. Verblüffenderweise rückte der Wald nun spürbar näher. Der Funke, der die Greisin bewegte, glomm in einem Hirn, das ihr nicht gehörte. Eine geliehene Behausung für ein Bewußtsein, das kein eigenes Obdach mehr besaß. Ihr Körper war tot. Oben im Ge birge faulte er dahin, in die Häute gehüllt, die zu ihm zurückgekehrt waren. Erst in der Stasis hatte sie selbst erkannt, wie mächtig und kreativ selbst gefangener Geist sein konnte – kreativer womöglich als ein freier … Als der erste Schatten eines Baumes auf ihre welke Haut fiel, konnte sie es kaum glauben, wieder hier zu sein. Wieder Eintritt er
halten zu haben in die Geburtsstätte allen Lebens, das diesen Plane ten bevölkerte. Hier war auch sie einst aus dem Stoff, aus dem alles geformt war, modelliert worden. Von Schöpferhand. Und von hier aus hatte sie ihre Geheimen Kinder in die Weite der Zukunft ent sandt. Was für ein verachtenswertes Verbrechen! Noch verachtens werter aber war, was sie Eva angetan hatte, Adams zweiter Frau. Die Heimtücke der Schlange, in deren Gestalt sie zu ihr geschlichen und ihre Unschuld vergiftet hatte … Sie konnte es nicht wiedergutmachen. Dieser Garten war verwaist. Gott hatte die Menschen daraus ver trieben – und vielleicht war auch er selbst schon gegangen. Viel leicht kam sie zu spät … Sie verdrängte diese Möglichkeit. Er mußte noch da sein. Aus eigener Kraft konnte sie ihre Verfehlungen nicht korrigieren. Zu vieles hatte sich verselbständigt. Die Zukunft war fest in der Hand derer, die aus dem Lilienkelch getrunken hatten. Die den Ab glanz eines Lebens empfangen hatten, das die wahre Schöpfung ver höhnte! Ich bin schuld, dachte die alte Frau und mied es, Kontakt zu dem Bewußtsein zu suchen, das ihr Einlaß in diesen erschöpften, seiner Jugend beraubten Körper gewährt hatte. Lilith hatte Lilith überzeugen können – das gab ihr Hoffnung, auch von IHM erhört zu werden. Der Wald öffnete sich vor ihr zu einer weiten Lichtung, in der das Feuer brannte, das sie kennen und fürchten gelernt hatte. Mit letzter Kraft schleppte sie sich darauf zu, und ohne ein Zögern warf sie sich mitten hinein in die zornige, sie verschlingende Glut …
*
In Gestalt eines Wolfes hetzte Landru durch den Korridor der Zeit. In die Richtung zurück, aus der er gekommen war. In die Wirklich keit, von der er hoffte, daß sie noch immer existierte und nicht aus gelöscht worden war, von Kräften, die er nicht verstand. Er verstand auch nicht, wer ihn noch einmal, kurz vor Betreten des Korridors, gespeist hatte. Sonderbare, verkrüppelte, rabenschwarze Tiere hatten den Zugang zur Treppe markiert. Und keinem – keinem einzigen – hatte er wi derstehen können, als es ihn mit treuherzigen Blicken aufforderte, aus ihm zu trinken. Schneller, als es zu begreifen war, erreichte Landru das jenseitige Tunnelende. Auf dem Hinweg hatte die Strecke viel mehr subjektive Zeit beansprucht … Doch dann fanden sein Augen zwischen Schutt und Geröll, die während des Bombardements der Irakis von draußen hereinge schleudert worden waren, einen Gegenstand, der alle Zweifel, Ge danken und Gefühle verdrängte, die sich mit dem hinter ihm Lie genden befaßten. Vor ihm, mitten auf dem Boden vor dem Ausgang des Korridors, lag der Lilienkelch! Das Urheiligtum der Vampire! Ihr dunkler Gral, mit dem sie Men schenkinder in ihresgleichen verwandeln konnten …! Aber wie – kam er hierher? Wer hatte ihn an diese Stelle gelegt? Felidae? Seine zum Wächterwesen gewordene Schwester …? Er sah nirgendwo eine Spur von ihr, aber der Kelch, einer Lilie nachempfunden, lag da wie die Tiere, die Landru ihr schweres, fremdartig mundendes Blut gespendet hatten.
So, als hätte ihn etwas nur hier platziert, damit Landru ihn finden konnte. Oder ein anderer, der des Weges kam, beruhigte sich die hochge wachsene, nackte Gestalt und rieb kurz ihren Handballen, in den sich der Schaft des Schlangenstabs gebohrt hatte. Die Wunde war immer noch sichtbar. Eine weitere Kriegsnarbe. Wie das Kreuz in seinem Gesicht. Benommen bückte er sich nach dem Kelch. Er fühlte sich verändert an, aber Landru konnte nicht sagen, was sich daran verändert hatte … … und im nächsten Moment war es nicht mehr wichtig. Neue Zuversicht durchströmte ihn so machtvoll, daß er am liebs ten sofort sein Blut gegeben hätte, um ein Kelchkind daraus zu zeu gen. Aber dafür fehlte ihm eine Grundlage, die ebensowichtig war wie dieses magische Gefäß selbst: Ein unverdorbenes Kind. Es sollte sich finden lassen! Mit diesem Gedanken und dem Kelch in der Hand verließ er den Korridor und stieg die Stufen hinauf. Was er außer dem Kelch noch mit hinaus in die Gegenwart nahm, ahnte er nicht. Er konnte nicht ahnen, daß er zu Gottes Werkzeug ge worden war. Und zum Träger des dunkelsten aller Keime. Dem Tod.
*
Lilith Eden taumelte aus der Säule, in die sie eben erst getreten war, und fand sich auf der Lichtung wieder. Vorbei, dachte sie. ER hat sie nicht angehört – warum sollte er auch? Nach allem, was sie getan hat … Sie lauschte in sich hinein und fand nicht die geringste Spur jenes Bewußtseins mehr, dem sie ihren Körper geliehen hatte. Ihren alten, verwelkenden … Sie stutzte, denn die Haut ihrer Arme, auf die sie zuerst starrte, war nicht mehr voller Falten und Furchen, sondern straff und ma kellos. Und auch der restliche Körper sah wieder aus wie ehedem! Dann kehrten streiflichtartige Erinnerungen an den Aufenthalt in der Feuersäule zurück, der viel länger gedauert haben mußte als ge glaubt, denn gerade ging die Sonne wieder über dem östlichen Hori zont auf! Verwirrt drehte sich Lilith um und sah zurück. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber es waren keine unangenehmen Blicke, wie überhaupt der ganze Aufenthalt in die ser senkrecht in den Himmel schießenden Säule höchst bemerkens werte Empfindungen hinterlassen hatte, die ihr erst jetzt, nach und nach, wieder bewußt wurden. Lilith glaubte sich auch zu erinnern, daß das Bewußtsein des Ur weibs, der Mutter aller Vampire, in Gott aufgegangen war … Aber hatte er ihr verziehen? Und wenn ja, was bedeutete das für Lilith, für die Menschen – und für die Vampire? Sie war versucht, sich noch einmal in die Säule zu begeben, um Gewißheit zu erhalten – doch dann prallte sie vor der unfaßbaren Energie zurück. Sie war plötzlich sicher, darin zu verbrennen, sollte sie es wagen, ihre Gnade noch einmal herauszufordern.
Plötzlich kam Wind auf. Seufzender, heftiger Sturm, der die Stimmen des Gartens, das viel fältige Leben darin, jäh verstummen und die Atmosphäre in Feind seligkeit umschlagen ließ. Lilith verstand die Signale. Sie war hier nicht länger geduldet. Sie wurde vertrieben … Noch einmal zögerte sie. Sie wußte jetzt, wie die Vampire entstan den waren und wer hinter ihnen die Macht verkörpert hatte, die letztlich auch für ihre eigene Existenz verantwortlich war … … aber sie wußte immer noch nicht, wie es weitergehen sollte. In der Zukunft. Dort, von wo sie aufgebrochen war. Und sogar ge tötet hatte, um das Ziel zu erreichen! Beth … Als der Schmerz über den Verlust der Freundin einsetzte, wurde Lilith klar, daß nicht allein ihre Jugend zu ihr zurückgekehrt war, sondern auch das, was der Lilienkelch vollständig betäubt hatte. Ihre Menschlichkeit. Mit dieser Erkenntnis verließ sie den Ort, den die Urlilith als ›Hort der Schöpfung‹ bezeichnet hatte. Als sie seine Grenze überschritt, hörte der Wind auf, und als sie über die Schulter zurückblickte, war der paradiesische Garten verschwunden. Das Ganze erinnerte ein wenig an Llandrinwyth … So schnell ihre Schwingen sie trugen, flog Lilith in Fledermausge stalt zum Eingang des Korridors zurück. Der Schädelfelsen, das unheimliche Grab, war verschwunden. Dort, wo sich die götzenhafte Feste erhoben hatte, klaffte nur noch ein Krater wie nach einem Meteoriteneinschlag. Vor der Treppe in den Korridor lagen die Gebeine unbekannter
Tiere. Sie waren so angeordnet, daß sie Ähnlichkeit mit einer plas tisch geformten Rune besaßen. Aber Lilith hatte vergessen, was die ses Zeichen bedeutete. Sie hatte wieder die Gestalt angenommen, in der sie geboren wor den war, und ein letztesmal schweifte ihr Blick über eine Welt, die so entsetzlich fern und fremd der ihren war, daß es sie fröstelte. Mit gemischten Gefühlen begab sie sich schließlich hinab in die Tiefe. Jede der zweiundzwanzig Stufen löste sich hinter ihr auf, und das selbe geschah mit dem Korridor, der sich um jeden Schritt, den sie der Gegenwart entgegenstrebte, verkürzte, bis am Ende nichts mehr davon übrig war. Lilith erreichte die zerbombte Vorkammer. Aber die Nische in der Wand, wo sie den Lilienkelch zurückgelas sen hatte, war leer. Offenbar war auch er zu Staub zerfallen. Ein wei teres Indiz, daß in tiefer Vergangenheit etwas ausgelöst worden war, was die Gegenwart vom Joch der Vampire befreit hatte … Wirklich? Würde Lilith die Welt überhaupt noch wiedererkennen, wenn sie die Stufen nach oben lief? Wie sah Gottes Akt der Befreiung aus? Hatte er in grauer Vergangenheit Maßnahmen getroffen, daß die verbannte Urlilith niemals ihr dunkles Netz der Macht hatte weben können – daß nie ein einziges Geheimes Kind geboren worden war? Nein, dachte sie. Dann gäbe es auch mich nicht. Wenn er ihr vergeben hat und den Menschen Gutes tun will, dann muß er den Hebel hier anset zen. In der Zeit, aus der ich aufbrach … Sie versuchte ein Gefühl dafür zu entwickeln, heimgekehrt zu sein. Was würde sie draußen erwarten?
Wirklich eine Welt ganz ohne Vampire? Mußte eine solche Welt, abrupt von ihren Unterdrückern erlöst, nicht im völligen Chaos versinken? Und was war mit dem Vampir in ihr? Dem Erbe, das sie immer noch besaß und ohne das sie nicht der Verwandlung fähig gewesen wäre? Was war mit ihrem … Durst nach Blut? Langsam stieg sie die Treppe nach oben, die vor ihr schon ein an derer genommen hatte. Ein Geheimes Kind … … das Gott zum Vollstrecker seines Willens bestimmt hatte … ENDE
Der Durst nach Blut von Adrian Doyle und Timothy Stahl Liliths Bestimmung hat sich erfüllt. Doch was ist wirklich geschehen in der Säule reiner Energie? Ihre Rückkehr in die Gegenwart bringt die Antwort darauf …
Der Durst nach Blut heißt das erste VAMPIRA-Taschenheft mit Vampir-Magazin, das in 14 Tagen erscheinen wird. Die Saga um die Halbvampirin Lilith Eden geht weiter!