MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 102
Der irische Tod von Michael J. Parrish
Sie hatten ihn in seiner Ruhe ges...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 102
Der irische Tod von Michael J. Parrish
Sie hatten ihn in seiner Ruhe gestört. Schwerfällig brach der Koloss, aus den Tiefen des Waldes aufgeschreckt, durch das Unterholz. Der Urwald erbebte unter jedem seiner Schritte. Die Kreaturen, die ihn jagten, kamen von allen Seiten. Hechelnd und keuchend folgten sie ihm, während seine Körpermassen alles zermalmten, was ihnen in den Weg kam. Trotz seiner Größe konnte der Koloss nicht anders, als seinen Instinkten zu gehorchen - und diese drängten ihn zur Flucht. Die Kreaturen drohten ihn einzuholen, und der Koloss wurde schneller, wie eine Lawine, die donnernd und tosend zu Tal geht. Er hielt geradewegs auf das Gebäude zu, das sich jenseits des üppigen Grüns erhob... * WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet "Christopher-Floyd" die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem
Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den USPiloten Matthew Drax, dessen Jet beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott "Maddrax" verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde... Seit einer Expedition zum Kratersee des Kometen weiß Matt Drax um die Bedrohung durch die Daa'muren. Körperlose Wesen kamen damals mit "Christopher-Floyd" auf die Erde und experimentierten seither mit der irdischen Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie diesen Körper nun gefunden, eine humanoide Echse mit silbern schimmernden Schuppen. Matthew, der in einer Bruthöhle eins der Daa'mureneier zertritt, wird von den Aliens als "oberster Feind" geprägt. Auf der Flucht zu den englischen Communities versorgen er und seine Gefährten die Bunker-Zivilisationen auf ihrem Weg mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt, und gewinnen weitere Verbündete. Unter anderem auch den Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung unter Victor Hymes und General Arthur Crow - hauptsächlich um die Angriffe von deren Barbarensöldnern, den Nord- und Ostmännern zu unterbinden. Unterstützt wird Matt neben Aruula von Mr. Black, dem Klon des damaligen US-Präsidenten Schwarzenegger, dem Cyborg Aiko, dem Albino Rulfan und seinem Fliegerkameraden Professor Dave McKenzie. Die beiden Letzteren sind allerdings auf dem Weg von Russland nach England verschollen. Bei all den Vorbereitungen auf einen epochalen Krieg weiß man noch sehr wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist da ein Mann den die Außerirdischen in ihrer
Gewalt haben - der durchgedrehte Professor Dr. Jacob Smythe der einst mit Matt Drax den Zeitsprung machte. Er kennt die Herkunft der Daa'muren, einen glutflüssigen Lava-Planeten außerhalb der Milchstraße, und weiß um ihre telepathischen und gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Die Aliens streben eine Kooperation mit ihm an, um ihr Vorgehen auf die Verhaltensweisen der Menschen abzustimmen. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Ein ausführlicher Rückblick findet sich in Band 100 "Die neue Spezies"! * Irland im Jahr 2448 Es war ein Bild des Friedens. Jünglinge, die auf Schalmaien und Flöten heitere Weisen spielten, Maiden, die mit Blütenkränzen im Haar ausgelassen über grüne Wiesen tanzten. Myron de Vries war zufrieden. Dies war die Welt, nach der er sich immer gesehnt hatte. Eine Welt ungetrübter Freude und immerwährenden Frühlings. An keinem anderen Ort als hier hätte er sein wollen, um seiner Braut das Jawort zu geben. "Ich muss gestehen, dass ich beeindruckt bin." Peter O'Herly schürzte anerkennend die Lippen. "Mit diesem Fest haben Sie sich wirklich selbst übertroffen, Myron. Es wird den Leuten lange in Erinnerung bleiben." "Das will ich hoffen, mein Freund", sagte de Vries in der ihm eigenen unbescheidenen Art. Selbstgefällig strich er über das weiße Haar seiner Perücke und ließ den Blick zufrieden über das Gelände schweifen. Unweit der langen Hochzeitstafel, die im Schutz eines Eichenhains errichtet worden war, floss ein Bach, dessen Wasser silbern im Sonnenlicht glitzerte. Kinder spielten ausgelassen am Ufer und warfen sich goldgelbe Bälle zu. Ihr
helles Lachen klang in de Vries' Ohren wie ein Lebenselixier, denn es verhieß Hoffnung und Zukunft. Etwas weiter entfernt standen die Tafeln der geladenen Gäste. De Vries hatte es sich nicht nehmen lassen, die gesamte Gemeinde zu seiner Hochzeitsfeier einzuladen, und da er eine hochstehende und geachtete Persönlichkeit war, waren die Bürger seiner Einladung gerne gefolgt. Teils saßen sie an den Tischen und unterhielten sich oder tanzten zu den Melodien, die die Spielmänner ihren Instrumenten entlockten. Andere maßen sich mit den Rittern im Lanzenstechen und anderen Spielen. Die Stimmung war ausgelassen und hätte nicht besser sein können. Karen, seine Referentin, lief umher und stellte sicher, dass alle gut versorgt waren. "Diese Melodie", stellte O'Herly fest. "Sie ist beschwingt und wehmütig zugleich. Woher haben Sie sie bekommen, Myron?" "Es mag Sie überraschen, mein Freund", sagte de Vries mit selbstsicherem Lächeln, "aber ich habe viele versteckte Talente. Diese Melodie habe ich selbst komponiert, ebenso wie alles andere." "Sie sind in der Tat ein Mann mit vielen Talenten." "Ich bin Perfektionist", erwiderte de Vries und lächelte. "Das ist nur zu wahr", sagte O'Herly und blickte demonstrativ zur Hochzeitstafel hinüber, wo de Vries' Braut bei ihren Eltern saß. Shannon de Vries war unbestritten das schönste Geschöpf, das er in seinem Leben gesehen hatte. Viele hatten ihr den Hof gemacht und um sie geworben, aber am Ende hatte de Vries das Rennen gemacht, und das aus gutem Grund. De Vries war ein Gewinner. Einer von denen, die sich bei der Umsetzung ihrer Pläne von nichts und niemandem aufhalten ließen. Nicht umsonst hatte er es zum Präsidenten der Gemeinde gebracht, und nicht umsonst hatte er das schönste
Mädchen für sich erobert. Jede der Maiden, die über die blühenden Wiesen tanzten, war eine Schönheit - gegen Shannon de Vries jedoch verblassten sie alle. "Peter, mein Freund", sagte de Vries und klopfte O'Herly gönnerhaft auf die Schulter, "ich blicke optimistisch in die Zukunft. Unser Volk wird leben, und zusammen mit Shannon werde ich eine Dynastie von Nachkommen gründen, die..." Plötzlich unterbrach er sich. "Was ist, Myron?", wollte O'Herly wissen. "Ich weiß nicht... für einen Moment dachte ich, der Boden hätte sich bewegt." "Der Boden? Sie meinen ein Beben?" "Nein, anders. So, als würde sich etwas nähern, das..." Weiter kam de Vries nicht - denn im nächsten Moment barst die Wand, vor der er stand und die in den Farben des blühenden Waldes gehalten war, unter donnerndem Getöse. Metall verformte sich und bog sich nach innen, um schließlich wie Papier zu reißen. Die Deckenträger verbogen sich und gaben nach, und die schützende Hülle, die das Areal umgeben hatte, bestand von einem Augenblick zum anderen nicht mehr. Die Wand zersprang in zwei Hälften und hinterließ einen breiten Riss, durch den im nächsten Moment eine grässliche, riesenhafte Kreatur platzte. Sie war an die fünf Meter hoch und furchterregend anzusehen. Ein mächtiges, klobiges Haupt mit einem Rüssel und langen gebogenen Stoßzähnen. Darin glommen faustgroße Augen, die in heller Panik geweitet waren. Das riesige Tier brüllte, während es mit aller Kraft durch die entstandene Öffnung drängte. Unter donnerndem Getöse brach sie herein, und zermalmte alles, was ihr im Weg stand, unter ihren mächtigen Füßen. Myron de Vries wusste nicht, worüber er mehr entsetzt sein sollte - über das riesige Untier oder den Umstand, dass die
Isolation des Habitats durchbrochen war. Im nächsten Moment erschien in der Öffnung noch ein weiterer Grund, um in Panik zu verfallen: vierbeinige Raubtiere mit länglichen, zähnestarrenden Schnauzen, deren Augen in unverhohlenem Blutdurst leuchteten. "Hyeenas!", gellte der entsetzte Schrei. "Bringt euch in Sicherheit...!" Die Maiden und Junker, die auf der Wiese gespielt hatten, tanzten weiter, aber das riesige Monstrum pflügte gnadenlos durch ihre Mitte. Die Gäste an den Tafeln spritzten auseinander wie aufgeschrecktes Vieh, von namenloser Angst ergriffen. Die Hyeenas schwärmten aus, fielen knurrend und geifernd über ihre wehrlosen Opfer her. "Nein! Neeein!", brüllte de Vries und ballte die Fäuste. Ein Teil von ihm hoffte inständig, dass dies nicht wirklich passierte, dass er nur einen entsetzlichen Albtraum durchlebte. Aber die Kreaturen waren echt. Er konnte ihr heiseres Gebrüll hören, spürte, wie der Erdboden unter dem Stampfen des Kolosses erzitterte, roch den Gestank von frischem Blut. Shannon! Sein nächster Gedanke galt seiner Braut, und er begann zu laufen, den Hügel hinab zum Hain, wo die Hochzeitstafel stand. Schon von weitem sah er, dass er zu spät kam. Ein ganzes Rudel der hyänenartigen Bestien hatte sich über die Tafel hergemacht, und alles, was de Vries von seiner Braut und ihrer Familie noch sehen konnte, waren blutüberströmte Körper, aus denen jedes Leben gewichen war. Alles ging blitzschnell. Zermalmend und zerstörend tobte der Koloss durch die liebliche Landschaft, während sich einzelne Ritter noch in Reiterspielen übten. Kopflos rannten die Hochzeitsgäste umher, gejagt von den blutgierigen Bestien. Widerstand wurde kaum geleistet. Niemand hatte zur Feier Waffen
mitgenommen; das Habitat hatte als sicher gegolten. De Vries merkte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Er blickte sich um. Von Peter O'Herly war nichts mehr zu sehen, auch von den anderen Mitgliedern des Rates nicht. Verzweiflung gesellte sich zu seiner Panik und seiner Todesangst, und ein innerer Instinkt riet ihm, loszulaufen und sich in Sicherheit zu bringen, so lange noch Zeit war. Plötzlich hörte er das tiefe, gutturale Knurren hinter sich und fuhr herum. Die Hyeena stand nur wenige Schritte von ihm entfernt und fletschte ihr scheußliches Gebiss. In ihren gelben Augen konnte Myron de Vries sein eigenes Ende sehen. Er widerstand der Versuchung zu fliehen. Er war stets ein Realist gewesen und imstande, seine Chancen und Möglichkeiten genau abzuwägen. Es war das Geheimnis seines Erfolgs gewesen. Die Hyeena machte einen Satz und schnellte durch die Luft. Mit ihrem Körpergewicht riss sie Myron de Vries von den Beinen und vergrub ihr mörderisches Gebiss in seiner Kehle. In den letzten Sekunden seines Lebens wurde Myron de Vries klar, dass dies das Ende war. Nicht nur sein Ende. Ihrer aller Ende... * 71 Jahre später Das Summen der mächtigen Antigrav-Projektoren war auch im Inneren der Explorer zu hören, während der mächtige, zwanzig Meter lange Earth-Water-Air-Tank nach Norden flog. Der Panzer erstrahlte in neuem Glanz; die Beschädigungen von der Schlacht bei Leeds waren nicht mehr auszumachen. Die Mission der Besatzung, die außer Commander Matthew Drax und seiner Gefährtin Aruula aus Captain Selina McDuncan, dem Piloten Lieutenant Peter Shaw, dem Aufklärer
Corporal Andrew Farmer und Navigator Steve Bolton bestand, war klar umrissen: Kontakt aufzunehmen mit den irischen Bunkergemeinschaften, die ebenfalls von den guten und schlechten Neuigkeiten erfahren mussten. Zum einen davon, dass es gelungen war, ein Serum herzustellen, das die Immunschwäche der Technos neutralisieren und ihnen so ein wirkliches Leben außerhalb antiseptischer Schutzanzüge und hermetisch abgeriegelter Räume ermöglichen konnte. Die andere Neuigkeit war weitaus beunruhigender, denn sie betraf eine Bedrohung, der die ganze Welt, die gesamte Menschheit ausgesetzt war: Die Daa'muren, eine Rasse außerirdischer Intelligenzen, hatten vor Hunderten von Jahren damit begonnen, die Erde zu infiltrieren - die Folgen ihrer Ankunft mit dem Kometen "Christopher-Floyd" waren globale Vernichtung und Zerstörung gewesen. Über fünfhundert Jahre lang hatten die Daa'muren nach einer kompatiblen Lebensform gesucht, in die sie ihre körperlosen Geister übertragen konnten, hatten Flora und Fauna immer neuen Mutationen unterzogen. Und nun, da sie einen Trägerorganismus gefunden hatten, schickten sie sich an, das Erbe des Planeten anzutreten. Matthew Drax war sofort klar gewesen, dass es einer gemeinsamen Anstrengung der zersplitterten, in alle Winde zerstreuten und untereinander verfeindeten Menschheit bedurfte, um eine Front gegen die Invasion der Daa'muren zu bilden. Seine Hoffnung hatte vor allem den europäischen Bunkergemeinden gegolten, und hier besonders der Community London, in deren Auftrag er einst nach Meeraka aufgebrochen war, in seine alte Heimat, die er verwüstet und unter der Herrschaft des ominösen "Weltrats" vorgefunden hatte. Um die Bedrohung durch die Daa'muren abzuwenden, war Matt keine andere Wahl geblieben, auch ein Bündnis mit dem Weltrat zu suchen, und auch wenn dieser Versuch um ein Haar
mit einer Katastrophe geendet hätte. Das Resultat der Gespräche bot aber Grund zur Hoffnung: General Arthur Crow, der die WCA-Delegation angeführt hatte, schien von der Notwendigkeit einer Allianz überzeugt. Und das war wichtig, damit die Handlanger des Weltrats, die Nord- und Ostmänner, von weiteren Angriffen abgehalten wurden. Seit einer Woche war Matts Gruppe an Bord der Explorer nun schon unterwegs. Die reguläre Besatzung des EWATs war ein eingespieltes Team, und Selina McDuncan, die Kommandantin mit den fein geschnittenen Gesichtszügen und der ein wenig hervorspringenden Nase, war Profi durch und durch. Sie verstand es, ihre Leute durch Kompetenz zu führen, ohne dabei stets auf ihren Dienstgrad zu verweisen, was Matt sehr erfreulich fand; und ihm war auch nicht entgangen, dass Andrew Farmer, der Aufklärer des Tanks, dem das Training und die Betreuung der Kolk-Aufklärer oblag, ein Auge auf seine Vorgesetzte geworfen hatte. Selina und ihre Leute waren es auch gewesen, die Aiko, Honeybutt und Pieroo auf dem Weg nach London aufgegriffen hatten. Die Explorer war einer der acht EWATs, die der Community dort zur Verfügung gestanden hatten - nach der Schlacht bei Leeds waren es nur noch deren fünf -, und es gab nicht wenige, die behaupteten, dass Selina McDuncans Besatzung die beste war. Ihr erstes Ziel war Bangor gewesen. Man hatte erfolgreich Kontakt zur dortigen Community hergestellt. Die Technos waren hocherfreut über das Serum gewesen, das ihnen nach Generationen der Isolation endlich wieder ein Leben in Freiheit ermöglichen würde. Und sie hatten - sehr zu Matthew Drax' Zufriedenheit - zugestimmt, dem Bündnis gegen die Daa'muren beizutreten. "Wenn man es mit den russischen Bunkern vergleicht, war Bangor ein Kinderspiel", brummte Matt, der mit Aruula und
den anderen in der Zentrale des EWATs saß, über der sich die nur von innen durchsichtige Titanglaskuppel wölbte. "Ich bin gespannt, was uns in Dublin erwartet." "Ich gehe davon aus, dass man uns auch dort freudig empfangen wird", sagte Captain McDuncan, die auch als Pilotin ausgebildet war. "Bedenken Sie, Commander - Sie bringen den Leuten die Zukunft. Ich spreche da aus eigener Erfahrung." Sie lächelte. "Wenn Mr. Black und Sie nicht gewesen wären, würden wir noch immer ängstlich in unseren Bunkern hocken, anstatt durch dieses herrliche Land zu fliegen. Was glauben Sie, wie sehr ich diesen Tag herbei gesehnt habe? Aber wem erzähle ich das... schließlich sind Sie selbst Pilot und kennen die Leidenschaft für das Fliegen." Aruula ließ ein unwilliges Knurren vernehmen. Es gefiel ihr nicht, dass Selina McDuncan und Maddrax so viele Gemeinsamkeiten hatten - mehr als sie selbst zu bieten hatte. Die beiden saßen für ihren Geschmack zu oft zusammen und tauschten Flugerfahrungen aus. Schon der äußere Gegensatz war gewissermaßen Programm: Aruula war ein vollbusige, wilde Schönheit, deren langes wirres Haar ihr bis über die Schultern reichte. Selina McDuncan war wie alle Technos ein zerbrechlich wirkendes, haarloses Geschöpf, auf dessen weißlich blasser Haut sich blaue Adern abzeichneten. Zwar hatte das Serum bewirkt, dass sie keine Schutzanzüge mehr tragen mussten, um gegen schädliche Umwelteinflüsse gefeit zu sein. Bis die Technos jedoch wieder so aussehen würden wie ihre robusten Vorfahren, würden noch Jahre vergehen. "Vermutlich haben Sie Recht", sagte Matt, und um das Thema zu wechseln, fügte er hinzu: "Ich bin gespannt, wie es Mr. Black in Prag ergehen wird. Von seiner Pfeilwunde hat er sich inzwischen ja bestens erholt." Die hatte er sich bei den letzten Scharmützeln gegen die Lords zugezogen, die Barbarenstämme rund um London, bevor sie Frieden mit den
Communities schlossen. "Natürlich hat er das", versetzte Aruula mit einem Seitenblick auf Captain McDuncan. "Er ist ein Krieger. Er ist zäh. Nicht so verletzlich und schwach wie die Bunkerleute..." Ehe die Barbarin einen weiteren Seitenhieb anbringen konnte, ließ sich Corporal Farmer von der Aufklärungskonsole vernehmen: "Commander, die Scanner haben etwas geortet." "Was ist es?", fragten Matt und Selina McDuncan fast gleichzeitig. "Aus der Entfernung schwer zu sagen. Ohne Zweifel eine größere Ansammlung von Lebewesen. Aber worum genau es sich handelt, lässt sich auf diese Distanz nicht sagen. Soll ich einen Kolk losschicken?" "Nicht nötig", entschied Matt, der sich zu dem Aufklärer gesellte und einen Blick auf das Display seiner Konsole warf. "Das betreffende Gebiet liegt nur wenig abseits unserer Flugroute. Ich schlage vor, wir schauen selbst vorbei." "Wir schauen selbst vorbei?" Farmer machte große Augen, und Matt wurde einmal mehr klar, dass sein abenteuerlustiger Tatendrang etwas war, das den Technos nicht nur wenig vertraut war, sondern ihnen manchmal geradezu unsinnig erscheinen musste. Lieutenant Peter Shaw, der Pilot, sandte Captain McDuncan einen fragenden Blick, die daraufhin nickte. "Sie haben den Commander gehört, Lieutenant. Navigator, berechnen Sie den neuen Kurs." "Aye, Ma'am", bestätigte Steve Bolton und gab die Daten, die er von Farmers Terminal erhielt, in die Nav-Konsole des EWATs ein. Kaum merklich änderte die wuchtige Maschine ihren Kurs. Matt trat vor an die Kanzel. Er konnte sehen, wie die Wipfel der Bäume tief unter dem EWAT dahinwischten. In der Zeit, aus der Matt stammte, war Irland eine grüne Insel gewesen, übersät von Hügeln mit
frischem Gras, zwischen denen es kleine verträumte Dörfer gegeben hatte. In der dunklen Zukunft, in die es ihn verschlagen hatte, war Irland immer noch grün, allerdings hatten die Folgen der großen Katastrophe, die sich vor rund fünfhundert Jahren ereignet hatte, dafür gesorgt, dass England und Irland von üppiger Vegetation überwucherte Dschungel geworden waren, in denen grässliche Bestien hausten und ein ständiger Kampf ums Überleben tobte. Mit einem EWAT darüber hinweg zu schweben, gab nur einen sehr unzureichenden Eindruck davon wieder, was für Zustände dort unten herrschten; als Matt und Aruula vor fast genau drei Jahren in die Gewalt von Sklavenhändlern gefallen und an der englischen Küste nach Süden getrieben worden waren, hatten sie es aus erster Hand erfahren. In einiger Entfernung tauchte jetzt ein Loch auf, das im üppigen Grün klaffte - eine große, etwa zweihundert Meter durchmessende Lichtung, auf die der EWAT zuhielt. "Wir sind gleich da", meldete Andrew Farmer. "Objekte müssten jetzt in Sichtweite kommen." Der Aufklärer hatte Recht. Matt konnte sehen, dass die Lichtung von Lebewesen wimmelte - und einen Herzschlag später erkannte er, dass es ein erbitterter Kampf ums Überleben war, dessen Zeuge die EWAT-Besatzung wurde. Menschen - keine der barbarischen Lords, sondern schmalschultrige Dorf- oder Stadtbewohner - waren dabei, ein Rondell aus Holzkarren gegen eine Meute reißender Bestien zu verteidigen, die von allen Seiten aus dem Urwald drängten. Als Matt die Bestien sah, regten sich unschöne Erinnerungen in ihm: Vor drei Jahren auf dem Weg nach Plymouth hatte er diese Bestien bereits kennen gelernt: eine gefährliche Mischung aus Wolf und Hyäne, mit langer reißzahnbewehrter Schnauze und mörderischen Fängen. Diese Tiere zerfetzten einfach alles, was sich ihnen in den Weg
stellte, und sie jagten stets in Rudeln. Matt war sicher, dass diese Biester zu derselben Spezies gehörten wie jene, mit denen er es damals bei dem "Sklavenspiel" zu tun gehabt hatte. Ihr Brustkorb war breit, ihr Hinterteil dagegen schmal, fast verkümmert. Zottige Mähnen wuchsen um die scheußlichen Häupter mit den glutgelben Augen. Von Südosten drängten sie an die Wagenburg heran, deren Besatzung nur mit primitiven Waffen ausgerüstet war. Hier und dort flogen Speere durch die Luft oder wurden halbherzig Pfeile abgeschossen, die jedoch nichts gegen die Angreifer auszurichten vermochten. Schon hatten mehrere Verteidiger den Angriff mit dem Leben bezahlt. Schaudernd sah Matt die blutigen Fetzen, die um die Wagenburg verstreut lagen. Er brauchte nicht lange zu überlegen. "Zu den Waffen!", ordnete er an. "Wir greifen ein!" "Sind Sie sicher?", fragte Selina McDuncan. "Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass es selten Gutes bringt, sich in die Angelegenheiten der Primitiven zu mischen." "Was schlagen Sie vor, Captain? Wollen Sie tatenlos zusehen, wie diese Leute von den Bestien zerfetzt werden? Es sind Menschen, verdammt noch mal." "Ich bin mir dessen durchaus bewusst, Commander. Aber in all den Jahren war es geltende Community-Doktrin..." "Dann sollten Sie damit anfangen, Ihre Doktrin zu überdenken, Selina", versetzte Matt. "Die Jahre der Isolation sind vorbei. Sie sind jetzt frei, und mit dieser Freiheit kam auch die Verantwortung. Verstehen Sie, was ich meine?" In ihren blassen Zügen zuckte es, und sie blickte ihn seltsam an. "Ja", sagte sie dann. "Entschuldigen Sie. Es wird dauern, bis wir all das wirklich begriffen haben." "Schon gut." Matt nickte. "Pilot - suchen Sie einen Landeplatz. Sehen Sie zu, dass Sie die Maschine zwischen die Bestien und diese Leute setzen."
"Aye, Sir. Bordwaffen einsetzen?" "Nein. Dadurch würden wir nur die Menschen dort unten gefährden oder in noch größere Panik versetzen. Ich fürchte, hier bleibt uns nur gute alte Handarbeit." "Verstanden, Commander", bestätigte Shaw und schaltete auf manuellen Betrieb. Sofort senkte der EWAT seine Nase und rauschte der Lichtung entgegen, auf dem der gnadenlose Kampf ums Überleben tobte. Aus den Halterungen, in denen die LP-Gewehre steckten, nahm Selina McDuncan zwei der Waffen und reichte sie an Andrew Farmer und Steve Bolton weiter. Sie waren auf die beiden geeicht; niemand sonst würde sie abfeuern können. Die Kommandantin selbst war mit einer Laserpistole bewaffnet, und Matt mit einem der letzten verbliebenen Driller. Er hatte sich an die Weltrat-Waffe gewöhnt, die kleine, aber effektive Explosivpatronen verschoss. Aruula dagegen verließ sich schon aus Überzeugung nur auf ihr Schwert. Das Summen der Antigrav-Maschinen wurde heller, als der EWAT zur Landung ansetzte. Sanft und kaum merklich setzte die Maschine auf und stellte sich den angreifenden Bestien in den Weg. Schon im nächsten Moment warf sich eine der fellbesetzten Kreaturen mit voller Wucht gegen die Frontkuppel. "Außenhülle unter Strom setzten", befahl Matt. "Wollen sehen, ob wir uns die Biester damit nicht vom Leib halten. Und bleibt alle dicht beisammen, diese Viecher sind gefährlich. Peter - Sie bleiben in Bereitschaft." "Verstanden, Commander", bestätigte der Pilot, und die fünf Kämpfer eilten zum Ausstieg des EWATs. Zischend glitt das Schott auf - und das erste, was Matt und seine Freunde sahen, war ein grässliches zottiges Etwas, das mit weit aufgerissenem Schlund auf sie zu setzte. Matthew feuerte aus der Hüfte. Der Driller zuckte in seiner Hand - und die Brust der Bestie
explodierte in grellem Rot. Der Kadaver des Tieres fiel zu Boden, aber sofort sprangen von allen Seiten weitere Kreaturen heran. "Feuer!", rief Matt und schoss erneut, während Farmer und Bolton ebenfalls die Stecher durchdrückten. Die grellen Lichtstrahlen, die aus den Mündungen der Gewehre zuckten, rissen weitere Kreaturen zu Boden. Es roch nach verbranntem Fleisch. Die übrigen Raubtiere, von deren gelben Zähnen der Geifer troff, stürzten sich gefräßig auf ihre erlegten Artgenossen. Ob ihre Beute einer fremden oder der eigenen Spezies angehörte, schien ihnen ziemlich gleichgültig zu sein. An den Menschen, die verzweifelt ihre Wagenburg verteidigten, hatten die Bestien schlagartig kein Interesse mehr. Dem Herdentrieb gehorchend, stürzten sie sich alle auf die Kadaver oder griffen die neuen Gegner an. Mit einem gezielten Schuss erwischte Matt eine Kreatur im Sprung, worauf sie sich in der Luft überschlug und direkt vor den Füßen zweier Artgenossen landete. Die zögerten keinen Augenblick und zerfetzten den Kadaver mit Pranken und Zähnen. Mit blutigen Fleischbrocken im Maul zogen sie ab. Auch Aruula beteiligte sich am Kampf, obwohl sie die Bestien gefährlich nahe an sich heranlassen musste. Ihre Klinge schnitt durch Fell und Fleisch. Heiser brüllend verendete eine der Kreaturen, wischte aber noch mit einer ihrer riesigen Pranken nach Aruula. Die brachte sich mit einem geschickten Sprung in Sicherheit. Dadurch geriet sie in die Reichweite eines weiteren Raubtiers, das sich herangepirscht hatte. "Aruula!", brüllte Matt, konnte jedoch nicht feuern, weil seine Gefährtin genau zwischen ihm und der Bestie stand. Er riss seinen Driller in den Anschlag, zögerte aber, den Abzug zu drücken. Die Barbarin fuhr herum und riss ihr Schwert beidhändig
hoch, als sie die Bestie heran fliegen sah, den Schlund weit aufgerissen, die Klauen ausgestreckt. Einen Augenblick lang schien die Zeit auf der Lichtung still zu stehen. Dann zuckte ein gleißender Blitz heran und erwischte die Bestie. Die Barbarin fuhr herum. Nur wenige Schritte entfernt stand Selina McDuncan, ihre Laserwaffe in der Hand. Aruula bedankte sich mit einem knappen Nicken - und der Kampf ging weiter. Je mehr der Bestien sie erlegten und je wilder und ungestümer sich die Tiere über ihre eigenen Artgenossen her machten, desto weiter konnten Matt und sein Trupp sich vom EWAT fort wagen. So gelang es ihnen, eine Verteidigungslinie zu bilden, die die Bestien nicht überwinden konnten. Eine Mauer aus tödlicher Energie und Driller-Explosionen vor sich her treibend, drängten sie die Kreaturen zurück. Deren Hirne waren offensichtlich nicht auf Flucht programmiert, und so feuerten sie weiter, bis auch die letzte erledigt war. Matt schätzte, dass an die zwanzig Tiere den Treck überfallen hatten. Es gefiel ihm nicht, sie alle töten zu müssen. Aber ihnen blieb keine andere Wahl, wenn sie den Reisenden für die nächsten Tage das Überleben sichern wollten. Als das letzte Raubtier tot zusammenbrach, erhob sich drüben bei der Wagenburg lauter Jubel. Matt winkte hinüber, und sofort kam eine Abordnung heran - drei sehnige Kerle, die Tuniken aus Stoff trugen und darüber breite Ledergürtel, in denen kurze Dolche steckten. In ihren Händen hielten sie lange Lederpeitschen. Matt fiel auf, dass die ein- und zweiachsigen Holzkarren, die die Burg bildeten, zwar über Deichseln verfügten, dass aber weit und breit keine Tiere zu sehen waren, um die Wagen zu ziehen. Das ließ nur einen Schluss zu: Bei den Fremden handelte es sich Sklavenjäger! Miese Menschenhändler wie jene, in deren Gewalt sich auch Matt
einst befunden hatte. "Maddrax", sagte Aruula, die es im gleichen Moment bemerkte. "Ich sehe es", sagte er nur, während er sich einen Idioten schalt. Vielleicht wäre es besser gewesen, auf Selina McDuncan zu hören, anstatt Verbrechern wie diesen das Leben zu retten. Andererseits - hätte er zusehen sollen, wie all diese Menschen von den Bestien getötet wurden? Sie hatten schließlich auch Sklaven bei sich, die nichts für die miese Gesellschaft konnten, in der sie sich befanden. Vielleicht, dachte Matt, konnte er aus der Situation ja Kapital schlagen... "Seid uns gegrüßt, edle Fremde", verkündete der Sprecher des Trios, ein grauhäutiger Kerl mit kurzen Beinen, dessen Blick etwas Verschlagenes hatte. Matt zweifelte nicht daran, dass er seine eigene Mutter verkauft hätte, wenn er sich irgendeinen Gewinn davon versprach. "Tag, die Herren", erwiderte Matt schulterzuckend. Mit dem degenerierten Englisch, das die Männer sprachen, hatte er keine Probleme. "Sieht so aus, als wären wir gerade noch rechtzeitig gekommen." "Das ist wahr. Wärt ihr nicht aus den Lüften eingeschwebt, um uns zu retten, hätten diese elenden Bestien uns zerfleischt. Mesiu der Große - das bin ich - ist euch zu großem Dank verpflichtet." Er verbeugte sich tief in einer kriecherischen Geste, die bei Matt nur noch mehr Abscheu hervorrief. Er war überzeugt davon, dass dieser augenscheinlich so harmlose Zeitgenosse vor seinen Sklaven erbarmungslos die Peitsche schwang. "Deinen Dank nehmen wir gerne an, Mesiu", sagte Matt mit vor den Armen verschränkter Brust. "Was hast du uns sonst noch anzubieten, um deine Schuld zu begleichen?" "Schuld begleichen?" Die Ohren des Sklavenhändlers zuckten. "Wie meint Ihr das, edler Fremder aus den Lüften?"
"Nun, wir haben euch das Leben gerettet, das hast du gerade selbst zugegeben. Stellt sich also die Frage, wie ihr die Schuld bei uns begleichen wollt." Selina McDuncan wollte etwas einwerfen, aber Matts Blick ließ sie verstummen. "Wir, äh... " Mesiu wand sich wie ein Aal, suchte sichtlich nach einer Ausflucht. "Wir haben leider nichts, was wir euch als Gegenleistung anbieten können, edle Fremde. Ihr werdet mit unserem Dank verlieb nehmen müssen. Ihr müsst wissen, dass wir arme Handelsleute sind, die sich ständig auf der Flucht befinden." "Auf der Flucht? Vor wem?" Der Sklavenhändler machte ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. "Es würde zu weit führen, das zu erklären. Ihr müsst mir glauben, wenn ich euch sage, dass wir arme Händler sind und es nichts gibt, womit wir euch für euren unschätzbaren Dienst belohnen könnten. Ihr könnt gerne unsere Wagen durchsuchen. Aber wir werden eure Namen stets in unseren Herzen tragen, wenn wir..." "Okay, das reicht jetzt", forderte Matt. "Reden wir mal Klartext, Freundchen." "Klartext?" Mesiu verdrehte die Augen. "Was meint der edle Fremde?" "Ich rede davon, dass du nicht versuchen solltest, uns für dumm zu verkaufen. Natürlich befindet sich keine Ware auf euren Wagen, und ihr seid auch keine gewöhnlichen Händler. Ihr seid verdammte Sklavenjäger, die arglose Fremde gefangen nehmen und sie meistbietend verschachern." Mesiu stand einen Moment lang unbewegt. So viel Direktheit schien er nicht gewohnt zu sein. "Der edle Fremde scheint uns zu kennen..." "Das ist gar nicht nötig", versicherte Matt. "Ich brauchte nur zu beobachten, um zu wissen, wer ihr seid. Wie viele Sklaven habt ihr bei euch?"
"Nur fünfunddreißig, Euer Gnaden", erwiderte Mesiu, der wohl einsah, dass es zwecklos war zu leugnen und stattdessen die Flucht nach vorn antrat. "Wie ich schon sagte, die Geschäfte gehen schlecht in diesen Tagen, seit dieser elende Sklavenbefreier im Süden aufgetaucht ist und dort sein Unwesen treibt. Dadurch wurden wir gezwungen, unsere, äh, Arbeit weiter in den Norden zu verlegen, unter großer Gefahr für unser eigenes Leben." "Mir kommen gleich die Tränen", versicherte Matt. Der Gedanke, dass sich offenbar jemand gegen die Gewaltherrschaft der Sklavenmeister erhoben hatte und ihnen die Hölle heiß machte, erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung. "Nachdem Ihr unser kleines Geheimnis also gelüftet habt, darf ich Euch ein Angebot machen?", erkundigte sich Mesiu. "Was für ein Angebot?" "Ich würde Euch zum Zeichen meines Danks einen meiner besten Sklaven überlassen, zu einem einmaligen Sonderpreis." "Zu einem Sonderpreis?" "Umsonst", verbesserte sich Mesiu und machte dabei ein Gesicht, als würde ihm ein Nierenstein abgehen. "Ihr sollt ihn haben, schließlich habt Ihr uns das Leben gerettet." "Wie überaus großzügig von dir", meinte Matt mit vor Sarkasmus triefender Stimme und tauschte einen Blick mit Aruula. Der Barbarin war anzusehen, dass sie sich am liebsten mit blanker Klinge auf den Sklavenhändler und seine Begleiter gestürzt hätte. "Ich nehme dein Angebot an, großer Mesiu", sagte Matt unvermittelt. "Allerdings fordere ich nicht nur einen Sklaven, sondern alle." "Alle?" Die Gesichtsfarbe des Sklavenhändlers nahm eine ungesunde Färbung an. "Ihr beliebt zu scherzen, edler Fremder." "Kein Scherz", versicherte Matt. "Ich will alle fünfunddreißig Sklaven, verstanden?"
"Aber das wäre unser Ruin..." "Wären wir nicht aufgetaucht, wäre es euer Ende gewesen", brachte Matt in Erinnerung. "Was sind da schon ein paar verlorene Sklaven?" "Und wenn wir uns weigern?" Mit einer beiläufigen Geste hob Matt seinen Driller. "Du müsstest inzwischen erkannt haben, was für eine verheerende Wirkung diese Waffe besitzt. Aber wenn du Wert auf eine weitere Demonstration legst..." "Nein, nein!" Der Sklavenhändler hob abwehrend die Arme. "Das wird nicht nötig sein! Ihr sollt bekommen, wonach Ihr verlangt." Er nickte seinen Begleitern zu. "Sagt den Treibern Bescheid. Die Sklaven sollen hierher gebracht werden. Alle, verstanden?" Die Begleiter zögerten. Erst als Mesiu seinen Befehl noch einmal lauter wiederholte, trollten sie sich. Von der Wagenburg drang lautes Geschrei herüber, begleitet vom Knallen der Peitschen. Dann erschien ein Pulk ziemlich elend aussehender, abgerissener und schmutzverkrusteter Gestalten, die nur noch Kleiderfetzen am Leib trugen. Die meisten waren Männer, aber es waren auch einige Frauen unter ihnen, außerdem vier Taratzen, die ebenfalls in die Gewalt der Sklavenhändler geraten waren. Mesius Leute ließen sie antreten wie auf dem Markt, und man konnte direkt sehen, wie dem Sklavenmeister das Herz blutete bei der Vorstellung, sich von seiner "Ware" trennen zu müssen. "Diesen da lasst mich wenigstens behalten", sagte er, auf einen besonders kräftigen Jüngling deutend, der offenbar zu einem Barbarenstamm gehörte. Sein verfilztes, verwildertes Haar reichte ihm fast bis zu den Hüften. "Ich brauche einen Leibsklaven, wenn ich in dieser grünen Hölle überleben soll." "Nein", sagte Matt unnachgiebig. "Sie bleiben alle hier, ob es dir passt oder nicht."
"Und wer soll unsere Wagen ziehen?" Matt streifte ihn mit einem Seitenblick. "Das wirst du selbst übernehmen müssen, großer Mesiu. Ich bin überzeugt davon, deine Sklaven werden dir gerne dabei zusehen. Und jetzt verschwinde, ehe ich meine Meinung ändere und dich in Ketten legen lasse!" Einige von den Gefangenen, die verstehen konnten, was er sagte, verfielen in schadenfrohes Gelächter. Die übrigen warteten ab, konnten sich nicht erklären, was vor sich ging. Noch einen Augenblick stand Mesiu mit geballten Fäusten da, schien fieberhaft nach einem Ausweg, nach einem Argument zu suchen, mit dem sich sein Ruin noch abwenden ließ. Als er jedoch in die Mündungen der LP-Gewehre blickte, die Farmer und Bolton ihm unter die Nase hielten, wandte er sich schnaubend ab. In aller Eile suchten seine Leute und er ihre nötigsten Habseligkeiten zusammen und packten sie auf zwei Karren. Dann machten sie sich daran, diese unter viel Stöhnen und Zetern von der Lichtung zu zerren, was in Anbetracht des morastigen Bodens alles andere als einfach war. Die Sklaventreiber sanken bis zu den Knien im weichen Boden ein. Mesiu, der an der Spitze des kleinen Trecks marschierte, gab sich alle Mühe, einen Rest von Würde bewahren, was in dem Moment, in dem er ausglitt und der Länge nach in den Morast schlug, jedoch hinfällig war. Trotz ihrer Erschöpfung und der Todesangst, in der sie geschwebt hatten, und obwohl sie nicht wussten, was sie erwartete, brachen die Sklaven in schallendes Gelächter aus. Matt ließ sie gewähren. Er wartete, bis das grüne Dickicht des Waldes den Sklavenhändler und seinen Tross verschluckt hatte, dann wandte er sich den Sklaven zu. Er wies Selina McDuncan und ihre Leute an, ihnen die Fesseln abzunehmen, und informierte sie in der Sprache der Wandernden Völker darüber, dass sie frei waren und gehen konnten, wohin es ihnen
beliebte. Nur zwei Dinge gab er ihnen mit auf den Weg: Dass sie sich vor den Hyänen hüten sollten, und mit Blick auf die Taratzen fügte er hinzu, dass es sich nicht schickte, ehemalige Mitgefangene zu fressen. Aruula war zwar dafür, mit den beiden Rattenmenschen kurzen Prozess zu machen, aber Matt musste an Donald, Chip und Dale denken, die drei Taratzen, mit denen zusammen sie einst selbst gefangen gewesen war. Die Sklaven, die nicht glauben konnten, dass ihnen ein solches Glück zuteil wurde, zerstreuten sich schnell in alle Himmelsrichtungen. Von den zurückgebliebenen Wagen der Sklavenhändler nahmen sie mit, was ihnen nützlich erschien. Eine halbe Stunde später war nur noch die Besatzung der Explorer auf der Lichtung. "Nun, Captain?", erkundigte sich Matt bei Selina McDuncan, "was ist das für ein Gefühl, eine gute Tat vollbracht zu haben?" "Ich muss gestehen, dass ich beeindruckt bin", gab die EWAT-Kommandantin ohne Umschweife zu, "und ich entschuldige mich nochmals für meine starre Haltung." "Dazu besteht kein Grund, Captain." Matt schüttelte den Kopf. "Wir alle lernen ständig dazu. Das hilft uns, in diesen Zeiten am Leben zu bleiben." * Die Gruppe setzte ihre Reise fort. Anhand des Kartenmaterials der Community London hatten sie eine sehr genaue Vorstellung davon, wo sich der Bunker befand: in der Nähe des ehemaligen Flughafens. Schon aus der Entfernung konnte Matt das Gelände erkennen, das vor vielen Jahrhunderten den Internationalen Flughafen von Dublin beherbergt hatte. Nur noch einzelne, von Vegetation überwucherte Hallen waren übrig, außerdem waren
noch Reste der Lande- und Startbahnen zu sehen, die sich durch das üppige Grün zogen. Der Asphalt war allerorten aufgebrochen. Die Natur hatte sich das Terrain zurückerobert, das man ihr einst abgerungen hatte. "Unseren Karten zufolge muss sich der Eingang zum Bunkersystem dort drüben befinden", stellte Matt fest und deutete durch die Kanzel auf das Gelände, das sich westlich von den Trümmern des ehemaligen Terminals erstreckte. Mehrere von Schlinggewächsen überzogene Ruinen erhoben sich dort, die wohl einmal Lagerhallen oder Hangargebäude gewesen waren. Der Pilot betätigte die Steuerung des EWATs und sorgte dafür, dass die wuchtige Maschine ihre Nase senkte und tiefer ging. Dicht über den Wipfeln der Bäume schwebte der stählerne Koloss dahin, während Navigator Bolton die Entfernung bis zum errechneten Landepunkt zählte. "Noch achthundert Meter, siebenhundert, sechshundert..." Matt und Aruula tauschten einen gespannten Blick. Was würden sie dort unten vorfinden? Schwer vorstellbar, das sich unter all diesen Trümmern und dem wuchernden Grün eine hoch entwickelte Zivilisation verbergen sollte. Andererseits hatten sie schon Bunkergemeinden an Orten vorgefunden, die noch trostloser und lebensfeindlicher gewesen waren. "Landung!", wies der Navigator den Piloten an, und der EWAT sank senkrecht in die Tiefe, setzte weich auf dem morastigen Boden einer Lichtung auf. Durch sein Gewicht sank der Flugpanzer tief in den Waldboden ein. Shaw führte die Routinen durch und sicherte das Gefährt, während Matt und seine Begleiter sich zum Ausstieg bereit machten. Erneut nahmen Farmer und Bolton ihre LP-Gewehre an sich, um auf Überraschungen aller Art vorbereitet zu sein - die Hyänen waren schließlich nicht die einzige Gefahr, die in den Wäldern drohte. Auch von den
verstreut lebenden Barbarenstämmen ging eine ständige Gefahr aus. Shaw hielt mit den Scannern des EWATs Umschau, konnte jedoch keine auffälligen Biosignale entdecken. Daraufhin ordnete Matt an, das Fahrzeug zu verlassen. Diesmal würden sie alle gehen - die Panzerschotts und die elektrisch aufgeladene Hülle würden genügen, um jeden potentiellen Angreifer abzuwehren. Als sich die Schleuse zischend vor ihnen öffnete, wallte der dichte Dampf des Dschungels ins Innere des Panzers. Matt sprang als Erster hinaus, die Hand am Griff des Drillers. Seine Stiefel sanken bis über die Knöchel im weichen Boden ein. Vorsichtig blickte er sich um, dann bedeutete er den anderen, ihm zu folgen. Aruula ließ es sich nicht nehmen, die Nächste zu sein; ihr folgten Selina McDuncan und ihre Leute. Die Bewegungen der Technos waren seltsam vorsichtig und ungelenk - sie mussten sich erst noch daran gewöhnen, nicht mehr den engen Beschränkungen zu unterliegen, wenn sie sich in freier Natur bewegten. Matt gab das Zeichen zum Vorrücken. Laut Karte mussten sie nach Nordwesten gehen, um den Eingang des Bunkers zu erreichen. Möglicherweise wurden sie bereits beobachtet, hatten die Bewohner der Bunkergemeinde sie schon auf ihren Schirmen. Eine seltsame Unruhe erfüllte Matt, und auch Aruula war anzusehen, dass sie sich nicht wohl fühlte in ihrer Haut. "Fühlst du etwas?", raunte Matt ihr zu und meinte ihre telepathischen Fähigkeiten damit. Sie schüttelte den Kopf. "Es ist still hier. Still und dunkel." Sie passierten einige eng beieinander stehende Bäume, von denen ein dichtes Gewirr von Schlingpflanzen hing. Nachdem sie sich einen Weg hindurch gebahnt hatten, standen sie unvermittelt vor einer von Vegetation überwucherten Wand aus rostigem Metall, die zehn, zwölf Meter aufragte. "Was ist das?", fragte Andrew Farmer.
"Ein Teil einer alten Hangarhalle, würde ich sagen", vermutete Matt. "Die angegebenen Koordinaten haben wir erreicht. Möglicherweise befindet sich der Bunkereingang im Inneren der Halle." "Dann sollten wir einen Weg hinein suchen", erklärte Aruula kurz entschlossen und ging voran. Sie umrundeten das Gebäude und kamen dabei nur langsam voran, weil der Boden mit dichtem Grün überwuchert war. Aruula setzte ihr Schwert ein, um den Nachfolgenden einen Weg zu bahnen. Plötzlich hielt sie inne und stieß eine leise Verwünschung aus. "Was gibt es?", fragte Matt und schloss zu ihr auf. Die Barbarin deutete geradeaus auf den Boden, und er sah, was sie entdeckt hatte. Knochen. Menschliche Knochen. Kein komplettes Skelett, sondern nur ein Torso, dem die Beine fehlten. Die Verwesung war vollständig abgeschlossen, von Kleidung oder anderen Gegenständen war nichts zu sehen. Das ließ darauf schließen, dass diese Knochen schon sehr lange hier lagen. "Selina?", fragte Matt Selina McDuncan nach ihrer Meinung. "Schwer zu sagen. Dem Körperbau nach würde ich sagen, dass es sich um einen Bunkerbewohner gehandelt hat. Der Zustand des Skeletts ist allerdings ungewöhnlich. Möglicherweise gibt es hier Aasfresser." Die Teilnehmer der Expedition wechselten argwöhnische Blicke. Keiner von ihnen - mit Ausnahme Aruulas vielleicht war abergläubisch, aber es war nicht gerade ein gutes Omen, wenn das erste Zeichen von Zivilisation, auf das man stieß, ein menschliches Skelett war. "Kommt weiter", wies Matt seine Begleiter an, und sie setzten ihren Weg um das uralte Gebäude fort, dessen Wände
rostig und dessen Betonpfeiler brüchig waren. Unvermittelt stießen sie auf ein Loch in der Wand, das wie eine große schwärende Wunde in dem Metall klaffte und einen Weg ins Innere öffnete. "Was mag das verursacht haben?", stieß Andrew Farmer hervor. "Eine Explosion?" "Dann wären Brandspuren zu erkennen", gab Captain McDuncan zu bedenken. "Außerdem sind die Kanten des Metalls nach innen gebogen, was immer das bedeuten mag." "Es sieht aus, als hätte etwas die Wand von außen durchbrochen", sagte Matt. "Etwas, das verdammt groß war und verdammt viel Kraft besaß." "Hier liegen noch mehr Knochen", stellte Aruula fest, die sich im Unterholz umgesehen hatte. "Dieser Ort gefällt mir nicht, Maddrax. Etwas Schreckliches muss hier geschehen sein." "Sieht ganz so aus", stimmte Matt zu. "Und was immer es gewesen ist, wir sind hier, um es herauszufinden. Also los." Kurz entschlossen trat er durch den Riss ins Innere der Halle. Schwarze, staubige Dunkelheit lag vor ihm, die das einfallende Sonnenlicht schon nach wenigen Schritten verschluckte. Er aktivierte die Lampe, die er bei sich trug. Ihr Kegel schnitt in die Schwärze, und Matt konnte Ruinen und Trümmer erkennen, überwuchert von Schlinggewächsen, Diese Pflanzen schienen äußerst genügsam zu sein und kaum Licht zu benötigen. Sie hatten auch das Innere der Halle erobert. Eskortiert von seinen Begleitern, die ebenfalls Taschenstrahler mit sich führten, drang Matt weiter in die Dunkelheit vor. Die Lichtkegel erfassten eine kubikmetergroße technische Vorrichtung, von der aus dicke, von Pflanzen umwucherte Kabelstränge zur Decke reichten. "Sieht wie ein kleiner Generator aus", stellte Selina McDuncan fest. "Bunkertechnologie, würde ich sagen."
"Können wir ihn in Betrieb nehmen?", fragte Matt. "Er dürfte für die Stromzufuhr in der Halle zuständig sein." "Mal sehen." Shaw, der Pilot, nahm das Gerät näher in Augenschein. Fachmännisch öffnete er die Wartungsklappe an der Vorderseite und machte sich an den Innereien des Generators zu schaffen. "Sieht nicht gut aus, Commander. Das Gerät selbst scheint in Ordnung zu sein, aber die Anschlüsse sind alle korrodiert." "Kriegen Sie's hin?" "Na ja, ich müsste Werkzeug aus dem EWAT holen, die Verbindungen neu anschließen und das Beste hoffen... Einfacher wäre es, den Generator zu umgehen und die Abnehmer an die Stromversorgung des EWATs zu koppeln." "Ist das ohne Risiko möglich?", fragte Matt. "Klar, Commander. Die Widerstände sind so ausgelegt, dass der Reaktor und die Versorgungsmodule des Tanks keinen Schaden nehmen können." "Na dann los", wies Matt ihn an, und zusammen mit Bolton und Farmer machte sich der Pilot auf den Rückweg zum Panzer. Selina McDuncan blieb bei Matt und Aruula. Argwöhnisch blickte die Techno-Frau in die Dunkelheit, die sie umgab. "Seltsam", sagte sie. "Es ist ein großer Unterschied, ob man die Welt durch das Glas eines Schutzhelms betrachtet oder nicht. Alles kommt einem viel wirklicher, viel gefährlicher vor. Und man fühlt sich verletzlicher." "Willkommen unter den Sterblichen", versetzte Aruula bissig. Selina schickte ihr einen undeutbaren Blick, sagte aber nichts. Es dauerte nicht lange, bis die anderen mit dem EWAT vorfuhren. Sie hatten ihn auf Kettenantrieb umgeschaltet. Nachdem Shaw den Tank dicht vor dem Durchbruch geparkt hatte, entrollten sie ein mehrpoliges Kabel, das mit dem Reaktor des EWATs verbunden war. Mit wenigen Handgriffen
gelang es dem Piloten, es an die Stromabnehmer der Halle anzukoppeln. Von einem Augenblick zum anderen wich die Dunkelheit hellem Licht, das von einem großen, unterhalb der Decke hängenden Strahler ausging und in Helligkeit und Farbe an Sonnenlicht erinnerte. "Na also", meinte Matt zufrieden. "Gute Arbeit, Männer. Dann mal weiter." Erneut setzte er sich an die Spitze des Trupps, und gemeinsam drangen sie in das Trümmerfeld vor, das sich im Inneren der Halle ausbreitete, überwuchert von blattlosem Gestrüpp. Unter einem baufälligen Torbogen hindurch trat Matt in eine Art Hain - und zuckte zusammen, als er die grässliche Bestie gewahrte. Alles was er sah, war der klobige, von Panzerplatten besetzte Schädel, glühende Augen und breite Nüstern, aus denen weißer Dampf wölkte. Hinter dem Haupt der massigen, an die sechs Meter hohen Kreatur erhoben sich gefährlich aussehende Stacheln, die ihren breiten Rücken hinab verliefen. Ein langer Schweif peitschte hin und her. Eine schreckliche, traumatische Erinnerung flackerte jäh in Matts Bewusstsein auf. Er musste an den Lavadrachen denken, jene grässliche Bestie, in deren Fänge er einst in einer Kuppelstadt in Alaska geraten war und die ihn ins ewige Eis verschleppt hatte! Ein Aufschrei des Entsetzens entrang sich seiner Kehle, und seine Hand flog wie von selbst zum Driller. Er riss die Waffe heraus und legte sie auf die Bestie an - obwohl er wusste, dass selbst ein Driller einem Wesen, das imstande war, in flüssiger Lava zu überleben, nicht gefährlich werden konnte. Er drückte ab - aber das vernichtende Projektil, das aus der Mündung jagte, prallte nicht etwa von der Brust der Kreatur ab, wie Matt es erwartet hatte, sondern ging geradewegs durch sie hindurch.
Der Drache reagierte nicht. Er stand nur weiter da und betrachtete sie aus seinen glutigen Augen, während sein Schwanz hin und her peitschte und Dampf aus seinen Nüstern quoll. Jetzt begriff Matt, dass ihn der erste Schock genarrt hatte. Zum einen war diese Kreatur nachweislich kein Lavadrache, sondern ähnelte vielmehr den Abbildungen, die man zu Matts Zeiten auf den Covern von phantastischen Romanen und Comicbooks gefunden hatte. Zum anderen war sie nicht einmal echt, sondern nur eine Projektion, die die Illusion eines festen Körpers erzeugen sollte. Ein Fantasy-Drache, eine fiktive Kreatur, die allerdings recht realistisch aussah. "E-es ist ein Hologramm", erkannte auch Selina McDuncan, die ebenfalls gehörig erschrocken war und ihre Laserpistole gezückt hatte. Aruula war schon dabei gewesen, mit dem blanken Schwert auf die Bestie loszugehen. Auch jetzt konnte sie noch nicht ganz glauben, dass das so echt wirkende Monstrum nicht mehr als eine Projektion aus Licht sein sollte, weshalb sie mehrere Male darauf einhieb. Ohne auf Widerstand zu treffen, fuhr ihre Klinge durch den Drachen hindurch. "Sieht ganz so aus", erwiderte Matt. Hologramme waren an sich nichts Ungewöhnliches. Zu seiner Zeit hatte es die ersten Prototypen holografischer Fernseher gegeben, und in Freizeitparks waren sie zum Amüsement der Besucher eingesetzt worden - wenngleich auch nicht so perfekte wie dieses hier. Fast erweckte der Drache den Anschein fester Materie. "Was soll das?", stellte Andrew Farmer die Frage, die sie alle bewegte. "Weshalb programmiert jemand ein Hologramm von einem verdammten Drachen?" "Ich bin mir nicht sicher", erwiderte Matt. "Möglicherweise..."
Er unterbrach sich, als er plötzlich schluchzende Laute hörte, die sich ihnen näherten. Die Teilnehmer der Expedition griffen erneut zu ihren Waffen - als sich das Gestrüpp plötzlich teilte und sieben kleinwüchsige Gestalten daraus hervor traten. Technos waren es ganz sicher nicht - dafür waren sie zu klein und hatten zu dicke Nasen und Bäuche, von ihren kurzen Beinen ganz zu schweigen. Und auf ihren Köpfen thronten keine Schutzhelme, sondern rote Mützen. Die kleinen Kerle waren völlig aufgelöst. Sich gegenseitig umarmend, torkelten sie durch das Unterholz und schnäuzten immer wieder in riesige Taschentücher, die sie mit sich herumtrugen, "Es ist schrecklich", lamentierte ihr Anführer. "Einfach schrecklich?" "Was?", fragte Matt. Der Anführer der Truppe blickte ihn traurig an. "Sie ist tot. Ist das nicht schrecklich? Sie hat sie umgebracht." Matts Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. "Wer? Von wem sprecht ihr?" "Von ihrer Stiefmutter, dieser herzlosen Frau!", ereiferte sich der Knirps. "Sie hat ihr einen vergifteten Apfel gegeben, und nun ist das arme Schneewittchen tot." "Schneewittchen?" Im nächsten Moment dämmerte es Matt, wer die sieben kleinwüchsigen Kerle waren, und er musste unwillkürlich lachen. Selina und die anderen fielen in sein Gelächter mit ein. "Was ist daran so komisch?", fragte Aruula. "Ganz offenbar ist jemand getötet worden. Wir sollten der Sache nachgehen." "Keine Sorge", prustete Matt, während die sieben Zwerge sich wieder verzogen. Dabei gingen sie geradewegs durch eine brüchige Mauer. "Es ist nur eine Geschichte, Aruula. Nur ein Märchen. Kein Grund zur Besorgnis." "Eine dumme Geschichte", knurrte die Barbarin, die sich jetzt ziemlich veralbern vorkam.
Sie setzten ihren Weg fort, und jetzt konnte Matt auch erkennen, was die Trümmer zu bedeuten hatten, die ihren Weg säumten. Einst mochten es mittelalterlich anmutende Gebäude gewesen sein - Matt sah die Grundmauern einer Hütte und davor einen Brunnen, in einiger Entfernung ein von Turmruinen gesäumtes Tor. Durch dieses Tor kam im nächsten Moment ein Reiter, der stolz erhobenen Hauptes auf seinem Pferd thronte. Es war ein stolzes Schlachtross, und der Mann im Sattel war ein Ritter in schimmernder Rüstung. Auf seinem Schild war ein Drachensymbol zu sehen, und in seiner Rechten hielt er eine Lanze, an deren Ende ein buntes Banner im nicht vorhandenen Wind flatterte. Das Visier seines Helms stand offen, sodass man seine edlen Züge sehen konnte. "Wohlan denn!", rief er, als die Explorer-Crew näher kam. "Sagt an, wer Ihr seid, fremde Herren. Was ist Euer Begehr?" Matt und seine Begleiter tauschten Blicke. Hatte man ihnen einen virtuellen Empfangsboten geschickt? "Ich bin Commander Matthew Drax", stellte er sich dem holografischen Ritter vor und kam sich ziemlich lächerlich dabei vor. "Wir kommen von den Bunkern London und Salisbury und wollen mit den Bewohnern der Dubliner Community sprechen. Ist das möglich?" "Ich bin Sir Cedric", erwiderte der Reiter mit stolzer Stimme und warf sich in Positur, "Schwertführer des Königs und Beschützer des Reiches. Wer immer Einlass begehrt in unsere Burg, der muss an mir vorbei." "Hören Sie", meinte Matt, "wir wollen keinen Ärger, okay? Wir kommen in friedlicher Absicht und..." "Ihr wollt Euch nicht zu erkennen geben, schwarzer Ritter? Wohlan denn, sagt nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt. Niemand fordert Sir Cedric heraus, es sei denn aus Unwissenheit oder Dummheit. Nehmt das, Schurke!" Klappernd fiel das Visier des Ritters herunter. Sein Pferd
bäumte sich auf der Hinterhand auf und wieherte, und seine Rüstung blitzte im Schein der simulierten Sonne. Im nächsten Moment senkte er die Lanze und sprengte los, geradewegs auf Matt und seine Gefährten zu. "Verdammt, was...?" Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Während sich Farmer und Shaw instinktiv zu Boden warfen, teilte Aruula vorsichtshalber einen Schwerthieb aus. Matt, Selina und Steve Bolton blieben stehen - und Sir Cedric ritt prompt durch sie hindurch. Mit donnernden Hufen trug ihn sein virtuelles Ross in den Kampf. Wer der Gegner war, würden Matt und die Seinen wohl nie erfahren, denn die Holografie-Projektoren auf der anderen Seite der Lichtung schienen ausgefallen zu sein. Sir Cedric war dazu verdammt, sein Duell mit einem imaginären Gegner zu führen. Unwillkürlich musste Matt an Don Quixote denken, der gegen Windmühlen gekämpft hatte, die er für Riesen hielt. Wie der seltsame Kampf ausging, bekamen die Besucher nicht mehr mit, denn ein bizarres Flugobjekt nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Aruula ließ ein ungläubiges Keuchen vernehmen, als ein fliegender Teppich dicht über ihren Köpfen hinweg zog. Darauf saß ein dicker Sultan, der genüsslich an seiner Wasserpfeife sog und ihnen freundlich lächelnd zuwinkte. "Wer immer das hier gebaut hat", sagte Selina McDuncan, "ist entweder völlig irre oder hat einen eigenartigen Sinn für Humor." "Möglicherweise weder das eine noch das andere", meinte Matt. "Bei den sterblichen Überresten, die wir gefunden haben, fand sich kein Hinweis auf einen Schutzanzug." "Und?" "Das könnte bedeuten, dass diese Halle einst zum Bunkersystem gehört hat, dass sie ein antiseptischer Bereich gewesen ist. Möglicherweise handelte es sich um eine Art
Vergnügungspark." "Vergnügungspark?" Aruula machte große Augen. "Ja. Ein Ort, an den die Menschen gehen konnten, um Zerstreuung und Ablenkung vom tristen Bunkeralltag zu suchen." "Das wäre möglich", räumte Selina ein. "Aber weshalb sollte jemand ausgerechnet Kindermärchen zum Inhalt eines solchen Parks machen?" "Vielleicht", vermutete Matt, "weil er das genaue Gegenteil von einem Bunker ist. Sonnenschein und grüne Wiesen, Tradition statt Technik, märchenhafte Gestalten statt der immer gleichen Gesichter." "Ein gutes Argument", räumte Selina ein. Auch die Londoner Bunkergemeinde hatte mit dem Problem Jahrhunderte währender Tristesse zu kämpfen gehabt. Man hatte sich davon abzulenken versucht, indem man die Bunkerwände zu riesigen Bildschirmen umgebaut hatte, die den Bewohnern zumindest die Illusion vorgaukelten, sich unter freiem Himmel zu befinden und den Luxus eines Sonnenaufgangs oder eines Spaziergangs am Meer zu erleben. Wie unzureichend diese Bilder im Vergleich zur Realität waren, ging Selina und ihren Leuten erst dieser Tage wirklich auf. "Was mich viel mehr interessiert, ist, weshalb all diese Dinge in einem so schlechten Zustand sind", sagte Matt. "Die Halle sieht aus, als hätte seit Jahren niemand mehr einen Fuß hinein gesetzt. Sie ist völlig marode und die Außenhülle zerstört. Und weshalb war die Stromzufuhr unterbrochen?" "Vielleicht existiert die Bunkerzivilisation nicht mehr", gab Aruula zu bedenken. "Vielleicht war die Natur diesmal stärker." "Das denke ich nicht", widersprach Steve Bolton heftig, der inzwischen die nähere Gegend erkundet hatte und auf etwas gestoßen war. "Dort drüben befindet sich der Bunkereingang,
und er ist verschlossen!" Sofort gesellten sich Matt und die anderen zu ihm. Sie mussten über eine Reihe knorriger Wurzeln steigen, die den Boden überwuchert hatten, und standen unvermittelt vor einem schweren, mit schwarz-gelben Markierungen versehenen Schott, das hermetisch verriegelt war und geradewegs in den Boden zu führen schien. Weder am Tor selbst noch im Beton, in den es eingelassen war, gab es eine Konsole, über die sich das Schott hätte öffnen lassen. Boltons Vermutung, dass es von innen verschlossen worden sein musste, war also naheliegend. "Sehr gut", lobte Selina McDuncan den Navigator. "Gefunden hätten wir ihn also. Und was nun?" "Nun ja", meinte Matt, "vorausgesetzt, dass die Bunkerleute..." "Guten Tag", erklang plötzlich eine schnarrende Stimme, die sich nicht des altertümlichen Englischs bediente, das die holografischen Figuren verwendet hatten, sondern ein zeitgemäßes Idiom mit einem erkennbar irischen Akzent sprach. Die Stimme klang seltsam metallisch, und Matt nahm an, dass sie aus einem verborgenen Lautsprecher drang. Jetzt sah er auch, dass sich oberhalb des Schotts ein kleines mechanisches Auge befand - das Objektiv einer Kamera, das sie beobachtete. "Guten Tag", erwiderte er den Gruß. "Wer sind Sie und was wollen Sie?", erkundigte sich der unbekannte Sprecher weitaus weniger blumig als Sir Cedric es getan hatte. "Ich bin Commander Matthew Drax", leierte Matt seinen Spruch ein weiteres Mal herunter. "Wir sind eine Abordnung der Communities London und Salisbury und kommen in friedlicher Absicht. Wir sind hier, um..." Weiter brauchte er nicht zu sprechen - das mächtige Schott
teilte sich und glitt mit mechanischem Krächzen auseinander. Der Eingang zum Bunker klaffte wie ein dunkler Schlund vor ihnen. "Das war ja einfach", meinte Matt und nickte seinen Begleitern ermunternd zu. Die Unruhe war ihnen anzusehen. Besonders Aruula war augenscheinlich nicht sehr erpicht darauf, sich unter die Erde zu begeben. Sie folgten der Einladung dennoch und passierten das Schott. Kaum betraten sie den dahinter liegenden Raum, sprangen flackernde Leuchtröhren an, und die Türhälften schlossen sich wieder. Ein Zischen verriet, dass der Raum luftdicht versiegelt wurde. Auf der gegenüber liegenden Seite gab es ein weiteres Schott, das dem ersten ähnelte. "Sehen Sie die Schutzanzüge?", erkundigte sich die Stimme, die erneut aus einem verborgenen Lautsprecher drang. "Allerdings", bestätigte Matt - die Anzüge mit den gläsernen, kugelförmigen Helmen hingen säuberlich aufgereiht an der Wand. "Ziehen Sie sie an. Wenn Sie tatsächlich aus London kommen, wissen Sie, weshalb diese Vorsichtsmaßnahme erforderlich ist." Matt bejahte. Er und seine Gefährten machten sich daran, der Aufforderung Folge zu leisten und die Anzüge anzulegen, die aus weißen Overalls und gläsernen Helmen mit integrierten Mikrofilter-Atemgeräten bestanden. Aufgrund der Immunschwäche, an der alle Technos litten, konnte schon eine einzige Bakterie von außerhalb für sie tödlich sein. Nur in absolut aseptischer Umgebung konnten sie sich frei bewegen - ein Umstand, der sich mit dem Serum jedoch grundlegend ändern würde. Während Matt in seinen Overall schlüpfte, versuchte er sich die verblüfften Gesichter der Dublin-Technos vorzustellen, wenn er ihnen die gute Nachricht brachte. "Eins steht jedenfalls fest", kommentierte Selina McDuncan,
während sie ihrerseits den Schutzanzug anlegte. "Diese Leute haben schon seit sehr, sehr langer Zeit keinen Besuch mehr erhalten. Diese Anzüge wurden schon lange nicht mehr benutzt." "Und die Helme sind verdammt schwer", fügte Andrew Farmer hinzu, stülpte sich einen davon über den Kopf und ließ ihn in die Kragenhalterung einrasten. "Ich nehme an, das Glas ist metallbedampft", mutmaßte Selina und wandte sich Matt zu, um ein wenig mit ihrem Wissen zu glänzen. "Das hat den Vorteil, dass man die Helme auf Knopfdruck undurchsichtig machen kann, um sich vor grellem Licht oder Strahlung zu schützen. In London haben wir ähnliche." "Ich weiß", sagte Matt nur, dessen Stimme sich durch den Filter seltsam dumpf anhörte. "Sind alle fertig?" "Fertig", meldeten die Crewmitglieder nacheinander. "Machen Sie sich bereit, nach der Dekontaminierung die Bunkersektion zu betreten", kündigte die Stimme über den Lautsprecher an. Die Lichter im Schleusenraum erloschen, und einen Augenblick lang standen Matt und seine Leute in völliger Dunkelheit. Wieder war ein leises Zischen zu hören, dann flackerten mehrmals hintereinander grelle Lichtblitze auf. Die im Raum vorhandenen Bakterien wurden mit Desinfektionsmitteln und UV-Licht abgetötet. Dann erst öffnete sich das Schott zum eigentlichen Bunker. Die Betonwände des Korridors, der sich jenseits des Schotts erstreckte, waren grau und schmucklos. Leuchtstoffröhren verbreiteten fahlen Schein. Der Gang führte steil in die Tiefe. Nur ein paar Meter entfernt stand ein Mann, der die Besucher erwartete. Seine Gestalt war hager und wirkte fast zerbrechlich, sein Kopf war haarlos und seine bleiche Haut von dünnen blauen Adern überzogen. Seine Züge waren markant und hatten etwas
Gütiges, was nicht zuletzt an den wasserblauen Augen lag, die Matt und seinen Leuten erwartungsvoll entgegen blickten. Das Alter des Mannes war wie bei allen Technos schwer zu schätzen. Matt nahm an, dass er siebzig, vielleicht achtzig Jahre alt war, nach Techno-Maßstäben kein allzu biblisches Alter. Der Fremde trug einen weißen Overall, Stiefel und Handschuhe. Er war nicht bewaffnet - offenbar schien er ziemlich sicher zu sein, dass die Neuankömmlinge friedliche Absichten hegten. "Guten Tag", sagte er, und Matt erkannte die Stimme wieder, die sie schon draußen begrüßt hatte. "Mein Name ist Rupert O'Herly. Ich bin der Sicherheitschef, und es ist mir eine Ehre, Sie im Namen den Bunkergemeinde von Dublin zu begrüßen." "Die Ehre ist ganz auf unserer Seite", erwiderte Matt und stellte sich und seine Gruppe vor. "Es freut mich sehr, dass Sie den Weg zu unserem Bunker gefunden haben", sagte O'Herly, und ein joviales Lächeln gesellte sich zum freundlichen Ausdruck seiner Augen. "Sie müssen wissen, dass wir schon sehr lange keinen Besuch von außerhalb mehr bekommen haben. Der letzte Kontakt zu anderen Bunkerbewohnern liegt mehr als hundert Jahre zurück." "Haben Sie nie versucht, Kontakt zu anderen Communities aufzunehmen? In Bangor war man sich nicht einmal sicher, ob Sie noch existieren." "Wir sind zu der Erkenntnis gelangt, dass wir uns selbst genügen, und haben uns auf unsere eigene Welt beschränkt. Sie bietet uns alles, was wir brauchen, vor allem aber Sicherheit. Für so etwas" - er deutete auf den Driller in Selinas Holster "werden Sie bei uns keine Verwendung finden." "Das glauben wir Ihnen gern", versicherte Matt. "Die Waffen sind nur zu unserem eigenen Schutz. Wie wir
feststellen mussten, gibt es da draußen einige ziemlich gefräßige Bestien." "Das ist nur zu wahr." "Wenn Sie es wünschen, können wir die Waffen auch gerne abgeben", schlug Matt vor, der nicht wollte, dass etwas zwischen ihnen stand. "Wir vertrauen uns ganz Ihrer Sicherheit an." "Das wäre zu begrüßen", erwiderte O'Herly, worauf sich ein Schott in der Seitenwand des Korridors öffnete. "Wenn Sie Ihre Waffen bitte dort ablegen möchten..." "Natürlich", willigte Matt ein. Er ging mit gutem Beispiel voran und legte seinen Driller in die Nische. McDuncan und ihre Leute taten es ihm gleich, nur Aruula war nicht gewillt, sich von ihrem Schwert zu trennen. Es kostete Matt einige Überredungskunst, um sie dazu zu bringen. In seinen Augen war es ganz normal, dass die Dubliner Technos nicht wollten, dass eine Gruppe bis an die Zähne bewaffneter Fremder in ihren Bunker einmarschierte. "Sehr gut", sagte O'Herly und lächelte wieder. "Wenn Sie mir bitte folgen möchten - ich werde Sie zu Mr. Fitzpatrick bringen, dem Vorsteher unserer Gemeinde." Sie schritten den Gang hinab, der sich über einige hundert Meter erstreckte und immer weiter in die Tiefe führte. O'Herly ging ihnen voraus. Er schien keine Fragen an sie zu haben, was Matt seltsam vorkam - er für seinen Teil hatte jede Menge Fragen, die er den Bunkerleuten stellen wollte. "Sagen Sie", begann er deshalb vorsichtig, "diese Halle dort oben..." "Oh, natürlich!" O'Herly schlug sich mit der Hand vor die Stirn. "Verzeihen Sie mir, ich werde allmählich vergesslich. Das hätte ich Ihnen natürlich erklären müssen. Hat der Empfang Sie sehr überrascht?" "Na ja", meinte Matt, "die Sieben Zwerge waren ganz lustig. Der Drache dagegen hat uns ganz schön erschreckt."
"Das kann ich mir vorstellen." Der Sicherheitschef nickte. "Wahrscheinlich halten Sie uns jetzt für ziemlich exzentrisch, nicht wahr?" "Nun...", erwiderte Matt und wollte sich eine diplomatisch ausgereifte Antwort überlegen - während Aruula und Selina McDuncan wie aus einem Mund mit "Ja" antworteten. "All das lässt sich sehr einfach erklären", sagte O'Herly. "Was Sie dort oben gesehen haben, sind die Überreste von etwas, das wir einst das 'Habitat' nannten. Ein künstliches Paradies. Ein Fantasie-Universum. Eine Welt innerhalb unserer Welt, wenn Sie so wollen." "Zu welchem Zweck?", wollte Selina wissen. "Zur Zerstreuung, vielleicht auch zur Inspiration." O'Herly zuckte mit den Schultern. "Ziel des Habitats war es, den Mitgliedern unserer Community einen Ort zu schenken, an dem sie Stress abbauen und frei von Sorgen jeglicher Art leben konnten. Man reagierte damit auf zunehmend auftretende Fälle von Paranoia und Klaustrophobie." Matt nickte. Die Folgen des ewigen Eingesperrtseins unter Tage auf die menschliche Psyche waren nicht zu unterschätzen. Der Bunkerkoller konnte die Leute in den Wahnsinn treiben, wenn man nicht beizeiten ein Mittel dagegen fand. Die Lösung der Dublin-Community schien das Habitat gewesen zu sein. "Ich verstehe", sagte er. "Und weshalb ist es nicht mehr in Betrieb?" "Aus verschiedenen Gründen. Zum einen haben Sie vielleicht den Riss in der Außenhaut des Habitat gesehen. Dieser Riss erinnert an die größte Katastrophe, die jemals über unsere Gemeinschaft hereingebrochen ist." "Eine Katastrophe?", fragte Aruula. O'Herly nickte. "Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr darüber sagen möchte. Die Erinnerung daran ist zu schmerzlich. Mein eigener Bruder kam bei der Katastrophe ums Leben."
"Verzeihen Sie", sagte Matt. "Wir wollten Ihre Gefühle nicht verletzen." "Schon gut. Sie konnten es nicht wissen." "Und danach sind Sie nicht mehr in das Habitat zurückgekehrt?" Der Sicherheitschef setzte wieder sein mildes Lächeln auf. "Wie ich schon sagte, Commander Drax - mein Volk hat sein Glück innerhalb dieser Welt gefunden. Wir streben nicht mehr nach den äußeren Dingen und dem, was wir einst zurückgelassen haben. Wir genügen uns selbst, allerdings freuen wir uns sehr über Ihren Besuch." "Wie viele Mitglieder hat Ihre Gemeinde?" "Zweiundsechzig. Wir sind nicht sehr viele, aber wir haben Erstaunliches geleistet, wie Sie noch sehen werden." Sie passierten einen weiteren Durchgang, dessen Schott weit offen stand und der den Zugang zum eigentlichen Bunker bildete. Ein großer Raum mit niedriger Decke erstreckte sich vor ihnen, auf den weitere Korridore mündeten. Und zum ersten Mal trafen sie auf weitere Bunkerbewohner. Bekleidet waren sie wie O'Herly mit weißen Overalls. Ihre haarlosen, filigranen Gesichter, die es auf den ersten Blick nicht einfach machten, Männer und Frauen zu unterscheiden, schauten ihnen erwartungsvoll entgegen. Furcht oder Befremden schienen die Leute von Dublin nicht zu kennen Matt kam es eher so vor, als ob sie mit dem Besuch gerechnet hatten. Vielleicht, sagte er sich, hatten sie mit ihrer Vermutung ja richtig gelegen und waren schon längere Zeit beobachtet worden. Vielleicht hatte man ihr Verhalten in den Ruinen des Habitat als Test genommen, um ihr Aggressionsverhalten zu prüfen - oder war das ein zu abwegiger Gedanke? In jedem Fall kam Matt das Verhalten der Bunkerleute seltsam vor, und nicht nur ihm erging es so. Auch Selina McDuncan und ihre Crew, die sich immerhin unter
ihresgleichen bewegten, schienen sich nicht sehr wohl zu fühlen. Plötzlich war helles Geschrei zu hören. Zwei Kinder, die mit einem Ball spielten, kamen den Gang herab gelaufen. Als sie Matt und seine Begleiter erblickten, blieben sie verblüfft stehen. Der Ball entglitt ihrem Griff und rollte davon, verschwand in einem Nebengang. "Wer bist du?", fragte der Junge Aruula, zu der er aufblickte wie zu einem Denkmal. "Ich bin Aruula", stellte sie sich mit bedeutungsvoller Stimme vor. "Eine Kriegerin." "Du bist... anders", stellte der Knabe fest. "Anders, aber wunderschön. Und warum trägst du so einen komischen Anzug?" "Weil es Besucher von außerhalb sind, Jimmy", erklärte O'Herly an Aruulas Stelle. "Sie müssen diese Anzüge tragen, um uns nicht zu gefährden. Das hast du in der Schule gelernt." "Er hätte es lernen können", versetzte das Mädchen mit gerümpfter Nase, "wenn er besser aufgepasst hätte. Aber Jimmy denkt immer nur ans Ballspielen. Deshalb weiß er nichts von Bakterien und Viren und von den Gefahren, die von ihnen ausgehen. Er ist ein Dummkopf." "Selber!", begehrte der Junge auf, und im nächsten Moment jagte er hinter der vorlauten Göre her, die kichernd in einem der Korridore verschwand. Manche Dinge, dachte Matt amüsiert, änderten sich wohl nie. Auch die Bunkerbewohner lächelten, und er sagte sich, dass sein erster Eindruck ihn wohl getrogen hatte. Wahrscheinlich hatten die Begegnung mit den Sieben Zwergen ihn nur ein wenig durcheinander gebracht, das war alles. "Besucher!", sagte plötzlich eine alte Frau, die bei den anderen Schaulustigen stand. Statt eines Overalls trug sie ein weites weißes Gewand. Falten überzogen ihr graues Gesicht. "Ihr seid Besucher von außerhalb?" Sie eilte zu ihnen hin und
zupfte an Matts Ärmel. "Ja", bestätigte der Mann aus der Vergangenheit. "Von wo kommt ihr?" "Aus London." "Werdet ihr bleiben?" "Nun", meinte Matt diplomatisch, "wenn die Bunkerführung nichts dagegen hat, bleiben wir natürlich gerne für ein paar Tage." "Wir würden uns sehr darüber freuen", versicherte Rupert O'Herly. "Und nun folgen Sie mir bitte. Mr. Fitzpatrick wurde bereits über Ihr Kommen informiert und erwartet Sie." Sie ließen die alte Frau zurück - sie wollte Matt kaum loslassen und er musste sich fast gewaltsam von ihr lösen - und gingen dem Sicherheitschef nach, der in einen Nebengang einbog. Ein Fahrstuhl nahm sie auf und glitt summend mit ihnen in die Tiefe. "Die Energieversorgung scheint für Sie kein Problem darzustellen", schnitt Selina eins der Themen an, die sie am meisten interessierten. "Das ist wahr", bestätigte O'Herly. "Drei TrilithiumKristalle versorgen den gesamten Komplex mit ausreichender Energie. Eines der vielen Probleme, die wir dauerhaft gelöst haben." Der Fahrstuhl hielt an und sie stiegen aus. Durch einen weiteren Korridor führte sie der Sicherheitschef zu einem schmalen Schott. Über eine Sprechanlage kündigte er sich und seine Besucher an, worauf das Schott zur Seite glitt. Der dahinter liegende Raum war funktionell eingerichtet und nüchtern beleuchtet. Spinde säumten die Wände, ein großer Schreibtisch mit mehreren Bildschirmterminals nahm die Mitte des Raumes ein. Dahinter saß ein Mann, der für einen Techno ungewöhnlich schwer und stark gebaut war. Seine Züge verrieten Energie und Durchsetzungskraft.
"Guten Tag", sagte er, als Matt und die anderen sein Büro betraten, machte jedoch keine Anstalten, sich zu erheben. "Das sind also die Besucher von außen." "Jawohl, Sir", bestätigte O'Herly und deutete eine Verbeugung an. "Wie sie sagen, vertreten sie London und Salisbury." "London?!" Der Mann hinter dem Schreibtisch legte seine hohe Stirn in Falten. "Jawohl, Sir", bestätigte Matthew. "Wenn Sie mir gestatten wollen, meine Begleiter und mich vorzustellen. Ich bin..." "Ich weiß, wer Sie sind, Commander, und ich bin auch über Ihre Kollegen im Bilde", versicherte Fitzpatrick mit bestimmtem Tonfall. "Ich beobachte sie schon seit geraumer Zeit." "Ich verstehe", erwiderte Matt - sein Verdacht erhärtete sich. "Aber was Sie nicht wissen, ist der Grund für unseren Besuch hier bei Ihnen." "Das ist richtig", gab der Vorsteher der Bunkergemeinde zu. "Aber ist das denn von Belang? Die Hauptsache ist doch, dass Sie hier sind und wir Sie als unsere Gäste begrüßen dürfen. Sie alle sind uns herzlich willkommen." "Danke, Sir", sagte Matt, "das ist sehr freundlich von Ihnen. Dennoch gibt es einige Dinge, über die wir dringend sprechen sollten, weil sie keinen Aufschub dulden." "So dringend?" Fitzpatrick wirkte ein wenig konsterniert. "Sie müssen verzeihen, mein junger Freund - Eile ist etwas, das wir nicht kennen. Ich schlage vor, dass Sie sich zunächst bei uns einrichten. In ein paar Tagen, wenn Sie sich eingelebt haben, können wir dann über alles sprechen, wenn Sie es wünschen." "Bedaure, Sir, aber so viel Zeit haben wir nicht. Die Angelegenheit, in der wir gekommen sind, ist dringend. Ihr und unser Leben wird sich dadurch grundlegend verändern." "Das bezweifle ich", meinte der Bunkervorsteher
schulterzuckend. "Aber ich will den ersten Besuchern gegenüber, die nach so langer Zeit zu uns stoßen, nicht unhöflich sein. Tragen Sie also vor, was Sie vorzutragen haben, Commander. Ich werde Ihnen zuhören." Matt bedankte sich - und dann begann er in aller Kürze den Grund für ihre Reise zu erläutern. Er ließ dabei alles aus, was zum Verständnis nicht unbedingt nötig war. Die Zusammenhänge zu erklären und die Gefahr zu erläutern, die von den Daa'muren drohte, nahm dennoch eine ganze Weile in Anspruch. Schließlich kam er auf den für die Technos vielleicht wichtigsten Punkt zu sprechen. "Ich weiß, Mr. Fitzpatrick", begann er, "dass es für Sie und Ihre Leute nicht einfach sein wird, das alles zu verstehen und zu akzeptieren. Veränderungen kommen manchmal so schnell, dass der menschliche Geist sich schwer damit tut. Aber was würden Sie sagen, wenn Sie und Ihre Leute nicht länger den Beschränkungen dieses Bunkersystems unterliegen würden?" "Wie meinen Sie das, junger Freund?" "Ganz einfach: Ich spreche von einem normalen Leben. Von einem Leben wie früher, vor der großen Katastrophe, die Ihre Vorfahren zu einem Leben unter Tage gezwungen hat. Ich spreche davon, den Bunker zu verlassen, Mr. Fitzpatrick. Ohne Helme und ohne Schutzanzüge, ohne die Angst, von der erstbesten Infektion dahingerafft zu werden. Davon spreche ich." "Dann wissen Sie nicht, was Sie sagen, mein junger Freund", erwiderte der Gemeindevorsteher gönnerhaft. "Dieser Bunker ist unsere Heimat, seit Generationen schon, und er wird es auch immer bleiben." "Nicht wenn wir Ihnen das Serum verabreichen, das wir entwickelt haben", sprang Selina McDuncan Matt bei. "Sehen Sie mich an, Sir. Ich bin ebenfalls ein Techno. Auch ich bin in einem Bunkersystem aufgewachsen. Ich habe mein Leben lang
nur gefilterte Luft geatmet und die Sonne nur durch getöntes Glas gesehen. Aber durch das Serum hat mein Körper wieder Abwehrkräfte entwickelt, die es mir ermöglichen, mich draußen aufzuhalten, unter freiem Himmel!" "Das ist nicht möglich", beharrte Fitzpatrick. "Wie erklären Sie sich dann, dass wir hier sind? Wir haben Ihren Bunker ohne Schutzanzüge betreten." Der Vorsteher tauschte verstohlene Blicke mit O'Herly. Beiden war keine Überraschung anzumerken - die Nachrichten, die Matt ihnen überbracht hatte, schienen sie eher zu verwirren. Schon machte sich Matt Sorgen, dass er zu rasch zum Punkt gekommen war. Vielleicht wäre es besser gewesen, zuerst ein paar Kontakte zu knüpfen, anstatt gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Die positiven Erfahrungen aus Bangor, wo man ihnen das Serum förmlich aus der Hand gerissen hatte, hatten ihn dazu ermutigt. Aber möglicherweise hatte er einen Fehler begangen... "Wie auch immer", sagte Fitzpatrick schließlich und machte eine versöhnliche Geste. "Es ist schön, dass Sie hier sind. Wir alle freuen uns sehr, Besucher von außerhalb in unserer Welt begrüßen zu dürfen." "Danke", sagte Matt, "das ist sehr freundlich. Und bitte verzeihen Sie mir, wenn ich den Eindruck erweckt habe, Sie zu bedrängen." "Das haben Sie nicht, mein junger Freund. Es ist alles in Ordnung. Ihre Nachrichten haben nichts geändert. Es wird alles beim Alten bleiben." "Alles beim Alten? Wie darf ich das verstehen?" "Es bedeutet, dass wir keinen Bedarf für Ihr... Serum haben, Commander." "Keinen Bedarf?" Matt glaubte nicht richtig zu hören. "Aber das Serum bedeutet Freiheit! Es bedeutet Leben!" "Freiheit liegt im Auge des Betrachters, Commander", belehrte ihn Fitzpatrick. "Wir sind hier frei, denn wir haben
alles, was wir zum Leben brauchen. Das ist alles, was ich Ihnen dazu sagen kann. Wir freuen uns über Ihren Besuch." "Und... was ist mit den Daa'muren?", fragte Matt, der einfach nicht glauben konnte, was er da hörte. "Haben Sie nicht verstanden, was ich gesagt habe?" "Natürlich. Aber dieses Problem ist nicht relevant." "Nicht relevant? Sie meinen, es ist nicht relevant?" Die sonst so beherrschte Selina McDuncan schnappte so hörbar nach Luft, dass Matt sie mit einem Blick zur Ordnung rufen musste. "Dass Sie die Bedrohung durch die Daa'muren als nicht relevant einstufen, zeigt mir, dass Sie mich noch nicht verstanden haben, Mr. Fitzpatrick", sagte er. "Vielleicht sollte ich Ihnen noch einmal erklären, worum es dabei geht. Ich spreche von einer epochalen Bedrohung. Von einem Ereignis, das die Menschheit seit der Kometenkatastrophe radikal beeinflusst und in eine Zukunft befördert hat, die sie nicht wollte. Wenn wir nicht handeln, Mr. Fitzpatrick, wird es unser aller Untergang sein!" "Vielleicht", sagte der Bunkervorsteher nur. "Aber das liegt nicht in meinem Entscheidungsbereich. Meine Aufgabe ist es, für die Bewohner dieses Bunkers zu sorgen, und nichts anderes werde ich tun. Wir alle freuen uns über Ihren Besuch." "Das glaube ich Ihnen ja allmählich", knurrte Matt, der merkte, wie sich seine Geduld dem Ende näherte. Was war los mit diesen Leuten? Waren Fitzpatrick und O'Herly zu senil, um zu begreifen, worum es ging? Dass sie ihrem Volk die Zukunft verweigerten? "Dann entschuldigen Sie mich bitte, ich habe noch zu tun", sagte Fitzpatrick. "Chief O'Herly wird Sie zu Ihren Quartieren bringen. Es handelt sich um einen isolierten Bereich, sodass Sie die Schutzanzüge nicht anzubehalten brauchen. Ich danke Ihnen." "Einen Moment noch, Sir", hakte Matt ein.
"Ja?" "In Anbetracht der Tragweite der Ereignisse, von denen ich Ihnen berichtet habe, würde ich gerne auch alle anderen Bewohner des Bunkers darüber informieren." "Wenn Sie Wert darauf legen. Aber es wird nichts ändern. Meine Mitbürger teilen meine Meinung in dieser Hinsicht." Matts Züge verkrampften sich. "Wenn Sie erlauben, Sir, würde ich das gerne selbst herausfinden. Immerhin könnte das Überleben der gesamten Community von dieser Entscheidung abhängen." "Wie Sie wollen. Ich werde für heute Abend eine Vollversammlung im großen Saal einberufen lassen. Mehr kann ich nicht für Sie tun, Commander." "Das genügt völlig. Danke, Sir." "Es ist mir ein Vergnügen, Commander. Hauptsache, Sie und Ihre Begleiter bleiben bei uns. Wir alle freuen uns, dass Sie hier sind..." * O'Herly führte sie aus der Sektion, die Fitzpatricks Büro beherbergte, in den Bereich, in dem die Quartiere untergebracht waren. Dublin war nicht die einzige Community, deren einstmals militärische Prägung im Lauf der Jahrhunderte zivil geworden war: Der Bunkerkommandant war ein ziviler Vorsteher, die einstmals mit Offizieren besetzten Posten wurden durch Qualifikation oder demokratische Wahl besetzt. Noch durchschaute Matt nicht, was für ein Gesellschaftssystem die Technos entwickelt hatten, aber eines stand fest: Es unterschied sich von allen anderen, die er bislang kennen gelernt hatte. Die Selbstverständlichkeit, mit der Fitzpatrick davon ausgegangen war, dass seine Entscheidung auch die seines
Volkes war, ließ an eine Diktatur denken. Andererseits - hätte ein Diktator erlaubt, dass seine Leute sich versammelten, um über etwas abzustimmen? Der Bunkervorsteher schien sich seiner Sache sehr sicher gewesen zu sein, und das verwirrte Matt. Der Bunker von Dublin sah aus wie viele andere, die sie gesehen hatten. Man hatte kaum Anstrengungen unternommen, um die einstmals militärisch genutzten Korridore und Räume zu verschönen, und wenn, lagen sie Jahrzehnte zurück. Die Farben, in denen der Beton der Wände einst gestrichen worden war, waren verblasst, das Metall der Schotts matt geworden. Dass es nicht rostete, war nur der antiseptischen Atmosphäre zu verdanken, die die Technos aufrecht erhielten. Die Temperaturen innerhalb des Bunkers waren ungewöhnlich hoch. Wie O'Herly ihnen erklärte, war ein zentrales Ventilations- und Heizungssystem für das künstliche Klima zuständig, das nach den Bedürfnissen der Bunkerbewohner ausgerichtet wurde. Die Technos von Dublin schienen sich darin jedenfalls wohl zu fühlen. Auf den Gängen begegneten ihnen mehrere Bunkerbewohner, die sie mit einer Mischung aus Respekt und Neugier anblickten. Der Gedanke, dass sie ihr ganzes Leben in diesem finsteren Bunker zugebracht hatten, deprimierte Matt. Er konnte, wollte nicht glauben, dass sie für das Serum tatsächlich keine Verwendung haben sollten. Lag es nicht in der menschlichen Natur, sich nach Freiheit zu sehnen, nach Licht und freiem Himmel? Er würde einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, aber er war sicher, dass es ihm gelingen würde, die Stimmung auf der Versammlung herumzudrehen. Spätestens dann würde sich zeigen, wie demokratisch Fitzpatrick tatsächlich gesonnen war. "Maddrax", raunte Aruula ihm zu, die neben ihm ging. "Was gibt es?"
"Etwas stimmt nicht", erwiderte die Barbarin, was Matt nicht weiter verwunderte. Aruulas Abneigung gegen alles, was zu technisch war sowie gegen unterirdische Räume war bekannt. "Was meinst du?", fragte er dennoch. "Ich kann nichts erlauschen", sagte sie, jedes einzelne Wort betonend. "Jedenfalls nichts Deutliches, nur ganz schwach und leise." "Das liegt vermutlich an dem Helm", war Matt überzeugt. "Er ist mit Blei und anderen Metallen bedampft, um ihn undurchlässig gegen Strahlen zu machen. Gut möglich, dass er auch tele... dein Lauschen dämpft." "Bist du dir sicher?" Sie klang verstört. Kein Wunder; schon einmal war ihr Lauschsinn für Monate ausgefallen - eine schreckliche Zeit für Aruula. "Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Diese Leute mögen ein wenig seltsam sein, aber das ist nur zu verständlich. Sie haben Jahrzehnte in Isolation verbracht. Wir sind der erste Kontakt zur Außenwelt seit mehreren Generationen. Es ist nicht einfach für sie, das alles zu verarbeiten. Wir müssen ihnen nur genug Zeit geben." Sie erreichten eine Kreuzung, an der weitere Technos standen, und Matt erkannte die alte Frau wieder, der sie schon einmal begegnet waren. Sie musterte die Neuankömmlinge, als hätte sie sie noch nie zuvor gesehen, und sagte krächzend: "Ihr seid Besucher von außerhalb?" "Ja", bestätigte Matt abermals. "Woher kommt ihr?" "Aus London." "Werdet ihr bei uns bleiben?" "Nun, ich... wir werden sehen, was sich machen lässt", entgegnete Matt ein wenig hilflos. Der Blick, mit dem die Alte ihn betrachtete, hatte fast etwas Flehendes, und er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.
O'Herly führte sie einen Nebengang hinab, der vor einem Schott endete. Als sie davor traten, teilte es sich. Dahinter lag ein länglicher Raum, in dem es mehrere Tische mit Stühlen aus Kunststoff gab. Die Mitte des Zimmers wurde von einer dicken Glasscheibe unterteilt. Auf der anderen Seite sahen Matt und seine Begleiter mehrere Technos an den Tischen sitzen. Sie waren damit beschäftigt, Mahlzeiten zu sich zu nehmen, die über eine Art Förderband in den Saal transportiert wurden. Auch auf ihrer Seite des Glases gab es solch ein Förderband, durch das in diesem Augenblick mehrere Tabletts hereingefahren wurden. Darauf standen Teller mit einer dampfenden, breiartigen Flüssigkeit. "Essenszeit", sagte der Sicherheitschef nur. "Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause. Sobald das Schott versiegelt wurde, steht es Ihnen frei, die Helme und Schutzanzüge abzunehmen. Sollten Sie mit unseren Bürgern auf der anderen Seite in Kontakt treten wollen, so ist dies über die Sprechanlage jederzeit möglich. Wenn es Ihnen Recht ist, werde ich Sie in einer Stunde wieder abholen, um Ihnen die Quartiere zu zeigen." "Natürlich", sagte Matt. "Haben Sie vielen Dank." "Gern geschehen", sagte O'Herly nur. "Wir freuen uns über ihren Besuch." Damit verbeugte er sich und ging. Das Schott schloss sich hinter ihm, und kurz darauf verriet ein leises Zischen, dass die Versiegelung abgeschlossen war. Eine Leuchtanzeige, die über dem Schott in die Wand eingelassen war, sprang von Rot auf Grün um, und Matt griff an den Verschluss seines Helms. "Das war's dann wohl", meinte er, öffnete die Versiegelung und nahm das schwere Gebilde ab. Die anderen taten es ihm gleich. Die Luft des Bunkers, die sie nun zum ersten Mal ungefiltert atmeten, roch nach gar nichts. Sie war antiseptisch und von allem befreit, das nicht unbedingt zur Sauerstoffversorgung menschlicher Lungen notwendig war.
"Tut gut, die Schutzanzüge loszuwerden", meinte Andrew Farmer. "Wenn man die Dinger trägt, kommen unangenehme Erinnerungen hoch." "Geht mir genauso", pflichtete ihm Peter Shaw bei. "Kaum zu glauben, dass jemand freiwillig darauf verzichtet, diesen Anzügen und dem Leben in diesem verdammten Gefängnis zu entfliehen." "Dieses Gefängnis ist ihre Heimat", sagte Aruula, die vor der Glasscheibe stehen geblieben war und auf die Technos starrte, die auf der anderen Seite ihre Mahlzeiten zu sich nahmen. Nur gelegentlich blickte einer von ihnen herüber und schien auch dann nicht sehr überrascht zu sein. "Tja", meinte Matt, "wir werden uns wohl damit abfinden müssen, dass man uns nicht überall wie Rock-'n'-Roll-Stars feiert. Vielleicht haben wir die Wirkung der Neuigkeiten einfach überschätzt." "Auf keinen Fall." Selina schüttelte entschieden den Kopf. "Sie hatten Recht mit dem, was Sie sagten, Commander. Was wir diesen Menschen bringen, verändert ihre Zukunft. Vielleicht haben sie schon keine mehr, aber es scheint ihnen egal zu sein." "Vielleicht sind sie auf irgendeine Weise degeneriert", vermutete Steve Bolton. "Möglicherweise ist ihr Geist nicht mehr in der Lage zu erfassen, welche Tragweite das alles für sie hat." "Kannst du jetzt etwas erlauschen, Aruula?", fragte Matt seine Gefährtin. Die Telepathin schüttelte ihre Mähne. "Nur ganz schwach. Aber ich fühle Einsamkeit." "Einsamkeit." Matt schürzte die Lippen. "Das würde erklären, weshalb sie so erfreut sind, uns zu sehen. Fitzpatrick hat das mehrfach betont." "Ja", stimmte Selina zu und blickte sich argwöhnisch um, "genauso wie er betont hat, dass er uns schon vorher
beobachtet hatte. Wir sollten vorsichtig sein. Möglicherweise wird dieser Raum abgehört." "Und wenn..." Matt zuckte mit den Schultern. "Wir haben nichts zu verbergen. Dass wir über den Empfang ein wenig enttäuscht sind, ist kein Geheimnis. Aber möglicherweise bringt ja die Versammlung heute Abend eine Lösung. Bis dahin", er deutete auf die Rationen, die auf dem Fließband standen, "sollten wir uns erst mal eine Mahlzeit gönnen." Er trat an das Band und nahm eines der Tabletts, setzte sich damit an einen der Tische. Die anderen gesellten sich zu ihm, betrachteten den zähflüssigen, weißlichen Brei allerdings mit unverhohlenem Argwohn. Vor allem Aruula machte kein Hehl daraus, dass ihr ein ordentlicher Bissen Fleisch lieber gewesen wäre. "Tja", meinte Matt grinsend, "wie hieß es zu meiner Zeit doch so schön? Bist du in Rom, mach's wie die Römer." "Und was heißt das?", fragte Selina. "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt", erklärte Aruula - und Matt hatte dem nichts hinzuzufügen. Schweigend löffelten sie ihren Brei, der sich als ziemlich fade erwies. Geschmack und Würze schienen in den Augen der Bunkerbewohner keine Rolle zu spielen. Matt zweifelte nicht daran, dass der Brei äußerst nahrhaft war und alles enthielt, was der menschliche Organismus zum Überleben benötigte von Genuss schienen die Technos hier jedoch noch nie etwas gehört zu haben. Oder sie hatten es im Lauf der Generationen vergessen. Nachdenklich und ein wenig deprimiert löffelte er das Zeug in sich hinein. Selina und ihren Leuten schien es ähnlich zu ergehen wie ihm. Vielleicht spürten sie das Gefühl der Ohnmacht sogar noch deutlicher als er, weil sie wussten, in welcher Lage sich die Bewohner von Dublin befanden. Was, wenn Matt mit seiner Ansprache vor der Vollversammlung scheiterte? Wenn Fitzpatrick Recht behielt
und seine Leute tatsächlich nicht daran interessiert waren, das Serum zu bekommen oder der Allianz gegen die Daa'muren beizutreten? Noch vor ein paar Stunden war ihm diese Möglichkeit völlig abwegig erschienen - wenn er die Bunkerbewohner jetzt allerdings betrachtete, wie sie mit stoischer Ruhe ihren Synthobrei löffelten und dabei ganz zufrieden zu sein schienen, kamen ihm ernste Zweifel. Freiheit liegt im Auge des Betrachters, hatte Fitzpatrick gesagt. Vielleicht lag mehr Weisheit in diesen Worten, als Matt sich gerne eingestehen wollte. Aruula konnte nicht nur sehen, dass Matt etwas bedrückte, sie fühlte es auch; innerhalb des Speiseraums waren ihre Fähigkeiten, die Emotionen anderer Individuen zu erlauschen, nach wie vor ungebrochen. Bunkerwände, Glasscheiben und die Schutzhelme schienen sich jedoch negativ darauf auszuwirken. Der Kriegerin behagte das ganz und gar nicht. Zudem wollten ihr die Bunkerleute nicht gefallen. An ihre blassen Gesichter und zerbrechlich wirkenden Gestalten hatte sich Aruula inzwischen gewöhnt, aber die Art und Weise, wie diese Leute sich verhielten und wie sie sprachen, kam ihr seltsam vor. Zwar konnte sie den Wunsch dieser Menschen, in ihrer Heimat zu bleiben, gut verstehen - Aruula war als Kind von den Dreizehn Inseln entführt worden und sehnte sich bisweilen dorthin zurück. Aber der Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit war stärker in ihr. Mit ihrer Untertänigkeit, ihrem Phlegma und ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit waren die Technos von Dublin das genaue Gegenteil von dem, was Aruula erstrebenswert fand. Verstohlen blickte sie durch das Glas zu ihnen hinüber. Sie schienen sich nicht einmal besonders für die Neuankömmlinge zu interessieren, und das, obwohl angeblich seit vielen
Jahrzehnten kein Außenstehender seinen Fuß in den Bunker gesetzt hatte. Missmutig sah sie einem der Technos zu, wie er an das Fließband trat und sich seine Mahlzeit holte. Mit dem Tablett setzte er sich an einen der Tische und begann zu essen. Lustlos stocherte Aruula in ihrem Brei herum. Das Zeug schmeckte wie Bluugluu-Püree, und sie musste sich zwingen, es zu schlucken. Sobald sie hier raus waren, würde sie auf die Jagd gehen und sich ein Wildbret holen. Beim besten Willen konnte Aruula nicht verstehen, wie jemand diesen Fraß tagaus tagein essen konnte, und das nicht nur über Wochen und Monate... Wieder blickte sie durch die Scheibe - und stutzte. Der Teller, von dem der Techno eben noch gegessen hatte er war verschwunden! Die Kriegerin zwinkerte, aber es blieb dabei: Der Mann saß vor einem leeren Tablett. Plötzlich schien er zu bemerken, dass sie ihn beobachtete. Er blickte zu ihr herüber, ohne dass sie feststellen konnte, was er in diesem Moment dachte. Dann stand er auf, nahm sein Tablett und stellte es auf das Fließband zurück, dann verließ er den Speisesaal. Aruula schaute sich um. Niemand außer ihr schien den Vorfall bemerkt zu haben, und nach wenigen Sekunden war auch sie sich nicht mehr sicher. Möglicherweise hatte ein anderer Techno den Teller im Vorbeigehen mitgenommen, aus welchem Grund auch immer. Die Barbarin schüttelte ihre Mähne und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Sicher hatte sie sich geirrt oder es gab eine ganz einfach Erklärung. Zu oft schon hatte sie auf ihren Reisen mit Maddrax Dinge gesehen und erlebt, die sie früher für unmöglich gehalten hätte. Also beschloss sie zu schweigen. Sie hätte reden sollen. *
Nach exakt einer Stunde erschien Rupert O'Herly, um die Besucher wie angekündigt in ihr Quartier zu bringen. Es handelte sich um einen großzügigen quadratischen Raum mit niederer Decke, in dessen einer Ecke eine Art Feuchtzelle untergebracht war - eine Zwischenwand, hinter der sich eine Toilette und ein Waschbecken mit Handtüchern und einem Spiegel darüber befanden. Dazu gab es sechs Feldbetten, die entlang der Wand aufgestellt waren, und Haken an den Wänden, an denen sich die Schutzanzüge aufhängen ließen. "Luxuriös", befand Selina McDuncan mit gerümpfter Nase. "Ich bin überzeugt, dass Sie etwas Besseres gewöhnt sind, Captain", räumte O'Herly ein, "aber wir haben uns hier an ein sehr einfaches und schlichtes Leben gewöhnt." "Verzeihen Sie", sagte Selina, und durch das Glas des Schutzhelms konnte man sehen, wie sich ihre blasse Haut rosarot färbte. "So war es nicht gemeint. Wir bedanken uns für Ihre Gastfreundschaft." "Sie wird Ihnen gerne gewährt", versicherte der Sicherheitschef lächelnd und verbeugte sich. "Mr. Fitzpatrick hat die Vollversammlung aller Bunkermitglieder für 20 Uhr angesetzt. Bis dahin haben Sie Zeit, sich ein wenig auszuruhen." "Danke", sagte Matt. "Das ist sehr freundlich." "Sobald ich den Raum verlassen habe, wird er luftdicht versiegelt. Sie können sich dann Ihrer Anzüge entledigen und sich ein wenig frisch machen, wenn Sie wollen. Sollte es Ihnen an etwas fehlen, lassen Sie es mich wissen. Es besteht eine ständige Audioverbindung nach draußen." "Alles klar", sagte Matt, und O'Herly verließ das Quartier. Kaum hatte sich das Schott geschlossen, erklang das charakteristische Zischen, und Matt und seine Leute durften die Helme abnehmen. "Eine ständige Audioverbindung nach draußen", murmelte
Andrew Farmer halblaut. "So kann man es auch nennen, wenn man belauscht wird." "Wenigstens wissen wir jetzt, woran wir sind", meinte Matt mit schiefem Grinsen. "Sehr anspruchsvoll scheinen die Leute hier tatsächlich nicht zu sein", meinte Selina McDuncan mit einem Blick auf die Pritschen, die uralt zu sein schienen. "Immerhin hat man daran gedacht, dass es gewisse Grundbedürfnisse gibt, an denen man nicht vorbeikommt", fügte sie hinzu und zog sich hinter die Trennwand zurück, die den Sanitärbereich vom Quartier abgrenzte. Steve Bolton, der sich mit Peter Shaw unterhalten und nicht mitbekommen hatte, dass seine Vorgesetzte das Klosett aufgesucht hatte, wollte sich ebenfalls dorthin begeben. Aruula stellte sich ihm mit verschränkten Armen in den Weg. "Besetzt", sagte sie nur. "Und wenn einer von euch Kerlen auch nur in die Nähe dieser Ecke kommt, solange Selina oder ich dort beschäftigt sind, breche ich euch den Arm, ist das klar?" "K-klar", erwiderte Bolton eingeschüchtert und zog sich zurück - so dringend war sein Bedürfnis nun auch wieder nicht. Trotz der Anspannung, unter der er stand, musste Matt grinsen. Es mochte Unterschiede geben zwischen Aruula und Selina McDuncan. Aber wenn es wirklich hart auf hart kam, dann hielten Frauen offenbar immer zusammen... * Zur verabredeten Zeit wurden sie in ihrem Quartier abgeholt. Diesmal trug Rupert O'Herly über seinem Overall einen blauen Überwurf mit weiten Ärmeln, der eine Art Galarobe darzustellen schien. Begleitet wurde er von einem Mann und einer Frau, die wie er gekleidet waren und offenbar zur Sicherheitsmannschaft gehörten. Sie trugen Holster mit
Energiepistolen, die sie jedoch dezent unter ihren Umhängen verbargen. Matt fragte sich, was das bedeuten mochte. Gleich bei ihrer ersten Begegnung hatte O'Herly betont, dass es für Waffen keine Verwendung im Bunker gab - warum also diese Demonstration? Hatte irgendetwas, das sie gesagt oder getan hatten, den Unmut der Bunkerbewohner erweckt? Zeigte das System allmählich sein wahres Gesicht? Oder waren die Waffen nur Teil der Paradeuniform, mit der man den Gästen die Ehre erwies? Er beschloss, ein Auge auf die Sicherheitsleute zu haben, und die messerscharfen Blicke, mit denen Aruula die beiden taxierte, zeigten ihm, dass seine Gefährtin sich dasselbe vorgenommen hatte. Durch eine Reihe von Gängen und Korridoren eskortierten der Sicherheitschef und seine Leute sie zu einem weiteren Lift, der sie um einige Etagen nach oben trug. Ob sie hier schon einmal gewesen waren, wusste Matt nicht zu sagen - die verschiedenen Etagen des Bunkers glichen sich in seinen Augen wie ein Ei dem anderen. Der Saal, in den man sie schließlich brachte, war überaus geräumig; er ließ vermuten, dass der Bunker ursprünglich noch für viel mehr Menschen ausgelegt gewesen war als für die zweiundsechzig, die jetzt noch hier lebten. Matt überflog die Menge, die sich versammelt hatte, mit einem prüfenden Blick - es schienen tatsächlich alle erwachsenen Bunkerbewohner anwesend zu sein, und in der vordersten Reihe konnte er sogar die alte Frau entdecken, die er bereits kannte. Die Stirnseite der Halle wurde von einer Balustrade eingenommen, auf die man Matt und seine Leute führte. Mr. Fitzpatrick war bereits dort und erwartete sie. "Wie Sie sehen, Commander Drax, habe ich Ihrem Wunsch Folge geleistet und die Mitglieder unserer Gemeinde
zusammengerufen. Nach langen Jahren sind Sie die Ersten, die uns besuchen kommen, und natürlich soll Ihnen jede nur denkbare Ehre zuteil werden." "Ich danke Ihnen, Mr. Fitzpatrick", entgegnete Matt, "und weiß es sehr zu schätzen, dass Sie sich dem Urteil Ihrer Mitbürger beugen wollen." "Da gibt es nichts zu beugen." Fitzpatrick lächelte nachsichtig. "Ich sagte Ihnen schon, dass meine Mitbürger und ich einer Meinung sind. Aber natürlich will ich nicht vorgreifen. Treten Sie ans Mikrofon, Commander, und versuchen Sie Ihr Glück." Matt, den die Selbstsicherheit des Bunkervorstehers ein wenig unruhig machte, bedankte sich mit einem Nicken und trat an das kleine Podium, das an der Brüstung aufgebaut war. Aruula und die anderen gesellten sich zu ihm, und er war dankbar für ihre moralische Rückendeckung. Matt ließ seinen Blick über das Häuflein Bunkerleute schweifen, die in der riesigen Halle fast verloren wirkten. Die Art, wie sie ihn ansahen, verriet Wohlwollen, allenfalls Amüsiertheit. Von Neugier oder Unruhe keine Spur. Dafür war Matt umso nervöser. "Bürger von Dublin", begann er seine Ansprache, die er sich während der vergangenen Stunden zurechtgelegt hatte, und kam sich dabei vor wie ein Politiker. "Wie Sie sicher schon erfahren haben, kamen meine Freunde und ich von außerhalb zu Ihnen. Von außerhalb Ihrer Community." Er legte eine kurze Pause ein, ehe er fortfuhr: "Was ich Ihnen jetzt sage, wird Sie vielleicht schockieren. Aber ich darf Ihnen versichern, dass es die Wahrheit ist, und ich möchte zwei Dinge vorweg schicken. Erstens: Sie sind nicht allein und haben Freunde, die Ihnen helfen werden. Zweitens: Aus tief greifenden historischen Veränderungen ergeben sich bisweilen auch neue Chancen und Möglichkeiten. Daran bitte ich Sie zu denken bei allem, was Sie jetzt hören."
Und damit begann Matt seinen Bericht. Er fasste sich noch kürzer als bei seinem Rapport bei Fitzpatrick und stellte nur zwei Dinge heraus: die Bedrohung durch die Daa'muren und die Existenz des Serums, das den Bunkerbewohnern ein neues Leben abseits jeglicher Schranken ermöglichen würde. Dabei steigerte sich Matt immer weiter in das Thema hinein und entwickelte rhetorische Fähigkeiten, die er selbst nicht an sich gekannt hatte. In einem leidenschaftlichen Appell, aus ihrer Jahrhunderte währenden Lethargie zu erwachen und zurück zur Geschichte zu finden, beendete er seine Ansprache. Dann trat Stille ein im Saal - Stille, die nach ein paar Augenblicken bereits unerträglich wurde, aber sie dauerte an. Sekunden. Minuten. Wenn Matt erwartet hatte, dass die Menge in spontanen Beifall ausbrechen würde, so hatte er sich gründlich geirrt. Die Bunkerbewohner protestierten aber auch nicht. Sie reagierten überhaupt nicht. Sie standen nur da und starrten ihn an, als warteten sie darauf, dass er noch etwas hinzufügen wurde. Schließlich hielt Matt es nicht mehr aus. Er trat noch einmal ans Mikrofon und fragte: "Haben Sie alles verstanden? Oder soll ich das eine oder andere noch näher erklären?" Kopfschütteln allenthalben. Die Bunkerbewohner hatten ihn sehr wohl verstanden. Es war nur so, dass es sie nicht interessierte. "Soll das heißen, dass Sie das Serum nicht wollen?", fragte Matt ungläubig. "Dass Sie freiwillig im Bunker bleiben?" "Weshalb sollten wir unser Heim verlassen, Commander?", fragte ein junger Mann, der in der vordersten Reihe stand. "Es gibt hier alles, was wir zum Leben brauchen. Und sagten Sie nicht selbst, dass dort draußen eine Gefahr von schrecklichen Ausmaßen droht?" "Das ist richtig. Aber Sie werden ihr nicht entgehen, indem Sie sich tief unter der Erde verkriechen."
"Weshalb nicht? Es hat uns schon einmal das Leben gerettet. Unsere Vorfahren haben bitter dafür bezahlt, an die Oberfläche zurückzukehren." Der junge Mann sprach offenbar von dem Unfall, der sich im Habitat ereignet hatte. O'Herly hatte nicht näher darüber sprechen wollen, aber die Erinnerung daran schien tief im Bewusstsein der Bunkerbewohner verankert zu sein. War das der Grund für ihre Lethargie? Fürchteten sie sich vor der Welt dort draußen? Aber warum betonten sie dann immer wieder, wie sehr sie sich über Besucher freuten? Hätten sie Fremden gegenüber nicht voller Abneigung und Misstrauen sein müssen? Es ergab keinen Sinn, und das deprimierte Matt beinahe noch mehr als die Zurückhaltung der Menschen. Auch seine Gefährten waren betroffen. Selina McDuncan und ihre Leute blickten betreten zu Boden, und in Aruulas Zügen zuckte es, während wildes Feuer in ihren Augen glomm. Schließlich hielt es die Barbarin nicht mehr aus. In einem spontanen Entschluss trat sie selbst ans Mikrofon. "Was soll das heißen?", blaffte sie die Bunkerbewohner an, die verständnislos zu ihr herauf blickten. "Wollt ihr uns erzählen, dass es euch egal ist, was mit der Welt geschieht? Hat Orguudoo eure Sinne verwirrt? Begreift ihr nicht, dass wir alle bedroht werden? Und dass es unsere Pflicht ist, zusammen zu stehen, um gegen die Daa'muren zu kämpfen?!" Wieder beredtes Schweigen. "Ich fasse es nicht! Was geht in euren kahlen Schädeln vor?!", ereiferte sich Aruula, und wahrscheinlich hätte sie noch mehr gesagt, wenn Matt ihr nicht die Hand auf die Schulter gelegt und sie mit sanfter Gewalt vom Mikrofon zurückgezogen hätte. "Lass gut sein, Aruula", sagte er enttäuscht. "Es hat keinen Zweck." "Es tut mir Leid, dass ich Ihnen diese Enttäuschung nicht
ersparen konnte, Commander", sagte Fitzpatrick, und es klang tatsächlich mitfühlend. "Machen Sie sich keine Vorwürfe, Sie haben Ihr Bestes gegeben. Aber für uns steht nun einmal fest, dass wir den Bunker niemals verlassen werden." "Ich kann nicht behaupten, dass mir das gefällt", gestand Matt offen, "aber natürlich respektieren wir Ihre Entscheidung. Wenn es Ihnen Recht ist, nehmen wir für diese Nacht Ihre Gastfreundschaft in Anspruch. Morgen früh werden wir abreisen." Die eben noch so milden Züge des Bunkervorstehers verkrampften sich. "Schon so bald? Weswegen?" "Weil es hier nichts mehr für uns zu tun gibt, Sir. Unsere Mission war es, Kontakt zur Community Dublin zu knüpfen, sie mit dem Serum zu versorgen und zum Beitritt zum Bündnis zu ersuchen. Damit sind wir auf ganzer Linie gescheitert, also werden wir ins Hauptquartier zurückkehren und darüber berichten." "Werden dann noch mehr Besucher von außen kommen?" "Unwahrscheinlich. Man wird respektieren, dass Sie und Ihre Leute für sich bleiben wollen und Sie in Ruhe lassen, zumal dringlichere Aufgaben anstehen. Ich sagte es Ihnen schon, Mr. Fitzpatrick - da draußen braut sich ein Krieg zusammen. Für Höflichkeitsbesuche bleibt wenig Zeit." "Das verstehe ich natürlich", versicherte Fitzpatrick. "Dennoch freuen wir uns, wenn Sie noch eine Nacht bleiben. Morgen früh sehen wir dann weiter. In Ordnung?" "In Ordnung", sagte Matt - und hatte ein seltsames Gefühl dabei. * Die Nacht verbrachten sie in ihrem Quartier. Allerdings schlief keines der Teammitglieder besonders gut, und Matt fand überhaupt keinen Schlaf. Ruhelos wälzte er sich
auf der Pritsche hin und her, und immer wieder ging ihm seine Ansprache durch den Kopf. Unwillkürlich fragte er sich, ob er etwas falsch gemacht hatte, ob es irgendetwas gab, das er hätte anders, besser machen können, um die Bunkerbewohner doch noch umzustimmen. Irgendwann gegen Morgen - Matt fühlte sich wie gerädert ertönte draußen auf den Gängen ein heulendes Signal. Alarmiert fuhren sie in die Höhe, begriffen aber schnell, dass es der Weckruf für die Bunkergemeinschaft war. O'Herly meldete sich über Audio und forderte die Besucher auf, die Schutzanzüge anzulegen. In einer halben Stunde wollte er sie zum Frühstück abholen. Die Crew der Explorer kam der Aufforderung nach und machte sich bereit. Der Sicherheitschef erschien zur angekündigten Zeit - und diesmal hatte er nicht weniger als sechs Begleiter dabei. Unverhohlen stellten die Männer und Frauen die Energiewaffen zur Schau, die sie bei sich trugen. Matt merkte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Die Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelten, gefiel ihm nicht, auch wenn es keine direkte Bedrohung gab. O'Herly war freundlich wie immer, und auch am Verhalten der Bunkerbewohner ließ sich gegenüber dem Vortag keine Veränderung feststellen - und das im wörtlichen Sinn. Denn auf dem Weg zum Speisesaal begegnete ihnen erneut die alte Frau, und wieder erkundigte sie sich nach der Herkunft der Besucher. Offenbar litt sie unter fortgeschrittener Senilität und hatte ihr Kurzzeitgedächtnis verloren. Als sie Matt diesmal fragte, ob er und seine Gefährten bleiben würden, erwiderte er: "Nein, Ma'am, wir reisen heute ab", worauf O'Herlys Gesicht sich sorgenvoll zerknitterte. "Das steht noch nicht fest", sagte der Sicherheitschef zu der Alten, als müsse er sie beruhigen, und schickte Matt einen fast strafenden Blick. "Bei allem Respekt, Mr. O'Herly", sagte Matt deshalb, als
sie ein Stück gegangen waren, "ich denke schon, dass der Termin unserer Abreise feststeht. Wie ich gestern bereits sagte, werden wir Dublin heute verlassen." "Mr. Fitzpatrick hat noch nicht darüber entschieden." Matt blieb stehen. "Da gibt es auch nichts, worüber Mr. Fitzpatrick zu entscheiden hätte. Wir sind Besucher Ihrer Community, und als solche steht es uns frei, zu gehen, wann es uns beliebt." "Natürlich sind Sie Besucher", beschwichtigte der Sicherheitschef. "Aber weshalb wollen Sie uns denn schon verlassen?" "Weil es hier nichts mehr zu tun gibt für uns, und weil unsere Anwesenheit in London dringend erforderlich ist." "Auch hier werden Sie dringend gebraucht." "Das wäre mir neu. Hat ihre gesamte Bunkergemeinde nicht gestern unsere Hilfe ausgeschlagen?" "Diese Diskussion führt zu nichts", stellte O'Herly fest. "Natürlich nicht, denn unser Entschluss steht fest. Wir werden heute abreisen. Nach dem Frühstück brechen wir auf." "Ist das Ihr letztes Wort, Commander?" O'Herlys Stimme hatte plötzlich einen eisigen Tonfall angenommen. "Allerdings", entgegnete Matt, dem das eigenartige Verhalten der Bunkerleute allmählich auf die Nerven Sie wollten das Serum nicht, okay, und sie mochten sich auch nicht für die Bedrohung vom Kratersee interessieren. Aber sie sollten nicht versuchen, ihn und seine Leute gegen ihren Willen festzuhalten. "Also schön, Commander", sagte der Sicherheitschef gepresst. "Ich tue es nicht gerne, aber Sie zwingen mich dazu" und wie auf einen lautlosen Befehl hielten seine Leute plötzlich ihre Strahler in den Händen und zielten auf Matt und seine Gefährten. "Was soll das?", fragte Selina McDuncan gereizt. "Sie lassen uns leider keine andere Wahl, als zu solchen
Methoden zu greifen. Wir haben Ihnen unsere Freundschaft angeboten, aber Sie scheinen nicht kooperieren zu wollen." "Kooperieren?" Matt hob die Brauen. "Wobei?" "Wir haben Ihnen gesagt, wie sehr wir Ihre Anwesenheit begrüßen. Mr. Fitzpatrick hat Sie mehrfach willkommen geheißen." "Wofür wir auch sehr dankbar waren. Aber jetzt müssen wir weiter." "Nein", sagte O'Herly kategorisch und mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. "Was soll das heißen? Sie können uns doch nicht zwingen zu bleiben!" "Wie es aussieht, lassen Sie uns keine andere Möglichkeit." "Aber was haben Sie denn davon? Was versprechen Sie sich davon, uns gefangen zu halten? Das ist doch... absurd!" O'Herly antwortete nicht mehr. Mit Blicken wies er seine Leute an, die Besucher abzuführen. Aruula ließ ein gefährliches Knurren vernehmen. Matt konnte sehen, wie ihre Muskeln sich anspannten. Am liebsten wäre sie mit bloßen Händen auf die Wachen losgegangen. Aber gegen deren Waffen hätte sie nicht die geringste Chance gehabt. "Also gut", sagte Matthew zähneknirschend, "wir fügen uns der Gewalt. Aber ich wünsche umgehend Mr. Fitzpatrick zu sprechen." "Er wird zu Ihnen kommen, wenn die Zeit dafür reif ist", versicherte O'Herly. * Man brachte sie zurück in ihr Quartier. Dann begann das Warten. Minuten. Stunden.
Der Vormittag verstrich, und noch immer hatte Fitzpatrick sich weder sehen noch hören lassen. Die Ungewissheit nagte an den Nerven der Explorer-Besatzung. "Ich weiß nicht, wie es euch geht", meinte Steve Bolton, der auf seiner Pritsche lag und zur Decke starrte, "aber ich habe ein ziemlich mieses Gefühl." Andrew Farmer pflichtete ihm bei. "Diese Bunkertypen ticken doch nicht richtig. Fortgeschrittene Paranoia, würde ich sagen." "Bunkertypen?" Selina McDuncan blickte ihn tadelnd an. "Für jemanden, der seinen Schutzanzug erst seit ein paar Wochen abgelegt hat, sind Sie ganz schön überheblich, Corporal." "Verzeihen Sie, Captain. Es ist nur - ich verstehe nicht, was das alles soll. Warum hält man uns hier fest? Zuerst weisen sie unser Serum zurück, dann weigern sie sich, der Allianz beizutreten, und nun das." "Keiner von uns versteht das, Corporal", sagte Matt. "Aber unsere Lage wird nicht dadurch besser, dass wir unsere Gastgeber verdammen. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen mit ihnen verhandeln." "Verhandeln? Denen ist doch gar nicht daran gelegen, mit uns zu verhandeln. Merken Sie es denn nicht, Sir? Die lassen uns auf kleiner Flamme schmoren. Der Magen hängt mir bis zu den Knien, aber diesen Leuten scheint das ziemlich egal zusein," "Wir sind alle hungrig", sagte Aruula. "Ein Krieger muss Entbehrungen ertragen können." "So? Aber ich bin kein Krieger, sondern Aufklärer. Ich sollte im EWAT sitzen und Kolks losschicken, stattdessen bin ich hier eingesperrt. Und wir wissen noch nicht mal, was die eigentlich von uns wollen." "Kein Grund sich aufzuregen, Corporal", sagte Matt bestimmt. "Wir sind alle in derselben Lage, okay?"
Farmer blickte ihn an, senkte dann betreten seinen Blick. "Entschuldigen Sie, Commander. Es ist nur..." "Ich weiß," Matt nickte. "Aber vorerst sitzt die Gegenseite nun mal am längeren Hebel, und uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten." * Sie warteten lange. Den restlichen Tag und die ganze Nacht hindurch, ohne dass sie etwas von den Bunkerleuten hörten. Man brachte ihnen kein Essen. Mit dem Wasser aus der Leitung konnten sie zumindest ihren Durst stillen, auch wenn das mit Chlor und anderen Chemikalien durchsetzte Zeug scheußlich schmeckte. Erneut fand Matt in der Nacht kaum Schlaf. Nur für wenige Minuten döste er ein, um jedes Mal aufzuschrecken, wenn er irgendein Geräusch hörte. Den übrigen Angehörigen des Teams erging es nicht besser - entsprechend zerknittert sahen sie aus, als am nächsten Morgen die Sirene erklang, um die Community zu wecken. Zur Überraschung aller meldeten sich kurz darauf ihre Peiniger. Es war Fitzpatricks Stimme, die aus den Lautsprechern drang. "Guten Morgen", wünschte er in gewohnt freundlicher Weise. "Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?" "Nein", versetzte Matt gereizt. "Vielleicht können Sie das angesichts der Umstände ja nachvollziehen." "Es tut mir sehr Leid, dass ich Ihnen diese Unannehmlichkeiten bereiten muss, Commander", sagte der Bunkervorsteher und brachte es noch fertig, dabei aufrichtig zu klingen. "Glauben Sie mir, es wäre mir lieber, wir hätten diese Maßnahme nicht ergreifen müssen. Aber Sie haben uns keine andere Wahl gelassen."
"Keine andere Wahl? Wovon, zum Geier, sprechen Sie?" "Ich spreche davon, dass Sie unseren Bunker wieder verlassen wollten." "Das ist doch nicht verboten, oder? Wir sind freie Menschen und können gehen, wohin wir wollen." "Natürlich sind Sie das. Aber wir hatten Sie mehrfach zum Bleiben aufgefordert." "Was wir auch durchaus zu schätzen wissen", versicherte Matt, der sich nur noch mühsam zusammenreißen konnte. Hunger und zwei fast schlaflose Nächte zeigten allmählich Wirkung. "Dennoch haben wir uns zur Abreise entschieden, und ich bitte Sie, dies zu respektieren." "Ich bedaure, Commander, aber das kann ich nicht. Da Sie unsere höflich ausgesprochenen Einladungen offenbar nicht Ernst genommen haben, bleibt mir leider keine andere Wahl, als es anders zu formulieren: Wir verbieten Ihnen den Bunker zu verlassen. Sie und Ihre Leute werden bei uns bleiben, ob es Ihnen gefällt oder nicht." Aruula stieß eine deftige Verwünschung in der Sprache der Wandernden Völker aus. In den Gesichtern von Selina McDuncan und ihren Leuten war pure Entrüstung zu lesen. "Langsam", sagte Matt. "Was soll das? Sie können uns nicht zum Bleiben zwingen." "Natürlich wäre es uns lieber, wenn Sie freiwillig bleiben würden. Aber wenn es nötig sein sollte, werden wir Sie auch mit Gewalt festhalten." "Aber wieso? Was hätte das für einen Sinn?" "Ihre Anwesenheit ist erforderlich, Commander. Das ist alles." "Aus welchem Grund, verdammt noch mal?" "Es ist nicht nötig, Sie darüber zu informieren." "Es ist nicht nötig?" Der Augenblick war erreicht, an dem Matt der Kragen platzte. "Scheiße", brüllte er, "was bilden Sie sich eigentlich ein?! Glauben Sie im Ernst, Sie können uns hier
festhalten und nichts wird passieren? Man wird nach uns suchen. Noch mehr Besucher werden kommen!" "Das wäre wünschenswert." "Was...?" Matt ging die Luft aus. Hatten Fitzpatrick und seine Leute völlig den Verstand verloren? Was in aller Welt schwafelte der Bunkerchef da zusammen? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn! "Wir könnten diese Unterhaltung noch eine Weile fortsetzen, Commander", sagte Fitzpatrick, "aber ich bezweifle, dass Sie zu etwas führen würde. Sie haben keine andere Möglichkeit, als bei uns zu bleiben. Je früher Sie das einsehen, desto besser." "Wissen Sie was?", schnappte Matt, alle Grundregeln der Diplomatie in den Wind schlagend. "Sie können mich mal kreuzweise!" "Bedeutet das, Sie wollen immer noch abreisen?" "Allerdings", versicherte Matt. "Mehr als je zuvor. Der Service ist beschissen und das Personal eine einzige Katastrophe." "Dann lassen Sie mir leider keine andere Möglichkeit, als weitere Maßnahmen zu ergreifen, um Ihren Willen zu brechen." "Weitere Maßnahmen? Was soll das heißen?" "Wir sprechen uns wieder, Commander, wenn Sie und Ihre Leute zur Vernunft gekommen sind." "Aber..." "Auf bald, Commander." Damit verstummte der Lautsprecher, und Matt und seine Leute waren wieder mit sich allein. "Aruula?", fragte Matt ein wenig hilflos. "Nichts", sagte sie nur. "Noch immer nicht." "Na schön", knurrte Matt. "Diese Jungs wollen es offensichtlich auf die harte Tour." "Sie wollen uns um jeden Preis hier festhalten", sagte
Selina, "aber zu welchem Zweck?" "Wenn wir das wüssten, wären wir schon einen Schritt weiter." "Ich bin jedenfalls nicht bereit, mich zu fügen", knurrte Lieutenant Shaw. "Und außerdem..." Plötzlich hielt er inne. "Was ist?", wollte Selina wissen. "Ich weiß nicht, Captain. Mir... mir ist plötzlich so seltsam..." "Mir auch", stimmte Andrew Farmer zu. "Etwas stimmt nicht." Matt und Aruula tauschten einen Blick. Auch sie bemerkten, dass sich etwas verändert hatte, auch wenn es sich nicht genau benennen ließ. "Sie haben Recht." Selina nickte. "Mir ist plötzlich schwindlig. Mein Pulsschlag erhöht sich. Was ist hier los?" "Es ist die Luft", stellte Aruula fest. "Sie wird dünner." "Was?" "Sie hat Recht." Matt nickte. "Merkt ihr es nicht? Das Atmen fällt plötzlich schwerer." "Richtig", pflichtete Andrew Farmer ihm bei. "Sie verändern die Zusammensetzung des Luftgemischs. Sie reduzieren den Sauerstoffanteil und fügen mehr Kohlendioxyd hinzu." "Diese elenden..." Aruula ballte in hilfloser Wut die Hände zu Fäusten. "Ruhig", mahnte Matt. "Jetzt nicht in Panik geraten. Je schneller wir atmen, desto rascher ist unser Luftvorrat aufgebraucht. Außerdem denke ich nicht, dass sie uns töten wollen. Man will uns nur zum Einlenken bewegen." "Sehr tröstlich ist das nicht, Commander", meinte Steve Bolton. "Was ist, wenn wir nicht einlenken?" "Dann", schätzte Selina McDuncan unverblümt, "ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir am Boden liegen und nach Luft schnappen wie Fische auf dem Trockenen."
"Langsam", knurrte Matt, während er sich in dem Raum umblickte, "so weit sind wir noch nicht. Es muss einen Ausweg geben." "Die hätten uns sicher nicht hier eingesperrt, wenn es einen Ausweg gäbe", meinte Steve Bolton pessimistisch. "Unsinn", zischte Aruula trotzig. "Auch Technos machen Fehler. Maddrax und ich waren schon in schlimmeren Situationen. " "Abwarten", versetzte Selina McDuncan. "Vielleicht wird es ja noch schlimmer." Matt musterte die Wände und Decke. "Die Luft muss von irgendwo kommen", überlegte er. "Irgendwo muss es eine Ventilationsöffnung geben, durch die das Kohlendioxyd zugeführt wird. Möglicherweise können wir sie verschließen." "Dann bleibt uns nur noch die Luft, die in diesem Raum ist", sagte Andrew Farmer. "Immerhin wird uns das ein wenig Zeit verschaffen." Sie suchten jeden Quadratzoll des Raumes ab. "Hier!", rief Peter Shaw plötzlich. "An dieser Stelle befinden sich winzige Öffnungen in der Decke. Das könnte es sein." Tatsächlich: Mehrere Bohrungen in der Decke wiesen auf die Öffnung des Lüftungssystems hin. Ein leichter Luftzug bestätigte den Verdacht. Matt zog eine der Pritschen heran und stellte sie so, dass er darauf stehen und die Decke bequem erreichen konnte. Die Lüftungsöffnung maß nur etwa einen halben Meter im Quadrat, aber die Löcher waren so zahlreich, dass sie sich nicht ohne weiteres verstopfen ließen. Er klopfte die Betondecke ab. So wie es sich anhörte, war der Beton an dieser Stelle ziemlich dünn. Es schien sich um eine Abdeckung zu handeln, die nachträglich eingefügt wurde. "Was machen Sie da?", fragte Farmer. "Nichts. Gar nichts. So kommen wir nicht weiter." Matt
bedeutete den Gefährten, still zu sein. Schließlich wurden sie noch immer abgehört. Er tippte auf seinen Mund, dann die Ohren und rundum in den Raum. Die anderen verstanden und nickten stumm. "Es bleibt uns nichts weiter zu tun als abzuwarten", sagte Matt laut und gestikulierte gleichzeitig, als würde er mit Hammer und Meißel die Decke aufstemmen. Wenn es gelang, die Abdeckung zu entfernen, konnten sie vielleicht durch das Lüftungssystem entkommen. Doch dazu brauchten sie Werkzeug. Die Technos sahen sich an und schüttelten nacheinander den Kopf. Aruula dagegen deutete auf ihren rechten Stiefel - und zog ein Messer aus dem Schaft hervor! Erst jetzt fiel Matt auf, dass man sie nicht durchsucht hatte, als ihr Status von "Besucher" auf "Gefangene" gewechselt war. Gleichzeitig seufzte er innerlich: Aruula hatte also doch nicht ohne Waffe auskommen können. Ein Umstand, der ihnen jetzt half. Matt grinste und reckte den Daumen in die Höhe, und auch Selina nickte der Kriegerin anerkennend zu. Aruula reichte Matt das Messer hinauf, der sich damit an den Rändern der Abdeckung zu schaffen machte. Der Mörtel, mit dem sie eingefügt worden war, begann schon bald zu bröckeln. "Wenn die Leute hier nur ahnen würden, auf was sie verzichten!", begann Selina McDuncan plötzlich laut zu reden. "Ich meine, die frische Luft, die Sonne, die grenzenlose Freiheit..." Die anderen verstanden schnell: Sie wollte das Schaben des Messers und das Klicken des herabfallenden Mörtels übertönen. Schnell entspann sich eine lebhafte Unterhaltung über die Vorzüge des Serums und den Unterschied zum früheren Bunkerleben. Da das Material alt und rissig war, hatte Matt keine
Probleme, die Abdeckung rasch frei zu bekommen. Mit Aruulas Klinge gelang es ihm, die nur wenige Zentimeter dicke Betonplatte zu lösen. Andrew Farmer half ihm dabei, sie abzunehmen und lautlos auf den Boden zu legen. Darunter befand sich ein feines Gitter aus Metall, dessen Schrauben Matt ebenfalls mit Hilfe des Messers löste. Danach kamen mehrere Schichten mit Mikrofiltern. Matt zögerte. Peter Shaw reckte, sich zu Matts Ohr hinauf. "Was ist los?", raunte er. "Warum machen Sie nicht weiter?" "Wenn ich diese Filter entferne, wird die gesamte Bunkeranlage verseucht!", flüsterte Matt zurück. "Und? Diese Mistkerle nehmen auf uns auch keine Rücksicht, oder?" Matt winkte rigoros ab. Er hatte nicht vor, den Technos ihr Verhalten mit gleicher Münze heimzuzahlen. Es gab eine andere Möglichkeit... Er deutete auf die Schutzanzüge und forderte mit Gesten auf, sie anzulegen. Es gab keinen Widerspruch. So rasch es sich in Anbetracht der Umstände machen ließ, zogen sie die Anzüge über. Bevor sie die Helme aufsetzten und die Versiegelung aktivierten, brachten sie das Gespräch zum Ende - es wäre einem heimlichen Lauscher aufgefallen, wenn ihre Stimmen plötzlich gedämpft erklungen wären. Natürlich konnte Matt Shaws Standpunkt verstehen - weshalb sollten sie auf die Gesundheit ihrer Peiniger Rücksicht nehmen, die offenbar keine Skrupel hatten, sie zu töten? Aber noch immer wollte er die Hoffnung nicht aufgeben, dass alles nur das Ergebnis eines Missverständnisses war. Er wartete, bis alle ihre Schutzanzüge geschlossen hatten, und machte sich dann noch behutsamer an den Filtern zu schaffen.
*
Der gesamte Filterkomplex bestand insgesamt aus acht Elementen - verschieden dicke Schichten aus unterschiedlichen Materialien, die mittels mechanischer und chemischer Prozesse die Luft reinigten. Kaum hatte Matt die letzte Schicht entfernt, wurden automatisch Desinfektionsmittel in das Quartier gesprüht offenbar eine Routinemaßnahme, um Bakterien abzutöten, die sich dort vielleicht noch befinden mochten. Ab jetzt bestand für die Bunkerbewohner keine Gefahr mehr. Matthew, der inzwischen schon auf zwei übereinander gestellten Pritschen stand, streckte sich, um einen Blick ins Innere des Lüftungsschachts zu werfen. Der Lichtschein der Lampe, die man ihm von unten reichte, erfasste eine quadratische Metallröhre, die schräg nach oben ging. Indem er die gummibeschichteten Handschuhe des Anzugs gegen die Schachtwand presste, gelang es ihm, sich empor zu ziehen. Die anderen halfen von unten nach, und zappelnd kletterte er in den Schacht. Angesichts der Beschränkungen, die der schwere Anzug ihm auferlegte, war es eine ziemliche Schinderei, den Schacht hinauf zu klettern. Zudem musste er Acht geben, dass das Material dabei keinen Schaden nahm. Ein winziges Loch genügte, um den Bunker zu verseuchen. Über das Lüftungssystem würden sich Bakterien in Windeseile überall verteilen, und das konnte das Ende der Bunkerzivilisation bedeuten. Unter Aufbietung aller Kräfte, die ihm mit leerem Magen und nach zwei fast schlaflosen Nächten noch zur Verfügung standen, schob er sich die Schräge hinauf. Schon nach wenigen Metern mündete der Schacht in eine quer verlaufende Röhre, deren Durchmesser größer war. Matt wollte aufatmen. Als er jedoch einen Blick in die Röhre warf,
sah er das dichte Geflecht rötlich schimmernder Strahlen, das ihm den Weg abschnitt. "Verdammt", murmelte er. "Laserstrahlen. Die verdammte Röhre ist mit Laserbarrieren gesichert." Er blickte in die andere Richtung - auch hier befand sich eine solche Sperre. Die Technos von Dublin waren offenbar doch ein wenig cleverer, als er angenommen hatte. Fieberhaft überlegte er, wie er an den Strahlen vorbeikommen konnte, ohne in dünne Scheiben zerschnitten zu werden. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Die erste Möglichkeit - die Stromzufuhr zu den Laserprojektoren abzuschalten schied aus, weil die Stromversorgung irgendwo dahinter lag. Die zweite Möglichkeit bestand darin, die Strahlen abzulenken. "Shit", knurrte Matt. "Dazu benötigt man einen Spiegel, und ich habe keinen ..." Er stutzte. Natürlich hatte er einen Spiegel! In ihrem Quartier, über dem Waschbecken, hing so ein Ding. Wenn sie ihn zerbrachen, konnte man mit den Scherben... Matt überlegte nicht lange und machte sich auf den Rückweg. Bäuchlings glitt er durch die Schräge zurück, was sehr viel leichter war, als sie hinauf zu klettern. Nur wenige Sekunden später erschien sein Kopf in der Öffnung. Aruula, Selina und die anderen blickten erwartungsvoll zu ihm auf. Er winkte Selina zu sich hoch und legte seinen Helm gegen ihren. Damit übertrug sich die Stimme, auch wenn man nur flüsterte. "Und?", fragte sie. "Negativ", gab Matt zurück. "Der Schacht ist mit Laserstrahlen gesichert. Ich brauche den Spiegel, der über dem Waschbecken hängt. Zerbrecht ihn und gebt mir die Scherben." "Den Spiegel?" Selina McDuncan machte große Augen. Dann begriff sie. "Kommt sofort, Commander."
Sie tuschelte kurz mit Aruula, dann schlichen sie zusammen los und kehrten nach wenigen Augenblicken mit dem Spiegel zurück. Sie legten auf eine der Pritschen, und Aruula setzte sich darauf. Nur ein leises, mehrfaches Knacken war zu hören. Die Scherben wickelten sie in ein Handtuch und reichten es an Matt weiter. Er verstaute es in der Brusttasche des Anzugs, dann winkte er wieder Selina McDuncan heran und stellte den Helmkontakt her. "Geben Sie mir zwanzig Minuten. Ich muss ja nur eine Verbindung zu einem bewohnten Bereich öffnen, damit Luft nachströmen kann. Danach werde ich versuchen, von außen zur Zelle zu kommen und sie zu öffnen. Sollte ich geschnappt werden, versuchen Sie es auf eigene Faust." "Verstanden, Commander." Sie tauchte nach unten weg. Matt wollte gerade los, als Aruula auf die Pritschen stieg und ihren Helm an seinen presste. "Ich werde mitkommen", stellte sie klar. "Wozu?" "Um dir den Rücken frei zu halten. Dieses schneidende Licht ist gefährlich. Ich lasse dich nicht alleine gehen." Matt schürzte die Lippen. Aruula hatte ihn schon oft aus brenzligen Situation herausgehauen und ihm einige Male das Leben gerettet. Vielleicht war es wirklich von Vorteil, sie dabei zu haben. Zumal er bezweifelte, dass sie sich davon abhalten lassen würde. Er schob sich rückwärts ein Stück hinauf und streckte ihr die Hand entgegen. Mit geschmeidigen, katzenhaften Bewegungen kam sie ihm nach, und er musste sich eingestehen, dass sie ungleich mehr Talent besaß als er, durch den engen Schacht zu klettern. Sie erreichten die Mündung und gelangten in die Röhre. Matt entschied sich für rechts. Vorsichtig bewegten sie sich auf das enge Geflecht von Laserstrahlen zu, das ihnen den Weg versperrte.
Matt wies Aruula an, den Tönungsschalter an ihrem Helm zu betätigen. Daraufhin färbte sich das Glas des Helms dunkel ein, sodass die Strahlen das Auge nicht blendeten. Nachdem er auch seinen Helm getönt hatte, schob Matt sich langsam vorwärts, eine der Spiegelscherben in der Hand. Vorsichtig näherte er sich dem ersten Strahl. Er merkte, dass seine Hand zitterte, und versuchte sich zu beherrschen. Es gelang ihm nur teilweise. Nicht nur Hunger und Erschöpfung, auch die Sauerstoffknappheit machte sich jetzt bemerkbar. In der Enge des Helms hörte er seinen stoßweisen, keuchenden Atem. Sein Blut rauschte hörbar, und der Pulsschlag hämmerte. Er musste sich beeilen... Matt fasste sich ein Herz und brachte den Spiegel in den ersten Strahl. Das gebündelte Licht fiel darauf und wurde in spitzem Winkel abgelenkt. So weit, so gut. Matt drehte den Spiegel so, dass er den Laser auf seinen Austrittspunkt zurück lenkte. Sekundenlang brannte der Lichtstrahl auf das winzige Emitter-Auge - dann implodierte es mit einem scharfen Knall. Matt atmete auf. Der Anfang war gemacht. Und, was noch wichtiger war: Es funktionierte. Langsam arbeiteten Aruula und er sich weiter voran, Stück für Stück. Laser um Laser schalteten sie aus, bis sie das dichte Geflecht, das sich auf eine Länge von drei Metern erstreckte, endlich hinter sich gelassen hatten. Danach kamen sie schneller voran. Auf allen Vieren krochen sie durch die Röhre, passierten eine Reihe von Mündungen, bis sie schließlich einen senkrecht verlaufenden Schacht erreichten. Er maß etwa zwei Meter im Quadrat, und an einer der metallenen Wände gab es schmale Tritte. Das ließ vermuten, dass der Schacht zu einem Einstieg für die Wartungscrew
führte. Mit der Lampe leuchtete Matt zunächst hinauf, dann in die Tiefe. In beiden Richtungen verlor sich das Licht nach fünf, sechs Metern in der Dunkelheit. Matt wandte sich an Aruula. "Nach oben oder nach unten?" "Nach unten. Dann fallen wir nicht tiefer als nötig, wenn wir abrutschen." Wieder einmal bewies die Barbarin eine bestechende Logik. Matt nickte, griff hinaus und klammerte sich an einem der Tritte ein, schaffte es, sich hinüber zu ziehen. Anschließend reichte er Aruula die Hand, damit sie ihm folgte. Ihr Abstieg in die Tiefe begann. Aufgrund der Anstrengung und des gesteigerten Pulses atmeten sie schneller, ohne dass sie jedoch mehr Sauerstoff in ihre Lungen bekamen. Matt begann dunkle Flecke zu sehen, die vor seinen Augen auf und ab tanzten, und er merkte, wie seine Konzentration nachließ. Dennoch - sie durften nicht nachlassen, mussten sich zusammen reißen. Wenn sie nur einen Fehltritt machten oder daneben griff, würde sie der Schacht verschlingen. Wie in Trance setzte Matt einen Fuß unter den anderen. Dabei kam ihm der Gedanke, dass die Luft doch allmählich besser werden musste, nun, da sie offenbar den Hauptschacht erreicht hatten. Tat sie aber nicht. Waren denn alle Zugänge hermetisch versiegelt? Plötzlich glitt er mit dem Fuß auf einem der schmalen Tritte aus. Seine Reflexe sprachen an, wenn auch verzögert. In letzter Sekunde gelang es ihm, sich mit der rechten Hand an einer der Sprossen festzuklammern. An einem Arm baumelnd fasste er wieder Tritt, "Alles in Ordnung?", fragte Aruula besorgt von oben. "Ja, alles wunderbar", erwiderte er sarkastisch, während Adrenalin durch seine Adern pumpte, was zumindest den
Vorteil hatte, dass er wieder hellwach war. Sie stiegen weiter in die Tiefe und erreichten endlich den Grund des Schachts. Von hier führten erneut kreisrunde Röhren nach allen Seiten, die meisten davon so groß, dass man gebückt darin stehen konnte. "Was jetzt?", fragte Aruula, der die Sauerstoffknappheit weniger auszumachen schien als Matt. Er warf einen Blick in jede der Röhren. Er brauchte nicht zweimal nachzusehen, um zu wissen, welche von ihnen die Erfolgversprechendste war. Denn nur eine war mit Laserbarrieren gesichert. "Diese Richtung", entschied er und ging Aruula voraus. Nach zwanzig Metern endete ihr Marsch vor dem Geflecht aus zerstörerischem roten Licht. Diesmal war die Sperre noch effizienter als beim ersten Mal, denn die Emitter veränderten ständig den Austrittswinkel, sodass die Strahlen sich wild durcheinander bewegten - ein Mahlstrom aus gebündeltem Licht. Wer ihm zu nahe kam, wurde in kleine Teile zerschnitten. Der Gedanke, sich nur mit ein paar Spiegelscherben bewaffnet dieser Höllenmaschine auszusetzen, erheiterte Matt nicht gerade, aber er wusste, dass sie keine andere Wahl hatten. Sie mussten die Barriere hinter sich bringen, ehe der Sauerstoffanteil der Luft zu weit absank und sie ohnmächtig wurden. Bis man sie hier unten fand, würden sie längst tot sein. "Also los", raunte er Aruula zu und gab ihr zwei der größeren Scherben. Dann ging er voran. Da sich die Emitter bewegten, war es ungleich schwerer, einen Strahl aufzufangen und ihn dann auch noch auf seinen Ausgangspunkt zurück zu lenken. Nach einigen erfolglosen Versuchen musste Matt feststellen, dass es sogar unmöglich war. Die Bahnen der rotierenden und sich gegenseitig überschneidenden Laser ließen sich nicht vorausberechnen. Matt nahm an, dass sie an einen Zufallsgenerator gekoppelt
waren. "Es hat keinen Zweck", sagte er. "Wir müssen sehen, dass wir so durch die Sperre kommen. Wir gehen Rücken an Rücken und wehren die Strahlen mit den Scherben ab." Aruula sah ihn skeptisch an, aber sie nickte. Was hätte sie auch sagen sollen? Indem sie die Spiegel schützend vor sich hielten, begaben sie sich in die Reichweite der tödlichen Strahlen. Die Laser arbeiteten mit meisterlicher Präzision, und Matt und Aruula mussten sich aufs Äußerste konzentrieren, um ihnen entweder auszuweichen oder sie mit den Spiegeln abzulenken. Wieder wischte mit charakteristischem Summen ein Lichtstrahl von links heran. "Ducken!", zischte Matt, und Aruula und er gingen gleichzeitig in die Hocke. Der Laserstrahl glitt nur knapp über die Wölbung ihrer Schutzhelme hinweg. Ein weiterer schwenkte auf Matt zu. Er konnte ihm nicht ausweichen und fing ihn mit einer Scherbe auf. Im letzten Augenblick - das verdammte Ding hatte schon seinen Stiefel erreicht. Es roch nach verbranntem Gummi. Auch Aruula reagierte mit blitzschnellen Reflexen und schickte Strahl um Strahl zurück. Mit mehr Glück als Verstand erreichten sie die nächste Sektion. Plötzlich schwenkten mehrere Strahlen von oben in die Röhre ein, um sie wie ein Rechen zu durchkämmen. Die Entfernung zwischen den Lasern betrug lediglich fünfzehn Zentimeter - zu wenig, um zwischen ihnen hindurch zu schlüpfen, aber so hatten sich die Erbauer das ja auch gedacht. "Achtung!", zischte Matt und riss zwei Spiegelscherben gleichzeitig hoch, um eine Art Bogen zu schaffen, unter dem sie passieren konnten. Aruula begriff sofort und tat es ihm gleich. Der Rechen fuhr über sie hinweg, ohne dass das Licht auf Widerstand traf, und
einer der Emitter wurde sogar beschädigt, als der benachbarte Laser ihn traf. Dann, plötzlich, war es vorbei. Vor ihnen lag die dunkle Röhre. Keine Lichtstrahlen mehr, die sie aufhielten. * Wenn die Luft knapp wird und jeder Atemzug schwerer fällt als der vorhergehende, dehnen sich Minuten zur Ewigkeit. Diese Feststellung musste Selina McDuncan machen, während sie mit ihren Leuten auf den Feldbetten im Quartier lag und wartete. Sie hatte Farmer, Bolton und Shaw befohlen, sich hinzulegen, weil sie so weniger Sauerstoff verbrauchten und die Auswirkungen sich nicht so stark bemerkbar machen würden. Aber inzwischen wurde das Atmen selbst zur Qual, und Selina musste an den Vergleich mit den Fischen auf dem Trockenen denken. Müde warf sie einen Blick auf ihren Chronometer. Vierzehn Minuten. Noch weitere zehn, und sie waren vermutlich tot... "Captain?", fragte Bolton flüsternd. Er verzichtete darauf, seinen Helm an den ihren zu legen. Im Angesicht des Todes war es ihm herzlich egal, ob man sie abhörte oder nicht. "Ja?" "Er schafft es nicht. Wir sollten nicht länger warten!" "Was wollen Sie tun, Navigator?", raunte Selina. "Ihm folgen?" "In einigen Minuten werden wir dazu nicht mehr in der Lage sein!" "Also drücken wir Commander Drax die Daumen, dass er durchkommt." "In Wirklichkeit geht es ihm doch nur darum, diese
verdammten irischen Hohlköpfe zu schützen. Weil sie draufgehen würden, wenn einem von uns im Schacht der Anzug zerschnitten wird", ereiferte sich Bolton. "Ihr Wohlergehen liegt ihm mehr am Herzen als unseres!" "Jetzt ist es genug, Bolton!", zischte Selina. "Sie wissen nicht mehr, was Sie sagen." "Keine Sorge." Der Navigator hob resignierend die Hände. "Ich bin schon still. Aber auch wenn es keiner hören will - wir werden alle draufgehen, wenn wir bleiben. Wahrscheinlich ist Drax schon längst in Stücke zerhackt, während wir hier noch auf ihn warten." "Halten Sie die Klappe, Bolton, das ist ein Befehl!", herrschte Selina McDuncan ihn an - und sie ertappte sich dabei, dass der Gedanke, dass Matthew Drax etwas zugestoßen sein könnte, sie weit mehr bestürzte als es unter Soldaten der Fall sein sollte... * Die Lasersperre lag hinter, der freie Korridor vor ihnen. Schließlich erreichten sie das Ende der Röhre. Ganz unspektakulär endete sie in einer Sackgasse. Durch den Gitterboden jedoch drang Licht herauf. Matt blickte hinab, sah einen weißen, antiseptisch wirkenden Raum, der mit Computern und Konsolen voll gestopft war. Gleichzeitig durchzuckte ihn eine Erkenntnis, die er im ersten Moment nicht fassen konnte. "Die Zugänge sind nicht luftdicht verschlossen!", zischte er Aruula zu. "Die haben den ganzen Bunker mit Kohlendioxyd geflutet! Aber das ist doch..." Er legte sich flach auf das Gitter, um weiter in den darunter liegenden Raum spähen zu können. Es schien sich um einen Steuerraum zu handeln, vielleicht sogar die Bunkerzentrale. Das allerdings würde die
Sicherungsvorrichtungen erklären. Er konnte nicht den ganzen Bereich einsehen, aber den größten Teil davon - und da waren nirgends Menschen. Die Anlage schien vollautomatisch zu laufen. Neue Hoffnung wallte in Matt hoch. Wenn das wirklich die Zentrale war, konnte man von hier aus sicher die Sauerstoffversorgung steuern! Gemeinsam mit Aruula machte sich er an dem Gitter zu schaffen. Da es keinen Mechanismus gab, mit dem es sich öffnen ließ, traten sie es kurzerhand aus seiner Verankerung. Die Luft war so knapp geworden, dass zu mehr keine Zeit blieb. Lärmend fiel das Gitter zu Boden, und Matt und Aruula sprangen hinterher. Sie rollten sich ab, und Matt wandte sich sofort den Konsolen zu. Die Zeit war knapp geworden. Beide schnappten sie nach Luft, konnten kaum noch klar denken. Jetzt kam es auf jede Sekunde an... * Zwanzig Minuten. Die Zeit war um. Selina McDuncan und ihre Leute hatten abgewartet, wie Matt Drax es angeordnet hatte. Aber die Sauerstoffzufuhr zu ihrer Zelle war nicht wiederhergestellt worden. Im Gegenteil: Die letzten Reserven atembarer Luft waren fast völlig aufgebraucht. Das konnte nur eins bedeuten: Drax war mit seinem Vorhaben gescheitert. Mit eiserner Disziplin schwang sich Selina von ihrer Pritsche und zwang sich aufzustehen. Nun blieb nur noch eine Möglichkeit. "Ich rufe... die Leitung der Community Dublin!", rief sie so laut sie konnte. "Wir geben... unseren Widerstand auf und...
verpflichten uns zu bleiben! Hören Sie? Wir fügen uns! Stellen Sie... die Luftzufuhr wieder her!" Auch Andrew Farmer und Peter Shaw kämpften sich in die Höhe. Bolton blieb einfach liegen. "Hab es doch gesagt", keuchte er. "Keine Chance..." Und er schien Recht zu bekommen. Nichts rührte sich. Weder erklang eine Antwort aus dem Lautsprecher, noch wurde Sauerstoff in die Zelle gepumpt. Wankend hielt Selina auf die Tür des Raumes zu, gefolgt von Farmer und Shaw, die sich gegenseitig stützten. Mit jedem Atemzug versuchte sie verzweifelt ihre Lungen mit Luft zu füllen, aber so sehr ihr Brustkorb sich auch weitete, es wollte ihr nicht gelingen. Ihre Blick verschwamm. Selina stürzte, fand sich am Boden wieder, unfähig aufzustehen. Sie stemmte sich halb hoch und sah, dass auch Farmer und Shaw am Boden lagen und sich wanden, während ihre Münder auf und zu schnappten. Fische auf dem Trockenen, war das letzte, was sie dachte, bevor ihr schwarz vor Augen wurde... * "Hier!", rief Matt triumphierend, als er eine Schalttafel mit der Aufschrift "Life Control System" entdeckte. Darüber hing ein großer Bildschirm, der eine 3D Darstellung der gesamten Bunkeranlage und ihrer zehn Etagen zeigte. Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffgehalt waren dabei von Farbskalen abzulesen - normaler Sauerstoffgehalt wurde grün dargestellt, eine Übersättigung mit Kohlendioxyd rot. Wie Matt feststellen musste, waren sämtliche Bereiche des Bunkers mit Kohlendioxyd vergiftet worden, auch die Quartiere und die Versammlungs- und Arbeitsräume der Technos.
"Diese Idioten!", fluchte Matt. "Offenbar ist ihnen ein Fehler unterlaufen, als sie uns die Luft abziehen wollten. Sie sind auf dem besten Weg, sich selbst umzubringen!" In Windeseile überflog er die Anzeigen und Schalter, suchte nach einer Möglichkeit, wie sich der Normalzustand wiederherstellen ließ. Dabei merkte er, wie sein Blick sich eintrübte und seine Kräfte nachließen. Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Aruula, die neben ihm stand und sich auf die Konsole stützte, ließ ein leises Stöhnen vernehmen und wankte. Mit eisernem Willen zwang Matt sich dazu, bei Bewusstsein zu bleiben. Wenn er jetzt nachgab, waren sie alle verloren... Endlich fiel sein Blick auf einen Regler, der die Beschriftung "Oxygen Output" trug. Es fiel ihm schwer, danach zu greifen und den Regler aufzudrehen. Aber er schaffte es. Das Nächste, was er hörte, war ein leises Zischen, das von überall zu kommen schien, begleitet von einem dumpfen Summen, das aus der Lüftungsanlage drang. Offenbar waren die Turbinen, die für das Ansaugen und Filtern der Außenluft verantwortlich waren, wieder angesprungen. Im nächsten Moment fühlte Matt wieder Luft in seinen Lungen. Gierig sog er sie ein und merkte, wie das Leben schlagartig in ihn zurückkehrte. Die ersten beiden Atemzüge fielen ihm noch schwer, dann ging es immer leichter. Sein Kreislauf drohte zu kollabieren, und er musste sich auf den Boden setzen, aber schon nach wenigen Augenblicken ging es ihm besser. Auch Aruula, die halb ohnmächtig zu Boden gesunken war, kam wieder zu sich. "Du... du hast es geschafft", stellte sie mit tonloser Stimme fest. Er nickte nur, und eine endlos scheinende Weile kauerten sie nebeneinander auf den Fliesen, keuchend und glücklich darüber, noch am Leben zu sein.
Indem er sich an die Konsole klammerte, zog sich Matt schließlich wieder auf die Beine. Auf der Anzeigetafel konnte er sehen, wie sich die mit rot markierten Etagen des Bunkersystems langsam wieder grün einfärbten. Sie hatten es tatsächlich geschafft, wenn auch in allerletzter Sekunde. Viel hätte nicht gefehlt, und nicht nur die Gefangenen, sondern die ganze Bunkerbesatzung wären elendig ersti... Matt stutzte plötzlich. Erst jetzt sah er, dass sie nicht wirklich allein waren in der Zentrale. Im hinteren Bereich des Raums, den er vom Lüftungsschacht aus nicht hatte einsehen können, gab es eine gläserne Trennwand, hinter der ein Quartier eingerichtet war ein spartanisch eingerichteter Wohnraum mit einem Tisch und einem Stuhl, einem Bett und mehreren Spinden. Und in diesem Wohnraum stand die alte Frau in dem weißen Gewand, die Matt schon zwei Mal angesprochen hatte. Mit undeutbaren Blicken schaute sie zu ihm herüber. Was hatte das zu bedeuten? Matt und Aruula wechselten einen fragenden Blick. Dann traten sie vorsichtig auf die gläserne Wand zu. Die alte Frau blickte ihnen ruhig entgegen. "Können Sie mich hören?", fragte Matt. Die Alte nickte. "Was ist passiert? Weshalb sind Sie hier?" Die alte Frau legte ihnen Kopf schief. "Sie können seltsame Fragen stellen - ich lebe hier. Aber Sie sind nicht von hier, richtig? Ich habe Sie noch nie zuvor gesehen." "Wir kommen von außerhalb", erklärte Matt resignierend. "Aus London." "Besuch von außerhalb?" Ein Lächeln huschte über ihre zerfurchten Züge. "Wie nett. Warum kommen Sie mich nicht besuchen? Es wäre schön, sich mit jemandem von außerhalb zu
unterhalten." Matt sah den Schalter, der in die Betonwand eingelassen war. Er betätigte ihn, und das Trennglas hob sich mit leisem Summen. "Warum tragen Sie so komische Anzüge?", fragte die Alte, die sich freudig zu ihnen gesellte. Matt musste grinsen. Irgendwie erinnerte ihn die Frau an seine Grandma, auf deren Farm er als Junge oft gewesen war. "Diese Anzüge sind nur zu Ihrem Schutz, Ma'am", erklärte er. "Können Sie uns sagen, was hier geschehen ist? Wo sind Fitzpatrick und die anderen?" "Ich bin hier, Commander", erklang plötzlich eine eisige Stimme. Matt und Aruula fuhren herum - und sahen sich Fitzpatrick und O'Herly gegenüber, die nur wenige Meter von ihnen entfernt standen. Begleitet wurden sie von einem Dutzend Wachleuten, die ihre Strahlerwaffen auf die Besucher gerichtet hatten. Weder Matt noch Aruula hatten bemerkt, wie sie sich genähert hatten. "Nehmen Sie augenblicklich die Hände hoch und ergeben Sie sich, Commander", forderte Fitzpatrick sie auf. "Ihr Verhalten ist ungeheuerlich und wird neu bewertet werden müssen." "Neu bewertet? Wovon, in aller Welt, reden Sie? Sie hätten uns um ein Haar draufgehen lassen, Fitzpatrick!" "Das steht nicht zur Diskussion. Sie haben gegen Ihre Anweisungen gehandelt und Ihr Quartier verlassen." "Allerdings. Und hätten wir es nicht getan, wäre wahrscheinlich niemand von Ihnen mehr am Leben." "Was Sie sagen, ergibt keinen Sinn, Commander. Ich muss Sie auffordern, sich augenblicklich zu ergeben und sich von meinen Leuten zurück in Ihr Quartier eskortieren zu lassen. Andernfalls..." "Geben Sie gar nichts auf ihn", sagte die Alte und stieß Matt
vertraulich in die Rippen. "Er macht sich gerne wichtig." "... andernfalls sehen wir uns gezwungen, Gewalt anzuwenden", fuhr der Bunkervorsteher fort. "Ich zähle langsam bis drei. Eins..." "Lassen Sie's gut sein, Fitzpatrick", sagte die alte Frau. "Ich bin sicher, die beiden haben es nicht bös gemeint." "Zwei..." "Muss ich erst böse werden? Sollen die beiden die Wahrheit erfahren?" "Drei!", brüllte Fitzpatrick, und O'Herly hob die Hand, um seinen Leuten den Feuerbefehl zu erteilen. In diesem Moment sprang die alte Frau vor und stellte sich zwischen die Schützen und ihr Ziel. "Nein!", rief Matt entsetzt. Aber die Alte lachte nur und ging einfach weiter, auf die Schützen zu - und durch sie hindurch. "Was...?" Matt stand wie vom Donner gerührt. Einen Augenblick lang konnte er nicht glauben, was er sah. Fassungslos beobachtete er, wie die alte Frau unter Fitzpatrick und seinen Leuten umher lief, deren Körper ihr keinen Widerstand boten. Und im nächsten Moment begriff Matt. Fitzpatrick, O'Herly und die anderen - sie alle waren Hologramme...! * Die Erkenntnis war so frappierend wie bestürzend. Keiner der Männer, die vor ihnen standen, war real. Sie alle waren nicht mehr als Projektionen aus Daten und Licht, wenn auch sehr realistische. Unwillkürlich musste Matt an den Drachen und die anderen Märchengestalten aus dem Habitat denken - dieselbe Technik
schien hier zum Einsatz gekommen zu sein. Jemand hatte Abbilder von Menschen geschaffen, die vom Original nicht zu unterscheiden waren. Aber warum?! Matt reagierte gar nicht mehr auf die wütenden Befehle des Bunkervorstehers. Verblüfft trat er vor und streckte die Hand aus - sie ging geradewegs durch Fitzpatrick hindurch. Bei O'Herly und seinen Leuten war es nicht anders, wie Aruula feststellte. Sie alle waren nur Trugbilder, mit moderner Technik erschaffen. An der gegenüber liegenden Wand entdeckte Matt eine Konsole, die mit "Holographie Projector", überschrieben war. Kurz entschlossen trat er darauf zu. "Nein!", rief Fitzpatrick entsetzt, als er sah, was Matt vorhatte. Doch dieser hatte bereits nach dem entsprechenden Schalter gegriffen und betätigte ihn. Im nächsten Moment erloschen die holografischen Projektoren - und Fitzpatrick und seine Leute waren von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Übrig blieben nur Matt, Aruula und die alte Frau, die sich über das Verschwinden der Hologramme sehr zu amüsieren schien. "Nun sind sie weg", meinte sie und kicherte dabei. "Sie verschwinden öfter so abrupt, wissen Sie? Ohne ein Wort des Abschieds oder der Entschuldigung. Haben keinen Anstand, diese jungen Leute." "Ma'am", fragte Matt vorsichtig und fürchtete sich fast vor der Antwort, "wo sind die anderen Bewohner des Bunkers?" "Sie können Fragen stellen!" Die Alte kicherte wieder. "Sie selbst haben Sie gerade verschwinden lassen, wissen Sie nicht mehr? Sie sind ziemlich vergesslich, junger Freund." "Davon spreche ich nicht. Das waren nur Hologramme." "Hologramme?" Sie blickte ihn verständnislos an. "Sie sind nicht real. Nicht wie Sie und ich, verstehen Sie?" Sie schüttelte verständnislos den Kopf. "Ich weiß nicht, was Sie meinen, junger Freund. Sie alle sind so. Sie verschwinden,
und dann tauchen sie wieder auf. Mal sind sie hier, dann sind sie weg. So ist es schon immer gewesen." "Schon immer?" Matt merkte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. "Ich kann ihre Gefühle erlauschen", sagte Aruula. "Ich fühle Verwirrung, aber keine Arglist. Sie sagt die Wahrheit, Maddrax." Matt nickte. Ihnen beiden war klar, was das bedeutete. Diese alte Frau war der einzige Mensch im Bunker von Dublin. Die letzte Überlebende... * Von der Zentrale aus gelang es Matt, die Tür des Quartiers zu entriegeln, in dem Selina McDuncan und ihre Leute gefangen gehalten wurden. Außerdem trat er mit ihnen über die Sprechanlage in Verbindung und berichtete in aller Kürze, was Aruula und er herausgefunden hatten. Selina und ihre Leute staunten nicht schlecht, als sie die Wahrheit über die Technos von Dublin erfuhren. Vieles, das ihnen zuvor Rätsel aufgegeben hatte, ergab jetzt plötzlich Sinn. Auch dass Aruula nichts hatte erlauschen können. Das einzige schwache Signal, das sie gefühlt hatte, war das der alten Frau gewesen. Die Hologramme wurden vom Zentralcomputer aus gesteuert, der ihre virtuellen Charaktere verwaltete und ihr Handeln aufeinander abstimmte. So zum Beispiel, dass der Körperkontakt mit realen Menschen stets vermieden wurde. Eine Frage allerdings blieb bestehen: Die Frage nach dem Warum. Weshalb erhielt ein Computer eine Bunkerzivilisation künstlich aufrecht, die in Wahrheit schon vor Jahrzehnten untergegangen war? Und weshalb war eine senile alte Frau das
einzige Wesen aus Fleisch und Blut, das den unterirdischen Komplex bewohnte? Als Matt und Aruula die Zentrale verließen, bat er die Alte, sie zu begleiten. Bereitwillig zeigte sie ihnen den Weg zu den Quartieren, wo sie auf Selina und die anderen stießen. Und schließlich enthüllte die alte Frau, die ihren Namen vergessen hatte, auch das Geheimnis ihrer Herkunft und der Community Dublin... * Im Jahr 2448 Sean Spencers Herz war schwer, während er auf der Bettkante saß und in die blassen Züge des kleinen Mädchens blickte. Immer wieder musste das Kind husten. Rebeccas Stirn war heiß, die Adern darauf dick angeschwollen. "Daddy?", hauchte sie.
"Ja, mein Kleines?"
"Wo sind Mom und Brian?"
"Sie sind oben, bei den anderen." Karen war die persönliche
Referentin von Myron de Vries und in dieser Funktion unabkömmlich. Darum hatte er sich bereit erklärt, allein bei Rebecca zu bleiben. "Dann hat es schon angefangen?"
Spencer nickte.
"Das ist schade", sagte die Kleine und hustete wieder. "Ich
war so gern dabei gewesen. Ich hätte so gerne die Braut gesehen in ihrem schönen weißen Kleid." "Mommie wird dir alles genau erzählen, Schätzchen", versprach Spencer. "Es wird fast so sein, als wärst du selbst dabeigewesen." "Ich hätte es aber selbst sehen wollen, ich..." Der Rest von dem, was sie sagen wollte, ging in einem heiseren Husten unter.
Besorgt blickte Spencer auf die Anzeige des Überwachungsgeräts. Es wurde Zeit, dass die Medikamente anschlugen und das Fieber sank. Seit vier Tagen schon dauerte es an, obwohl immer stärkere Dosen von Antibiotika verabreicht wurden. Verfluchtes Immunsystem! Kaum fing man sich einen Zug ein oder strengte sich über Gebühr an, schon lag man flach. Und Rebecca hatte es ziemlich schlimm erwischt. "Du darfst dich nicht aufregen", sagte er und strich ihr sanft über die von Schweiß glänzende Stirn. "Es wird alles gut werden, glaub mir. Der Doc hat gesagt, dass du schon bald wieder mit nach Hause darfst." "Darf ich dann auch nach oben gehen und das Habitat besuchen? Ich will endlich den Kobold am Ende des Regenbogens sehen." "Das wirst du", versicherte Spencer. "Und auch die Truhe mit Gold wirst du sehen, mein Kind, das verspr-" Das Heulen der Alarmsirene verschluckte seine Worte. Aufgeschreckt fuhr Spencer in die Höhe. Jemand hatte Generalalarm gegeben! Etwas Schlimmes musste geschehen sein. Er eilte zur Tür des Krankenzimmers und öffnete sie, spähte hinaus auf den Gang. Ein Trupp von Medizinern kam den Korridor herab gerannt. Sie hatten Tragen dabei und schienen in heller Aufregung zu sein. "Was ist los?", erkundigte er sich. "Ein Zwischenfall im Habitat", rief ihm einer der Ärzte im Vorbeirennen zu. "Was für ein Zwischenfall?" "Ein Notfall der Stufe fünf! Fast das ganze medizinische Personal wurde nach oben beordert..." "O nein", sagte Spencer und wurde kreidebleich. Ein Notfall der Stufe fünf. Das bedeutete, dass die Außenhülle gebrochen und Fremdorganismen in das Habitat
eingedrungen waren. Die denkbar größte Katastrophe angesichts der Tatsache, dass niemand im Habitat Schutzanzüge trug. "Was ist denn los, Daddy?", drang Rebeccas dünne Stimme auf den Korridor, kaum auszumachen gegen das schrille Kreischen der Sirene. Sean Spencer focht einen kurzen, schrecklichen Kampf mit sich selbst. Es drängte ihn, zu den Aufzügen zu eilen und nach oben zu fahren, nach seiner Frau und seinem Jungen zu sehen, die sich ebenfalls im Habitat aufhielten. Aber er wusste, dass es sinnlos war. Die Mediteams, die nach oben fuhren, würden ihr Bestes tun. Wenn die Außenhülle tatsächlich geborsten war, gab es ohnehin nichts mehr, was sie retten konnten. Dann war das Habitat längst verseucht und für jene, die sich oben aufgehalten hatten, würde jede Hilfe zu spät kommen. Sie würden sterben. Alle. "Alle", wiederholte Spencer schaudernd und hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Fast die gesamte Bevölkerung des Bunkers - über zweihundert Männer, Frauen und Kinder - befand sich im Habitat, um an der Hochzeit von Präsident de Vries teilzunehmen. Es war seine Idee gewesen, die Feier an der Oberfläche abzuhalten - nun sah es so aus, als wäre sein Leichtsinn schwer bestraft worden. "Daddy!", rief seine Tochter wieder. "Was ist denn los? Ich hab Angst!" Spencer schloss die Augen. Er durfte nicht an die denken, die dort oben ein grausames Ende fanden, sondern an jene, die noch lebten. Rebecca brauchte ihn. Auch Karen und Brian hätten gewollt, dass er sich um sie kümmerte. So machte er kehrt und ging in das Krankenzimmer zurück,
die Tränen nur mühsam zurückhaltend. "Es ist nichts, meine Kleine", sagte er leise. "Alles wird gut..." * "... an vieles, was seither geschehen ist, erinnere ich mich nicht mehr", sagte die alte Frau mit Tränen in den Augen. "Aber jene schrecklichen Tage stehen so deutlich vor mir, als wäre alles erst gestern geschehen." "Was genau ist passiert?", fragte Matt sanft. Die Alte brauchte ein paar Augenblicke, um sich zu sammeln. "Wie man später herausfand", fuhr sie leise fort, "waren es Hyeenas, grässliche Raubtiere, die die Oberfläche bewohnen. Es war ihnen gelungen, einen Efranten aus dem Dschungel und durch die Hülle des Habitats zu treiben. Sie hatten wohl gewittert, dass sich im Inneren leichte Beute befand... Wen die Bestien nicht fraßen, der starb an den Folgen der Verseuchung. Keiner von denen, die an der Oberfläche waren, hat überlebt. Und diejenigen, die ihnen zur Hilfe kommen wollten, wurden von den Bestien ebenfalls zerfleischt. Es war entsetzlich." "Wie viele haben überlebt?", erkundigte sich Matt. Das Schlucken fiel ihm schwer. Die Alte sah zu Boden. "Fast alle waren der Einladung des Präsidenten gefolgt, und auch die Ärzteteams kamen nicht wieder. Es gab nur acht Überlebende: vier Informatiker, die zum Zeitpunkt des Unglücks Dienst in der Zentrale hatten; zwei Mitarbeiter des medizinischen Personals; einen Wissenschaftler, der sich entschlossen hatte, am Bett seiner kranken Tochter zu bleiben; und ein dreijähriges Mädchen, das infolge seiner Erkrankung als Frau niemals fruchtbar wurde." "Ich verstehe", sagte Matt. "Ich bezweifle, dass Sie das tun, mein junger Freund. Die Verzweiflung war übermächtig. Sie erfasste uns alle. Ein
Informatiker und einer der Ärzte gingen los, um Kontakt zu einer anderen Bunkergemeinde aufzunehmen, aber sie kehrten nie zurück. Wir anderen wagten uns aus Angst vor den Hyeenas nicht mehr hinaus. Schließlich hatte mein Vater die Idee, die Hologramm-Technik zu nutzen, um unsere Leute wieder lebendig zu machen..." Matt nickte. Die Geschichte der Bunkergemeinde von Dublin war ebenso traurig wie erschütternd - am meisten jedoch verstörte ihn die Erkenntnis, dass die Alte die Hologramme tatsächlich als lebende Wesen sah. Die Gestalten aus Licht umgaben sie, so weit sie zurückdenken konnte, und sie fand es ganz normal, dass man sie nicht berühren konnte und dass sie sich ab und an auflösten, um an anderen Orten wieder aufzutauchen. Auch dass sie nicht alterten, während sie eine Greisin geworden war. Sie waren alles, was sie hatte. Ihre Familie, wenn man so wollte. "Seien Sie Fitzpatrick und den anderen nicht böse", bat die alte Frau. "Sie haben es nur gut gemeint. Sie wollten Sie zum Bleiben bewegen, damit ich nicht mehr so einsam bin, wissen Sie?" "Ich weiß", sagte Matt nur - damit hatte sich auch die letzte Frage geklärt. Wahrscheinlich hatte der Vater des kleinen Mädchens das System einst darauf programmiert, Ausschau nach Menschen zu halten, die seiner Tochter Gesellschaft leisten konnten. Er hatte nicht ahnen können, dass es so lange dauern würde... * "Nein! Nein und nochmals nein!" "Aber Ma'am", sagte Selina McDuncan eindringlich. "Ist Ihnen nicht klar, was das für Sie bedeuten würde? Wenn wir Ihnen das Serum verabreichen, können Sie den Bunker
verlassen und gehen, wohin Sie wollen." "Aber ich will den Bunker nicht verlassen!", schrie die alte Frau so laut, dass ihre Stimme sich überschlug. "Da oben gibt es nichts als Tod und Vernichtung! Ich will hier bleiben! Bei meinen Freunden!" "Aber Ihre Freunde existieren nicht wirklich", versuchte Steve Bolton ihr zu erklären. "Sie sind nur Hologramme, verstehen Sie das nicht?" "Aber sie sprechen mit mir, und sie sorgen für mich. Sie sind für mich da, wenn ich sie brauche, also erzählen Sie mir nicht, sie würden nicht existieren", versetzte die Alte. "Und wenn wir Ihnen versprechen, dass auch wir uns um Sie kümmern werden?", fragte Selina sanft. Das Schicksal der alten Frau, die nichts anderes kannte als ein Leben im Bunker, ging der Soldatin nahe. "Auch dann nicht, mein Kind." Die Greisin lächelte. "Lasst mich hier, ja? Hier ist alles, was ich kenne und brauche. Ich habe nicht den Wunsch zu gehen." Selina sandte Matt einen fragenden Blick, den dieser an Aruula weiter reichte. Die Barbarin konzentrierte sich kurz. "Sie meint es Ernst", stellte sie fest. "Sie will den Bunker um keinen Preis verlassen. Ich spüre sogar leise Todesangst." Matt nickte. Er hatte es geahnt. Man brauchte nicht mental begabt zu sein, um die Angst der alten Frau zu spüren. Allein der Gedanke, ihr gewohntes Umfeld zu verlassen und sich an die Oberfläche zu begeben, brachte sie in Aufruhr. Die schrecklichen Erinnerungen ihrer Kindheit, die tief in ihrem Unterbewusstsein verwurzelt waren, versetzten sie geradezu in Panik. "Was sollen wir mir ihr tun?", raunte Selina Matt zu. "Wenn wir Ihr ein Narkotikum verabreichen, könnten wir sie ohne Probleme mitnehmen. Sie wird in London aufwachen und den Unterschied vielleicht noch nicht mal bemerken." "Glauben Sie das wirklich?" Matt schüttelte den Kopf. "Sie
ist all das hier gewohnt. Sie braucht ihr vertrautes Umfeld und die vertrauten Gesichter - auch wenn es nur die von Hologrammen sind. An einem anderen Ort würde sie zugrunde gehen, da bin ich mir sicher. Es gab zu meiner Zeit ein geflügeltes Wort, das sehr gut passt." "Und das wäre?" "Einen Baum, der so lange an einem Platz gestanden hat, sollte man nicht verpflanzen", erwiderte Matt und wandte sich an die Alte, die vor ihm auf einem Schemel saß. "Also gut, Ma'am", sagte er, "wir werden Sie hier lassen." "Und werden Sie auch Fitzpatrick und die anderen zurückholen? Sie fehlen mir nämlich, wissen Sie?" "Natürlich", versicherte Matt. "Danke, mein Junge." Sie nahm seine behandschuhte Rechte in ihre runzligen Hände. "Das werde ich dir nie vergessen." "Schon gut, Granny", sagte Matt und fühlte sich einen Augenblick lang wie jener kleine Junge, der es vor so langer Zeit geliebt hatte, die Farm seiner Großmutter zu besuchen und ihr zuzuhören, wie sie von früher erzählte. Von den Ereignissen ihrer Kindheit, an die sie sich erinnerte, als wären sie erst gestern gewesen, während Dinge, die gerade erst geschehen waren, ihrem Gedächtnis sofort wieder enteilten. Er nickte Lieutenant Shaw an der Kontrollkonsole des Hologramm-Projektors zu, worauf dieser eine Sequenz von Tasten betätigte. Im nächsten Moment bekamen die alte Frau und die Explorer-Besatzung Gesellschaft: Mr. Fitzpatrick und Rupert O'Herly standen plötzlich vor ihnen, in ihren Gesichtern noch immer das gleiche Maß an Empörung, das sie bei ihrem letzten Treffen an den Tag gelegt hatten. "Mr. Fitzpatrick, Mr. O'Herly", sagte die alte Frau. "Wie schön, Sie zu sehen." Fitzpatrick beachtete sie nicht einmal - seine ganze Aufmerksamkeit galt Matt und dessen Crew.
"Commander Drax!", blaffte er ihn an. "Ich weiß nicht, was diese unautorisierten Handlungen zu bedeuten haben, aber ich kann Sie auf keinen Fall gutheißen. Sollten Sie wirklich vorhaben, unseren Bunker zu verlassen, werden wir Maßnahmen ergreifen, die..." "Mach's gut, Pat", sagte Matt - und ging einfach durch ihn hindurch, worauf der holografische Bunkervorsteher verstummte. Sein Steuerprogramm hatte offenbar erkannt, dass die Täuschung durchschaut worden war, und versuchte nicht länger, sie aufrecht zu erhalten. Auf der Schwelle der Zentrale blieb Matt noch einmal stehen und warf der alten Frau einen letzten Blick zu. "Mach's gut, Granny", sagte er. "Du gehst, mein Junge?", fragte sie überrascht. "Ja." "Nach oben?" Er nickte. "Würdest du mir einen Gefallen tun?" "Na klar." "Grüß Ali Baba und die vierzig Räuber von mir", sagte sie und kicherte leise vor sich hin - der Augenblick der Klarheit schien verflogen und die alte Senilität zurückgekehrt zu sein. "Mach ich", sagte Matt leise, dann folgte er Aruula und den anderen den Korridor hinab zum Lift. Auf dem Weg nach oben begegneten sie keinen Hologrammen mehr. Unbeschadet erreichten sie das Ausgangsschott; die Mulde mit ihren Waffen fanden sie unverschlossen. "Schön", meinte Aruula und wog ihr Schwert zufrieden in den Händen. "Unsere Waffen hätten wir wieder. Und wie kommen wir nach draußen?" Die Frage war berechtigt. Nirgendwo an dem Bunkerschott, durch das sie hereingekommen waren, befand sich ein
Öffnungsmechanismus. "Diese verdammten Hologramme wollen uns noch immer nicht gehen lassen", mutmaßte Selina McDuncan. "Nein." Matt schüttelte den Kopf. "Es muss eine Möglichkeit geben, das Schott zu öffnen." "Schon, aber wie?" Andrew Farmer zuckte die Achseln. "Leider waren sie nicht so freundlich, es uns zu sagen." "Diese Sprechanlage hier sieht sonderbar aus", sagte Matt und wies auf eine Apparatur in der Wand neben dem Schott. "Nur ein Mikrofon, kein Lautsprecher. Möglicherweise gibt es ein Losungswort, das die Tür öffnet." "Na wunderbar." Steve Bolton verdrehte die Augen. "Und was könnte das wohl sein? Wir haben die Auswahl aus ein paar Millionen verschiedener Möglichkeiten." "Ich denke nicht, dass es so kompliziert ist", meinte Matt. "Es musste etwas sein, das sich jeder Bewohner des Bunkers leicht merken konnte, wenn er das Habitat besuchen wollte. Eine einfache Losung." "Na, dann strengt mal eure grauen Zellen an, Jungs", forderte Selina McDuncan ihre Untergebenen auf, und auch Matt überlegte fieberhaft. Irgendwie kam ihm die Situation bekannt vor. Eine Gruppe von Gefährten, die vor einer verschlossenen Pforte saßen und über das Lösungswort rätselten, mit dem sich ein Tor öffnen ließ - er war sicher, so etwas schon einmal gesehen oder davon gelesen zu haben. Vor sehr, sehr langer Zeit... Plötzlich fiel ihm wieder ein, und laut und deutlich rief er: "Freund!" Aber nichts geschah; das Tor blieb verschlossen. Aruula und die anderen sahen ihn an, als würden sie an seinem Verstand zweifeln. "Das ist aus einem Film, den ich mal gelesen habe", erklärte Matt entschuldigend, "nach dem Buch eines Professor Tolkien. Er befasste sich mit alten Märchen und..."
Plötzlich stutzte er. "Was ist?", wollte Selina wissen. "Märchen", dachte Matt laut nach. "Das Habitat ist ein Ort, an dem Märchen lebendig werden!" "Und?" "Vielleicht handelt es sich bei dem Losungswort um ein Zitat aus einem Märchen. Irgendwas, das sich auf ein verschlossenes Tor bezieht und auf..." Von einem Augenblick zum anderen kannte er die Lösung. Die alte Frau hatte sie ihm genannt. "Danke, Granny", sagte Matt leise, und laut und deutlich fügte er hinzu: "Sesam öffne dich!" Eine Sekunde lang geschah nichts. Dann wechselten die roten Leuchten über dem Schott auf Grün, und unter dem Jubel der Explorer-Besatzung hob sich das Schott. Der Weg war frei. Im Schleusenraum legten Matt und seine Gefährten die Schutzanzüge ab, und nachdem sie mit "Sesam schließe dich" das erste Schott wieder verriegelt hatten, öffneten sie auch die äußere Schleusentür. Erleichtert traten sie hinaus in die Halle, die einst das Habitat beherbergt hatte, und erreichten nach tagelangem Aufenthalt in der Unterwelt endlich wieder den grünen Wald. Der Himmel, der sich darüber spannte, war rötlich gefärbt - es war Abend und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Sie beeilten sich, zurück zum EWAT zu kommen, ehe die Tiere der Nacht auf die Jagd gingen. Und mit summenden Antigrav-Triebwerken erhob sich der Tank in die Luft und schwenkte nach Süden, einem neuen Abenteuer entgegen. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! In vierzehn Tagen lesen Sie:
Ein Leben im Sterben von Bernd Frenz Wie sagte der Sklavenhändler Mesiu im vorliegenden Band? "Die Geschäfte gehen schlecht in diesen Tagen, seit dieser elende Sklavenbefreier im Süden aufgetaucht ist und dort sein Unwesen treibt..." Bernd Frenz wird sich in zwei Wochen dieses Themas annehmen. Denn der "elende Sklavenbefreier" ist jemand, den Matt einst bei Plymouth kennen lernte und den er für tot hält. Dabei ist der Nosfera Navok sehr lebendig. Noch. Denn die Bruderschaft des Blutes ist ihm dicht auf der Spur...