Michael Milde
Der immerwährende Augenblick (Das Fragment II)
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Michael Milde
Der immerwährende Augenblick (Das Fragment II)
scanned 10-2007/V1.0 Wieder einmal hat sich Geologieprofessor Tristan Wagner vorgenommen, einfach nur Urlaub zu machen. Er möchte die Semesterferien gemeinsam mit seiner neuen Liebe, der Bibliothekarin Alana, und deren vorwitzigen Tochter Sophia verbringen – diesmal ohne gefährliche Begegnungen, einstürzende Brunnenschächte, explodierende unterirdische Gänge und Geheimagenten! Doch das Abenteuer um die geheimnisvolle Kugel, die den Wissenschaftler Reisen jenseits von Raum und Zeit unternehmen lässt, ist noch nicht vorbei. Als Pater Benedikt aus Rom am Urlaubsort im Chiemgau anruft, setzen sich Tristan und Alana sofort in Bewegung. Der Kleriker hat eine Skulptur mit »ihrem« Triskell gefunden. In welche Abgründe und zu welchen Erkenntnissen wird die Spur diesmal führen? Und von welcher Art ist die geheime Verbindung zwischen den Abenteurern der Gegenwart und ihrem steinzeitlichen Ahnen Than? Am Ende dieser Geschichte, in der es mehr als einmal um Leben und Tod geht, steht die Erkenntnis: Es wäre viel zu einfach, die Mystik der Alten als heidnischen Humbug abzutun. ISBN: 978-3-8334-7798-0 Verlag: Books on Demand Erscheinungsjahr: 2007
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt Inhalt........................................................................................................3 DER SUCHER .........................................................................................5 VILLA REMEIS........................................................................................9 URLAUB AM CHIEMSEE.....................................................................22 THAN .....................................................................................................43 NACHRICHTEN ....................................................................................70 KLOSTER LEYRE..................................................................................71 MUSEUMSBESUCH .............................................................................89 MICHELSBERG ..................................................................................110 SOMMERLAGER ................................................................................127 NACHRICHTEN ..................................................................................141 ROM ....................................................................................................142 HELGOLAND......................................................................................167 DAS HELGE LAND.............................................................................190 GEFAHR..............................................................................................205 TELEFONAT .......................................................................................223 SCHWESTER EPIPHANIA..................................................................224 WOLFSMENSCHEN ...........................................................................240 NACHTFLUG ......................................................................................263 ENDE EINER PARTNERSCHAFT ......................................................281 FLUCHT..............................................................................................282 KORSIKA.............................................................................................300 HÖHLENWANDERUNG.....................................................................320 ANSIEDELUNG ..................................................................................342 BAMBERGER GÖTZEN......................................................................361 ENTFÜHRUNG...................................................................................380 SUCHE ................................................................................................397 ATLANTIK ...........................................................................................412 BEFREIUNG .......................................................................................427 HEIMKEHR.........................................................................................449 UMKEHR.............................................................................................461 KRYPTA...............................................................................................463 BIBLIOTHEK ......................................................................................474
Besonderen Dank an Elke, Tamara, Hans-Manfred und Michel, die mich bei der Entstehung dieses Romans sehr unterstützt haben.
DER SUCHER Normalerweise nahm er die Klänge der Welt gleichzeitig wahr. Die Übersicht über das dreidimensional wirkende Plateau, auf dem er Jahrtausende überblickte, verblasste aber. Ihm war etwas aufgefallen. Der Ton in seinem Inneren wich einem anderen Ton. Einem Geräusch. Hektischen Geräuschen. Stimmengewirr. Gackern. Quietschen. Das weite Plateau um ihn herum verwirbelte. Vermischte sich in Farben, verzerrte sich in Formen. Dann wurde das Bild wieder klarer und konzentrierter. Viele Menschen redeten durcheinander. Schon die Geräusche verwirrten seine Gefühle, denn sie schienen sich zu einem chaotischen Knoten zu verklumpen. Ihn erfüllte nicht mehr dieser einzige, besondere und reine Ton, sondern plötzlich unzählige und ungewöhnliche. Es war verwirrend. Er wusste gar nicht, welchem dieser Töne, welcher Stimme er folgen sollte. »Äpfel! Gute Äpfel! Reife Äpfel!«, schien eine junge Frau zu rufen, die einen groben braunen Leinenrock trug. Die weiten Ärmel ihrer dunkelroten Bluse waren zurückgeschoben. Diese Stimme direkt neben dem Sucher zog seine Aufmerksamkeit auf sich. »Birnen! Saftige Birnen! Grüne Birnen!«, pries die junge Obstbäuerin mit ihrer Glockenstimme an. Than verstand die Worte dieser Sprache nicht, aber die Bedeutung. Die Frau war gerade dabei, einige Körbe vor sich übersichtlich hinzustellen. Ihr Obst sollte ansprechend präsentiert werden. »Zwiebeln! Scharfe Zwiebeln! Frische Zwiebeln!« Sie zog einen weiteren Weidenkorb in die Linie, die ihre geordneten Körbe jetzt bildeten. Als sie sich dabei bückte, fiel Than auf, dass sich ihre weiblichen Formen gefällig in dem Rock 5
abzeichneten. Entweder trug sie dieses einfache Kleidungsstück absichtlich eng oder ihre Armut zwang sie dazu, über viele Jahre hinweg dasselbe zu tragen. Braune lange Haarsträhnen quollen aus dem weißlichgrauen Häubchen und fielen ihr in das Gesicht. Die schweißnasse Stirn ließ vermuten, dass sie schon seit vielen Stunden auf den Beinen war, um ihre Ware zum Markt zu tragen. Die schwieligen Hände zeugten von harter Arbeit. Mit einem prüfenden Blick erkannte sie einen fleckigen Apfel, entnahm ihn im Aufrichten und strich sich dabei den Schweiß von der Stirn. Die Bäuerin sah lange die Frucht an, die sich nicht mehr verkaufen ließ. Kunden würden fürchten, dass auch andere faule Stücke dabei waren. Kurzerhand biss sie in den noch saftigen Teil. Dabei genoss sie augenscheinlich das Obst. Ihre Augen schlossen sich für kurze Zeit. Der Sucher nahm an, dass sie sich kaum etwas von der Ware selbst gönnen durfte. Er fand die junge Frau sehr attraktiv. Sie hatte etwas von einem ihrer frischen, gesunden und saftigen Äpfel. Than wusste aber sehr wohl, mehr als viele andere, wie vergänglich alles in der Welt war. Wie schnell wurde diese Frucht runzlig, saftlos, faulig. Bis schließlich das Leben aus diesem entkräfteten Körper flieht. Nach kurzer Zeit nur noch in den Erinnerungen der Kinder und Enkel oder in den Annalen der Kirche zu finden. Einen Augenblick später, oder waren es Jahre in Hunderterschritten, weiß niemand mehr etwas über das Leben, die Leistung, die Liebe dieses Menschen. »Heeeeaaaahhh!« Ein wilder Ruf weckte Than aus seinen Gedanken. Ein Pferdekarren näherte sich von hinten und drohte mit ihm zusammenzustoßen. Im letzten Moment sprang er zur Seite. Das Gespann passierte ihn. Ein Schnauben aus den Nüstern des stoischen Rosses spürte er über Ohr und Wange. Während Than noch auf das Pferd starrte, hörte er einen Warnruf, den er aber wieder nicht verstand. Das hölzerne 6
Wagenrad donnerte knapp neben ihm vorbei. Schon war der Pferdewagen vorüber. Es war Markttag. Kleine Stände, mit und ohne Zeltdach, mit und ohne Verkaufstisch, sah er rund um sich herum. ›Wo?‹, fragte Than sich. ›Und vor allen Dingen, wann?‹ Nach Kleidung und Werkzeugen, die er sah, konnte er sich im Mittelalter befinden. »Mittelalter! Ein großer zeitlicher Bereich«, murmelte er vor sich hin. »Tausend Jahre, von 500 bis 1500. Ich muss es präzise bestimmen.« Er wollte sich genauer umsehen. Than ging ein paar Schritte zwischen den Marktständen durch. Sah einen Holzrechen auf einem Haufen Heu liegen. Daneben stand ein Handkarren mit Holzrädern, die nicht mit Eisen beschlagen waren. Than schüttelte seinen Kopf. »Das kann genauso im Altertum sein«, stellte er unsicher fest. Die Kleidung der Menschen zeugte von ärmlichen Verhältnissen. Es ließ sich keine Mode erkennen, aufgrund derer er auf eine Epoche schließen konnte. Wenn die Kleidung nicht grau war, so war sie in den Farben eingefärbt, die sich aus einfachen Pflanzenextrakten gewinnen ließen. Than sah keine Helme oder Waffen. Viele Frauen trugen Häubchen. Manche Männer Kappen aus Leder. Vielleicht war er gar bei den alten Kelten, oder noch vorher, in der Jungsteinzeit. Er konnte nicht feststellen, wo er sich befand. ›Wo?‹, fragte er sich weiter. Die Sprache, die hier gesprochen wurde, war ihm gänzlich unbekannt. Dass er die Bedeutung des Gesprochenen erfassen konnte, wusste er schon seit längerem. Than schlenderte weiter durch den Markt, auf dem Obst, Gemüse, Fleisch, Stoffe und Kleidung angeboten wurden. Er sah auch Tiere. Tauben in Kästchen. An den Füßen zusammengebundene Hühner, die an einer Querstange eines Zeltgestells hingen und hilflos flatterten. Ziegen, Schafe, Schweine. 7
Warum war er hier? Was hatte ihn aufmerksam gemacht? Er wusste es nicht. Irgendein Gefühl, das Gesuchte gerade hier zu finden, hatte ihn beschlichen. Es war aber nicht das erste Mal, dass er hilflos an einem Ort in einer Zeit stand. Die Suche musste weitergehen. Than wusste nicht mehr, wo er sich auf dem Markt befand. Überall um ihn herum schrie es, gackerte es oder plapperte es. Er ging weiter. Wollte wieder zurück, woher er gekommen war. Wo ein einziger Ton alle Geräusche der Welt wiedergab. Er drehte sich um, stand plötzlich wieder vor der jungen Obstbäuerin. Sie hielt ihm einen saftigen Apfel hin und lächelte dabei hinreißend. Dabei sprach sie Worte mit ihrer Glockenstimme. Da Than ohnehin nicht bezahlen konnte, lehnte er ab. Lächelte dabei. Sie lächelte zurück. Ein Lächeln von Seele zu Seele. Ein Lächeln von dem und zu dem, was bleibt in der Vergänglichkeit der Welt. Das wusste keiner besser als er. Than verließ die Zeit und kehrte in seinen Augenblick zurück.
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VILLA REMEIS Dem ersten Eindruck nach versprach es, ein ganz normaler Nachmittag zu werden. Es war heiß. Die Augustsonne versteckte sich auf ihrem Weg zum Horizont hin und wieder hinter Schäfchenwolken. Ein leiser Wind ließ die Blätter der alten Kastanienbäume rauschen. Über Bamberg legte sich der Schleier einer sommerlichen Schwere. Die Außenlautsprecher in der Villa Remeis, einem reizvollem Café mit wunderschönem Blick über die Dächer und Kirchtürme der Stadt, gaben ruhige Hintergrundmusik wieder. »Schau mal, Mami, ein Schmetterling«, rief Helena. Für einen Augenblick unterbrachen alle am Tisch ihre Unterhaltung und schauten auf das Pfauenauge. Es flatterte von einem blühenden Busch quer über die Tische zu einer Hecke, die den Außenbereich des Cafés abgrenzte. Helena, die fünfjährige Freundin Sophias, schleckte ihr Eis am Stiel wie in Zeitlupe. Sophia vergaß das ihre vollständig. Ihr ›Stadschadella‹-Eis tropfte zu Boden. Alexandra, Helenas Mutter, Alana und Tristan starrten auf den flatternden Farbfleck. Pater Benedikt lächelte bei diesem Anblick still in sich hinein. Tristan erlebte diesen Augenblick sehr intensiv. Er schien zeitlos. Surreal. Der Schmetterling schien ihm irgendwie vergrößert. Der Fokus seiner gesamten Wahrnehmung lag auf ihm. Als liefe die Realität verlangsamt ab. »Wo fliegt der jetzt hin?«, rief Sophia fragend allen am Tisch zu. Dies geschah für Tristan so unvermittelt und laut, dass er leicht zusammenzuckte. Dabei drückte er unwillkürlich Alanas Hand, die er verliebt festhielt. Alana drückte überrascht zurück und lächelte dabei. »Der fliegt nach Hause«, antwortete Alexandra. 9
»Wohin nach Hause?«, fragte Sophia neugierig weiter. »Wohnt der hier in der Nähe?«, fragte Helena. »Bruder Benedikt! Bruder Benedikt!«, rief eine keuchende Stimme aufgeregt von irgendwoher. »Jetzt fliegt er davon. Schade!«, trauerte Sophia dem davonfliegenden Schmetterling hinterher. »Der war aber schön. Hast du die roten Flecken gesehen, Mama?«, fragte Helena ihre Mutter. Alana schreckte auch aus ihrer Konzentration auf und sah das tropfende Eis. »Ja, aber schau mal auf dein Eis. Sonst hast du selber auch schöne, rote Flecken«, ermahnte sie ihre Tochter. Ohne ein Wort ergriff sie ihre Hand, zog sie mitsamt dem Eis zu sich und schleckte den überfließenden Rand ab. »Was schmilzt, gehört mir!«, lachte sie Sophia zu und tat so, als würde sie mit ihrer Zunge alles Eis wegschlecken. »Bruder Benedikt! Bruder Benedikt!«, kam der unbekannte Rufer näher. Pater Benedikt drehte sich in seinem Stuhl zurück, um zu sehen, wer ihn da suchte. »Jetzt beeilt euch aber mit dem Eis, sonst läuft es euch davon«, sagte Tristan und betrachtete vergnügt die beiden Kinder. »Pater Benedikt!«, keuchte es immer näher. Hektisch sich zwischen den Bänken und Tischen des gemütlichen Biergartens durchzwängend, näherte sich ein Tristan unbekannter Geistlicher. Ihm lief der Schweiß von der Stirn. Ihn trieb an dem lauen Sommernachmittag eine wichtige Nachricht hier herauf. Einige Besucher blickten verwundert auf den im braunen Mönchsgewand dahereilenden Geistlichen. Er drängte sich nun zwischen den sitzenden Gästen durch. Eine Dame, die mit einem leichten Trägertop bekleidet war, hatte den Eilenden nicht bemerkt. Sie schob gerade ihren Stuhl zurück, stand auf und drehte sich vom Tisch weg, um direkt im Weg des für die Hitze unpassend Gekleideten zu landen. Dieser wollte sich an ihr noch 10
vorbeizwängen und legte eine Hand auf ihre nackte Schulter. Durch die rasante Bewegung stieß er doch mit ihr zusammen. Jetzt erst erkannte er, dass es sich um eine sommerlich gekleidete Frau handelte. Wie von einem Stromschlag getroffen, ließ er die Schulter wieder los und drängelte sich unsicher und »Entschuldigen Sie bitte vielmals« murmelnd an ihr vorbei. Diese Situation ließ sein ohnehin schon rotes Gesicht noch mehr erröten. Endlich erreichte er, der Sekretär des Erzbischofs, den Tisch, an dem Benedikt mit seinen Freunden saß. »Pater …«, rang er nach Luft, »Pater Benedikt.« Der Angesprochene schaute mit skeptischem Blick auf den Ankömmling. Er erwartete, dass dieser eine Nachricht bringen würde, die das gemütliche Beisammensein stört. Tristan sah sich den Mann genau an, der sich so auffällig hierher durchgekämpft hatte. Alana und Alexandra schauten sich fragend an, vermuteten aber, dass wieder einmal irgendetwas nicht ohne Pater Benedikt gehen konnte. Sophia und Helena blickten den, in ihren Augen, Störenfried nur kurz an und beschäftigten sich dann wieder mit dem schmelzenden Eis. »Was gibt es, Bruder Gangolf?«, richtete Benedikt seine Frage an den Sekretär. »Was kann so wichtig sein, dass du dich hier heraufquälst?« Die Halbglatze des Angesprochenen glänzte vor Schweiß. »Du musst dich sofort ins erzbischöfliche Ordinariat begeben«, stieß er hervor. »Schnell, komm! Eine wichtige Nachricht, die keinen Aufschub duldet.« Sophia blickte wieder auf. Ihr Gesichtsausdruck wechselte kurz zwischen Befürchtung und Enttäuschung. Gespannt schaute sie auf Benedikt. Der Pater hatte die Gemütsregung Sophias aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Ihm war klar, was seine kleine Freundin befürchtete. 11
»Was ist so wichtig, dass es keinen Aufschub duldet?«, fragte Benedikt. »Eine wichtige Nachricht … von oben. Er will mit dir sprechen! Schnell!«, drängelte der Sekretär. Sein Atem beruhigte sich langsam, aber die Hektik, die er verbreitete, blieb. Pater Benedikt hielt seinem Bruder sein Mineralwasser hin, damit er sich abkühlen konnte. Der nahm es und trank mit großen Zügen. »Von oben? Ganz oben?«, vergewisserte sich Benedikt mit einem schalkhaften Grinsen im Gesicht. »Ja, ganz oben«, versicherte Gangolf, der sich sicher war, ihn richtig verstanden zu haben. »Ich dachte, das Telefonnetz nach oben ist chronisch überlastet, weil zu viele R-Gespräche geführt wurden und jetzt ruft er selbst bei mir an?«, verwirrte Benedikt den erschöpften Gangolf immer mehr. »Welche R-Gespräche, zu wem?«, schüttelte er den Kopf, als verstünde er nicht. »Zu ihm. Ganz oben. Du weißt schon. Alle wollen, dass er auf seine Kosten zurückruft und sich meldet.« Benedikt zeigte bedeutungsvoll mit dem Zeigefinger nach oben. »Ach, Pater Benedikt. Nicht ganz so weit oben«, gab Gangolf zurück und setzte dabei einen strengen Blick auf, als hätte er gemerkt, dass er vom Pater etwas hochgenommen wurde. »Nicht ganz so weit oben.« »Nicht?«, sprach Benedikt mit einem Hauch von gespielter Enttäuschung in seiner Stimme und sah in zwei aufgerissene Augen. »Dann geht es nicht.« »Was?«, erschrak Gangolf. »Was kann wichtiger sein als …« »Was kann wichtiger sein als das Wort, das man einem Freund gegeben hat, Bruder Gangolf?«, fiel Benedikt ihm ins Wort. Der
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Gefragte stutzte und verschluckte sich beinahe und hustete, so überrascht war er über die Reaktion. »Was? Wie?«, stotterte er. »Was ist wichtiger, eine Nachricht aus Rom oder das Einhalten eines gegebenen Wortes an einen Freund?«, wiederholte Benedikt seine Frage. Sophia grinste zufrieden in sich hinein. »Oder eine Freundin?« »Ich verstehe nicht.« Bruder Gangolf konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas Wichtigeres gäbe als den Ruf von oben. »Als Pferd und im Duett mit seiner Reiterin«, erläuterte Benedikt. Gangolfs Augen wurden immer größer. Sie schienen zu fragen, wer von beiden zu viel Sonne abbekommen habe. Alana grinste jetzt auch, denn sie ahnte, was Sophia und Benedikt heimlich vereinbart hatten. »Das siehst du doch ein, Bruder.« »Pferd? … Duett? … Reiterin?« Es war dem Armen anzusehen, dass er nichts verstand. Pater Benedikt stand auf und bot Gangolf, der wegen des schnellen Laufens und der Hitze noch rot im Gesicht war, seinen Platz an. Da dieser immer noch verständnislos auf Benedikt starrte, drückte ihn dieser auf seinen Stuhl. Sophia sprang mit einem Jubelschrei auf und hüpfte um den Tisch zu dem Pater. Für die anderen war dies das Signal des Aufbruchs. Mit einem Griff und einer Drehung hob er Sophia auf seine Schultern. »Juhuu!«, entfuhr es dem Mädchen, das sich schon den ganzen Nachmittag auf diesen Heimritt gefreut hatte. »Vorwärts, mein Schwarzer! Vorwärts!« »Aber der Heilige Vater …«, stöhnte Bruder Gangolf fragend.
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»… hält worttreue Freundschaften zwischen Menschen, egal welchen Alters, für das Wichtigste und gegebene Versprechen für unaufschiebbar. Oder?«, dabei klopfte er seinem Bruder aufmunternd auf die Schulter. Die Freunde machten sich auf den Weg zum Ausgang der gemütlichen Gartenwirtschaft. Draußen vor dem Parkplatz verabschiedeten sich Tristan und Alana, Sophia und Benedikt von Helena und Alexandra. Alana konnte mit ihrer Freundin kaum noch eine Verabredung absprechen, da rief es schon wieder: »Hüüühhjaaaa! Vorwärts, mein edles Ross!« Pater Benedikt hörte den Ruf und hinter sich Gelächter. Ohne sich danach umzudrehen, trabte er los. »Bis bald«, rief Alexandra Alana zu. Tristan hatte sie an der Hand und zog sie sanft hinter dem ›Pferdegespann‹ her. Verliebt wollten sie hinterdreinschlendern. Die Reiterin war mit ihrem Ross schon weit vorangekommen, sodass sie ihre Schritte beschleunigen mussten, um noch hinterherzukommen. Dabei schlenkerten sie ihre Hände weit vor und zurück. Jeder konnte ihnen die liebevollen Gefühle, die sie füreinander hegten, ansehen. Schließlich ging es die schmale, grün verwachsene Lorbersgasse hinunter. Vor ihnen eröffnete sich ein Blick über das Grün der alten Bäume. Darüber thronten die Türme des Domes. »Ich folge di-hi-hi-ir gleichfalls«, hörten sie es lauthals singen. Benedikts Tenor und Sophias Kinderstimme legten sich wie ein fröhlicher Mantel auf die satte, schwere Sommerluft um sie herum. »Ich folge di-hi-r gleichfalls mit freu-heu-heu-digen Schritten«, sangen sie weiter. Tristan bemerkte Sophias Lebensfreude und begriff, warum sie vorhin am Tisch kurz beängstigt war, als ihr Ritt ins Wasser zu fallen drohte. 14
»Was Rom wohl von unserem Pater will?«, fragte Tristan Alana, erwartete aber keine Antwort. »Ich habe den Eindruck, er kennt viele in den unterschiedlichsten Positionen in der Kirchenhierarchie. Ich finde es beruhigend, dass man auf sein Wort Wert legt und ihn um Rat fragt.« Jetzt erreichten sie den Grund des kleinen grünen Tales, das sich eigentlich noch mitten in Bamberg befindet. Sie bogen in den Teufelsgraben ein. »Und las-se mich nicht«, sang Benedikt. »Und las-se mich nicht«, fiel nun Sophia in den Wechselgesang ein. Der Pater hielt sich in seinem Schritt an den Takt des Liedes, deshalb kamen sie schnell voran. »Benedikt kann nicht einfach ›Hoppe, hoppe, Reiter‹ singen, sondern es muss gleich etwas aus einer Passion sein. So ist er einfach«, lächelte Alana den beiden hinterher. »Ist das aus der Johannespassion von Bach?«, fragte Tristan nachdenklich. »Ja«, antwortete Alana. »Und nur Pater Benedikt nimmt geistliche Lieder und bringt sie in profanen Situationen oder als Kinderlied.« »Mein Leben, mein Licht«, sangen sie jetzt beide und lachten belustigt auf. »He, mein Ross wird langsamer. Nicht müde werden! Weiter!«, spornte sie den armen Pater an. Die beiden erreichten den Domgrund. Links erhob sich das massive Mauerwerk des Domberges. Zwischen den hohen Bäumen war die Luft etwas frischer als in der noch starken Nachmittagssonne. »Egal was Benedikt macht, wir kümmern uns jetzt mal nur um uns«, sagte Tristan, sah Alana dabei verliebt an. Er ließ ihre Hand los, die er seit der Villa Remeis festgehalten hatte, schlang seinen Arm um ihre Hüfte und zog sie fest an sich. Sie ließ es geschehen und blickte verliebt zurück. 15
Ross und Reiterin waren um die Ecke einer Gasse mit romantischen Häusern gebogen. Kurz bevor die zwei Verliebten die Ecke erreichten, zog Tristan Alana ganz nahe an sich heran und küsste sie innig. Alana beantwortete den Kuss mit Leidenschaft. »Wir sind schon laaaange da! Wo bleibt ihr Trödler?«, rief ihnen Sophia zu, die eben um die Ecke sprang, um zu sehen, wo die beiden blieben. »Oooooch«, maulte sie gespielt gelangweilt und drehte sich wieder zu Pater Benedikt, der erschöpft auf den Stufen zum Hauseingang saß und sich von der Strapaze des scharfen Ritts mit Gesangseinlage erholte. »Sie küssen schon wieder«, informierte Sophia den Pater über ihre Entdeckung. Der hatte im Augenblick aber nur die Kraft für ein müdes Lächeln. »Du kleine Spionin«, schimpfte Tristan hinter Sophia her und kam mit Alana im Arm um die Ecke. »Warte nur, es dauert nicht lange, dann bist du eine hübsche kleine Dame und wir müssen auf dich aufpassen, was du hinter Ecken treibst.« »Armer Benedikt«, bedauerte Alana den müden Pater. »Oben habe ich Hafer und Wasser für das brave Pferd.« Dabei kramte sie ihren Hausschlüssel heraus, denn sie hatten das Haus erreicht, in dem Alana mit ihrer Tochter lebte. »Danke, nein«, lehnte Benedikt freundlich ab. »Ich muss jetzt zurück. Rom sollte ich nicht noch länger warten lassen.« Dabei stand er auf. Sophia hielt ihn aber fest und drückte ihm noch schnell einen Kuss auf die Wange. »Was die können, können wir schon lange«, bedankte sie sich bei ihm. Nach dem Abendessen, Sophia hatte sich in ihr Zimmer verdrückt und hörte eine Märchenkassette, begannen Alana und Tristan den Esstisch abzuräumen. 16
»Ich bin froh, dass dieses Abenteuer vorbei ist. Kein plötzliches Verschwinden, keine geheimen Agenten mehr«, sagte Alana, der das alles in den letzten Tagen viel zu viel war. »Solange alle davon ausgehen, dass das Artefakt zerstört ist, wird sich sicher niemand mehr um uns kümmern«, beruhigte Tristan sie. »Ich kann mich aber auch an schöne Seiten des Abenteuers erinnern«, blieb er bei dem Thema, während er die Teller abtrug und neben die Spüle stellte. »Du meinst …«, Alana sprach jetzt etwas leiser, »… du meinst unsere wissenschaftliche Expedition an den Chiemsee?« »Ja«, sagte Tristan und jonglierte den Teller mit Käseaufschnitt, das Besteck und drei Gläser vom Tisch auf die Küchenablage. »Schön, dass du dabei an dasselbe denkst wie ich«, stichelte Tristan. Er erntete für diesen Satz einen Tritt gegen seinen Po. Beinahe verlor er dabei etwas aus den Händen. Sie das Gleichgewicht. Alana schimpfte und lachte dabei: »Was anderes kommt doch wohl nicht in Frage. Oder?« Wobei der Satz einen scherzhaft drohenden Unterton bekam. »Da fällt mir ein: Das Abenteuer ist noch nicht vorbei, es geht weiter.« Tristan drehte sich ihr zu und sah sie ernst an. Alana war etwas erschrocken. »Ja! Abenteuer! Ich will auch ein Abenteuer!«, rief es von der Küchentür. Sophia stand dort, wer weiß wie lange schon, und mischte sich in das Gespräch ein. »Tristan, du bist doch so was wie ein Lehrer?«, fragte sie mit altklugem Blick. »Ja, ein Universitätsprofessor«, belehrte er sie. »Genau. So was für Erwachsene, die noch was lernen müssen.« »So ähnlich.« 17
»Dann hast du jetzt doch auch Ferien?«, kam sie langsam auf den Punkt ihrer Frage. »Ich habe gerade Semesterferien, das ist eine vorlesungsfreie Zeit, weißt du?«, belehrte er sie weiter. »Das macht nichts. Du musst mir nicht erklären, warum du nichts tust«, redete die Kleine weiter. »Ich hab gerade Kindergartenferien. Das ist eine pä … gogenfreie Zeit«, dabei sah sie ihn sehr ernst an. »Und weißt du …«, die aufgeweckte Sechsjährige legte sich kurz den Handrücken auf die Stirn, »… ich brauche Urlaub. Lass uns wegfahren von dem Stress und den Verpflichtungen hier. Lass uns irgendwo hinfahren, wo wir einfach nur Mensch sein können.« »Sag mal, Alana«, fragte Tristan erstaunt und schaute erst zu Alana und dann zu dem kleinen Mädchen, »was sind denn das für Hörspielkassetten, die Sophia hört?« »Du hörst doch ›Jim Knopf und die wilde 13‹, oder hast du irgendwo etwas anderes ausgeliehen?«, wandte sich Alana an Sophia. »Jim Knopf ist langweilig. Deeehhli Sooop sind cool«, gab sich die Kleine ganz wichtig. »Dehli Sop, was ist denn das?«, fragte Tristan. »Das weißt du nicht, als Lehrer? Da verlieben sich Leute, da streiten sich Leute und verlieben sich wieder«, erklärte Sophia. Tristan und Alana schauten sich an und konnten sich nicht vorstellen, was Sophia meinte. »Woher kennst du denn eine Dehli Sop?«, fragte Alana nach. »Na, aus dem Fernsehen. Ihr seid aber Dummerchen«, schüttelte die kleine Neunmalkluge den Kopf. »Hast du denn so was im Fernsehen angeschaut? Wo denn?«, hakte Alana noch einmal nach. »Ich nicht, aber die coole Britta. Sie war auch auf dem Kindergeburtstag und hat uns das erzählt«, sprach Sophia, als 18
würde sie ein Geheimnis weitergeben. »Die schaut immer Dehli Sop. Aber ihr wollt mich nur ablenken. Ich will ein Urlaubsabenteuer. So eins wie Tristan.« »Ich … ein Abenteuer«, wunderte sich Tristan. »Du hast doch gesagt: ›Das Abenteuer ist noch nicht zu Ende, es geht weiter‹«, zitierte Sophia. »Ach ja«, erinnerte sich Tristan. »Und zwar schlage ich euch beiden Hübschen vor, dass wir an den Chiemsee fahren und in einem tiefen Wald ein Auto suchen.« Jetzt war Sophia an der Reihe, sich zu wundern. »Auto im Wald suchen?« Sie schaute ungläubig. »Tristan! Kinder verkohlen darf man nicht!« »Doch, Liebes«, rettete Alana die Situation. »Tristan hat sein Auto noch im Wald geparkt. Wir haben es bei unserem Ausflug vergessen.« »Wie kann man nur sein Auto vergessen? Mann, ihr werdet langsam wirklich alt.« Sophia ging zu Alana und gab ihr einen Gutenachtkuss auf den Mund. Dann ging sie zu Tristan, hielt ihm aber statt ihrer Lippen ihre Hand hin. »Gute Nacht, vergesslicher Herr Professor«, sagte sie, knickste dabei brav und verschwand in ihr Zimmer. »Das ist eine Göre. Wir haben bestimmt einige lustige Tage«, bemerkte Tristan. »Die haben wir sicher.« Alana lächelte Tristan an. Nahm ihn an der Hand und zog ihn an sich. »Habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass unsere Bibliothek zwei Wochen Betriebsferien hat?« »Was? Das ist ja wunderbar.« Tristan presste sie mit seiner Hand an ihrer Hüfte an sich. »Lass uns die Betriebsferien bis zum letzten Tag auskosten.« »Ich freue mich. Aber«, ihr Gesicht wurde plötzlich ernst, »bitte keine Abenteuer mehr, kein Verschwinden, keine 19
einstürzenden Brunnenschächte oder explodierenden unterirdischen Gänge. Keine Meteoriten, keine Geheimagenten, sondern nur uns.« Die letzten drei Worte hauchte sie ihm ganz nah ins Ohr. »Nur uns!«, versprach Tristan. Er befreite sich aus ihrer Umarmung und fing an mit ihrem Haar zu spielen. Beide sprachen lange Zeit kein Wort, sondern sahen sich nur tief in die Augen. Er liebte es, in ihren Haaren zu spielen, sich zu verfangen, sich streichelnd zu befreien, um sich erneut zu verfangen. Alana genoss seine Hände in ihrem Haar. Sie fühlte sich mit seinem Arm um ihre Hüfte und seiner Hand an ihrem Kopf geborgen. Sie spürte jede Bewegung seiner Fingerspitzen. Damit löste er Wogen der Wärme und tiefen Innigkeit bei ihr aus. Nach einer kleinen Ewigkeit lösten sie sich wieder. Gingen Hand in Hand aus der Küche. Sophia schien zu schlafen. Der Kassettenrekorder hatte sich abgeschaltet, weil ihr Lieblingshörspiel zu Ende war. Der leuchtende Mond, ihr Einschlaflicht, hüllte das Kinderzimmer in ein mattes goldgelbes Licht. Alana lächelte, als sie ihre Tochter friedlich schlafen sah. Tristan stand hinter Alana und blickte ihr über die Schulter. Später, im Bett, kuschelten sich die beiden Liebenden eng aneinander, als wollten sie nie mehr voneinander lassen. »Es ist so schön, dass es dich gibt«, flüsterte ihr Tristan eine Liebeserklärung zu. Alana antwortete mit einem Hauch von einem Kuss auf seine Hand, die ihre Haare festhielt. Dann drehte sie den Kopf, küsste ihn auf die Wange. Strich mit zitternden Lippen weiter in Richtung Mund. Tristan genoss diese Berührung in seinem Gesicht. Er genoss ihre Lippen auf den seinen. Langsam öffnete er seinen Mund und sie den ihren. Der Atem beschleunigte sich, wurde 20
schneller. Ein Beben durchfuhr die beiden ineinander verschlungenen Körper. »Wisst ihr was?«, ließ sich eine Stimme von der Schlafzimmertür hören. Sophia stand plötzlich im Raum. »Ich schlafe bei euch!« Noch ehe Alana oder Tristan antworten konnten, sprang und kroch sie, ungeachtet der romantischen Atmosphäre, die bis vor wenigen Sekunden hier herrschte, über das Fußende mitten in das Bett. Platzierte sich zwischen die beiden Liebenden. Kuschelte sich ein. Mit einem seligen Gesichtsausdruck war sie auch schon eingeschlafen. Alana und Tristan ergaben sich der Situation. Sie wünschte ihm noch eine gute Nacht, indem sie seine Hand drückte, die sie irgendwie an Sophie vorbeigeschlängelt hatte. Tristan kreiste, als wolle er Alana angenehme Träume herbeizaubern, mit den Fingerspitzen durch ihr Haar und hielt es sanft fest. Das Letzte, was Tristan spürte, war die Präsenz der geheimnisvollen Kugel, denn … das Abenteuer war noch nicht vorbei. Dies ahnte er. Nein, dies wusste er.
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URLAUB AM CHIEMSEE Sophia konnte es kaum erwarten. Sie war so abenteuerlustig, dass bereits um sieben Uhr am nächsten Morgen alles fertig gepackt war. Tristan, Alana und Sophia saßen beim Frühstück und planten die nächsten Tage. »Ich will unbedingt im See schwimmen und auf einen Berg steigen und ein Picknick machen und eine Nachtwanderung und …«, schlug die Kleine vor. Tristan rührte lustlos in seiner Kaffeetasse, während Alana einige Brote für die Reise vorbereitete. »… und ein großes Eis mit Schlagsahne und das Schloss auf der Männerinsel und Tretboot fahren …«. Sophia strahlte einen für Tristan nervtötenden Aktionismus aus. Alana strich die Brote mit mechanischen Bewegungen und schien mit müdem Blick kaum etwas um sich herum wahrzunehmen. »… dann auch noch ins Kino und danach lecker Essen gehen und Sterne angucken und unbedingt noch …«, plante sie weiter. Tristan schlürfte mit geschlossenen Augen an seinem Kaffee. »Und dann noch schlafen und dann noch kuscheln«, dabei legte er seinen Kopf an Alanas Oberarm und rieb seine Wange etwas auf und ab. »Und dann etwas ausruhen und dann ein kleiner Mittagsschlaf und dann gleich wieder kuscheln.« Die letzten Worte gingen in einem herzhaften Gähnen unter. Alana legte ihren Kopf nach unten auf Tristans. Beide rührten sich eine Zeit lang nicht mehr. Sophia sah sich das Geschehen einen Moment an. Da ihr die Ruhe etwas zu lange anhielt, rief sie deshalb laut: »Und ich will jetzt losfahren! Los, ihr Schlafmützen!«
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Gegen dreizehn Uhr kam das Trio in Übersee am Chiemsee mit dem Zug an. Einen Kuschelschlaf im Intercity von Bamberg nach München, eine gute Brotzeit aus Alanas Rucksack und sie standen tatendurstig am Bahnhofsvorplatz und warteten auf den Bus nach Grabenstätt. Die aufgeweckte Sophia stand mit ernstem Gesicht da, als sie wartete. Für sie wich die Atmosphäre des lustigen »Ich will …« dem Gefühl des Wichtigen, das sie jetzt erlebte, als sie an der einen Hand Alana und an der anderen Tristan festhielt. Ein paar Minuten später hatten sie Grabenstätt erreicht. Dieses freundliche oberbayerische Nest wirkte auf Tristan genauso verschlafen wie bei seinem letzten Besuch vor einigen Wochen. Die drei Sommerfrischler liefen mit ihren Rucksäcken und Handkoffern durch die Sträßchen und Gässchen, um die Pension aufzusuchen, die sie damals, nach der heißen Gewitternacht, so freundlich aufgenommen hatte. Viel war seitdem passiert. Tristan wurde schwindelig, wenn er daran dachte. Verfolgungsjagden, unterirdische Gänge, Todesgefahr und dann noch das, was er bis heute noch nicht richtig verarbeitet hatte – der Raumflug. Ob der Erinnerung wurde er unruhig, da wurde er von Sophia abgelenkt. »Schau mal! Dort zwischen den Häusern durch, da sieht man den See. Und die hohen Berge!« Tristan war ganz wohl dabei, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde. Bald erreichten sie die Pension. Die Wirtin, Frau Obermoser, erkannte gleich das Paar, welches sie wegen der verliebten Blicke zueinander nicht vergessen hatte. »Ja, grüß Gott, der Herr Professor mit seiner netten Begleitung. Wolln’s wida bei uns einlogieren? Dös is aba liab«, freute sich die Wirtin. »Ja, wos is dös?«, wunderte sie sich und schlug die Hände zusammen. »Sie wor’n doch erscht vor a’ paar Woch’n do und etza is scho’ so a hübsch’s Maderl do. Und scho’ so groß!« 23
»Ich bin Fräulein Sophia und ich möchte hier ausspannen«, grüßte die Kleine mit ernstem Gesicht. Ihr gefielt es, wieder in die Rolle der coolen Britta zu fallen. Verdutzt über diesen gar nicht altersgerechten Satz, war Frau Obermoser einen Augenblick sprachlos. Nach ein paar Schrecksekunden war ihr aber klar, dass das aufgeweckte Mädchen nur die Rolle einer Erwachsenen spielt. »Jo mei, dann richt ma eich glei’ dös Sopherl-Kammerl her, dös mit ‘m Blick übern Sää un’ af unsere Bärg.« Die Wirtin gab einem Zimmermädchen ein paar Anweisungen zur Vorbereitung des Zimmers. »Das Sopherl-Kammerl«, wiederholte Tristan die Bezeichnung und zwinkerte Sophia dabei zu. »Da werden wir bestimmt gut schlafen.« Sophia schenkte ihm aber nur einen strengen Blick, der sagen sollte: ›Sprich mich nicht so schräg von der Seite an‹, und ging ohne ein Wort geradeaus zur offenen Terrasse. »Lass’ ns ihr Sach glei’ hier steh’n, des besorgt’s Madl. Setz’ns sich ‘naus a’f die Terass’n und trinkäns an Kaffä«, lud Frau Obermoser ein. Beide gingen Sophia hinterher. Die saß schon an einem schattigen Platz unter einem breiten Sonnenschirm und hatte ihre coole Sonnenbrille mit Mickymaus-Fassung aufgesetzt. Alana und Tristan setzten sich dazu. Sophia wollte das aber nicht bemerken, sondern blickte über das frische Grün des Gartens zum Chiemsee und den dahinter thronenden Bergen. Auf dem See sah man eine Menge Segelboote, die hin und her kreuzten. »Wegen der vielen hektischen Ereignisse konnten wir das letzte Mal dieses wunderschöne Chiemgau gar nicht richtig genießen«, sagte Alana. »Das wollen wir jetzt aber anders machen.« »Auf alle Fälle«, antwortete Tristan. »Obwohl«, er zögerte den weiteren Satz hinaus, »manches habe ich schon sehr genossen.«
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Dabei suchte er unter dem Tisch ihre Hand, fand sie und drückte sie leicht. »Und fällt euch Turteltäubchen ein, was wir jetzt machen?«, beendete Sophia ihr Schweigen und schaute an den beiden vorbei zur Bedienung, die gerade Kaffee und Kuchen brachte. »Einen Spaziergang«, schlug Alana vor. »Wir sollten mal nachsehen, ob Tristans Auto noch im Wald steht.« »Ob Tristan daran gedacht hat, die Autoschlüssel mitzunehmen?«, fragte Sophia ohne irgendjemand dabei anzusehen. »Ja, habe ich! Du obercooles Sopherl!«, lachte er Sophia an. In der Nachmittagssonne spazierten die drei über die Feldwege und Wiesen um Grabenstätt herum. Tristan erzählte Sophia von seinen Erlebnissen in diesen Wäldern, als er so alt war wie sie jetzt. Er erzählte von den Kühen, den Bergen und dem frischen Fisch aus dem See. Tristan bemerkte gar nicht, dass sie die Stelle passierten, wo er die seltsame Vision von dem keltischen Druiden wahrgenommen hatte. Aber Alana und ihm fiel sofort die Scheune auf, in der sie ihre erste Nacht miteinander verbrachten. Als sie sich ihr näherten, hörten sie ein seltsam schlagendes blechernes Geräusch, das sie nicht einordnen konnten. Es wurde lauter, je näher sie an die Scheune kamen. Plötzlich war wieder Stille. Nur der Bussard über ihnen schrie, als er seine Runden drehte. Die drei Urlauber passierten gerade die Ecke der Scheune, da fing das Geräusch genau neben ihnen wieder an zu klirren. Erschreckt und überrascht von dem unmittelbar wieder einsetzenden Schlagen blickten sie in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein alter Bauer, es war derselbe, der sie vor Wochen hier überrascht hatte, war gerade dabei, eine Sense zu dengeln. Drei Schläge drauf. Dann nahm er die Sense wieder auf und prüfte mit kritischem Blick das Werk. Er schien zufrieden zu sein, denn er legte den handlichen Schleifstein weg und schulterte die 25
Sense. Jetzt erst sah er, dass er beobachtet wurde. Augenscheinlich erkannte er sofort Alana und Tristan und grüßte murmelnd im Vorbeigehen. »Dös ging aber schnöll mit dem Kindl. Ja, die Zeiten änd’rn sich«, sagte er und war in Richtung Wiese verschwunden. Tristan strich Sophia über den Kopf, die dem Alten noch hinterhersah. »Ich glaube, wir müssen in diese Richtung«, vermutete Tristan, und sie machten sich auf den Weg. Bald erreichten sie den Wald. Es war heute bei weitem nicht so schwül wie damals. Die Kühle des Waldes ließ sie gut vorankommen. Bald erreichten sie die Stelle, von der aus die Ausgrabungsstätte zu sehen war. Dort wurde weiter gearbeitet. Alana sah ein paar Minuten dem Treiben zu. Sie entdeckte jedoch gleich, dass ihr Freund Tommi diesmal nicht vor Ort war. Die Grabungsleitung nahm jemand wahr, der Alana unbekannt war. Kurzerhand beschlossen sie, dass sie heute dort nicht stören wollten und begaben sich weiter auf dem Waldweg. »Ist das deine Rostlaube?«, fragte Sophia respektlos, als sie einen roten Farbfleck zwischen den Bäumen sah. »Ich glaube schon, denn sehr viele rote Autos werden wohl kaum im Wald stehen«, vermutete er. Da stand es. Deutlich schmutziger. Einige Gewitterregen hatten Staub und Dreck von den Blättern auf das Fahrzeug gespült. Durch diesen bräunlichen Teint sah es aus wie eine … Rostlaube. Sophia malte frech mit ihrem Finger das Wort ›SAUBÄR‹ auf den Lack der Motorhaube. Tristan öffnete das Fahrzeug und setzte sich gleich auf den Fahrersitz. Ihm schien, dass alles in Ordnung war. »Tristan hat einen Blumenstrauß bekommen«, rief Sophia und zeigte auf die Windschutzscheibe, wo unter einem Scheibenwischer ein kleiner Strauß mit Gräsern und Blumen klemmte, der in unmittelbarer Umgebung gepflückt worden sein
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musste. Die Pflanzen waren schon verdorrt. Der kleine Strauß befand sich nicht erst seit gestern hier. Alana beugte sich über die Motorhaube und zog die Blümchen hinter dem Scheibenwischer hervor. Dabei staubten die verdorrten Pflanzen. »Das ist ja lieb«, kommentierte sie und schüttelte die staubigen Teile ab. Dabei fiel ein kleiner Zettel aus dem Pflanzengewirr heraus. Schnell fing ihn Sophia auf und faltete ihn auseinander. »Da steht etwas geschrieben«, berichtete das Mädchen. Angestrengt versuchte sie die Buchstaben zu entziffern. Alana warf den verdorrten Strauß nun doch weg. Nahm den Zettel entgegen, den ihr Sophia hinhielt. »So verwaschen, wie die Schrift ist, hat der Zettel auch etwas Regen abbekommen«, sagte Alana. Tristan war in der Zwischenzeit wieder ausgestiegen und beugte sich zwischen geöffneter Tür und Frontscheibe zu den beiden hin. »Blumen und ein Liebesbrief für mich?«, fragte er neugierig. »Blumen, ja«, antwortete Alana, »Liebesbrief? Hier steht …«, Alana las langsam, da sie Schwierigkeiten mit dem Entziffern hatte, »Autos bitte draußen lassen.« Alana lachte. Tristan ließ sich zurück auf den Fahrersitz fallen und spielte den Enttäuschten. Sophia sang: »Rostlaube, raus mit dir! Rostlaube, raus mit dir!« Tristan ließ den Motor an, der nach anfänglichem Gestotter ansprang. »Dann lasst uns den Wald säubern, indem wir hier verschwinden«, rief er seinen Begleiterinnen zu, als Aufforderung einzusteigen. Die Fahrt ging los. Durch schlaglöchrigen Waldweg. »Schnall dich lieber an, da hinten«, rief Tristan Sophia zu. Der Weg war löchrig und buckelig. Tristan konnte nur Schritttempo fahren. Durch den letzten Gewitterregen schienen einige Löcher 27
in dem erdigen Boden des Waldweges dazugekommen zu sein. Zweige und Büsche streiften am Fahrzeug entlang, als Tristan den großen Löchern ausweichen wollte und dabei zu sehr an den Rand des Weges kam. »Ich glaube, da vorne geht es wieder besser. Dort ist der Weg mit Schotter befestigt«, beruhigte Tristan seine beiden Damen und trat etwas fester auf das Gas. Ein Moment der Unachtsamkeit führte dazu, dass das Auto mit einem kräftigen ›Rumms!‹ in ein Schlagloch donnerte, welches sich als seichte braune Pfütze getarnt hatte. Alana entfuhr ein kleiner Schrei. »Ja«, schrie Sophie von hinten, »gib der Rostlaube den Rest!« Tristan hielt an und stieg aus. »Wir sind mit dem Unterboden aufgesessen«, überlegte er laut. Er lief einmal um das Fahrzeug herum, um zu sehen, ob eine sichtbare Beschädigung zu erkennen war. Dann ging er in den Liegestütz herunter und betrachtete den Unterboden. »Ich kann nichts sehen. Wahrscheinlich ist da unten nur ein Kratzer«, hoffte Tristan. »Lass uns die Rostlaube in der Pfütze da versenken! Weg mit dem Schrott!«, freute sich Sophia noch immer über den kleinen Zwischenfall und stieg aus. »Wir können weiter«, sagte Tristan und richtete sich wieder auf. Er stieg gerade ein, als Sophia hinten ausstieg. »Ich will auch sehen, wie du das Ding zerlegt hast«, rief sie und lief einmal um das Auto herum. »Sophia, es ist nichts. Steig bitte wieder ein«, bat Alana ihre Tochter. »Das Ding fällt doch beim nächsten Kieselstein auseinander, gegen den wir donnern«, unkte Sophia weiter. »Steig ein, sonst kommen wir zu spät zum Abendessen«, drohte Alana. »Da! Doch kaputt!«, war Sophia zu hören. 28
»Jetzt lass den Quatsch und komm«, rief ihr Alana noch einmal zu. »Das Radio ist rausgefallen«, bemerkte das Mädchen. »Gleich kommt der ganze Rest bestimmt hinterher!« »Was sagst du da?«, fragte Tristan erschrocken, der jetzt erst begriff, was Sophia da sagte. Er sprang aus dem Auto und ging zu ihr hin. Sie stand hinter dem Fahrzeug. Neben ihr befand sich das üble Schlagloch. Vor den Füßen Sophias lag ein technisches Bauteil. Es bestand aus einem schwarzen Kästchen und war etwa so groß wie eine halbe Streichholzschachtel. Daraus ragte eine kleine Antenne. »Rostlaube futsch!«, kommentierte Sophia weiter, während Tristan das Teil aufhob. Er drehte und wendete es, wusch es in der Pfütze aus, um es besser betrachten zu können. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das von meinem Auto stammt«, rätselte Tristan. An Sophia gewandt sagte er in ruhigem Ton: »Komm, steig ein. Wir fahren weiter!« Er legte ihr die Hand auf die Schulter und schob sie vorwärts. Zu seiner Überraschung gab sie keine Widerworte oder andere Bemerkungen von sich, sondern gehorchte. Den veränderten Tonfall in seiner Stimme schien sie bemerkt zu haben. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das von meinem Auto stammt«, wiederholte Tristan, als er im Auto saß. Dabei gab er das Teil Alana. Sie beäugte es ungläubig. Die Fahrt ging weiter. Endlich erreichten sie die geteerte Hauptstraße und konnten wieder mit einer normalen Reisegeschwindigkeit fahren. Alana drehte und wendete das Teil. Sie sah nur ein schwarzes Plastikgehäuse mit einer Antenne. Es fand sich kein Aufdruck oder etwas anderes, womit klarer würde, worum es sich eigentlich handelte. Eigentlich bedurfte es auch keiner Erklärung. Tristan fuhr schweigend. Klammheimlich hatte sich wieder die Furcht eingestellt. Die Furcht vor mysteriösen Verfolgern, 29
Knacken im Telefon oder abgefangenen Faxen. Alana war froh, die Erinnerung der letzten Wochen von sich geschoben zu haben. Dieses kleine schwarze Teil brachte sie zurück. Spontan, wie Tristan zuweilen war, setzte er den Blinker nach rechts und das Auto wurde langsamer. Alana sah ihn an. Sie fuhren auf einen Parkplatz. Tristan blickte Alana ernst an und nahm ihr den kleinen schwarzen Funkpeilsender ab. Sophia beobachtete von der Rückbank aus jede Bewegung der beiden Erwachsenen, die gesprochenen und vor allem die nicht gesprochenen Worte. Ihr erschien die Atmosphäre bedeutungsvoll. Trotz ihrer jungen Jahre begriff sie, dass sie jetzt ihre Rolle als coole Britta nicht weiterspielen sollte. Tristan stieg aus dem Fahrzeug. Schlenderte in Richtung Mülleimer bei einer hölzernen Sitzgruppe. Dabei musste er an einem Laster mit Anhänger vorbei. Der Fahrer beendete gerade seine Pause. Er verließ die Sitzbank und kramte seine Brotzeit zusammen. Mit der Thermoskanne unter der Achsel ging er zum Führerstand seines Fahrzeuges. Tristan erreichte den Mülleimer. Zog ein Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche und warf es in die Mülltonne. Dabei sah er, wie der Fahrer des Lasters seine Utensilien im rückwärtigen Bereich seines Fahrersitzes verstaute und sich für die Fahrt bereit machte. Dann drehte sich Tristan wieder um und schlenderte zurück zu seinem Auto. In einem kurzen Augenblick, als er die Hinterachse des Lasters passierte, fuhr er blitzschnell mit einer Hand unter die nur nachlässig festgezurrte Plane. Zog sie sofort wieder zurück. Das kleine Ding war fort. Beim Weitergehen hörte er hinter sich, wie der Trucker die Beifahrertür zuschlug. Als Tristan wieder in seinem Auto saß, fuhr der Laster vor ihm los. Die großen Lettern des Aufdruckes auf der Plane, es handelte sich um ein österreichisches Transportunternehmen,
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wurden immer kleiner, je weiter er sich entfernte. Schließlich verschwand er in der Ferne. Die drei hatten kein Wort gesprochen. Jetzt erst erlaubte sich Tristan, hörbar durchzuatmen. Während der ganzen Zeit hatte er das Gefühl, wieder inmitten eines Agententhrillers zu sein. Alana nahm seine Hand und sagte: »Es ist vorbei.« Jetzt änderte sich ihr ernster Gesichtsausdruck, er wurde liebevoller. »Es ist seit Wochen vorbei.« Tristan drückte ihre Hand zärtlich, wandte aber den Blick nicht von der Stelle ab, an der der Laster hinter einer Kurve in einem Waldstück verschwand. »Ja. Seit Wochen vorbei«, wiederholte er ihre Worte. Mehr um sie zu beruhigen, denn er ahnte, dass sie es sich mehr selbst einreden wollte als ihm. »Dann können wir ja weiterfahren?«, fragte mit auffallend leiser Stimme Sophia von hinten. Es war der Klang der für sie ungewöhnlich leisen Stimme, der Tristan und Alana aufschreckte. Sie fuhren weiter. Spät in der Nacht, Sophia lag wieder eng eingekuschelt zwischen Alana und Tristan, wurde er plötzlich wieder wach. Der Fund des kleinen schwarzen Peilsenders, denn nichts anderes konnte es für ihn gewesen sein, hatte ihn ziemlich beunruhigt. Er musste immer wieder an die Situation denken. Erschreckt hatte ihn zusätzlich, dass Alana versuchte ihn zu beruhigen, aber eigentlich sich selbst in Sicherheit wiegen wollte. Sie schien es selbst nicht zu glauben. ›Warum sollte die Sache nicht vorbei sein?‹, fragte Tristan sich selbst. Die rätselhaften Agenten mussten annehmen, dass alles in einem brennenden Inferno zerstört wurde. Pater Benedikt hatte selbst gesagt, dass vom Vatikan keine Gefahr mehr drohe. Tristan konnte die Befürchtungen und Selbstbeschwichtigungen hin und her bewegen, beruhigt war er nicht. Er musste 31
schließlich zugeben, dass er es nicht wusste. Er konnte nur hoffen, dass die Gefahr vorbei war. Und das alles nur wegen einer mysteriösen Kugel. Diese Kugel war ohnehin jenseits seines Verstehens. Metallähnliche Bänder, die, eng verwoben, den Hohlraum umschlangen, der einem Menschen Platz bieten konnte. Am Unbegreiflichsten war für Tristan aber das Fliegen in dieser Kugel. Gesteuert mit psychomentaler Energie, durchdrang sie feste Materie und überwand große Entfernungen. In Bruchteilen von Sekunden. Rätselhaft. Gespenstisch. Jenseits allen Begreifens. Sichtbar, wenn sie nicht aktiviert war, ansonsten unsichtbar. Aber für den damit Verbundenen fühlbar. Er verstand, warum die Alten der Kirche das Objekt immer zu verstecken versuchten. Wer konnte die damit verbundene Macht alleine tragen? Jetzt lag dieses außerirdische Artefakt im hinteren Teil der Gartenhütte Alanas im Domgrund, der als Abstellkammer für Gartengeräte diente. Notdürftig getarnt mit Wellblechstücken und Dachpappe. Je mehr Tristan an die Kugel dachte, desto mehr spürte er ihre Präsenz. Als befände er sich unmittelbar neben ihr. ›Unglaublich!‹, staunte er. Es lagen einige hundert Kilometer zwischen ihnen. Er spürte das Glühen der Kugel. Er spürte, wie es war, als er darin saß. Das Reisen in der Kugel hatte ihn begeistert. Es war unvorstellbar. Unglaublich. Irgendwie unrealistisch oder gar überrealistisch. Auf einen Schlag spürte er die Bettdecke nicht mehr, mit der er sich wegen der warmen Temperaturen in der Nacht nur bis zum Bauch zugedeckt hatte, sondern die Kühle des seltsamen 32
Artefaktes. Überrascht setzte er sich auf in den schon gewohnten Schneidersitz. Er saß – nur mit seinem kurzärmligen Schlafanzug bekleidet – in der Kugel. ›Unglaublich!‹, rief er sich in Gedanken zu. Mit den Fingerspitzen fuhr er über das glatte Metall. Er glaubte, er träume. Es konnte nicht anders sein, versuchte er es sich zu erklären. Es konnte doch nicht möglich sein, dass er über solch eine Entfernung in die Kugel einsteigen konnte? Tristan gefiel die Vorstellung, sich gedanklich mit dem Phänomen befassen zu können. Er war sich nicht sicher, ob er nicht doch mehr schlief, als er glaubte. Egal! Im nächsten Augenblick schwebte er über dem nächtlichen Bamberg. Aus einer Höhe von etwa fünfhundert Metern sah er den beleuchteten Dom, die Kirche von St. Michael, St. Otto und andere Kirchen. Es herrschte wenig Verkehr zu dieser fortgeschrittenen Stunde. Der rechte und der linke Regnitzarm spiegelten mit ihrer glatten Wasserfläche den Sternenhimmel wider. Klein-Venedig gab der Altstadt einen ganz besonders romantischen Glanz. Tristan blickte nach oben. Dort glitzerte der makellose Sternenhimmel. Die Kugel stieg auf. Je höher sie flog, desto klarer wurden die Sterne. Die Anzahl schien erheblich zuzunehmen. Die Begriffe ›unzählbar‹, ›unbeschreiblich‹ und ›überirdisch‹ kamen Tristan in diesem Zusammenhang in den Sinn. Mehr noch. Der Sternenhimmel schien Tiefe zu bekommen. Das war ihm so noch nie aufgefallen. Er bekam den Eindruck, als hätte er einen tiefen Raum vor sich. Dieser Eindruck unterschied sich völlig von der Vorstellung, der Sternenhimmel wäre wie eine Tapete, die Innenseite eines Himmelsgewölbes. Tristan flog weiter. Sein Blick fiel auf den Horizont. Zwischen Himmel und Erde zog sich ein schmales Band. Fragil. In zartem violettem Glimmen. Das Violett verschwamm in ein zartes Rot. 33
Hellrot. Orange. Dann – wie ein weißer Blitz zuckte ein heller Stern in diesem Orange auf. Überstrahlte die Farbkomposition und ließ das Band jetzt deutlich erkennen. Tristan war hingerissen von dem Gesehenen. Müsste er es jemandem beschreiben, er könnte es nicht, so außergewöhnlich war dies hier. Schlagartig wurde ihm klar, dass dieses fragile Band die Atmosphäre war. Die gesamte Luft, die unser Planet allem Leben darauf zu Verfügung stellt. Erst durch diesen Anblick begriff er, wie verletzlich diese unglaublich dünne Schicht ist. Wie viele Leben davon abhängen. Wie verletzlich sie scheint. Dann wurde der hell blitzende Stern zur Sonne. Überstrahlte den Planeten. Sie ging auf. Es wurde Tag. Nach und nach bekam die Erde unter ihm Konturen. Einzig ein Gedicht aus Schultagen konnte diesem Sonnenaufgang gerecht werden, kam ihm in den Sinn. Er musste es als ›Strafarbeit‹ auswendig lernen. Damals war er wütend, heute war er froh, denn nur die Verse Goethes konnten diesem Anblick halbwegs gerecht werden: »Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten Nebelschleiern sich enthüllen, Und dem sehnlichsten Erwarten Blumenkelche bunt sich füllen; Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit dem klaren Tage streitet, Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet; Dankst du dann, am Blick dich weidend, Reiner Brust der Großen, Holden, 34
Wird die Sonne, rötlich scheidend, Rings den Horizont vergolden.« Ein Liebesgedicht auf die Sonne. Hier, aus seiner Position, bekam der Feuerball, der auf diesem Planeten die Lebensglut entfacht und ihm die so verletzliche Atmosphäre enthüllt hatte, eine neue Bedeutung. Still sprach er das Gedicht weiter: »Und wenn mich am Tag die Ferne Blauer Berge sehnlich zieht, Nachts das Übermaß der Sterne Prächtig mir zu Häupten glüht: Alle Tag’ und alle Nächte Rühm’ ich so des Menschen Los; Denkt er ewig sich in’s Rechte, Ist er ewig schön und groß.« Bei der Stelle mit den rechten Menschen stockte er. War der Mensch wirklich reif für ihre Entdeckung? Es gab keine Antwort auf diese Frage, das war ihm klar. Trotz der nachdenklichen Gedanken spiegelte Goethes Gedicht wider, was er empfand. Er fühlte sich von diesen Versen verstanden. Tristan konnte dieses Gedicht noch wie damals, als er es sich eingepaukt hatte. Das Vergehen, wofür ihm der Lehrer dieses aufbrummte, war eine Nichtigkeit. Wieder einmal vergaß er für das Fach Deutsch sein Buch. Das Interesse Tristans lag auch damals schon in den Naturwissenschaften. Deutsch und Literatur lag ihm fern. Erst Jahre später wurde ihm klar, dass alle Wissenschaft nur dann wertvoll ist, wenn man sie auch mit Demut über die Größe der Schöpfung wahrnehmen kann. Texte von literarischen Köpfen und Herzen, die die Fähigkeit besaßen, Unfassbares in Worte fassen zu können, lehrten ihn, die 35
Wichtigkeit des Wunderns nicht zu verlernen. Seine Lippen sprachen lautlos einen anderen Reim aus seinem großen Fundus an den Früchten vergessener Bücher: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?« ›Halt!‹, ermahnte er sich selbst. ›Pseudoreligiöse Gedanken? Ich?‹ Jetzt kreuzten wirre Erinnerungen an den Tod seiner Frau Caroline seinen Kopf. Er schüttelte sie ab. ›Bei diesem Anblick kann man wirklich etwas aus der Fassung geraten‹, schloss er für sich das Erlebte ab. Tristan schwebte über Asien. Mit einer Geschwindigkeit, wie sie nur im luftleeren Raum möglich ist, sah er unter sich Taiwan, dann den großen blauen Juwel des Pazifiks. Kleine Inseln huschten dahin. Die Küste Südamerikas. Die Anden. Der Dschungel. Wieder wurde es Nacht. Tristan hörte Alanas regelmäßiges Atmen. Es klang friedlich und beruhigend. Sophia hatte sich eng an sie gedrängt. Leise bewegte sich der Vorhang am offenen Fenster. Überwältigt von dem Erlebten und dem Gefühl einer geheimen Sicherheit vor bösen Mächten, schlief Tristan ein. »Aufstehen! Du alte Schlafmütze!« Urplötzlich war Sophia auf Tristan gesprungen, der noch tief schlafend in seine Decke eingerollt war. Erschrocken riss Tristan die Augen auf. Versuchte sich aufzusetzen, was aber nicht möglich war, da Sophia auf ihm saß. »Was?«, stammelte das Opfer schlaftrunken vor sich hin.
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»Aufstehen! Sonst gibt es für dich kein Frühstück!«, drohte das Mädchen, das schon angezogen und gewaschen war. Tristan rieb sich die Augen und blinzelte Sophia an. In diesem Augenblick blies ein leises Wehen die Vorhänge ganz zurück und ein heller Sonnenstrahl klatschte auf sein Gesicht. »Was?«, stammelte er weiter. »Ach du, Sophia«, erkannte er erst jetzt die Situation. »Ich weiß nicht, was langweiliger ist, du oder deine Rostlaube«, sagte Sophia mit gespielter Langeweile und ließ von Tristan ab. »Du solltest ihn doch langsam und zärtlich wecken«, hörte Tristan aus dem Bad Alanas Stimme. Sie kam näher, sagte: »Guten Morgen, Schatz«, setzte sich an sein Bett und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Sophia murrte ein »… schon wieder knutschen«, und begann in einem Rucksack nach etwas zu suchen. »Es ist ein wunderschöner Tag, die Sonne scheint. Draußen haben wir eine herrlich kühle Luft und der Kaffee duftet durch das ganze Haus«, lockte Alana ihren Schatz. »Wo kommt denn das grässlich helle Licht plötzlich her?«, fragte Tristan scherzhaft. Da war den anderen klar, er war wach. Fast. Tristan drehte sich, Tiefschlaf simulierend, auf die andere Seite, in der Hoffnung, dem hellen Sonnenschein zu entfliehen. »Nichts da«, rief Sophia und ließ vom Rucksack ab. Sie hüpfte von der anderen Seite auf das Bett und begann, Tristan zu kitzeln. Erst versuchte sie die Achseln zu erreichen. Tristan murrte. Dann versuchte sie es an den Fußsohlen. Tristan zog sie fest an sich. Alana suchte unter der Decke mit den Händen die empfindlichen Stellen und die letzten Rippenbögen. Tristan gluckste. Sophia fand zwischenzeitlich das Versteck der Füße, hielt sie mit ihrem Körper fest und kitzelte sie mit der freien Hand auf eine für das Gör ungewöhnlich zärtliche, grausame 37
Weise. Tristan schrie leise auf. Er konnte nicht mit den Füßen strampeln, weil er einerseits festgehalten wurde und andererseits Sophia nicht verletzen wollte. Dann setzte Alana zum finalen Angriff an und biss ihn zärtlich an einer nur ihr und Tristan bekannten Stelle. Tristan winselte um Gnade. Schließlich saß er mit seinen zwei Frauen frisch geduscht auf der Terrasse beim Frühstück. Tristan sog die frische klare Luft in seine Lungen. Das tat ihm wohl. Beim Blick über den Chiemsee zeigte sich, dass sich die letzten Nebelschwaden unter den warmen Strahlen der Sonne auflösten. Die ersten Segler waren schon unterwegs. Ein paar Unentwegte schwammen schon in dem noch kühlen Wasser. »Du hast heute Nacht wohl zu viel an dein armes altes Auto gedacht«, begann Sophia das Gespräch. Dabei biss sie herzhaft in eine Honigsemmel. »Wie kommst du denn darauf?«, fragte Tristan erstaunt. »Du warst plötzlich weg. Das hab ich gleich gespürt«, erzählte Sophia. Alana erschrak leise und schaute Tristan erwartungsvoll an. Tristan überlegte, wie er die Neugierde des Kindes befriedigen könnte. Er spürte den gespannten Blick Alanas auf sich, bemühte sich aber, nur auf Sophia zu sehen. »Ich hab mir etwas die Sterne angeschaut«, antwortete Tristan und war sich in diesem Augenblick nicht klar, ob dies eine Lüge war oder nicht. Gespannt schaute er jetzt auf Alana, um zu sehen, wie sie seine Antwort aufnahm. Bevor sie aber gegenseitig in ihren Blicken Fragen und Antworten suchen konnten, sprach Sophia weiter: »Oh, die Sterne. Die hätte ich auch gern gesehen.« Ihr Gesicht bekam etwas Leuchtendes. Wurde aber gleich wieder ernst.
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»Warum hast du mich nicht geweckt?«, schaute sie jetzt vorwurfsvoll. »Äh …«, stotterte Tristan. »Du hast so tief geschlafen. Da wäre es eine Sünde gewesen, dich zu wecken.« Schon wieder musste er daran denken, dass er die Frage nach Lüge oder Wahrheit seiner Rede noch nicht geklärt hatte. »Doch nur, weil ich ein Kind bin.« Sophias Stimme bekam etwas Trotziges. »Aber ich bin es nicht mehr.« Eingeschnappt biss sie wieder in ihre Semmel. »Gestern war so viel los. Da brauchen wir hinterher den Schlaf«, versuchte Alana zu beschwichtigen. »Der Rostlaubenfahrer wohl nicht. Der darf Sterne gucken. Und das kleine Mädchen natürlich nicht«, gab sie kauend von sich. »Dabei war ich früher mal klein. Jetzt aber nicht mehr. Ich komme ja in die Schule.« »Weißt du was?«, versuchte Tristan sie aufzumuntern. Sophia bemühte sich angestrengt, trotzig nach unten zu schauen, musste aber mit der Neugierde kämpfen, was Tristan wohl vorschlagen würde. »Wir machen heute Abend einen kleinen Nachtspaziergang und da erzählst du mir etwas von den Sternen.« Tristans Vorschlag fiel auf Begeisterung. Der Blick hellte sich auf. Sophia freute sich trotz des vollen Mundes: »Ich kenne schon ein paar Sternbilder. Der Pater Benedikt hat sie mir erklärt.« Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sich Teile der gekauten Semmel selbstständig machten. In diesem Moment kam die Wirtin und brachte einen Krug voll frischer Milch. »Frau Schäfer, sie werden am Telefon verlangt. Drinnen, neben der Rezeption«, sagte die Frau. Überrascht über diesen Anruf, stand Alana schweigend auf und ging durch die Terrasse nach drinnen. 39
»Der Kleine und der Große Wagen.« Sophias Augen glühten. Die Wangen blähten sich auf, weil ihre kleine Zunge einen kleinen Pfad für die Worte in der Mitte des Munds freiräumte. »Ja«, lachte Tristan sie an. »Und der große Mund, aus dem die Kauschnuppen fliegen. Wenn ich mir jedes Mal etwas wünschen dürfte, dann wäre ich jetzt schon alle Wünsche losgeworden.« Sophia hielt sich beide Hände vor den Mund und kicherte. Tristan nahm sein Müsli auf und schaufelte es sich in den Mund. Dabei blickte er über den See. Er wollte Sophia signalisieren, dass er jetzt essen und nicht sprechen wollte. Die Kleine sollte sich nicht auch noch verschlucken. Als Tristan sich eben umdrehte, um das Müsli wieder abzustellen, kam Alana zurück. Erwartungsvoll wurde sie von beiden angesehen. Gute oder schlechte Nachrichten?, schien Tristans Blick zu fragen. »Erzähl schon!«, wurde sie von Sophia aufgefordert. »Pater Benedikt hat aus Rom angerufen. Er hat den Auftrag bekommen, irgendeine unterirdische Bibliothek auszumisten. Du wüsstest schon, sagte er«, dabei schaute sie auf Tristan. Dem fiel ein, dass er ihr die Geschichte mit der Hetzjagd durch die Katakomben gar nicht erzählt hatte. Nachdem Tristan aber gar keine Anstalten machte, auf dieses Stichwort zu reagieren, erzählte sie weiter. »Er hat etwas gefunden, wo unser Triskell drauf ist«, fuhr Alana fort und schaute jetzt mit einer Mischung aus Furcht, es könnte wieder weitergehen, und Neugier. Denn von den gefährlichen Situationen einmal abgesehen, hatte ihr die Forschung nach dem Keltensymbol Spaß gemacht. »Unser Triskell?«, fragte Tristan nach, als müsse er sich noch einmal vergewissern. »Ja, du Nullchecker«, mischte sich Sophia ein. »Dein olles Dings ohne die Ewigkeitsbänder.« Dabei tat sie ungeheuer gescheit. »Und jetzt unterbrich meine Mama nicht mehr, wenn 40
sie Wichtiges erzählt.« Damit schaute sie wieder auf ihre Mutter und ignorierte Tristan, als wäre er ein Unwissender. »Es befindet sich auf einer kleinen Steinplatte oder Steinskulptur«, erzählte Alana weiter. »Wirklich Stein?«, wollte Tristan genau wissen. »Ja, diesmal wohl wirklich Stein.« Dabei bekam Alanas Blick einen Ausdruck, als würde sie die Katze erst jetzt aus dem Sack lassen. »Die grobe Datierung scheint deutlich vor der Keltenzeit zu liegen.« Um diese Aussage auf Tristan wirken zu lassen, schwieg sie etwas. »Und das bedeutet?«, sprach Tristan mehr zu sich selbst, aber Sophia fiel sogleich ein: »Dass dein Dings älter ist, als du geglaubt hast, Nullchecker.« »Das bedeutet, dass Benedikt uns braucht. Deshalb hat er uns nach Rom bestellt«, vollendete Alana ihren Bericht. Tristan wusste nicht, was er darauf sagen sollte. »Und ich?«, fragte Sophia mit einer Mischung aus Erwartung und Befürchtung. »Pater Benedikt kann uns heute noch nicht brauchen«, wandte sich Alana an ihre Tochter. »Vatikan-Terminkalender. Irgendeine kirchliche Veranstaltung.« Sie hoffte, die Erwartungen, die Sophia an diesen Urlaub mit einem QuasiElternpaar hatte, trotzdem noch erfüllen zu können. »Was haltet ihr davon: Heute machen wir einen ruhigen Tag. Nur einen kleinen Museumsbesuch. Ich möchte mein Wissen über die Steinzeit etwas auffrischen. Vielleicht brauchen wir das ja bei Benedikt.« Sophia wusste noch nicht, ob sie sich darüber freuen sollte. Alana plante weiter: »Heute Abend dann die Sternenwanderung.« Jetzt hellte sich das Gesicht des Mädchens wieder auf. »Und morgen fahren wir zu Oma Ruth und Opa Arno. Die sollen für uns ihren Grill anwerfen, und wir machen es uns dort 41
im Frankenwald so richtig gemütlich. Was hältst du davon?« Die an Sophia gerichtete Frage löste Begeisterung aus. »Ja, und ich darf mit Opa in den Wald, Kitzelbüh sammeln für ein Lagerfeuer«, plante sie schon weiter. »Aber gern«, freute sich Alana, das Richtige getroffen zu haben. »Dann bleibst du dort noch ein paar Tage. Oma und Opa gehen mit dir bestimmt auch Schulsachen einkaufen.« Weiter kam Alana nicht, denn Sophias Mundwerk begann sogleich zu arbeiten. »Da brauche ich Hefte und Stifte, Mappen und Füller, Bücher und ein langes Lineal. Den Zirkel dürfen wir auch nicht vergessen. Dann natürlich noch ein Geo-Viereck. Die coole Britta hat auch schon eines. Und dann noch unbedingt …«, wollte sie in Gedanken schon weiter einkaufen. »Ich habe von der Schule eine Liste. Das ist schon viel und teuer genug. Mehr brauchst du am Anfang bestimmt nicht«, versuchte sie ihre Tochter zu bremsen. »Einen Schulranzen sollte die Oma Ruth aber nicht für dich kaufen«, beteiligte sich Tristan jetzt an dem Planungsgespräch. Sophia sah ihn an, als wollte er ihr den attraktivsten Ausrüstungsgegenstand für einen ABC-Schützen nicht gönnen. »Den möchte ich dir kaufen«, vollendete Tristan seinen angefangenen Satz. Sophia sprang auf und umarmte den mit dieser Zuneigungsbezeugung überforderten Tristan. »Der Tristan ist cool«, sagte Sophia zu Alana ohne seinen Kopf loszulassen, der ziemlich verdreht in ihren Kinderarmen hing.
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THAN Kein Geräusch durfte er verursachen. Aus den Augenwinkeln prüfte er den Boden. Er wollte sich nicht durch einen Tritt auf morsches Holz verraten. Die Äste junger Eichen, die hier am Rande der Lichtung wuchsen, nahm er mehr intuitiv wahr, als dass er sie sah. Geschmeidig glitt er an ihnen vorbei. Thans Blick ruhte wach und doch meditativ auf seinem Ziel. Wach, denn er durfte keinen Fehler machen. Meditativ, denn der Anblick glich aufs Haar dem Traumbild, das er gestern schaute, als der Schamane die Geister des Waldes anrief. Die Jagd musste gelingen. Deshalb begann diese, wie jede Jagd, mit der Anrufung der Geister am Abend vorher. Der Jäger erinnerte sich. Vor einigen Sommern schien es mehr Wild gegeben zu haben. Viele Ausflüge waren mit Erfolg gekrönt. Ein großes Tier brachte Nahrung für ein ganzes Dorf. Das Fell wurde zu Kleidung verarbeitet. Horn und Knochen zu Werkzeugen. Das Jagdglück kam unverhofft, sogar ohne Anrufung. Seit wenigen Sommern war das anders. Die Tiere schienen zu verschwinden. Die Herden wurden kleiner. Eine Jagdgruppe musste häufig viel weiter laufen. Einen Tagesmarsch und mehr, um auf vielversprechende Spuren zu treffen. Than sah auch immer öfter andere Spuren. Spuren von anderen Stämmen. Stämme, die er nicht kannte. Andere als die der großen Sippe, die seit Generationen hier lebte. »Schhhhhhhh …« Seine lederne Hose streifte an den dornenbesetzten Zweigen einer wilden, überhängenden Rose entlang. Sofort hielt er inne. Bewegte sich keinen Millimeter mehr. Atmete flach.
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›Das darf mir nicht passieren‹, schalt er sich selbst in Gedanken. Die Sorge um das Jagdglück. Die Sorge um seinen Stamm. Die Freude des erfüllten Traumbildes ließ ihn unvorsichtig werden. Kein Geräusch sollte von ihm zu hören sein. In seine Nase drang der Geruch des Hirsches. Des Leittieres der vor ihm auf einer Waldlichtung grasenden Herde. Dieses intensiv nach Urin und Schweiß riechende Alphatier signalisierte so allen, seinem Rudel nicht zu nahe zu kommen. Than fühlte sich nicht abgeschreckt. Im Gegenteil. Der schwere Duft in seiner Nase zeigte ihm, dass er auch jetzt, nach langem Anpirschen, noch immer richtig im Wind stand. Es war, wie er hoffte. Das kleine Geräusch, das er verursacht hatte, wurde im Rudel nicht wahrgenommen. Die Böcke waren mit sich selbst beschäftigt. Geweihe prallten aufeinander. Stöhnendes Schnauben. Dann folgte der nächste Waffengang der jugendlichen Kontrahenten auf der Lichtung. Das alte Leittier störte das nicht. Seine Autorität zweifelte niemand an. Es stand etwas abseits, sog hörbar Luft in die Nüstern. Schnaubte sie dampfend wieder heraus. Plötzlich warf es sein schweres, mit zwölf Enden bestücktes Geweih zurück und röhrte, dass es die ganze Lichtung erfüllte. Die siebzehn Tiere des Rudels hoben den Kopf und schauten auf ihr Oberhaupt. Die Kontrahenten unterbrachen kurz ihren Streit, standen nebeneinander und sahen hinüber zum Platzhirsch. Nach ein paar Sekunden löste sich die Spannung unter den Tieren wieder. Jedes ging seiner Beschäftigung nach. Äsen, ruhen oder einfach mit den Ohren schlackern. Durch diesen Übergang zurück in den normalen Ablauf signalisierten sie dem Oberhaupt, dass es unbestritten ihr Herr war. Keiner der jungen Böcke begehrte gegen den ›Ich-bin-hier-der-Chef‹-Ruf auf. Eine mit einem jungen Bock turtelnde Kuh beschäftigte sich jetzt lieber mit dem frischen Gras. Kurze Zeit später nahmen auch die 44
zwei Kontrahenten wieder ihre Auseinandersetzung über den besten, aber unteren Rang wieder auf. Than lächelte still in sich hinein. Ihn interessierte vor allem die junge Hirschkuh, die dösend in der Sonne lag. Nur ab und zu kreisten die Ohren einmal herum, um lästige Fliegen zu verjagen. Die Äsenden hatten sich schon ein wenig von ihr entfernt. Ihnen gelüstete nach frischem Gras und Kräutern, die noch nicht niedergetreten waren. Den Bogen in der Hand, leise und ganz langsam einen Pfeil aus dem Köcher gezogen habend, stand Than im Schatten einer alten Eiche. Das Ziel war höchstens fünfzig Schritte von ihm entfernt. Näher kam er nicht heran, sonst würde er vom aufmerksamen Leitbullen bemerkt werden. Er legte den Pfeil an, spannte den Bogen aber noch nicht. Than wollte nicht minutenlang mit gespannter Sehne auf den richtigen Moment warten. Seine rechte Hand löste sich fingerweise und umfasste noch einmal fest und sicher den fellbesetzten Griff des Bogens. Nichts durfte schiefgehen. Er stand im Schatten. Vor ihm hingen die unteren Zweige der Eiche. Than musste zwischen diesen hindurchschießen, um die dahinter liegende Hirschkuh zu treffen. Die kreiste wieder mit einem Ohr. Muskeln zuckten unter ihrer Haut, um Stechmücken abzuwehren. Der Kopf der Kuh war zur Seite gelegt, Than zugewandt. Keine optimale Stellung für einen sicheren Schuss. Die weichen Seiten des Körpers zeigten nach hinten. Im schlechtesten Falle würde sein Pfeil am schweren Schädel des Tieres einfach abprallen und nur eine ungefährliche Schnittverletzung verursachen. Der Schreck der Kuh würde dazu führen, dass die ganze Herde weglief. Vielleicht zu weit, um sie heute noch einmal zu erreichen. Die Tage waren schon merklich kürzer geworden. Diese letzten mit herbstlichem Sonnenschein mussten unbedingt erfolgreich sein. Wenn Unwetter und Herbststürme über das flache Land bliesen, wurde es schwieriger mit der Jagd. 45
Mit einem krachenden Klirren prallten wieder die Geweihe der zwei jugendlichen Kontrahenten zusammen. Sie fuhrwerkten im verkeilten Zustand noch hin und her, um den Gegner einzuschüchtern. Ein lautes »Klick-klack, klick-klack« war die Folge. Die dösende Hirschkuh hob den Kopf, um nach der Ursache des Geräusches zu fahnden, das sie geweckt hatte. Than spannte den Bogen. Das Schussfeld war durch die herunterhängenden Äste stark eingegrenzt. Ein Treffer war durch das kleine Fenster in den Zweigen vor ihm garantiert. Die Hirschkuh bemerkte, dass die Herde schon etwas weiter weggezogen war. Ein Beben ging durch ihre Muskeln. Sie schnaubte unwillig. Der konzentrierte Jäger war hellwach. Seine starken, nackten Arme spannten den Bogen. Hielten ihn absolut ruhig. Das befiederte Ende des Pfeils berührte seine Lippen. Than konnte sich von Kindheit an besser auf einen guten Schuss vorbereiten, wenn er das Ende einer der Steuerungsfedem ganz leicht zwischen die Lippen nahm. Es gelang ihm dann besser, EINS mit dem Pfeil zu werden. Die Kuh stand auf. Sie stellte sich erst auf die Hinterläufe und mit einem weiteren unwilligen Murren auf die Vorderläufe. Than starrte nicht auf sein Ziel. Sein Blick ruhte darauf. Die Augen halb geschlossen. Wichtig war für ihn nur, was sich vor dem kleinen Fenster aus Eichenzweigen abspielte. Alles andere war ausgeblendet. Langsam atmete er aus. Ließ die Luft leise durch die Nase entweichen. Seine Zungenspitze berührte noch einmal die Spitze der Feder. Die Hirschkuh drehte den Körper und trottete langsam los. Vor dem Fenster verschwand der Kopf des Tieres. Es folgte die Vorderflanke. Thans Atmung erreichte den Punkt zwischen Ausatmen und Einatmen. Er war völlig ruhig. Die Zeit schien
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still zu stehen. Er hörte keine Vögel mehr, keinen Wind, nicht das Stoßen der Böcke. Der Rumpf erreichte die Mitte seines Fensters. Das Herz des Tieres war ungeschützt. Es schlug seine letzten Schläge. Ein leises Blitzen in den halb geschlossenen Augen des Jägers. Er entließ die Kraft der gespannten Sehne. Mit einem Glücksgefühl nahm Than wahr, wie die Federspitze seine Lippen verließ. Der hölzerne Pfeil mit einer Spitze aus sorgsam bearbeitetem Stein – rasiermesserscharf – zischte aus dem Schatten der Eiche, durch das Fenster von Blättern und Zweigen. Traf kurz hinter der Vorderflanke das Opfer. Der lange gesuchte und schon seit vielen Monden verwendete Feuerstein, der die Spitze darstellte, schnitt mit Wucht durch die lederne Haut und traf zwischen zwei Rippen, mitten in das Herz. Die Hirschkuh schien das zischende Geräusch zu kennen, denn ihr Blick zuckte in die Richtung, aus der es kam. Es blieb ihr aber keine Zeit zu reagieren. Mehr vor Schreck als vor Schmerzen schreiend, knickte sie in den Vorderläufen ein. Ein Blutstrahl rann leicht aus der Stelle, in die der Pfeil eingedrungen war. Die Herde zuckte, wie ein einziger großer Organismus, gleichzeitig zusammen. Der Leithirsch rief einen lauten Warnruf an seine Herde. Diese brauchte aber keine Warnung. Alle waren sofort auf den Beinen. Galoppierten der anderen Seite der Lichtung zu. Die getroffene Hirschkuh knickte mit den Hinterläufen ein. Ihre Muskeln zuckten. Mit einem vorderen Bein versuchte sie sich noch einmal aufzuraffen. Aber sie rutschte auf dem reifbesetzten Gras nur aus. Sie war zu schwach. Dann blieb sie liegen. Der Jäger verließ die Deckung. Schritt leichten Fußes auf das Tier zu. Murmelte einen Dank an den Schamanen und den Geist des Hirsches. Am anderen Ende der Lichtung stürmte die Herde 47
auf den dort beginnenden Wildwechselpfad. Die Panik führte zu einer Rangelei im Zugang zu dem schmalen Weg. Die Atmung der Kuh wurde leiser. Als Than sie erreichte, brachen ihre Augen. Der Blutfluss stockte. Das Herz schlug nicht mehr. »Dem mächtigen Geist des Hirsches sei Dank!«, rief es vom gegenüberliegenden Ende der Lichtung. »Manchmal glaube ich«, hörte Than, der sich vornüber beugte, um seinen Pfeil herauszuziehen, »du bist mit dem Geist der Hirsche verbündet. Er schenkt dir immer etwas von seinem Leben.« Der Sprecher kam näher. Er war nur mit einem ledernen Gürtel bekleidet, an dem ein Lendenschurz befestigt war. Trug auf seinem Körper mit Asche aufgetragene Zeichen. Eine Hand umklammerte einen Bogen und einen Pfeil. Auch er wäre zum Schuss bereit gewesen. »Der Schamane hat es vorausgesehen. Deshalb hat es so kommen müssen«, antwortete Than bescheiden und riss mit einem Zug den Pfeil aus dem toten Körper. Während im Gesicht des Jagdpartners sich die Freude über Fleisch für den ganzen Stamm widerspiegelte, prüfte Than erst die Feuersteinspitze auf seinem Pfeil. Manchmal musste sie nachgeschärft werden, wenn sie einen Rippenbogen des Tieres getroffen hatte. Aber heute war er über den Zustand des Geschosses zufrieden. Than kniete sich vor die Kuh, sein Freund auf der anderen Seite. Beide legten ihre Hände auf den Körper des Tieres. Than hatte dabei immer noch den blutigen Pfeil in der Hand. Sie dankten murmelnd dem Geist aller Hirsche für dieses Geschenk. Sie dankten der Seele der Hirschkuh und baten sie um Nachsicht. Der Morgennebel schwebte noch über die Baumwipfel des Waldes, da zogen Than und sein Freund Jarten ihre Messer aus dem Gürtel und begannen damit, das erlegte Wild aufzubrechen.
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Die Zeit, die die Sonne benötigt, vom ersten Schimmern am Horizont bis zwei Handbreit darüber zu wandern, brauchten die Jäger, um von ihrem Nachtlager bis hierher zu pirschen. Mehr als einen Tag hatten sie gesucht. Als sie am späten Nachmittag des gestrigen Tages auf die Fährte der Herde stießen, war es für eine erfolgreiche Jagd schon zu spät. Am Rande eines Kiefernwaldes hatten sie übernachtet und von ihrer mitgebrachten Wegzehrung gegessen. Than und Jarten verfolgten die Spuren bis zum Wald. Der Wildwechsel führte hinein. Am Abend wollten sie nicht folgen, da sie ungewollt Geräusche verursachen könnten. Sie warteten bis zum Morgengrauen. Dieser Wald war einer der wenigen Nadelwälder dieser Ebene. Die Vorfahren erzählten, dass es früher hier nur Birkenwäldchen gab. Es schien, als wanderten neue Bäume ein. Auch andere Zeichen in der Natur verkündeten Thans Ohren, dass die Zeiten sich wandelten. Die großen Flüsse, die weit um diese Ebene flossen, wurden immer breiter. Es schien ihm so, der große Strom aus dem Felsengebirge im fernen Süden wolle das Land seines Stammes zur Insel machen. Than lief schnell, aber nicht hastig, zum Platz, an dem sie lagerten. Jarten blieb zurück, um die erlegte Beute auszunehmen. Thans Aufgabe war es, die Ausrüstung nachzuholen. Sie hatten ihre langen Speere zurückgelassen, da sie zu sperrig für den Wald waren. Für die Jagd brauchten sie nur ihre Bögen und Pfeile. Than erreichte das Lager. Der Nebel verzog sich gänzlich. Ihre Habseligkeiten lagen noch genau so da, wie zu dem Zeitpunkt, als sie aufgebrochen waren. Es waren keine anderen Jagdtrupps in der Nähe. Früher, so berichteten die Alten, war das selbstverständlich. Die Stämme lebten weit auseinander. Nur zu besonderen Festen traf man sich. Der Nachteil, dass man sich selten traf, wurde durch den 49
Vorteil aufgewogen, dass die Herden, Kleintiere und Früchte der Pflanzen für alle ausreichend vorhanden waren. In den letzten Jahren aber tauchten immer öfter fremde wilde Stämme auf. Sie machten ihnen Nahrung und Lebensraum streitig. Wurde die Welt kleiner, fragte sich Than, als er seinen und Jartens Mantel nebeneinander ausbreitete, um die Beinlinge und Umhängetaschen darin einzuwickeln. Anschließend schnürte er sie mit Bastbändern zusammen. Ein Paket wurde in einen Sack gesteckt, der an einer Rückentrage befestigt war. An den unteren Teil dieses Rucksackes, einer Kraxe ähnlich, band Than das andere Paketbündel. Ein letzter Blick in die Runde, ob er etwas vergessen habe. Dann schulterte er die Rückentrage, griff sich die zwei Speere und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Freund. Den Bogen mit Köcher und Pfeilen hatte er bei Jarten zurückgelassen, damit sie ihn beim Transport der Ausrüstung nicht behinderten. Bevor er den Kiefernwald am Pfad des ausgetretenen Wildwechsels betrat, blieb er noch einmal stehen. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Thans Herz klopfte wild. Seine Atmung ging schneller. Er wurde unruhig. War etwas geschehen? Than überfiel das Gefühl der Verzweiflung. Seine Beine waren wie gelähmt. Wie mit bleiernen Gewichten beschwert, drehte er sich langsam um. Es schien ihm eine Qual zu sein. Ein Schritt hinaus auf die Ebene. Unruhig blickte Than über das gräserne Meer. Nur ab und zu unterbrachen Birken und einige Wacholderbüsche die Weiten. Than schaute nach Osten. Die Sonne schien auf sein Gesicht. Er blickte nach Südosten. Langsam nach Süden. Sein Herz schmerzte mit jedem Schlag. Im Süden war das Sommerlager seines Stammes. Sie hatten es mit dem Zurückweichen des Winters am Ufer eines großen Flusses aufgeschlagen. So sehr 50
sich Than jedoch bemühte, es zu erblicken, es war jenseits des Horizontes. Wie Blitze zuckten seine Lieben durch seinen Kopf. Karol, das Oberhaupt. Semja, die Älteste. Kumra, der weise Priester und Heiler. Tekla, die Kräuterfrau und Helferin der Gebärenden. Und all die anderen. Schließlich Than-Ja, seine Gefährtin. Unwillkürlich seufzte Than laut auf, als er ihre Augen vor sich sah. Laut schlug ein Eichelhäher an. ›Ich bin viel zu laut für einen Jäger‹, ermahnte sich Than. Er ging langsam einige Schritte rückwärts in den Wald. Den Blick an den Horizont geheftet. Der Schatten der Kiefern fiel auf sein Gesicht. Jetzt drehte er sich um. Lief schnell und hektisch zu seinem Freund zurück. Die rückwärtigen Enden der Speere nutzte er als Stöcke, um sich hier und da abzustoßen, einen Sprung weiter anzusetzen oder um sich vor Ästen zu schützen. Es gelang ihm nicht immer. Immer wieder strauchelte er mit seinem Rucksack auf dem Rücken und den Speeren in den Händen. Zweige kratzten durch Thans Gesicht und Beine. An einer Stelle des rechten Armes floss etwas Blut. Plötzlich drehte sich alles um ihn herum. Than war außer Atem. Das kam sonst nie vor. Er rang nach Luft. Blieb stehen. Lehnte sich an den rauen Stamm einer Kiefer. Rollte leicht den Kopf an der Rinde hin und her. ›Was ist los?‹, schalt er sich selbst. ›Du weißt nichts! Du bist kein Medizinmann, kein Priester, kein weiser Mann. Du kannst nicht mit den Geistern sprechen. Die Ahnen teilen dir nichts mit.‹ Ob Than von der körperlichen Anstrengung schwindelig war oder wegen der strudelnden Gedanken, er wusste es nicht. ›Du weißt nicht, ob wirklich etwas passiert ist. Du weißt nichts.‹ Dass die Ahnen nicht mit ihm sprechen würden, stimmte nicht ganz. Das beunruhigte ihn noch mehr. Er kannte die Träume in der Nacht, die so real schienen. Er wusste, dass er sich auf 51
Intuitionen im rechten Augenblick verlassen konnte. Er fühlte, dass mehr wahr war, als es äußerlich schien. Das alles verwirrte ihn. Das stoßweise Keuchen ließ nach. Sein Körper beruhigte sich. Seine Seele nicht. Trotzdem musste er weiter. Than stieß sich von der Kiefer ab. Diesmal zwang er sich, schnell, aber nicht mehr hektisch, vorwärts zu kommen. Das kopflose Rennen war viel zu gefährlich. Ein Jäger muss seine Sinne jederzeit beieinander haben, ermahnte er sich selbst. Er lief jetzt mit schnellen, kurzen Schritten. Achtete wieder auf seine Umgebung. Seine Gangart konnte er beherrschen, seinen Herzschlag nicht. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ihn überkam das Bedürfnis, zwischendurch stehen zu bleiben. Nicht, um Atem zu holen. Seine Geschwindigkeit war flott, aber er ging jetzt trotzdem mit Bedacht. Es war, als müsse er sich vergegenwärtigen, dass er keinem Trugbild erlegen war. Sobald er die Augen schloss, spürte er beißenden Rauch. Er sah nur unscharf, als füllten Tränen seine Augen und ließen ihn nur blinzeln. Feuer! Etwas stand in Flammen. Er wagte nicht zu atmen, um den Rauch nicht in seine Lungen zu bekommen. Than bezwang einen Hustenreiz. Unscharf und verschwommen sah er vor sich Menschen hin und her rennen. Er empfand die Angst dieser Menschen. Es war sein Stamm. ›Was geschieht hier?‹, schrie er in Gedanken hinaus. Niemand schien ihn in diesem kopflosen Hin-und-her-Rennen zu beachten. Das angstvolle Schreien, das Keuchen der Flüchtenden erfüllte diesen Anblick wie eine Kulisse. ›Was geschieht hier?‹, fragte er sich noch einmal. Da wurde die Kulisse aus Hilferufen und Angstschreien unterbrochen von einem gehässigen Lachen. Es kam jemand auf ihn zugerannt. Immer größer wurde die Gestalt, die er nur unscharf erkennen 52
konnte. Sie lief auf ihn zu. Er hörte ein hektisches Pumpen der Lungen. Spürte den Atem in seinem Gesicht. Than-Ja! Ganz scharf zeigte sich das Antlitz seiner Gefährtin vor ihm. Wieder das aggressive Lachen. Als würde sie am Arm weggerissen, verschwand sie aus seinem Blickfeld. »Than-Ja!«, rief er unwillkürlich und riss die Augen wieder auf. Than wurde wieder bewusst, wo er war. Er stand im Wald und musste so schnell wie möglich Jarten erreichen. Den Herzschlag im Hals lief er weiter. Endlich erreichte er seinen Freund. Der hatte bereits ein Feuer entzündet und damit begonnen, das Wild zu zerlegen. »Ich habe mit der Leber auf dich gewartet. Sie gebührt dem Jäger«, strahlte ihn Jarten an. Neben ihm lagen auf einem großen runden Stein bereits einige Filetstücke, die er mit der rasiermesserscharfen Feuersteinklinge herausgetrennt hatte. Er wollte sich gerade wieder über das tote Tier beugen, um an weitere feine Streifen des zarten Fleisches zu kommen, da wurde er gewahr, dass der Blick Thans nicht der eines erfolgreichen Jägers war. Jarten stellte sich wieder auf, das blutende Messer in der Hand, und wartete still ab, bis ihn Than erreichte. Der sich Nähernde starrte durch seinen Freund hindurch. Schließlich blieb er vor Jarten stehen. Sagte nichts. Schaute mit entrücktem, verzweifeltem, ja entsetztem Blick. Nachdem Than weiterhin schwieg, sprach Jarten ihn an. »Was ist geschehen? Dein Blick ist so seltsam düster.« Der Gefährte war sorgenvoll. Leise zuckte es in Thans Gesicht. Verwirrt blickte er seinen Freund an. Aber sogleich fasste er sich wieder.
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»Es war fürchterlich! Ich erlebte ein Gesicht. Ich hörte Schreien aus unserem Lager. Ich roch Brand aus unseren Sommerhütten. Ich spürte Tod.« Er musste sich zusammenreißen. Blickte Jarten fest ins Auge und fasste ihn mit beiden Händen an den Schultern. »Wir müssen sogleich zurück. Etwas Schreckliches muss passiert sein!« Seine Stimme wurde dabei immer lauter. Als müsse er das Geschaute in Jartens Ohren hineinschreien. Besorgt blickte der auf Than. »Ich weiß nicht, wie es ist, das Zweite Gesicht zu haben.« Und dann, etwas leiser: »Meinst du, es ist wahr, was du gesehen hast? Hat dich kein Trugbild genarrt? Die tanzenden Nebelgeister des Morgens oder Ahnen, die zwischen den Winden gefangen sind?« Wie gebannt schaute er dabei Than in die Augen, damit ihm keine Regung, kein Zucken eines Lides entging. »Nein«, sagte Than leise, aber bestimmt. »Ich bin nicht genarrt worden«, setzte er noch als Bestätigung hinterher. »Etwas Schreckliches muss passiert sein.« Jarten versuchte die Fassung zu bewahren. In ihm hielt sich die Hoffnung, Than könnte sich irren, denn er war kein Priester, der mit den Ahnen Zwiesprache halten konnte. Andererseits zeigte ihm auch das heutige Jagdglück wieder, dass Than anders war als andere. Jarten wollte sich aber von Panik nicht besiegen lassen. »Wir brauchen bis in die Nacht, sollten wir jetzt zum Sommerlager aufbrechen. Lass uns Nahrung für den Weg bereiten und etwas essen. Danach brechen wir auf«, schlug er vor. Than nickte geistesabwesend. Wie, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, beugte Jarten sich wieder über das geöffnete Wild und schnitt mit behänden Schnitten die Leber heraus. Mit einem bemüht freudigen Gesicht reichte er es Than.
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»Die Ehre, den Sitz der Seele in sich aufzunehmen, gebührt dem Jäger.« Than nahm das dunkelrote Organ mit beiden Händen entgegen und dankte der Seele des Tieres und der Mutterkraft der Natur, bevor er einen kräftigen Bissen davon nahm. Das Blut rann ihm von beiden Seiten des Mundes hinunter. Dann reichte er es Jarten. »Wir beide haben es erlegt. Der Schütze hat meist nur Erfolg, weil vier Augen sehen, vier Ohren hören und zwei Nasen riechen.« Die würdevoll gedachten Worte gingen durch die Fülle im Mund fast unter, aber Jarten wusste, was gemeint war. Strahlenden Auges nahm er das Organ von der Größe zweier kräftiger Handteller entgegen. Nur kurz währte das uralte Jagdritual. Zu unruhig war Than. Er mahnte Jarten zur Eile. »Jeder Augenblick zählt, wenn wir etwas retten wollen«, stieß Than hastig hervor. »Und wenn du dich irrst?« Der Jagdfreund sah ihn fragend an. Sah im Gesicht Thans eine Angst, die nicht zu ihm passte. »Verstehe mich nicht falsch. Ich glaube, dass die Geister der Ahnen mit dir sprechen. Aber was ist, wenn du sie falsch verstanden hast …?« Jarten war besorgt. »Es war kein Sprechen von Worten, so wie wir miteinander sprechen. Es war ein Wahrnehmen tief in meiner Seele. Ein Hören, ein Sprechen, ein Wahrnehmen der Angst der Zurückgebliebenen im Lager«, versuchte er das ihm Unbegreifliche seinem Freund begreiflich zu machen. »Und wenn du dich irrst?«, fragte dieser noch einmal. Jarten blickte vielsagend auf die erlegte Hirschkuh. Dann wieder zu Than. Der Winter stand bevor. Vorräte mussten herbeigeschafft werden. Für die Wanderung ins Winterlager. Für den Winter. »Die, deren geträumten Rufen du folgen willst, warten auf 55
dieses Fleisch.« Dabei wies er mit der rechten Hand auf das Tier. In der anderen hielt er die von Blut tropfende Leber. Than wusste, dass das Fleisch für den Transport vorbereitet werden musste. In feine Scheiben geschnitten, getrocknet, geräuchert. Alles, was sie beide nicht tragen konnten, sollte in die Außenhaut eingewickelt werden und unter Steinen begraben und verborgen werden. Damit es keinen Aasfressern zum Opfer fiele, bevor einer der Jäger mit Frauen und Kindern aus dem Stamm zurückgekehrt war. Das alles brauchte Zeit. Than war für einen Moment unschlüssig. Jarten vertraute ihm. ›Und wenn du dich irrst?‹, sprachen mehr die Augen des Freundes, als dass er die Worte wahrnahm. ›Nein!‹, schrie er sich in seinen Gedanken mit der verzweifelten Stimme eines Hilferufenden aus seinem Wachtraum an. ›Nein, nein und abermals nein!‹ Jarten verfolgte schweigend das Mienenspiel. Than schien mit sich zu ringen. Blickte fern ins Leere. »Wir müssen sofort los, sonst braucht niemand unseres Stammes dieses Fleisch mehr.« Er sprach diesen Satz jetzt ruhig und bedächtig aus. Blickte nicht mehr ins Leere, sondern tief in die Augen seines Freundes. Umfasste mit beiden Händen die starken nackten Oberarme des Freundes. »Wir dürfen nicht zögern!« Die Aufregung in der Stimme Thans war gewichen. Die leise gesprochenen Worte wirkten auf Jarten noch intensiver. Er nickte, als Zeichen dafür, dass er einverstanden war. »Nicht jedoch ohne Wegzehrung.« Than nahm sein Messer und machte sich daran, die besten Filetstücke herauszuschneiden. Währenddessen bereitete Jarten die Ausrüstung für den Rückmarsch vor. Vor allem legte er die zusammengerollten 56
Beinlinge aus dem Rucksack heraus. Dieser Platz wurde für das Fleisch gebraucht. Ebenso verfuhr er mit dem abwechselnd aus hellen und dunklen Fellstreifen genähten Mantel. Es konnte um diese Jahreszeit schon ziemlich kalt werden, vor allem in der Nacht. Wegen der Temperatur mussten sie diese zwar nicht anziehen, aber mit jedem Stück, das sie am Körper tragen konnten, schuf er Platz im Rucksack. Neben die röhrenartig genähten Beinlinge, die am Gürtel für den Lendenschurz befestigt wurden, stellte Jarten die Schuhe. Diese waren aus zwei Lederstücken gefertigt. Ein Härteres für die Sohle und ein Weiches für das Obermaterial. Als Fußbett fungierte Heu, welches in ein grobes Netz aus geflochtenen Grasstricken eingepresst war. Schließlich waren sie fertig zum Abmarsch. Than und Jarten schulterten ihre gut gefüllten kraxenartigen Rucksäcke. Während Thans Gedanken vorauseilten zu den Lieben im Lager, blickte sein Gefährte zurück zur aufgebrochenen Kuh. Ihn schmerzte, so viel Nahrung und Rohmaterial zurückzulassen. Sie verließen die Lichtung. Schnell, aber ohne zu rennen. Drangen beim Wildwechsel in den Wald ein. Than voraus, Jarten folgte. Als die Sonne ihren höchsten Stand erreichte, waren die beiden Jäger schon weit in der Ebene des weiten flachen Dogalandes. Dieses weitläufige Gras- und Heideland barg sehr viel Wild. Unterbrochen wurde die Landschaft durch kleine Birkenwäldchen, manchmal auch tiefe Wälder mit Kiefern, Eichen, Buchen und vielen Bäumen und Sträuchern mehr. In frühen Jahren war der Stamm bis hinauf zur Küste gewandert, um dort das Sommerlager aufzuschlagen. Dies hatte den Vorteil, dass als Nahrung auch reichlich Fisch gewonnen werden konnte. Aber diese Küste ist trügerisch. Immer wieder holte der Geist des Wassers sich ein Stück Land mehr. Als eines 57
Tages der Schamane von den weisen Ahnen erfuhr, dass das Meer mit seinem Hunger nach Land nicht Schluss machen würde, ehe es das gewaltige fischreiche Flussdelta zweier Ströme im Westen zerschnitten hätte, beugte der Stamm sich dem Willen des Geistes. Der Mensch sollte dort nicht mehr sein. Warum das so war, hatte Than nie begriffen. Er tat wie alle im Stamm. Er sandte Worte und Gedanken, hin und wieder auch ein Opfer, an die große Mutter in der Erde, im Stein, damit sie auch in Zukunft noch Leben hervorbringen kann. Damit sich der Kreislauf aus Leben und Tod und Tod und Leben erfüllt. Er tat dies wie seine Ahnen, seine Vorvorfahren, die jetzt die geistlichen Lehrmeister des Stammes sind. Aus einem Grunde, den keiner versteht, sind der Geist des Wassers und die Mutter Natur, in ihrer ganzen üppigen Fruchtbarkeit, damit nicht zufrieden. Aus diesem Grunde siedelte seine Gruppe im Sommer an einem Flussarm im Süden. Weit weg von der Küste. Hier hat man ein ruhig fließendes Gewässer zum Fischen. Rundherum, vor allem gegen Norden, breitet sich das flache, wildreiche Land aus, das sie seit Generationen nährt. Ohne zu sprechen liefen Than und Jarten Richtung Süden. Than voran. Jarten folgte. Thans Blick war auf den Boden gerichtet. Etwa zehn Meter voraus. Er wollte nicht straucheln, noch sollte irgendetwas anderes geschehen, was ihren Marsch aufhielt. Büsche und hohes verfilztes Gras wurden umgangen. Sofort danach schwenkten sie wieder nach Süden ein. Zwischendurch gestattete sich Than einen sehnsüchtigen, aber vor allem ängstlichen Blick nach Süden. Dorthin, wo das Lager stehen sollte. Seine Gefühle und seine Ängste, die bei diesem Blick in ihm hochstiegen, presste er wieder nach unten. Irgendwohin in den Bauch. Er konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Es war ihm klar, dass sie dort nicht weg waren. Sie arbeiteten weiter. Unsichtbar. Um bei nächster unpassender Gelegenheit wieder hochzusteigen. 58
Jarten folgte. Nachdem Than sich um den Weg kümmerte, brauchte er nur darauf zu achten, dass er den rechten Abstand hielt. Sein Freund sollte nicht zu weit voraus sein, aber Jarten durfte auch nicht zu nahe dran sein. Schließlich war es seine Aufgabe, den seitlichen und hinteren Teil zu sichern. Unbehagen stieg in ihm auf. Gestern, bei ihrer Pirsch hierher, sind sie auf keine weiteren Spuren gestoßen, die die Anwesenheit anderer, gar feindlicher Gruppen anzeigte. Die letzten Menschen, die sie sahen, war der eigene Stamm. Fröhlich den Tag beginnend. Einige hatten die Netze für das morgendliche Fischen vorbereitet, andere zupften Körner aus Gräsern. Wieder andere buken fladenartige Brote für das Morgenmahl. Alles war wie immer. Jartens Gedanken gingen zur erlegten Hirschkuh und dem zurückgelassenen Fleisch. Dann wieder fixierte sich sein Blick auf die Füße Thans und er trottete einfach hinterher. Die Welt der Geister, der Ahnen, der Kräfte der großen Mutter, die Leben bringt, aber auch Leben nimmt, hatte er nie verstanden. Er kannte aber alle wichtigen Rituale, die jeder kennen musste, der hier überleben möchte. Am Himmel zogen dicke Wolken vorbei. An ihren Unterseiten waren die größeren bereits schwarz. Wenn so eine Wolke vor die Sonne zog, wurde es etwas kühler. »Warte!«, rief Jarten von hinten. Than hielt sofort an und drehte sich um. Sein Begleiter kniete nieder und machte sich an seinem rechten Schuh zu schaffen. Than ging langsam auf ihn zu. Das Gras ging einem stehenden Mann hier bis über die Knie. Er konnte nicht genau erkennen, welche Probleme sein Freund hatte. »Was ist?«, fragte Than kurz. »Mein Schuh ist gerissen«, sagte Jarten, ohne dass er den wütenden Unterton ganz unterdrücken konnte. Er stellte sich wieder auf und hatte sich den Schuh wie einen Handschuh über 59
die Hand gezogen. Der Zeigefinger steckte in einer Öffnung zwischen Oberleder und Sohle. Lugte vorwitzig daraus hervor. Jarten sah seinen Freund bedauernd an. So konnten sie nicht weiter. Der Riss würde immer größer werden. Barfuß könnte er die Marschgeschwindigkeit nicht durchhalten. Than lächelte seinen Freund an. »Eine kleine Pause wird uns beiden gut tun«, ermunterte er seinen Begleiter, nahm die Kraxe von seinem Rücken und setzte sich in das hohe Gras, dort, wo er gerade stand. Jarten warf missmutig seinen Schuh vor sich auf den Boden. Legte ebenfalls die Kraxe ab und setzte sich Than gegenüber. »Wer hat den Nähstichel eingepackt?«, schimpfte Jarten vor sich hin, als er die Außentaschen seines aus Kaninchenfell genähten Rucksackes durchsuchte, der in das Kraxengestell eingebunden war. »Oben in der Deckelklappe. Du hast gesagt, damit man es gleich zur Hand hat und nicht den ganzen Rucksack durchsuchen muss«, antwortete Than, wobei ein leises Lächeln seine Lippen umspielte. Jarten fühlte sich ertappt. Er hatte seine eigene sorgfältige Planung vergessen. Missmutig öffnete er den Rucksack am zentralen Knoten, der die Deckelklappe verschloss. Warf sie zurück und kramte mit seiner Hand in der durch ein aufgenähtes Lederrechteck gebildeten Tasche. Zog daraus ein fingerlanges verschnürtes Bündel, öffnete das Knötchen und entrollte das Lederstück auf seinen Knien. Than ließ sich rückwärts in das hohe Gras fallen. Schloss die Augen und atmete tief durch. Dabei versuchte er, an nichts zu denken. Jarten fingerte den aus einem Tierknochen geschnitzten Stichel heraus und entrollte einen kleinen aus Pflanzenfasern gezwirbelten Faden. Sorgfältig nahm er den achtlos weggeworfenen Schuh auf und betrachtete die gerissene Naht genau. Dann setzte er den Stichel mit ruhiger Hand an. Stopfte 60
das eine Ende des Fadens in die schon vorhandenen Löcher der Sohle. Dann zog er das Oberleder in die rechte Position und nähte weiter. An einer Stelle musste er sogar ein neues Verbindungsloch stoßen. Das alte war ausgerissen. Than öffnete die Augen. Schnell zogen die Wolken über ihm vorbei. Das Wetter schien zu wechseln. Kühl zog es über seine Haut. Die Sonne wurde verdeckt. Ein Wind blies von Nordwesten. Einige Vögel durchkreuzten seinen Gesichtskreis. Dort ein Reiher. Er flog nach Süden. Schwärme von Staren wehten hin und her. Noch ziellos. »Bald werden sie wissen, wohin sie müssen«, murmelte Than. »Werden wir es auch?« »Was brummelst du da vor dich hin?«, fragte Jarten. »Der Himmel ändert sich. Die Vögel sammeln sich.« »Ja, ja«, sagte der Freund, ohne genau hinzuhören. ›Könnte sich der Leib der heiligen Mutter Natur ändern?‹, philosophierte Than vor sich hin. ›So, wie sich die Jahreszeiten ändern?‹ Hoch über ihm tanzten feine Wolkenschleier im Wind. Bildeten Formen. Lösten sich auf. Versammelten sich zu neuen fantasievollen Gebilden. ›Das Leben flieht. Auf den Herbst folgt der Winter. Das Leben erstarrt im Stein. Im Frühling erweckt die große Mutter alles wieder. Das Leben erblüht neu durch ihre Kraft. Die, die Leben gibt und Leben nimmt. Die LebenGebärerin und die Leben-Verzehrerin.‹ »Dieser verflixte Schuh muss bald erneuert werden. Er ist jetzt schon öfter gerissen. Das Tier, von dessen Haut er stammt, war wohl eine eigenwillige Seele«, schimpfte Jarten vor sich hin. ›Muss der Körper der großen Mutter auch immer wieder erneuert werden? Ist er denn an manchen Stellen gerissen?‹ Ein Wolkenschleier zerriss über ihm in drei ungleiche Fahnen und wehte. Drehte sich, überschlug sich und knäulte sich wieder zusammen. ›Die Alten erzählen, dass sich vor Generationen hier, an eben dieser Stelle, von weit im Norden bis weit im 61
Süden eine gigantische Eisfläche einen Winter über Jahrtausende erzwang. Damals soll das Leben schwer gewesen sein. Kälte und Hunger peinigten die Stämme.‹ »Autsch!«, rief Jarten und riss Than damit aus seinen Gedanken. »Ist denn der Stichel spitzer als sonst?« Than zuckte mit den Augen, um zu seinem unruhigen Freund zu sehen, gab dem Reflex aber dann doch nicht nach und weidete seine Augen wieder in den Tiefen des Himmels. Verfolgte neue Schleier, die sich gegenseitig jagten. ›Fliegen schon die Windgeister des kalten Nordens? Was ist das überhaupt für eine Jahreszeit, die das Land frisst. Der Geist des Wassers, draußen im wilden Meer, zieht immer mehr gutes Jagd- und Fischland in seine Eingeweide. Kommen die Gletscher der Vergangenheit als Wasser wieder und vertreiben die Menschen?‹ Und plötzlich war sie wieder da. Die Angst. Das Gefühl, dass Fürchterliches mit seinem Stamm, der seine Familie und sein Leben darstellte, passiert sei. Etwas krampfte in seiner Brust. Durchlebte sein Stamm auch Jahreszeiten? Zeiten, in denen Leben sprießt und Leben flieht? »Na, wie steht er mir?«, hörte Than wie aus der Ferne. Nur unwillig ließ er seine Gedanken los und schaute auf seinen Freund. Der lag im Gras und streckte ein Bein steil in die Höhe. Seinen Fuß zierte der soeben reparierte Schuh. Deutlich war die noch junge Faser zu erkennen, die er hineingearbeitet hatte. »Wunderbar. Dann können wir weiter«, antwortete Than sachlich und setzte sich wieder auf. »Nein«, beschwerte sich Jarten. »Lass uns erst noch etwas essen. Der Weg ist noch weit.« »Jarten!«, mahnte ihn Than. »Wir müssen weiter!« »Ein schwacher Jäger ist ein schwacher Jäger«, zimmerte Jarten sich einen Lehrsatz zurecht. Dabei kramte er in seinem Rucksack. Unter dem frischen Fleisch wurde er fündig. Er zog 62
zwei handtellergroße Brotfladen heraus und reichte eine an seinen Freund. Dieser nahm das Gebäck aus Emmerkörnern doch dankbar entgegen und klemmte es sich in den Mund. »Wir wollen beim Essen schon weiterlaufen«, kauderwelschte er zwischen den Broträndern aus seinem vollen Mund hervor. Jarten verstand seine Worte nicht, aber wusste, was er meinte. Deshalb packte er alles sorgfältig wieder ein, steckte sich seinerseits den Fladen in den Mund und antwortete: »Gut, so machen wir’s!« Diesmal verstand Than kein Wort und beide schauten sich mit belustigt geweiteten Augen an. Dann ging es weiter. Je weiter sie nach Süden kamen, desto kürzer wurde das Gras. Heidekraut setzte sich hier durch. Wie Inseln verteilten sich Waldbüschel in der welligen Landschaft. Hin und wieder scheuchten sie durch ihren eiligen Marsch eine Hasenfamilie auf. Die schnellen Tiere versuchten hinter Büschen und in Bodenmulden ein neues Versteck zu finden. Viele Heidekrautpflanzen trugen noch weiße bis violette Blüten. Die glockenartigen Farbtupfer im Hintergrund verschiedenster Grüntöne wogten im böig auffrischenden Wind hin und her. Doch für diese kleinen Schönheiten der Natur hatte Than kein Auge. Sein Blick war nach vorne gerichtet. Gegen den Horizont. Dort, wo das Sommerlager stehen musste. Noch konnte es an der Biegung des von Süden nach Westen abknickenden Flusses nicht gesehen werden. Sie näherten sich einem Wäldchen. Than beschloss wie selbstverständlich, ohne sich abzusprechen, den Wald zu umgehen, statt sich durch das Geäst und das Unterholz zu quälen. Die größere Strecke des Umfangs erschien ihm kürzer. Im Abstand von etwa fünf Metern passierten sie die Bäume. So hielten sie bei ihrem Marsch die Ideallinie, die am
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kürzesten war, und wurden doch nicht von herunterhängenden Ästen behindert. Schwer trugen die beiden Jäger an ihren gefüllten Rucksäcken. Jeder hatte seinen Speer in der Hand. Der Bogen, wie auch der Köcher mit den Pfeilen, war über Kopf und Schulter gehängt und seitlich in das Kraxengestell geklemmt, damit die Waffe beim Laufen nicht hin und her baumelte. Von hinten, etwa Nordwesten, blies der Wind jetzt stetiger. Die Wolken wurden größer, die Sonne verschwand immer wieder. Kalt blies es über das Land. Wild ritten Sturmvögel und Raben durch den Himmel. Hier am Wald verfing sich der Wind in den Blättern. Pfeifende und raschelnde Geräusche hüllten die Jäger ein. Wenn Than nach rechts blickte, sah er große Bereiche, in denen das Heidegras wie Wellen wogte. Licht und Schatten flogen über diese Wellen und gaben der Szenerie etwas Unwirkliches. Wie gebannt sah Than dorthin. Jarten folgte. Beider Haar flatterte, obwohl zu Knoten zusammengebunden, in Strähnen dahin. Schlagartig stoppte Than. Urplötzlich blieb er regungslos stehen. Jarten konnte nicht mehr rechtzeitig reagieren. Er versuchte noch einen Aufprall auf seinen Freund dadurch zu verhindern, dass er einen Schritt nach rechts tat, um ihn zu überholen. Blieb jedoch am hölzernen Kraxengestell hängen, riss Than herum und beide fielen längs hin. Im Fallen sah Jarten, warum sein Freund so plötzlich stehen geblieben war. Doch für eine passende Reaktion auf das, was sich dort zeigte, bestand keine Möglichkeit mehr. Der wilde Schrei eines riesigen Auerochsen ließ die Luft erzittern. Er stand direkt vor ihnen. Durch einige Büsche an der Waldbiegung bis zu diesem Zeitpunkt verdeckt. Intensiv roch die Gegenwart dieses Drei-Meter-Tieres, das an der Schulter die Höhe eines ausgewachsenen Mannes hatte. Ein gewaltiges 64
Muskelpaket. Zwei nach vorne gebogene Hörner von jeweils achtzig Zentimetern zeigten drohend in die Richtung der hilflos am Boden Liegenden. Jarten wagte nicht zu atmen. Die Rucksackkraxe war ihm halb über den Kopf gerutscht. Wie gebannt starrte er auf die bebenden Nüstern. Than konnte seinen Sturz etwas abfangen. Er war auf den Knien gelandet, stützte sich mit seinen Händen auf den Boden und versuchte, sich niedrig zu halten. Nur das Tier nicht provozieren! Selbst wenn beide jetzt ihren Bogen mit angesetztem Pfeil in Händen hätten, wäre dies eine hochgefährliche Situation. Die Erde erzitterte, als das mächtige Tier mit einem Huf nervös und aggressiv auf den Boden schlug. Keine zehn Meter vor Than und Jarten riss der Auerochse den Boden auf. Sein mächtiger Kopf senkte sich. Das Gehörn erschien so noch bedrohlicher. Ein paar schnelle Schritte, und er würde beide mit einer lässigen Kopfbewegung aufspießen. Jarten kroch langsam rückwärts. Dadurch rutschte die Kraxe noch weiter über seinen Kopf. Er sah den Auerochsen jetzt nicht mehr. Spürte ihn nur bedrohlich mit all seinen übrigen Sinnen. Than sah seinen Freund streng an, um ihm zu signalisieren, dass er sich vorerst ruhig verhalten sollte, um das Tier nicht weiter zu provozieren. Aber Jarten hörte und sah nichts. Sein Keuchen wurde immer lauter. Beim Rückwärtskriechen umkrampfte er seinen Speer so fest, dass die Knöchel weiß anliefen. Der alte Auerochse stapfte bedrohlich einige Schritte auf sie zu. Than versuchte, die Situation zu retten, indem er auch rückwärts kroch. Allerdings in eine andere Richtung als sein Freund. ›Wir müssen ihn zwischen uns bringen‹, dachte Than bei sich. Sein Vorhaben, gleichzeitig aufzuspringen, wild zu schreien und angriffslustig mit dem Speer zu stochern, ließ sich nicht mehr 65
umsetzen. Er vermutete ohnehin, dass es ungewiss gewesen wäre, den Ochsen derart zu überrumpeln. Das Rückwärtskriechen in verschiedene Richtungen irritierte das Tier. Sein gesenkter mächtiger Schädel schwenkte mal in Thans, mal in Jartens Richtung. Er konnte sich nicht entscheiden, auf welchen Jäger er sich konzentrieren sollte. Er kam nun nicht mehr weiter auf die beiden zu. Sein wütendes Schnauben wurde lauter. Die Situation gefiel ihm überhaupt nicht und machte ihn nur wilder. Irgendwann würde er sich entschieden haben, welcher der beiden Menschen ihm bedrohlicher erschien. Dann wusste er es. Der Wind trug ihm den Geruch des Angstschweißes Jartens in die Nüstern. Die starken Flanken spannten sich. Der rechte Huf schlug ein weiteres Mal schwer auf den Boden auf. Dann galoppierte er los. Beschleunigte seine bullige Masse unmittelbar. Direkt auf den am Boden liegenden Jarten zu. Wegen der Kraxe ahnte er mehr, was sich ereignete, als dass er es sah. Er sprang auf. Schwankte etwas, bis er sicher stand. Sah auf das mächtige Tier. Die Kraxe zog ihn seitlich nach unten. Er strauchelte wieder. Schrie aus Leibeskräften. Hob den Speer. Jetzt durfte Than keine Sekunde mehr zögern. Den Speer im Anschlag, entschied er sich für das Gefährlichste. Er sprang aus dem Liegen nach vorne, auf die Beine. Schrie, dass sich seine Stimme überschlug, und rannte auf das Wildrind zu. Der mächtige Körper zuckte zusammen. Während das Tier jetzt Than fixierte und dieser sich in höchste Lebensgefahr begab, fielen dem mutigen Jäger Nebensächlichkeiten auf, die er sonst nicht beachtet hätte. Das schwarz glänzende Fell zeigte im Bereich der Flanken einen hellgelb-grauen Streifen. Wie gern hätte er das Tier in einer ordentlich geplanten Jagd erlegt. Wie mächtig wäre der Zauber, wenn er diesen Schädel dem Schamanen für rituelle Gesänge übergab. 66
Aber jetzt sah es für Than so aus, als würde ihren Körpern unter diesen erbarmungslosen Hufen das Leben herausgetrampelt werden. Während das Tier Than zum Ziel nahm und sich vorbereitete, ihn mit gesenktem Haupte zu überrennen, fand Jarten seine Kraft und seinen Mut wieder. Wildes Geschrei und provozierende Angriffsgesten mit dem Speer lenkten den Auerochsen wieder auf ihn. Der stapfte verwirrt einige Schritte zurück. Ob dies ein Rückzug war oder ein neuer Anlauf, wollten beide Jäger nicht abwarten und spurteten zum Waldrand. Sofort setzte der Ur zur Verfolgung an. Denn nun befanden sich beide Jäger für ihn wieder in derselben Richtung. Mit wenigen Metern Anlauf erreichte das bullige, riesige Tier eine hohe Geschwindigkeit. Der Boden erbebte, das spürte Than sogar beim Rennen. Dann erreichten die Flüchtenden den Wald. Und liefen einige Atemzüge lang hinein. Hinein in den dichten Wald. Hinter ihnen ein wütender, röhrender Schrei. Vom Waldrand her. Der gewaltige Bulle wagte sich nicht in die Enge des Waldes. Kurz vor den ersten Bäumen bremste er mit einer engen Kurve ab. Ein weiterer Ruf ließ die Luft erzittern. Aber die Gefahr war gebannt. Than und Jarten befanden sich vorerst in Sicherheit. Jarten zitterte. Than setzte erst einmal seinen Rucksack ab. Dann half er Jarten aus dem seinen. Der wusste erst gar nicht, was dieser von ihm wollte, so sehr war er mit sich selbst beschäftigt. Als er es bemerkte, warf er seinem Freund einen dankbaren Blick zu. Als sie später den Wald an einer anderen Stelle verließen, war der Himmel bedeckt. Der kalte Wind blies stetig. »Die Ahnen haben uns beschützt«, sagte Jarten zu Than, der mittlerweile gleichauf mit ihm lief. Than schwieg. Er hatte
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dieses Abenteuer schnell abgehakt, denn er vermutete, dass ihnen das Schlimmste noch bevorstand. »Die Ahnen lassen uns nicht allein. Sie sind stärker als der Geist des mächtigen Ur.« Das Sprechen über das Erlebte schien ihm gutzutun. So konnte er das lebensgefährliche Abenteuer besser verarbeiten. Than hörte nur halb zu und schwieg weiter. Schließlich fing es an zu regnen. Es war ein kalter Regen. Sie näherten sich dem Sommerlager, das sie im ausgehenden Frühjahr hier angelegt hatten. Sein Stamm folgte regelmäßig den nach Norden ziehenden Herden. Im wildreichen, flachen und gewässerreichen Dogaland konnte der Stamm gut leben. Sie suchten sich immer einen anderen Lagerplatz. Er sollte aber an einem fischreichen Fluss liegen, entfernt von den im Westen liegenden Sümpfen. Im Herbst zog der Stamm dann vollgepackt mit verarbeitetem Fleisch, Fell, Horn, Knochen, Beeren, Kräutern, Fisch und vielem mehr nach Süden. Wiederum den Herden hinterher. Zu ihrem Winterlager. Dieses liegt in den Wäldern eines Mittelgebirges, damit die schlimmsten Winterstürme über sie hinwegblasen konnten. Dort lagen auch ihre heiligen Stätten, in tiefen Höhlen. Dort wurde der Geist der Tiere beschworen. Dort wurden die Ahnen befragt. Dort begab man sich auf Traumreise, um den Lebensweg des Stammes in der Zukunft sorgfältig zu überblicken. Der Stamm der Ahnenkinder, wie sie sich selbst nannten, um die Verbundenheit mit den Vorfahren zu zeigen, wollte noch vor dem nächsten Vollmond aufbrechen. Kleine Jagdtrupps mit zwei Jägern, manchen war noch ein Jüngling zugeteilt, hatten sich vor wenigen Tagen auf die letzte Jagd im Dogaland gemacht. »Jarten, sieh!« Than blieb stehen und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf eine Stelle vor ihnen, von der Rauch aufstieg. Seine Stimme klang still verzweifelt.
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»Feuer!«, rief Jarten. »Ein großes Feuer.« Schwarzer Rauch stieg auf, verwirbelte und zog, zu einem breiten Fächer gezogen, nach Süden. Wie schwarzgraue Geister flog er nach oben und wandelte sich im Wind. »Das Lager brennt!« Die leise Stimme Thans verstärkte die Angst, die darin mitschwang. »Sollte wirklich …?«, wollte Jarten fragen. Aber Than ließ seinen Rucksack achtlos nach hinten zu Boden fallen und rannte sofort los. Nur mit dem Speer in der Hand. Er achtete nicht darauf, ob Jarten ihm folgte. Es war ihm egal. Than rannte. An den letzten Büschen und Birken vorbei. Als er die letzte, etwa zehn Meter hohe Bodenwelle erstiegen hatte, stand er plötzlich oben und sah in das Lager hinab. Than kniff die Augen zusammen. Der Atem stockte ihm. Qualm stieg ihm in die Nase und in die Augen. Mit einem wilden Schrei streckte er den Speer weit über den Kopf und lief hinab. Mitten in das Lager hinein. Konnte es denn sein?
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NACHRICHTEN »Sie hören die Nachrichten: Die Polizeidirektion Rosenheim berichtet von einem angeblichen Überfall. Der Fahrer eines österreichischen Transportunternehmens teilte der Leitstelle mit, sein Fahrzeug sei von maskierten Männern gestoppt worden. Seine Ladung sei durchsucht, aber nichts gestohlen worden. Vor Ort konnten die Beamten keinen Personen- und keinen Sachschaden feststellen. Die Gesichter der Täter waren, den Angaben des Fahrers zufolge, mit Sturmhauben bedeckt gewesen. Die Polizei tappt bisher im Dunkeln. Sie ist auf der Suche nach großen schwarzen Jeeps unbekannter Bauart. Sachdienliche Hinweise nimmt die Polizeidirektion Rosenheim oder jede andere Polizeidienststelle entgegen. Gesundheitspolitik: Vertreter der Pharmaindustrie warnten heute anlässlich eines Hearings in Berlin davor, die Gesundheitsreform so zu gestalten, dass in die freie Preisgestaltung von Medikamenten eingegriffen wird. Einschnitte in die Forschung und Entlassungen könnten die Folge sein. Dies würde unweigerlich auf Kosten des Versicherten gehen. Davor müsse er geschützt werden. Es folgt das Wetter.«
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KLOSTER LEYRE Der grauhaarige hagere Mann wollte nicht auffallen. Deshalb kam er mit dem Zug. Ein Reisemittel, welches er sehr selten einsetzte. Bekleidet mit einer grauen langen Hose, die eine Bügelfalte zierte. Diese passte so gar nicht zum etwas locker erscheinenden hellgrauen Sweatshirt mit Kapuze. Trotzdem hoffte er, wie einer der wandernden Pilger zu wirken, die gelegentlich den Weg in diese Einsamkeit fanden. Der ebenfalls graue, mit schwarzen Streifen durchsetzte Rucksack hing schlaff an seinem Rücken. Viel konnte er nicht enthalten. »Monasterio de Leyre … Si … si …«, antwortete ihm die freundliche Alte aus Yesa in ihrer traditionellen, bunten bäuerlichen Kleidung und wies mit der Hand zur Hauptstraße N240. Ein Schwall spanischer Worte und vor allem die ausladenden Handzeichen machten ihn auf eine Abzweigung in einigen Kilometern aufmerksam. Dort solle er einer wenig benutzten Straße zum alten Kloster folgen. Nachdem er die Abzweigung gefunden hatte, führte ihn sein weiterer Weg in Serpentinen bergauf. Alte Eichen säumten seinen Weg. Der Wanderer schritt flott voran. Er war sportlich. Doch sein Atem ging immer heftiger. Die Schatten der Bäume, die er nach jeder Kehre durchschritt, gaben ihm etwas Kühlung. Dies lag jedoch mehr an dem stetigen leichten Wind, der von den felsigen Bergen herabstrich. Der Mann zog den Reißverschluss seines Sweatshirts ganz auf und stapfte verbissen weiter. Hin und wieder gönnte er sich einen Blick in die wildromantische Landschaft mit uralten Bäumen. Ins Tal des blaugrün schimmernden Stausees des Rio Aragon. Auch hinauf, wo er in halber Höhe der Bergkette schon das Dach der Klosterkirche San Salvador durchblitzen sah. 71
Sein Keuchen wurde lauter. Aber er wusste, er würde sich keine Pause gönnen, bis er sein Ziel erreichte. An der nächsten Kehre blieb er wieder stehen. Wenn er etwas in seiner jahrzehntelangen Arbeit beim Geheimdienst seines Landes gelernt hatte, so war dies Orientierung. Blitzartiges Erfassen von Zusammenhängen. Schnelles Treffen von Entscheidungen. Gelegenheiten, die sich bieten, sofort zu realisieren und zu nützen. So auch hier. Ein Blick auf die Karte, dann hinauf zum Dach der Kirche, und er erkannte, dass er hier abkürzen konnte. Der Trampelpfad ging steil nach oben. Ohne lange zu überlegen, folgte er diesem. Er war der Typ Mensch, der lieber eine kurze Zeit höchste Anstrengungen vollbrachte, als lange Zeit routinemäßig zu funktionieren. Schwer keuchend erreichte er das Klosterplateau. Überquerte den Weg, der längs entlang des Grundstückes führte und setzte sich schließlich auf ein kleines Mäuerchen, das einen Rasen abgrenzte. Während er sich schnell wieder erholte, betrachtete er den hellen rötlichbraunen Stein, aus dem die Klosteranlage im neunten Jahrhundert erbaut wurde. Der mit viel Grün umgebene romanische Gebäudekomplex strahlte Ruhe auf den Wanderer aus. Er spürte dies fast körperlich. Er, der immer im Hintergrund und im Geheimen tätig war, verwickelt in einen geheimen Krieg, um sein Land zu schützen, kannte den Wunsch, auszubrechen. Zu verschwinden. In Ruhe und Einsamkeit. Wie hier. Sein Rundblick führte ihn hinauf in den Fels, wo die Burg von Javier förmlich im Felsen klebte. In diesem Moment hörte er ein Geräusch. Ein metallenes Klirren. Dies erinnerte ihn daran, dass er nicht ohne Grund hier heraufgestiegen war. Mit einem leisen Stöhnen stand er auf und streckte seine beanspruchten Glieder. Um die Quelle des Geräusches zu finden, musste er an der Ostseite entlang. Zwei ineinander gebaute Rundtürme 72
unterstrichen die Besonderheit der sonst sehr rechteckig gestalteten Baulichkeit. Als er das Ende der Ostseite erreichte, erhob sich vor ihm der schroffe Kalkstein der Sierra de Leyre. Der Mann bog auf die Nordseite. Passierte den Rundbogen des Nordeinganges, der von zwei Säulen getragen wurde. Rechts, bis zur Felswand hin, zeigte sich ein umfangreicher Garten, der mit mehr oder weniger dichten Büschen von der Umgebung abgegrenzt war. Darin stand eine Art Gästehaus. Es schien, als sei das Geräusch aus diesem Garten gekommen. Er näherte sich einem schmiedeeisernen Gittertor. Eben wollte er es öffnen, da wurde er von hinten angerufen: »Parada! Parada!« Blitzartig drehte er sich um. Sein Gesicht spannte sich an. Die Lippen wurden zu feinen Strichen. Reflexartig steckte er seine rechte Hand unter die Jacke. Sein Griff ging ins Leere. Schulterhalfter und Inhalt waren im Rucksack verstaut, fiel ihm wieder ein. Aber er hatte sich ohnehin vorgenommen, es auf dieser Mission mit Freundlichkeit und Lächeln zu versuchen. Eine Strategie, die ihm nicht selbstverständlich war. »Gott zum Gruße«, formulierte der Hagere unsicher. Er wollte nichts falsch machen. »Klausur! Der Garten darf nicht besucht werden. Unsere Kirche San Salvador steht Ihnen für Ihre Andacht zur Verfügung.« Ein rundlicher Mann im blauen Arbeitsanzug und mit Tonsur stand da und machte ein Gesicht, das keinen Widerspruch duldete. Der Fremde kam sich als Störenfried vor. »Wann ist die Klausur beendet?«, fragte der Wanderer höflich. Aber der Mönch hatte sich schon wieder abgewandt. »Sechzehn Uhr dreißig! Dann ist Gottesdienst«, antwortete er unwillig und aggressiv.
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»Ich suche einen Mönch …«, versuchte der Wanderer weiter zu fragen, aber der unfreundliche Arbeiter ging weiter. Bevor er um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal um und rief: »Vamos!«, was wohl bedeutete, dass er schnell den Torbereich des Gartens verlassen sollte. Auch wenn es nicht seiner Natur entsprach, so nahm er sich vor, sich zu fügen. Er wollte hier nicht den wilden Cowboy heraushängen lassen. Also tat er, wie ihm geraten wurde. Er ging zur Klosterkirche. Quietschend öffnete sich der alte Türflügel. Ein kühler Luftzug kam ihm entgegen. Er versuchte, die alte, schwere Türe hinter sich leise zu schließen, was aber nicht möglich war. Das durchdringende Geräusch hallte laut durch das hohe Gewölbe. Das Gotteshaus schien innen viel größer als von außen. Kahle, schmucklose romanische Bögen trugen den hohen Raum. Irgendetwas schien hier anders als in anderen Kirchen. Nicht, dass er schon viele von innen gesehen hätte. Als er nach oben blickte, sah er, dass der dreischiffige romanische Ostteil in einen einschiffigen Westteil überging. Über ihm trug, wie zierliche und doch starke Arme, ein Kreuzrippengewölbe das Dach. Er ging den Mittelgang langsam nach vorne. Spürte, wie mit jedem Schritt der umbaute Raum in irgendeiner Form auf ihn wirkte. Als er den Mittelbereich erreichte, rutschte er nach rechts in eine Bank und setzte sich nieder. Langsam fuhr er mit dem Blick die Bögen hinunter. Jetzt erst fiel ihm auf, dass eine Person, die wie ein typischer Jakobspilger gekleidet war, vor dem Altar kniete und betete. Links saß eine andere Person mit gesenktem Haupt, in sich versunken. Er hatte sich, seit er bei der Organisation arbeitete, nie sicher gefühlt. Überall vermutete er Feinde, die er bekämpfen musste. Feinde, die ihn oder sein Land vernichten wollten. Aus diesem
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Grund wusste er nicht, was er seit dem Betreten dieses Hauses verspürte. Es war ein neues Gefühl. Ein unbekanntes Gefühl. ›Ich fühle mich sicher‹, sprach er in Gedanken aus. Eine Sicherheit, die er so nicht kannte. Widerwillig schüttelte er diese jetzt plötzlich für ihn unnützen Gedanken und Gefühle ab. Ein Blick auf seine Uhr zeigte: vierzehn Uhr dreiundfünfzig. Die Zeit bis zum Gottesdienst konnte er hier ruhig abwarten. Es gab für ihn keinen Grund, jetzt hektisch zu werden und das Unternehmen dem Risiko auszusetzen, bekannt zu werden. Er wollte sich wie die anderen Pilger benehmen. Ein kurzer Blick nach links. Er senkte sein Haupt, wie der Pilger dort. Dann noch ein kurzer Blick nach rechts. Da saß jemand! Überrascht über sich und seine sonst so sicheren Instinkte, musste er feststellen, dass er die Person, etwa zwei Meter neben ihm in der Bank, noch nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht war es doch besser, wenn diese Mission bald beendet wurde. Dieses Kloster wirkte auf ihn so anders als andere Orte. Er fürchtete sich ein wenig vor sich selbst. Die in eine dunkelgrüne Kniebundhose und ein weites, kariertes, mit roten Streifen versetztes Hemd gekleidete Frau bemerkte seinen Blick und strahlte ihn mit einem klaren Lächeln an. Er konnte ihr Alter schlecht schätzen. Gebräunt von der Sonne, mit nackten Waden und braunen Wanderschuhen, wirkte sie alterslos. Die braunen schulterlangen Haare hingen wild herunter. Dieselbe Brise, die ihn beim Aufstieg gekühlt hatte, war wohl für diese wilde Haarpracht verantwortlich. Die kleine, dünne, aber agil wirkende Frau mochte zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahre alt sein. Genauer konnte er es nicht eingrenzen. Er schaute sie von oben nach unten an. Die Schuhe waren aufgeschnürt, um den Füßen etwas Entlastung zu gönnen. Jetzt fiel ihm auf, dass er sie schon zu lange musterte. Er wollte nicht
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unhöflich sein, lächelte verlegen zurück und senkte sein Haupt wieder nach vorne. »Hallo«, grüßte die Pilgerin mit leiser Stimme. Als Antwort nickte er nur und murmelte etwas, das wie ein ›Hallo‹ klingen könnte. Dabei huschte sein Blick über ihre strahlenden Augen. »Auch auf Jakobs Spuren?«, fragte sie. Er zögerte mit der Antwort. Denn er musste sich kurz seine Aufgabe und sein geplantes Ziel wieder vergegenwärtigen. »Ja …, ich bin auch ein Pilger«, antwortete er und versuchte, dabei freundlich zu lächeln. Da sein Gesicht dieses Muskelspiel nicht gewöhnt war, verzogen sich seine schmalen Lippen nur in die Breite. »Noch nicht sehr lange, oder?«, fragte sie weiter. »Warum?«, zuckte er zusammen. Fast fürchtete er, dass seine Tarnung aufflog. »Die Schuhe sind zwar staubig, aber die Sohle scheint noch keine hundert Kilometer in Gebrauch zu sein.« »Ach so, ja«, wirkte er erleichtert. »Ich bin bis nach Pamplona mit dem Zug gefahren. Ich hab nicht so viel Urlaub. Wie das halt so ist.« »Ich nehme mir gerade eine Auszeit aus meinem Leben. Das ist alles ein geistliches Abenteuer für mich. Mein Name ist übrigens Petra. Petra aus der Pfalz.« Sie hielt ihm ihre feingliedrige Hand hin. Er war überrascht. »Aus Deutschland«, ergänzte sie. Er ergriff die Hand. »Smith. Ääähhh … Peter«, ergriff er die Hand zum Gruß. Sein sonst üblicher kurzer, fester Händedruck veränderte sich spontan – leicht und zart. Er wollte ihr auf keinen Fall weh tun. Bewunderung stieg in ihm auf. Sie erzählte von ihrem Beruf und vier Kindern. Von ihrer Aufopferung. Von dem gewachsenen Wunsch, wenn die Kinder alt genug waren, um einige Zeit auf 76
sie verzichten zu können, für drei Monate auszusteigen. Auf dem Jakobusweg sich selbst zu finden. Neuen Sinn und neue Kraft für ihr weiteres Leben finden. Bis der Gottesdienst begann, wollten beide noch einmal um das Klostergelände spazieren. »Was trieb Sie auf den Pilgerpfad?«, versuchte Petra auf den Grauhaarigen zu schwenken. In diesem Augenblick kamen sie an einem kleinen Schild vorbei, das den Weg zu einer nahen Quelle wies. Ohne sich abzusprechen bestand unausgesprochenes Einverständnis, diesem Weg zu folgen. Da die beiden nur so vor sich hin schlenderten, hatte Petra ihre Wanderschuhe nicht mehr gebunden. Sie waren noch immer locker geöffnet und die Schnürsenkel schleiften hinterher. Die Unterbrechung, die die Abzweigung zur Quelle in ihrem Gespräch zur Folge hatte, kam ihm gerade recht. So wurden ihm ein paar Augenblicke mehr zum Nachdenken gewährt. »Mmmhhh …, es ergab sich spontan. War nicht geplant«, antwortete er und hatte das Gefühl, dass es eigentlich wahrheitsgemäß war. »Wie?« Ihr Blick zeigte ihm, dass seine Antwort doch nicht optimal war. Er wurde unruhig. »Spontan? Ich habe viele Wochen daran geplant.« »Vielleicht liegt es daran, dass ich ungebundener bin und nicht so viel unter einen Hut bringen muss«, versuchte er zu retten. »Was machen Sie, wenn Sie nicht pilgern?«, bohrte sie mit freundlichem Gesicht weiter. Jetzt wollte er sich nicht mehr verunsichern lassen. Seine Antworten klangen eher wie fertige Statements. »Ich arbeite seit vielen Jahren für eine international operierende Organisation. Dabei bin ich viel in der Welt herumgekommen. Eigentlich zu viel.« Den grauhaarigen Pilger durchfloss das Gefühl, dass er den richtigen Einstieg gefunden 77
hatte. »Irgendwann habe ich gemerkt, dass das viele und hektische Reisen mich von mir immer mehr weggeführt hat. Beim letzten Stopp in Spanien war dann klar, dass ich einige Tage auf dem berühmten Weg wandere, um mich selbst wiederzufinden.« »Ja, haben Sie das auch schon gemerkt? Je schneller man wird, desto mehr kommt man von sich weg. Je langsamer man sich bewegt, desto eher hat die Seele wieder die Möglichkeit, sich selbst einzuholen.« Sie erreichten die Quelle. Ein kleines Rinnsal plätscherte aus dem Fels. Davor befand sich eine knöcheltiefe Pfütze mit glasklarem Wasser. Petra beschleunigte mit einem kleinen Jauchzer die letzten Schritte, schleuderte lustvoll ihre Wanderstiefel nach links und rechts weg. Genüsslich rannte sie in das Wasser, dass es nur so spritzte. Am gegenüberliegenden Rand der etwa zwei Meter breiten Wasseransammlung ließ sie sich auf den Boden nieder. Die Füße weiterhin im klaren Nass kühlend. Ihr Begleiter fand die Szenerie, die ihm die Pilgerin an der Quelle bot, anheimelnd. Er fühlte sich wohl. Ein verschüttetes Gefühl. Es hatte lange Zeit in seinem Leben keinen Platz. Nur Auftragserfüllung und Dienst. Lächelnd folgte er ihrem Beispiel. Hatte dabei aber das Gefühl, etwas Kindisches zu tun. Wunderbar. »Das tut gut«, sagte sie. »Herrlich kühl«, bestätigte er lächelnd. Dabei fiel ihm auf, dass er schon lange nicht mehr so viel wie heute gelächelt hatte. Ihre Blicke trafen sich und ruhten aufeinander. Bevor sie wieder anfing unangenehme Fragen zu stellen, übernahm er die Initiative. »Wenn Sie den Weg hinter sich haben, geht dann Ihr Leben ganz normal weiter?«
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»Ganz normal und, ich hoffe, doch irgendwie neu. Mein ältester Sohn ist achtzehn. Meine Jüngste sieben. Ich liebe meine Familie und könnte mir auch nichts anderes vorstellen. Was mich hinausgetrieben hat, war das Gefühl, dass ich nur noch funktionierte, wie ein Zahnrädchen. Ich will wieder ich werden. Dann, wieder meiner selbst bewusst, zurückkehren und mit neuer Kraft und neuen Einsichten mein Leben weiterführen. Verstehen Sie mich, ich wollte nie weglaufen …« Sie sah ihn an, als wäre es ihr sehr wichtig, dass er genau diesen Punkt verstand. »Ich verstehe. Aber ich könnte auch verstehen, dass man nach so einem Erkenntnispfad sein altes Leben so nicht mehr weiterführen könnte.« »Macht Ihnen das Angst? Ist Ihr Leben renovierungsbedürftig?«, fragte Petra interessiert, ohne zu ahnen, dass sie eine verborgene Wunde aufbrach. Der Grauhaarige blickte in unbekannte Ferne. Seine Lippen pressten sich wieder aufeinander und bildeten den typischen schmalen Spalt. Mehrmals versuchte er eine Antwort zu formulieren. »Ich meine …« Er atmete schwer aus. »Vielleicht ist es …« Er rang um Worte. »Ich liebe meine Familie«, betonte Petra noch einmal. »Ich will mein Leben so, auch wenn es mitunter sehr anstrengend ist. Diese Auszeit soll mir nützen neue Kraft und Einsicht zu schöpfen. Haben Sie keine innere Sicherheit für Ihr Leben?« Jetzt blickte er ihr wieder direkt in die Augen. »Es mag in Ordnung gewesen sein. Aber jeder Mensch entwickelt sich weiter. Es mag der Tag kommen, an dem ich einen anderen Weg wählen werde.« Ihm war sehr klar, dass diese Antwort ein Mogeln war. Das Geläut der Glocken von San Salvador rief zum Gottesdienst. Er zog seine Wanderschuhe an, 79
als Zeichen, dass er jetzt zurückkehren wollte. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Der letzte Ton des gregorianischen Gesanges der Benediktinermönche verklang. Schweigend verließen sie die Kirche. Ohne aufzufallen, hatte der grauhaarige Agent den Gesuchten betrachtet. Es bestand für ihn Klarheit. Die Informationen, die er bekommen hatte, waren richtig. Er war es. Der Mönch in der dritten Reihe des gregorianischen Chores war der ehemalige Chef der bewaffneten Geheimtruppe des Vatikans. Offiziell ein befreundeter Geheimdienst. In der Realität gab es nur Zweckbündnisse, die sehr unsicher und kurzlebig waren. Jeder Dienst war nur auf seinen Vorteil beziehungsweise auf den Vorteil des Auftraggebers bedacht. Smith nahm sich vor, den Gesuchten unmittelbar nach Beendigung des Gottesdienstes anzusprechen. Der letzte mehrstimmige Ton verhallte im hohen Kirchenschiff. Andachtsvoll lauschten alle Anwesenden, wie der wundervolle Akkord langsam immer leiser wurde. Schließlich glaubte man ihn noch zu hören, aber er klang wohl nur im Inneren nach. ›Jetzt den Anschluss an die Mönche nicht verpassen‹, spornte sich der grauhaarige Pilger an. Die Mönche verließen ihren bevorzugten Platz in den rechten vorderen Reihen. In sauber aufgereihter Formation schritten sie zum Ausgang. Der graue Pilger konnte seine Reihe nicht verlassen. Zu viele weitere Jakobswanderer hatten sich hier eingefunden. Es war ein beliebter Platz, um den Abend in Andacht und die Nacht zu verbringen, bevor sie morgen der Weg weiter führte. »Ich konnte der Gregorianik nie etwas abgewinnen«, flüsterte die neben ihm sitzende Petra ihm zu. Da schaute sie ihn an. »Aber hier und heute bin ich sehr ergriffen worden.« Ein leises glückliches Seufzen war zu hören. 80
Der Grauhaarige wurde unruhig. Schaute dem letzten Mönch hinterher, der das Portal soeben durchschritt. »Ich muss noch einmal …, Entschuldigung«, sagte der grauhaarige Mann und drängelte sich durch die jetzt langsam aufstehenden Gottesdienstbesucher. Petra lächelte ihm hinterher. Er schob sich durch, achtete aber darauf, sich nicht ungebührlich zu verhalten. Mit einem »Verzeihen Sie!« hier und einem »Darf ich bitte vorbei?« dort bahnte er sich seinen Weg. Vergaß dabei völlig die mit Weihwasser durchzuführende Bekreuzigung. Aber es achtete niemand auf ihn. Zu sehr hingen die Besucher noch an dem eben beendeten Gottesdienst. Endlich draußen. Er blickte einmal herum. Die Mönche schienen sich aufgeteilt zu haben. Einige liefen zu einem benachbarten Haus, andere um das Nordosteck herum. Smith stand vor den Säulen der Rundtürme des Eingangs zur Klosterkirche San Salvador. Er wollte die Zielperson auf keinen Fall verlieren. Er wusste nicht, wohin jetzt. Unhöfliche Bedienstete wollte er nicht mehr fragen, falls es nicht unbedingt nötig sein sollte. Seinem Instinkt nach musste er nach links. Also lief er mit schnellen, ausladenden Schritten zum heckenumgrenzten Garten, an dem er heute Nachmittag abgewiesen wurde. Aus den Augenwinkeln sah er Petra aus der Kirche kommen, aber sein Auftrag war wichtiger, als mit ihr den Weg in den Speisesaal zu suchen. Das eiserne Tor zum Garten war nur angelehnt. Es quietschte beim Öffnen. Natürlich! Damit jeder im Umkreis hörte, was er tat. Aber er war nicht den langen Weg hierher gekommen, um sich jetzt durch Ordensregeln aufhalten zu lassen. Ein Mönch in brauner Kutte beugte sich am Rande des Gästehauses nach vorne. Smith ging auf ihn zu. Er achtete zwar darauf, nur den Pfad zwischen den Beeten des Nutzgartens zu 81
benutzen, aber nicht zu sehr. Es musste noch einen anderen Zugang geben. Die kleinen geschotterten Wege konnten es nicht sein. Der Mönch hielt einen Wasserschlauch und reinigte Gartengeräte. Unter der nach oben gezogenen Kutte sah man die Sandalen, in denen nackte Füße stecken. »Hallo! Entschuldigung!«, sprach er den Mönch an. »Ich suche den Mönch, der aus Rom hierher versetzt wurde. Bruder, äähh …«, er fingerte einen Zettel aus der Hosentasche, entfaltete ihn und las in der schlechten Kopie eines Personalbogens des Vatikans. »Pater Iscariot.« Dabei las er das Wort langsam, um es nicht falsch auszusprechen. »Ja, so heißt er!«, bekräftigte er noch einmal. Der Mönch ließ sich in seiner Arbeit nicht stören. Er blickte nicht einmal auf. In aller Ruhe lehnte er die gereinigte Schaufel an die Wand und nahm sich die Hacke vor. Der Wasserstrahl plätscherte ohne großen Druck auf die Zinken. »Es ist wichtig, ich muss ihn sprechen.« Die frische Erde löste sich. Der Mönch drehte und wendete die Hacke, damit kein Schmutz übrig blieb. »Es hängt sehr viel davon ab, dass ich ihn treffe. Auch für Ihre Kirche«, versuchte Smith es mit einer versteckten Anspielung. Dies zeigte Erfolg. Der Mönch sah ihn an. Ausdruckslos. Dann stellte er die Hacke beiseite und nahm sich einen Rechen vor. Mehr Erfolg zeigte es jedoch nicht. Der Grauhaarige wollte seine Zeit nicht weiter verschwenden und suchte auf eigene Faust weiter. Er umrundete das Gästehaus. Ein weiterer Mönch arbeitete dort. Mit einer kleinen Gartenschere beschnitt er eine Kletterrose. Hier war ein wohl gepflegter Blumengarten, der mit viel Liebe angelegt und erhalten wurde. Smith erkannte an der Statur sofort den gesuchten Pater. Gespannt ging er auf ihn zu. Um ihn nicht zu erschrecken, blieb 82
er einige Meter von ihm entfernt stehen und stellte seinen Rucksack auf den Boden. »Pater Iscariot?« Der Angesprochene drehte sich um. Überrascht starrte er auf die Person. Scheinbar hatte er nicht vermutet, solchen Besuch zu bekommen. Wenige Augenblicke später fasste er sich aber und wandte sich wieder seinen Rosen zu. Von dieser Reaktion genervt, ging Smith weiter auf ihn zu. »Endlich habe ich Sie gefunden! Wir müssen uns unbedingt unterhalten.« Als Antwort hörte er das schnippende Geräusch der Schere. Smith überlegte, ob er den Pater nicht an der Ehre packen sollte. »Das war nicht fair!« Mit einer Kunstpause ließ er diese Worte auf ihn wirken. Es kam aber nichts. »Das haben Sie nicht verdient, was man mit Ihnen gemacht hat«, sprach der grauhaarige Pilger weiter. Sorgsam legte der Pater eine abgeschnittene Blüte in einen bereitstehenden Korb. »Dabei sind Sie auch nur ein treuer Diener Ihres Herren«, versuchte Smith es weiter. »Genau wie ich.« Der Pater sah den Besucher kurz an, sodass dieser glaubte, er würde sich jetzt auf das Gespräch einlassen. Aber dann bückte sich dieser nur und schob den Korb mit den Blüten einen Meter weiter. Dort führte er seine Arbeit weiter fort. »Sie wollen doch auch, was wir wollen. Lassen Sie uns unsere Kräfte bündeln. Unsere Ressourcen koppeln. Unsere Netzwerke verknüpfen.« Nachdem der Pater immer noch nicht ansprang, setzte der grau Gewandete die entscheidende Information nach. »Wir haben Verdachtsmomente dafür, dass das Gesuchte nicht vernichtet ist.« Jetzt hielt der Pater plötzlich inne. Er starrte auf die Rosenblüte, mit der er sich gerade beschäftigte. Smith sprach weiter. »Der Geologe Wagner lebt. Dieser Querkopf Pater Benedikt auch.« Smith versuchte aus der Körperhaltung des 83
Schweigsamen auf dessen Gedanken zu schließen. Er blickte unverwandt auf die Blüte. »Die sollten eigentlich tot sein. Wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre. Erst der Zusammenbruch des Brunnens im Dom und dann das Feuerinferno Ihrer Bombe. Eines allein hätte schon reichen müssen, die zwei Sonntagsarchäologen ins Jenseits zu befördern.« Noch immer keine Reaktion vom Pater. »Sie leben! Pater Benedikt wurde sogar nach Rom berufen!« Smith hatte sich in Rage geredet. »Die leben! Verstehen Sie das?« Irgendein unverständliches Murren oder Hüsteln war vom Angesprochenen zu hören. Nachdem aber kein Wort seinen Mund verließ, sprach Smith weiter. Er bemühte sich jetzt sichtlich, leiser zu sprechen, was seinen Worten eine zusätzliche Dramatik verlieh. »Was wäre, wenn die das hätten? Was wäre, wenn man Sie hier abgestellt hätte, damit die falschen Kräfte in Rom Oberhand gewinnen? Das heidnische Artefakt in der Hand von Laien?« Smith versuchte, sich wieder etwas zu beruhigen. Jetzt löste der Pater seine Starre und ließ von der Blüte ab. Smith hätte viel gegeben, um zu erfahren, was im Kopf dieses Mannes vorging. Hatte er über seine Worte nachgedacht oder doch nur entschieden, dass diese Blüte noch für ein paar Tage gut ist? Pater Iscariot warf die Gartenschere auf die verwelkten Rosenblüten in seinem Korb. Nahm diesen auf und trug ihn davon. Ohne Smith noch eines Blickes zu würdigen. Fassungslos blieb dieser zurück. Er hatte alles gegeben. Hinterherlaufen brauchte er nicht, das war ihm klar. »Vamos! Vamos!« Der Mann im Arbeitsanzug näherte sich unversehens. Sein ausgestreckter Arm zeigte in eine Richtung, in der sich nur der nächste Ausgang befinden konnte. Smith trottete davon. 84
Warum war er hier, fragte er sich, als er wieder auf dem kleinen Steinmäuerchen saß, auf dem er heute bei seiner Ankunft schon gesessen hatte. War sein Anliegen an den ehemaligen Leiter des geheimen Kommandos des Vatikans so übertrieben? Er verstand den Mann nicht, den er als Kollegen bezeichnen konnte. Warum schnitt er Rosen, während draußen ihre Grundsätze von Stärke und Macht in Frage gestellt wurden? »Keinen Hunger?« Petra setzte sich neben ihn. »Wie?«, musste sich Smith erst orientieren. »Nein. Ja. Vielleicht doch ein bisschen.« Er sah gedankenverloren und verwirrt aus. »Sie waren nach dem Gottesdienst gleich verschwunden. Ich habe in der Zwischenzeit das Refektorium ausfindig gemacht.« »Das was?«, fragte Smith nach, dem der Begriff nicht vertraut war. »Das Refektorium ist so eine Art Speiseraum für die Mönche. Aber auch für die Pilger«, erklärte Petra. »Dann gehen wir was essen«, sagte Smith und stand auf. »Ist irgendetwas geschehen?«, fragte Petra besorgt, die einen Stimmungswandel hinter dem schwer durchschaubaren Gesicht zu erkennen glaubte. Langsam schlenderten sie nebeneinander her. »Nein. Ja. Vielleicht …«, stotterte Smith vor sich hin. »Die Mönche hier scheinen etwas schwierig zu sein.« »Schwierig? Wie meinen Sie das? Haben Sie mit einem, der ein Trappistengelübde abgelegt hat, versucht, ein Gespräch anzufangen?«, sie grinste über das ganze Gesicht. Smith war verunsichert. »Trapp … was?« »Sehr viele Klöster haben Sie aber auf dem Pilgerpfad noch nicht aufgesucht. Ach ja«, erinnerte sie sich, »Sie haben ja erst 85
in Pamplona begonnen.« Mit einem lehrmeisterlichen Gesicht fing sie an zu erklären: »Trappisten sind Mönche, die sich einem Schweigegelübde unterworfen haben. In seltenen Fällen soll das Gelübde auch von der Obrigkeit auferlegt werden, um Mönche zu erziehen. Aber ich glaube nicht, dass die Oberen heute noch so mit ihren Leuten umgehen. Bestimmt hat es das aber früher gegeben. Das Schweigegelübde legt man sich meist selbst auf, um spirituell zu reifen.« Petra beobachtete im Gesicht ein leises Aufklaren, aber dennoch war dieser Mann für sie ein Rätsel. »So, so«, war die einzige Reaktion. »Sie bräuchten so ein Gelübde nicht. Sie sprechen ohnehin wenig. Keiner würde den Unterschied merken.« Leise kicherte Petra vor sich hin. »Ich habe das Gefühl, dass ich die letzten Stunden pausenlos geplappert habe und Sie nur schweigend zugehört haben.« Smith lächelte vor sich hin. »Sie führen bestimmt ein sehr zielstrebiges Leben und lassen sich nicht von anderen vorschreiben, was Sie tun und lassen sollen. Ich habe den Eindruck, Sie ruhen fest in sich. Mich selbst fühle ich immer gehetzt. Von Ihrer inneren Ruhe möchte ich ein Stück abhaben.« »Ich bin kein Vorbild. Mein Leben ist kein Vorbild. Sie sind die Stärkere von uns beiden, die fest auf der Erde steht.« Unvermittelt blieb Smith stehen und fasste Petra an beide Hände. Bedeutungsvoll sprach er weiter: »Seien Sie mir bitte nicht böse. Ich muss sofort zurück.« Verlegenheit huschte über sein Gesicht, weil er es hasste, sie zu belügen. »Ich bin noch nicht reif für den Pilgerpfad. Aber, glauben Sie mir, Sie haben mich viel gelehrt. Mehr als Sie vielleicht glauben.« In Petras Gesicht spiegelte sich Ungläubigkeit über das Gehörte und Enttäuschung wider. »Was?« Als hätte sie nicht verstanden. »Ich muss gehen. Jetzt.« Er führte ihre beiden Hände hoch und küsste sanft beide Handrücken. »Verzeihen Sie mir.« 86
Militärisch korrekt wendete er und lief auf den Trampelpfad zu, auf dem er die letzten Meter auf seinem Weg hierher abgekürzt hatte. Er drehte sich nicht mehr um. Petra verstand nichts. Erst als er unter den alten Eichen verschwunden war, lief sie verstört weiter zum Refektorium. Smiths Gefühle waren durcheinander geraten. Einerseits hatte er sein Ziel nicht erreicht, aus Gründen, die er nicht nachvollziehen konnte. Andererseits verunsicherte eine deutsche Pilgerin sein so geradlinig anmutendes Leben. Die Frage, ob es so in Ordnung sei, drängte er beiseite. Als er den Trampelpfad verließ und auf die Serpentinenstraße stieß, ließ er missmutig seinen Rucksack herabgleiten. Kramte sein Handy heraus. Rief ein Taxi. Dass der Taxifahrer verwundert über den ungewöhnlichen Pilger war, bemerkte Smith gar nicht. Vor sich hinbrütend saß er im Zug in Pamplona. Jetzt hieß es, die Lage zu sondieren und neu zu überdenken. »Mist!«, schimpfte er in sich hinein. Legte den Kopf gegen die Seitenlehne seines Fensterplatzes und schloss die Augen. Der Zug rollte an. Reisende liefen im Flur vor dem Abteil hin und her, auf der Suche nach einem Sitzplatz. Die Schiebetür öffnete sich. Ein Benediktinermönch, verhüllt in seine Kapuze, trat ein und setzte sich auf den gegenüberliegenden Platz. Er verschränkte die Arme und seine weiten braunen Ärmel. Smith linste, verärgert über die Störung, durch die Augenlider. Dann schloss er sie wieder. »Ich bin nicht Ihr Handlanger«, sprach der Mönch unvermittelt.
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Überrascht riss Smith die Augen auf. Der Mönch nahm mit einer geheimnisvollen Bewegung seine Kapuze ab. Es war Pater Iscariot! »Denen die katholische Kirche am Herzen liegt, werden sich über Ihre Entscheidung sehr freuen«, bekräftigte Smith. »Reden Sie nicht über Dinge, die Sie nicht verstehen. Sagen Sie mir lieber, wie Ihr Plan aussieht.«
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MUSEUMSBESUCH »Hiiiilllfffeeee!« Jemand schrie aus Leibeskräften. Tristan verhandelte mit der Kassiererin über einen Familienpreis. Alana blätterte interessiert im neuesten Katalog des Museums. Seit ihrem letzten Besuch hatte sich viel geändert. »Für ein Kind wird bei uns kein Eintritt verlangt«, klärte die Mitarbeiterin auf. Als sie den Preis für zwei Erwachsene nannte, rief Tristan aus: »Das ist ja fast geschenkt!« »Bei uns steht auch mehr der Bildungsaspekt im Vordergrund. Wir sind kein Freizeitpark. Wenn Sie uns unterstützen wollen, sehen Sie sich bitte unsere Druckschriften an.« Sie drückte ihm zusätzlich ein kleines Infoblatt über fördernde Mitgliedschaft in die Hand. »Hiiiilllfffeeee!«, hallte es erneut durch die Räume. Nebenan schien sich jemand in höchster Not zu befinden. »Nein, nein!«, war eine tiefe Stimme vom Eingang zu hören. »Diese Herrschaften bekommen hier in der Kaiserpfalz zu Forchheim keine Eintrittskarte.« Tristan drehte sich erschrocken um. Es kam ein großgewachsener, etwas korpulenter Herr im kariert gemusterten Anzug herein. Seine Krawatte zeigte ein Logo, das schemenhaft gezeichnet die hochmittelalterliche Burg darstellte, in der sie sich befanden. Alana ließ den Katalog sinken. Strahlte über das ganze Gesicht, da ihr die Stimme sehr bekannt vorkam. »Michel!«, sprach sie ihn erfreut an. Tristan und die Kassiererin starrten für einen langen Augenblick auf den Herrn, als verstünden sie noch immer nicht, was er ihnen gesagt hatte. »Alana!« Er kam mit gönnerhaft lächelndem Gesicht, leicht zur Seite geneigtem Kopf und einladend ausgebreiteten Armen 89
auf sie zu. Als er Alana erreichte, nahm er mit beiden Händen die ihrige und hauchte einen Handkuss darauf. Als würde sie verlegen dreinschauen, schlug sie ihre Augen nieder. »Immer noch der alte Charmeur.« Sie genoss die Szene sichtlich. Dann nahm der Tristan völlig unbekannte Mann Alana mit einer Hand bei der Hüfte, ohne mit der Hand die ihrige loszulassen. So schlenderten sie zur Kasse. »Herr Direktor?«, stammelte die Kassiererin, die keine Ahnung hatte, was sie nun mit den beiden Besuchern machen sollte. »Die Herrschaften sind meine Gäste«, sagte er zu ihr gewandt. Dann zu Alana: »Der Herr mit dem unsicheren, vielleicht eifersüchtig erscheinenden Blick ist Ihr Begleiter?« »Ja. Tristan Wagner. Er ist von der Uni Erlangen. Geologie«, stellte Alana kurz vor. »Sehr angenehm«, grüßte der Direktor. »Ich würde Ihnen gern die Hand schütteln, aber ich habe gerade keine frei.« Er küsste Alana noch einmal auf ihre Hand. »Das ist Michael Rotmann«, stellte Alana vor. Dann wurde sie durch den Kassenbereich geschoben. Für weitere Erklärungen an Tristan verrenkte sie ihren Kopf nach hinten. »Dr. Rotmann, Direktor dieses Museums.« »Hiiiilllfffeeee!«, schrie es erneut. »Dann wollen wir mal die Person aus ihrer Gefahr erretten«, sagte der Direktor und beide gingen zum ersten Ausstellungsraum. Tristan versuchte, den Anschluss nicht zu verlieren. »Hilfe! Ich werde gefressen!«, rief Sophia. Ihre rechte Hand hing in den starken Kiefern eines diabolischen Dämons. Sie zog verzweifelt an dem Arm, aber er ließ sich nicht lösen. 90
Die etwa einen Meter große Steinskulptur sah schrecklich aus. Hörner, spitze Ohren, wolfsähnliche Fangzähne und stechende Augen. »Vorsicht!«, rief der Direktor dem Mädchen zu. Dann leiser, mit gepresster Stimme: »Nicht bewegen. Ich komme dir zu Hilfe.« Mit diesen Worten ließ er Alana los und schlich mit gebeugtem Oberkörper auf das Monster zu. Alana musste grinsen, als der schwere große Körper versuchte, sich zum Anschleichen kleinzumachen. Als er nahe genug war, ergriff er mit starken Händen die Ohren des Monsters. »Hab ich dich! Du schrecklicher Mädchenfresser!« Tristan stellte sich sofort neben Alana und schlang seinen Arm um ihre Hüfte. Drängte sich an sie. Sie sah mit liebevollem Blick zu ihm hinauf. Dann schlang sie ihren Arm um ihn. »Loslassen, sag ich!«, befahl der Direktor dem Monster. Flüsternd zu Sophia: »Das ist nämlich ein Trick. Mit einem kräftigen Griff an die Ohren kann man sie wehrlos machen.« Mit einem gespielten Ruck befreite sich Sophia. Tat, als ob sie rückwärts taumelte. Direkt zu Alana und Tristan. Die fingen sie auf, kuschelten sich um sie. Wie um sie zu beschützen. »Du armes Mädchen«, tröstete Alana ihre Tochter. »Du bist ein Held«, strahlte Sophia den Direktor an. »Danke«, verbeugte sich der Geehrte. »Bist du ein edler Ritter?«, fragte Sophia. »Ritter Michel von Forchheim, edle Jungfer«, stellte sich der Angesprochene vor. »Herr Rotmann ist der Direktor des Museums«, korrigierte Alana. »Direktor und Ritter? Warum hast du dann solche Monster in deinem Museum?« Sophias Gesicht wurde schelmisch. »Weil es eigentlich ein Kunstwerk ist«, erklärte Herr Rotmann. 91
»Ein Kunstwerk?«, spottete die Kleine. »Ich bin zwar klein, aber nicht doof.« »Doch, doch«, versuchte er zu erklären. »Diese kleinen Kerlchen wurden gern an die Wände von mittelalterlichen Kirchen gemacht. Manchmal sogar als Wasserspeier für die Regenrinne des Kirchendaches.« »Und warum?«, fragte Sophia interessiert nach. »Die Gläubigen sollten durchaus Angst bekommen. Im Mittelalter hat die Kirche viel mit Angst gearbeitet, weißt du? Angst vor der Sünde, Angst vor dem Fegefeuer, Angst vor dem Teufel. Frieden sollte man nur im Inneren der Kirche vor dem Altar finden. Indem man seine Gebete spricht und Geld spendet.« »Und warum?«, bohrte sie weiter. »Auf diese Art und Weise hat die Kirche sehr viel Macht über die Menschen bekommen und ist außerdem sehr reich geworden. Aber keine Angst, heute betrachtet man diese niedlichen Teufelchen«, dabei klopfte er ihm wie einem niedlichen Hündchen auf den Kopf, »eher als kunsthistorische Besonderheit. Soweit ich weiß, findet diese Art der Darstellung von Glaubensinhalten in modernen Kirchen keinen Eingang mehr. Du kannst also ganz beruhigt sein, kleines Naseweisinchen.« »Und warum?«, gab sie nicht nach. »Weil ich doch sehr hoffe, dass sich die Kirche jetzt mehr um die Sorgen und Nöte der Menschen kümmert und nicht dazu beitragen will, dass sie noch mehr bekommen. Aber ich bin nur ein einfacher Kunsthistoriker. Es gibt bestimmt andere, die dir das besser erklären können.« »Pater Benedikt zum Beispiel.« Sophia trug ein ernstes, fast neunmalkluges Gesicht zur Schau. »Der weiß alles.« Sie tat, als dächte sie über Michel Rotmann nach. 92
»Und was weißt du so alles?« Sophias Frage berührte Alana peinlich und Tristan war belustigt. »Was willst du denn wissen?«, fragte der Direktor zurück, der sich mit sehr viel Spaß auf das Gespräch mit dem Kind einließ. Jetzt zog Sophia an Alanas Arm. »Was wollen wir denn wissen?«, flüsterte sie ihrer Mutter zu und schaute dabei so heimlich zu ihr herauf, dass es jeder mitbekam. »Jungsteinzeit«, sagte Alana. »Heute wollen wir uns einiges aus der Jungsteinzeit anschauen.« »Nee … euuu … o … liiiittthhiii …«, bemühte sich Sophia auszusprechen. Sie setzte noch ein schnelles, »… Steinzeit« hinterher. »Oh, die Neu … lith … zeit«, veralberte der Direktor Sophia. »Da habt ihr euch ja heute etwas ganz Besonderes ausgedacht.« Rotmann wies mit einem nachlässig ausgestreckten Arm auf eine Tür zum nächsten Raum des Museums. »Dann müssen wir hier weiter.« Tristan bewunderte die mit viel Fingerspitzengefühl renovierten romanischen Räume. Trotz der Vitrinen, Ausstellungsstücke, Klimaanlage und Beleuchtung hatte man das Gefühl, sich durch ursprüngliche Räume zu bewegen. »Was weißt du denn schon über das Neolithikum, wie die Jungsteinzeit richtig heißt?«, fragte der Direktor das Mädchen. Von Sophia war nichts zu hören. Sie dachte nach. Als Tochter einer Archäologin wollte sie sich keine Blöße geben, sondern so tun, als wisse sie alles. Sie wusste zumindest, dass man zum Thema Steinzeit auch sehr falsch liegen konnte, weil es einen weiten Bogen menschlicher Entwicklung darstellte. Sie rettete sich aus dieser Verlegenheit mit den Worten: »Tristan, jetzt sag doch du auch mal was. Ich kann nicht alles für dich machen.« Sie schaute ihn streng an. »Du kannst nur was lernen, wenn du 93
fragst. Jetzt hast du Gelegenheit.« Die altkluge Miene Sophias brachte alle zum Schmunzeln. »Also, Jungsteinzeit heißt Neolithikum«, formulierte Tristan langsam, tat, als müsse er sich sehr konzentrieren. Dann räusperte er sich, als würde er ein Gedicht aufsagen. »Das heißt neue Steinzeit, also Neusteinzeit.« »Tristan!«, stellte sie sich ihm in den Weg, stemmte beide Fäuste in die Hüften und ermahnte ihn. »Du faselst dummes Zeug!« Ihre Augen funkelten. »Also …, die Steinzeit heißt Steinzeit, weil Werkzeuge und Waffen damals vorwiegend aus Steinen gefertigt waren. Faustkeil und so«, setzte Tristan erneut an. Dabei schlenderten die vier weiter. »Die Menschen hüllten sich in Bärenfelle, lebten in Höhlen und malten Höhlenzeichnungen an die Wände. Sie jagten mit Speeren. Die Frauen sammelten Beeren und Früchte.« Unsicher, ob seine kurze Beschreibung zutreffend war, sah er zwischen Michel Rotmann und Alana hin und her. Schließlich blickte er noch auf Sophia, in der Befürchtung, sie tadle ihn wieder. Zu seiner Überraschung wartete auch die Neunmalkluge darauf, was der Direktor antworten würde. Nur das Lächeln Alanas zeigte, dass er wohl keine rechte Ahnung hatte. »Ja und nein«, begann der Direktor. »Was Sie beschreiben, passt zum Teil auf die Alt- und beginnende Mittelsteinzeit. Der Begriff Steinzeit ist willkürlich gewählt. Er beschreibt nur einen verwendeten Rohstoff. Aber gerade in der Jungsteinzeit arbeitete man schon mit einer ganzen Palette von Werkzeugen, die nicht nur aus verschiedenen Steinarten gefertigt waren, sondern auch aus Holz, Knochen und anderen Dingen.« Alle hörten aufmerksam zu. »In der Jungsteinzeit wurden Tiere domestiziert, feste Häuser gebaut und vor allem Landwirtschaft betrieben. Soziale Strukturen wie Dörfer oder Städte bildeten sich aus. Schrift, ja 94
Literatur entwickelte sich. Geschichtlich zeigten sich die ersten Hochkulturen.« Tristan war fasziniert. So hatte er sich die Steinzeit wirklich nicht vorgestellt. »Die Götterwelt änderte sich, gemäß der veränderten Bedürfnisse der Menschen. Der Wandel vom Jäger und Sammler zur sesshaften Lebensweise war vollzogen. In den Städten entwickelte sich Hierarchie, Arbeitsteilung, bis hin zu gottähnlichen Königen. Die strukturierte Naturwissenschaft, wie zum Beispiel Astronomie, fand ihren Anfang.« Zufrieden sah Direktor Rotmann in aufmerksame Gesichter. »Aber leider bedeutete der Machthunger mancher Zentren auch die Schaffung eines Heeres. Feldzüge, Eroberungen, Versklavungen und andere Niederungen der Menschheit. Fast könnte man meinen, der biblische Sündenfall hätte zu dieser Zeit stattgefunden. In der Mittelsteinzeit, dem Mesolithikum, gab es noch keine Berufe, keine oder nur wenige Spezialisten. Man war Jäger und Sammler. Jeder konnte alles oder, sagen wir mal, vieles. In der Jungsteinzeit entwickelte sich durch Arbeitsteilung ein Spezialistentum. Das Aufkommen der Landwirtschaft bedeutete hartes Arbeiten. Der Boden musste mit dem Pflug vorbereitet werden. Es wurde gehackt, gejätet, gesorgt und gepflegt. Ein völlig anderer Lebensstil, als den Tierherden hinterherzuwandern, stellte sich ein. ›Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen‹, das könnte diesen neuen Lebensstil treffend beschreiben.« »Ob das vorher aber ein Leben im Paradies war, möchte ich bezweifeln. Tagelange Jagd- und Hungerphasen, wenn das Wild einmal ausblieb, stelle ich mir nicht unbedingt paradiesisch vor«, fiel Tristan ein. »Nein«, beteiligte sich jetzt Alana. »Aber es war gerade der entscheidende Vorteil der neuen Lebensweise, dass man diese Hungerphasen in jagdarmen Zeiten durch ein Mehr an Anbau, als man sogleich Verzehren konnte, und Vorratshaltung zu vermeiden versuchte.« 95
»Genau«, bestätigte Rotmann. »Aber, wie es so ist, ergaben sich neue Probleme. Man wurde abhängig vom Wetter. Frost und Dürre. Es durfte nicht zu viel regnen, aber auch nicht zu wenig. Man musste genau zur richtigen Zeit aussäen. Nicht zu früh und nicht zu spät. Zu früh würde bedeuten, dass noch Frostgefahr besteht. Später, Sommerhitze und Trockenheit. Unberechenbare Einflüsse durch Schädlinge und vieles mehr. Die neue Lebensweise hatte also auch gravierende Nachteile. Die Archäologie vermutet, dass die ersten Menschen dieser Zeit durchaus noch Hunger litten. Zumindest bedeutete sie schwere Arbeit. Die Mußestunden oder gar Mußetage nach erfolgreicher Jagd entfielen.« »Könnte es sein, dass die, die das von der Vertreibung aus dem Paradies gesagt haben, nun auch darauf bestanden haben, am siebten Tage zu ruhen? Sozusagen als Ausgleich?«, fragte Tristan. »Vielleicht«, mutmaßte Rotmann. »Oder als Opfer für die Gottheiten. Man verzichtet ihnen zuliebe auf einen Tag Arbeit, der ja die Vorratslager noch mehr gefüllt hätte. Als regelmäßiges oder routinemäßiges Opfer sozusagen. Als Pflicht oder Aufgabe. Nicht nur dann, wenn man Jagdglück von den Göttern brauchte.« Einem kurzen nachdenklichen Gesicht folgte ein bestätigendes Nicken. »Ja, könnte sein.« »Ich denke, beides spielt eine Rolle«, sagte Alana. »Opfer und die Notwendigkeit, künstlich eine Ruheperiode zu schaffen. Man sah, dass man sich im neuen System regelrecht aufarbeiten konnte und musste ein Regulativ schaffen. Die Alten taten das bestimmt mit weiser Voraussicht. Es könnten mehrere Vorteile mit der Einführung des Ruhetages verbunden gewesen sein.« »Ich kann mir das gut vorstellen«, fiel Tristan ein. »Man konnte es den Göttern kaum zumuten, dass sie durcharbeiten, während die Menschen sich einen faulen wöchentlichen Lenz machen. Also verordnete man ihnen einfach auch am siebten 96
Tage eine verbindliche Gewerkschaftspause.« Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Kann sein«, meinte der Direktor, »aber solche religiösen Spezialfragen kann ich nicht beantworten. Darüber weiß ich zu wenig. Es wäre für mich nachvollziehbar, wenn …, ja wenn man glauben würde, die Menschen hätten ihre Götter selbst geschaffen.« Mit einem »Aber da halte ich mich raus« ging er weiter. »Pater Benedikt weiß das bestimmt«, sagte Sophia, der das Gespräch schon ziemlich langweilig wurde. »Und das Wichtigste habt ihr dem Tristan noch gar nicht erklärt.« »Was ist denn das Wichtigste?«, fragte Rotmann neugierig. »Na, die Hinkelsteine. Das weiß doch jedes Kind.« Altklug und gespielt gelangweilt klang Sophia. »Genau. Das hätten wir beinahe vergessen«, griff der Direktor das Stichwort auf, mit einem Blick auf Sophia, »dabei ist das ja so ungeheuer wichtig.« »Obelix soll ein Mensch aus der Jungsteinzeit gewesen sein? Ihr wollt einen ahnungslosen Geologen wohl veräppeln?«, schüttelte Tristan den Kopf. »Obelix mit seiner Firma für die Produktion von Hinkelsteinen war Kelte, denn er war Gallier«, korrigierte Rotmann. »Wie? Mit Hinkelsteinen meint ihr beiden die französischen Menhire?«, versuchte Tristan das zu verstehen. »Nicht nur Menhire, sondern alle Stätten der Megalithkultur. Bis hin zum berühmten Stonehenge in England. Obelix produzierte als Kelte ein Produkt, für das kein Markt mehr existierte.« »Dann gehört die Megalithkultur mit ihren Menhiren und anderen Hinkelsteinen in die Jungsteinzeit und nicht in die Keltenzeit«, begriff Tristan.
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»Schneeelll … meeer … keeerrr.« Ganz langsam rollte dieses Wort über Sophias Lippen. Als wäre ihr das zu dumm mit ihm, ging sie weiter in die Ausstellungsräume des Museums hinein. »Sucht ihr was Spezielles, oder wolltest du …«, dabei zwinkerte Rotmann Alana zu, »einen alten Museumsgeist wie mich nur einmal besuchen?« »Huhu, ein Geist geistert gleich herein …« Sophia wollte möglichst schauderhaft klingen. Belustigt drehten sich vereinzelte Besucher zu ihr um. »Aber natürlich«, schmeichelte Alana ihm. »Wir wollten nur zum alten Geist«, scherzte sie. »Was auch sonst. Dir brauche ich ja kaum etwas über die Jungsteinzeit zu erzählen. Die Vorgeschichte war ja schon immer dein Steckenpferd. Ging deine Abschlussarbeit nicht über die Glockenbecherleute vom Motzenstein, gleich hinter Bamberg?«, fragte Rotmann. »Fast … Es ging über die keltischen Besiedelungsperioden auf dem Staffelberg. Aber ich werte das mal als ›Du hast mich noch nicht vergessen‹«, gab Alana scherzhaft zurück. »Dich vergessen?« Der Museumsdirektor tat, als spräche sie etwas Ungehöriges an. »So dumm ist ja nur einer«, deutete er an. Durch einen strengen Blick Alanas hielt er jedoch sogleich den Mund zu dem ihr nicht angenehmen Thema. »Jetzt kommt schon, ihr Langweiler«, rief Sophia aus dem nächsten Raum. Die drei reagierten sofort und gingen weiter. »Guckt mal. Hier sind schon die ersten Glockengläser.« Sie stand ganz aufgeregt vor einer Vitrine. Darin waren Gefäße zu sehen, deren oberer Rand sich weitete, um so einen größeren Durchmesser zu geben. Das terrakottafarbene Gefäß war mit kunstvollen Mustern versehen, die vor dem Brennen in den Ton eingepresst worden waren. Daneben lagen größere und kleinere Bruchstücke von weiteren Tonbechern.
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»Dies sind unsere Gefäße aus der Glockenbecherzeit. Wie der Name schon sagt, wurden in dieser Epoche, etwa 2500 vor Christus, die Gefäße in Form von Glocken gefertigt.« Er wandte sich dabei mehr an Tristan, da er selbstverständlich davon ausging, dass er Alana nichts aus dieser Zeit erzählen konnte, was sie nicht ohnehin schon wusste. »Oben zeigt sich die typische vergrößerte Öffnung, die sich darunter etwas verjüngt, um dann einen bauchigen Korpus zu bilden.« »Haben die Muster eine Bedeutung?«, fragte Tristan interessiert. »Ja und nein«, gab Rotmann missverständlich zur Antwort. Ein unsicheres Lächeln huschte über sein Gesicht, als kündigte er an, dass er hier nicht genau Bescheid wüsste. »In späteren Zeiten wurden diese Haushaltsgegenstände meistens mit Verzierungen versehen. Bis in unsere Zeit gibt es die Muster auf Teekannen, Tassen oder Tellern. Im Neolith …«, hier unterbrach er sich kurz, weil er es für Tristan bewusst einfacher beschreiben wollte, »in der Jungsteinzeit, so sind einige Wissenschaftler der Ansicht, könnten diese Muster auch magische Bedeutung gehabt haben. Aber das ist umstritten. Vielleicht war es auch nur die Lust, das Leben schöner zu gestalten.« »Waren das Haushaltsgegenstände oder Utensilien für religiöse Riten?«, fragte Tristan nach und sah sich das Muster genauer an, welches sich aus Bändern, bestehend aus hunderten von winzigen eingedrückten Punkten, zusammensetzte. »Sowohl als auch«, mutmaßte Rotmann. »Dieses Stück hier ist aus einem Grab bei Kersbach. Das ist etwa fünf Kilometer von hier weg. Aus einem sogenannten Flachgrab. In derselben Schicht fand man Kupferdolche und Armschutzplatten. Dann natürlich auch einige Pfeilspitzen.« Interessiert hörte Tristan zu. »Die Pfeilspitzen sind jetzt aber nicht hier?«, fragte er. 99
»Wir haben die Vitrinen sowohl nach Themen als auch nach Inhalten gestaltet«, erklärte Rotmann. »Hier haben wir zum Beispiel diese Becher«, dabei wandte er sich um und zeigte auf andere Vitrinen im Raum. »Im nächsten Raum haben wir Themen zusammengefasst. Da ist ein geöffnetes Grab mit den aufgefundenen Utensilien«, er unterbrach kurz und wies zum Weitergehen, »aber sehen wir uns das doch gleich an.« Der nächste Ausstellungsraum war abgedunkelt. Ein paar Stufen führten auf einen erhöhten Boden. Sofort wurde Tristan klar, warum. Die Artefakte waren hier in den Boden eingebracht und mit Glasplatten abgedeckt. Man konnte sogar darüber gehen. »Sind das Gräber?«, fragte er überrascht. »Ja, und zwar so, wie wir sie vorgefunden haben«, erzählte Rotmann. Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Sehen Sie«, er stellte sich breitbeinig an die Längsseite der etwa zwei Meter langen und einen Meter breiten Darstellung unter der Glasplatte im Boden. »Ein Steinplattengrab der Schnurkeramiker. Linksseitige Hocklage mit Blick nach Osten. Typisch für die Gräber jener Zeit. Dazu Grabbeigaben …« Tristan schüttelte den Kopf, hakte sich bei Alana ein und flüsterte ihr zu: »Gibt es hier nicht so einfache Einteilungen wie bei den Kelten?« Sie war verwundert. »Was meinst du?« »Erst Hallstattkultur, dann LaTene-Kultur. Beginnende Eisenzeit. Kurze Schwerter, lange Schwerter. Von ca. 1200 vor Christus bis Null. So was in der Art. Damit ich das, was ich hier höre und sehe, einordnen kann. Es ist einfach verwirrend. Schnurkeramiker, Glockenbecherleute und so weiter«, klagte Tristan. »Obwohl wir das bei den Kelten schon sehr vereinfacht haben. Ein Fachmann hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, weil wir wichtige Stationen in der Kultur 100
der Kelten so übergangen haben. In der Jungsteinzeit ist das nicht anders«, versuchte sie ihm zu erklären. »Ich beschreibe das bei den Schulklassen immer so«, mischte sich Rotmann ein. Sein Gesicht bekam dabei einen gütigen väterlichen Ausdruck, als würde er jetzt Weisheit aus Gnade verspritzen. »Die Wissenschaft«, begann er und es schien, er würde sich dabei innerlich genussvoll räkeln, »unterteilt die kulturelle Entwicklung in die Materialien der Werkzeuge. Also wurde in der Steinzeit vorwiegend mit Stein gearbeitet. In der Bronzezeit mit Bronze und der Eisenzeit …« »Ja, ja, überspringen Sie bitte mal den Teil und machen mit der Unterteilung in Alt-, Mittel- und Jungsteinzeit weiter«, drängelte Tristan. Alana lächelte über die Szene. Sie wusste, dass es Tristan nicht gefiel, als Schüler behandelt zu werden. »Gut«, entgegnete Rotmann kurz angebunden und fuhr fort: »Die Altsteinzeit beginnt mit dem ersten Benutzen eines steinernen Werkzeugs. Einem Faustkeil oder so. Also einem Stein, der für den Gebrauch verändert und angepasst wurde. Durch das Herausschlagen einer scharfen Kante zum Beispiel. Man vermutet den Beginn vor etwa 2,5 Millionen Jahren.« »Waren das schon echte Menschen, vor so langer Zeit?«, fragte Tristan dazwischen. Jetzt wollte Alana erklärend eingreifen, aber Rotmann hatte schon wieder das Wort ergriffen. »Nein. Es waren Vorformen des heutigen Menschen. Homo erectus oder Homo habilis, vielleicht sogar schon Australopithecinen, also affenähnliche Vorformen. Für lange Zeit veränderten sie die Ausstattung ihrer Werkzeuge wenig oder gar nicht. Erst vor etwa sechshunderttausend Jahren zeigten sich nennenswerte Unterschiede in den Funden.« Tristan hörte wieder interessiert zu. Aus den Augenwinkeln sah Alana, wie sich ihre Tochter auf eine andere Glasplatte legte, um mit aufgestütztem Kopf hineinzusehen. 101
»Etwa um 130.000 vor unserer Zeit spricht man von der mittleren Altsteinzeit. Diese wird vor allem mit dem Neandertaler in Verbindung gebracht. Übrigens existierten über viele Jahrhunderttausende immer wieder mehrere Menschenarten nebeneinander. Kleine, zierliche, intelligente Wesen, große, grobschlächtige Kerle …« »So wie heute die Menschen verschiedener Hautfarbe?«, warf Tristan ein. »Ja, in etwa wie heute. Also nicht auf Erdteile und Landregionen konzentriert, sondern zum Teil global gemischt«, fuhr Rotmann fort. »Diese letzte Phase der Altsteinzeit, das Jungpaläolithikum, ging bis etwa 8000 vor unserer Zeitrechnung. Diese Zeit können Sie sich merken mit Stichworten wie Cro-Magnon, also den Menschen, die die Höhlenmalereien in Frankreich und anderswo gemacht haben. Aber auch kleine Idole, wie die Venus von Willersdorf, eine nette, kleine, aber sehr korpulente Dame, die Fruchtbarkeit bedeutet.« Sophia klopfte mit den Fingern auf die Glasplatte, als unterstütze das ihre Konzentration. Was immer sie gerade ansah, es nahm sie ganz in Anspruch. »Wir sind noch nicht in der Jungsteinzeit«, erinnerte Tristan. »Das kommt jetzt«, klinkte sich Alana ein. »Die Erklärung bis hierher ist nur ganz nützlich, weil sie hilft, die Jungsteinzeit mit ihrer Kultur besser von dem Irrglauben abzugrenzen, es handele sich nur um eine Zeit mit Faustkeile schwingenden Höhlenmenschen.« »Aber bevor wir dazu kommen, können Sie mir als Geologe bestimmt eine entscheidende Frage beantworten.« Dabei machte Rotmann den Eindruck, als ginge es ihm nicht um die Antwort, sondern darum, ihn wie einen Schüler auf den richtigen Weg zu leiten. »Ja?«, fragte der Angesprochene irritiert. 102
»Warum endete die Altsteinzeit etwa 8000 vor Christus?« »Wie?«, fragte Tristan. Dann mehr vor sich hin: »… neues Werkzeug entwickelt? Neue Religion? Oder gar eine neue Menschenart?« »Eine neue Menschenart nicht«, belustigte sich Rotmann. »Seit etwa hundertsechzigtausend, spätestens seit hunderttausend Jahren gibt es den biologisch modernen Menschen. Aber die anderen Punkte zeigen in die richtige Richtung. Sie dürften aber eher Wirkung und nicht Ursache sein.« »Vielleicht hat ja einer eines schönen Morgens gesagt: ›Jetzt reicht’s, Schluss mit der Altsteinzeit, ab heute sind wir modern …‹« Alle schmunzelten vor sich hin. »Nein, im Ernst. Vor etwa zehntausend Jahren endete das Pleistozän«, Tristan war froh, auch einmal mit einem Fremdwort herumwerfen zu können. »Neue Umweltbedingungen …«, versuchte er weiter auf Rotmanns Frage zu antworten, aber dieser ergriff schon wieder das Wort. »Genau! Der jährliche Ablauf, die Pfade der Tierherden, alles änderte sich. Durch das wärmere Klima konnten jetzt auch Gegenden im Norden Europas besiedelt werden. Die Stämme konnten eine höhere Population anlegen, äähh …, das heißt, mehr Wild, mehr Raum bot Platz für mehr Menschen. Natürlich wirft das neue Impulse auf Religion, Werkzeugtechnik und Waffen. Diese, sagen wir mal, Übergangszeit wird Mesolithikum oder Mittelsteinzeit genannt. Sie dauerte nur zweitausend Jahre. In manchen Gegenden Nordeuropas, die erst nach dem Abschmelzen der Gletscher besiedelt wurden, auch bis 4500 vor Christus. Man vermutet in dieser Zeit nomadisierende Stämme, die den Großwildherden hinterher zogen.« »Damals sah das Antlitz Europas anders aus. Der Meeresspiegel lag bedeutend niedriger«, fiel Tristan ein. 103
»Einige Ansiedlungen in Norddeutschland wurden unter dem Meeresspiegel gefunden. Wahrscheinlich lag ein großer Teil der Nordsee trocken«, bemerkte Alana. »Zwischen dem Kontinent und den Britischen Inseln gab es damals eine Landbrücke. Themse und Elbe mündeten weit im Norden ins Meer. Dazwischen muss sich ein wunderbares, welliges Flachland erstreckt haben.« Tristan fühlte sich jetzt wieder ganz Wissenschaftler. Die Rolle als Schüler hatte ihm nicht behagt. »Die Küste musste weit nördlich der Doggerbank verlaufen sein. In den folgenden Jahrhunderten überflutete das Meer diese Region wieder.« »Wie muss das auf die Menschen gewirkt haben, als es plötzlich am Ende der Eiszeit wärmer wurde und das Land bis weit im Norden frei wurde? Ein Jagdrevier bis zur Doggerbank, wo vorher nur Eiswüste und Tod war«, sinnierte Alana. »Oder als in der Folgezeit dieses Land vom Meer wieder verschlungen wurde«, ergänzte Tristan. »Ja, man kann sich sehr wohl vorstellen, dass diese Änderungen in der Natur gewaltige Auswirkungen auf Lebensweise und Erfindungsgeist der Menschen hatten«, sagte Rotmann, der auch etwas ins Nachdenken gekommen war. »Dogaland, Dogaland«, sang Sophia leise vor sich hin und trommelte leise abwechselnd mit den Fingern und den Fußspitzen auf die Glasplatte. »Dogaland, wo bist du? Eis weg, Wasser weg, Land weg, Dogaland, wo bist du?« Alana sah zu ihrer Tochter hinüber und war wieder einmal sehr überrascht, wie ruhig sie sich mit sich selbst beschäftigen konnte. 104
»Jetzt zu Ihrer Frage nach einfachen Strukturen, so wie die Gesteinsschichten in der Geologie. Bei den Kelten ist die Hallstattzeit die ältere Schicht und LaTene die jüngere. Hier in der Jungsteinzeit ist das nicht ganz so einfach. Es gibt regionale Besonderheiten und Schwerpunkte. Aber man könnte sagen, dass die Bandkeramische Kultur älter ist, etwa ab 5600 vor unserer Zeitrechnung, die Trichterbecherkultur ab 4300 datiert und die Glockenbecherkultur, als die jüngste, ab etwa 2500 vor Christus. Danach folgte der Übergang in die Bronzezeit, mit der Minoischen Kultur auf Kreta oder Troja. Bei uns in Deutschland übrigens mit der faszinierenden Sonnenscheibe von Nebra.« »Jetzt mal langsam, damit ich da noch mitkomme. Da werden einfach dreitausend Jahre Kultur mit Bechern bezeichnet? Trichterbecher, Glockenbecher? Warum denn das?«, wunderte sich Tristan. »Wenn jemand in einigen Jahrtausenden mein Badezimmer ausgräbt, bezeichnet der wohl die gesamte Zeitepoche als Zahnputzbecherkultur?« Rotmann lächelte. Alana versuchte zu erklären: »Man kann in der Archäologie nur das bezeichnen, was man findet. Das waren zuerst die keramischen Funde der Jungsteinzeit. Häuser verfallen, Felle verrotten, man kann nur mit dem arbeiten, was man in Händen hält. Das Bild aus jener Zeit ist mittlerweile schon viel differenzierter. Doch als die Forschungen begannen, benannte man die Kulturstufen nach auffälligen Funden. Etwa wie typische Leitfossilien in den Gesteinsschichten.« Rotmann nahm das Dozieren wieder auf. »Wir haben jetzt eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie man in diesen Zeiten gelebt hat. Häuser wurden rekonstruiert, Werkzeuge und Waffen nachgebaut. Können Sie sich vorstellen, dass man damals für verschiedene Arbeiten unterschiedliche Feuersteinklingen anfertigte? Fast so etwas wie Spezialwerkzeug.« »Spezialspielzeug?«, fragte Sophia laut, die sich noch immer in der Bauchlage befand. 105
»Spezialwerkzeug«, korrigierte Tristan lachend. Dass das Mädchen sich noch nicht langweilte, wunderte ihn jetzt. Schließlich wurde seit geraumer Zeit nur noch gefachsimpelt, was in den Ohren der Kleinen nicht sehr aufregend klingen musste. Also ging er zu ihr hin. »Na, was siehst du dir denn an?«, fragte er sie und ging auf die Knie. »Das wird doch wohl kein Grab sein, auf das du dich … Nein, da hat wohl jemand seinen Hausstand vergraben.« »Guck mal, Tristan. Die Schüsselchen sind ordentlich aufgestapelt, wie bei Mama in der Küche«, zeigte sie. »Die Sichel da mit der Steinklinge schaut noch sehr scharf aus.« Tristan streckte sich bäuchlings neben sie. »Was sind denn das für komische lange Minischälchen?«, überlegte sie. »Weiß nicht«, sagte Tristan, »vielleicht irgendein Spezialspielzeug?« »Das sind Löffel.« Rotmann und Alana kamen dazu und knieten sich vor die beiden. »Löffel?«, fragte Sophia erstaunt. »Genau. Aus Knochen. Für den guten Eintopf«, bestätigte der Direktor. »Welches Getreide ist denn dort in der Schüssel, neben dem Mahlstein?«, beteiligte sich Alana an dem Gespräch. »Emmer. Das ist Emmer. Wir wollten das hier in der Ausstellung schon richtig machen«, erklärte er stolz. Dabei atmete er schwer, denn die Körperhaltung schien Direktor Rotmann nicht bequem zu sein. »Emmerbrei im Dogaland. Wir wünschen einen guten Appetittt, Herr Neolitttth.«
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Dabei betonte Sophia den letzten Buchstaben ganz besonders, um den Reim zu betonen. »Was ist denn Emmer?«, fragte Tristan. »Das weißt du nicht?«, mischte sich Sophia wieder ein. »Weißt du es denn?«, gab Tristan zurück. »Natürlich!« »Na, was denn?«, forderte er sie auf. »Ein Nebenfluss der Weser mit fünf Buchstaben, mein lieber Herr Professor.« Sophias Stimme klang wie eine Mischung aus belustigt und gelangweilt, mit einem Schuss Hochnäsigkeit. »Du willst mir doch nicht erklären, dass dort in der Schüssel der Nebenfluss der Weser fließt?«, ließ sich Tristan auf das kleine Spielchen ein. »Mit fünf Buchstaben«, wiederholte sie. Rotmann schmunzelte, trotz der schmerzenden Knie. Er wusste ohnehin nicht, wie er sich halbwegs wissenschaftlich als Direktor eines Museums auf dieses Gespräch einlassen konnte. »Das ist sozusagen Urweizen«, sagte Alana. »Wirklich Urweizen?«, fragte Tristan erstaunt zurück. Sophia stöhnte, als wäre sie durch seine Frage tödlich gelangweilt. »Einkorn und Emmer sind die ältesten Getreidesorten. Sie wurden wegen ihrem hohen Eiweißgehalt, Mineralstoffen und Aminosäuren kultiviert. Aus ihnen entstand dann der heutige Weizen und Dinkel. Beide Formen dienten nicht nur als Ausgangsprodukt für Backwaren, sondern auch für Bier.« Rotmann war froh, sich wieder einbringen zu können. »Letzteres aber noch nicht in der Jungsteinzeit. Etwa 3500 vor Christus in der Gegend von Iran und Irak.« Jetzt schmunzelte er, als würde ihm ein Witz einfallen. »Auch wenn man spontan vielleicht Bamberg vermuten würde, mit seinen vielen Brauereien.«
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»Bamberger Bier im Dogaland war den Menschen unbekannt«, sang Sophia wieder leise vor sich hin und klopfte dabei auf die Glasscheibe. »Was ist denn jetzt dein Dogaland, kleine Sophia?«, fragte Direktor Rotmann nach und stellte sich keuchend wieder auf. Schließlich wischte er sich mit einem großen roten Taschentuch den Schweiß von der Stirn und rückte sich nachlässig die Krawatte zurecht, was ihm aber nicht so recht gelang. »Hast du doch selbst vorhin erzählt, du Direktor«, sagte Sophia und stand auch auf, in der Hoffnung, es würde bald weitergehen mit dem Museumsbesuch. »Dogaland ist unter Eis versteckt, kommt wieder vor. Ist unter Wasser versteckt, kommt wieder vor. Dogaland! Das Land von den Steinzeitjägern. Du musst dich doch erinnern.« Ihre Stimme wurde wieder ziemlich altklug. »Ach, du meinst die Doggerbank!«, rief Rotmann plötzlich aus. »Ja, die ist jetzt eine Sandbank in der Nordsee. Da leben jetzt die Fische.« »Sag ich doch«, fasste Sophia kurz zusammen. Lächelnd und kopfschüttelnd standen Alana und Tristan jetzt auch wieder auf und hielten sich aneinander fest. »Du kleines neunmalkluges Gör. Ich hab was, von dem du bestimmt noch gar nichts gehört hast«, spannte der Direktor die Kleine auf die Folter. »Was denn?«, fragte sie vorsichtig. »Hast du schon mal geschwirrt?«, fragte er genüsslich, weil sie nicht verstand, wovon er sprach. »Wenn du mich so fragst, bestimmt nicht«, sagte sie schelmisch, ging ein paar Schritte voraus, drehte sich kurz um und winkte ihn heran. »Komm schon! Es wird Zeit, dass sich 108
mal wieder jemand um mich kümmert.« Lachend folgten die drei.
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MICHELSBERG »Bbbssssss …, sssss …, bbbssssssttttt …« Heulend schwoll der durchdringende Ton auf und ab. Die Luft vibrierte. Jemand stapfte laut die Treppen hinauf. Alana hörte die Tritte bis in ihre Wohnung. Sie wunderte sich, wer es da so eilig hatte. Sie war gerade dabei, eine Liste in ihren kleinen Laptop zu tippen. Wenn sie schon kurzfristig einige Tage der Bibliothek den Rücken kehren musste, wollte wenigstens ein Eintrag vervollständigt werden. »Bbbssssss …, sssss …, bbbssssssttttt …«, war aus dem Kinderzimmer wieder zu hören. Alana wurde dadurch in ihrer Konzentration gestört. Müde und genervt atmete sie durch und suchte mit dem Finger zum wiederholten Male den Anschluss in ihrer Liste. »Wo war ich nur …?«, murmelte sie vor sich hin. Dabei schob sie die Brille, die sie für Arbeiten am Bildschirm zu tragen pflegte, bis an die Nasenspitze, um über die Gläser hinwegzuschauen. Das Trampeln im Treppenhaus hatte auch aufgehört. Mit einem sich selbst zugeflüsterten »Ja!«, als wolle sie sich selbst aufmuntern, schob sie die Brille wieder ganz die Nase hinauf und begann zu tippen. »Bbbssssss …, sssss …, bbbssssssttttt …«, vibrierte die Luft von neuem. Frustriert warf Alana mit einer leichten Handbewegung die Brille auf den kleinen Schreibtisch, der mit einem Stapel Papiere und einigen Büchern bedeckt war. »Nein, so geht das nicht!«, rief sie in Richtung Kinderzimmer und machte sich auf den Weg dorthin, um Sophia zur Ruhe zu mahnen. Während sie den Flur entlanghetzte, trampelte es wieder im Treppenhaus. Erschreckt wandte sie sich um und
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hörte, wie die Tür, indem jemand hektisch mit dem Schlüssel im Schlüsselloch stocherte, von außen geöffnet wurde. »Alana!«, sprang Tristan aufgeregt herein. »Was meinst du, was ich gesehen habe? Du musst sofort mitkommen.« »Tristan, bitte«, versuchte die Angesprochene sich zu beherrschen. »Ich muss die Liste fertig machen, wenn wir morgen früh nach Rom wollen.« »Kannst du doch später«, sagte er und machte dabei eine Handbewegung, als wäre das ohnehin nur eine unwichtige Beschäftigung. »Du musst unbedingt kommen und sehen. Merkwürdige Dinge gehen vor.« »Meine Liste ist wichtig«, beschwerte sich Alana, »und das Geschenk von unserem Freund Rotmann raubt mir noch den letzten Nerv.« »Entschuldigung«, sagte Tristan kleinlaut, dem es jetzt erst auffiel, dass Alana von irgendetwas gereizt schien. Statt weiterer Worte nahm er sie in den Arm. Dies beruhigte beide etwas. Den Griff aneinander noch etwas fester und noch etwas fester, klammerten sie sich aneinander. »Sssssss …, sssss … ssssssttttt …« Der vibrierende Ton ließ Alana zusammenzucken. »Bitte«, sprach sie ernst zu Tristan, »gehe zu Sophia und sag, sie soll damit aufhören. Wenn ich die Liste mit den Buchspenden nicht fertig bekomme, kann sie während der Sommerpause nicht eingearbeitet werden. Bitte«, sie war jetzt ruhiger geworden, »wenn die Bücherei nach den Ferien wieder geöffnet wird, müssen die Bücher nicht nur eingearbeitet sein, sondern auch in den Regalen stehen.« »Ich kümmere mich um Sophia und du dich um die Liste. Einverstanden?« Tristan versuchte, sie mit einem lächelnden Nicken aufzumuntern.
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»Ja«, murmelte Alana vor sich hin und ging wieder an ihren Schreibtisch. Es wurde still in der kleinen Wohnung im Herzen der Altstadt Bambergs. Die Liste wollte sie jetzt zügig abarbeiten. Während sie die nächsten Positionen auf dem Zettel in ihre Datenbank übernahm, freute sie sich tief in ihrem Inneren, dass das Leben zu zweit vieles leichter machte. Tristan lebte zwar noch immer in seiner Stadtwohnung in der Nähe der Erlanger Universität, aber er hielt sich so häufig in Bamberg auf, dass Zahnbürste und Wohnungsschlüssel kein Thema waren. Die Brille mit den großen Gläsern wieder nach oben geschoben, tippte sie das nächste Buch ein. Sie war so froh, dass sie jetzt flotter vorankam. Da zuckte sie plötzlich innerlich regelrecht zusammen. »Sssssss …, sssss …, ssssssttttt …« kreischte der heulende, jaulende, durchdringende Ton wieder durch die Wohnung. Wenn sich jetzt Nachbarn beschweren würden, hätte sie vollstes Verständnis. Wütend sprang sie förmlich zum Kinderzimmer und riss die Tür auf. »Jetzt will aber ich wieder«, hüpfte Sophia vor Tristan auf und ab. Der betrachtete gerade den Schwirl des Museumsdirektors ausgiebig. Als er ihn gerade wieder an einer Schnur durch das Zimmer schwirren lassen wollte, packte Alana das Ding, nahm es ihm aus der Hand und stapfte wieder Richtung Tür. Sophia und Tristan waren vor Erstaunen über den Auftritt ganz still und starrten sie an. An der Tür drehte sich Alana noch einmal um und sagte mit einer Stimme, der man anhörte, dass sie ihren Ärger unterdrückte: »Ruhe bitte! Für mich. Nur so lange, bis ich die Liste fertig habe. Bitte!« Dann ging sie zurück an ihren Schreibtisch. Tristan und Sophia blickten sich mit großen Augen an. Gleichzeitig, als hätten sie sich abgesprochen, nahmen beide den Zeigefinger vor den geschlossenen Mund und machten: 112
»Pscht!«. Dann schnappte sich Tristan Sophias Lieblingsbuch, während diese auf Zehenspitzen zur Tür schlich und diese schloss. Dann kuschelten sie sich auf den Teppich vor das Bett und Tristan begann, das nächste Kapitel in dem spannenden Mädchenroman vorzulesen. »Na, was war denn so aufregend, Tristan?«, lächelte Alana zur Tür herein. Aber keiner antwortete ihr. Sophia lag mit dem Kopf auf Tristans Bauch und schlief. Tristan saß zwar noch in korrekter Haltung auf dem Boden, als würde er noch vorlesen. Der zur Seite geneigte Kopf und das Buch, welches auf seine Knie herabgesunken war, zeigten Alana, dass auch er schlief. Auf Zehenspitzen zog sie sich zurück. Dennoch wachte Tristan in diesem Augenblick auf. Nachdem er sich ganz langsam und vorsichtig unter Sophia hervorrangiert hatte, schob er ihr fürsorglich ein Kissen unter den Kopf und verließ das Zimmer. Alana und Tristan fassten sich an den Händen und schlossen leise die Tür hinter sich. In der Küche gossen sie sich einen ›Drückerkaffee‹ ein, wie sie ihn nannten. »Der kleine Wildfang«, Tristan setzte sich an den Esstisch. »Erst lässt sie laut das Schwirrholz heulen, dass es einem durch Mark und Bein geht, dann wird sie mucksmäuschenstill beim Vorlesen, und jetzt schläft sie wie eine Prinzessin.« »Wunderbar, wie du das geschafft hast. Das Holz war schon etwas laut. So habe ich meine Arbeit noch fertiggebracht«, sagte Alana. »Dieses Schwirrholz, das Sophia vom Direktor Rotmann hat, ist das ein altertümliches Spielzeug oder was Modernes?«, fragte Tristan. »Sehr, sehr alt. Möglicherweise bis zu fünfundzwanzigtausend Jahre. Genau weiß man das nicht. Aber es wurde bei sehr vielen schriftlosen Kulturen verwendet. Nicht nur in Europa seit der 113
Altsteinzeit, sondern auch bei den Aborigines in Australien oder den amerikanischen Indianern.« »Spielzeug oder Kultinstrument?«, fragte Tristan und nahm einen langsamen schlürfenden Schluck aus dem noch heißen Kaffee. »Wahrscheinlich beides. Diese heulenden Vibrationen, wenn man es schleudert, können bestimmt mystische Empfindungen auslösen, wenn man an Dämonen oder Windgeister glaubt. Aber, außer dass es ein interessantes Spielzeug ist, mit dem Kinder die Steinzeit näher erleben können, würde ich gern darauf verzichten. So laut, wie das ist.« Alana nahm auch einen Schluck, schenkte sich noch etwas Milch nach und war dann mit der hellbraunen Färbung zufrieden. »Was war denn so aufregend?«, wiederholte sie ihre Frage. »Wie? Was denn?« Tristan wusste nicht genau, was sie meinte. »Vorhin, als du gekommen bist. Als ich dich wegen dem Geheul des Schwirrholzes und meiner Liste so abgewürgt habe«, dann etwas leiser, »was mir im Übrigen Leid tut.« Dabei bekam ihr Blick etwas Leidendes und sie schob Tristan ihre Hand hin. Der nahm die Hand, drückte sie sanft und warf ihr einen ebenfalls leidenden Blick zurück. »Du hattest ja recht. Es war etwas viel, was da auf dich eingestürmt ist. Und dann komme ich auch noch …« Den letzten Teil des Satzes ließ er unausgesprochen, weil Alana mit ihrem Blick verriet, dass sie genau wusste, was er sagen wollte. »Jetzt aber genug der Beileidsbezeugungen. Was wolltest du denn erzählen?«, setzte Alana noch einmal nach. »Ach ja«, begann er und ließ eine Pause folgen, wie um Zeit zu haben, die Gedanken wieder hervorzukramen oder um die Spannung zu erhöhen. »Ich war doch in Erlangen, in meiner Wohnung, um nach dem Rechten zu sehen.« Alana bekam den 114
Eindruck, Tristan würde wieder viel zu weit vor dem Eigentlichen zu erzählen beginnen, ließ ihn aber gewähren. »Da habe ich die Post gemacht, den Kühlschrank durchgesehen und so Sachen. Weißt du eigentlich, welche Färbung Joghurt hat, der noch gut ist? So ein weißliches Grau oder doch schon ein bräunliches Beige?« »Waaas?«, unterbrach ihn Alana, der nicht ganz klar war, was er eigentlich erzählen wollte. »Hast du dran gerochen?« »Gerochen? Nein. Aber gute Idee. Muss ich mir merken«, registrierte Tristan für sich, als hätte er einen guten Tipp bekommen. Er wusste selbst, dass er als trockener Wissenschaftler kein Küchengenie war. Seine Steine, mit denen er sich als Geologe befasste, hatten kein Verfallsdatum. »Ich hab sie alle weggeworfen. Sicher ist sicher.« Er glaubte Alana damit zu beruhigen, aber er belustigte sie eigentlich nur. »Dann war ich beim Friedhof. So eine Marmorplatte auf dem Grab ist schon sehr gut. Sieht sauber aus und man muss bei diesem heißen Sommer nicht täglich gießen. Das könnte ich bei meinem Job sowieso nicht. Auch wenn ich es wollte. Da habe ich dann nur die Platte gegossen und sauber abgewischt. Sieht aus wie neu.« Tristan nahm wieder einen langsamen Schluck aus der Tasse. Alana hielt tapfer aus, bis er endlich zum Punkt kommen sollte. »Dann bin ich weiter nach Bamberg gefahren. Und was soll ich sagen? Gerade heute …« Tristan sah Alana an, als würde sie genau verstehen, was er sagen wollte. Ein fragender Blick und ein leichtes Kopfschütteln ließen in ihm den Verdacht aufkommen, dass er noch genauer werden müsste. »Ist ja auch wieder einmal typisch, damit hätte ich ja gleich rechnen können«, ergänzte er und schaute sie an, als müsse sie jetzt eine Anmerkung machen. »Gerade heute?«, wiederholte jetzt Alana. »Typisch für Bamberg? Äh, gestresste Alanas? Tieffliegende Schwirrhölzer?« 115
Tristans Augenbrauen schoben sich zusammen, als fühle er sich nicht ganz ernst genommen. »Parkplätze natürlich! Keine Parkplätze«, machte er jetzt ganz deutlich. »Keine Parkplätze also«, verdeutlichte sich Alana, die immer noch nicht sicher war, ob sie ihn verstand. »Genau«, bestätigte Tristan, der sich endlich verstanden fühlte. Er lächelte ihr zu, um ihr das zu zeigen. »Manchmal hat man da einfach Pech.« »Mein Pechvogel«, versuchte sie ihn zu trösten. »Aber dann hatte ich Glück«, erzählte er weiter. »Glück?« Alana war irritiert, der Wechsel vom Pech zum Glück ging ihr dann doch etwas zu schnell. »Ja. Ottoplatz. Gleich da unten«, berichtete er stolz weiter, als hätte er einen Hauptgewinn gezogen. »Das war ja ganz schön aufregend für dich«, triezte Alana ihn, damit er endlich zu dem kam, was er eigentlich erzählen wollte. »Nein. Das nicht«, kommentierte er sachlich. Ihm war die Spitze in Alanas Worten gar nicht aufgefallen. »Das Aufregende kommt erst noch.« »Ach?«, gab Alana zurück. »Ja. Da stand so ein Kleinlaster in dem kleinen Verbindungsweg zum Aufsessianum. Mitten drin. Kannst du dir das vorstellen?« Tristan schüttelte mit dem Kopf. »Unvorstellbar«, antwortete Alana, meinte damit aber mehr den Erzählstil. »Gell! Da stand so was wie ›TSS‹. Ich hab davon noch nie was gehört.« Tristan war gespannt, ob Alana dazu etwas wusste. Aber ihr war noch nicht klar, was sie davon halten sollte. »›TSS‹? Hab ich noch nie gehört«, schüttelte sie ihren Kopf. »Was sollte daran Besonderes sein?« Sie vermutete, dass 116
Tristans konfuse Erzählung doch ein ernstes Ziel habe. »Was beunruhigt dich dabei?« »Ich weiß nicht genau. Arbeiter luden Spaten und Schaufeln aus. Ein kleiner Bagger stand bereit.« Tristan berichtete immer aufgeregter. »Da wird gegraben! Verstehst du? Die graben am Michelsberg.« »Etwa oberhalb der Kammer?« Sie durchfuhr es wie ein Blitz. »Weiß nicht genau, aber wie ein Kanalwartungstrupp sah mir das nicht aus«, mutmaßte Tristan. »Michelsberg ist kirchliches Gebiet. Vielleicht machen sich manche Sorgen wegen der Explosion, die ihr auf so wundersame Weise überlebt habt. Offiziell verbreitete man ja die Nachricht von Munitionsbeständen aus dem Zweiten Weltkrieg«, überlegte Alana laut vor sich hin. Dann, an Tristan gewandt: »Man möchte wohl sichergehen, dass da nicht noch mehr liegt, was gefährlich werden kann.« »Aber die dürfen dort nicht graben!« Tristans verzweifelt klingende Stimme wurde lauter. »Wer sollte es ihnen verwehren. Ich kann mir vorstellen, dass von der Stadtverwaltung und der Erzdiözese kaum jemand weiß, was da wirklich passiert ist.« »Aber die dürfen dort nicht graben!«, wiederholte Tristan monoton, als wolle er diesen Wunsch herbeibeten. »Warum denn?«, fragte Alana. Sorgenvoll blickte sie auf den unruhigen Tristan. »Der Raum unter der Kammer ist nach wie vor intakt. Der Raum, in dem die Kugel war«, sagte er. »Der Raum, in dem ihr überlebt habt, … mmmhhh. Aber da ist doch nichts mehr. Die Kugel ist sicher verwahrt«, dabei räusperte sie sich, weil der Gerümpelschuppen hinter dem Haus eigentlich nicht besonders sicher schien. Der beste Schutz war, dass außer den drei Verbündeten niemand davon wusste. 117
»Doch! Der Druidenmantel! Und noch schlimmer …: das Schriftstück des irischen Mönches!« Langsam wurde beiden das Ausmaß des Problems bewusst. »Wir sollten Pater Benedikt anrufen. Er weiß bestimmt Rat«, schlug Alana vor. »Der weiß ja immer Rat«, brummte Tristan. »Nicht neidisch sein«, tröstete sie ihn. »Bin ich nicht«, brummelte Tristan. »Du hast ja recht, wir müssen ihn informieren. Aber wir sollten vorher genauere Informationen einholen.« Sein Gesichtsausdruck hellte sich wieder auf, weil er selbst taktische Gedanken anstellte. »Nicht dass am Ende lediglich eine Gärtnerei die Obstbäume im Michelsberger Garten pflegen und Blumenbeete anlegen will.« »Eine Bamberger Gärtnerei namens ›TSS‹ kenne ich nicht. Außerdem macht die Kirche dort alles selber. Aber du hast recht. Wir sollten uns das mal ansehen«, schlug Alana vor, der das Ganze gar nicht gefiel. Ein schleichendes Gefühl von Verfolgung und Angst kroch in ihr hoch. »Au ja, lass uns was Schönes ansehen«, rief Sophia von der Küchentüre her. »Du bist schon wieder wach?«, fragte Tristan sie. »Für einen Professor hast du manchmal intelligente Fragen auf Lager. Nein wäre gelogen, also sag ich mal ja.« Dabei rümpfte sie die Nase und ging auf ihre Mutter zu. »Was wollen wir uns denn ansehen?«, fragte sie Alana. »Nur ein wenig spazieren gehen. Am Dom vorbei zum Ottoplatz, und dann müssen wir mal sehen.« »Um was geht es denn?«, drängelte das kleine Mädchen und stieg auf den Schoß seiner Mutter. Dabei rieb sie sich den Schlaf aus den blauen Augen. »Tristan hat ein Problem«, deutete Alana an. Tristan war erstaunt. 118
»Er hat ja immer irgendein Problem, der vorlesungsfreie Professor.« Dabei blickte Sophia ihn gelangweilt an. »Was ist es denn diesmal?« Sie unterstrich die Langeweile noch mit einem herzhaften Gähnen. »Er parkt am Ottoplatz«, antwortete Alana. »Oh, oh«, mahnte Sophia und hob den Zeigefinger, um ihre vieldeutige Aussage zu unterstreichen. »Was ist denn?«, wunderte sich Tristan. »Der Herr Professor hat ein Problem«, sagte Sophia gekünstelt. »Der gelehrte Herr kann nicht lesen.« »Ich verstehe nicht«, fragte Tristan und blickte Alana hilflos an. »Das ist noch ein anderes Problem, aber lassen wir das«, verunsicherte das Mädchen Tristan noch weiter. »Was ist denn?«, fragte er noch einmal. Sophia sagte zu Alana: »Lass uns gehen, bevor es noch schlimmer wird.« »Ja, was denn?« »Ich geh schon mal die Sandalen anziehen«, sagte Sophia und verließ die Küche. Tristan blieb ratlos zurück. Er hoffte nun von Alana Auskunft zu bekommen, was denn noch für ein Problem bestehe. »Der Ottoplatz hat nur Anwohnerparkplätze. Du solltest dir einen anderen Parkplatz suchen. Der Parküberwachungsdienst in Bamberg gehört zu den Besten und arbeitet in drei Schichten.« In diesem Augenblick stand Sophia in der Türe und drängte zum Aufbruch. »Weiß das der Besitzer des Platzes, der Heilige Otto?«, fragte Tristan schalkhaft die kleine Besserwisserin. Kurze Zeit später passierten sie Dom und Neue Residenz. Näherten sich dem Ottoplatz. Durch das Tor, welches früher die weltliche von der geistlichen Stadt trennte, sah Tristan sofort, 119
dass sein Auto noch genau so stand wie vorher. Nichts schien verändert. Alles war normal, als sie sich Hand in Hand mit Sophia in der Mitte dem Ort näherten, an dem links die starken Befestigungsmauern des geistlichen Bezirks und rechts ein wunderschönes Patrizierhaus den Weg zum Aufsessianum umsäumten. »Kein Kleinlaster da?«, kommentierte Alana kurz. »Schrottkarre aber schon!«, beteiligte sich Sophia. »Sieh nur! Am Toreingang zum Garten steht ein Hinweisschild«, zeigte Tristan und wies auf ein Schild, welches den Eingang durch den ummauerten alten Garten der Kirche St. Michael versperrte. »Da steht wahrscheinlich ›Schrottkarren ablagern verboten‹!«, unkte Sophia weiter. »Wir spazieren gemütlich weiter«, schlug Alana vor und suchte für eine kurze Bestätigung Tristans Blick. »Wir gehen einfach weiter«, sagte Tristan und versuchte, unbefangen mit der Hand Sophias Arm spielerisch hin- und herzuschaukeln. »Und die Stadt versinkt derweil im Müll«, kommentierte die Kleine. Vor dem Eingang zum Michelsberger Garten machten sie kurz halt. »›TSS‹ – wir graben für Ihre Sicherheit«, las Alana vor. Daraus konnte sie sich keinen Reim machen. Kurzerhand trat sie hinter das Schild, drückte das Tor einen Spalt auf und spitzte hinein. Dabei zog sie die beiden Begleiter hinter sich her. Sophia drängelte sich an Alana vorbei, was diese verhindern wollte, aber plötzlich stand die Kleine vor ihr. Tristan wurde an der Hand gezogen und klemmte nun zwischen Alana und Torbogen im Eingangsbereich. »Die graben hier«, flüsterte Alana.
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»Ja, bestimmt um die Schrottkarre endlich vom Erdboden verschwinden zu lassen«, pöbelte Sophia dazwischen. »Gott sei Dank noch nicht tief. Das Grabungsquadrat hat höchstens einen Meter Tiefe«, ergänzte Tristan. Hinter den etwa zwei Meter hohen Gartenmauern wurde fleißig gearbeitet. Ein Planquadrat von zehn mal zehn Metern war mit Absperrband gekennzeichnet. In der Grabungsstelle arbeiteten drei Personen in dunkelblauem Overall vor sich hin. Was sie genau taten, war aus Tristans Position nicht erkennbar. Hinter dem Grabungsquadrat standen nebeneinander zwei zeltartige Pavillons. Darin stand ein langer Ablagetisch, an dem sich ein weiterer Overallträger beschäftigte. An der hinteren Mauer, die das Grundstück zum Aufsessianum abgrenzte, war ein Zelt aufgebaut. Was darin geschah, war nicht ersichtlich. »Ich meine«, verdeutlichte Alana flüsternd, indem sie Tristan ernst ansah, »die graben exakt und systematisch. Wie bei einer archäologischen Ausgrabung.« Gleich einem Fremdkörper stand der kleine Bagger im klösterlichen Garten und gab dem nach hinten ansteigenden Gelände hinauf zum Michelsberg, der mit der Kirche St. Michael gekrönt war, einen ungewöhnlichen Anblick. »Du meinst …?«, setzte Tristan an, wurde aber sofort von einer fremden Stimme unterbrochen. »Halt! Betreten strengstens verboten!«, hörten sie scharf hinter sich. Alana und Tristan zuckten zusammen, als wären sie bei etwas Ungehörigem erwischt worden. Sie drehten sich ruckartig um, damit sie dem hinter sich Stehenden Rede und Antwort geben konnten. »Bitte entschuldigen Sie«, wurden sie nun aus dem Garten angesprochen. Die Stimme klang, im Gegensatz zur ersten, weich und salbungsvoll. Trotzdem erschraken die beiden wieder und zuckten zurück. 121
»Äh, ja …?«, stotterte Tristan. Jetzt erkannte er, dass sie umringt waren von einer Art Sicherheitsdienst in einer fantasievollen, der Polizeiuniform nicht unähnlichen Kleidung. Auf dem Weg standen jetzt drei Wachmänner, und im Garten, Tristan konnte sich nicht vorstellen, wo die so plötzlich hergekommen waren, zwei Personen. Die Uniformierung gab ihnen etwas Bedrohliches. Die Schildkappe mit der Aufschrift ›TSS‹ auf einem Sheriffstern zeigte unmissverständlich, wer hier das Sagen hatte. »Bitte entschuldigen Sie vielmals, falls wir Sie erschreckt haben.« Ein schwarz gekleideter Geistlicher näherte sich. »Das wäre nicht unsere Absicht.« Alana und Tristan entspannten sich wieder etwas beim Klang der freundlichen Stimme. Wohl war ihnen dadurch aber noch nicht. »Was macht ihr hier? Ihr könnt doch den schönen Garten nicht so verschandeln. Außerdem geht hier unser Weg durch«, drängte sich die kleine vorwitzige Sophia vor. Tristan und Alana wollten Sophia sorgenvoll etwas zurückziehen, aber der Priester antwortete auf die gestrenge Frage aus dem kleinen Mund mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Wir verschandeln den Garten nicht. Das sieht jetzt nur so aus«, versuchte er der Kleinen zu erklären. Dann, mehr an Tristan und Alana gewandt: »Hier war vor einiger Zeit eine kleine Verpuffung. Wir wollen nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.« Werbemäßig tadellos lächelte er die drei im Tor Stehenden an. »Was wir bis jetzt wissen, ist ziemlich beruhigend.« Jetzt wandte sich der Sprecher wieder an Sophia: »Vielleicht wird hier ja ein neuer Spielplatz für kleine Prinzessinnen gebaut.« Bei dem Wort ›Prinzessin‹ strahlte die Angesprochene. »Aber bis dahin muss der Weg leider geschlossen bleiben.« Er breitete die Arme aus, als Aufforderung, das Grundstück jetzt zu verlassen.
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Die uniformierte Wache draußen trat zur Seite und bildete eine Art kleinen Spalier. Sophia machte artig einen Knicks, während Tristan und Alana sich schweigend umdrehten. Gleichgültig wirkend ließ Tristan seinen Blick noch einmal über die Ausgrabungsstelle gleiten. Er konnte nicht sagen, wie exakt sie über der Kammer waren. Wenn aber systematisch gesucht würde, und danach sah es hier aus, würden sie sie finden. Die Arbeiter in ihrem Overall arbeiteten ungestört vor sich hin. Im Hintergrund wurde die Plane des dort stehenden Zeltes zurückgeschlagen und heraus trat ein weiterer schwarz gekleideter Priester. Sein Auftreten und sein Blick zeigten deutlich, dass er hier das Sagen hatte und diese Grabung leitete. Tristan fühlte schon die Hand des freundlichen Sprechers auf der Schulter, die ihn sanft, aber bestimmt in eine Richtung schob. Eben drängten sie sich durch den Torbogen, da fiel der Blick des Grabungsleiters auf die kleine Ansammlung am Eingang. Das Letzte, was dieser hier brauchen konnte, war Öffentlichkeit. Da trafen sich die Blicke. Tristans und der des Fremden. Sofort durchzuckte es beide, dass man sich irgendwo schon einmal gesehen hatte. In beiden Hirnen begann es zu arbeiten. Es war nicht lange her. In den letzten Tagen oder Wochen, das wussten beide. Tristans Hand krampfte sich um die Sophias, um sie besonders festzuhalten. Endlich draußen. Während der freundliche Priester ihnen noch einen Gruß hinterherrief, drängte Tristan zurück zum Ottoplatz. Zurück zum Auto. Er zog seine zwei Damen hinter sich her. Dass Alana den freundlichen Gruß erwiderte, bekam Tristan nicht mit. Nur weg von hier, waren seine Gedanken. Er hatte diese Person schon einmal gesehen. Das wusste er. Er verband mit ihr nichts Angenehmes. Das wusste er auch. Wer und wo, darauf kam er nicht. Panik hatte ihn befallen.
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Endlich im Auto. Sophia schwieg, denn sie spürte wieder, dass etwas nicht stimmte. Mit einem Umweg über die Sandstraße, in der heute Abend wieder besonders viele Fußgänger unterwegs waren, sodass er nicht vorwärts kam, suchte er sich eine weniger bekannte Stelle zum Parken. Weg vom Michelsberg. Während der kurzen Fahrt sprach niemand. Tristan grübelte. Er kannte diese Gestalt. Schwarz im Priestergewand. Hagere Züge. Gepflegter Bart. Strenger, kalter Blick. Agile Körperhaltung. Wie automatisch gesteuert brachte er diese Fahrt hinter sich. Seine Gedanken rasten. Tristan parkte in einer versteckten Gasse ein. Besorgt sahen ihn Alana und Sophia an. »Mönchsgewand«, sprach er schließlich aus. Dabei blickte er Alana an, als könnte sie aus diesem Hinweis schlau werden. »Kapuze über dem Gesicht«, ergänzte er. »Wer? Was?«, fragte Alana irritiert. »Der Schwarze, der aus dem Zelt kam, als wir vom Michelsberg weg sind«, erinnerte er sie. Aber Alana schüttelte nur den Kopf. »Ich hab niemand gesehen.« Sophia lag wieder eine freche Bemerkung auf der Zunge, was ihrem Gesicht anzusehen war. Sie schluckte den Satz aber herunter. Die angespannte Stimmung hinderte sie jetzt, mit zotigen Bemerkungen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Der hatte damals eine Mönchskutte an und die Kapuze auf«, erläuterte Tristan, was Alana aber auch nicht weiterbrachte. »Aber irgendetwas fehlt noch«, grübelte Tristan weiter. Alana und Sophia sahen sich fragend an und zuckten mit den Schultern. »Was fehlt denn?«, fragte Alana, die keine Ahnung hatte, was Tristan so beschäftigte.
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»Irgendwas absolut Unpassendes, Ungewöhnliches«, erklärte er nichtssagend. Die drei machten sich auf den Weg zurück in die Wohnung Alanas. Niemand achtete auf die Häuser in den Gässchen mit mittelalterlichem Flair. Tristan war in sich gekehrt, Alana beunruhigt. Sophia trabte hinterher. Schon bogen sie in die Gasse zum Vorderen Bach ein, da blieb er wie vom Donner gerührt stehen. »Ich hab es! Es fehlt die Waffe!«, rief er aus, dass es zwischen den kleinen Häuschen widerhallte. Als er dies bemerkte, zuckte er zusammen. Alana erschrak. »Waffe? Priestergewand und Waffe? … Oh Gott!« Ihr fiel der Bericht Tristans aus den Katakomben Roms ein. »Nein, sag, dass das nicht wahr ist! Bitte!« Ihm schien, sie flehe ihn an. »Alana, wir sollten mit Pater Benedikt nicht telefonieren. Es wird Zeit, dass wir nach Rom kommen«, plante Tristan vorsichtig. Da sah er eine unsichere Sophia hinter sich hertrotten und bekam ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber. Das alles musste sie überfordern. Außerdem durfte sie auf keinen Fall gefährdet werden. Am besten wurde sie heute noch zu Opa Arno und Oma Ruth gebracht. »Und aus Rom können wir dir etwas Schönes mitbringen«, bezog Tristan die Kleine wieder ein. »Was würdest du dir denn wünschen?« Wie in Stufenfolge veränderte sich ihr Gesichtsausdruck von ernst zu strahlend. Die Veränderung der Atmosphäre bei den beiden Großen ging ihr etwas zu schnell. Aber jetzt war sie voll und ganz damit beschäftigt, was sie aus Rom bekommen könnte. Aus Rom! Schnell überschlugen sich ihre Gedanken. Gar nicht so weit weg, im Garten von St. Michael war zu gleicher Zeit noch jemand zusammengezuckt, weil ihm etwas eingefallen war. Auch er hatte eine Gestalt gesehen, die er aus
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einer unangenehmen Begegnung kannte. Jetzt wusste auch er, wer es war. Er würde Smith kontaktieren müssen.
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SOMMERLAGER Der Rauch war beißend. Ob ihm nun das die Tränen in die Augen trieb oder das, was er sah, konnte er nicht sagen. Sein Innerstes krampfte sich zusammen. Wie betäubt schlich er langsam durch das Lager. Vielmehr durch das, was vom Lager übrig war. Die Balken der Sommerhütten glühten noch. Das Geäst, welches für die Wände verwendet wurde, brannte. Die Schilfgräser, aus denen die Dächer bestanden, waren bereits vor Thans Ankunft als Aschewolke von den Flammen fortgeblasen worden. »Was ist da geschehen?«, schrie es in Than. »Wo ist meine Sippe?« Doch er wusste es längst. Er wusste es, seit er heute Morgen die merkwürdige Vision schaute. Doch er konnte es noch immer nicht glauben. Wie schwarze, rauchende Gerippe böser Geister standen die tragenden Holzstämme, die in den Boden eingegraben waren, da und reckten sich drohend wie Todesfinger gen Himmel. Im zunehmenden Wind trieben die Flammenzünglein ein Spiel. Sie ließen sich ausblasen, um an anderer Stelle wieder zu erscheinen. Die kleinen Lohen schienen über das Holz zu hüpfen. Verkohlte Felle, die zum Trocknen aufgehängt worden waren, bildeten nur noch ein abstraktes Mosaik mit schwarzen Stückchen. Ein Schmerzensschrei hinter ihm schreckte Than auf. Jarten hatte das Lager erreicht. Er stand noch auf der Erhebung. Bewegungslos. Schrie, als sei er schwer verletzt. Bis zuletzt hatte er sich eingeredet, die Vision Thans sei ein nichtssagender Angsttraum. Nun ereilte auch ihn die grausame Realität. 127
Than wandte sich um. Wollte auf Jarten zugehen, da sah er es. Zweimal musste er hinsehen, um zu erkennen, was dort lag. Wie ein schwarzes, verkohltes Wild lag ein verbrannter Körper zwischen den Hölzern der Hütten. Es war ein Menschenkörper. Mit eingeschlagenem Schädel. Nun schrie auch Than auf. Vor Schreck. Vor Entsetzen. Er blieb stehen und konnte seinen Blick nicht abwenden. So ungewöhnlich, so unvorstellbar war, was er vor sich sah. Es mochte einer der Alten gewesen sein, die im Lager blieben, während kleine Trupps auf Jagd gingen. Than wusste nicht, wer es war. Die Haare verkohlt, die Haut schwarz. Offener Mund, wie stummes Schreien. Dunkle Augenhöhlen, vor Entsetzen aufgerissen. Eine klaffende Wunde durchzog den Kopf. Augenscheinlich wurde er bei der Verteidigung des Lagers von einem Feuersteinbeil erschlagen und war hier niedergestürzt. »Unser Lager!«, schrie Jarten. Er war näher gekommen. »Zerstört!« Auf seinem Gesicht spiegelte sich Fassungslosigkeit. »Ich frage dich«, jetzt packte er vor Verzweiflung Than an den Schultern und schüttelte ihn, »wer tut so etwas? Ich frage dich, wer?« Stumm blickte Than ihn an. Ein leises Kopfschütteln. »Ich weiß es nicht.« Sich einmal um die eigene Achse drehend, sah sich Than das Lager an. Jarten folgte seinem Blick. Das Haupthaus, mit stabilen eingegrabenen Eckstämmen, war ein einziger Scheiterhaufen. Die rechts und links davor stehenden Hütten für Vorräte und die Zelte aus Leder zeigten sich nur noch als schwarze Flecken am Boden. »Wir müssen für die Toten den Weg zu den Ahnen bereiten«, murmelte Than. Dabei überraschte ihn seine Sachlichkeit. »Wo sind unsere Frauen und Kinder?«, fragte Jarten. »Ich weiß es nicht«, antwortete Than. »Wo sind unsere Vorräte?«, fragte der Begleiter weiter, dem aufgefallen war, dass einiges fehlen musste. Während Than ihm 128
wieder bekunden wollte, dass er das auch im Augenblick nicht wisse, setzte Jarten wieder eine Frage hinterher: »Werden wir sie je wieder finden? Warum konnten uns die Vorfahren nicht schützen? Haben wir etwas falsch gemacht?« Dem Angesprochenen war klar, dass die Fragen eher ein Versuch waren, das Ungeheuerliche zu begreifen, als etwas, das eine Antwort von ihm erforderte. »Was sollen wir tun?« Mit hilflosen Augen blickte Jarten ihn an. Than begriff, er musste seinem Freund eine Aufgabe übertragen, wenn auch nur eine kleine. Das würde ihm vielleicht etwas helfen. »Schaue nach, wie viele Opfer zu beklagen sind. Dann wissen wir auch, wie viel Hoffnung wir noch haben dürfen.« Jarten sah ihn hilfesuchend an. Er verlangte nach Trost und Sinn. Than hatte keinen zu vergeben. Er war selbst trostlos. Aber er fügte hinzu, um seinen Freund auf diese Aufgabe vorzubereiten: »Dies ist eine schwere, aber wichtige Aufgabe. Von ihrem Ergebnis hängt unser weiteres Tun ab. Ich weiß, dass es für dich schwer sein wird. Wenn es aber einer schaffen wird, dann der beste Freund, den ein Jäger haben kann.« »Wirst du diese Aufgabe mit mir gemeinsam verrichten?«, fragte er mit einer Mischung aus Gefasstheit und Mutlosigkeit, aus Angst, während dieses wichtigen Auftrags alleine zu sein. »Ich werde hören und schauen«, versuchte er Jarten verständlich zu machen. Er verstand nicht. Aber er hakte nicht nach, da er wusste, das Than anders war. Mit gesenktem Haupt machte er sich an die ihm übertragene Aufgabe. Than sah ihm gedankenschwer hinterher. Mit seinem Speer bewaffnet stocherte Jarten in Bündeln und Büscheln, in brennendem Gehölz und zerstörten Gestellen. Warum halfen die Ahnen nicht, war Jartens Frage. Darauf wusste Than keine Antwort. Langsam und bedächtig schritt er in die Mitte des Lagers. Der beißende Rauch wurde durch den 129
Wind direkt dorthin getrieben. Than versuchte das zu ignorieren. In der Mitte, dort wo das Leben der Sippe sich bis heute Morgen abgespielt hatte, setzte er sich nieder. Er versuchte diesen Mittelpunkt in sich aufzunehmen. Die Stimmen, die Gerüche, die Geräusche, das Lachen, das Tanzen, die Lieder des Stammes. Ihm war, als würden zwei spielende Kinder an ihm vorbeirennen. Eine Stimme tadelte die Kinder, die bei ihrem Wettlauf einen Korb mit Beeren umgeworfen hatten, die nun auf dem Erdboden rollten. In einem ersten Impuls wollte Than ergründen, wer die Kinder und wer der Tadelnde waren, aber sofort ließ er davon wieder ab. Darum ging es ihm jetzt nicht. Er wollte nur der Seele des Stammes lauschen, nicht einzelnen Personen. Die Lebendigkeit schauen, nicht das Handeln Einzelner beobachten. Than wollte wahrnehmen, wie die Ahnen wahrnehmen. Eine quälende Ungewissheit stieg in ihm auf. Er war kein Schamane. Aber interessierte sich für nichts weniger als für alles. Deshalb hatte er schon ausgedehnte Gespräche mit dem Weisen geführt. Fragen nach der Wirkung von Kräutern und Pilzen gestellt. Than wollte wissen, welcher Pflanzensaft die Heilung von Verletzungen fördert. Welcher Fieber senkt oder Fleisch wohlschmeckender macht. Er wollte einfach alles wissen. Aber er war kein Schamane. Than würde es niemals wagen, Schädel und Geweih eines Hirsches auf seinen Kopf zu setzen und den Gesang der Geister anzustimmen. Kein heiliges Idol weihen oder gar den trockenen zerriebenen Pilz entzünden. Aber er konnte lauschen und schauen. Dies hatte er schon oft mit dem religiösen Oberhaupt gemacht. Dabei saßen sie oft lange da und sprachen über die Veränderung der Welt. Über die Menschen und die Ahnen der Menschen. Häufig schwiegen sie. Jetzt lauschte er auf die Seele des Stammes. Wo war sie hin? Gab es sie noch? Rauchwolken nebelten ihn ein. Das nahm der mit aufrechtem Rücken Dasitzende nicht wahr. Auch den einsetzenden kalten Regen spürte er nicht auf seiner Haut. 130
Aber auf seinem Gefieder. Than erlebte sich als Rabe. Hoch über dem Lager kreiste er. Sah unter sich den großen Fluss, Ufergebüsch, ein paar Bäume und die rauchenden Überreste von Häusern, Hütten und Zelten. Immer weiter zog er seine Kreise. Ihm war, als nähme er zwei weitere Jäger wahr, die am Horizont mit voll beladener Rückentrage zum Lager marschierten. Aber das interessierte ihn nicht. Ihn zog die Seele des Stammes nach Südosten. Flussaufwärts. Knapp unter den tief hängenden Regenwolken segelte der schwarze Vogel dahin. Windböen schoben ihn hierhin und dorthin. Hoben ihn auf und drückten ihn nieder. Er wehrte sich nicht dagegen. Wenn er nur nicht von seinem Ziel abkäme. Der gerade Weg ist selten der Beste. Der Wind, der ihn trug, weht, wie er will. Sich von ihm über noch so viele Kurven und Bögen tragen zu lassen, war besser, als dagegen anzukämpfen. Das spürte er intuitiv. Er vertraute darauf, dass die Ahnen mit den Geistern der Natur im Bunde stehen. Wenn dem nicht so wäre, hätte er ohnehin schon verloren. In den Wolken wirbelten Schneeschauer. Darüber blendeten die weißen Wolken. Wie ein wuchtiges Gebirge türmten sie sich zu Zinnen und Mauern unter strahlend blauem Himmel. Aufwinde trugen ihn hinauf. Er umrundete Wolkentürme. Doch er durfte sich nicht verlieren, in den Schönheiten und Weiten der Welt zwischen den Welten. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Mit einem Sturzflug begab er sich wieder hinab. Weg von der schönen warmen himmlischen Welt. Zurück unter die tief hängenden Regenwolken. Jetzt bestimmte er dem Wind, wie er unter seine Flügel zu fassen hatte. Ließ sich nicht mehr ausschließlich treiben, sondern lenkte seinen Flug, ohne sich gegen die Kraft der Natur zu wehren. Er ahnte etwas. Seine Lieben. Seine Gefährtin. Erschöpft wurden sie vorwärts getrieben. Fremde Menschen drängten und zwangen sie vorwärts. Alle, auch die Kinder, waren bepackt mit den Vorräten. Mit den Fellen. Geschlagenem Feuerstein. 131
Näher wollte Than. Drehte die Flügelspitzen im Wind, um mit gewaltiger Geschwindigkeit zu den Verschleppten zu sausen. Aber Windböen drängten ihn ab. Wie er sich auch drehte und wendete, er kam den Seinen nicht näher. So sehr er sich bemühte, kraftvoll mit den Flügeln schlug, es wurde nur ein hilfloses Flattern. Verzweifelt musste er mit ansehen, wie die Gruppe in der Weite der Grasebene, die nur hin und wieder von kleinen Wäldchen durchbrochen wurde, immer kleiner wurde. Nur der scharfe Blick des Raben konnte die Punkte noch sehen, bevor sie mit dem Horizont verschwammen. Unruhe bemächtigte sich Thans. Seine Traumreise war zur Irrreise geworden. Er befürchtete für einen Augenblick, nicht mehr zurückzufinden. Hatte er zu viel erwartet? Hatte er geglaubt, er könne die Weisheiten des Schamanen mit einem Atemzug in sich aufnehmen? Wie um die Verunsicherung, die sich seiner bemächtigte, zu verstärken, nahm der kalte Regen zu. Seine Flügel wurden nass und schwer. Er fror. Was sollte er tun? Zürnten ihm die Ahnen wegen seiner Anmaßung? Was wollten sie? Wenn er dies nur wüsste. ›Was wollen die Ahnen?‹, fragte er sich in klaren Gedanken. Durch diese bewussten Worte in seinem Kopf konnte er sich wieder besser auf das Wesentliche konzentrieren. Than löste sich wieder vom Chaos seiner Gefühle, das sich seiner bemächtigt hatte. ›Was wollen die Ahnen?‹, fragte er sich noch einmal, weil er merkte, dass ihn diese deutliche Fragestellung beruhigte. Die Böen ließen von ihm ab. Sein Flug führte ihn, abgesehen von leichten Kurven nach rechts und links, im Wesentlichen geradeaus. Stabil fühlte sich der Strom der Luft unter seinen Federn an. ›Was wollen die Ahnen?‹, fragte er sich zum dritten Mal. Jetzt konnte Than wieder lauschen und schauen. Unter ihm lag die weite Ebene. Er überflog gerade einen breiten Strom, der nach 132
Norden dem Meer entgegenstrebte. Er hörte auf die Windströmungen, dabei achtete er nicht mehr auf Einzelböen oder Turbulenzen. Hörte das Fließen des Flusses, achtete nicht auf diese Wellen oder jenen Strudel. Er nahm sie in ihrer Gesamtheit wahr. Wie eine Symphonie der Wesenheiten, die die Elemente beseelen. Die Melodie durchströmte ihn, wie der Wind jede einzelne Feder. Wie jede Schallwelle, die vom strömenden Wasser das Trommelfell seines Gehörs in Schwingung versetzte. Dem gesellte sich ein anderer Ton hinzu. Wesentlich tiefer. Leiser, aber fundamentaler. Mit wenig Varianten in Tonhöhe oder Lautstärke, aber beständiger. Älter als der schnelllebige Wind oder der wandelbare Fluss. Than spähte nach vorne. Jetzt begriff er, dass jener tiefe Ton ihn zu einem Ort geleiten sollte, den ihm die Ahnen zeigen wollten. Vor ihm stand, wie eine gigantische Festung in der flachen Ebene, ein roter Berg. Als hätte eine uralte Kraft aus der Tiefe der Erde blutrotes Gestein nach oben gedrückt. In der Farbe des Lebens standen Türme wie Mahnmale im Grasmeer. Rote Klippen umgrenzten ein Gebiet, das weit um sich herum tönte: ›Ich bin heiliger Boden aus der Tiefe. Meine Farbe ist die des Blutes, denn ich bin von derselben Kraft, die Leben gibt und nimmt. Wer mich nicht achtet, der stellt sich außerhalb des Kreislaufs des Lebens. Der ist nicht Mensch noch Ahne.‹ Der Rabe kreiste um diesen auffälligen Berg, der die Ebene auf so ungewöhnliche Weise überragte. Jetzt wusste Than, was er zu tun hatte. Als er die Augen öffnete, sah er in besorgte Gesichter. Neben Jarten hockten die Brüder Henan und Willa. Erleichterung machte sich breit, als Than wieder zu sich kam. Er lag auf dem Boden, die Arme von sich gestreckt. Langsam, als müsse er sich erst bewusst werden, wo er war und wer er war, setzte er sich 133
auf. Dabei versuchte er zu lächeln, um zu signalisieren, dass es ihm gut gehe. »Henan und Willa sind auch von der Jagd zurück«, begann Jarten, dem das lange Schweigen nicht angenehm war. »Ich habe getan, wie du gesagt hast.« Dabei wurde seine Stimme leiser. »Alle Männer, die hier waren, und die Alten sind tot. Wie Dämonen müssen die Fremden über sie hergefallen sein. Jedem wurde der Schädel eingeschlagen.« Jarten stockte. Es fiel ihm schwer, zu berichten, was er gesehen hatte. Er schluckte, als ob er einen bitteren Bissen hinunterwürgen müsste. »Hier«, dabei warf er ein Beil in die Mitte, »dies habe ich beim alten Weishaar gefunden. Er muss sich tapfer gewehrt und einem Dämonen sogar die Waffe entwunden haben. Wer weiß, wie viele zugleich über ihn hergefallen sind.« Das Beil, mit einem langen Holzstil, besaß eine sauber bearbeitete Klinge aus Feuerstein. Blutrot gefärbt. Ein Teil der Schneide war herausgebrochen. Deshalb hatte sie der Besitzer vermutlich auch achtlos liegen lassen, so dachte Than. »Warum tun Menschen so etwas?«, schüttelte Willa den Kopf. »Das waren keine Menschen«, flüsterte Jarten bedeutungsvoll vor sich hin. »Natürlich waren das Menschen«, entgegnete Willa. »Sieh dir dieses Beil an. Sauber gearbeitet. Ein schlanker Stiel, sogar nach unten etwas gebogen, damit es nicht im Schwung aus der Hand gleitet.« Dabei fuhr er mit dem Finger, in einigen Zentimetern Entfernung, als fürchte er die Waffe zu berühren, den leichten Bogen des Griffs ab. »Dann sieh hier. Ein tadelloses Bohrloch, in das ein scharf gearbeiteter Stein eingesetzt wurde. Es war kein Anfänger, der dies hergestellt hat.« »Oder das perfekte Werk eines Nichtmenschen.« Jarten war das Entsetzen anzusehen. Niemand fiel eine schlüssige Entgegnung ein. Die vier Jäger saßen teils auf dem Boden, teils auf ihren Füßen und starrten auf die Waffe, als würden sie 134
dadurch mehr über den unbekannten Gegner erfahren. Zu unheimlich war ihnen der Überfall aus dem Verborgenen. »Es waren Menschen. Ganz normale Menschen«, fasste sich endlich Than. Er bemühte sich, ruhig und sachlich zu klingen, was ihm nicht ganz gelang. Seine Stimme entglitt ihm an manchen Silben, als würde er hüsteln müssen. »Da wäre ich mir nicht so sicher. So etwas können nur Dämonen machen«, sagte Jarten. »Ich bin auf den Flügeln eines Raben geflogen …«, versuchte Than weiter zu sprechen. Die drei starrten ihn fassungslos an. Dann sprachen alle durcheinander. »Was?«, fragte Willa, der glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Nur ein Schamane kann das«, sagte Henan. »Haben dich etwa die Dämonen genarrt?«, befürchtete Jarten. »Lasst ihn berichten«, ermahnte Willa. Die drei schwiegen und konnten jetzt schon nicht glauben, was Than erzählen würde. Dieser saß im lockeren Schneidersitz auf dem Boden, streckte den Rücken durch, um sich zu sammeln. »Ich bin auf den Flügeln eines Raben geflogen«, begann er von neuem. Dabei schaute er vor sich auf den Boden. »So wie der kalte Wind aus dem Norden die Menschen jetzt nach Süden treibt, so treiben Fremde unsere Frauen und Kinder nach Süden. Sie tragen einen Großteil unserer Vorräte bei sich …« »Ist meine Gefährtin bei ihnen?«, fragte Henan. »Und mein Sohn?«, unterbrach ihn auch Willa. »Das kann ich nicht genau sagen. Die Ahnen haben mir einen anderen Weg gewiesen«, fuhr Than fort. »Was? Anderer Weg?« Jarten ergriff das Beil und sprang auf. »Wir müssen sofort hinterher. Hört ihr?« Jetzt schrie er fast. »Sofort! Wir müssen die Fremden niedermachen und alle befreien.« Er schlug mit dem Feuersteinbeil in die Luft, als hätte 135
er einen Gegner bereits vor sich. Zwischendurch presste er unartikulierte Schreie aus seiner Kehle. Than ließ Jarten gewähren. Dieser war erst jetzt in der Lage, der Bedrückung in seinem Inneren Luft zu machen, und tat dies nun mit voller Kraft. »Springt auf, Freunde!«, forderte er sie auf. »Wir wollen gleich hinterher und den Boden mit ihrem Blut tränken!« »Jarten, treuer Bruder meiner Gefährtin«, sprach Henan ruhig auf ihn ein. »Wir sollten auf keinen Fall zu voreilig sein. Lass Than weiter sprechen.« Durch diese Worte beruhigte sich Jarten wieder. Er blieb aber stehen, mit der Waffe in der Hand, um seine Entschlossenheit zu demonstrieren. Dabei wippte er leicht in den Knien und schlug sich mit der flachen Seite des blutigen Beils auf seinen Oberschenkel. Dieser Rhythmus ließ ihn, zumindest äußerlich, ruhiger werden. »Die Ahnen haben dich geführt?«, versuchte Henan nun, Than zum Weitersprechen zu ermutigen. »Ja. Sie leiten uns zum Heiligen Felsen. Dort müssen wir hingehen. Ihnen ein Opfer darbringen«, sagte Than. »Aber das kostet uns zu viel Zeit«, meldete sich Jarten zu Wort. Er war ruhiger geworden. »Zeit, die nicht verschwendet ist, denn die Ahnen leiten uns. Sie führen uns auf den direkten Weg, der manchmal nicht geradeaus führt«, erklärte Than. Schließlich lächelte er leise und setzte »Mein treuer Jagdgefährte« hinzu, um Jarten mit dem Herzen anzusprechen. Der drehte seinen Kopf hin und her, als kämpfe er in sich um Worte. Jarten war klar, dass den Ahnen auf jeden Fall Folge geleistet werden müsse. Sie waren die Götter des Stammes. Sie entschieden über Wohl und Wehe. Nur sie konnten ihnen gegen die Unbill der Welt helfen. 136
»Wir werden unseren Lieben folgen. Wir werden sie wieder befreien«, sprach Than Jarten direkt an. »Wir werden zur rechten Zeit mit unseren Frauen und Kindern im Winterlager im Süden sein. Wir werden zusammen im Schnee in den Tälern des kleinen Gebirges das Wild jagen.« Bei diesen Worten sah er ihn so zuversichtlich wie möglich an. »Wir müssen aber zuerst den Willen der Ahnen erfüllen und unseren Toten den Weg zu den Alten erleichtern.« Than blickte in die Gesichter um ihn herum. Sie alle lauschten. »Lasst uns sehen, was wir auf unserem Weg an Ausrüstung gebrauchen können. Vielleicht findet sich noch etwas.« »Das Gestell flussabwärts, an dem der Fisch zum Trocknen hängt, haben sie nicht entdeckt«, warf Willa ein. »Gut so«, bestätigte Than mit einem Nicken. »Dann werden wir dieses Lager auflösen. Die Toten werden wir in die andere Welt geleiten, indem wir wie immer handeln, wenn jemand unterwegs zu den Ahnen geht und es uns nicht möglich ist, den Leib mit uns zu tragen.« Alle nickten und gaben einen zustimmenden Laut von sich. Sie waren mit dem Vorschlag Thans einverstanden. Sie wollten nur eines, mit ihren Frauen und Kindern in das Winterlager ziehen. Vorher noch die Ahnen am roten Felsen verehren, konnte nicht schaden. Schließlich wäre es auch möglich, dass sie, wenn sie die Verfolgung sofort und direkt aufnähmen, in die Irre gingen. Aus ihrem Stamm, der acht Jäger, heranwachsende Jünglinge, die ihre Initiation schon hinter sich hatten, mitgerechnet, zählte, waren nur noch vier Männer übrig. Solche kleinen Jagdgruppen, die sich im Sommer in den Ebenen des Nordens verteilten, fanden sich spätestens mit dem Einsetzen des Schneefalls im Winterlager wieder. In den Weiten vor dem Nordmeer verteilt, konnte jede Gruppe für sich besser jagen, als wenn zu viele Menschen die Ressourcen eines Landstriches schnell aufzehren würden. 137
Für Than und seine Gefährten war unausgesprochen klar, dass man am heutigen späten Nachmittag aufbrechen sollte. Niemand wollte in dem niedergebrannten Lager übernachten, in dem noch Dämonen des Krieges und des Blutes sein mochten. Alle wollten so weit wie möglich von hier entfernt lagern. Schließlich waren sie abmarschbereit. Than, Willa, Henan und Jarten standen nebeneinander und betrachteten das letzte Glimmen der brennenden Haufen, die einmal ihr kleines Sommerlager gewesen waren. Bevor sie nun gingen, blieb noch die Arbeit zu verrichten, die niemand gerne tat und doch getan werden musste. Den Toten wurde der Schädel vom Körper getrennt. Der Sitz des Bewusstseins des Menschen durfte nicht einfach hier liegen bleiben. Er musste würdevoll bestattet werden. Laut stimmte Than den traditionellen Gesang an, der bei diesem blutigen Ritual gesungen wurde. Er sang die heiligen Worte, was sonst nur ein Schamane tat. Doch dieser lag unter den Toten. Der Kopf des Hirschen, den er jetzt aufsetzen würde, um diesen Gesang mit Hilfe dieses Totems besser in die andere Welt zu tragen, war zerstört. Than hätte ihn ohnehin nicht getragen. Allein der Gedanke daran kam ihm wie Frevel vor. Aber er sang. Er sang die traurigen, monotonen Worte, während Jarten, Willa und Henan, mangels ritueller Äxte, mit ihren Arbeitsbeilen den Kopf vom Körper trennten. Nur noch wenig Blut trat aus den schwarzen, stocksteifen Torsen. Dieses nahmen sie mit ihren Händen auf und strichen es unter Tränen über die Tätowierungen an Schulter, Brust und Oberschenkel. Than versuchte ein wenig die Schrittfolgen zu diesem Ritualtanz. Ob es ihm gelang oder nicht, interessierte ihn nicht. Es wollte damit nur die Ernsthaftigkeit der Unterstützung der toten Seelen für das Jenseits unterstreichen. Nur das erschien ihm wichtig. Während weiter der rhythmische Klagegesang durch das ehemalige Dorf tönte, hoben die Trauernden eine 138
Grube aus. Kein Getöteter sollte ein Opfer der Aasfresser werden. Kalter Regen setzte ein. Doch die vier ließen sich dadurch nicht stören. Stoisch, mit verbissenem Gesichtsausdruck verrichteten sie ihre Arbeit. Dann nahmen sie den ersten Leichnam. Es war der des Schamanen. Der offene Hals blutete nicht mehr. Die Jäger schlugen mit der stumpfen Seite ihrer Beile auf den toten Körper ein. Jeder Knochen musste zerschlagen werden, um der Seele, wie auch der Lebenskraft im Allgemeinen, eine Loslösung aus dem Leichnam zu ermöglichen. Nur so konnte der Kreislauf von Geburt, Leben und Tod erleichtert werden. Die Kräfte der Tiefe, die Lebenskräfte, konnten so schneller die freiwerdende Lebensenergie aufnehmen und dem Stamm wieder zur Verfügung stehen. Die Muttergottheit, die Leben gibt und Leben nimmt, um es wieder geben zu können, verlangte dieses Ritual, so lange er denken konnte. Endlich war das letzte Leben aus den letzten Körpern herausgeschlagen worden. Elf Mitglieder ihres Stammes waren heute verloren gegangen und das Wissen des Schamanen, der noch keinen Nachfolger eingewiesen hatte. Die Erfahrung Teklas in Kräutern und Geburtshilfe. Die ungebändigte Kraft mancher Jünglinge. Die Weisheit der Alten. All dies durfte nicht sterben. Die Reihen der Ahnen, die den Stamm in seinem Schicksal unterstützen, wurde heute erweitert. Die vier wussten, alles musste getan werden, damit ihre Kräfte dem Stamm erhalten blieben. Das Grab wurde geschlossen. Bevor die Grasnarbe wieder eingesetzt wurde, legten sie eine dicke Schicht weißer Kiesel darauf, zur Sicherheit und zur Ehrung. Als die ausgestochenen Grasquadrate wieder eingesetzt wurden, war es still. Than sang nicht mehr. Schweigend wurde diese Arbeit verrichtet. Schweigend wurden auch die Schädel in Kleidungsstücke oder Felle gewickelt und in die Rückentragen gelegt. Lieber wollte 139
man auf Ausrüstung oder Wegzehrung verzichten, als auf diese heilige Handlung. Als schließlich die vier Jäger in ihren langen Jagdanzügen, die lederne Fellkappe auf dem Kopf gegen den kalten Regen, auf dem kleinen Hügel standen und ein letztes Mal in die Überreste des Sommerlagers blickten, stieg kein Rauch mehr auf. Die Flammen waren verloschen. Die Grabstätte fügte sich so vollkommen in die weite Grasebene vor dem Fluss ein, dass sie nicht zu sehen war. Henan und Willa hingen schweren Gedanken nach. Jarten klopfte mit dem Speer unruhig in den Boden. Than blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Es schien ihm heute kein Tag zum Reisen. Aber danach hatte niemand gefragt. »Kommt, Brüder!«, sprach er ruhig, aber bestimmt. Die vier wandten sich ab und gingen mit weit ausholenden Schritten los. Die Speere als Wanderstecken. Den Rucksack, den Köcher mit Pfeilen und Bogen, umgehängt. Nach Osten. Den Wind im Rücken. Das Krächzen zweier Raben schreckte die Gedankenversunkenen auf. Sie flogen über ihnen und ließen sich durch denselben Wind tragen. Da wussten sie, dass sie den richtigen Weg gewählt hatten.
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NACHRICHTEN »Sie hören die Nachrichten von Radio Bamberg: Archäologische Grabung auf dem Michelsberg. Nachdem die Ungefährlichkeit der Explosion im Bereich des Dom- und Michelsberges vor wenigen Tagen amtlich bestätigt wurde, nutzt man nun die Gelegenheit, diesen historischen Boden genauer zu untersuchen. Eine internationale Wissenschaftsgruppe nimmt das Areal mit modernsten Geräten unter die Lupe. Es werden interessante Ergebnisse erwartet. Die Bevölkerung wird gebeten, das Grabungsgebiet und seine Umgebung zu meiden, um die Arbeiten nicht zu behindern. Gesundheitspolitik: Vertreter der Krankenkassen warnten heute bei einer Pressekonferenz in Berlin davor, die Gesundheitsreform so zu gestalten, dass damit in die Möglichkeit der Preisbindung von Medikamenten eingegriffen wird. Eine Erhöhung der Beträge könnte die Folge sein. Dies würde unweigerlich auf Kosten des Versicherten gehen. Davor müsse er geschützt werden. Es folgt das Wetter.«
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ROM Sie waren ohne Verzögerungen, Verfolgungsjagden oder anderen Widrigkeiten in Rom angekommen. Es war auch nicht Frei (portug. Bruder) Severino, der Tristan und Alana vom internationalen Flughafen Fiumicino abholte, und auch nicht sein kleiner roter Fiat. Diesmal saßen sie im Fond einer geräumigen Limousine und ließen die Lichter des nächtlichen Roms an sich vorüberziehen. Die Fenster ganz heruntergelassen, spürte Tristan den warmen Nachtwind in seinem Gesicht. Er saß mehr auf Alanas Platz als auf seinem eigenen. So sehr hielt er sie fest. Wange an Wange betrachteten sie das Leben in den bunten Lichtern. Historische Häuserfassaden neben modernen Geschäften. Altertümliche Brunnen und ausladende Prachttreppen. Immer wieder rollten hupende Vespas mit fröhlichen jungen Menschen an ihnen vorbei. Alles lebte und pulsierte um sie herum. Die Nacht schien Tag zu sein. Begeistert sahen sie sich die jahrtausendealte Stadt an. Schließlich wurde es ruhiger um sie herum. Die Straßenbeleuchtung dezenter. Sie rollten langsamer dahin. Fuhren in eine Hofeinfahrt, während sich das Tor hinter ihnen automatisch wieder schloss. Als beide dem Fahrzeug entstiegen, atmete Tristan zum zweiten Mal vatikanische Luft. Eine kurze Zeit verschwendete er bei dem Gedanken, ob es passend wäre, wenn er Alana auf ihrem Weg durch die Gänge und Flure der altehrwürdigen Häuser an der Taille halten würde. Einen Gedanken später zog er sie näher an sich und sie folgten weiter ihrem schweigsamen Führer. Mit ihrem leichten und luftigen Sommerkleid passte sie ohnehin nicht hierher. Tristan mit seiner langweiligen dunkelblauen Bügelfaltenhose und dem hellgrauen
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Polohemd passte hingegen überallhin, nur nicht in diesen heißen Sommer. In einer beleuchteten Halle, an deren Seiten Palmen in großen Blumentöpfen standen, bat ihr Chauffeur und Führer, durch eine dezente Handbewegung, hier zu warten. Schon war er in einer der Türen verschwunden. Tristan und Alana blickten sich um. Eine steinerne Bank befand sich zwischen zwei großen Pflanzen, sodass sie etwas versteckt war. »Sieh nur, wie hoch das hinaufgeht«, zeigte Alana nach oben. »Ist das ein Glasdach, das dort oben das Laternenlicht widerspiegelt?« »Ja, das ist es. Mir scheint, das ist die gemütliche Bank, auf der ich bei meinem letzten Besuch so lange warten musste«, freute sich Tristan, der den Eindruck bekam, er habe in den labyrinthischen Gängen etwas Vertrautes gefunden. Alana setzte sich auf die Bank und wollte gerade die gegenüberliegende Hausfassade betrachten, da hockte sich Tristan breitbeinig auf ihren Schoß. Völlig überrascht davon blieb ihr der Mund offen stehen. Ihr fiel auf diese Frechheit nichts ein. Tristan nützte diese einmalige Gelegenheit und küsste sie. Je mehr sich die Überraschung Alanas legte, desto inniger erwiderte sie diesen Kuss. Der besondere Reiz der Situation elektrisierte beide. Sie genossen die Atmosphäre. Von irgendwoher erklangen gregorianische Gesänge. Fluteten wie leichte Wellen durch die Räume. Es dauerte eine Weile, bis die Klänge von den Liebenden wahrgenommen wurden. Aus dem langen Kuss wurde eine kuschelnde Umarmung. Nach einigen Minuten aber lösten sie sich wieder, denn es erschien ihnen in diesem Raum, an diesem Ort und dann auch noch mit dieser geistlichen Musik zu unpassend. Also setzten sie sich brav, allerdings Händchen haltend, nebeneinander und warteten auf die Dinge, die da noch kommen sollten. 143
Es dauerte nicht mehr lange und jemand kam plötzlich und unerwartet um die langen Blätter der Palme herum: Pater Benedikt. Sie hatten ihn gar nicht kommen hören, was bei den alten schweren Türen eigentlich verwunderlich war. »Alana, Tristan! Seid gegrüßt und willkommen im alten Vatikan«, begrüßte er sie. »Schön, dass ihr euch freimachen konntet und so schnell gekommen seid.« Er umarmte Alana freundschaftlich und hielt Tristan seine Hand zum Gruß hin. »Wir haben da was Interessantes, zu dem ich euren Rat und eure Hilfe brauche.« »Wir haben leider auch etwas zu berichten, was wir nach unserer Erfahrung bis jetzt nicht dem Telefon anvertrauen wollten«, erwiderte Tristan. »So? Was ist denn passiert?«, fragte Benedikt sorgenvoll. »Ich weiß nicht …«, Tristan blickte sich in dem ansonsten menschenleeren überdachten Hof um. Sein Blick schweifte nach oben zu den teils dunklen, teils erhellten Fenstern. »Vielleicht nicht hier.« »Du hast recht, Tristan«, sagte Benedikt. »Ihr seid bestimmt müde von der Reise oder wollt etwas essen. Die Küche ist zwar schon geschlossen, aber Severino zaubert euch bestimmt was Gutes.« »Also, ich wäre nicht hungrig«, fiel Alana ein. »Aber ich wäre neugierig auf das, was du uns zeigen willst.« Dann wandte sie sich an Tristan. »Hast du Hunger?« »Lass uns doch zuerst das große Geheimnis von Pater Benedikt ansehen und später auf der Dachterrasse Severinos echte italienische Spaghetti genießen. Was haltet ihr von der Reihenfolge?«, schlug Tristan vor. »Gern«, stimmte Alana ein. Worauf sie sich bei ihren beiden Männern, rechts und links, einhakte und sich durch historische Flure und barocke Treppen führen ließ. 144
»Wie geht es meiner kleinen Freundin?«, fragte Benedikt. »Oh, sehr gut. Sie ist frech wie immer. Ich habe sie zu meinen Eltern gebracht. Da ist sie immer gern«, erzählte Alana. »Weißt du eigentlich, was ein Schwirrholz ist?« »So ein steinzeitliches Instrument, um Töne zu erzeugen?«, fragte Benedikt. »Genau. So eines hat sie vom lieben Direktor Rotmann bei unserem Museumsbesuch in Forchheim geschenkt bekommen. Seitdem ist sie richtig verliebt in den sirrenden Ton, der den Magen vibrieren lässt.« Der Pater lachte. »Das kann ich mir vorstellen. Du solltest auch mal schwirren. Manche Völker haben das zur Unterstützung von mystischen Zuständen benutzt«, sagte Benedikt. »Also der mystische Zustand, den sie bei mir damit verursacht hat, reicht mir«, wehrte Alana ab. »Ich fand das sehr anregend. Aber wahrscheinlich geht das nur bei so spritzigen, elektrisierenden, frischen Persönlichkeiten wie Sophia«, mischte sich Tristan ein. »Soso«, kommentierte Alana. »Äh, ja. Du bist ja hingegen … äh … sensibel, zärtlich, mitfühlend und … äh … wunderschön«, strengte er sich an, in der Hoffnung, er hätte die diplomatische Kurve noch gekriegt. Benedikt lächelte leise in sich hinein. Nachdem Tristan von Alana keine Reaktion bemerkte, beugte er sich mit Dackelblick vor, um ihr in die Augen zu sehen. »War doch gut, oder?«, fragte er vorsichtig. »Meistens ist er ein netter Kerl«, sagte Alana an Benedikt gerichtet und vermied ein Grinsen, was ihr aber nicht ganz gelang. Der Pater enthielt sich weise jeglicher Bemerkung. Sie kamen in die Tristan schon bekannten Kellergänge. Neonlampen statt geschmackvoller Wandbeleuchtung. Offen verlegte Kabel statt Stuck an den Decken. 145
Dann erreichten sie die Katakomben. Alana wurde durch eine stille Begeisterung getragen, auch wenn sie jetzt wegen der Enge hintereinander gehen mussten. Benedikt ging gebeugten Hauptes voran. Alana folgte und Tristan ging als Letzter. Die gelernte Archäologin konnte gar nicht schnell genug alle Details in sich aufnehmen, die an ihr vorbeiströmten. Baustil des Ganges, Nischen, Nebenräume, Grablegen. Sie nahm sich fest vor, bei Gelegenheit die Katakomben in aller Ruhe anzuschauen und sich alles erklären zu lassen. An besonders engen Stellen fasste sie Tristan von hinten mit beiden Händen, als würden sie eine Polonaise tanzen. Dies quittierte sie mit neckischen Hüftbewegungen, wie um ihn halbherzig abzuschütteln. Irgendwann auf ihrem Weg bemerkten sie einen elastischen Schlauch, der auf dem Boden lag. Sein Durchmesser maß etwa zwanzig Zentimeter. Diesem folgten sie nach. Tristan vermutete, dass es sich hierbei um den Teil einer provisorischen Lüftungsanlage handelte, damit auch mehrere Menschen in der verborgenen Bibliothek längere Zeit arbeiten konnten. Wie sich herausstellte, hatte er Recht. Wieder stand Tristan im Tor zu diesem unterirdischen romanischen Bau. Während Alana an Benedikts Seite gleich eintrat, Säulen und Bögen bewunderte, blieb Tristan noch etwas stehen. Sein erster Blick fiel auf die alte hölzerne Eingangstür, in der noch immer etliche Projektile steckten. Nur äußerst widerwillig erinnerte er sich an ihre damalige, lebensgefährliche Flucht aus dieser unterirdischen Bibliothek. Metallstücke blitzten aus dem schwarzbraunen Holz. Zierleisten waren abgesprengt worden. Die wuchtige Dicke der Tür rettete ihnen damals vermutlich das Leben. »Oh, Tristan! Sieh nur, das ist ja wunderbar«, rief Alana aus. Die schwarzen Haare ihres nach oben gereckten Kopfes fielen locker nach hinten. Die gelernte Archäologin konnte sich an 146
dem großen romanischen Gebäude nicht satt sehen. Schwere Säulen trugen das Gewölbe. »Darin stöbern zu dürfen, wie du damals«. Alana ging langsam weiter und blickte neugierig, aber auch ehrfürchtig in die Nischen zwischen den Regalen. Selbstvergessen sprach sie weiter: »Es muss herrlich gewesen sein.« Zwischen den Regalen, die rechts und links des mittleren Hauptganges standen, waren Ablagetische zu sehen. An jedem arbeiteten zwei oder drei Mitarbeiter, die mittels Laptop das umfangreiche Inventar katalogisierten. Mit weißen baumwollenen Handschuhen wurden Schriftrollen, Folianten oder andere Artefakte entnommen, fotografiert, beschrieben und in einer Datenbanksoftware erfasst. »Ja, das war schon hochinteressant. Weißt du, ich habe … hoppla«, stolperte Tristan über den dicken Schlauch auf dem Boden. Um nicht zu stürzen, hielt er sich an Alana und Benedikt fest, die unmittelbar vor ihm liefen. »Vorsicht, mein Freund«, mahnte ihn der Pater. »Fallen Sie nicht über unsere provisorische Belüftungsanlage.« »Ach, das ist die Röhre, die uns auf dem ganzen Weg hier herunter begleitete«, stellte sich Tristan wieder sicher auf seine Beine. »Da sind bestimmt schon viele drübergestolpert.« Er versuchte sie mit dem Fuß ganz an den Rand des Mittelganges zu schieben. Es gelang ihm nicht. »Nein, bis jetzt noch niemand«, antwortete Benedikt. »Das war eine Premiere von Ihnen.« Tristan wusste nicht, ob er lächeln oder böse schauen sollte. Sein Gesichtsausdruck spiegelte widersprüchliche Gefühle wider. »Meine Mitarbeiter freuen sich sehr über ihre ›Stolperfalle‹«, dabei dehnte Benedikt das letzte Wort ironisch aus. »Die Röhre ist unsere Belüftung. Ohne wäre die Arbeit hier nicht möglich. Staub raus, Frischluft rein. Bei vierundzwanzig Leuten brauchen wir das.« 147
»Trotzdem muss es lange brauchen, bis alles erfasst ist«, vermutete Alana. Sie ging einige Schritte in eine der Regalnischen. Da sie aber schnell bemerkte, dass sie den dort Arbeitenden nur im Wege stand, kam sie sogleich wieder zurück in den Mittelgang. »Verbunden mit der Entscheidung, ob eine Veröffentlichung ansteht oder nicht«, ergänzte Benedikt. »Entscheidest du da mit?«, fragte Alana neugierig. Der Pater räusperte sich, als suche er die rechten Worte. Sah zu der kleinen Arbeitsgruppe, die über den Laptop gebeugt war. Ging weiter. Sprach leiser, damit ihn nicht alle hören konnten, aber auch als Aufforderung an seine beiden Begleiter, weiterzugehen. »Ich gebe selbstverständlich meine Empfehlung ab, nachdem wir vorher im Team«, mit einer Handbewegung bezog er alle hier Tätigen mit ein, »die Fakten besprochen haben.« »Wird denn nicht alles veröffentlicht?«, fragte Tristan in dem Bewusstsein, dass er damit stichelte. Aber er freute sich über die Retourkutsche auf die Bemerkung mit der ›Premiere‹ beim Lüftungsrohr. »Das wird im Einzelfall entschieden«, Benedikt klang wieder selbstsicher, »wir können nicht zweitausend Jahre Kirchengeschichte einfach übergehen. Da muss sorgsam geprüft und entschieden werden.« »Ich habe Zeichnungen von DaVinci gesehen. Anatomie oder so«, fiel Tristan als Beispiel ein. Sie gingen langsam weiter. »Es gibt keinen Grund, diese weiterhin versteckt zu halten.« Benedikt gefiel dieses Beispiel, weil es unproblematisch war. »Die lagen ohnehin nur hier, weil sich niemand mehr um die Dokumente hier gekümmert hat.« »Das Buch, in dem wir den Hinweis auf die Kugel gefunden haben …«, fragte Tristan mit vorsichtiger Stimme an.
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»Da werden wir noch genauer prüfen müssen.« Des Paters Blick zeigte, dass er hierüber jetzt nicht diskutieren wollte. »Wir wollen doch niemanden gefährden, oder?« Das schlug bei Tristan ein wie ein Blitz. Er schüttelte leise den Kopf. Nein, gefährdet werden sollte niemand mehr. »Und die Untersuchung von Mabuto, wegen der DogonReligion?«, setzte Tristan noch einmal nach. »Apropos Gefährdung. Wir sollten noch über etwas sprechen«, fiel Alana ein. »Was?«, fragte Benedikt nach. »Die Sache mit den Dogon aus Afrika. Mit dem Wissen über die Sirius«, verdeutlichte Tristan, der annahm, die Nachfrage bezog sich auf ihn. »Warum sollten wir über eine Untersuchung sprechen, die nichts erbracht hat?«, fertigte der Pater Tristan schnell ab. Dann schob er sie, beide an der Hüfte fassend, nach vorne. Einige Regale weiter bog er mit ihnen in eine freie Nische ein. Auf dem Ablagetisch stand zwar ein Laptop, dessen Bildschirm die Abbildung eines Schriftstückes mit seltenen keltischen Schriftzeichen zeigte, aber niemand arbeitete daran. Ernst blickte Benedikt seine zwei Begleiter an. Dabei legte er jetzt seine Hände auf die Schultern der beiden Freunde. Die Szenerie erinnerte an einen konspirativen Treff. »Gefährdung?«, fragte er kurz. »Wir können hier doch allen trauen?«, fragte Tristan und sah sich nach hinten um. »Das sind doch alles Ihre Leute?« »Ich kenne nicht alle. Die Mitarbeiter wurden nach fachlichen Gesichtspunkten ausgesucht«, sagte Benedikt. »Aber die unheimliche Abteilung wurde doch aufgelöst?«, wollte sich Tristan vergewissern. Er konnte seine zunehmende Aufregung nicht verbergen. Alana war nicht wohl in ihrer Haut.
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»Ja«, sagte Benedikt kurz. Er senkte den Kopf nach unten, wie um sich zu sammeln. »Wenn eine Abteilung aufgelöst wird, verschwinden die Menschen darin natürlich nicht. Sie übernehmen andere Verantwortlichkeiten.« »Ist jemand von denen hier?« Tristans Stimme wurde noch leiser, klang aber, als würde er schreien. Nicht darauf eingehend fuhr Benedikt fort: »Wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Was ist geschehen?« Alana berichtete kurz von den auffälligen Grabungen am Michelsberg. Tristan ergänzte mit seiner Beobachtung von dem Mann im Priestergewand, den er hier in diesem geheimnisvollen Raum vorher das erste Mal gesehen hatte. Angst kletterte seinen Magen hoch. Benedikt hörte schweigend zu. Keine Gemütsregung war zu erkennen. Mit diesem Gesichtsausdruck konnte er genauso gut die Beichte eines Kirchenbesuchers oder den Wetterbericht zur Kenntnis nehmen. »Sie müssen sofort das Druidengewand und das Schriftstück holen.« Es klang wie ein Befehl, was der Pater ruhig und bedächtig aussprach. »Was? Wieso ich?«, zuckte Tristan zusammen. »Weil ich hier bleiben muss. Es wäre nicht gut, wenn ich jetzt nach Bamberg reisen würde«, erklärte Benedikt. »Aber das müssen Sie nicht«, atmete Tristan auf. Aufgeregt erzählte er ihm, dass er vom Chiemgau aus die Kugel in Bamberg aktiviert hatte und damit gereist war. Wieder hörte der Pater mit unbewegtem Gesicht zu. »Noch besser«, kommentierte er. »Zeit ist im Verzuge.« »Aber warum ich?«, wehrte Tristan noch einmal ab. Alana folgte verunsichert dem Gespräch der Männer. Das mysteriöse Reisen in der Kugel war ihr nicht geheuer. Ihr wäre es am liebsten, das Ding würde bleiben, wo es ist und keiner ihrer zwei Freunde müsste reisen. Sie schwieg. 150
»Sie können es! Ich halte Ihnen den Rücken frei«, begründete er kurz und knapp. »Sie können es aber auch«, wehrte sich Tristan weiter. »Aber Sie können mir hier an diesem Ort nicht den Rücken frei halten. Außerdem haben Sie bereits Erfahrung mit der Aktivierung aus der Ferne. Das sollte als Begründung reichen.« »Aber Bamberg ist so weit weg. Viel weiter als der Chiemgau«, überlegte Tristan zaghaft. »Ich bin davon überzeugt, dass die Entfernung gar keine Rolle spielt«, mutmaßte Benedikt. »Können Sie sich noch an das erinnern, was auf dem Schriftstück in der unterirdischen Kammer geschrieben war?« Tristan wollte gerade darauf einen Gedanken aussprechen, aber er wurde sofort vom Pater unterbrochen. »Keine Zeit zu diskutieren«, mahnte Benedikt. »Vielleicht ist es schon zu spät. Auf jeden Fall müssen wir sofort handeln. Setzen Sie sich hierhin.« Mit diesen Worten schob er Tristan auf den Stuhl. Er ließ ihn gewähren. »Und wenn es von hier aus nicht geht?«, fragte er ängstlich nach. »Tun Sie es einfach!«, befahl er erneut. Von Befürchtungen gequält, sah Alana von Tristan auf Benedikt und zurück. »Ja«, sagte Tristan. Mehr in sich hinein als zu Benedikt. Die Kugel. Er musste sich auf die Kugel konzentrieren. Auf keinen Fall auf die Entfernung zwischen ihm und ihr. Dies würde ihn nur verunsichern. Das konnte er aber jetzt auf keinen Fall gebrauchen. Tristans Gedanken und Gefühle mussten klar und eindeutig sein. Die Kugel. Seine Kugel. Sofort spürte er ihre Präsenz, als wäre sie neben ihm. »Ja, das ist gut so«, dachte er bei sich. Die besorgten Gesichter um ihn herum sahen in ein Lächeln. Ein Lächeln, welches von 151
glühenden Rotationen umgeben wurde. Kurz aufleuchtend, kleiner werdend. Auf einen Punkt implodierend. Und mit einem Male verschwunden. Alanas Hand krampfte sich in Benedikts Oberarm. Sie konnte sich nur darauf verlassen, dass es wichtig und richtig war. Einen Augenblick später schwebte Tristan in der Kugel hundert Meter über dem Michelsberg. Es mochte um Mitternacht herum sein. Trotzdem wurde an der Grabungsstelle noch gearbeitet. Ein strenger Grabungsleiter forderte Eile von seinen Mitarbeitern. Im schwarzen Priestergewand stand er breitbeinig vor einem zehn mal zehn Meter großen, aber sehr tiefen Loch. Als die Arbeiter das untere Ende einer Schicht mit Brandresten erreichten, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bodenplatte mit dem auffälligen Hitzeriss geöffnet wurde. Emsig waren viele Hände dabei, die Platte an einem Flaschenzug zu befestigen. Tristan sah, wie der geheimnisvolle Chef an einer Leiter hinabstieg. Es blieben nur noch wenige Augenblicke. Tristan war unsicher. Kam er zu spät? Sollte er in den Hohlraum noch eindringen? Stufe um Stufe stieg der gefährlich wirkende Geistliche hinab. Die Kette, die am dreibeinigen Flaschenzug nach unten hing, spannte sich. Wie ein Film spielte sich alles unter ihm ab. »Ich darf nicht zögern«, schrie es in ihm. »Sofort handeln!« Tristan atmete tief ein und hielt die Luft an, als würde er einen Sprung ins Wasser wagen. Die Kugel raste nach unten. Er bemerkte gar nicht, wie er die Deckplatte durchquerte. Nach einem Lidschlag schwebte die Kugel unmittelbar auf dem Mittelpodest im Hohlraum. Das geheimnisvolle Licht, welches vom Gefährt ausging, beleuchtete den unterirdischen Raum. Der Druidenmantel und das mittelalterliche Schriftstück lagen noch genau an der Stelle, wo Pater Benedikt und Tristan es 152
zurückgelassen hatten. Dröhnend pochte sein Pulsschlag. Seine Lunge verlangte nach Luft. Er ließ sich aus dem Gefährt fallen. Seine Füße kamen auf dem staubigen Steinboden auf. Sofort nebelte sich alles um ihn herum ein. Ein Hustenanfall drohte. Er zwang sich, nicht zu atmen. Mit überflüssig komplizierten und ungeschickten Bewegungen rollte er den Druidenmantel zusammen. Schlug sich dabei mit seinem Kopf heftig an der Wand. Seine Lungen zuckten. Sie schrien nach Luft. Es war ihm klar, wenn er jetzt atmen würde, wäre er für längere Zeit durch den aufgewirbelten Staub außer Gefecht gesetzt. Der Mantel war um seinen linken Arm gerollt. Die Ärmel hingen lose herunter. Zitternd sammelte er mit der rechten Hand die vier Teile des Schriftstücks ein. Die Deckplatte knarrte unter ihrem eigenen Gewicht. Der Flaschenzug begann zu arbeiten. Hatte er alles? Hektisch blickte Tristan sich in dem kleinen Raum um. Durch den Staubnebel in der Luft sah er die Hand vor Augen nicht mehr. Für einen kurzen Augenblick zuckte die Erinnerung an die Panik auf, die er hier nach der Explosion erlebte. Angst lähmte ihn. Über Tristan öffnete sich die eine Hälfte der Deckplatte, die durch die Hitze der fürchterlichen Detonation damals in zwei Teile gerissen war. Grelles weißes Licht von Grabungsscheinwerfern drang ein. Ließ chaotische Reflexe durch den Staub hüpfen. Tristan war geblendet. Der Spalt der Platte öffnete sich weiter. Schwer hing der Stein am Seil. Das Geräusch der unter Spannung stehenden Kette klang bedrohlich. Tristan sah wie gebannt nach oben in den grellen Spalt. Er glaubte etwas zu erkennen. Zwei Augen starrten ihn an. Durch die unsichtbare Kugel hindurch. Der kalte Blick des Priesters. Überhaupt nicht überrascht, dort unten einen Menschen anzutreffen. Schon gar nicht diesen. 153
Ein Schrei aus dem Mund des Grabungsleiters begleitete den Sprung Tristans in die Kugel. Mit der Geschwindigkeit eines Gedankens beschleunigte sie nach oben. Immer höher. Erst als Bamberg winzig unter Tristan lag, wagte er wieder zu atmen. Endlich einatmen. Wie ein Verdurstender trank er frische Luft. Keuchend, fast hechelnd. Friedlich lag unter ihm die Domstadt. Tristan erkannte St. Michael, den Dom und andere charakteristische Plätze unter sich. Die nächtliche Beleuchtung verbreitete Ruhe. Diese Ruhe bemächtigte sich auch Tristans. Sein Atem wurde wieder leichter. Trotzdem löste er nicht den verkrampften Griff um das gräulich-weiße Gewand und das beschriebene Pergament. Schließlich fasste sich Tristan wieder. Er musste weiter zu seinen Freunden. Diesmal nahm er die immer noch als unwirklich erlebte Reise bewusst wahr. Der Sternenhimmel über ihm und eine unglaublich schnell vorbeigleitende Landschaft unter sich. Städte zeigten sich als Lichterinseln. Man konnte nicht sagen, ob er nun Nürnberg, München, Innsbruck oder Trient überquerte. Nur die Alpen und der Apennin zeigten sich ihm deutlicher. Dann Rom, Vatikan, Katakomben, und plötzlich saß Tristan wieder auf dem Stuhl, als hätte er ihn nie verlassen. Um den linken Arm war das historisch kostbare Gewand achtlos gewickelt, die andere Hand umkrampfte die vier Papierstücke. Alana erschrak ob des plötzlichen Erscheinens. Pater Benedikt reagierte sofort und nahm ihm mit seinen Baumwollhandschuhen das kostbare Manuskript ab. Dabei blickte er ihm tief in die Augen, um zu erkennen, ob es ihm gut ginge. Tristan war verstört. Vorsichtig breitete Pater Benedikt die vier Schnipsel neben dem Laptop aus. Alana hatte sich mittlerweile besorgt Tristan genähert und ihre Hände auf seine Schultern gelegt, als würde sie ihn sanft massieren. Aber als Benedikt die Papiere angeordnet hatte, waren die Blicke darauf gebannt. Keiner sagte ein Wort, so bedeutungsvoll empfanden sie dies. 154
Da kam Bruder Severino in ihre Nische. »Ah, amici Benedetto … meu amici«, grüßte er die beiden Gäste. Alana und Tristan erwiderten herzlich den Gruß. »Es ist gut, dass ihr so schnell kommen konntet. Wir haben da ein seltsames Artefakt entdeckt.« Er wollte sogleich erzählen, aber Benedikt winkte ab. »Am besten, sie sehen es sich gleich selbst an«, schlug der Pater vor. »Ja, kommt«, forderte Severino sie auf und machte Anstalten sich umzudrehen, um voranzugehen. Doch Benedikt hielt ihn zurück. »Wir sehen uns das Artefakt an und du, Bruder«, sagte Benedikt zu seinem Mitbruder, »siehst dir das mal genau an.« Dabei zeigte er auf den Mantel und das Manuskript. »Was habt ihr denn hier gefunden?«, fragte er interessiert und näherte sich Tristan. Mit schlechtem Gewissen, wie sorglos dieser mit dem Kleidungsstück des Druiden umgegangen war, wickelte er es von seinem Arm. Nachdem er sich dabei allzu ungeschickt anstellte, half ihm Alana. Als sie es sorgfältig zusammengelegt hatte, nahm Benedikt den Stoff und drückte ihn dem überraschten Severino in die Hand. »Auf beides bitte aufpassen, bis wir zurück sind«, flüsterte er ihm noch zu. Dann führte Pater Benedikt seine beiden Gäste weiter durch die Regalfluchten bis zur hinteren großen Treppe. Geschäftig eilten die anderen forschenden Mitarbeiter hin und her. Halblaute Gespräche. Sichtung der Unterlagen. Genaue Betrachtung der auf Tischen liegenden Artefakte. »Wie tief sind wir eigentlich?«, fragte Alana mit einem Blick gegen das romanische Gewölbe. »Es könnten vermutlich einige zehn Meter sein. So genau wissen wir das noch nicht«, antwortete Benedikt. »Wenn man 155
von den absteigenden Stufen ausgeht, vielleicht fünfzehn. Aber das wäre nicht korrekt gerechnet. Die Größe ist unterschiedlich.« »Und wo sind wir …? Also, sind über uns Häuser?«, fragte Alana weiter. »Wir sind sehr wahrscheinlich nordwestlich vom Petersdom, noch innerhalb der Mauern des Vatikans. Über uns sind die Vatikanischen Gärten«, erklärte Benedikt. Mit einem schalkhaften Seitenblick auf Tristan fuhr er fort: »Wie Sie als Geologe bestimmt wissen, ist der Untergrund von hier in Richtung Westen poröses ockergelbes Tuffgestein. Wir vermuten, dass dieser unterirdische romanische Bau eine Erweiterung eines Ganges, ein Vorratskeller oder Gebetsraum aus dem Urchristentum ist. Wir sind da noch am Forschen. Es wartet noch so viel auf uns.« Die Begeisterung des Paters übertrug sich auf Alana. »Du bist um diese Arbeit zu beneiden«, strahlte sie ihn an. Währenddessen bestiegen sie den Treppenaufgang. Dieser führte sie auf eine Balustrade, die, mit weiteren Regalen versehen, die Seitenwände des Gebäudes, nach vorne führend, umschloss. »Also ich beneide ihn nicht«, betonte Tristan und legte dabei seinen Arm um ihre Hüfte. Sie grinste, nahm es aber auch als Zeichen, dass es ihm nach der schwierigen Aktion vorhin wieder besser ging. Benedikt, der vorausging, lächelte auch in sich hinein. »Glücklich ist der, der zufrieden ist, mit dem, was er hat.« Mit diesen Worten drehte er sich zurück und bot Alana seine Hand, damit sie an der Treppe einen sicheren Halt hatte. Sie ergriff die Hand und zog sich daran hoch. Tristan hing wie ein Anhänger mit seinem Arm an Alanas Hüfte und musste sehen, dass er den Anschluss nicht verlor. »Es gibt bestimmt Momente, da fehlt Ihnen doch was, oder?«, provozierte Tristan ihn. 156
»Glücklich ist der, der zufrieden ist mit dem, was er hat«, wiederholte der Pater, während er mit Alana die oberen Stufen betrat. »Warum sollte ich nach Dingen streben, die mich unzufrieden machen könnten, wenn ich sie doch nicht brauche?« Tristan fiel auf die Schnelle keine Antwort auf den so selbstsicher hingeworfenen Sinnspruch ein. Trotzdem beschlich ihn das Gefühl, dass Benedikts Satz mehr in ein Poesiealbum passen würde, als dass er Ausdruck innerer Erkenntnis wäre. Während er noch darüber nachdachte, erreichten sie einen Tisch am Geländer der Balustrade. Hier oben standen die Regale längs an der Wand. Während Pater Benedikt in Kisten kramte, die vor einem Regal deponiert waren, lehnten sich Tristan und Alana an das steinerne Geländer und betrachteten das Treiben unten. Es schienen weniger Mitarbeiter geworden zu sein. Einige schritten Richtung Ausgang. »Ich habe mich sowieso schon gewundert, warum hier bis spät in die Nacht gearbeitet wird. Jetzt scheint endgültig Feierabend zu sein«, sagte Tristan. »Zum Mitternachtsgottesdienst ist Schluss«, rief Benedikt von hinten. »Durch den vorgegebenen Tagesablauf oben sind wir zeitlich etwas gebunden.« Ein rumpelndes Geräusch zeigte an, dass der Priester irgendetwas rangierte. »Die Mitarbeiter sind alle so interessiert und motiviert, dass viele bis Mitternacht arbeiten.« Die beiden blickten den letzten Brüdern hinterher. Severino war von hier oben nicht zu sehen. Sie vermuteten, dass er noch nicht gegangen war. »Hier ist es!«, ließ sich der Pater wieder hören und hob eine kleine Ablagekiste auf den Tisch. Auf den ersten Blick schien es, als sei sie angefüllt mit steinernen Bruchstücken. Alana begeisterte sich immer mehr. Eine Zeitlang hörte Tristan nur noch das aufgeregte Atmen der beiden. Von unten summte die Lüftungsanlage. Durch das Fehlen anderer Hintergrundgeräusche nahm er jetzt das leise Brummen intensiver wahr. 157
»Deswegen habe ich euch hergebeten.« Vorsichtig, als halte er eine Tasse aus chinesischem Porzellan in Händen, hob er einen Gegenstand heraus. Ehrfürchtig ob des vermuteten Alters legte er das Artefakt auf den Tisch. Sorgsam auf ein helles Ablagetuch. »Vermutlich beginnendes Neolithikum. Idol einer weiblichen Gottheit. Überdimensionale Darstellung von Brüsten, Bauch und Hüfte, als Zeichen der Fruchtbarkeit«, gab Alana aufgeregt im Telegrammstil von sich. Tristan sah sich das fünfzehn Zentimeter hohe Figürchen aus hellem Kalkstein an. Ihm fielen neben den besonderen weiblichen Attributen noch das lange Haar und angedeutete Gesichtszüge auf. Dicke Oberschenkel unterstrichen die gebärfreudige Mitte des Artefaktes. Ihm stockte der Atem, als Benedikt die nächste Figur ablegte. Selbst dem archäologisch Ungebildeten fiel sofort auf, dass hier etwas nicht stimmte. »Ich meinte diese Figur hier«, erklärte der Pater. Etwas kleiner als das erste Idol. Sandstein. Niemand wagte zu atmen. Angedeutete männliche Skulptur. Hände übereinander vor der Leibesmitte. Kopf mit groben Einkerbungen für Augen, Nase und Mund. Unten ein um den Fußbereich laufender Doppelring, der das untere Ende anzeigte. Und … ein Symbol auf der Brust. »Ein Triskell«, stotterte Alana. Das sehr einfach gehaltene Zeichen, ohne Schnörkel und Schleifen, erinnerte mehr an die Zeichnung auf Tristans Fund als an die üblichen keltischen Darstellungen. »Aber das stimmt doch nicht«, meldete sich Tristan zu Wort. »Die Kelten lebten doch … und das hier soll doch aus der …« Immer wieder unterbrach er seinen Satz, weil ihm die Fakten nicht präsent waren. Das war auch nicht wichtig, denn der Pater und Alana wussten, wovon er sprach. »Stimmt die zeitliche Zuordnung denn?«, fragte Tristan aufgeregt. 158
»Das lässt sich leider nicht genau sagen«, erklärte Alana. »Die üblichen Messmethoden greifen bei reinem Stein nicht.« »Wir suchen noch begleitende Unterlagen«, sprach Benedikt weiter. »Ein Echtheitszertifikat?« Tristan versuchte die innere Anspannung mit einem Scherz zu überspielen. »So was Ähnliches«, antwortete der Pater, womit er den Fragesteller sehr überraschte. »Aufzeichnungen über die Umstände des Fundes.« »Und?« Tristan konnte seine Neugier kaum verbergen. Alana biss sich auf die Unterlippe vor Aufregung. »Wir sind noch nicht so weit. Jedes Fundstück hier sollte erklärende Unterlagen haben.« »Sollte?«, fragte Tristan nach. »Das hier ist eine Mischung aus Bibliothek und Rumpelkammer. Das Chaos hat System. Die, die hier Sachen eingelagert haben, waren der Ansicht, dass sie nicht mehr wiedergefunden werden müssten«, entschuldigte sich der Pater. »Man wollte es ja verschwinden lassen.« »Dann müssen wir uns zuerst auf unsere Nase verlassen«, sagte Alana. »Und was sagt dein süßes Näschen?«, fragte Tristan. »Typisch wäre ein weibliches Idol wie dieses hier«, dabei zeigte Alana auf das daneben liegende Artefakt. »Symbol für Fruchtbarkeit und Leben.« »Typisch wäre weiterhin die Unterteilung Muttergottheiten für die Erde, im Sinne von ›Hervorbringen neuen Lebens‹, und Vatergottheiten, als Himmelskräfte der Rhythmen für Zeiten von Aussaat und Ernte. Also Himmelsgottheiten für Gesetzmäßigkeit und Verlässlichkeit und Erdgottheiten für Leben und Tod.« Benedikt zeigte auf die beiden Statuetten vor sich. 159
»Irgendwann, vermutlich mit Beginn der Jungsteinzeit, der ersten Städtegründungen, der Herausbildung von festen Obrigkeiten, hing man mehr den Himmelsgöttern an. Die anderen wurden dämonisiert, verteufelt. Das Wort Teufel kommt von Tiefe. Der Bergmann kennt das Wort ›abteufen‹ für das Hinuntertreiben eines Schachtes. Der Baphomet, als angeblicher Gott der Templer, wurde im neunzehnten Jahrhundert mit Brüsten und Hörnern dargestellt. Möglicherweise eine Anspielung auf alte ägyptische oder keltische Fruchtbarkeitsgottheiten.« »Warum sollten Fruchtbarkeitsgötter, also die Verantwortlichen für Leben und Ernte, dämonisiert werden?«, wunderte sich Tristan. »Weil sie unzuverlässig sind. Das Saatgut kann durch späten Frost geschädigt werden, oder durch Schädlinge, Trockenheit und Überflutung. Die Planeten hingegen laufen absolut präzise durch die vorgesehenen Sternbilder. Naturgottheiten haben mit Opfern zu tun. Opfer, die die Lebenskraft der Natur stärken. Blutopfer, Getreideopfer. Vielleicht sah man nach aufeinander folgenden Missernten irgendwann keinen Sinn mehr in weiteren Opferungen und beschloss, dass Götter der Fruchtbarkeit, sinnliche Rituale und alles, was mit der Tiefe, also der Mutter Erde zu tun hatte, Götzendienst war. Dass dies keine Götter, sondern Dämonen waren.« »Damit warf man das weibliche Element in der Religion auch gleich mit über Bord«, sagte Alana. Auf die fragenden Augenpaare entgegnete sie unsicher: »… der Gedanke drängt sich auf.« »Mag sein«, murmelte Benedikt. »Dann unterliegt der Wandel in der religiösen Geschichte den Notwendigkeiten der historischen Entwicklung des Menschen?«, fragte Tristan nach.
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»Religion ist eine Antwort auf die Bedürfnisse der Menschen …«, begann Benedikt. »… und deshalb genauso menschlich wie die Menschen«, fiel ihm Tristan ins Wort. Benedikt schwieg. Tristans Worte hatten ihn etwas verunsichert. »Wo ist dann das Wort Gottes?«, fragte Tristan folgerichtig weiter. »Vielleicht können wir den wahren Glauben an Gott noch nicht erfassen, deshalb erklimmen wir die Leiter Sprosse für Sprosse. Kein Mensch hätte möglicherweise Interesse am Glauben, wenn er nicht seiner Entwicklungsstufe, seinen Bedürfnissen und Nöten entsprechen würde«, antwortete der Pater, der sichtlich froh war, die richtigen Worte gefunden zu haben. »Wenn es so viel gibt, was wir niederen Wesen noch nicht erfassen können«, ergriff Alana wieder das Wort, »dann sollten wir uns doch lieber mit dem befassen, was uns wirklich weiterbringt.« Die Angesprochenen wandten sich gespannt Alana zu. »Zum Beispiel, was wir von dem unbekannten Artefakt hier vor uns wirklich wissen.« Ja, es wurde den beiden klar. Sie mussten weitermachen und durften sich nicht im haltlosen Philosophieren verlieren. »Was wissen wir wirklich?«, wiederholte Tristan die Frage und beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Nichts«, sagte Benedikt und erntete Enttäuschung, »außer dass es mit dem Triskell überhaupt nicht einzuordnen ist.« »Doch, wir wissen schon etwas«, bemerkte Tristan und sah sich die kleine Figur genauer an. Vorsichtig fuhr er mit der Fingerspitze seiner unbehandschuhten Hand darüber. »Rötlicher Sandstein mit hohem Eisen- und Aluminiumgehalt aus Sedimenten des Zechsteinmeeres.« Schweigen. Er musste
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aufblicken, um zu erfahren, ob Pater Benedikt und Alana ihm überhaupt zuhörten. »Das kannst du so einfach sagen?«, wunderte sich Alana. »Diese Durchmischung der Spurenelemente, die die typische Färbung ausmachen, ist manchmal so individuell wie ein Fingerabdruck«, setzte Tristan nach und genoss sehr, dass er als Geologe einmal nicht Zuschauer war. »Sie können aus dem Gestein auf den Ort schließen?« Nervosität schwang in der Stimme des Paters mit. »Natürlich nicht den Fundort, aber den Ursprungsort des Sandsteinbrockens, aus dem dieses Artefakt entstanden ist.« Er fieberte förmlich der Frage entgegen, wo denn der Ursprungsort sei. Zu oft war er als archäologischer Laie daneben gestanden und konnte gar nichts beitragen. Aber die Frage kam nicht. Stattdessen schlang sich Alana um seinen Arm, denn sie wusste genau, was Tristan wollte, sah ihn mit zuckersüßem Blick in die Augen und zog leicht an seinem Arm. Etwa wie ein Kind, das auf sich aufmerksam machen möchte. Diesem konnte der Geologe nicht mehr widerstehen. »Helgoland. Das typische Gestein für Helgoland. ›Blau ist das Meer, rot ist der Fels, grün ist das Land‹ und so weiter«, löste er die Spannung. »Helgoland?«, fragte Benedikt nach. »Sicher?« »Jou«, antwortete Tristan und ahmte einen norddeutschen Dialekt nach. »Aber fragen Sie mich nicht, wie er in der Jungsteinzeit über das Meer nach irgendwo gekommen ist. Das wäre dann wieder euer Ressort.« »Das weiß ich«, sagte Benedikt kurz und bündig. »Was ich nicht wusste, war der Ort.« »Das wissen Sie?«, wunderte sich Tristan ungläubig. Da spürte er wieder das leise Ziehen Alanas an seinem Arm. 162
»Natürlich wissen wir das. Sie wissen es auch.« »Ach ja. Der Meeresspiegel war ja bedeutend niedriger damals«, fiel es Tristan wieder ein. »Helgoland also. Was machen wir jetzt?« »Auf alle Fälle packen wir das Artefakt weg und gehen wieder zu Bruder Severino hinunter. Wir haben ihn eigentlich schon viel zu lange mit unseren keltischen Schätzen alleine gelassen«, schlug der Pater vor. Vorsichtig packte er die Fundstücke wieder in das Behältnis und legte es zurück in das Regal. Diesmal verließen sie die Balustrade durch die vorne am Eingang angebrachte metallene Wendeltreppe. Tristan war froh, an der Treppe nicht wieder kriechen zu müssen, wie damals. Langsam spazierten sie die Stufen hinunter. Bei der Eingangstür zur Bibliothek kamen sie heraus und machten sich auf den Weg zum Mittelgang. »Kannst du etwas über Helgoland herausbekommen?«, fragte der Pater Alana. »Das dürfte nicht schwer sein. Ob uns das weiterbringt, müssen wir sehen. Besondere Steine wurden im ganzen damaligen Europa gehandelt. Aber irgendwo müssen wir anfangen«, sagte Alana. »Du hast nicht zufällig einen Bekannten auf Helgoland, der uns weiterhelfen könnte, Benedikt?« »Leider nein.« »Über was sprecht ihr?«, fragte Tristan, der hinterherlief und nicht alles verstanden hatte. »Darüber, dass ich noch einen Mann brauche, um weiterzukommen«, zog Alana ihn auf. »Aber du hast doch schon so viele«, gab er frech zurück. »Man kann nie genug haben«, lachte sie, zog ihn an sich und küsste ihn auf die Wange. Schmunzelnd ging Benedikt weiter. Tristan wollte den Kuss gerade erwidern, da rief der Pater aufgeregt: 163
»Schnell hierher!« Tristan und Alana rannten los, um die Nische, in der sich Severino befand, so schnell als möglich zu erreichen. »Was ist denn los?«, rief Tristan. In der Nische angekommen, sahen sie Bruder Severino auf dem Boden liegen. Der Hinterkopf blutete. Blut floss auf den Boden. Aus einer Platzwunde am hinteren Rand seiner Tonsur. Das Druidengewand war ebenfalls blutverschmiert. »Er ist bewusstlos. Schnell, Tristan, vorne im Schrank neben der Eingangstür liegt ein Erste-Hilfe-Kasten. Holen Sie ihn!«, rief Benedikt. »Da, wo die Listen drin sind?«, fragte der Angesprochene bereits im Gehen. »Ja, genau dort.« Sofort spurtete Tristan los. Hinter sich hörte er, wie der Pater versuchte, Severino zu wecken. Den Verbandskasten musste Tristan erst hinter einigen Türen suchen. Doch dann fand er ihn. Noch während er mit ihm in der Hand rannte, öffnete er ihn. So hielt er ihn Benedikt hin. Doch Alana griff routiniert zu. Ein paar Auflagen zurechtgeschnitten und aufgepresst. Verbandrolle. Klammer. Fertig. In diesem Augenblick kam Severino zu sich. »Bruder! Was ist denn passiert?«, sprach ihn Benedikt sorgenvoll etwas zu laut an. Severino brauchte einige Augenblicke, um klar denken zu können. Er verzog das Gesicht vor Schmerzen. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf. Dabei lag er noch auf dem Boden, denn Benedikt ließ ihn noch nicht aufstehen. »Schlag von hinten … schwarz vor Augen«, stammelte er. Mit einer kleinen Taschenlampe, die der Erste-HilfeAusrüstung beilag, prüfte Alana seine Pupillenreaktion. Benedikt war überrascht, Tristan sprachlos.
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»Guckt nicht so! Ersthelferausbildung in unserer Bamberger Stadtbibliothek«, beantwortete sie die nicht ausgesprochenen Fragen. »Ist alles da?«, stieß Severino hervor. »Ja«, sagte Benedikt. »Das Gewand liegt hinter dir. Du hast es wohl beim Sturz vom Stuhl mit hinuntergezogen.« Dann blickte er sich auf dem Ablagetisch um. Der Laptop zeigte immer noch die strichartigen Buchstaben der seltenen keltischen OghamSchrift. »Das Pergament?«, fragte Severino. »Ich suche es schon«, sagte der Pater. »Hast du es mit hinuntergezogen?« Dabei sah er unter dem Tisch nach. Tristan nahm das Druidengewand und faltete es, soweit es bei diesem großen Mantel ging, auf, um zu prüfen, ob sich die pergamentenen Schnipsel dort versteckten. »Machen Sie sich keine Sorgen«, tröstete ihn Alana, die sich als Einzige weiter um den Verletzten kümmerte. Bruder Severino setzte sich auf. Alana konnte ihn nicht bremsen und die anderen waren zu beschäftigt. Ein leiser, langgezogener Laut aus seinem Mund zeigte, dass er dabei große Kopfschmerzen hatte. »Das war ein Überfall. Ganz bestimmt«, sprach er das aus, was bisher niemand wagte. »Kein Pergament da«, meldete sich Tristan und zuckte mit den Schultern. »Severino sollte hinausgetragen werden«, schlug Alana vor. »Hier ist es auch nicht«, befand Benedikt. »Er darf nicht selbst gehen.« Sie machte sich Sorgen um den Kopf des Bruders. »Wer könnte so etwas tun?«, fragte Tristan Benedikt. »Wir hatten wohl einen Maulwurf in der Mannschaft. Anders kann ich es mir nicht vorstellen«, schüttelte er seinen Kopf. 165
»Hallo! Ihr Alleswisser! Er muss ins Krankenhaus. Es muss ein CT gemacht werden. Der Schlag war keine Kleinigkeit«, wies Alana die zwei Männer auf das Wesentliche hin. Pater Benedikt zuckte zusammen und lief zur Sprechanlage.
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HELGOLAND Ängstlich sah er sich um, ob sie verfolgt würden. Ständig spürte er bohrende Augenpaare auf seinen Rücken gerichtet. Doch wenn Tristan sich umblickte, sah er nur quirliges Touristenleben um sich herum. Alle genossen den Blick auf das weite Meer der Nordsee. »Geht es dir noch nicht besser?«, fragte Alana besorgt und hielt Tristans Hand. Aber der Angesprochene presste nur einen unverständlichen Laut durch seinen geschlossenen Mund. Dabei einen lächelnden und trotzdem leidenden Gesichtsausdruck machend. Und wieder wanderten seine tief in den Höhlen liegenden, dunkel umrandeten Augen über die Menschen auf dem Oberdeck. Der allgegenwärtige Wind pfiff hier oben besonders stark. Jeder hüllte sich, trotz Sonne, in eine Regenjacke, zeigte sich aber dennoch erwartungsvoll. Kinder spielten zwischen den Reihen von Sitzbänken oder fragten den Eltern Löcher in den Bauch über Schiff und Meer und Wind. Ältere Paare saßen, still die Naturelemente genießend, und hielten sich vertraut an der Hand. Einsame Fotografen suchten mit der Kamera in der Hand ein immer noch besseres Motiv. Eine Hallig, das verrostete Schiffswrack, einen Krabbenkutter mit seitlich hochaufgezogenen Netzen oder auch nur das Spiel der schreienden Möwen. Ständig versuchten die quicklebendig umherschwirrenden Tiere etwas Essbares zu erhaschen. Kunstvolle Pirouetten drehend, Salti schlagend, sausten sie knapp über die Köpfe der Passagiere hinweg. Heimlich biss Alana in ein Käsebrot. Dazu drehte sie ihren Kopf zur Seite. Sie wollte Tristan nicht noch mehr quälen, aber die frische Seeluft regte auch ihren Appetit an. Tristan tat so, als sähe er es nicht. Aber seinem forschend umherblickenden Auge 167
entging nichts. Egal wie sehr sein Magen rebellierte. Trotzdem verhielt der Seekranke sich so, dass Alana glauben musste, sie hätte die Brotzeit mit Erfolg vor ihm verborgen. »Die Meeresluft ist einfach schön«, schwärmte Alana. »Ja, bestimmt«, sagte Tristan kleinlaut. »Entschuldigung«, sagte Alana, als sie bemerkte, dass er sich immer noch so quälte. Jede vorbeihuschende Möwe in ihrem virtuosen Kunstflug war eine Herausforderung für seinen Magen. Den Blick auf die Wellen musste er auch vermeiden. Meist sah er zu den Mitreisenden, wie sie krampfhaft Kapitänsmützen festhielten oder wegen des Windes die Ohren bedeckten. Solange die Beobachteten nichts aßen, konnte er hinsehen. Wenn sie etwas zu essen auspackten, wanderte sein Blick weiter. Ein Schiffsoffizier der »Wappen von Hamburg« betrat das Deck. Gewandt schwang er sich eine feste Stufenleiter empor, die für den normalen Passagier verboten war. Sofort war er umringt von Fragenden. Zuerst die Kinder: Wie lange fährt das Schiff noch, wie groß ist es, wie viel Kilowatt, was macht der Kapitän gerade, und so weiter. In zweiter Reihe um den armen Bediensteten standen Erwachsene, denen die Freude darüber, dass die Kinder die Fragen stellten, die sie auch interessierten, anzusehen war. Geduldig gab der Mann Auskunft. Da blies eine plötzliche Böe ihm seine Mütze vom Kopf. Sofort rannte eine Handvoll aufgeweckter Kinder hinterher. Noch eben ruhig dasitzende Touristen schnellten nach oben, das vorbeifliegende Utensil zu fassen. Aber es flog weiter und vollführte dabei allerlei Drehungen und Wendungen. Sauste weiter. Näherte sich der Doppeltür des Aufbaus, die sich soeben öffnete. Ein streng aussehender Herr mit Adlerblick und langem grauen Regenmantel schritt gerade heraus. Mit ungeahntem, blitzartigem Reflex fasste er die Offiziersmütze im Flug. Beifall 168
von allen Seiten. Trotzdem schien es ihm unangenehm zu sein. Schnell gab er sie den herankommenden Kindern und drückte sich sogleich in eine Ecke, in der Hoffnung, niemand würde ihn weiter beachten. Abwesend schien er die Weite des Meeres zu betrachten. Tristan zuckte zusammen. Graue Mäntel hatte er in unguter Erinnerung. Ob dies hier gerechtfertigt war oder nicht, war ihm egal. Vortäuschend, es ginge ihm besser, machte er Alana den Vorschlag, das Deck zu wechseln. Vielleicht gab es ja auf dem Schiff noch mehr Interessantes zu entdecken. Mit ihren Rucksäcken lässig über den Schultern schlenderten sie möglichst unauffällig auf der anderen Seite des Decks zum mittleren Treppenaufgang. Bevor sie hineingingen, sah sich Tristan noch einmal unauffällig um. Es schien alles in Ordnung. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, war ihm wohler. »Wo möchtest du denn hin?«, fragte Alana. »Das Schiff noch etwas anschauen. Wer weiß, wann wir das nächste Mal so einen Dampfer von innen anschauen können«, antwortete Tristan. »Bei unserer Rückfahrt«, entgegnete Alana. Verblüfft über die prompte Antwort, fiel ihm nichts dazu ein. Trotzdem zog er sie die Stufen hinunter. Dann lächelte sein graugrünes Gesicht schalkhaft. »Was du heute kannst besorgen …«, sagte er. »Aha«, gab sie zurück. Eine Etage tiefer, eine Abzweigung weiter, standen sie in einem Speisesalon. »Du hast Appetit auf Essen?«, fragte Alana überrascht. Aber statt eine Antwort zu geben, stand Tristan nur mit offenem Mund da und starrte auf die Speisenden. »Nein, jetzt nicht«, sagte er noch schnell und zog seine Begleiterin wieder hinaus in den Flur. Lange Gänge führten
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nach vorne und hinten. Der Teppichboden dämpfte jeden Schritt angenehm. »Wir sind jetzt einfach Lord und Lady Globetrott und wandeln auf der ›Queen Elizabeth‹ zurück in die Luxus-Suite, um uns etwas von den Strapazen einer langen Seereise auszuruhen«, scherzte Tristan. »Dann, lieber Lord, ziehe doch bitte nicht so an meinem fürstlichen Handgelenk, sondern geleite mich durch die Flure«, spielte Alana gleich mit, der es gefiel, dass es Tristan wieder besser zu gehen schien. Exzellenzen würdig, schritten sie den langen roten Teppich hinab. Kabinentür reihte sich an Kabinentür. »Es ist schon absolutely ärgerlich, dass hier das Green fehlt«, mimte Tristan einen verschrobenen englischen Lord. »Habe meine professional Golfausrüstung für die Überfahrt umsonst mitgenommen.« »Oh dear«, sagte Alana, die ihre dargebotene Hand elegant von ihm führen ließ. »Wie solltest du auch abschlagen, wenn der Ball in jedem Falle in Seenot gerät?« »Du hast recht, my darling«, sagte Tristan. »Schwimmwesten sind nach dem Reglement«, er sprach dieses Wort mit einem Ausbruch fränkisch klingenden Französischs aus, »des GolfClubs beim Spiel nicht erlaubt.« Eine Kabinentüre öffnete sich. Ein Steward in weißem Anzug wollte gerade heraustreten. Da ihm das selbstsichere Auftreten des seltsamen Paares signalisierte, dass sie die Herrschaften seien, zuckte er sogleich einen Schritt zurück. Als sie ihn passierten, verneigte er sich höflich. Alana nickte nur kurz, als wäre ihr der Gruß lästig. »Und überhaupt, das Wetter …«, Tristan dehnte das letzte Wort, um den spleenigen Ausdruck seiner Rolle noch zu betonen, »das Wetter … viel zu windig für einen Longdrive.«
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»O no, das Wetter«, sagte Alana, »bei dem Wind kann ich meinen standesgemäßen Hut gar nicht tragen. Nicht auszudenken, isn’t it?« »Jetzt hat es auch seit drei Tagen nicht mehr geregnet.« Lustvoll verzog er das R. »A disastrous Trockenheit, und das mitten on the ocean.« Distinguiert blickte er auf seine Begleiterin herab. »Terrible, isn’t it?« »Oh really, my marvellous darling«, gab Alana mit demselben Gesichtsausdruck zurück. In diesem Augenblick hörte Tristan eine Kabinentür im leicht schaukelnden Schiff klappern. Aber es kam niemand heraus. Im Vorbeigehen stieß er die Tür auf und spitzte hinein. Es war niemand drin. »Da hat doch the terrible servant die Kabinentür nicht abgeschlossen«, empörte sich Tristan. Alana kicherte peinlich berührt, denn er zog sie in die Kabine hinein. Mit einem Knall flog die Tür zu und Tristans Daumen ließ den Riegel ins Schloss fallen. Mit einem sehr gelangweilt klingenden »Lady Alana, now it is kissing time« warf er sie, so plötzlich, wie es der behäbigen Rolle gar nicht entsprach, auf das gemachte Bett und sich selbst hinterher. Der heiße innige Kuss ließ sofort Seegang, echte und eingebildete Verfolger vergessen. Das allgegenwärtige Brummen der Schiffsmaschinen schirmte sie von jeglichen akustischen Störungen ab. Wange, Mund, Hals. Wie in einer endlosen, lustvollen Wiederholung. »Herrschaften!«, näselte hinter ihnen eine Bedienstete im unverkennbaren Hamburger Dialekt. Aber Tristan hörte und sah nichts. Er fühlte und schmeckte nur. »Meine Herrschaften!«, wiederholte sie.
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Alana wollte ihn irritiert wegschieben, weil sie etwas zu hören glaubte, aber er hielt das Ganze nur für gespielt und eroberte ihr ausweichendes Gesicht immer von neuem. »Ich muss doch sehr bitten«, klang es jetzt deutlich lauter und strenger. Mit einem Schlag sortierten sich die Liebenden auseinander und krabbelten aus dem Bett. Erschrocken schauten sie die Dame an. »Das ist nicht Ihre Kabine«, rügte sie streng. »Oh my dear«, spielte Tristan ohne Übergang seine Rolle weiter. »Es scheint, wir sind hier falsch. Wie dumm von uns. Wir sind gar nicht im Vorderdeck.« Aber Alana sortierte, noch immer erschrocken, ihre Kleidung. »Wo bitte geht es zum Vorderdeck«, fragte er trocken die Mitarbeiterin der Schifffahrtslinie. »Da, nach vorne«, kam die Antwort, kurz und überrascht. Mit einem »Oh, we are terribly sorry« verließen sie die Kabine wieder. Dabei führte er Alana aristokratisch zur Tür hinaus. Kaum war diese hinter ihnen ins Schloss gefallen, rannten sie beide lachend los. Den Gang hinunter. Über die Treppe ins Unterdeck. Sie standen in einem Warteraum, der sich langsam mit Passagieren füllte. Augenscheinlich waren sie an dem Ort gelandet, an dem das Ausschiffen vorbereitet wurde. Das große Außenschott war noch geschlossen. Die zwei Verliebten standen aneinander gekuschelt in der Reihe und warteten. Es dauerte noch lange, ehe es so weit war, das Schiff über eine wackelige Treppenkonstruktion zu verlassen. Tristan krampfte sich beim Umsteigen in ein Motorboot mit einer Hand an Alana, mit der anderen am Geländer fest. Dann setzten sie über. Die ersten Schritte auf dem festen Boden Helgolands konnte er gar nicht genießen. Tristan musste feststellen, dass dieser 172
genauso schwankte wie das Schiff, was natürlich Einbildung war. Er hakte sich bei Alana ein, was mehr einem Aufstützen gleichkam als einem liebevollen Kontakt. »Lass uns doch erst mal einen Kaffee an der Uferpromenade trinken. Zum Erholen«, schlug Tristan vor. »Mit Blick auf das Meer und die schwankenden Boote? Nein, danke. Sonst muss ich dich noch tragen«, lachte Alana. »Es wird bestimmt gleich besser, du Magenbeschwörerin.« »Schau mal, dort«, Alana zeigte Richtung Boote. Die Ausschiffung fuhr ihren letzten Transport. Nicht mehr alle Plätze waren besetzt. »Der Mann im grauen Regenmantel …« Tristan spähte in die angegebene Richtung. Aber noch bevor er fand, was Alana andeutete, wusste er schon – nein, fürchtete er schon, was sie meinte. »Wir hätten doch vielleicht mit der Kugel …«, sagte Tristan. »Du weißt, dass mir das Ding Angst macht«, gab Alana zurück. »Aber da hätte uns niemand folgen können«, rechtfertigte er sich. »Du sagst doch selbst, du möchtest sie nicht unbedingt für profane Dinge verwenden«, sagte sie. »Aber dann stünden wir jetzt nicht hier und würden auf den Mann da starren«, sagte Tristan. Alana sah ihn mit einem typisch weiblichen Blick aus Bitten und Fordern an. »Unsere Reise bisher war doch sehr schön«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. »Du hast recht. Ich bin gut gepflegt worden.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und vielleicht …«, spielte Tristan herunter, »und vielleicht ist das ja auch ein ganz normaler Tourist. Ein strenger Studienrat auf Bildungsreise oder so.« 173
»Mit einem Regenmantel, den er mit dem komischen Mann aus dem Dom von derselben Stange gekauft haben könnte«, begann nun Alana ängstlich zu werden. Tristan wollte weiter ihre Befürchtungen herunterspielen. Aber er konnte seine eigenen Bedenken, als er den Mann auf dem Schiff gesehen hatte, nicht ganz ignorieren. Wie gebannt beobachteten sie den Unbekannten. Während es allen etwas Schwierigkeiten bereitete, bei diesem Seegang vom ShuttleBoot am Steg auszusteigen, sprang der Mann mit geschicktem Sprung über. ›Die lässige Bewegung sieht viel zu leicht aus, angesichts der Tatsache, dass alle anderen Hilfe vom Personal benötigten‹, dachte Tristan. Suchend sah sich der Unbekannte um. Gleich würde er in ihre Richtung schauen. »Lass uns schnell weitergehen«, schlug Tristan vor. »Ja«, sagte Alana kurz. Schnell versuchten sie in den Gassen des kleinen Städtchens zu verschwinden. Bevor sie in eine davon einbogen, wagten sie es nicht mehr, sich umzudrehen, um keinen Verdacht bei dem möglichen Verfolger zu erregen. Rechts und links reihten sich Cafés, Andenkenläden, Restaurants aneinander. Zwischendurch fanden sich aber auch normale Einkaufsläden, Buchhandlungen und eine Bank. »Schau hin, nicht nur für Touristen«, lenkte Tristan etwas ab. »Ja, man könnte meinen, hier wohnten auch Einheimische«, scherzte Alana. »Tun sie doch auch«, sagte Tristan, der den kleinen Scherz nicht verstand. »Ja, aber leider fällt die Ursprünglichkeit von Helgoland mit seinen Bewohnern unter dem ganzen Tourismusrummel gar nicht auf«, klagte Alana etwas.
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»Dann lass uns doch etwas abseits der Wege gehen«, schlug Tristan vor und zog Alana mit dem untergehakten Arm weiter. Von Übelkeit war nichts mehr zu bemerken. Mittlerweile erreichten sie Gassen, in denen sie allein waren. Die Touristenwege hatten sie verlassen. Größere Wege meidend, spazierten die beiden auf der Ostseite der Insel Richtung Nordstrand. Gerade passierten sie die Vogelwarte. Niemand schien hier zu sein. Der richtige Ort, um versteckt abzuwarten und zu überlegen, wie sie weitermachen könnten. Tristan hatte seine Augen eher hinten als vorne. Ständig wandte er sich um. Alana ließ sich von ihm regelrecht anstecken. »Hier ist niemand. Wir haben uns bestimmt geirrt«, versuchte Tristan Alana zu beruhigen, was aber nicht glaubhaft klang, denn er selbst glaubte es nicht. Nach rückwärts gewandt, lief er nach vorne, Alana ziehend. An einer Buche vorbei. Zischend schoss ein Pfeil nahe an Tristans Ohr vorbei. Zitternd blieb er im Stamm stecken. Tief grub sich die scharfe Spitze in das Holz ein. Tristan fuhr vor Schreck zusammen. Alana entfuhr ein kleiner Schrei. Mit aufgerissenen Augen starrte das Beinaheopfer auf das Geschoss. Erlebte im schnarrenden Zittern des Pfeils noch Reste ungeheurer Bewegungsenergie. Ängste und Gedanken überschlugen sich. Waren sie entdeckt worden? Hatten Verfolger sie erreicht? Noch bevor die beiden einen weiteren Atemzug machen konnten, schlug der nächste Pfeil ins Holz. Wie Salzsäulen erstarrt, wagten sie es nicht, sich zu bewegen. »Halt! Halt!«, schrie es von irgendwoher. »Was machen Sie denn da? Wo kommen Sie überhaupt her?« Der Rufer schien genauso aufgeregt wie Tristan und Alana.
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Im Dauerlauf kam eine merkwürdige Gestalt auf sie zugerannt. Tristan traute seinen Augen nicht. Verwirrt schaute er wieder auf die Pfeile. Dann auf die Gestalt. »Das ist Institutsgelände. Sie dürften gar nicht hier sein«, keuchte der Schütze. Ein Mann in einem urtümlichen ledernen Anzug näherte sich ihnen. Fußlinge, Fellmütze, Bogen in der Hand. Eine Muschelkette flog im Laufen hin und her. Im Gürtel schien ein Messer zu stecken. Tristans innere Alarmsignale zur sofortigen Flucht waren gelähmt. Zu absurd war die Situation. »Ein Steinzeitmensch«, stotterte Alana. »Was?«, fragte Tristan nach, der glaubte sich verhört zu haben. »Genauer: aus dem Neolithikum«, erklärte sie, ohne die Hoffnung, dass Tristan sie verstand. »Wie?«, rief Tristan ihr zu, obwohl sie neben ihm stand. »Sie sind hoffentlich nicht verletzt worden?«, fragte der jungsteinzeitliche Jäger besorgt. »Nein«, ergriff Alana das Wort. »Sagen Sie«, ihre Mundwinkel umspielten ein freudiges Lächeln, »Sie sind doch der experimentelle Archäologe Petersen?« »Du kennst den da?«, fragte Tristan noch außer sich. »Jou«, antwortete er überrascht, dass er sogleich erkannt wurde. »Sie kennen mich?« »Der hätte uns beinahe verletzt«, klagte Tristan weiter. »Aber natürlich«, begeisterte sich Alana. »Ihre Forschungen sind ziemlich bekannt.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Und bedeutsam.« »Vielleicht sogar noch Schlimmeres«, jammerte Tristan und tastete sich noch einmal auf Verletzungen ab.
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»Manche halten mich für einen ziemlichen Trottel«, sagte Petersen. »Die Archäologie wäre ohne Sie um einiges ärmer«, lobte Alana weiter. »Wie kann man einfach so in der Gegend herumschießen«, schimpfte Tristan. »Andere glauben, ich wäre plemplem«, um das zu unterstreichen, klopfte er sich auf den Kopf. »Vieles in der Forschung kann doch nur dann richtig begriffen werden, wenn man es ausprobiert«, begeisterte sich Alana in einem fort. »So richtig, mit Ausdauer und nicht nur durch Gedankenspiele.« »Und wir wären dabei wohl die Beute?« Tristan wollte sich nicht beruhigen. Aber niemand schien auf ihn zu achten. »Da hab ich ja beinahe einen Fan getroffen«, lächelte der eigenwillige Forscher, »oder sagen wir mal, ich habe Sie richtig getroffen.« »Danach sollen wir vielleicht noch gewürzt und gebraten werden«, unkte Tristan weiter. »Und eine ehemalige Schülerin«, offenbarte Alana. »So?« Petersen hob die Augenbrauen. »Schießt der einfach mit so scharfen Pfeilgeschossen auf uns«, beruhigte Tristan sich langsam. »Ein Wochenendkurs von der Uni aus. Ist schon ein paar Jahre her«, erzählte Alana. »Da haben wir auch mit so einem Bogen geschossen.« »Sie haben Archäologie studiert. Eine Kollegin also«, strahlte Petersen. »Warum haben Sie eigentlich gleich zweimal auf uns geschossen?«, fiel Tristan wieder ein.
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»Im Augenblick ist die Archäologie eher mein Hobby als mein Beruf«, gestand Alana. »Das ist aber jammerschade. Wie kann man der schönsten Passion den Rücken kehren?«, fragte der Mann neugierig. »Nach dem Motto: sicher ist sicher«, unkte Tristan, »oder für jeden von uns war wahrscheinlich ein eigener Pfeil bestimmt.« »Das ist eine lange Geschichte«, wehrte Alana ab. Um abzulenken, fragte sie weiter: »Was machen Sie eigentlich hier? Wieder ein Kurs?« »Die Frage, was Sie hier machen, sollte ich eigentlich Ihnen stellen«, sagte Petersen. »Dies ist nämlich Institutsgelände. Sozusagen gesperrt für Touristen aller Art. Wir, die erschrocken aussehenden Studenten dort hinten und ich, probieren gerade verschiedene Jagdmethoden aus.« »Ach!«, motzte Tristan. »Und die Methode ist wohl fehlgeschlagen. Schade aber auch. Ich bedaure Sie.« »Es tut mir sehr leid, dass wir Sie erschreckt haben. Wir wussten nicht …«, entschuldigte sich Alana für ihr plötzliches Erscheinen. »Gott sei Dank ist nichts passiert«, setzte Petersen an. »Dem müssen wir wohl wirklich dankbar sein, dass bei dem Mordanschlag nichts passiert ist«, fiel ihm Tristan ins Wort, der noch immer ganz aufgewühlt war. Erst zweifelhafte Graubemäntelte und dann das. »Mein großer Brummbär«, streichelte ihn Alana am Arm. »Es ist alles vorbei. Nichts passiert.« Aufmunternd drückte sie ihm einen dicken Kuss auf die Wange. »So was aber auch«, grummelte Tristan noch leise vor sich hin. »Schau dir das lieber mal genauer an«, forderte sie ihn auf. »Die Kleidung von Professor Petersen. Der kraftvolle Bogen. Die kunstvolle Mütze …« 178
»… und erst der Pfeil«, sagte Petersen, der gerade mit zwei gekonnten Handgriffen die spitzen Geschosse aus dem Baumstamm zog. »Sehen Sie mal.« Mit diesen Worten drückte er Alana und Tristan je einen Pfeil in die Hand. Während Tristan unsicher das Objekt betrachtete, das noch vor wenigen Minuten knapp an ihm vorbeigeflogen war, war Alana die wissenschaftliche Neugierde anzumerken. Genau betrachtete sie die sorgfältig bearbeitete Steinspitze, deren Befestigung, den schlanken Schaft und die praktisch geklebte Befiederung, damit der Pfeil beim Flug eine stabile Flugbahn behielt. »Kommen Sie doch mit rüber zu meinen Studenten«, lud Petersen ein. Jetzt erst sahen sie die Gruppe mit acht Studenten. Der junge Mann, der den zweiten Bogen in der Hand hielt, schaute ziemlich betroffen. Der Schreck, dass zwei Menschen plötzlich in seine Schussbahn liefen, saß ihm noch ziemlich im Nacken. Schon deshalb ging jetzt Alana mit Petersen auf die Gruppe zu, um zu signalisieren, dass nichts passiert war. Mit dem Finger die Spitze prüfend, folgte Tristan. Dabei achtete er nicht auf die vielen kleine Bodenunebenheiten. Maulwurfshügel. Steine. Schon passierte es. »Autsch!«, erschrak er mehr, als dass es schmerzte. Sofort tropfte etwas Blut aus einer Wunde. Verschämt über seine Unachtsamkeit steckte er den Finger in den Mund. Petersen und Alana verstanden sich gleich ausgezeichnet. Tristan hingegen stand daneben und hielt mit der freien Hand den Pfeil. Da näherte sich der Student, der für den zweiten Schuss verantwortlich war. Mit einer gemurmelten Entschuldigung nahm er Tristan den Pfeil ab. Dabei sah er sofort, dass die rasiermesserscharfe Feuersteinspitze mit Blut benetzt war. Sorgenvoll schaute er auf Tristan. Der schüttelte aber nur den Kopf und erklärte mit einigen Lauten, dass nichts passiert sei. Der Student verstand nicht, weil Tristan dabei den 179
Finger nicht aus dem Mund genommen hatte und nur vor sich hin nuschelte. Da wurde sein Blick von Alana abgelenkt. Wie eine rassige Amazone stand sie im Sonnenlicht. Den Bogen am gestreckten Arm. Spannte den Pfeil. Die Körperspannung zog sich von den Fingerspitzen bis hinunter in den Fuß. Tristan war fasziniert. Die Drehung ihrer Schulter, die vorgeschobene Hüfte, der sichere Stand auf den leicht gespreizten Beinen, das Hervortreten der angespannten Muskulatur, all das erinnerte ihn an eine Jagdgöttin des Altertums. Mit einem Laut, der nach leisem Stöhnen klang, ließ sie den Pfeil von der gespannten Sehne. Vollkommen gerade flog er dahin. Mit einem kurzen dumpfen Geräusch blieb er im Baum stecken. »Noch nichts verlernt«, jubelte sie. »Bravo«, lobte Petersen. »Tristan, und jetzt du«, forderte sie ihn auf. Der wies aber nur auf seinen Finger im Mund. »Was ist denn passiert?«, fragte Alana besorgt. »Ach nichts«, spielte Tristan den Vorgang herunter. »Komm, lass sehen«, forderte sie ihn auf. »Nur ein kleiner Schnitt«, zeigte er ihn verschämt. »Trotzdem wird der jetzt verbunden«, entschied Alana. Sie nahm den Rucksack vom Rücken und holte das Verbandszeug hervor. Mit einigen schnellen Schnitten in den Klebestreifen am Rand des Pflasters konnte sie dieses wie eine Tüte sorgfältig auf die Wunde kleben. »So! Fertig«, sagte Alana. »Danke«, sagte Tristan kleinlaut. Währenddessen hatten die Studenten ihre praktischen Übungen wieder aufgenommen. Professor Petersen zeigte verschiedene Pfeile und demonstrierte die verschiedenen 180
Flugeigenschaften. Dies sollten die Studenten dann durch Probeschüsse selbst erleben. Als die Gruppe damit einige Zeit beschäftigt war, wandte sich Petersen wieder an Alana und Tristan. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Nur ein kleiner Schnitt«, sagte Tristan. »Kein Problem.« »Die Waffen aus dem Neolithikum waren ziemlich effektiv aufgebaut. Gut, dass Sie jetzt schon gekommen sind. Später hätten wir vielleicht noch mit auf der Spitze aufgetragenen Gifte experimentiert«, sagte Petersen. Das schalkhafte Grinsen in seinem Gesicht zeigte, dass es ein Scherz war. Tristan wollte darüber lächeln, aber sein Gesicht verzog sich nur. Für diesen Scherz hatte er jetzt nichts übrig. »Was treibt eine Zurzeit-Hobby-Archäologin nach Helgoland«, fragte Petersen. »Touristenrummel?« Ein Grinsen huschte über Alanas Gesicht. »Nein«, sagte sie. »Hochzeitsreise?«, fragte er schelmisch und stützte sich lässig auf seinen Bogen. Dabei sah er aus wie ein erfahrener Jäger aus grauer Vorzeit. Wettergegerbte Haut. Unzählige Falten in seinem Gesicht. Graubrauner Vollbart und die Tatsache, dass er in einer original steinzeitlich aussehenden Kleidung steckte. Tristan hatte keinen Zweifel daran, dass er sie selbst geschneidert hatte. Irgendwie war alles an dem mittelgroßen Professor originell. Nur, dass er ein Professor war, glaubte man ihm nicht sofort. Lächelnd zog Alana Tristan zu sich und antwortete: »Nein, das nicht gerade … Wir machen eine kleine private Studienreise.« Im Hintergrund schossen die Studenten ihre Pfeile ab. Zwischendurch fachsimpelten sie über Holzarten, verwendete Sehnen, die Größe der Pfeilspitze und vieles mehr. Das scharfe
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›Tock‹, wenn ein Pfeil in den Stamm trieb, verschwand langsam als Geräusch im Hintergrund. »Und was ist dann das Objekt Ihrer Begierde«, fragte er weiter. »Tristan, hol doch mal die Figur heraus«, bat sie ihn. Er zögerte aber. »Meinst du wirklich?«, fragte er unsicher. »Ja«, lachte sie, »was kann es schaden.« Tristan entledigte sich seines Rucksackes und kramte nach der Figur. Er nahm ein Bündel aus zusammengerolltem Baumwolltuch hervor. Zog an dem einen Ende und rollte. Rollte und rollte. Der Stoff, der wie eine Windel aus früheren Zeiten aussah, wurde immer länger. »Das haben Sie aber gut eingepackt«, bemerkte Petersen. »Ist wohl zerbrechlich?« »Nein, gar nicht«, antwortete Alana und fing geschickt das Artefakt auf, das Tristan beinahe aus den Fingern geglitten war. So lang das schützende Tuch auch war, plötzlich war es zu Ende. »Hier«, hielt sie es ihm hin. »Was sagen Sie dazu?« Überrascht, mit großen Augen, nahm Petersen es entgegen. Den Bogen ließ er achtlos ins Gras fallen. Vorsichtig hob er die sandsteinerne Figur in Augenhöhe und betrachtete sie genau. Von vorne, von hinten, von oben und von unten. »Wie alt ist das?«, fragte er. »Das wissen wir nicht«, antwortete Alana. »Das Besondere ist das Material«, trug Tristan bei. »Ja, ich sehe«, sagte Petersen, »das ist von hier. Zweifellos.« »Können Sie uns etwas darüber sagen?«, fragte Tristan aufgeregt. »Kennen Sie solche Figuren?«
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»Man hat Reste eines Hügelgrabes gefunden«, überlegte Petersen, »ja und dort, in der Mitte der Insel«, er zeigte den ansteigenden Hang hinauf, zu ein paar behauenen Steinquadern, »so was wie irische Menhire. Wie sie damals gestanden sind, kann nicht mehr ganz konkret rekonstruiert werden. Aber es könnte eine astronomische Bedeutung gehabt haben.« »Was wurde in den Hügelgräbern gefunden?«, fragte Alana. »Das weiß ich nicht genau, aber sicherlich nicht so ein kleines Kunstobjekt«, dabei starrte er der unbekannten Figur in die Augen. Zumindest auf die zwei kleinen waagerechten Striche, die die Augen darstellen. »Von diesen Augen geht eine starke Willenskraft aus«, sagte Petersen. »Und das, obwohl es nur stilisierte Striche sind. Ein merkwürdiges Objekt.« Dann drehte er es um. Betrachtete die verblassten Kratzer auf der Rückseite. »Wo haben Sie es denn her?« Alana wurde verlegen. Tristan wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Schweigend starrten drei Augenpaare auf die Figur. »Ein Freund ordnet gerade eine Sammlung von Artefakten. Über das hier ist rein gar nichts bekannt. Da haben wir die Aufgabe übernommen, etwas vor Ort zu recherchieren«, fiel Alana noch rechtzeitig als Ausrede ein. »Der Stein ist sicher von hier«, sagte Petersen, und gab das Fundstück zurück, »vielleicht ist er auch von einem hiesigen Grab. Ich weiß nicht, ob es einen Grund dafür gab, dass im Neolithikum solche Steine woanders hintransportiert wurden, um dort weiterverarbeitet zu werden. So ein Sandstein ist ja schließlich auch an anderen Orten zu finden. Es ist ja nicht so wie zum Beispiel beim Bernstein, der weit gehandelt wurde.« »Es sei denn, Helgoland hätte aus irgendeinem Grund eine überregionale Bedeutung gehabt. Was immer die Steinquader auch für eine Bedeutung gehabt haben …«, überlegte Alana vor sich hin. 183
»Das kann man sich durchaus vorstellen, bei einem roten Felsen, der sich damals mitten aus dem Flachland erhob«, sagte Tristan. »Ach ja«, erinnerte sich Petersen, »das war ja vor fünf- bis achttausend Jahren alles trockenes Land. Da könnte das sogar so gewesen sein. Dem spricht entgegen, dass, soweit ich weiß, nie ein Fundstück außerhalb Helgolands gefunden wurde, das aus dem Helgoländer Sandstein gefertigt war.« »Nein«, gab Alana zu. »Von solchen Funden weiß ich auch nichts. Vergleichbar wäre die Figur vielleicht nur mit den Menhiren. Die sind in einem ähnlichen Stil, aber zum Teil bedeutend größer. Über einen Meter hoch. Aber die sind aus regionalem Stein gemacht.« »Sie sagten, Sie kennen den genauen Fundort nicht?«, fragte Petersen. »Nicht einmal den ungefähren«, antwortete die Angesprochene. »Dann kann ich mir nur vorstellen, dass er irgendwann einmal hier gefunden wurde. Nur das würde Sinn machen«, sagte Petersen. »Einen anderen Fundort kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« Er betrachtete noch einmal genau die Zeichnung auf der Figur. »Was ist denn das für ein Symbol? Ein keltisches Triskell oder Triskele kann das ja wohl nicht sein.« Die Forschergedanken unter der steinzeitlichen Ledermütze arbeiteten. »Das kommt ja zeitlich nicht hin. Da fehlen gut und gerne fünf- bis siebentausend Jahre. Außerdem sind die keltischen Symbole ein bisschen anders gezeichnet.« Kopfschütteln. »Ein seltsames Artefakt. Wenn es nicht hier gefunden wurde, dann hat es bestimmt eine ganz eigene und höchst interessante Geschichte. Lassen Sie es mich bitte abzeichnen.« Alana hatte selbstverständlich nichts dagegen. Petersen zog aus einer an einem Baum hängenden Tasche eine
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Skizziermappe. Begabt legte er ein ziemlich präzises Abbild auf das Papier. Vorder- und Rückseite. »Ich denke, das lässt sich sehen«, mit diesen Worten gab er die Figur an Alana zurück und sie wickelte sie wieder ein. »Gerade in der Jungsteinzeit, später Kupferzeit, und so weiter«, überlegte Petersen, »ist alles, was gebaut wurde, aber auch Verehrungssteine für Gottheiten, immer größer und wuchtiger geworden. Man sehe sich nur kleine astronomische Steinkreise bis hin zum gewaltigen Bau von Stonehenge an. Gräber entwickelten sich von kleinen Erdlöchern bis hin zu Hügel- oder Hünengräbern.« Scharfsinnig entwickelte Petersen seinen Gedanken weiter. »Ich könnte mir vorstellen, dass die kleine Figur eine Art Vorbild oder Vorläufer der größeren Menhire gewesen sein könnte.« Der Gesichtsausdruck nahm immer mehr den eines wirklichen Professors an. Der Widerspruch zur Kleidung wurde dadurch immer größer. »Sie meinen …«, begann Alana. »Ich meine«, unterbrach sie Petersen, »was immer hier auf Helgoland als Steinbrocken begonnen hat, fand seinen Weg irgendwie nach Frankreich, Irland oder sonst wohin. Das wird durch die dort vorkommende Nachahmerkunst bewiesen.« Sprachlos verfolgte Tristan die lückenlose Argumentationskette des kauzigen Wissenschaftlers. »Eine Art Ur-Menhir …«, murmelte Alana. »Ich glaube, jetzt muss ich doch wieder zu meinen Studenten zurück«, leitete Petersen den Abschied ein. »Es war höchst interessant mit Ihnen.« Der Ausnahmeforscher machte in seinem wild aussehenden Kostüm eine elegante Verbeugung, die gar nicht dazu passte, und ging damit zu einem Handkuss eines ritterlichen Kavaliers über. Tristan stutzte. Alana kicherte überrascht. »Wie kommen wir jetzt wieder auf normale Wege zurück?«, fragte Alana. 185
»Das ist ganz einfach«, sagte Petersen, »da Sie sowieso schon abseits der Wege sind, was hier gar nicht gern gesehen wird«, Tristan versuchte die leichte Rüge zu überhören, »gehen Sie doch einfach hier gerade den Weg nach oben und schon stehen Sie oben auf der Klippe. Dort haben Sie den besten Blick zur Langen Anna.« Nach einem kurzen Abschied gingen sie die ansteigende Wiese nach oben. Schon von halber Höhe aus konnte man die ganze Insel überblicken. Über die Dächer der Häuser zum Hafen und in die andere Richtung zum sogenannten Binnenhafen. Rechterhand ließ sich der Nordstrand erkennen. Einige Unentwegte genossen dort die Wellen, die sich am Ufer brachen. »Solche Skulpturen wie unsere kleine Figur«, überlegte Tristan, »sind also Götzendarstellung, Kalender oder sonstige Verehrung.« »Ja«, sagte Alana. »Aber leider wissen wir nicht immer, wer verehrt wurde.« »Die Semnotheoi?«, fragte Tristan geradeheraus. »Glaubst du?« »Das Triskell-Zeichen«, begründete er kurz, »und wenn sie wirklich Einfluss auf die kulturelle Entwicklung der Menschen hatten, dann könnte man sich eine Verehrungswürdigkeit durchaus vorstellen.« Alana schwieg. Der Einfluss der Semnotheoi gefiel ihr nicht. Sie konnte es nicht einordnen. Es verunsicherte sie. Tristan schien ihr das viel zu distanziert und wissenschaftlich zu nehmen. Aber wenn jetzt diese geheimnisvollen Wesen auch noch in handfesten archäologischen Götterdarstellungen zu finden waren, war das etwas, das über ihren Horizont ging. Hatte das etwas mit ihrem katholischen Glauben zu tun? Andererseits nahm Pater Benedikt dieses Thema auch nicht ablehnend auf. Sie ließ die Gedanken durch den frischen Seewind wegblasen. 186
Rechts und links, auf dem Rundweg um die Insel, wanderten Gruppen von Touristen. Manche schauten streng auf die beiden Spaziergänger, die sich nicht an die vorgegebenen Wege hielten. Tristan und Alana hatten gerade die Hälfte des Aufstieges hinter sich gebracht, da bemerkten sie hinter sich zwei weitere Spaziergänger, die sich nicht an die Vorschriften der Insel hielten und quer hindurchwanderten und nun aus unterschiedlichen Richtungen auf sie zukamen. Tristan erschrak. Noch einmal umgedreht. Sich vergewissert. Der eine war der Mann mit dem grauen Regenmantel. Tristan machte Alana darauf aufmerksam. Ihre Schritte wurden schneller. Hektisch stolperten sie über die mit Löchern und Steinen gespickte Wiese. Einmal strauchelte Alana beinahe, doch Tristan zog sie wieder hoch und es ging weiter. Der Boden war hier übersät mit Löchern und Kratern, die noch von dem unsäglichen Bombardement des letzten Weltkrieges stammten. Laufen war hier alles andere als einfach. ›Wohin eigentlich?‹, schrie es in Tristans Kopf. Sie liefen geradewegs auf die äußerste Spitze der Insel zu. Den höchsten Punkt. Vor ihnen erhob sich die Lange Anna, eine große Natursäule aus rotem Sandstein, die kraftvoll mit bemerkenswerter Zähigkeit den Angriffen der Nordsee standhielt. Schnell auf die andere Seite. Weg von dem unbekannten Mann, der auch in den Laufschritt wechselte. Der zweite, den sie gesehen hatten, arbeitete er mit ihm zusammen? Alana und Tristan wussten es nicht. Sie wussten nur, dass sie von den beiden Männern auf das Ende der Klippe zugetrieben wurden. Zum Abgrund. Tristan und Alana hatten das Ende ihres Weges erreicht. Nur ein kleiner Holzzaun schützte sie vor der Tiefe. Unten schäumten die Brecher der See. Hochgeschleuderte Spritzer 187
versuchten die beiden zu erreichen. Gegenüber, zwanzig bis dreißig Meter Luftlinie, stand die rote Lange Anna. Der Anblick dieser rauen Steinsäule verstärkte nur den Eindruck der Tiefe, die sich unter ihnen auftat. Ein Blick zurück. Die Verfolger waren wieder in die touristische Spazierweise verfallen. Als hätten Tristan und Alana sich geirrt und ihnen ihre Sinne einen Streich gespielt. Aber sie wurden fixiert. Die stechenden Blicke der beiden Männer ließen sie nicht aus den Augen. Nein, das sind keine Touristen, dachte sich Tristan. Beschützend nahm er Alana in den Arm. Schutzsuchend drückte sie sich an ihn. Aus irgendeinem Grund waren die anderen Touristen plötzlich verschwunden. Es war wie verhext. Tristan sah noch einmal hinter sich, in die Tiefe. Nein, dort gab es keine Rettung. An einen Abstieg war nicht zu denken. Schon nach wenigen Metern würden sie zu Tode stürzen. Also sich der Situation stellen, mahnte sich Tristan. Der eine Verfolger war stehen geblieben. Stand da, als würde er aufs Meer hinausblicken. Doch aus den Augenwinkeln fixierte er die beiden. Der andere kam ruhig, doch unaufhaltsam, näher. »Tristan!«, entfuhr es Alana und sie klammerte sich fester an Tristan. »Ich sehe es«, sagte er, der genau wusste, was sie meinte. Der Fremde schien einen Ohrhörer zu tragen, wie der Mann aus dem Dom. Es war der Mann aus dem Dom. Der Chef einer unbekannten Kommandogruppe. Er war jetzt hier und kam langsam auf sie zu. Tristan schrie der Gedanke durch den Kopf, dass er ihn betrogen hatte. Damals, im zusammenbrechenden Brunnen. Eigentlich sah alles so aus, als wären Pater Benedikt und Tristan dabei umgekommen. Jetzt kam der Fremde auf Tristan zu und 188
sah, dass er lebte. Dabei machte der Mann nicht den Eindruck, als sei er darüber sehr verwundert.
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DAS HELGE LAND Blutrot leuchtete der lange Felsen in der Abendsonne, als Than und seine Gefährten das Ziel erreichten. Unwirklich, wie der Altar mächtiger Geister, erhob sich jäh die rote Abbruchkante. Hier, inmitten der Ebene, erschien sie Than wie eine Pforte zur Welt der Geister und Dämonen. Je näher sie kamen, desto demütiger wurde er. Hatte am Anfang ihres Marsches Jarten noch gehadert, ob es der richtige Weg wäre, nach Osten anstatt nach Süden zu gehen, so war er jetzt eines Besseren belehrt. Eindrucksvoll war der Anblick für ihn. Immer näher kamen sie dem roten Felsen. Immer mächtiger türmte sich dieser über ihnen auf. Bis Jarten plötzlich, und für die anderen unerwartet, auf die Knie fiel und sein Gesicht in das Gras drückte. Zu erhaben war der Eindruck. Er musste seinen überwältigten Gefühlen Ausdruck geben. Willa und Henan taten es ihm gleich. Than hob den Speer über seinen Kopf und rief: »Hier werden eure gemordeten Geister Ruhe finden. Hier, am Altar der Geister, die das Leben geben und nehmen.« Mit diesen Worten blieb er stehen. »Das Blut, das die Erde tränkt, wird hier durch die schreckliche und schöne Muttergottheit wieder in die Welt gebracht. Mögen unsere Ahnen mit derselben Kraft gesegnet werden, damit unserem Stamm Fruchtbarkeit und reiche Beute beschert wird.« Gemessenen Schrittes ging er weiter. Als er bemerkte, dass alle seine Gefährten noch knieten, den Kopf aber gehoben hatten, um ihm zu lauschen, forderte er sie auf: »Kommt, meine Brüder. Habt keine Angst. Unsere weisen Ahnen haben uns hierher geführt.« Dennoch zögerten die drei aufzustehen. 190
»Kommt! Die Sonne geht unter. Bevor sie uns wieder sieht, werden wir die Gefäße der Seele unserer toten Stammesmitglieder in diesem steingewordenen Blut bestattet haben«, munterte er sie auf. »Kommt. Habt keine Angst.« Willa erhob sich. Als Henan das sah, stand auch er langsam auf. Nur Jarten zögerte noch. Schaute ängstlich auf den in der Abendsonne leuchtenden Fels, dann wieder zu seinen Freunden. Als diese sich langsam wieder in Bewegung setzen, nahm er allen Mut zusammen und folgte. Über ihnen drohend dunkle Wolken. Hinter ihnen die untergehende Sonne. Than erlebte seine Ankunft an diesem heiligen Ort in eigenartigen Farben und eigenartiger Stimmung. Mit den letzten Strahlen der Sonne erreichten sie die Felskante. Ehrfurchtsvoll blickten sie hinauf. Links ragten wie starke Speere die wuchtigen Felssäulen aus dem Boden. Jarten sah sich immer wieder ängstlich um. Willa blickte alle paar Augenblicke nach oben. Ihn erfüllte die Angst, dass dort Dämonen auftauchen und Felsen auf sie herabstürzen könnten. Doch Thans Entschlusskraft trieb sie an. Unbeirrt schritt er auf diesen größten der gewaltigen freistehenden Felsen zu. Unregelmäßig und rau war seine Oberfläche von Nahem. Scharf geschnitten und glatt erschien er aus der Ferne. Der Entschluss war sofort gefasst. Die Getöteten sollten am Fuße dieses außergewöhnlichen Steines bestattet werden. Die wenigen Büsche, die dort wuchsen, wurden auf einer kleinen Fläche sorgsam entfernt. Das hier sprießende Leben durfte nicht vernichtet werden. Aus diesem Grunde legte man die ausgegrabenen Sträucher vorsichtig beiseite. Dann wurde gegraben. Die viereckige Grube wurde nur etwa so tief ausgehoben, dass die Männer bis zur Hüfte darin stehen konnten. Die Schädel sollten die Möglichkeit haben, in die Tiefe zu blicken, um die Pläne der unberechenbaren Dämonen und 191
Fruchtbarkeitsgötter voraussagen zu können. Aber sie sollten auch die Oberfläche des Diesseits, den Erdboden überblicken. Damit sie ihrem Stamm weise Ratschläge einflüstern können. Schließlich musste der Blick zum Himmel frei sein, damit die überirdischen Götter, die die ehernen Gesetze der Schöpfung überwachen, in ihrem Wirken betrachtet werden konnten. Hier, am roten Blutfelsen, hatten die Verstorbenen alle diese Möglichkeiten. Sie wurden zudem vom gewaltigen Energiestrahl der Mächtigen der Tiefe getragen. Mit dieser starken Magie im Hintergrund würde ihre Suche nach den Entführten sicher nicht fehlgehen. Jarten entzündete Fackeln und steckte sie rund um die Grabstätte in den Boden. Drei davon steckte er in kleine Löcher im Felsen. »Lasst sie uns nun bestatten«, verkündete Than. »An diesem kraftvollen Ort mögen sie unseren Stamm weise leiten.« Die Gefährten antworteten mit einem Sprechgesang. Dann stieg Than in das Grab. Seine Freunde reichten ihm nach und nach die Schädel. Diesmal verspürte niemand Trauer. Ehrfurcht erfüllte alle. »Schamane! Hüter unseres Stammes vor den Gefahren der dämonischen Welt. Vermittler zu den Ahnen. Ich lege dich in die rote Erde des roten Steines. Nun selbst ein Ahne, bitten wir dich um Weisheit und Führung«, sprach Than, als er würdevoll den Schädel in die Mitte vor dem Felsen auf den Boden des Grabes legte. Die drei Jäger murmelten eine Dankesformel, für das im Leben Geleistete des Verstorbenen. »Tekla! Helferin der Frauen und Heilerin unseres Stammes. Möge deine Weisheit hier weiter wachsen. Hilf deinem Stamm weiterhin. Wir werden dich ehren.« Wieder murmelten die anderen ihren Dank. Than sprach so mit jeder Seele in jedem Schädel, den er in die Hand nahm und ehrfürchtig niederlegte. Als alle elf sorgfältig 192
niedergelegt waren, ließ sich Than das jeweilige Leder geben, in das die Köpfe eingewickelt waren. Damit deckte er sie ab. Vorsichtig, fast liebevoll, bedeckte er alles mit Erde. Schließlich stieg er aus dem Grab. Nun wurden kleine rote Sandsteinbrocken auf die Erde gelegt. Darauf folgte die oberste Schicht Erdboden, die beiseite gelegt worden war. Nun sah es wieder so aus wie vorher. »Unsere Verstorbenen sind nun gänzlich vom Erdboden verschwunden. Sie sind zu den Ahnen unseres Stammes geworden«, sprach Than. »Ehrt unsere Ahnen!«, forderte er sie auf. Keiner konnte die Trommel schlagen. Keiner konnte die Flöte blasen. Kein Schamane tanzte im Hirschfell und Hirschkopf. Der Stamm ging nicht den Todestanz stapfend am Grab vorbei. So anders war dieses Begräbnis. Aber niemand der vier hatte das Gefühl, dass es weniger bedeutungsvoll war. Than trennte mit seinem scharfen Feuersteinmesser schweigend seinen Beutel auf, in dem er seine Wegzehrung verstaute. Diesen legte er dann als Unterlage mitten auf das eingesetzte Gras des Grabes. »Lasst unsere Wegzehrung unseren Ahnen zur Stärkung hier.« Willa blickte ihn sorgenvoll an. Das Wenige, was sie hatten, reichte gerade für den nächsten Tag. Dabei hatten sie noch einen unbekannten Weg vor sich. »Wir brauchen es nicht. Wir müssen morgen ohnehin jagen. Was wir brauchen, sind starke Ahnen, die uns auf unserem schweren Weg unterstützen«, erklärte Than. Ohne weitere kritische Blicke griff jeder in den Sack seiner Rückentrage. Jeder opferte seine Wegzehrung den neuen Ahnen. Dann legten sie sich auf das Grab und schliefen ein.
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Die erste Morgenröte zeichnete sich am Osthimmel ab. Than ahnte es mehr, als dass er es sah. Um die aufgehende Sonne sehen zu können, hätte er den Berg umrunden müssen. Doch seine Gefährten schliefen noch in ihre Mäntel gewickelt, und er wollte sie nicht wecken. Than blickte nach oben. Der rote Felsen ragte jäh in die Höhe. Darüber erstreckte sich der Himmel, mit schnell fliegenden Wolken. Unter sich fühlte er die Seelen der Ahnen. Gierig sog er die kalte Morgenluft in seine Lungen. Tief und traumlos war sein Schlaf gewesen. Sein Sinnen war seit dem Aufbruch aus dem Sommerlager darauf gerichtet gewesen, die gestellte Aufgabe der Ahnen zu erfüllen. Dies war geschehen. Ab heute würden sie sich auf die Spuren der Entführer und Mörder begeben. Ob sie die Zeit, die sie der Umweg gekostet hatte, wieder einholen würden? Than zweifelte. Seine Gefährten vertrauten ihm, als würde er es besser wissen. Wusste er es wirklich besser? War das Vertrauen, das sie in ihn setzten, gerechtfertigt? Innere Unruhe machte sich breit. Um sich selbst zu beruhigen, schloss er seine Augen wieder. Die mächtige Magie, die er an diesem Ort spürte, sollte ihm eigentlich Recht geben. »Gut«, sprach er in Gedanken mit sich selbst, »aber wie geht es jetzt weiter?« In wenigen Minuten würden seine Gefährten erwachen und genau diese Frage stellen. Dann sollte er eine Antwort bereithaben. Sein Nachtschlaf gab ihm leider keinen Hinweis. Er konnte sich an keinen Traum entsinnen. Than sollte die Ahnen befragen. Aber er konnte jetzt nicht mehr liegen bleiben. Seine Unruhe trieb ihn auf. So leise es ging, rollte er sich aus seinem langen ledernen Mantel. Da sich niemand am gestrigen Abend für die Nacht entkleidet hatte, musste er sich auch nicht anziehen. Die kühle Luft spürte er kaum durch sein Hemd und seine Hose. Mit einer leisen, 194
schnellen Rollbewegung sprang Than über Rücken und Po auf seine Füße. Ein kurzer Blick auf seinen Speer, aber er wollte ihn dann doch nicht mitnehmen. Falls etwas geschehen sollte, besaß er immer noch sein scharfes Feuersteinmesser mit einem Holzgriff. Ohne ein Geräusch zu verursachen, glitt Than durch das die Grabstätte umgebende Gebüsch. Danach ging er weiter und umrundete den Tafelberg. Manchmal musste er um Geröllfelder mit herabgebrochenen Felsen herumlaufen. Große und kleine Steine lagen auf seinem Weg. An anderen Stellen war der Boden mit Gras oder Büschen, seltener Bäumen, bewachsen. Auffällig war für ihn, dass die steile rote Wand immer niedriger wurde. Von hier aus sah er bis zum Osthorizont nur weite Ebenen, unterbrochen von Inseln mit Nebelschwaden. Das rötliche Licht, das er am Schlafplatz bereits ahnte, zeigte sich hier deutlicher. Schließlich erreichte er die gegenüberliegende Seite. Hier verschwand die Felswand völlig. Wie eine schräge Platte stieg der Berg an. In halber Höhe wuchsen viele Bäume. Vereinzelt sah Than Birken. Dicht dahinter wuchsen Eichen und Buchen. Diesen seltsamen, für ihn heiligen Berg, wollte er besteigen. Er entschied sich dafür, das Wäldchen linksseitig zu umgehen. Zwischen den Bäumen war es noch zu dunkel. Nebelschwaden trieben umher. Bei jedem Schritt die Besonderheit dieses heiligen Landes in sich aufnehmend, stieg er nach oben. Plötzlich zögerte er. Irritiert spähte er nach rechts zu den dunklen Bäumen. Dann sah er wieder nach vorne. Es schien ihm, als zöge sich eine Linie quer vor ihm entlang. Sie schien aus der Ebene zu kommen und in den Wald zu führen. Reflexartig ging er in die Knie. Misstrauisch blickte er sich um. Lange blieb er so. Ein Hase dort, ein Reiher da, aber weiter fiel ihm nichts auf. Aus Erfahrung wusste Than allerdings, dass er sich nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen durfte. Aufmerksam wartete er erst einmal ab. Die ersten Vögel erwachten. Das Geflatter der 195
Jungstare unterstrich die Gefahrlosigkeit der Situation noch. Davon ließ sich der Jäger dann überzeugen und stand wieder auf. Nachdem sich auf diese Bewegung auch keine Reaktion von irgendwoher zeigte, ging er langsam weiter. Näherte sich der Linie. Schon bei den nächsten Schritten wurde ihm klar, dass es sich um einen Trampelpfad handelte. Er schien regelmäßig benutzt zu werden und führte ins Dunkel des Waldes. Than überlegte, ob er ihn untersuchen und ihm dorthinein folgen sollte. Erst einmal blickte er aber zur Ebene hinaus, ob gerade jetzt jemand diesen Weg benutzte. Aber er schien allein zu sein. Vorsichtig, wie er war, entschied er sich, zunächst den Wald weiter zu umrunden. Es galt, sich erst einen Überblick zu verschaffen. Sehr groß war dieser geheimnisvolle Berg nicht. Bald erreichte er das obere Ende und stand am oberen Rand der Klippe. Dieser folgte er weiter. Immer näher kam die rote Säule, unter der seine Gefährten lagerten. Erst als er dieser am nächsten war, blieb er stehen und blickte hinab. Der Fels war an der Abbruchkante etwas brüchig. Than musste sich vorsehen. Kantige Sandsteinbrocken drückten durch die Sohle an seinen Fuß. Neugierig bückte sich der Jäger und hob einen länglichen Stein auf. Genau betrachtete er die Linien. Rieb mit dem Daumen daran, um den Sand im Stein zu fühlen. Diesen wollte er einstecken. Than hatte den Gedanken, seiner Sippe ein Stück vom Grabmal mitzubringen, damit alle den blutroten Fels betrachten und verehren konnten. Von hier oben aus sah er die Grabstätte inmitten von Büschen, direkt am Fels. Seine Gefährten schliefen noch. Weit blickte er in das Land. Übersah die Grasebene bis zum großen Fluss, die sie auf dem Weg hierher überquert hatten. Von hier oben überfiel ihn dasselbe Gefühl, das er empfunden hatte,
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als er auf den Schwingen des Raben während seiner Traumreise in den Lüften kreiste. In Gedanken folgte er seinem Flug. Thans Blick schwenkte Richtung Süden. In diese Richtung würden sie heute ziehen müssen. Irgendwann dort, am fernen Horizont, sollten sie dann auf die Spuren ihrer Frauen und Kinder stoßen. Seine Gedanken wanderten zu seiner Gefährtin. Er vermisste sie sehr. Noch gestern hatte er sich darauf gefreut, nach der Jagd in ihren Armen einzuschlafen. Und heute war er ihr ferner als jemals zu einem anderen Zeitpunkt in seinem Leben. Verträumt blickte er vor sich hin. Dabei bemerkte Than gar nicht, dass er beobachtet wurde. Etwa hundert Schritte von ihm entfernt führte der Pfad aus dem Wäldchen wieder heraus. Er führte scheinbar geradeaus durch ihn hindurch. Dort stand ein Mann. Er war nicht wie ein Jäger gekleidet. Than sah ihn, aber nahm ihn erst gar nicht wahr. Ob er ihn für einen grauen Nebel hielt, wusste er selbst nicht. Aber die Kleidung des Fremden war grau wie der Nebel. Nicht wie lederne Kleidung. Sogar eine graue Kapuze trug der Fremde. Grau in grau vor dem dunklen Wald. Zweimal musste Than hinsehen. Jetzt erst erschrak er. Seine Hand zuckte an sein Messer. Er zog es aber nicht, um keinen Angriff zu provozieren. Sein Blick glitt schnell nach rechts und links, um seine Möglichkeiten abzuschätzen. Er stand mit dem Rücken zum Abgrund. Irgendwie musste Than handeln. Sofort. Er sah den Fremden wieder an. Unbeweglich stand er da. Blickte auf Than, wie dieser auf ihn blickte. Minutenlang. Der Schreck ließ nach. Das Gefühl der Bedrohung stellte sich nicht ein. Der Jäger ließ von seinem Messer ab. Allerdings wollte er auch nicht auf ihn zugehen. Misstrauen gehörte zum Überleben. Than entschied sich dafür, sowohl auf seinem bisherigen Weg zurückzugehen, als sich auch dem Wald zu nähern und damit dem Unbekannten. Er wollte ihm somit näher kommen, ohne 197
direkt auf ihn zuzugehen. In dieser Entscheidung zeigte sich sein Konflikt zwischen Vorsicht und Neugierde. Langsam ging er los. Den Blick nicht vom Fremden abwendend. Dieses graue Gewand. Es bekleidete ihn vollständig, fiel aber leicht in Falten. Than konnte sich nicht vorstellen, von welchem Tier dieses Fell stammte. Als er den nächsten Punkt seines Pfades zum Unbekannten erreichte, blieb er wieder stehen. Er sah zwei lebendige, fast lächelnde Augen unter der Kapuze. Weißer Bart wallte heraus. Than war unsicher, ob es sich um einen Menschen oder einen Geist handelte. Oder gar einen Dämon. Nein, dachte er bei sich, ein Dämon besitzt sicher nicht solche fröhlichen Augen. Dann könnte es vielleicht der gute Geist dieses heiligen Berges sein. Ein Hüter der Ahnen. In diesem Augenblick bewegte sich der unbekannte Alte. Langsam hob er beide Arme gleichzeitig. Schob mit einer lässigen Bewegung die Kapuze in den Nacken. Weißes, schütteres Haar kam zum Vorschein. Um den Mund spielte ein Lächeln. »Wovor fürchtest du dich?«, fragte der Fremde. Than hielt fast den Atem an. Er war mehr überrascht als erschrocken und starrte weiter auf die Gestalt. »Ich kenne dich«, sprach der Unbekannte weiter. »Du bist Than.« Jetzt erschrak Than doch. Woher sollte der Fremde ihn kennen. War es doch ein …? Aber weiter kam er in seinen Gedanken nicht. Wieder ergriff der Unbekannte das Wort. »Du bist Than, der erfolgreiche Jäger.« Er lächelte wieder. »Than, der auf dem Raben reitet.« Dem Angesprochenen wurde heiß und kalt. Von seiner Traumreise konnte er doch wohl nichts wissen. Der Fremde legte den Kopf zur Seite. 198
»Lass uns miteinander sprechen …«, gleich darauf wurde sein Gesicht wieder ernst, »… über den Raubzug der Wolfsmenschen aus dem großen Wald im Süden.« Than konnte sich nur noch wundern. Von aller Furcht ablassend, ging er auf den Fremden zu. Dem Menschen, der vermutlich der Einzige war, der ihm etwas über die Übeltäter sagen konnte. Den Blick auf die gütigen Augen des Alten gerichtet, blieb Than wenige Meter vor ihm stehen. »Wer bist du?«, fragte Than leise. Sein Blick schweifte über das seltsame grauweiße Gewand. »Ein mächtiger Ahne eines mächtigen Stammes?« Aus dem Lächeln des Alten wurde ein unterdrücktes Kichern. »Oder gar der Geist, der diese heilige Erde bewacht?« »Keines von beidem«, antwortete er. »Ich bin einfach nur ein alter Mann.« Dabei fuhr er sich mit der rechten Hand über den Bart. »Aber du scheinst ein bemerkenswerter Jäger zu sein. Ein Jäger mit starker Kraft in seiner Seele.« »Lebst du hier allein?«, fragte Than weiter. »Allein. Ja«, sagte er kurz und bündig. »Manchmal bekomme ich Besuch, wie heute von dir.« »Aber ich bin hier, weil die Schädel der Gefallenen begraben werden mussten. Ich wollte keinen Besuch abstatten«, rechtfertigte sich Than. »Doch, du bist hier, um mich zu besuchen. Ich habe dich ja eingeladen«, beharrte der Alte. »Nein, das ist sicher ein Irrtum. Ich wusste doch gar nichts von dir. Sicher wolltest du mit einem weisen Schamanen sprechen. Ich bin nur ein Jäger.« »Ich habe dich eingeladen. Und du bist gekommen.« Than wusste nichts darauf zu sagen. Er wusste nur, dass es nicht stimmen konnte.
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»Du wolltest den Entführten folgen. Hast sie fast erreicht. Aber dann bist du meinem Ruf gefolgt.« Than war vollständig verwirrt. Der Fremde sprach unzweifelhaft von seiner Traumreise. Wie konnte er das wissen? Es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszubekommen. Than nahm seinen Mut zusammen. »Warum hast du mich gerufen?«, fragte er. »Ich habe eine Aufgabe für dich«, antwortete der Unbekannte. »Wer bist du?«, fragte Than noch einmal. Ernst sah der Alte ihn an. Als kämpfte er mit sich, wie weit er sich dem Jäger offenbaren durfte. Wieder spielte er mit seinem Bart. Than vermutete, dass er das immer tat, wenn er etwas unsicher war. »Nenne mich einfach Sem«, antwortete er, aber Than war damit nicht zufrieden. »Sem? Von welchem Stamm bist du? Wo ist dein Stamm?«, schoss es aus ihm heraus. »Ich habe keinen Stamm. Also nicht das, was du unter einem Stamm verstehst«, erklärte er, aber Than war noch immer nicht mit den Antworten des alten Mannes zufrieden. »Du bist ein Schamane, weil du mich während der Traumreise rufen konntest?«, fragte er noch einmal nach. Aber diesmal war er sich sicher, dass er recht hatte. Der Unbekannte musste einfach ein Schamane sein, wenn er nicht der Geisterwelt angehörte. »Gut. Dann bin ich ein Schamane namens Sem«, sagte der alte Mann. Irgendwie war Than mit dieser kurzen Zusammenfassung trotzdem nicht zufrieden. Sie klang danach, als würde er es nur ihm zuliebe sagen. Um ihn zu beruhigen. Than nahm sich vor, später noch einmal nachzufragen.
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»Schamane Sem«, begann Than und nahm etwas Haltung an, weil er großen Respekt vor den Kräften eines Schamanen hatte, »was ist deine Aufgabe für mich?« »Davon später. Kennst du dieses heilige Land?«, fragte der Angesprochene. »Ich bin das erste Mal hier. Unser Zug in den Norden im Sommer fand immer auf der anderen Seite des großen Stromes statt«, antwortete Than. »Folge mir. Ich möchte dir das Wäldchen zeigen«, forderte der Alte ihn auf. Eigentlich sollte Than zögern zu folgen. Aber er verspürte überhaupt keine Bedrohung. Dies beunruhigte ihn. Er nahm sich vor, besonders vorsichtig zu sein. So innerlich gewappnet folgte er ihm. »Dieser Ort wird von einigen Stämmen als Heiligtum verehrt«, erzählte er, während sie in den dunklen Wald hineinschritten. »Der blutrote Stein aus der Tiefe der Erde kann nur ein Ort mit mächtiger Magie sein«, fiel Than ein. »Bestimmt erneuert sich hier die Lebenskraft für die gesamte Welt.« Ehrfurcht bemächtigte sich seiner. »Bestimmt«, stimmte Sem einsilbig zu. »Aus diesem Grunde haben sie hier eine heilige Stätte errichtet. Dort werden die Kräfte der Fruchtbarkeit in der Tiefe und der Weltordnung aus dem Himmel angerufen.« »Hier müsste man einen Versammlungsplatz aus demselben roten Stein errichten, wie er unten steht. Die Kraft …« Weiter kam Than nicht. Sie hatten den Mittelpunkt des Waldes erreicht. Um sie herum standen sechs mannshohe Säulen aus dem roten Sandstein. Er schien behauen zu sein. Than verschlug es den Atem. Die Steine standen im Kreis. Inmitten des Kreises befand sich auf kleineren Ecksteinen eine flache, steinerne Platte. Auf ihr lagen Äpfel, Birnen und einige Nüsse. 201
»An solchen Orten ist man dem Himmel näher«, schwärmte Than. Dann mit einem Blick auf Sem: »Bist du der Hüter dieses Ortes?« »Ja und nein. Es lässt sich mit solchen Steinen vieles erklären. Zum Beispiel, wie die Gesetze des Himmels«, dabei zeigte er hinauf zu den Wolken, Than war klar, dass er die Sterne meinte, »und die des Lebens aus der Erde«, jetzt zeigte er auf die Früchte auf der Steinplatte, »zusammenhängen. Vor allem aber, wie man sich den Zusammenhang zunutze machen kann.« »Wie kann man sich das zunutze machen? Das ist doch abhängig von der Weisheit der Ahnen und der Güte der Opfergaben?«, sagte Than. »Es ist die Folge himmlischer Gesetze, die einzuhalten geboten ist«, korrigierte Sem. »Bei unserem Stamm …«, setzte Than an. »Sieh, hier!«, forderte der Alte ihn auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm in eine bestimmte Richtung. Ein Lichtstrahl bahnte sich seinen Weg durch einen anderen Waldweg. Leuchtete ihnen ins Gesicht. Than war überwältigt. Er schaute in die glutrote Sonne, dann zu Sem, dessen geheimnisvolles Gewand einen rötlichen Schimmer bekam. »Zauber!«, stotterte Than. Ihm blieb der Mund offen stehen. »Nein. Kein Zauber. Nur die Kenntnis von Gesetzen«, erklärte Sem. Aber Than verstand kein Wort. »Im Winter sind die Nächte länger. Im Sommer die Tage«, erläuterte der Alte. »Heute ist der Tag, an dem Tag und Nacht gleich lang sind. Die Sonne geht immer an den vorbestimmten Stellen auf. Niemals anders. Aber das weißt du bestimmt.« Than begriff und doch auch wieder nicht. Natürlich wusste er dies. Aber er hatte diese Selbstverständlichkeit noch niemals zum Gegenstand näherer Betrachtung gemacht.
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»Natürlich weiß ich davon. Aber einen Lichtstrahl in einen dunklen Wald zu führen, inmitten dieser Stätte, ist Zauber.« Than spürte die Sonnenstrahlen warm auf seinem Gesicht. »Kein Zauber. Nur Kenntnis von himmlischen Gesetzen. Astronomische Gesetze sind unverrückbar. Die Sonne geht zur Tag-und-Nacht-Gleiche immer am selben Punkt des Horizontes auf«, erläuterte Sem. »Immer? Jedes Jahr?«, fragte Than. »Immer. Absolut verlässlich«, sagte Sem. »Außer vielleicht …«, er zögerte kurz, »… wenn die Wolken alles verdecken.« Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonnenscheibe und kündigten einen kalten, regnerischen Tag an. »Die Wolken gehören auch zu den Göttern der Tiefe. Zu den Göttern, die den Lebenskreislauf regeln«, sagte Than. Und dann deutlicher: »Denen die Menschen Lebenskraft opfern müssen, damit der Kreislauf funktionieren kann.« »Die Sonne, der Mond und die Sterne sind auch dann am Himmel, wenn der wolkenbedeckt ist«, sprach Sem weiter. »Am Tag sind auch die Sterne da und in der Nacht die Sonne. Wenngleich auch unsichtbar. Gebunden durch eherne Gesetze«, jetzt sah er Than ernst in die Augen, »die auch du kennen musst, wenn du den deinen wirklich helfen willst.« Than sah ihn verständnislos an. »Doch alles zu seiner Zeit. Mein Auftrag für heute an dich, Than, ist: Befreie eure Frauen und Kinder aus den Händen der Wolfsmenschen«, sagte Sem. Than wusste nichts zu sagen. Er war wieder sprachlos. Da wurde er von einem geheimnisvollen Alten hierher gerufen, damit er solch einen Auftrag bekäme. Was war davon zu halten? Warum sagte er so etwas? Was wusste er über die Entführung? Brauchte er für diesen Auftrag einen mysteriösen Schamanen? Er wusste doch ohnehin, was nach dem Überfall zu tun sei. Eine Prüfung der Ahnen? Die Gedanken in Thans Kopf schwirrten 203
hin und her. Und was hatte das Gesetz von der Sonnenbahn damit zu tun? Sem sah die Verwirrung in Thans Gesicht. »Folge dem großen Fluss stromaufwärts. Wenn der Mond rund ist, solltest du sie erreichen«, sagte der Alte. »Und dann?«, fragte Than zögerlich, der nicht glauben konnte, was sich hier ereignete. »Das wird sich zeigen«, antwortete Sem geheimnisvoll. »Aber du solltest jetzt gehen. Deine Gefährten vermissen dich.« Da erst fiel es Than siedendheiß ein, dass er ja unten sicher schon gesucht würde. Ihm war aber, als müsse er noch so viel fragen. Er blickte Sem an, als ringe er nach Worten. Doch dann ließ er davon ab und wandte sich zum Gehen. Sem machte eine kleine Handbewegung wie ein Segenszeichen. Than verließ den Wald durch den Pfad, auf dem das Licht der Sonne langsam nachließ. Dunkle Wolken umschlangen sie. Seinen Gefährten würde er von der Begegnung kaum etwas erzählen dürfen. Sie würden ihm kein Wort glauben. Oder sollte er sie doch in das geheimnisvolle Geschehen einweihen? Er wusste nicht, was besser war. Sie würden beunruhigt sein. Ein fremder Schamane, geleitet von fremden Ahnen, das würde sie misstrauisch machen. Vielleicht sollte er ihnen nur ein wenig von dem Treffen erzählen. Und wenn, dann auch nicht gleich. Er konnte es ja selbst nicht glauben. Bis er so weit war, würde er das mysteriöse Gespräch noch etwas für sich behalten und in Ruhe darüber nachdenken. Außerhalb des Waldes verfiel er sofort in einen flotten Dauerlauf. Than fürchtete jetzt nicht mehr, auf etwas Unvorhergesehenes zu treffen. Jedenfalls konnte es kaum schlimmer kommen. 204
GEFAHR Schritt für Schritt näherte er sich. Unausweichlich. Tristan und Alana konnten nichts anderes tun als warten. Dann stand er vor ihnen. Lässig. Sogar ein Lächeln umspielte seine Lippen. Das Lächeln des Siegers. Es schien Tristan ein verächtliches Lächeln zu sein. Der graue Mantel wehte im Wind. Die Situation wirkte wie in einem schlechten Film. Da griff der Fremde mit langsamem, fließendem Griff in seine Brusttasche. Tristan rechnete mit allem. Der Unbekannte schien sich einen Spaß daraus zu machen. Er zog ein Zigarillo heraus und steckte es in den Mund. Dann zündete er es an. Wieder Gesten eines Siegers, dachte Tristan. Und sie waren die Opfer. Einfach so. Da hielt er die Spannung nicht mehr aus. »Was wollen Sie?«, schrie er ihn an, obwohl der Mann nur noch wenige Meter vor ihnen stand. »Das wissen Sie«, kam es ruhig, beinahe leise, zurück. Der Ton Tristans hatte die Spannung aber in keiner Weise gemildert. »Es ist nicht hier«, sagte er ganz schnell. Dabei war er sich im selben Augenblick im Klaren, dass sein Gegenüber dadurch nicht zufrieden sein würde. »Das weiß ich«, sprach der Unbekannte in demselben Ton weiter. »Sagen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß.« Dabei blies er den Rauch in einem langen Stoß aus. »Und das wäre?«, fragte Tristan, der das Bedürfnis verspürte, der unausgesprochenen Drohung entgegenzutreten. »Ich sagte Ihnen schon einmal: Wissenschaftler sein und dennoch dumm, das kennen wir.« Als wolle er ihm im Vertrauen einen Tipp geben, beugte er sich leicht nach vorne. »Denken Sie wenigstens für einen Augenblick an die 205
Verantwortung, die Sie haben.« Wieder entließ er eine Rauchfahne. »Verantwortung!« Tristan wollte vor Wut einen Schritt auf ihn zugehen. »Verantwortung? Sie kennen nicht im Mindesten die Bedeutung dieses Wortes.« Alana hielt ihn ängstlich zurück. »Verantwortung? So nennen Sie Ihren Anschlag in der Grottenkirche? Verantwortung war wohl auch der Grund für Ihren Überfall auf den Dom in Bamberg?« Tristan wurde immer lauter. Als wolle er die Anspannung jetzt mit Gewalt herauslassen. »Verantwortung? Etwa alles, was euch in die Hände fällt, entweder zu Geld zu machen oder für Macht und Krieg zu benutzen?« Er reagierte auf Alana und beruhigte sich etwas, zumindest äußerlich. »Welche Verantwortung meint denn der …«, hier betonte er durch eine Kunstpause seine Verachtung, »… ehrenwerte Herr?« »Die Verantwortung gegenüber Sophia«, kam es noch einmal ganz ruhig zurück, und die Drohung saß. Steckte tief im Herzen Alanas. »Nein! Nicht Sophia!«, sie war auf einen Schlag außer sich. »Nicht schon wieder.« »Oh«, sprach der Fremde ruhig weiter, »das letzte Mal haben wir nur gedroht. Weil wir davon ausgegangen sind, dass das reichte. Aber Sie haben mich eines Besseren belehrt.« Er kniff die Augen zusammen. »Sie haben mich reingelegt.« Seine Stimme wurde schärfer. »Verarscht haben Sie mich! Das habe ich nicht vergessen.« »Nein«, rief sie, »bitte nicht.« »Glauben Sie mir«, klang seine Stimme jetzt wieder milder, »mir macht das überhaupt keinen Spaß. Mich widert das sogar an.« Sein Blick wurde mitfühlend. »Es liegt ausnahmslos an Ihnen. Bitte, lassen Sie es nicht so weit kommen. Schützen Sie
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Sophia vor Gefahr.« Trotz leidendem Gesicht blies er wieder lässig eine weiße Rauchfahne in den Wind. »Übergeben Sie mir das außerirdische Artefakt«, sprach er ruhig weiter. »Mehr will ich nicht. Dann können alle in Frieden leben.« Schweigen. Stille. Nur der Wind blies und das Meer rauschte. Tristan fiel nichts ein. Jetzt gab es keinen Trick und doppelten Boden mehr. Hier am Abgrund. Alana schaute wie besessen auf den Fremden. Atmete heftig. Rang mit den Tränen. Sagte nichts. Tristan kämpfte in sich einen anderen Kampf. Nie würde er das Artefakt diesem Verbrecher aushändigen. Aber andererseits, nie würde er Sophia auch nur der geringsten Gefahr aussetzen. Es gab keine Lösung aus diesem Konflikt. »Ich höre«, drängte der Fremde, mit gleichbleibend ruhigen Worten, denen trotzdem die Schärfe anzuhören war. »Ich …«, begann Tristan. Unterbrach sich. Setzte von neuem an: »… Ich kann Ihnen keinen konkreten Ort nennen …, weil …« Der Zeigefinger des Fremden schnellte warnend hoch. »Spielen Sie nicht leichtfertig mit dem Leben Sophias. Sie wurden mit dem Artefakt gesehen.« Dabei spielte der Graue auf die Ausgrabungsstätte am Michelsberg an. »Nein, nein …«, korrigierte sich Tristan, »Sie verstehen mich falsch. Es ist an einem Ort …, wie soll ich sagen. Der genaue Aufenthaltsort nützt Ihnen nichts. Sie könnten damit nichts anfangen. Wie …«, er suchte verzweifelt nach Vergleichen, »… als wären Sie blind …«, hilflos stotterte er weiter, »… wenn Sie es nicht sehen können, meine ich.« Ängstlich starrte er auf den Fremden. Misstrauisch verfolgte dieser die unklare Rede. Machte einen schnellen Schritt auf ihn zu und wollte ihn ungehalten anbrüllen, 207
da meldete sich plötzlich der bisher schweigsame zweite Mann im Ohrhörer. Sogleich zuckte er wieder zurück. »Frau Schäfer«, rief es. Alle vier Personen wandten sich erschrocken und erstaunt dieser schnell näher kommenden Stimme zu. Professor Petersen kam mit seiner Studentenschar den Hügel heraufgerannt. »Frau Schäfer, mir ist noch etwas Wichtiges zu unserem kleinen archäologischen Problem eingefallen.« Festen Schrittes bahnte sich der wie ein steinzeitlicher Jäger aussehende Professor seinen Weg an dem Fremden vorbei. Ein kurzer misstrauischer Blick wurde ausgetauscht. Jeder von beiden registrierte sofort, dass er den jeweils anderen nicht mochte. Irritiert über die Situation ging der Fremde im grauen Regenmantel einige Schritte beiseite. Gerade so weit, dass er keine Einzelheit verpasste. Sein Blick drohend auf Alana gerichtet. Ängstlich erkannte sie die Warnung, auf keinen Fall etwas zu tun, was Sophia gefährden könnte. Wie ein schützender Wall umgab Tristan und Alana die Studentenschar. Petersen zog eine Zeichnung aus seiner Tasche. »Ich habe hier eine Zeichnung der Skulptur angefertigt. Und hier«, er zeigte auf eine zweite Skizze, »die Rückseite. Das scheinen Rauten zu sein. Dreizehn nach oben und unten weisende Winkel. Zusammengesetzt.« Mit einem kurzen Blick versuchte er zu sehen, ob Alana seine kurzen Bemerkungen verstand. Sie nickte nur kurz. Interessant war es. Sicherlich. Aber jetzt nicht wesentlich. Trotzdem beruhigte sie die Nähe des Professors und seiner Studenten. »Dreizehn!«, sagte er lauter. »Verstehen Sie?« Alana schüttelte den Kopf und sagte gleichzeitig abwesend: »Ja.« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte.
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»Dreizehn Mondmonate im Jahr«, erklärte Petersen weiter. »Wir kennen unsere zwölf Monate. Der Mond braucht aber dreizehn Umläufe, bis das Sonnenjahr voll ist. Verstehen Sie?« Interessiert schaute Tristan Alana über die Schulter. »Das sind keine Kratzer da auf dem Rückenteil?«, fragte Tristan neugierig. »Das ist ein astronomischer Kalender?« »Genau das ist es«, sagte Petersen. »Davon bin ich überzeugt.« Er zeigte auf einzelne Rauten. »Diese Flecken könnten Markierungen für die Sonnenwenden und die Tag- und Nachtgleichen sein.« Da meldete sich Alana zu Wort. Zuerst atmete sie kräftig durch. Ein kurzer Blick zum Fremden, als wolle sie um Erlaubnis bitten. Aber dann fasste sie Mut: »Ganz stimmt das mit den dreizehn Monaten nicht. Wenn man nachrechnet, fehlen ein paar Tage. Warten Sie, ich zeichne Ihnen das mal auf.« Blitzschnell zog sie Petersen den Kuli aus der ledernen Brusttasche seines Wamses, den er, auch wenn es gar nicht zu seiner Rolle als Steinzeitmensch passte, immer bei sich trug. Vermutlich hat er auch noch irgendwo zwischen Feuersteinklingen und Werkzeugen aus Knochen ein Handy, dachte sich Tristan. Während er sich noch Gedanken über den so widersprüchlichen Forscher machte, kritzelte Alana ihre Gedanken zum 13-Monats-Modell auf das Papier. »Trotz Mondmonaten dürfen Sie Folgendes nicht vergessen«, sagte sie. »Bitte«, fügte sie leise noch hinzu. Tristan las: ›Pater Benedikt persönlich. Sophia in Gefahr.‹ Dann folgte eine Telefonnummer mit der Vorwahl des Vatikans. »Diese Zahlen dürfen Sie bei der Berechnung nicht vergessen«, sagte Alana noch einmal zur Sicherheit. »Genau«, meldete sich nun auch Tristan, der Alanas Plan erkannte. »Die Menschen damals konnten das schon besser berechnen, als wir heute glauben.« Sofort erntete er Alanas 209
kritischen Blick. Es war nicht gut, wenn er zu sehr darauf herumritt. Es sollte eher wissenschaftlich wirken. Tristan zog seinen Kopf wieder ein. Einen automatischen ängstlichen Blick zum Grauen konnte er sich gerade noch verkneifen. »Sollen wir Sie noch ein paar Schritte zurück in die Stadt begleiten?«, fragte der Professor, der längst begriffen hatte, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Alana und Tristan blickten sich an. Schauten zum Fremden. Zögerten mit der Antwort. Schauten auf Petersen. Wollten laut »Ja« antworten, um endlich entfliehen zu können. Wussten aber gleichzeitig, dass dies Sophia nur gefährden würde. Leise presste Alana ein »Nein, danke« hervor. Petersens Augen fragten noch einmal: »Sind Sie sicher?« Alana nickte nur resigniert. Der Fremde und sein Begleiter hatten sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Argwöhnisch beobachteten sie das Geschehen und lauschten dem Gespräch. Als Petersen mit seiner Gruppe ging, war ihnen sichtlich wohler. Sie hatten die Situation sofort wieder im Griff. Der Fremde ging auf Tristan und Alana zu. »Wissenschaftlergewäsch!«, begann er und setzte übergangslos das vorher unterbrochene Gespräch fort. »Iscariot erwähnte etwas vom Unsichtbar-Erscheinen.« Es hatte den Anschein, als wollte er die Sache jetzt schnell hinter sich bringen, bevor sie erneut gestört würden. Es war ohnehin ein Wunder, dass noch keine der allgegenwärtigen Touristen hier aufgetaucht waren. »Ihr Gestammel, Wagner, war vielleicht doch nicht ganz so verrückt, wie es schien.« Gehetzt blickte er nach rechts und links. Sommerlich gekleidete Helgolandbesucher, mit der Kamera über dem Bauch hängend, näherten sich. »Sie beide führen mich hin«, begann er kurz und bündig. »Aber das ist nicht so …«, sagte Tristan.
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»Still«, schnitt er ihm mit messerscharfer Stimme ins Wort. »Das ist ein Befehl. Kein Wunsch.« Tristan zuckte kurz, was als Nicken interpretiert werden könnte. »Kein Verschwinden. Kein Telefonieren. Sonst …!«, drohte der Fremde mit Unausgesprochenem. »Wir würden sofort merken, wenn ihr uns hereinzulegen versucht. Also probiert es gar nicht!« Alana war wie erschlagen. Teilnahmslos wirkend schaute sie zu Boden. Tristan vermutete, dass dies zu viel für ihre Nerven war. Der Sprecher hielt ihnen fordernd eine Hand entgegen, als wolle er etwas haben. »Los!«, rief er. Tristan verstand nicht. »Handys her!« Schicksalsergeben zog Alana das ihre aus der Handtasche. Tristan hatte seines nicht dabei. In hohem Bogen flog Alanas Handy über die Klippe. Ein paar Sekunden später zersplitterte es in tausend Teile. Smith wollte sichergehen. »Los jetzt!«, zischte er noch zwischen den Zähnen hervor. Die Touristen waren schon näher gekommen. Tristan ließ sich das nicht zweimal sagen. Mit dem Arm an ihrer Hüfte schob er Alana sanft den Klippenweg entlang, Richtung Stadt. Auch wenn sie jetzt für sich allein gingen – die zwei Geheimdienstmänner waren hinter ihnen. Auffällig unauffällig. Ihre Kleidung war für diese Ausflugsinsel unpassend. Ihre steife Haltung ebenso. Sogar ihr Gesichtsausdruck wirkte deplatziert. Ihre langen grauen Regenmäntel flatterten im Seewind. Wenn Touristen vorbeikamen, taten sie so, als würden sie den Ausblick über die jähen Felsen auf das weite Meer genießen. Es wirkte unglaubwürdig. Diese grauen Besucher waren nicht
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entspannt. Dennoch bemerkte sie kaum jemand. Sie wurden einfach übersehen. Alana und Tristan liefen mittlerweile Hand in Hand. Ließen das eben Geschehene noch einmal Revue passieren. Sophia in Gefahr? Unvorstellbar! Es konnte einfach nicht sein, versuchte sich Tristan einzureden. Und doch war es so, das wusste er. Der Graue trieb keine Spielchen. Er sah wie jemand aus, der bekam, was er wollte. Auch wenn es dabei Opfer gab. Für ihn schien nur der Auftrag zu zählen: das außerirdische Artefakt für seine Vorgesetzten, wahrscheinlich irgendwelche Militärs, zu gewinnen. Aber auch das konnte er nicht zulassen, sagte sich Tristan. Diese Technologie durfte nicht in die falschen Hände geraten. »Die Alten wussten schon was sie taten, als sie das Ding vor der Welt versteckten«, sagte Tristan leise. »Es ist doch nicht Sophias Leben wert, oder?« Alana blieb ruckartig stehen und die Tränen in ihren Augen schrien die Frage lauter als ihre Stimme. Für manche skrupellosen Verbrecher vielleicht schon, wollte er sagen, verkniff es sich aber. »Nein, natürlich nicht«, antwortete er stattdessen. Auf keinen Fall wollte er jetzt mit ihr darüber sprechen, dass es trotzdem niemand bekommen sollte, der es für verbrecherische Zwecke verwenden würde. Jetzt war erst einmal das Leben von Sophia wichtig. »Benedikt wird bestimmt etwas einfallen«, versuchte Tristan Alana zu trösten, als sie weitergingen. »Du hast selbst einmal gesagt, wie einfallsreich er ist.« Dabei sah er aus den Augenwinkeln nach hinten. Keinen Augenblick wurden sie von den beiden Männern außer Acht gelassen. Alana drückte sich enger an Tristan. Ihre Hand griff so fest zu, dass sie zitterte. 212
»Kannst du dir vorstellen, was ich für Angst hatte, als ich die Nummer aufgeschrieben habe?«, flüsterte sie. Der innere Kampf zwischen Angst und Sorge war in ihrem Gesicht abzulesen. »Was du getan hast, war nicht nur mutig und raffiniert, sondern das Einzige, von dem ich mir vorstellen könnte, dass es Sophia und uns retten kann«, lobte Tristan. »Uns auch?« Große, überraschte und erstaunte Augen blickten ihn an. »Wir sind so lange in deren Hand, wie sie Sophia bedrohen können«, erklärte Tristan. »Wenn sie das nicht mehr können«, er machte eine Pause und lächelte Alana an, »sind wir auch weg«. »Mmmhh?«, fragte sie stumm. »Blitzartig«, verdeutlichte Tristan noch einmal lächelnd. »Wo, meinst du, glauben die, dass die Kugel ist?«, fragte Alana. Dabei wurde Tristan erst bewusst, dass es wichtig wäre, zu überlegen, was der Fremde wissen könnte. Er sprach ja von genügend Wissen, also meinte er wohl Teilwissen. »Er wusste, dass ich kurz am Michelsberg gesehen wurde«, überlegte Tristan. »Es scheint, der Grabungsleiter und er tauschten Informationen aus«, sagte Alana. »Der Grabungsleiter ist derselbe, der damals den Kommandotrupp in den vatikanischen Katakomben geleitet hat«, kombinierte Tristan weiter. »Dann arbeiten die zwei jetzt zusammen«, resümierte Alana kurz. »Was wissen die dann?«, fragte Tristan mehr sich selbst. »Dass es die Kugel wirklich gibt und dass sie unsichtbar sein muss.« »Natürlich auch, dass man darin reisen kann«, überlegte Alana weiter. »Ja, aber wissen sie auch, wie man das anstellt?«, fragte Tristan. 213
»Wenn sie das Dokument, das Bruder Severino geraubt wurde, schnell übersetzen können …, ja«, sagte Alana. »Aber … ob sie das so gut können wie Bruder Benedikt?« »Ich befürchte, dass der gefährliche Pater das doch auch kann«, sagte Alana. »Und wenn nicht, dann hätte er sicher seine Möglichkeiten, es herauszufinden.« Zwischendurch schaute sich Tristan immer wieder um. »Die können uns doch nicht hören?«, erschrak Alana. »Bei dem Rauschen von Wind und Wellen bestimmt nicht«, versuchte Tristan sie zu beruhigen. Trotzdem blickte er sich immer wieder um. Der Fremde schien jetzt mit einem Handy zu telefonieren. »Nicht so oft umdrehen«, mahnte Alana. »Wir dürfen uns nicht verdächtig machen.« »Ja«, sagte Tristan kleinlaut und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Rom«, sagte Alana leise. »Was?«, fragte Tristan überrascht zurück. »Er glaubt wohl, die Kugel wäre in Rom«, erklärte Alana, »weil du von dort gekommen bist und dahin zurückgekehrt bist.« »Genau«, nahm Tristan die Überlegung auf. »Über den geheimen Maulwurf in Benedikts Arbeitsgruppe und den Grabungsleiter hat dann der Typ hinter uns davon erfahren.« »Also müssen wir nach Rom«, sagte Alana. »Nur wenn wir jetzt nach Rom gehen, bleibt Sophia vielleicht verschont.« »Rom also«, sponn Tristan weiter. »Er vermutet die Kugel dort, weiß aber nicht genau, wo. Bis wir dort sind, sollte Benedikt genügend Zeit für Sophia gehabt haben.« »Hoffentlich.« Alana bangte.
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»Wie lange werden wir bis Rom brauchen?«, versuchte Tristan zu berechnen. »Von hier bis Hamburg mit dem Schiff, dann mit dem Flugzeug …« Auch Alana schätzte die Zeit ab. »He, ihr zwei!«, rief es von hinten. Erschrocken blieben Tristan und Alana stehen. Panik spiegelte sich in Alanas Gesicht. Was war jetzt? Waren sie belauscht worden? »Nach links«, wedelte der graue Geheimdienstmann mit dem Arm, das Handy noch in der Hand. »Aber der Hafen …«, wollte Tristan sagen, aber ihm wurde sogleich das Wort abgeschnitten. »Nach links zum Nordosthafen. Los!«, befahl er. Verwirrt über diese Änderung stolperten sie den Trampelpfad entlang, der nach links abzweigte. Sie wagten keine Widerrede. »Was haben die mit uns vor?«, fragte Alana verängstigt. »Es geht wohl auf einem anderen Weg zurück«, vermutete Tristan. Folgsam liefen sie den angewiesenen Weg. Er führte durch den Nordteil des kleinen Ortes, hinter dem gleich der Nordosthafen lag. Jachten und Kutter lagen einträchtig nebeneinander. Aber ihr Weg führte an den Pier auf die Südseite des Hafens. Dort dümpelte nur der Kutter »Witte Kliff« vor sich hin. Je näher Tristan kam, desto klarer wurde ihm der Plan des Fremden. »Das kleine Boot ist wohl unsere Fähre«, sagte Tristan. »Von hier aus sieht es ja aus wie ein schnittiges Rennboot mit seinem Grün und Orange.« »Einmal mit unserer Schnellfähre zur Düne hin und wieder zurück, macht vier Euro«, schnarrte der Mann an der Kasse im Friesenslang vor sich hin. 215
»Brauchen wir eine Rückfahrkarte?«, fragte Tristan und schaute dabei unsicher auf den Geheimdienstmann. Der ignorierte ihn. Tat so, als hätte er mit ihm nichts zu tun. »Wenn Sie eine gültige Flugkarte haben, ist der Transfer im Preis inbegriffen«, sagte der Mann an der Kasse. »Wir haben keine Flugkarte«, antwortete Tristan verwirrt. »Dann vier Euro«, kam es kurz angebunden zurück. Tristan zahlte. Alana kletterte bereits an Bord der wackeligen Fähre. Der Wellengang war hier zwar etwas geringer als am Binnenhafen, aber Tristans Magen meldete sich sofort beim Anblick des auf und nieder stampfenden Bootes. Beinahe auf allen Vieren krabbelte er an Bord. Schnellstens setzte er sich neben Alana und hielt sich an ihr fest. Den Blick auf einen festen Punkt an Land gerichtet. Damit seine Sinne wenigstens etwas Orientierung hatten. Smith und sein Begleiter nahmen getrennt voneinander Platz. Taten so, als wären sie ganz normale Reisende. Trotzdem sah man ihnen an, dass sie nicht ganz so normale Reisende waren. Ein Ruck ging durch das schaukelnde Gefährt. Der Dieselmotor dröhnte. In den Wellen hin und her wippend, wendete der Kutter. Möwen umkreisten ihn sogleich. In der Hoffnung auf Futter. Außerhalb des Hafens blies ihnen spürbar der Seewind ins Gesicht. Der Seegang war hier höher. Tristans Gleichgewichtsorgan spielte verrückt. Hektisch suchte er nach einem neuen fixen Punkt, an dem sich sein Blick festhalten konnte. Er war froh, dass der Tower des Flugplatzes auf Düne, der kleinen Insel vor ihnen, schon zu erkennen war. Nach fünf Minuten hatten sie diese erreicht. Sie stiegen aus und Tristan versuchte, seine Übelkeit zu ignorieren. Viel Zeit zum Erholen blieb ihm nicht. Smith drängte darauf, schnellstens den Flugplatz zu erreichen. Rechter Hand sahen sie drei Startbahnen. Tristan erschienen sie extrem kurz. Da heulte über ihnen schon die Turbine eines 216
schnittigen Flugzeuges auf. Wegen des Windes hörten sie das Geräusch erst jetzt. Hin und her pendelnd versuchte der Pilot, die tückischen Winde immer wieder neu auszugleichen. Das Fahrwerk, welches eigentlich direkt auf den Boden zeigen sollte, schwenkte mit dem Flugzeug einmal hierhin, einmal dorthin. Tristan erschien es wie ein Drahtseilakt, nur ohne Drahtseil. Da ließ plötzlich der Gegenwind nach und das Flugzeug drohte nun zu langsam zu werden und abzuschmieren! Sofort gab der Pilot seiner Maschine kräftigen Schub. Schwer setzte der Flieger auf. Dann drehte der Pilot den Motor auf Gegenschub. Immer näher kam das Ende der viel zu kurzen Landebahn. Innerhalb der kurzen Strecke bremste der Flieger stark ab. Rechtzeitig erreichte er den Parkplatz von dem Flughafengebäude. Tristan beobachtete die Landung mit gemischten Gefühlen. Diese kurvenreiche Landung schien fast identisch zu sein mit dem, was sich in seinen Eingeweiden abspielte. Alana und Tristan erreichten den Zugang zum Gebäude des Flugplatzes. Verschiedene regionale Flugunternehmen boten sich hier an. ›Ostfriesische Lufttransport GmbH‹, las Tristan und überlegte, vor welchem Schalter sie sich anstellen sollten. »Hier lang!«, befahl Smith. Sie gingen zu einem uniformierten Flugplatzmitarbeiter, der sich gerade mit einem Piloten unterhielt. Als der Pilot die Gruppe kommen sah, rief er: »Smith?« »Miller?«, kam die Rückfrage. Sofort drehte sich der Pilot wieder um und verschwand auf dem Rollfeld. Der Offizielle des Flughafens wollte noch etwas sagen, aber der graue Smith schob ihn ohne ein Wort zur Seite und wies Tristan und Alana mit einem strengen Blick an, dem Piloten zu folgen.
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»Haben Sie die Anweisung des Towers nicht gehört? Die Landebahn ist nicht für Learjets gebaut!«, versuchte der Offizielle noch hinterherzurufen, aber niemand reagierte darauf. Draußen stand das sehr modern anmutende Flugzeug, dessen Landung sie beobachtet hatten. Weiter hinten waren kleine zweimotorige Transportmaschinen der hiesigen Airlines zu sehen. Sie wurden gerade beladen. »Weiter!«, befahl Smith kurz, ergriff Alana am Oberarm und zog sie mit. Ihr kurzer Aufschrei wurde ignoriert. Tristan wollte protestieren, aber der Begleiter des Grauen ergriff ihn. Es ging stolpernd die Gangway hinauf. Im Flugzeug warfen sie die beiden Gefangenen in die Sitze. Alana rieb sich den Oberarm. Er schmerzte. Tristan kümmerte sich um sie. »Anschnallen«, lautete ein kurzer Befehl. Hilflos suchte Tristan nach Alanas Gurten. Fingerte die Verschlüsse zusammen. Er versuchte sie mit einem Lächeln aufzumuntern, was nicht gelang. »Es wird schon alles gut gehen«, sagte er. Aber damit erreichte er sie nicht. In ihren Gedanken war sie bei Sophia. Die Angst machte sie panisch und lähmte sie gleichzeitig. Ein zweiter Pilot schloss die Tür. Smith war im Cockpit verschwunden. Ihnen schräg gegenüber ließ sich der zweite Mann nieder. Er beobachtete die beiden mit ausdruckslosen Augen. Menschen mit solchen Augen hatte Tristan selten gesehen. Vom Servieren eines Kaffees in einem Flugzeug bis zum bedenkenlosen Schnitt von Ohr zu Ohr hielt Tristan bei ihnen alles für möglich. ›Was kann ich nur tun?‹, arbeitete es in ihm. ›Jetzt nichts!‹, schrie es in ihm zurück. Ihm war klar, sie mussten Zeit gewinnen. Zeit, damit Benedikt handeln konnte. 218
Eigentlich müssten sie jetzt sofort zu Sophia. Sie in den Arm nehmen. Sie beschützen. Vor allen Gefahren. Aber das alles war nicht möglich. Sie konnten Sophia nur retten, indem sie sich fern von ihr hielten. Die Motoren des Learjets dröhnten wieder. Ein Ruck fuhr durch das Flugzeug, und es rollte. An seinem Seitenfenster sah Tristan das Flugplatzgebäude vorbeiziehen. Davor stand ein hilfloser Bediensteter. Die Kurvenbewegung drückte Tristan gegen die Wand. Alana schreckte auf und starrte nach draußen. »Es ist alles gut«, sagte Tristan. »Wir retten jetzt Sophia.« Irgendwie klang das beruhigend in ihren Ohren. Aber gleichzeitig hatte sie den Verdacht, dass sie sich einfach an die kleinste Hoffnung klammern wollte, die sich ihr bot. Der Flieger nahm Fahrt auf. Tristan und Alana hielten sich an den Händen, als es sie in die Sitze drückte. Vor seinem Fenster sah Tristan jetzt das Meer. Den Nordstrand von Düne. Immer schneller flog die Landschaft vorbei. Tristan hatte den Eindruck, dass die Startgeschwindigkeit viel höher war als bei anderen Fliegern, mit denen er schon unterwegs gewesen war. Schlagartig fiel ihm die kurze Startbahn ein. Er drückte sein Gesicht gegen das Fenster. Versuchte nach vorne zu schauen, das Ende der Bahn zu erkennen. Viel Platz schienen sie nicht mehr zu haben. Urplötzlich ging es nach oben. Seitenwinde brachten die Maschine ins Schlingern. Schnell gewann der luxuriöse Privatflieger an Höhe. In einigen hundert Metern Höhe machte der Jet eine langgezogene Linkskurve. Helgoland kam ins Blickfeld. Wehmütig blickte Tristan hinunter. Vor wenigen Stunden war dort unten für sie das Leben noch in Ordnung gewesen. Jetzt stimmte gar nichts mehr. Doch weiter konnte er nicht vor sich hin sinnieren. Smith kam von vorne zurück. Sich rechts und links festhaltend, denn der Flieger befand sich noch im Steigflug. 219
»Wohin geht der Flug?«, fragte er in gewohntem Befehlston. »Äh, … nach Norden«, versuchte sich Tristan zu orientieren. Ein wütender Ausdruck legte sich auf sein hageres Gesicht. Nur kurz. Dann glätteten sich die Gesichtszüge wieder. Smith versuchte freundlich und mitfühlend zu erscheinen. Zog einen Hebel am Sitz vor ihnen, drehte ihn und setzte sich. »Sehen Sie«, begann er mit sympathischem Ton, »mir macht das keinen Spaß, auch wenn Sie das meinen. Mein Job ist nicht leicht.« Seine Stimme wurde nachdenklich. »Er ist sogar verflucht schwer. Aber es gibt Prioritäten. Manchmal sogar Wichtigeres als ein Menschenleben …«, kurz hielt er inne, überlegte, »… als das Wohl einzelner Menschen.« Erstaunt starrten ihn Tristan und Alana an. So kannten sie den Menschen nicht, der für sie nichts anderes als der Inbegriff eines Auftragskillers war. Die Stimme passte plötzlich nicht mehr zu dem grauen kalten Menschen. »Sie sollten einmal ernsthaft an Ihren Prioritäten arbeiten«, fuhr ihn Tristan an. Beinahe wollte er aufspringen, aber der Gurt hielt ihn im Sitz fest. Smith lächelte beinahe verständnisvoll. »Vielleicht sollte ich das«, konterte er mit dem Hauch eines Lächelns. Dann wieder ernst: »Aber nicht hier und heute. Wo ist die Kugel?« Tristan setzte an zu antworten. Smith fuhr ihm sogleich ins Wort. »Wir wissen genug, um zu erkennen, ob Sie lügen oder nicht. Tun Sie uns das nicht an. Nicht Ihnen und …«, seine Stimme wurde sehr leise, »… und nicht Sophia.« »Rom«, stammelte Tristan schnell. »Rom.« Über das Gesicht des Grauen huschte wieder der Anflug eines Lächelns. Lange schaute er Tristan tief in die Augen. Suchte hinterhältige Gedanken. 220
Doch Tristan dachte nur an Sophia. Die Sorge schrieb sich in seinen Blick. Er dachte an Alana. Ihre stille Panik ängstigte ihn. Genau das sah Smith. Das reichte dem Geheimdienstmann. Er stand auf und ging zum Cockpit. »Was ist jetzt?«, flüsterte Alana. »Keine Ahnung. Es scheint, wir fliegen nach Norden«, sagte Tristan. Um sich zu vergewissern, suchte er Anhaltspunkte draußen. Sah aus seinem Fenster, sah aus den gegenüberliegenden. Wich dabei dem kalten Blick des Zweiten aus. Kalt war er. Wie eine Spinne, die auf ihre Beute starrte. Smith kam zurück. Flüsterte seinem Kompagnon etwas ins Ohr. Der lief nach vorne zu einem Vorratsschrank und begann dort zu hantieren. »Sophia geht es gut«, sagte er zu Alana gerichtet. »Sie ist im Visier meiner Leute. Solange alles glatt läuft, wird sie nichts davon merken.« Er wartete auf eine Reaktion der ängstlichen Mutter. Aber sie starrte ihn nur an. Beruhigt schien sie aber nicht zu sein. »Wenn Sie mich meinen Auftrag erfüllen lassen, wird die Kleine niemals merken, dass etwas war.« Wieder suchte er nach einer Reaktion. Zaghaftes Nicken folgte. »Gut«, sagte Smith. »Aber wir fliegen weiter nach Norden«, bemerkte Tristan. »Ja, das hat lediglich politische Gründe. In manchen Ländern werden unsere Flugpläne unbürokratischer behandelt als in anderen. Genießen Sie einfach den Flug. Mein Mitarbeiter wird Ihnen Kaffee und ein paar Kekse servieren. Mehr gibt es leider in diesem Luxusflieger nicht«, sagte Smith. In diesem Augenblick kam der Mitarbeiter zurück und servierte. Dann schickte Smith ihn weg. »Alana …«, begann er wieder mit ruhigem Ton, »ich darf Sie doch Alana nennen?« 221
Als Antwort kam nur ein hohes Piepsen. Ihre Stimme versagte ihren Dienst. »Ich hatte nie Kinder. Ich hatte nie eine Frau. Immer nur den Job. Befehl und Gehorsam. Bitte«, sagte er, »erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Wie ist das Leben für so ein junges Mädchen in Deutschland? Was spielt man in diesem Alter? Was unternimmt sie mit ihren Freundinnen? Geht sie denn schon in die Schule?« Es brach aus Alana heraus. Zuerst schluchzte sie, dann begann sie zu erzählen, leise, zaghaft und schließlich immer leidenschaftlicher, von Erlebnissen und Alltäglichkeiten.
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TELEFONAT Das Telefon klingelte. Iscariot hob ab. »Wir haben sie wieder«, klang eine ihm wohlbekannte Stimme aus dem Hörer. Auch wenn die Information positiv klang, war der Priester damit nicht zufrieden. Er wurde dadurch abhängig. »Gut«, log er, »wann ist mit den ersten Ergebnissen zu rechnen?« »Bald«, hieß es im Hörer, »halten Sie ihre Leute etwas zurück. Es darf jetzt nichts schief gehen.« »Wir werden auf Distanz bleiben, aber die Kleine im Visier behalten.« »Gut, bis bald.« »Vergessen Sie nicht, dass wir Partner sind«, mahnte Iscariot noch einmal an. Dann legte er auf. Er musste unbedingt noch vor Smith in Rom sein. Zog seinen Koffer hervor und schaltete das Radio ein. »… und nun zur Gesundheitspolitik: Vertreter der Politik verschiedener Parteien warnten heute bei einer Pressekonferenz in Berlin davor, die Gesundheitsreform scheitern zu lassen. Die Unbezahlbarkeit der medizinischen Versorgung wäre die Folge. Dies würde unweigerlich auf Kosten und Gesundheit des Versicherten gehen. Davor müsse er geschützt werden. Es folgt das Wetter.«
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SCHWESTER EPIPHANIA Perfekt war sie wirklich nicht. Aber sie war zufrieden mit ihrem Leben. Die dreißigjährige Brasilianerin deutscher Abstammung war am Ziel ihrer Wünsche. Und es gab nicht viele Wünsche in ihrem Leben. Nicht Geld, nicht Partner, kein großes Haus. Eine bescheidene Aufgabe, bei der sie mit Kindern zu tun hatte. Mehr brauchte sie nicht zum Glücklichsein. Die ohne Mutter aufgewachsene Frau aus ärmlichen Verhältnissen musste schon früh ihre sechs Geschwister versorgen. Der Vater hatte jede Arbeit angenommen. Beim Straßenbau im stickigen Dschungel, als Goldwäscher in Quecksilberdünsten oder am Tötungsautomaten der Schlachterei. Er war selten zuhause, schickte das verdiente Geld an seine älteste Tochter Philomenia. Aber die Familie war dadurch nicht mehr zu retten. Als er zwischen rivalisierende Straßenbanden geriet und eine verirrte Kugel sein Leben beendete, wusste er nicht, dass zwei seiner Kinder den Todesschwadronen zum Opfer gefallen waren. Die Zweitälteste Tochter verschwand in der Prostituiertenszene in Rio de Janeiro. Seine anderen Kinder gingen auch einem ungewissen Schicksal entgegen. Diese schrecklichen Erfahrungen, die die junge Philomenia geprägt hatten, bestimmten ihren Lebensweg. Als Vierzehnjährige musste sie eine Familie zusammenhalten, woran sie sich immer mit dem Gefühl des Versagens erinnerte. Deshalb wollte sie ihr Leben Kindern widmen. Ihnen ein echtes Zuhause geben. Zeigen, dass es mehr im Leben gab als Essen und Trinken. Sie wollte erleben, wie aus ihren Schützlingen etwas wurde. Danach lechzte sie. Vor allem wollte sie keinen Mann durch ihre Lebensplanung zwingen, fern von zuhause ein paar Geldscheine zu verdienen, um sich viel zu früh aufzuarbeiten. 224
So beschloss sie mit sechzehn, in das Zisterzienserkloster in Sao Paulo zu gehen, um der grausamen Welt den Rücken zu kehren und genau dieser Welt von neuem zu begegnen. Aus Philomenia wurde Schwester Epiphania. Jetzt war sie fast doppelt so alt. Viele Aufgaben hatte sie schon übertragen bekommen. Zusätzlich übernahm sie, mehr aus Spaß als aus innerer Führung, jedes Jahr im Sommer ein Ferienlager für Kinder mit einem besonderen Problem. In den mäandernden Bögen des Flüsschens Wiesent standen die Zelte der Pfadfinderschaft St. Georg. Begeistert waren die ihr anvertrauten Kinder dort eingezogen. Begeistert hatte Schwester Epiphania die übertragene Aufgabe übernommen. Nun saß sie mit einem Jungen und einem Mädchen in einem wackeligen Kajak. Die Kinder stocherten mit den Paddeln im Wasser und sorgten dafür, dass sie nur im Kreis herumfuhren. Die Nonnentracht über die Knie geschoben, saß Epiphania im Boot. Eine Hand auf dem Kopf, um ihre Haube festzuhalten, die sich gelockert hatte und wegzufliegen drohte. Die andere Hand am Bootsrand, damit sie bei der wilden Karussellfahrt des Bootes nicht über Bord ging. Alle drei waren durchnässt von diesem Abenteuer. »Jetzt rudern«, rief der Junge von hinten in seiner orangefarbenen Schwimmweste. »Mach ich doch«, antwortete das Mädchen von vorne. »Nein, jetzt nicht mehr rudern«, rief der Junge wieder. Sie drehten sich nur. »Warum nicht?«, fragte die Kleine und klatschte mit aller Kraft die Ruder übers Wasser, in der Absicht, wie Erwachsene zu rudern. »Gleichzeitig! Du musst dich nach mir richten«, rief er. »Warum? Ich kann dich ja nicht sehen«, gab sie zurück und versuchte den Kopf kurz zu wenden, was angesichts der großen Schwimmweste nicht gelang. »Du musst dich nach mir richten.« 225
»Ich bin der Steuermann hinten«, rief er, »ich gebe die Kommandos.« »Ich will auch mal«, sagte sie und stand auf. Das ohnehin wackelige Boot bekam schwere Schlagseite. »Kinder, bleibt bitte sitzen«, sagte Schwester Epiphania. »Wir werden noch kentern.« »Ja, setz dich hin«, setzte der Junge nach. »Sonst fallen wir ins Wasser.« »Ich will auch mal nach hinten«, protestierte die Kleine und versuchte einen Schritt. Sofort kippte das Kajak, und alle platschten ins knietiefe Wasser. Das Mädchen machte sogleich Schwimmbewegungen, schleifte aber mit dem Körper durch das seichte Wasser, was sie zum Kichern brachte. Der Junge hielt sich, auf dem Kies im Wasser hockend, am Ruder fest und jauchzte aus vollem Herzen. Aus reiner Lebensfreude tat er so, als rudere er noch weiter. Das Boot trieb ein paar Meter und blieb dann am Ufer hängen. Die Nonne lag der Länge nach in dem Flüsschen Wiesent und hob gerade nach Luft ringend den Kopf aus dem Wasser. Die Haube hing mehr an einem Ohr als auf dem Kopf. Das tiefschwarze Haar klebte in Strähnen über Gesicht und Hals. Mit dem Handrücken strich sie sich die Augen frei. Blickte zu den Kindern. Lachte. Schaute zum nahen Ufer. Erkannte dort plötzlich zwischen den Büschen auf der Uferwiese einen Pater in schwarzem, priesterlichem Gewand. An seiner Hand hielt er ein etwa sechsjähriges Mädchen. »Gelobt sei Jesus Christus«, stieß die Schwester hervor, immer noch vor Aufregung schnell atmend. Trotz ihrer kaffeebraunen Haut schien so etwas wie schamhafte Röte in ihr Gesicht zu steigen. Ohne den Blick von ihm zu wenden, versuchte sie im Aufstehen die nasse Nonnenbekleidung wieder ordentlich über ihre Beine zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Wie festgeklebt 226
schlang sich der lange Rock um ihre Oberschenkel. Enthüllte mehr Weibliches, als es angebracht war. »In Ewigkeit Amen«, antwortete Pater Benedikt und schaute belustigt und gleichzeitig mitleidig auf die klitschnasse Nonne. Viel zu lange dauerte dieser Blick. Am Ufer heiteres, im Wasser betretenes Schweigen. Den Blick nicht voneinander abwendend, erlebten beide einen langen, erstaunten Augenblick, dessen Intensität sie nicht einordnen konnten. Sie bemerkten nicht, wie sich beide Kinder im Wasser abmühten, das Boot ans Ufer zu ziehen. Da machte Pater Benedikt etwas, was ihm im selben Moment töricht vorkam. Trotzdem stieg er, ungeachtet seiner schwarzen Schuhe, in die Wiesent, bot der Nonne seine Hand, um ihr herauszuhelfen. Erstaunt nahm Epiphania an. Löste langsam ihren Blick von seinen Augen, die sie bislang fixiert hatte, und schaute an ihm hinunter auf seine Beine, die ab dem Knie im Wasser verschwanden. Plötzlich prusteten sie gleichzeitig los. Lachten über sich, über die komische Situation, in der sie sich befanden. Lachten herzlich und bogen sich dabei. Ungeachtet aller kirchlichen Etikette. »Ihr zwei seid aber ganz schön albern«, tadelte Sophia vom Ufer, die Fäuste in die Seiten stemmend. In diesem Augenblick schienen sich beide der Situation bewusst zu werden. »Das stimmt«, sagte Benedikt und führte die Schiffbrüchige ans Ufer, das hier flach war und grasbewachsen. Während Epiphania ihre Kleidung ordnete, half Benedikt den beiden Kindern mit dem Kajak. »Wie weit seid ihr denn gefahren?«, fragte der Pater. Der Junge tat, als würde er bedächtig den Weg überschlagen, den sie bis hierher zurückgelegt hatten.
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»Sicherlich«, sagte er und wies mit seinem Arm den mäandernden Verlauf des Flusses entlang, »sicherlich dreihundert Meter.« »Ein Wunder, dass ihr so weit gekommen seid«, kommentierte Benedikt, »nach dem, was ich über eure Ruderkünste gesehen habe.« »Das liegt aber daran, dass ich als Steuermann behindert worden bin«, beschwerte sich der Junge mit einem Seitenblick auf das Mädchen. »Gar nicht wahr«, kam es zurück, »du hast immer Kurven gelenkt.« »Weil du falsch gerudert hast«, sagte er. »Ich hab immer voll stark gerudert«, verteidigte sich das Mädchen. »Aber immer auf der falschen Seite«, rügte der Junge. »Ach, lass ihn«, mischte sich Sophia ein, »Jungs wollen immer recht haben. Einfach nicht hinhören.« Sie ging zu dem Mädchen und half ihm aus der Schwimmweste. »Das ist übrigens Sophia«, stellte Benedikt vor. »Macht euch mal bekannt. Ich möchte mit Schwester Epiphania unter vier Augen sprechen.« »O Senhor sabe … Sie kennen meinen Namen?«, fragte sie überrascht mit unverkennbar portugiesischem Akzent. »Natürlich, wir sind wegen Ihnen hier«, sagte der Pater. »Warum tragen Sie eigentlich keine Schwimmweste?« Gemeinsam gingen sie an den Uferbüschen entlang. Epiphania lächelte verlegen. »Die habe ich nicht über meine Tracht gebracht.« Ob es sich dabei um ein technisches Problem handelte oder einen Hauch von Eitelkeit, wollte er nicht weiter ergründen, zumal der Nonne ihr Aussehen ohnehin peinlich war.
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»Was treibt eine Nonne des brasilianischen Zisterzienserordens ins fränkische Wiesenttal?«, fragte Benedikt. »Die Geschwister Florian und Daniela haben ein schweres Schicksal hinter sich. Ich versuche, sie durch eine Intensivbetreuung etwas aufzuheitern«, sagte Epiphania. »Würden Sie sich bitte umdrehen, Pater?« »Wie?«, fragte Benedikt und schaute erst recht genau auf die nasse Frau mit dem schwarzen lockigen Haar, das ihr Gesicht umrahmte, und in ihre tiefbraunen Augen. ›Rassig!‹, flog es durch seine Gedanken. Er rügte sich aber sogleich selbst, da dieses Wort in seinem Vokabular, vor allem gegenüber einer Nonne, keinen Platz haben sollte. »Bitte«, forderte sie ihn noch einmal auf. »Oh, Entschuldigung«, stotterte Benedikt. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass sie ihre nasse Kleidung ordnen wollte, ohne dass er zusah. Betreten über die Tatsache, dass er zweimal aufgefordert werden musste, drehte er sich um. Ging einen Schritt vom Busch weg, hinter den sich Epiphania verzogen hatte. »Die Mutter der Geschwister musste die beiden in den letzten Jahren allein großziehen. Als wäre das nicht schon genug gewesen, erkrankte sie dann auch noch schwer an Krebs«, erzählte die Nonne etwas lauter, während sie ihre Haube aufsetzte und ihre Tracht in Ordnung brachte. »In ihrer Leidenszeit hat sie sich trotzdem mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand, um die Kinder gekümmert. Letztendlich erlag sie der heimtückischen Krankheit. Wenn ich auch den beiden nicht wirklich helfen kann, so möchte ich zumindest versuchen, ihnen etwas Lebensfreude zurückzubringen.« »Wie lange ist der Tod der Mutter her?«, fragte Benedikt. »Etwa drei Monate«, sagte Epiphania. »Eigentlich noch keine lange Zeit, um damit fertig zu werden«, sagte Benedikt. 229
»Nein, gar nicht. Auf den ersten Blick scheinen sie unbekümmert zu sein«, erzählte die Nonne weiter und kam wieder hinter dem Busch hervor. Benedikt sah nur kurz auf die jetzt korrekt bekleidete, aber immer noch nasse Frau. Das Haar war wieder ordentlich hochgesteckt und unter dem Häubchen verschwunden. Sein Blick suchte die Kinder. Die beiden Geschwister saßen im Gras und machten sich mit Sophia bekannt. Florian lehnte lässig am Kajak, welches kopfüber auf der Wiese lag. »So etwas sitzt tief«, sagte Benedikt nachdenklich. »Die beiden sind etwas älter als Sophia?« »Florian ist in der dritten Klasse, Daniela in der ersten«, sagte Epiphania. »Sie werden sich sicherlich gut verstehen«, hoffte Benedikt. »Sophia soll hier bleiben?«, fragte die Nonne erstaunt. »Darum wollte ich Sie bitten. Es wäre außerordentlich wichtig.« Benedikts Gesicht nahm einen ernsten und besorgten Zug an. »’tschiii!«, nieste es neben Benedikt. »Wir fahren natürlich erst einmal zu ihrer Unterkunft«, sagte Benedikt erschrocken, »damit sie sich nicht erkälten.« »Bei mir zuhause sind selbst die Winter wärmer«, lächelte Epiphania. Dem Pater schien das Lächeln wie Sonnenschein. Es wärmte sein Herz. Er fühlte sich wohl. Gleichzeitig konnte er sich nicht vorstellen, was der Widerschein aus seinem Inneren bedeuten könnte. »Können Sie sich das vorstellen?« »Vorstellen?«, verdutzt kam Benedikt aus seinen hin und her blitzenden Gedanken zurück. »Was vorstellen?« Sogleich fasste er sich aber wieder. »Ach ja. Winter in Brasilien.« Verlegen kratzte er sich an der Nase. »Mein südlichster Punkt bislang war die Pilgerfahrt nach Jerusalem. Dort war es für mich schon fast zu warm.« 230
»Wenn diese Wärme noch feucht und schwül wäre, hätten Sie ein Bild von meiner Heimat«, schwärmte Epiphania. Benedikt fiel auf, dass ihre Stimme zitterte. Jetzt erst bemerkte er: sie fror. »Kommen Sie«, forderte er sie auf. »Ich habe oben an der Straße ein Auto. Wir fahren sofort.« »Das Boot ist geliehen. Wir können es hier nicht alleine lassen«, sorgte sich Epiphania. »Darum machen Sie sich bitte keine Sorgen«, sagte Benedikt. »Wichtig ist jetzt nur, dass Sie und Ihre zwei Schützlinge trockengelegt werden.« Sie fragte sich zuvor im Stillen, wie er das mit dem Kajak eines Verleihs aus Muggendorf regeln wollte, rief aber schnell die Kinder zu sich. »Florian, Daniela! Wir werden zurückgefahren.« Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. Sprangen auf und rannten auf die Nonne zu. Jedes der Kinder schnappte sich eine Hand der Betreuungskraft. Gemeinsam liefen sie mit Benedikt durch die Wiese zur Straße. Sophia trottete neben dem Pater daher. Sie wollte an keiner Hand geführt werden. Es ging durch kniehohes Gras quer durch die Wiese. Je höher es wurde, desto mehr reihten sich die fünf in einen Gänsemarsch. Es war in den Nachmittagsstunden. Schatten legte sich bereits über die kurvenreiche Straße, die, dicht an die schroff abfallenden und teilweise bewaldeten Felswände geschmiegt, durch das sehr naturnahe Tal führte. Doch bevor sie die Straße erreichten, mussten sie noch den Abhang erklimmen, zur erhöht liegenden Straße. Dort stand am Straßenrand ein schwarzer Mittelklassewagen der Erzdiözese Bamberg. Im Vorbeigehen öffnete der Pater für seine Gäste Beifahrerund rückwärtige Tür. Ein Chauffeur sprang erschrocken auf. Er hatte träumend auf einer hölzernen Abgrenzung gesessen. Überrascht und fragend schaute er ungläubig auf die vielen Fahrgäste. Nach seiner bisherigen Information sollte nur jemand 231
abgeliefert werden. Er wollte gerade seinen fragenden Blick auf den Pater richten, als dieser bereits auf ihn zukam. Kurze Anweisungen. Mit ausgestrecktem Arm zum Kajak zeigend. Der verwirrte Fahrer wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte. Dass sein Fahrgast sich selbst ans Steuer setzte oder über den Auftrag, auf ein Kajak, zwei Paddel und zwei Schwimmwesten aufzupassen. Pater Benedikt schaltete die Klimaanlage ab und die Heizung an. Gab Gas und reihte sich in den Ferienverkehr ein. Doch lange waren sie nicht unterwegs. Noch bevor es ausreichend warm im Fahrzeug wurde, erreichten sie ein Zeltlager. Hinter einem hölzernen Tor stand rechter Hand eine große Jurte, die als Kochzelt diente. »Pass … wort … ba … lau«, las Sophia zögerlich. »He, du kannst ja schon lesen«, lobte Epiphania. »Ich komme bald in die Schule«, sagte Sophia stolz. »Da gehörst du auch hin, so gut, wie du lesen kannst«, sagte Epiphania. »Was heißt Passwort Balau?«, fragte Sophia, die sich wunderte, warum sie die Buchstaben lesen, aber nicht verstehen konnte. »Passwort Blau«, riefen Florian und Daniela im Chor. »So heißt das Pfadfinderlager«, erklärte der Junge weiter. »Seid ihr Pfadfinder?«, fragte Sophia. »Jetzt ja«, erzählte Daniela stolz. »Gestern sind wir feierlich in den Stamm aufgenommen worden.« »In was für einen Stamm denn?«, fragte Sophia weiter. »Den Stamm St. Georg«, sagten die beiden Geschwister wie aus einem Mund, stolz. »Kriegt man da irgendein Abzeichen oder so was?« »Ein Pfadfinderhalstuch natürlich«, erklärte Florian. 232
»Warum hast du es dann nicht um?«, bohrte Sophia weiter. »Weil es beim Kajakfahren bestimmt nass geworden wäre«, sagte Florian. »Ganz bestimmt«, lächelte der Pater. Er parkte etwas abseits neben einem älteren VW-Bus, mit dem die Pfadfinder ihre Ausrüstung transportierten. »Sofort unter die Dusche und umziehen«, wies die Nonne sie an, während sie aus dem schwarzen Dienstfahrzeug stiegen. Dabei kämpfte sie gegen einen weiteren Nieser an. Es gelang ihr nur einige Sekunden lang, dann kam er doch. »Das gilt aber auch für Sie«, sagte Benedikt. »Da wäre ich aber eine schlechte Gastgeberin«, beschwerte sie sich. »Oder wollen Sie gar nicht zum Abendessen bleiben?« Der Hauch einer Enttäuschung machte sich in ihrer Stimme breit. Mit ihrem schmalen Gesicht sah sie Benedikt erwartungsvoll an. »Gern«, antwortete er. Alle schienen erleichtert. Schwester Epiphania registrierte trotzdem ein flaues Gefühl in der Magengegend. Gedankenbruchstücke begannen zu rasen und ihr fiel trotzdem nichts ein. »Au ja«, freute sich Sophia. »Dann können wir am Lagerfeuer noch Geschichten erzählen. Und dann können wir …« »Und und und«, fiel Benedikt ihr lachend ins Wort. »Ab unter die Dusche. Das Essen kann ich machen.« Er krempelte seine Ärmel hoch, als wolle er sich gleich in die Arbeit stürzen. »Wo sind die Lebensmittel?« »Alles in der Jurte. Wir dürfen uns da bedienen«, erklärte Epiphania. »Aber ich mach das … ’tschiii!«, kam der nächste Nieser. »Jetzt aber unter die Dusche. Alle drei!« Strenger Ton und lächelndes Gesicht mischten sich. »Sophia wird mir helfen, oder?«
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»Aber klar doch«, meldete sich die Kleine zu Wort. »Man kann doch Männer nicht alleine in die Küche lassen oder in so ein großes Küchenzelt, so eine Jo … ghurt.« »Jurte«, riefen die Geschwister und liefen zu ihrem Zelt, um die Duschsachen zu holen. Gemesseneren Schrittes folgte Schwester Epiphania. Pater Benedikt und Sophia überraschten ihre drei neuen Freunde mit einem Zwei-Gänge-Menü. Zuerst eine heiße Suppe und dann eine kräftige Brotzeit. Niemand wollte sich in das Zelt zum Essen setzen. Viel lieber saßen sie auf den dicken Baumstämmen, die um die Feuerstelle vor dem Zelt lagen. Während die Pfadfinder an einem anderen Feuer aßen, blieb Epiphania mit den Geschwistern bei ihrem Besuch. Die Nonne trug eine trockene Tracht sowie, trotz der lockeren Lagerfeueratmosphäre, ihr korrektes Häubchen. Benedikt konnte sich nicht vorstellen, dass sie ohne seine Anwesenheit auch auf jedes Detail ihrer vorgeschriebenen Zisterzienser-Bekleidung geachtet hätte. Aufrecht und die Knie züchtig unter der Tracht auf einer Seite abgewinkelt, saß sie auf dem Stamm, wie bei einer Sitzung im Konvent. Pater Benedikt fiel auf, wie ihr halblanges schwarzes Haar, das sich nicht ganz unter das Häubchen stecken ließ, im Feuerschein glänzte. Wenigstens ihre Haare genossen das Gefühl von Freiheit und Abenteuer eines Zeltlagers, dachte er sich. Es wurde gegessen und erzählt. Zwischen den einzelnen Bissen berichtete Florian aufgeregt von den Ferienerlebnissen. Daniela ergänzte seine Erzählung, wenn er durch seine etwas hektische Erzählweise wichtige Dinge vergaß. Benedikt hatte den Eindruck, als wolle der Junge seine Erinnerung mit dem Erlebten füllen, so lebhaft berichtete er. Als wollte er schlimme und traurige Erinnerungen für heute Abend 234
zur Seite drängen und sie durch schöne und angenehme ersetzen. Es war dunkel geworden. Da begannen die Pfadfinder zu singen. »Oh, Singen am Lagerfeuer«, freute sich Sophia. »Darf ich mal hinühergehen?«, fragte sie und wusste nicht recht, ob sie dabei Epiphania oder Benedikt anschauen sollte. »Führt unseren Gast ruhig einmal hinüber«, schlug die Nonne vor. Einen Wimpernschlag später waren alle drei weg. Nur noch die auf dem Boden liegenden Suppenschalen zeugten von ihrer Anwesenheit. Belustigt sahen die beiden Erwachsenen hinterher. Bald konnten sie sie nicht mehr in den vielen dunklen Schatten der Pfadfindergruppe, die im Feuerschein saß, unterscheiden. Die Zisterzienser-Schwester schaute ihnen trotzdem noch etwas länger nach. Ob aus dem Gefühl der Verantwortung als Betreuerin heraus oder dem des Unbehagens, was sie jetzt allein mit dem Pater sprechen sollte, konnte er nicht einschätzen. Er nutzte die langen Sekunden, Epiphania von der Seite genau anzusehen. Fühlte sich von ihr angezogen, das konnte er nicht mehr bestreiten. Wollte es aber sich selbst gegenüber auch nicht abstreiten. Trotzdem hatte er das Gefühl, er betrachte etwas Verbotenes, als er sie, unbemerkt, so genau musterte. Dem Pater kam dabei zugute, dass er in Blickrichtung Pfadfinderfeuer ein Stück hinter Epiphania saß. Zu lange wollte er das Schweigen aber auch nicht ausdehnen. Er befürchtete, aus der Spannung könnte Überspannung werden. Um von seinem sündigen Vergehen abzulenken, begann er das Gespräch. »Was treibt eine brasilianische Nonne hierher in die Fränkische?«, fragte er und schaute dabei mit einem Blick in das Feuer, als würde er das schon eine ganze Weile so tun.
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Epiphania war irritiert, da sie glaubte, sie hätte diese Frage schon an der Wiesent beantwortet. Benedikt erkannte das sofort und ergänzte: »Ich meine, warum gerade Sie?« Sie lächelte in sich hinein. Ihre Augen bekamen bei dem Licht etwas Geheimnisvolles. »Urlaub«, sagte sie. »Ich mache Urlaub.« »Urlaub?«, fragte Benedikt ungläubig. »Ja«, lachte sie, »so richtig könnte ich das sowieso nicht. Wollte ich auch nicht. Irgendetwas muss ich immer tun, nur dann kann ich entspannen. Machen Sie Urlaub?« Jetzt lächelte Benedikt. »Wenn ich in der Sternwarte auf dem Feuerstein in den Himmel blicke? Ja. Wenn ich mit begeisterungsfähigen Jugendlichen Sport treibe oder Theater spiele? Ja. Anderes wäre bestimmt langweilig. Das wollte ich nie probieren.« »Ich auch nicht.« Ihre großen Augen schauten ihn an. »Wissen Sie, es ist so ein unmenschlicher Unterschied zwischen den Slums in Sao Paulo und hier. Ich könnte hier nicht einfach Urlaub machen, so wie man das im landläufigen Sinne versteht. Das wäre zu viel für mein Gewissen.« Sie rückte etwas näher an den Pater heran, als wolle sie unterstreichen, dass sie ihm etwas Persönliches anvertraute. »Ich habe einen Konvent in Bamberg besucht. Man hat mich geschickt, weil meine Großeltern deutschstämmig sind und ich zweisprachig aufgewachsen bin. Eine Mitschwester erzählte mir von dem Schicksal der beiden Kinder. Da ich ohnehin noch ein paar Tage Deutschland kennen lernen wollte, schien mir dies eine glückliche Fügung gewesen zu sein.« Sie verzog das Gesicht zu einem entschuldigenden Lächeln. »Manchmal habe ich so komische spontane Einfälle.« »Gar nicht komisch für Florian und Daniela. Ich denke, sie geben den beiden etwas, was sie sonst nach so einem schrecklichen Erlebnis von niemandem bekommen hätten. Das
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Gefühl, dass es nicht nur weitergeht, sondern, dass dieses Weitergehen auch mit Lebensfreude verbunden sein kann.« »Genau das dachte ich auch. Mehr Glück kann ich doch in einem Urlaub gar nicht erwarten. Ich bin ohnehin durch diese Aufgabe reichlich beschenkt worden«, schwärmte Epiphania. »Sie wollten Deutschland kennen lernen. Kein Bamberger Dom, keine Alpen oder Neuschwanstein?« Sie lachte, als sie Benedikt so reden hörte. »Den Bamberger Dom habe ich gesehen, die Berge hier sind zwar kleiner, aber nicht weniger beeindruckend als die Alpen, und wie in einem märchenhaften Schloss fühle ich mich sowieso, eingerahmt unter diesem Sternenhimmel, den Felswänden und dem Flüsschen Wiesent«, schalkhaft, und sich ihres Konterns bewusst, sprach sie weiter: »Ich habe alles, was ich mir wünschen könnte, und dabei die Gegenwart der zwei wundervollen Kinder.« »Und jetzt eines weiteren«, kam der Pater langsam zum Thema. »Ich dachte mir schon, dass sie erst darüber sprechen wollen, wenn die Kinder nicht hier sind«, vermutete Epiphania. »Es gibt da einen, sagen wir mal, unliebsamen Zeitgenossen, dem Sophia nicht begegnen soll«, suchte der Pater nach einer rechten Erklärung. »Es könnte einen schlechten Einfluss auf sie haben.« »Wo sind ihre Eltern?«, fragte Epiphania. Wieder suchte Benedikt nach Worten, die nicht gelogen waren, aber die Wahrheit nicht in ihrer ganzen Härte preisgaben. »Die Eltern sind Wissenschaftler. Wir sind da in Rom auf eine interessante Sache gestoßen, bei der wir deren Hilfe brauchen«, sagte Benedikt. »Und da kommen Sie ausgerechnet auf mich?«, wunderte sich die Nonne. »Gibt es keine anderen Angehörigen?« 237
»Zurzeit würden andere Angehörige eher schaden als nützen, deshalb bin ich hier«, gab der Pater unklar von sich. Es war ihm bewusst, sie bemerkte, dass er um den heißen Brei herum redete. Um diesen Gedanken bei ihr gleich zu unterdrücken, sprach er weiter: »Es wäre wunderbar, wenn Sie es einrichten könnten, dass die Kleine ein paar Tage hier bleibt. Für Florian und Daniela ist es bestimmt förderlich, wenn sie etwas abgelenkt werden.« Epiphania schaute zum Lagerfeuer der Pfadfinder, die ein schier unerschöpfliches Repertoire an Wanderliedern zu haben schienen. Die drei waren mittendrin dabei. »Ja, vielleicht wäre es wirklich gut für die beiden«, sagte Epiphania mehr zu sich selbst als zu Benedikt. »Außerdem täten Sie mir damit einen großen Gefallen«, sagte Benedikt. Die Nonne sah den Priester wieder mit ihren großen braunen Augen an. Sie fühlte genau, dass er ihr nicht alles erzählte, was in diesem Zusammenhang wichtig war. Aber sie war ein Mensch, der mit dem Herzen wahrnahm. Sophia hatte sie sogleich ins Herz geschlossen. Und diesem Pater konnte und wollte sie nichts abschlagen. »Pater Benedikt! Pater Benedikt!«, rief es vom hölzernen Eingangsbogen zum Lager. Der Strahl einer Taschenlampe zuckte hin und her. »Pater, wo sind Sie?« »Ach du meine Güte«, fiel es Benedikt plötzlich wieder ein. »Den Fahrer gibt es ja auch noch.« Als fürchtete sich Epiphania davor, von dem Mann so vertraut mit dem Pater gesehen zu werden, stand sie unverrichteter Dinge auf. Benedikt ebenso. Etwas enttäuscht, dass das wunderbare Gespräch jetzt ein Ende fand. »Hier sind wir«, rief er dem Fahrer zu. »Hier beim Feuer.« Keuchend kam der Fahrer angerannt. 238
»Alles erledigt«, berichtete er außer Atem. »Kajak und Schwimmwesten an den Mann vom Verleih zurückgegeben. Sie haben mir gar nicht gesagt, wie lange es dauert, bis er kommt.« Benedikt überhörte nicht den Vorwurf. »Eine Zeit, die Sie sicher in der wundervollen Umgebung zu Gebet und Meditation genutzt haben«, sagte er, als hätte er den Vorwurf überhört und deutete ihn in etwas Positives um. »In Gottes freier Natur ist das gleich etwas ganz anderes als in einer kleinen Gebetszelle.« »Aber natürlich«, kam die kleinlaute Antwort. »Warten Sie bitte dort beim Wagen«, wies er dem Fahrer den Weg. »Ich möchte mich nur noch von der kleinen Sophia verabschieden.« Mit immer schwerer werdendem Herzen gingen Pater Benedikt und Schwester Epiphania hinüber zum Feuer der Pfadfinder.
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WOLFSMENSCHEN Der Mond war zwischenzeitlich aufgegangen. Lange schon lag Than in den Zweigen des ausladenden Holunderbusches. ThanJa, seine Gefährtin, kniete vielleicht dreißig Schritte vor ihm am seichten Ufer eines Seitenarmes des großen Stromes. Sie reinigte Felle. Mittlerweile mussten ihr die Knie schmerzen. Immer wieder stemmte sie sich mit aller Kraft gegen den buschigen Pelz, um die Pflanzensäfte, die zur Reinigung dienten, bis in das Leder zu massieren. Der Mond war rund. Sie waren stromaufwärts gezogen. Genau, wie der Schamane Sem gesagt hatte. Mit den Fingern seiner Hand zählte Than die Tage. Es waren fünf, seit sie von dem seltsamen heiligen Berg nach Süden aufgebrochen waren. Hier, in der ruhigen Au zwischen dem großen Fluss, dem sie gefolgt waren, und einem Seitenflüsschen, hatte der räuberische Stamm der Entführer ein Lager mit Zelten aufgeschlagen. Endlich hatten sie sie erreicht. Noch war es nicht dunkel. Die letzten Farben des Sonnenunterganges spielten mit Wolkenfetzen und malten ein Gemälde an den Himmel, wie die hochgewirbelten Federn eines Stieglitzes. Die Gefährten Thans waren auf der Jagd, nachdem sie in den letzten Tagen nur von dem lebten, was schnell greifbar war: Obst, Nüsse und Wurzeln, selten Kleinwild. Ein glücklicher Umstand brachte Than bis an dieses Lager. Oder war es Fügung, fragte sich der Jäger. Than-Ja wurde von einer ihm unbekannten alten Frau bewacht. Immer wieder kam einer der Fremden vorbei und sah nach dem Rechten. Kritisch beobachtete die Alte die Arbeit der Gefangenen und wies mit einer Gerte an diese oder jene Stelle, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie noch besser arbeiten müsse. Bei diesem Licht konnte bestimmt keine von 240
beiden mehr die Verschmutzung erkennen. Doch die Alte trieb Than-Ja an, sie solle noch fertig werden. Die aufgestapelten Felle neben ihr zeigten, was sie schon alles getan hatte. Lautlos lag Than unter den herunterhängenden Zweigen des üppigen Busches. Weiter konnte er sich nicht an seine Gefährtin heranarbeiten. Manchmal glaubte er, ein erschöpftes Stöhnen aus ihrem Mund zu hören. Mitleid befiel ihn. Wie gern wäre er sofort hinausgestürmt, hätte die Alte vertrieben und seine Than-Ja gerettet. Aber die Gefahr war zu groß, dass das Geschrei der Alten die Männer im nur wenig entfernten Lager alarmierte. Es war zwar abseits, aber doch in Hörweite. Sowohl seiner Gefährtin als auch den anderen Entführten würde damit nicht geholfen sein. Than beschloss, noch etwas abzuwarten. Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, wenn alle schliefen. Eine laute Stimme vom Lager schreckte die zwei Frauen, aber auch Than, auf. Ein langhaariger, bärtiger Mann, der in die übliche Lederbekleidung gehüllt war, kam und sprach mit der Alten. Than erkannte überrascht, dass er den Bereich um die Augen mit einer weißen Paste bestrichen hatte. Die Angesprochene gab Widerworte, mit einem Handzeichen auf Than-Ja. Aber er winkte nur lässig ab. Er schien keine Fluchtgefahr zu befürchten. Die Alte suchte aus dem Stapel ein bestimmtes Fell, legte es sich über die Schulter und ging schwerfällig ins Lager. Der Mann folgte ihr. Überrascht hörte Than-Ja mit der Arbeit auf. Dass das typische Geräusch ausblieb, bemerkte die Alte sofort und warf ihr ein lautes und sehr unfreundliches Wort hin. Than verstand nicht. Aber Than-Ja begann sofort wieder mit der Arbeit. Than durchfuhr es wie ein Blitz. Wenn er auf irgendetwas seit Stunden gewartet hatte, dann war es dieser Augenblick. Wie eine Katze, die lange auf ihr Opfer gewartet hat, schnellte Than 241
aus dem Versteck und rannte geduckt zu seiner Gefährtin, die gar nicht bemerkte, wer sich da von hinten näherte. Than fiel hinter ihr auf die Knie. Umarmte sie, hielt aber mit einer Hand ihren Mund zu, damit sie vor Schreck keinen Schrei ausstieß. Aber Than-Ja reagierte, wie es Than nicht erwartete. Sie biss ihn in die Hand. Nun musste er darauf achten, dass er nicht schrie. Hektisch schluckte er den Versuch hinunter. Bevor Than erklären konnte, dass er es war, wusste die Gefährtin Bescheid. Als der erste Körpergeruch ihres Partners ihre Nase erreichte, war ihr klar, wer sie von hinten überfiel. Than-Ja zog sich an seinem Arm herum und umarmte ihn. Dabei stöhnte sie. Fuhr ihm durchs Haar. Küsste sein Gesicht. Versteckte ihr Gesicht zwischen seiner Schulter und seinem Hals. Brachte kein Wort heraus. Der Jäger zog sie hoch. Dabei bemerkte er, dass es ihr nicht leicht fiel, sich aufzurichten. So schwer hatte sie den ganzen Nachmittag hier kniend gearbeitet. Vorsichtig stellte er sie auf die Beine. Than-Ja hing unverändert an seinem Hals. Than war sich der Gefahr bewusst, in der sie sich befanden. Unruhig blickte er zu den Zelten des Lagers. Jeden Augenblick konnte jemand sie beide entdecken. Aber er gönnte sich und ihr noch etwas Zeit. Die Nähe hatte auch er in den letzten Tagen sehr vermisst. Schließlich drängte er zum Aufbruch. Ohne Worte. Aber er zog sie in die Richtung, in der der Holunder stand. Die Zeit der Abenddämmerung war zu Ende. Der volle Mond verbreitete sein bleiches Licht zwischen den Bäumen und Büschen am Ufer des Flusses. Nebelschwaden krochen über das Wasser. Ein leichter, kalter Wind zog durch die düstere Szenerie. Than und Than-Ja schlichen eng umschlungen und doch flott um die Büsche. Sie erreichten gerade die ersten Zweige, da tauchte zwischen den Zelten ein Krieger der
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Wolfsmenschen auf. Sofort erkannte er, dass seine Gefangene sich nicht dort aufhielt, wo sie sein sollte. Alarmruf! Sofort tauchten drei weitere Männer auf. Sie waren mit ihren Speeren bewaffnet. Die bestrichenen Gesichter mit den dunklen Augenpartien wirkten geisterhaft. Die weiße Paste schien im silbernen Mondlicht zu leuchten. Die drei rannten zu der Stelle mit den Fellen, an der sich die Gefangene eigentlich befinden sollte. Der erste Wächter stand dort und starrte den einsamen Stapel an. Die anderen Wolfsmenschen erreichten ihn. Sie sprachen laut und hektisch miteinander. Than konnte im letzten Augenblick Than-Ja unter die Zweige des Holunderbusches ziehen. Still lag Than-Ja auf der Seite, mit angezogenen Beinen. Ihr Gefährte drückte sich nah hinter sie und legte einen Arm, wie schützend, oben um ihren Kopf und den anderen auf ihren Bauch. Die Blätter kitzelten in den Haaren. Than spürte mit seiner Hand, dass Than-Jas Bauch sich hektisch hob und senkte. Die Krieger am Ufer hatten sich entschieden. Sie wollten die Umgebung absuchen. Rufend kamen sie näher. Drohend die Speerspitzen nach vorne gereckt. Thans Gefährtin atmete vor Angst stoßweise. »Sie ist zu laut«, schoss es ihm durch den Kopf. Die Krieger kamen näher. Bald würden sie so nahe sein, dass das allgegenwärtige Hintergrundgemurmel des Flusses Than-Ja nicht mehr übertönte. Zwischen den blättern sah Than die ledernen Schuhe der Fremden immer näher kommen. Aggressives Rufen. Than-Ja fing zu zittern an, am ganzen Körper. Die Angst überwältigte sie. Sie hyperventilierte. Than legte ihr eine Hand auf den Mund, aber es nützte nichts. Er drängte sich weiter an sie, um sie zu beruhigen. Es nützte nichts. Sie zitterte krampfartig am
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gesamten Körper. Than glaubte ihren Herzschlag zu hören. Ihr Po drängte sich fest in seinen Schoß. Eine halblaute, scharfe Ermahnung. Sie klang anders als die bisherigen. So als ermahne einer seine Kameraden, still zu sein und zu lauschen. Than-Jas Zittern übertrug sich auf die überhängenden Zweige. Es raschelte. Die Wolfsmenschen würden sie jeden Augenblick hören. Than war sehr überrascht, wie ihn die bedrohliche Situation und die intime Nähe zu Than-Ja ängstigte und gleichzeitig überaus erregte. Erstaunt bemerkte er, wie seine freie Hand ihre Lederbekleidung nach oben schob. Seine Hose öffnete. Dann drang er in sie ein. Ihre Schenkel spreizten sich leicht. Öffneten ihm den Weg. Ihre Schenkel schlossen sich. Hielten ihn fest. Ihr Körper hörte schlagartig zu zittern auf. Ihr Atem stockte. Than hörte absolut nichts mehr von ihr. Er spürte nur eine Verkrampfung in ihrem Körper. Ihre Hand presste sich auf seine. Ihr Po gegen seinen Schoß. Die Vereinigung, die die Angst besiegte. Die Wolfsmenschen erreichten den Holunderbusch. Die Schuhe des einen standen direkt vor Than-Jas Gesicht. Than konnte nicht sehen, ob sie die Augen offen oder geschlossen hielt. Sie reagierte nicht mehr auf die Nähe der Krieger. Nur auf die Nähe Thans. Die Fremden lauschten. Einer glaubte, etwas gehört zu haben. Aber jetzt nicht mehr. Sie gingen ein paar Schritte hierhin und dorthin, horchten in verschiedene Richtungen. Aber sie konnten sich nicht vorstellen, in welche Richtung die Gefangene geflohen war. Einer winkte ab. Obwohl es mondhell war, wollte man jetzt nicht die Verfolgung aufnehmen. Am Tage würde man eine einzelne Frau in der Wildnis leicht finden, glaubten sie. Mürrisch kehrten die drei zum Lager zurück. Als Than mit seiner Gefährtin wieder allein war, strich er ihr zärtlich durchs Haar. Als würde sie aus einem Traum erwachen, 244
bewegte sie sich wieder. Zog sich einen Finger ihres Mannes in den Mund. Saugte zart daran. Kreiste mit dem Becken. Drückte den Po weiter in Thans Schoß. Than fühlte die Zunge Than-Jas an seinem Finger, wie sie ihn umfuhr. Lange blieben sie so liegen. Unverändert. Schließlich begann es in Thans Frau zu schreien. Ein Schrei, der sich aus dem Unterleib, über Bauch und Brust, seinen Weg durch ihre zusammengepressten Lippen suchte. Ein Orkan, der nicht brüllen durfte. Eine Flutwelle, die nicht strömen konnte. Und doch brach sich die Leidenschaft mit gewaltiger Innigkeit Bahn. Than-Ja und Than waren sich in einer liebenden Lebendigkeit begegnet, wie sie es sich vor Tagen erhofft und seit Tagen nicht mehr geglaubt hatten. Schweigend lagen sie noch lange da, bevor sie sich körperlich trennten. Than genoss den Augenblick. Lebte nur in dieser Gegenwart. Die Zeit zuvor und die Zeit danach hatte keine Bedeutung mehr. Nur noch die beiden Liebenden. Als existiere der Kosmos nur noch unter diesem Holunder. »Ich darf nicht hier bleiben«, sagte Than-Ja unvermittelt. Than erschrak wegen der plötzlichen Worte. Sie drangen wie ein Pfeil in ihre Welt ein. »Ich muss zurück.« Und er wusste, dass sie Recht hatte. Es gab nicht nur sie beide. Es gab auch die anderen. Andere Frauen. Kinder. Sie musste zurück. Eine Flucht musste gut geplant sein. Nach einer langen, innigen Umarmung, bei der Than-Ja den markanten Körpergeruch Thans noch einmal in sich hineinsog, rollte sie sich unter den herniederhängenden Zweigen hervor. Rappelte sich auf. Zog den Rock zurecht, auf dem Than die weißen Punkte, mit der seine Gefährtin das Kleidungsstück bemalt hatte, nicht mehr sah. So dunkel war es. Wie ein grauer Schatten begab sie sich zur Uferstelle, um die dort liegenden Felle aufzunehmen. Than-Ja trug schwer an den nassen Fellen. Sie war erst ein paar Schritte gegangen, da kam ihr eine Person aus dem hellen 245
Feuerschein zwischen den Zelten entgegen. Die Alte war zurückgekommen. Als sie sah, dass Than-Ja, die verschwunden Geglaubte, ihr vom Fluss entgegenkam, schrie sie schimpfend den Stamm zusammen. Sofort rannten Krieger herbei. Rannten mit den Speeren im Anschlag auf Than-Ja zu. Einer packte sie rechts, der andere links. Die Felle fielen zu Boden. Wütend brüllten die Krieger auf sie ein. Von vorne kam die Alte und beteiligte sich mit lautstarken Vorwürfen. Packte Than-Ja an der Schulter und schüttelte sie. Gelegentlich flackerte Feuerschein auf das Gesicht der Gepeinigten. Die Krieger zogen sie in das Lager. Bei dem großen Feuer in der Mitte der im Kreis aufgestellten Zelte blieben sie stehen. Der Älteste kam von der anderen Seite des Lagers aufgeregt auf sie zu. Mit einer Flucht und vor allem mit dem schnellen Wiederergreifen hatte er nicht gerechnet. Than-Ja riss sich von ihren Bewachern los, schritt schnell auf den Ältesten zu, schlug aussagekräftig mit beiden Händen auf ihren Po und versuchte, ein empörtes Gesicht dabei zu machen. Dann tat sie, als würde sie von einem Weinkrampf überrascht und sprang, das Gesicht unter ihren Händen verbergend, auf das Zelt zu, in dem die Entführten lebten. Der Alte und seine Krieger standen nur erstaunt da und wussten im Augenblick nicht, wie und ob sie darauf reagieren sollten. Also ließen sie sie gewähren. Nur die Alte, die jetzt die Felle allein in das Lager schleppten musste, schimpfte lautstark. Während Than-Ja den Verschlag zum Zelt öffnete, um hineinzuschlüpfen, trieb Than lautlos den Strom hinunter. Der Wasserweg zurück zu seinen Gefährten schien ihm der sicherste zu sein. Zu viele Wachen waren nach der vermeintlichen Flucht ausgeschwärmt. Than-Ja betrat das Zelt und krabbelte vorsichtig über die Beine der acht Kinder, die hier schliefen. Sie waren erschöpft. Die Gewaltmärsche der letzten Tage hatten von den Kindern sehr 246
viel abverlangt. Die Frau stieß im Dunkeln an den einen oder anderen kleinen Körper. Doch die Kinder waren dadurch heute nicht mehr zu wecken. Schließlich erreichte sie ihre Schlafstelle. Als Polster diente das niedergedrückte Gras. Dort ließ sich Than-Ja fallen, drehte sich auf den Rücken und starrte in die Lichtspiele der Zeltspitze, in der sich das Geflacker des Lagerfeuers fing. Than war hier. Endlich war er hier. Jeden Tag hatte sie gehofft. Jede Nacht hatte sie sich nach ihm gesehnt. Beobachtet, wie der Mond sich füllte. Grauen ergriff sie, wenn sie an den Überfall dachte. Plötzlich waren sie da. Wolfsmenschen. Mit grauenhaften Kapuzen aus Wolfsschädeln mit herunterhängendem Fell. Das Gesicht geisterhaft bemalt, mit grauen Kreisen um die Augen und Blitzen auf den Wangen. Immer wieder schwebten die Bilder vor ihren Augen, wenn Than-Ja in die Dunkelheit blickte. In den ersten Nächten konnte sie sich kaum davon lösen. Das Schluchzen der anderen Frauen, das Wimmern der Kinder begleiteten die Erinnerungen. Der Rauch der brennenden Hütten. Alles das schwirrte durch ThanJas Kopf. Der Mut der alten Verteidiger. Die aufgerissenen Augen der Erschlagenen. Immer wieder kreisten die Bilder über den Zeltplanen, wenn es Nacht wurde. Doch die Angst und der Schrecken des Überfalls wichen von den Entführten. Die Märsche verlangten alles von ihnen ab. Eintöniges Marschieren. Tagaus, tagein. Die Bilder verblassten langsam in den Köpfen der Entführten. Sie hatten keine Kraft mehr zum Erinnern. Mit Schmerzen verfolgte Than-Ja, wie sich manche der entführten Frauen mit der Situation arrangierten. Kinder mit lächelnden Wolfsmenschen spielten. Die Gefühle in Thans Gefährtin verwirrten sich. Warum haben die Ahnen nicht eingegriffen? Waren die Ahnen der Wolfsmenschen mächtiger? Es gab so viele Fragen, die Than-Ja in diesen schicksalhaften 247
Tagen beschäftigten. Hoffnung wechselte mit dem Gefühl der Aussichtslosigkeit. Und plötzlich war Than hier. Einfach so. Das wohlige Gefühl in ihrem Unterleib zeigte ihr, dass sie nicht geträumt hatte. Was war zu tun? Sie musste auf alle Fälle die anderen Frauen informieren. Dann war zu überlegen, wie man eine Flucht vorbereiten könnte. Die Kinder sollten am besten noch nicht Bescheid wissen, überlegte Than-Ja. Viel zu schnell könnten sie etwas ausplaudern. Es war also notwendig, heimlich mit den anderen Frauen zu sprechen. Vielleicht nicht gleich mit Mara. Sie war zu oft mit dem jungen Krieger Ta’ar zusammen. Gestern hatte er ihr sogar beim Marsch eine Zeitlang ihr Bündel getragen. Je mehr ThanJa darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es nicht einfach werden würde. Ein offener Kampf konnte mit den verbliebenen vier Kriegern ihres Stammes nicht gewagt werden. Aber sie hatten sie endlich gefunden. Ein Gefühl der Stärke und Sicherheit breitete sich in ihr aus. Jetzt könnte alles möglich sein. Eine Mitgefangene kroch ins Zelt. Than-Ja ahnte mehr, als dass sie sah. Es war Ken-Ja. Eine Frau von etwa dreißig Jahren. Than-Ja wartete etwas, bis die Gefährtin Kens ihren Schlafplatz erreicht und sich in ihr Fell gehüllt hatte. Than-Ja schwirrte der Kopf. War sie die Richtige für diese Nachricht und die ersten Planungen? Konnten sie belauscht werden? Schliefen alle Kinder? Andererseits musste sie schnell sein. Die Pause vom Marsch nach Süden würde nur einige Tage dauern. So lange, bis die Vorräte wieder aufgefüllt, Risse geflickt, Werkzeuge und Waffen repariert wären. Bis dahin mussten sich alle von den Strapazen erholt haben. Sehr bald schon würde es weiter gehen. Sie schob die kreisenden Gedanken beiseite, dann kroch sie leise zu Ken-Ja hinüber. Den Mund nahe an ihrem Ohr, hauchte 248
sie leise die befreienden Neuigkeiten hinein. Die Angesprochene blieb ruhig. Der befürchtete Freudenschrei blieb aus. Mit äußerlicher Gelassenheit hörte sie zu. Als schließlich weitere Frauen von ihrer Arbeit in das Zelt zurückkehrten, machte die Nachricht die Runde. Jede flüsterte es der nächsten weiter. Als Mara das Zelt betrat, stockte der Informationsfluss. Die anderen würden erst morgen von den Neuigkeiten erfahren. Than-Ja glaubte, vor Aufregung nicht einschlafen zu können. Aber die schwere Last der letzten Tage und die der heutigen Arbeit forderte ihren Tribut. Verwundert wachte sie auf. Für einen Augenblick grübelte sie nach, ob sie denn überhaupt eingeschlafen war. So erschöpft war sie gewesen, dass sie sich wie von einer plötzlichen Bewusstlosigkeit überfallen fühlte. Doch gleich darauf durchlief sie ein freudiger Schauer, denn ihr fiel die Begegnung mit Than wieder ein. Sie wollte versuchen, ihn heute wieder zu treffen. Morgennebel belagerte den Ort, als sie das Zelt verließ. Angestrengt blickte sie in alle Richtungen, ob sie Than sehen konnte. Stattdessen war da nur die gehässige Alte, die damit beschäftigt war, das Feuer wieder in Gang zu bringen. Sofort wurde Than-Ja zur Arbeit eingeteilt. Um sich nicht verdächtig zu machen, fügte sie sich klaglos. Ihr fiel auf, dass alle Arbeiten, die man ihr heute Morgen übertrug, im Inneren des Lagers zu verrichten waren. Nicht einmal Holz oder Wasser holen durfte sie. Sie fühlte sich argwöhnisch von der Alten, deren Falten im tätowierten Gesicht wie das Watt bei Ebbe aussahen, beobachtet. Ahnte sie etwas? Misstraute sie ihr? Durchschaute sie die Notlüge vom gestrigen Abend? Than-Ja war beunruhigt. Sie konnte nur ihre Arbeiten verrichten und dabei so tun, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. 249
Der Helligkeit nach musste die Sonne bereits aufgegangen sein. Es würde heute dauern, bis sie sich durch den zähen Nebel fraß. Mittlerweile war das ganze Lager auf den Beinen. Than-Ja erschien es hektischer als sonst. Da trat der Älteste mit seinen besten Kriegern aus dem Zelt hervor. Die graue Paste im Gesicht frisch nachgezogen. Was er verkündete, traf Than-Ja wie ein Schlag. »Hört alle, was das Oberhaupt der Wolfsmenschen zu sagen hat!«, verkündete einer der Krieger wie ein Herold. Sofort scharten sich alle in der Nähe um das Feuer, vor dem der Älteste jetzt stehen geblieben war. »Die Wolfsahnen sind weise. Sie haben befohlen, dass wir nach Norden ziehen, um unser Blut mit frischen Weibern zu beleben. Dass wir starke Krieger haben, reicht nicht. Die letzten Kinder sind längst erwachsen geworden. Unsere alten Frauen gebären nicht mehr. Nun aber können wir die Stärke unserer Männer mit den Leibern derer verbinden, die noch Leben hervorbringen«, sprach der Alte würdevoll. Die Felltroddeln, die er an seiner Mütze trug, schlugen dabei gegen die Schultern. Der alte, aber starke, mit tätowierten Pfeilspitzen versehene Oberarm, zeigte, dass man bei den Wolfsmenschen auch in diesem Alter noch mit physischer Kraft gesegnet war. Der nur mit einem Wams bekleidete Alte trug seine kraftvollen Arme gern zur Schau, um den anderen zu zeigen, dass er noch längst kein abgenagter Knochen war. Seine Krieger um ihn herum riefen gleichzeitig ein bestätigendes »Ja! So ist es!« »Schnell kommt der Winter dieses Jahr. Wir müssen uns beeilen, unser Winterlager zu erreichen. Keine unvorhergesehenen Dinge sollen uns aufhalten.« Dabei warf der Alte einen kurzen Seitenblick zu Than-Ja. Ihr lief es eiskalt über den Rücken. Sie wagte kaum zu atmen. Ihr Herz pochte laut.
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»Deshalb haben die Wolfsahnen mir gesagt, wir sollen morgen schon weiterziehen. Keine weitere Rast. Sie dulden keine Trödeleien. Heute wird noch getan, was getan werden muss. Morgen brechen wir auf, sobald es hell ist.« Dann verschwand der Älteste wieder in seinem Zelt. Die Krieger verließen den Platz, gingen jagen oder fischen. Apathisch saß Than-Ja auf einem quer liegenden Stamm vor der Feuerstelle und vergaß völlig das Flechten der Lederriemen, das ihr aufgetragen worden war. Sollte die Befreiung wieder in weite Ferne rücken? Ihre Entführer hatten irgendetwas bemerkt. Und, was genauso schlimm war, sie hatte keine Zeit mehr. Der plärrende Schrei der alten Frau holte Than-Ja in die Gegenwart zurück. Ausdruckslos starrte sie die Alte an. Erst als diese bedrohlich eine Weidengerte schwang, erinnerte sie sich an ihre Arbeit. Man ging jetzt viel strenger mit ihr um. Ob dies daran lag, dass man ihr die Erklärung für das mysteriöse Verschwinden am gestrigen Abend nicht glaubte oder ob die Alte persönlich beleidigt war, dass sie unter ihrer Aufsicht verschwunden war, wusste Than-Ja nicht. Nach einiger Zeit, als ihr die Arbeit wieder flott von der Hand ging, verlor die Alte das Interesse und ging fort. Immer wieder suchte Than-Ja aus den Augenwinkeln die Umgebung ab, in der Hoffnung, Than zu sehen. Aber außer sich auflösenden Nebelfetzen, Büschen und Bäumen sowie dem allgegenwärtigen Gemurmel des großen Flusses sah sie nichts. Da setzte sich Ken-Ja zu ihr und brachte ihr neue Riemen, die sie mit einem scharfen Feuerstein geschnitten hatte. »Jetzt dürften alle Bescheid wissen. Auch Mara. Das ließ sich nicht vermeiden. Sie kam, da sprach ich gerade mit Tersa. Ich konnte nicht schweigen, sie gehört doch zu uns, oder?« Fragend sah sie Than-Ja an. »Ist schon gut«, sagte sie leise. »Irgendetwas müssen wir ja tun.« 251
»Ja, aber was denn?«, fragte Ken-Ja. »Es bleibt nur noch wenig Zeit.« »Versuche, Zeit außerhalb des Lagers zu verbringen, damit unsere Leute dich finden und ansprechen können. Frage nach dem Pulver des Dämonentanzes, das aus dem getrockneten Pilz mit den Dämonenaugen gewonnen wird … Than wird wissen, was ich meine.« Ken-Ja sah sie fragend an. Da aber bekannt war, dass Than-Ja sich für die Wirkung von Kräutern und Pilzen zur Heilung von Kranken interessierte und die Zeit wirklich knapp war, fragte sie nicht näher nach. Than-Ja half und lernte oft bei Tekla, der Kräuterfrau und Helferin der Gebärenden. Ken-Ja nickte nur kurz und stand auf. Sie wollte sich nicht zu lange aufhalten und dadurch Verdacht erregen. Than-Ja war wieder allein. Gegen Mittag musste sie Fleisch in Streifen schneiden und zum Trocknen aufhängen. Danach warf ihr die Alte einen Fisch hin, den sie selbst ausnehmen und sich braten konnte. Andere Frauen und vor allem die Kinder wurden freundlicher von den Wolfsmenschen aufgenommen. Bei den Kleinen wich die Angst am ehesten, als sie sich an die graue Gesichts-, zum Teil auch Körperbemalung gewöhnt hatten. Tatsächlich fiel Than-Ja auf, dass es diesem körperlich starken Stamm an Frauen und Kindern fehlte. Da gab es zwar die Alte, die erste Frau neben dem Stammesoberhaupt, wie auch zwei andere Greisinnen. Die huschten aber so unscheinbar hin und her, dass gleich klar war: Nur noch ihre geringe Arbeitskraft zählte hier. Außerdem fehlte es ihnen auch an dem speziellen Wissen, das von Frau zu Frau weitergegeben wird. Schließlich hatte sie noch bemerkt, dass das Fleisch nur einfach gebraten gegessen wurde. Keine Kräuter verfeinerten den Geschmack. Verwundert war sie vor allem darüber, dass kaum Heilwissen vorhanden war. Man kannte ein paar Blätter für die Wundauflage, aber keine Pulver aus Pilzen, Medizin aus 252
Pflanzensäften oder heilsames Räucherwerk. Dafür konnten die Krieger den Speer kraftvoll verwenden. Einfaches und nützliches Werkzeug herstellen, aber keine Spezialklingen für bestimmte Zwecke. Than-Ja nahm nach dem schnellen Mahl die Arbeit unaufgefordert wieder auf. Sie schnitt eine Scheibe nach der anderen aus dem Rind, das man ihr hingelegt hatte. Mit dem groben Feuersteinmesser war dies beschwerlicher, als sie es gewohnt war. Deutlich mehr Kraft musste aufgewendet werden. Mit sorgfältig präparierter Miniklinge an einem hölzernen Griff, wie sie es kannte, wäre die Arbeit sehr viel einfacher gewesen. Scheibe für Scheibe hing sie an das hölzerne Gestell aus dünnen Zweigen. Das getrocknete Fleisch hielt länger und konnte als bequeme Wegzehrung dienen. Die Trocknung wurde durch ein rauchiges Feuer darunter noch verstärkt. Das Geheimnis um die salzigen weißen Körner zur Haltbarmachung war hier noch gar nicht angekommen. Suppen, schnell und schmackhaft in einer mit Leder ausgelegten Grube mit heißen Steinen gekocht, gab es hier auch nicht. Dieser Stamm war für Than-Ja sehr einseitig und unharmonisch, sowohl, was die Geschlechter als auch das Wissen und die Fertigkeiten anbelangte. Der Nachmittag war schon vorangeschritten. Noch immer keine Nachricht von Than. Than-Ja wurde jetzt zwar nicht mehr pausenlos überwacht, aber immer, wenn man ihr begegnete, misstrauisch beäugt. Da kam ihr eine Idee. Sie musste versuchen, Vertrauen aufzubauen. Ihre Kinder, die da und dort etwas halfen und ansonsten zwischen den Zelten spielten, konnten eigentlich machen, was sie wollten. Than-Ja rief ihren Erstgeborenen zu sich. »Than-Son, ich brauche deine Hilfe.« Der aufgeweckte Achtjährige kam sogleich angerannt. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, stand er vor ihr. Obwohl die Tage 253
schon kühler wurden, ging es noch so, wenn es nicht regnete. Einer der Wolfsmenschen hatte ihm die Symbole seines Stammes mit der grauen Paste auf den Leib gemalt. Than-Ja sah es mit gemischten Gefühlen. Sie wollte das Kind jedoch nicht dadurch quälen, dass sie es tadelte. »Da vorne, in der Nähe der hohen, einzeln stehenden Bäume, wachsen Haselnusssträucher. Sammle mir etwas davon. Vielleicht findest du auch Bucheckern und Eicheln.« Than-Ja übergab ihrem Sohn einen Beutel. Ein liebevoller Blick. Eine Umarmung. Die war ihm sichtlich unangenehm, denn er sah sich um, ob sie jemand bei dieser Zärtlichkeit beobachtete. »Sei vorsichtig, mein Sohn«, ermahnte sie ihn. »Mama. Nüsse sammeln kann doch jeder«, beschwerte er sich und trottete ab. Für den Rest des Tages ging die Alte ihr scheinbar aus dem Weg. Vielleicht hatte sie einfach keine Lust mehr, Than-Ja ständig zu beschimpfen, oder der Älteste der Wolfsmenschen hatte angeordnet, mit den neuen Frauen so umzugehen, als gehörten sie schon zum Stamm. Sie wusste es nicht. Jedenfalls hörten die Anfeindungen nach der Rede des Ältesten auf. Es dämmerte langsam. Than-Ja bereitete die Feuerstelle für das Abendmahl. Ihr Sohn war schon länger unterwegs, als sie geplant hatte. Trotzdem kehrte sie einige brennende Äste zur Seite, damit sie eine ebene Stelle im Feuer erhielt. In das heruntergebrannte Kleinholz legte sie jetzt die ersten größeren Stücke, damit eine starke Glut zum Braten entstehen konnte. Da stand plötzlich Than-Son neben ihr. Er strahlte über das ganze Gesicht. »Rat mal«, fing er sofort an, verhaspelte sich vor Aufregung, begann von neuem. »Rat mal, wen ich getroffen habe.« Than-Ja zog ihn sofort liebevoll an sich, legte ihm die Hand auf den Mund und flüsterte:
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»Leise! Das ist bestimmt ein Geheimnis«, ermahnte sie ihn. Denn Than-Ja konnte sich schon vorstellen, was ihren Sohn so freudig bewegte. »Ja! Ein Geheimnis!«, flüsterte er verschworen. Ganz nah an ihrem Ohr hauchte er die Worte so leise, dass Than-Ja nichts verstand. Die Hintergrundgeräusche des Lagerlebens waren einfach zu laut. »Etwas lauter musst du es schon sagen. Ich verstehe ja kein Wort«, lachte sie. »Jäger Than ist da«, sagte er leise und deutlich. Er sprach seinen Vater gerne so an. »Krieger Than, meine ich«, verbesserte er sich. Die Eigenart der Wolfsmenschen, alle erwachsenen Männer, die jagen gehen, als Krieger anzusprechen, hatte auch vor ihrem Sohn keinen Halt gemacht. »Ja, ich weiß«, sagte Than-Ja. »Du weißt?«, rief ihr Sohn etwas zu laut und bekam sofort einen Schreck, weil er nicht mehr so leise war, wie es diesem Geheimnis würdig war. »Ja, seit gestern«, erklärte sie. »Was hat er gesagt?« Neugierig und freudig war sie bereit, jedes Wort in sich aufzunehmen, das ihr Sohn berichten würde. »Nicht viel«, antwortete Than-Son. »Er hat mich lange umarmt, äh …«, korrigierte er sich, »als Krieger begrüßt. Dann hat er gefragt, wie es allen geht.« »Hat er dir etwas für mich gegeben?«, fragte Than-Ja ihren Sohn. Denn nur mit Thans Hilfe konnte sie ihren Plan in die Tat umsetzen. »Nein«, sagte Than-Son. »Was denn?« Than-Ja erschrak. »Oder doch«, sprach er weiter, »er hat mir in den Nussbeutel einen kleinen Beutel hineingesteckt. Du wüsstest schon.« Erleichtert atmete sie auf.
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»Danke, das hast du wunderbar gemacht«, sagte Than-Ja und nahm den Beutel entgegen. »Was wird denn das?«, fragte neugierig einer der Wolfsmenschen, der wer weiß wie viel von ihrem Gespräch mitbekommen hatte. »Eine Überraschung«, stammelte die Angesprochene und rang nach Luft. »Eine Überraschung?«, fragte er nach. »Ja, als Dank dafür, dass ihr euch gestern über mich ärgern musstet«, fasste sie sich wieder. »Die Frau des Ältesten hat übertrieben«, näherte sich der Krieger ausgesprochen freundlich. »Sie ist nicht gewohnt, dass hier plötzlich so viele Frauen sind. Als Erste ist sie zwar die Mächtigste, aber ich habe den Ältesten gebeten, dass er ein Wort mit ihr spricht.« Dabei machte er ein Gesicht, als müsse sie nun besonders nett zu ihm sein. Than-Ja begriff sofort und strahlte ihn mit großen Augen demütig aus ihrer sitzenden Haltung an. Dem Krieger war, als treffe ihn der Blitz der Göttin der Fruchtbarkeit. Am liebsten hätte Than-Ja ihren Sohn weggeschickt, damit er nicht gefährdet würde. Jetzt war sie aber froh, dass sie ihn als Schutzschild bei sich hatte. »Du bist Than-Ja?«, fragte der Krieger. »Ja«, hauchte sie verschämt. »Mein Name ist Ulris. Ich bin der erste Krieger des Stammes«, sagte er stolz und schlug sich mit der Faust auf die Brust. Statt einer Antwort strahlte sie ihn sprachlos an. Dabei widerstand sie dem ersten Impuls, die Verschnürung an ihrer Brust zu bedecken, die sich durch die schweißtreibende Arbeit am Feuer geöffnet hatte. Ulris fühlte sich, als hätte er als Einziger die fetteste Hirschkuh in einem scheuen Rudel entdeckt. Der Mund stand 256
offen und ihm schien nichts mehr einzufallen. Minutenlang starrte er sie an. Than-Son betrachtete interessiert die Tätowierung des ranghohen Kriegers. Seine Mutter spielte kokett mit der Situation. »Und das Geheimnis?«, fragte Ulris, dem dann doch wieder ein klarer Gedanke durch den Kopf gekrochen war. »Nüsse«, flüsterte Than-Ja ihm geheimnisvoll zu. Dabei kramte sie im Beutel und nahm einige in die Hand, um sie ihm zu zeigen. »Nüsse?«, fragte Ulris. In seine Stimme mischte sich Überraschung und etwas Enttäuschung. Wie konnte etwas Selbstverständliches ein Geheimnis sein? »Ja, Nüsse. Geröstet«, flüsterte sie ihm im Verschwörerton zu. »Geröstet?«, fragte Ulris, als verstünde er nichts. »Das gilt bei uns als Leckerei. Ich habe den Eindruck, ihr kennt das Rösten der Nüsse gar nicht?«, fragte sie. »Rösten? … Nüsse? … Nein«, stotterte Ulris, wobei sich das Gefühl verstärkte, dass er hier eine ganz besondere Frau vor sich hatte. »Man muss aufpassen, dass sie dabei nicht verkohlen«, beschrieb sie und machte ihm dabei den Mund wässrig. »Richtig geröstet schmecken sie wunderbar knusprig.« Bewusst verstärkte sie in dem Mann das Gefühl, etwas Besonderes erwarte ihn. »Mmhh«, freute er sich. »Aber ich möchte es als Überraschung hervorzaubern«, bezog sie ihn in die Verschwörung mit ein. »Dabei wäre es wichtig, dass ich alles ungestört vorbereiten kann.« Than-Ja hoffte, dass er ihren freundlichen Wink verstand. »Ich verstehe«, grinste der starke Mann. »Ulris wird selbst dafür sorgen, dass du nicht gestört wirst.« Mit verschwöreri-
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schem Blick entfernte er sich. Than-Ja war sicher, dass sie bei ihren Vorbereitungen nicht mehr gestört würde. Nach ein paar Schritten drehte er sich aber noch einmal um und lächelte sie an. Seine Zähne blitzten im Widerschein des Feuers. Than-Jas Gesicht strahle ebenfalls. Allerdings weniger wegen Ulris’ Flirt, sondern weil sie im Beutel neben den Nüssen noch einen kleineren Beutel fühlte. Ihre Nachricht hatte also Than erreicht. Und, was noch viel wichtiger war, er hatte vor seiner Abreise aus dem Sommerlager die Vorratsstellung von Tekla und dem Schamanen geleert. Diese war außerhalb versteckt untergebracht, damit kein Ungeziefer oder gar die Kinder davon naschten. Nachdem der kleine Beutel ohne weiteren Kommentar zu ihr gelangt war, konnte sie sicher sein, dass er genau das enthielt, was sie vermutete. Sorgsam streute sie die Haselnüsse, Bucheckern und Eicheln auf den vorher frei gemachten Platz in der Feuerstelle. Sie hatte darauf geachtet, dass darunter ein möglichst flacher Stein lag, der den Röstvorgang noch intensivierte. Der Stamm verzehrte das Abendessen. Jeder bekam eine ordentliche Mahlzeit, damit alle für den morgigen Marsch gestärkt waren. Die Frauen brieten das Fleisch an langen Stöcken. Zuerst wurden die Krieger bedient. Sie genossen die Speisen, weil die Gefangenen, wie diese es gewohnt waren, das Fleisch vorher mit Kräutern eingerieben hatten. Der neue Geschmack war für die Wolfsmenschen ungewohnt. Genüsslich schlangen sie das Essen hinunter. Auf die Unmengen, die die Männer verzehrten, waren die entführten Frauen bereits vorbereitet. Schließlich aßen sie selbst mit ihren Kindern. Than-Ja beobachtete. Die Alte saß bei ihrem Mann. Mara bei einem Wolfskrieger, den sie schon seit einiger Zeit anhimmelte. Die Kinder teils bei den Müttern, teils bei den Männern, die sie
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wegen ihrer Stärke bewunderten. Nur die zwei kleinen Mädchen kuschelten sich an ihre Mütter. Die Männer sprachen über die nächste Etappe des Marsches. Es dauerte noch die Zeit, die der Mond brauchte, sich zu erneuern, bevor sie ihr Ziel in den wildreichen Wäldern im Süden erreichten. Bald würde der erste Schnee fallen. Dann müsste man schon weit von hier sein. Die Frauen schwiegen. Nur manche tuschelten mit ihren Kindern. Je mehr sich das Essen dem Ende näherte und die Nacht um sie herum alles verdunkelte, desto häufiger suchte Ulris’ Blick Than-Ja. Er hatte Gefallen an ihrer Gestalt gefunden. Außerdem freute er sich schon auf die Überraschung, deren Vorbereitung er sich teilhaftig fühlte. Nebenbei röstete Than-Ja eine Ladung Nüsse nach der anderen. Die fertigen wanderten in eine geflochtene Schüssel. Sorgsam durchmischte sie das Ergebnis mit dem ›Würzpulver‹, das ihr Mann ihr zustecken ließ. Than-Jas Herz schlug. Jetzt würde es soweit sein. Sie durfte nicht mehr lange zögern. Der Älteste gähnte bereits herzhaft. Ulris wurde unruhig. Langsam, wie selbstverständlich, nahm Than-Ja die Schüssel und stand auf. Das geschah so unauffällig, dass nur der verliebte Beobachter es registrierte. Er stand erwartungsvoll auf. Ihr Sohn war an ihrer Seite bereits eingeschlafen. Vorsichtig ging sie zwischen den Lagernden zum Ältesten. Als sie sich näherte, blickte die Alte streng auf und beäugte sie misstrauisch. Than-Ja versuchte, sie nicht zu bemerken und blickte nur auf den Boden vor ihren Füßen. Dann kam sie an Ulris vorbei. Einer plötzlichen Eingebung zufolge blieb sie stehen. Der große, bärenstarke Krieger grinste vielsagend von oben auf sie herab. Möglichst hilflos aussehend, hielt sie ihm die Schale hoch. Er wollte zugreifen. Sie zog sie
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zurück. Blickte bedeutungsvoll auf den Ältesten. Dann streckte sie sie ihm wieder hin. Grinsend und einen langgezogenen Laut von sich gebend, der bedeuten konnte, dass er verstand, was sie meinte, nahm er die Schale entgegen. Ulris ging damit zum Alten. Than-Ja huschte sofort wieder zurück und machte sich auf ihrem Platz möglichst klein. Eng kuschelte sie sich an ihren Sohn und tat so, als würden ihr die Augen vor Müdigkeit zufallen. Stattdessen beobachtete sie die Kriegerreihe, mit dem Ältesten in der Mitte, angestrengt unter den Lidern hervor. Was sie sah, ließ ihren ohnehin schon hohen Puls noch höher schlagen. Die Nüsse wurden von allen Kriegern genüsslich gekaut. Gerade ließ sich der Älteste eine Handvoll in den Mund rinnen. Selbst seine Frau kaute vor sich hin. Während allen der leckere Geschmack am Gesicht abzulesen war, blieb das ihre gleichgültig. Trotzdem griff sie noch einmal zu. Es wurde lauter um das warme Feuer. Einer der Krieger klopfte rhythmisch mit einem Stock auf einen starken, aber hohlen Ast. Ein anderer schlug im selben Rhythmus mit seiner Hand auf seine Oberschenkel. Andere setzten ein und stießen Laute aus, die entfernt an eines ihrer Stammeslieder erinnerten. Interessiert sah sich Than-Ja die weitere Entwicklung an. Andere Krieger rissen sich die Kleider vom Leib und fingen wild an zu tanzen. Sie bewegten sich zum Klang der Trommeln. Die graue Bemalung glänzte dämonenhaft im Schein des Feuers. Nackt näherten sie sich der Ekstase. Schrien, als wären sie besessen. Tanzten jetzt ganz um das Feuer herum. Nur Ulris stand regungslos da. Seine Muskeln schienen im Rhythmus zu vibrieren. Mit halb offenen, irren Augen und heruntergefallener Kinnlade starrte er auf Than-Ja. Ken-Ja kümmerte sich um die schlafenden Kinder und zog sie trotz ihres Widerstrebens ins Zelt. Sie sollten jetzt nicht hier sein. Glühende Augen sahen Ken-Ja nach, als wäre in ihrem 260
Hinterteil ein Magnet eingebaut. Sobald sie mit den Kindern im Dunkeln verschwunden war, zogen die anderen Frauen ihre Blicke an. Einige blickten ängstlich und rutschten vorsichtig im Sitzen zurück. Sie hätten mit den Kindern mitgehen sollen, dachte Than-Ja. Da wäre es weniger auffällig gewesen als jetzt. Es gab auch einige Frauen, die mit geschlossenen Augen im Sitzen die Musik in sich aufnahmen und den Oberkörper lustvoll hin und her bewegten. Darunter auch Maras jüngere Schwestern. Than-Ja wusste, dass sie mit dem Feuer spielte. Zu schnell konnte ihr Plan ins Gegenteil umschlagen. Als würde ihre Befürchtung wahr, hörte sie plötzlich Mara mit ihrer hohen Frauenstimme in den gutturalen Gesang der Männer einstimmen. Aus den Knien stemmte sie sich hoch. Dabei riss sie sich das rockähnliche Kleidungsstück vom Körper. Es gelang nicht richtig. Die Lederriemen waren vorher nicht gelockert worden. Sofort schlangen sich von allen Seiten die Arme der nackten, irr blickenden Krieger um sie und zerrissen mit kraftvollen Griffen die Naht. Mit einem wahnsinnigen Lustschrei tanzte Mara inmitten der nackten Wolfsmenschen. Die Alte stöhnte mehr, als dass sie sang, hockend vornübergebeugt, mit nacktem Po. Ihr Leib schrie nach Vereinigung. In ihrer Fantasie durchlebte sie sie schon lebhaft, was Than-Ja ihren unzusammenhängenden Lauten entnahm. Aber die Männlichkeit der wahnsinnigen und tanzenden Krieger war auf Mara gerichtet. Als sie, schweißnass, beide Arme sinnlich nach oben hob, um den ins Blut gehenden Trommelrhythmus auszuleben, umringten sie die ekstatisch tanzenden Krieger. Ulris machte sich auf, mit stierigem Blick auf Than-Ja zuzutanzen. Fixiert, als wolle er sie bannen, ließ er sie nicht aus den Augen. Näherte sich. Bewegte seine schreienden Lenden im Puls stoßweiser Laute. In Gedanken schien er sie schon erreicht zu haben. Nichts, so glaubte Than-Ja, konnte ihn jetzt aufhalten. 261
Aber noch ehe sie an einen Ausweg denken konnte wirbelte Mara durch sein Gesichtsfeld. Than-Ja war vergessen. Zur gleichen Zeit kreischte die Alte ihre verdorrt geglaubte Lust hinaus. Niemand der Männer beachtete jedoch die starr nach vorn Gebeugte mit erhobenem Gesäß. In all dem Chaos des Rausches hätte Than-Ja beinahe den Ruf des Raben überhört. Als sie ihn endlich wahrnahm, glaubte sie, er war schon mehrfach ertönt, aber er hatte sie nicht, gleich einem Alarmsignal, wachgerüttelt. Zu sehr erregten sie die dämonischen Auswirkungen des Schamanenextraktes. Wüsste sie nicht Than und die anderen Jäger ihres Stammes hinter sich in den Büschen, hätte sie die ungehemmte Lust in ihren Adern sicher nicht zurückdrängen können. Sie sollten handeln, bevor die schon lustvoller sich bewegenden Jungfrauen ganz und gar ihre Selbstkontrolle verlören. Diese blickten fasziniert und erregt auf ihre bacchantisch tanzende Schwester. Die von Dämonen erfüllten Wolfsmenschen konnten vielleicht noch gefährlich werden. Than-Ja wusste, sie brauchten noch etwas Zeit. Nach genau drei Stunden, der volle Mond überschritt gerade den höchsten Punkt seiner Bahn, ermüdeten die Krieger. Erschöpft getanzt. Zuckend sank einer nach dem anderen zu Boden. Schlief ein. Der Älteste lag auf dem Rücken seiner Frau, die noch immer in unveränderter Körperhaltung dalag. Ihr Mann konnte durch den Kreis seiner starken Krieger nicht mehr zu der jungen, verführerischen, neuen Frau durchdringen. Aber in seiner lebhaft gewordenen Fantasie erlebte er alles, was er begehrte. Auch wenn seine Alte bereits laut schnarchte. Fasziniert sah Than-Ja die plötzliche Beruhigung der Szenerie. Die beiden Jungfrauen schliefen, sich einander umschlingend. Mara war unter den Leibern der schlafenden Krieger verschwunden. Sogar Than-Ja zog es die Augenlider herunter. 262
NACHTFLUG »Halt!«, rief Smith nervös. Abrupt blieben Tristan und Alana auf der unsichtbaren Grenze zwischen Italien und dem Vatikan stehen. Der Geheimdienstmann und sein Mitarbeiter standen dahinter. Es nieselte. Keiner sprach ein Wort. Alana fröstelte. Tristan hielt sie im Arm. Von seiner Wärme gelangte nichts zu ihr. In ihrem Zittern verbanden sich Kälte und Angst. Vor ihnen breitete sich der Petersplatz aus. Das Kopfsteinpflaster glänzte vor Nässe im Licht der Straßenlaternen. Von fern hörten sie den Lärm der Hauptverkehrsstraßen. Hier war es still. Sie warteten. Nach einem umständlichen Flug über mehrere Länder, die nicht in direkter Linie zwischen Helgoland und Rom lagen, waren sie hier gelandet. Dieses Mal verfolgte sie bei ihrer Fahrt vom Flughafen hierher kein Hummer-Jeep. Sondern sie saßen selbst in einem. Ängstlich mit beiden Händen einander haltend, waren sie auf den geräumigen Rücksitz verfrachtet worden. Nun standen sie hier und warteten auf irgendetwas. Vor ihnen ragte wie ein mahnender Finger die Säule vom Circus Maximus empor. Tristan hätte fragen können. Er tat es nicht. Falls diese Information für ihn interessant wäre, würde er sie noch erfahren. Ansonsten wollte er keine Unsicherheit zeigen, indem er nachfragte. Die Glocken St. Peters schlugen elf. Als der letzte Ton seinen sonoren Klang über die Stadt trug, verwandelte sich dieser Ton in das leise Geräusch, das Schuhe auf nassem Kopfsteinpflaster verursachen. Das Läuten ausnutzend, hatte sich jemand herangeschlichen. Zu sehen war niemand. Alana zog sich näher an Tristan heran. Die zwei Geheimdienstmänner kniffen die Augen zu Schlitzen zusammen und versuchten, die Dunkelheit 263
zu durchdringen. Es schienen sich mehrere Personen aus den Kolonnaden, dem Säulengang um den Petersplatz, zu nähern. Tiefschwarzes zeichnete sich in den dunklen Schatten des Ganges ab. Flatternde Kutten um die schnell schreitenden Beine. Die Schuhe klackerten hell durch die Nacht. Eine Figur schälte sich aus dem Dunkel. Sie kam schnell näher. Eine zweite unmittelbar dahinter. Smith ging ihnen einige Schritte entgegen. Als sie aufeinander trafen, wurde es wieder still. Nur das leise Rauschen des auf der Straße abfließenden Wassers war zu hören. Immer wieder durchbrochen von flüsternden Stimmen. Tristan verstand kein Wort. Es dauerte jedoch nicht lange, dann kamen alle drei. Tristan erschrak. Diese fragwürdigen Priester in ihren tiefschwarzen Gewändern kannte er nur zu gut. Er kannte vielleicht nicht genau diese beiden, aber dass es nichts Gutes bedeutete, wusste er. Erinnerungen an die bewaffnete Truppe in der unterirdischen Bibliothek stiegen in ihm hoch. Die unbekannten Priester im Dom, bevor sie in den Brunnen steigen mussten. Dann noch der Schwarzgewandete an der Ausgrabungsstätte am Michelsberg. Blitzschnell sausten die Bilder durch seinen Kopf. Noch bevor er wusste, wie ihm geschah, wurde er von Smith fest am Oberarm gepackt. Einer der Neuankömmlinge griff nach Alana. So wurden die beiden zum Säulengang gezogen. Der Mitarbeiter Smiths blieb zurück. Ein Priester ging voraus. Tristan und Alana wurden so sehr nach vorne gedrängt, dass sie den Eindruck gewannen, es sollte wie eine spät zurückkehrende Gruppe aussehen. Die beiden Festgenommenen ließen alles geschehen. Tristan dachte nur daran, dass die Zeit für sie arbeiten würde, wenn Benedikt Erfolg hätte. Sie verließen den Säulengang. Liefen über einen Hof. Ein paar Stufen hoch. Eine Tür hinein.
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Innerhalb des Gebäudes ging es einen abgedunkelten Gang hinunter. Tristan bemerkte, dass keiner von der Schweizergarde zu sehen war. Aber vielleicht war dies auch besser so, dachte er bei sich. An den Wänden hingen klassische Kunstwerke. Entweder als Bilder oder Wandmalerei. Sie passierten barocke Skulpturen und Holzschnitzereien. Im Halbdunkel war vieles nicht zu erkennen. Tristan, vor allem aber Alana, hatte keinen Blick dafür übrig. Schnell wurden sie durch die Gänge gezogen. Die langen Läuferteppiche dämpften ihre Schritte. Inmitten von tausenden Vatikanbewohnern kamen sich die beiden doch ziemlich allein vor. Die Sorge um Sophia ließ sie alles still ertragen. Alana wagte kaum zu denken. Tristan zermarterte sich sein Hirn, ob Pater Benedikt inzwischen Erfolg gehabt haben könnte. Hatte ihn die kleine Notiz über den steinzeitlich anmutenden Wissenschaftler überhaupt erreicht? Sie durchschritten einen überdachten Innenhof. Teils erleuchtete, teils dunkle Fenster über ihnen. Kübelpflanzen um Sitzgruppen machten diesen Platz zu einem lauschigen Plätzchen, unter anderen Bedingungen, dachte sich Tristan. Plötzlich stand eine Gruppe von fünf Mönchen in ihrem braunen Habit vor ihnen. Sie waren durch die Tür gekommen, durch die sie selbst den Hof gerade verlassen wollten. »Verehrte Senhorina Alana«, rief es aus der Gruppe. Sofort blieben alle stehen. Überrascht zuckte die Angesprochene erst einmal zusammen, dann suchten ihre Augen in den wie ein Vorhang aus braunem Habitstoff wallenden Gewändern den, der sie so direkt angesprochen hatte. »Ja?«, fragte sie unsicher zurück. »Und Senhor Tristan«, grüßte Bruder Severin, der mit seinen Mitbrüdern gerade unterwegs zu einer Spätmesse war. Jetzt 265
erkannte Tristan, dass den Freund ein breites weißes Pflaster auf der Tonsur regelrecht markierte. Temperamentvoll, wie der lateinamerikanische Bruder war, trat er schnell auf Alana zu und umarmte sie zum Gruß. Verwirrt über die plötzliche neue Situation löste Smith seinen Griff um Tristans Oberarm und ging erschrocken einige Schritte zurück. Er wollte auf keinen Fall, dass man sah, wie er ihn quasi als einen Gefangenen führte. »Es freut mich sehr, Sie beide wieder einmal zu sehen«, freute sich Frei Severino. Er nahm mit beiden Händen die ihrigen. Dann gab es ein Küsschen für Alana hier und ein Küsschen da. Und noch ein Küsschen wieder hier. Dann lächelte er auf seine unnachahmliche Art: »Wenn die kleine Weisheit des Herzens zufrieden gestellt ist, kann die große Weisheit der Wissenschaft ihren Hunger stillen.« In diesem Augenblick drängten Smith und die beiden Schwarzen wieder in die unmittelbare Nähe. Ihnen war die Situation unangenehm. Sie wollten weiter. Da ergriff einer der beiden das Wort: »Ich darf Sie beide noch an den wichtigen Termin erinnern«, sagte der eine Schwarze mit unverkennbar italienischem Akzent. Da Alana gar nicht und Tristan nur zögerlich darauf reagierte, setzte Smith nach: »Wir sind spät dran. Wir sollten uns beeilen.« Scharf sprach er das Wörtchen »zu« aus. Wie eine giftige Schlange zischte es durch ihre Gehörgänge. Verunsichert über die neue Lage, dankte Alana leise und wünschte Bruder Severin alles Gute. Seine Mitbrüder waren bereits langsam weitergegangen. Sie warteten, wollten aber noch rechtzeitig die Spätmesse erreichen. Mit einem zuversichtlichen Lächeln verabschiedete sich der Freund von Tristan und ging der alten schweren Holztür entgegen.
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Unmittelbar darauf spürte Tristan wieder den festen Griff Smiths, und es ging weiter. Sie wussten nicht mehr, wie viele Gänge sie entlanggegangen, wie viele Treppen sie überwunden und wie viele Höfe oder kleine Gärten sie durchquert hatten. Es begegnete ihnen die ganze Zeit niemand mehr. Plötzlich öffnete sich eine Tür und sie wurden hineingestoßen. Sie waren in einer einsamen Gebetszelle gelandet. Durch das geöffnete Fenster drang die feuchtkalte Nachtluft herein. Auf einer hölzernen Gebetsbank, die sich nur zum Knien eignete, brannte eine kleine Kerze. Mit Ausnahme eines für diesen kleinen Raum viel zu großen Kruzifixes war der Raum leer. Alana kniete nieder und betete, ohne dass sich ihre Lippen bewegten. Tristan drehte sich immer wieder um und schaute aufgeregt zur Tür. »Hast du gehört, was Severin gesagt hat?«, fragte er ganz aufgeregt. Alana schwieg und starrte auf Christus. »Die kleine Weisheit …, verstehst du?«, hakte er nach, nachdem Alana nicht reagierte. Jetzt erst wurde Tristan der zitternde Körper auf der Gebetsbank bewusst. Er stellte sich dahinter. Legte seine Hände auf ihre Schultern. Wollte ihr etwas Ruhe vermitteln. Daraufhin atmete sie ruhiger. »Ich denke, Severins Mitteilung war ganz deutlich«, fing er noch mal an. »Meinst du?« Leise hauchte Alana diese zwei Worte. »Absolut. Kein Irrtum möglich.« »Und wenn doch?« »Kleine Weisheit …, große Wissenschaft … Damit können nur Sophia und wir zwei beide gemeint sein«, ereiferte sich
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Tristan. »Was denn sonst. Er wollte uns sicherlich keine leere Aufmunterung zuwerfen. Das glaube ich nicht.« Vor der Tür klingelte unverkennbar ein Handy. Alana zuckte zusammen. Auch Tristan konnte sein Erschrecken nicht verbergen. Fest griffen seine Finger in ihre Schultern. Wie ein lauter Störenfried tönten die ersten Takte der D-MollToccata durch den schlafenden Vatikan. Ein zweites Mal. Ein drittes Mal. Sinnlos quäkten die Takte, die die Schönheit des musikalischen Werkes ad absurdum führten. »Schnell«, schoss Alana aus ihrer unbequemen Büßerhaltung nach oben. »Wir haben keine Zeit.« Wie zu einer innigen Umarmung klammerte sie sich an ihn. Ihr Gesicht grub sich tief in seine Kuhle zwischen Hals und Schulter. Tristan brauchte etwas, bis er begriff. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Der Anruf konnte bedeuten …, aber weiter dachte er nicht. Instinktiv fiel er in seine schon geübte Konzentration. Hielt Alana fest. Spürte die Kugel im fernen Bamberg. Plötzlich pochten Ängste und Bedenken an sein Hirn, als spürte er die Gedanken seiner geliebten Begleiterin. Nur für den Bruchteil einer Sekunde ließ er sich davon verunsichern. Wie mit einem ausladenden Handstreich wischte er die Störenfriede beiseite. Einen Wimpernschlag später hockten beide eng umschlungen in der mysteriösen Kugel. Schwebten unterhalb der Decke, über dem Gebetsschemel und vor dem Kreuz. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür. Die Bewacher kamen herein und starrten in ein leeres Zimmer. Einer machte sich sogar noch die Mühe und sprang mit ein paar schnellen Schritten zum Fenster, um zu sehen, ob die Gefangenen dort hinaus seien. Smith, der als Letzter die leere Zelle betrat, wusste sehr gut, dass sie nicht durch das zu kleine Fenster, welches zudem mindestens zehn Meter über der Straße lag, entkommen waren. 268
»Raus!«, rief er streng, mit gepresster Stimme. Verständnislos starrten ihn die Mitarbeiter seines vatikanischen Verbündeten Iscariot an. Erst einmal begriffen sie nicht, wie die beiden flüchten konnten, außerdem passte ihnen der Ton Smiths nicht. Einer wollte gerade den Mund öffnen, um ihm klarzumachen, wer hier Hausrecht hatte und wer der Gast sei, da packte ihn der Geheimdienstmann auch schon grob am Oberarm und drückte ihn hinaus. Der zweite folgte. Knallend fiel die alte dunkelbraune, mit Intarsien versehene Tür ins Schloss. Smith lauschte in die Stille. Tristan genoss die Situation. Darauf hatte er seit Stunden gewartet. Das Signal, dass Sophia in Sicherheit war. Genüsslich weidete er sich am Misserfolg seiner Verfolger. »Mr. Wagner«, sprach er halblaut vor sich hin. Tristan zuckte innerlich zusammen. Für einen Augenblick war er unsicher, ob Smith ihn nicht doch sah. Als er erkannte, dass sein Blick aber ins Leere schaute, war er wieder etwas beruhigter. »Mrs. Schäfer«, sprach er weiter. »Alana«, fügte er leiser und sanfter hinzu. »Ich weiß, dass Sie mich hören.« Die Angesprochene wagte kaum zu atmen. Ihr Herz schlug. Am liebsten wäre Tristan sofort tausende von Kilometern weggerast. Aber die Stimme des grauen Smith schien ihn festzuhalten. Was wollte er, fragte er sich. »Beeindruckend, der Coup«, sagte er. »Irgendwie haben Sie es geschafft, das kleine Mädchen vor uns zu verbergen. Aber glauben Sie mir«, seine leise Stimme bekam jetzt mehr Nachdruck, »damit haben Sie höchstens Stunden gewonnen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Telefonate von Helgoland ausgewertet sind. Ich kann mir schon vorstellen, wie das gelaufen ist. Wenn wir sie wiederhaben, dann werden wir Vorkehrungen treffen, damit das nicht mehr passiert.« Er drehte 269
sich in verschiedene Richtungen, wusste also nicht, wo sich die Zuhörer befanden. Das beruhigte Tristan. »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich das nie wollte, was jetzt passieren wird«, drohte er. »Und ich dachte die ganze Zeit, Sie lieben die nette kleine Sophia.« In diesem Augenblick schluchzte Alana tonlos. Tristan ließ die Kugel quer über das verregnete Rom davonsausen. Vom Vatikan über das jetzt schwarz erscheinende Wasser des Tibers, die Gärten der Villa Borghese, das Forum Romanum, das Kolosseum und in weitem Bogen wieder zu St. Peter zurück. Tristan wusste nicht genau wohin. Alana verbarg ihr Gesicht noch immer an seinem Hals. »Wohin jetzt?«, fragte Tristan kurz. »Zu Sophia natürlich«, keuchte sie wie eine Ertrinkende. »Vielleicht später«, bremste Tristan. »Ich glaube, wir brauchen zuerst noch mehr Informationen. Wir sollten noch einmal mit Bruder Severin sprechen.« »Ja?«, fragte Alana abwesend. »Wir wissen doch gar nicht, wo Sophia ist«, begründete Tristan. »Aber die Kugel kann doch trotzdem hinfliegen, hast du erzählt«, entgegnete Alana. »Im Prinzip ja, aber ob das im Augenblick auch gut ist, wissen wir nicht. Ich hätte trotzdem vorher gern gewusst, was Benedikt gemacht hat und wo Sophia genau ist.« »Gut, mein Lieber«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Sprechen wir mit Severin.« Langsam näherten sie sich wieder dem klassizistischen Bau, in dem sich die Zimmer und kleine Wohnungen der Vatikanbewohner befanden. Durch Mauerwerk und verschiedene Zimmer schwebten sie ruhig in Severins dunkles Zimmer. Er war nicht da.
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»Die Spätmesse ist bestimmt gleich beendet, dann wird er kommen«, sagte Tristan. »Lass uns in seinem Zimmer warten.« »Nein, bitte lass uns hier bleiben, in der Kugel«, bat Alana. »Ich fühle mich hier sicherer.« »Das sind ja ganz neue Töne«, versuchte Tristan sie aufzumuntern. Alana versuchte zu lächeln. Ihr war nicht danach. Als Reaktion küsste sie ihn nur auf den Hals und schwieg. Aneinander gekuschelt, so gut es in dem engen Raum ging, warteten sie. Keiner sprach ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die Sorge um Sophia war trotz der Nachricht Severins noch nicht gewichen. Sie schnürte Alanas Hals noch immer zu wie ein schweres Gewicht. Lange mussten sie nicht warten. Schritte näherten sich. Blieben vor der Türe noch etwas stehen. Leise sprachen Menschen miteinander. Dann der Klang eines Schlüssels im Schloss, und wie erwartet trat Severin ein. Sie warteten noch, bis er das Licht eingeschaltet und die Tür geschlossen hatte. Dann sahen sie, wie er ins angrenzende Badezimmer ging. Wie aus dem Nichts standen Tristan und Alana mitten im Zimmer. Vor der Badezimmertür lag die Kutte des Frei auf dem Boden. Spontan entschloss sich Tristan, Severin von hier aus anzusprechen. »Severino. Bruder Severino«, flüsterte Tristan in dem Bestreben, laut, aber nicht zu laut zu sein. Nach exakt zwei Sekunden öffnete sich die Tür ein wenig und der Kopf des Angesprochenen streckte sich durch. »Oh, Senhores«, grüßte er überrascht. »Schön, Sie so wohlauf zu sehen.« Rasch hob er seine Kutte auf und hielt sie vor sich. »Wie geht es Sophia?«, platzte Alana heraus.
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»Ihre Nachricht hat Benedikt erreicht«, berichtete Severino kurz. »Er hat sich sofort aufgemacht, um Ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Was er im Einzelnen gemacht hat, weiß ich nicht. Aber kurz vor Ihrer Ankunft meldete er mir, dass alles in Ordnung sei.« Dann neigte er sich näher zu Alana: »Ich hoffe, Sie haben meine kurze bildhafte Darstellung vorhin verstanden. Wissen Sie, die Personen, um nicht zu sagen, Gestalten, die Sie begleiteten, waren mir nicht ganz geheuer. Senhora Alana wohl auch nicht, wenn ich mich an ihren Gesichtsausdruck vorhin erinnere.« Severino lächelte, um zu unterstreichen, dass jetzt kein Grund mehr zur Sorge sei. »Doch zurück zu Benedikt. Er war nur kurz angebunden und hat gleich wieder aufgelegt. Aber seine Nachricht war eindeutig.« »Ist das auch wahr?«, fragte Alana. Sie wagte es noch nicht, die freudige Nachricht zu glauben. »Da bin ich mir absolut sicher«, bestätigte Severino noch einmal. »Ich möchte sofort zu ihr«, sagte Alana. »Was, sofort?«, fragte Tristan dazwischen. »Das geht doch, oder?« »Natürlich, aber würden wir damit nicht eine neue Spur zu ihr legen, die andere finden könnten?«, gab Tristan zu bedenken. »Ich halte das auch für ungünstig«, sagte Severino. »Ich glaube, dort, wo sie ist, weiß niemand von der Gefahr, das sollte so bleiben.« Ein Blick in Alanas Gesicht und er ergänzte sofort: »Die bisherige Gefahr.« »Ja.« Alana stand mit gesenktem Kopf da und starrte nach unten. »Wenn es sein muss.« »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Tristan. »Ganz klar«, sagte Severino, »die Spur des mysteriösen Triskells weiter verfolgen. Ich bin schon ganz gespannt auf Ihre Ergebnisse aus Helgoland.« 272
»Ist das jetzt überhaupt wichtig?« Alana setzte die Worte langsam und bewusst aneinander. Frei Severino nickte bedächtig. Verständnis und Bestätigung ausdrückend. Er litt mit Alana. Auch wenn er selbst keine Familie hatte, empfand er dieselbe Angst um Sophia. »Wichtig wie eh und je«, antwortete er leise. »Warum?«, hakte Alana nach. »Was sollten wir auch sonst tun«, mischte sich Tristan ein. Alana hörte nicht darauf. Severino antwortete Alana, ohne auf Tristan einzugehen. »Es geht um den Einfluss nicht-irdischer Mächte auf unsere Religion. Das ist überaus wichtig«, sagte Severino. »Ihr Chef ist bestimmt nicht erfreut über mögliche Ergebnisse«, sagte Tristan. »Es geht um Wahrheit«, entgegnete Severino. »Und um die Tatsache, dass die Menschen, die Sophia bedrohen, im Unrecht sind«, fügte Alana wieder leise und bedächtig ihre Worte aneinander. »Solche Menschen dürfen die Wahrheit nicht verwalten.« »Absolut«, bestätigte Severino, begeistert über diese Antwort. »Was sollen wir jetzt tun«, wiederholte Tristan seine Frage. »Benedikt hat, bevor der Anruf kam, weiter recherchiert«, berichtete Severino weiter. »Das Sandsteinidol, das Sie haben, ist vergleichbar mit den Statuenmenhiren der ausgehenden Jungsteinzeit.« Gespannt hörten ihm die beiden zu. »In einer Notiz der Pfarrei Filitosa wurde von vergleichbaren Figuren berichtet. Das sollten Sie sich vielleicht mal ansehen. Meint Benedetto«, lächelte Severino und wartete auf die Reaktion Tristans und Alanas. Auf dem Gang vor der Tür waren wieder Schritte zu hören.
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»Da ist wohl einer meiner Brüder noch unterwegs. Er sollte euch nicht hier treffen. Schnell ins Bad.« Severino wies sie zur Tür hinter ihm. Leise schloss er die Tür. Keinen Augenblick zu früh. Mit einem Schlag öffnete sich die Tür. Die Wucht ließ sie gegen die Wand knallen. »Wo sind sie?«, rief eine herrische Stimme. Zwei schwarzgekleidete Priester, die mit Smith unterwegs gewesen waren, stürmten in das Zimmer. Smith selbst folgte ihnen, blieb aber nicht stehen, sondern stürmte auf die Tür zum Badezimmer zu. Riss sie auf. Es brannte Licht, ansonsten war niemand drin. »Verdammte Idioten!«, rief er hinein. »Ich muss doch sehr bitten!«, beschwerte sich Severino über diese unpassende Wortwahl. Smith packte ihn an der Kehle. Der Frei rang nach Luft. Noch bevor er seine Hände an den Arm des Angreifers legen konnte, schubste ihn dieser grob zu seinen schwarzen Begleitern. Die Kutte flog zu Boden. Von den beiden wurde er sofort ergriffen. Ein Arm auf den Rücken gedreht. Als das Gelenk überdrehte, schoss ein spitzer Schmerz durch Severins Arm. Er ging in die Knie. Kniete in Unterwäsche vor den Eindringlingen. »Ich warne euch nicht noch einmal«, rief Smith in die Runde. Tristan wusste sofort, dass Alana und er angesprochen waren. Beide saßen wieder ineinander verschränkt in der Kugel und schwebten unter der Stuckdecke des Raumes. »Nein!«, rief Severino, »tut, was ihr tun müsst.« Ein kurzer Dreh im ohnehin schmerzenden Gelenk ließ ihn aufschreien. »Kümmert euch nicht um mich.« Der eine packte ihn im Nacken und drückte ihn mit dem Gesicht zu Boden. Doch Tristan und Alana waren schon weg. Ihnen war klar, dass ihr Erscheinen die Situation nicht verbessert, sondern verschlimmert hatte. 274
Wieder kreisten sie um das nächtliche Rom. Die Wolken hingen tief. In wenigen hundert Metern Höhe war die Sicht gleich null. Dies, obwohl die nächtliche Stadt, wie jede Metropole, taghell erleuchtet war. »Wo müssen wir hin?«, fragte Tristan. Den angegebenen Ort hatte er gehört und wieder vergessen. Eigentlich wollte er sich am Ende eines ausführlichen Einweisungsgespräches noch einmal gezielt nach dem Namen erkundigen. Nun war es anders gekommen. Außerdem brauchten beide dringend mindestens acht Stunden Schlaf. »Filitosa oder so«, sagte Alana, die freiwillig und gezwungenermaßen in dem engen Gefährt an ihm hing. Es war sehr eng. Mit ihr war es aber deutlich weniger unangenehm als mit Pater Benedikt damals. »Wo soll denn das liegen?«, fragte Tristan unwillig. Gern hätte er genauere Informationen gehabt. »Können wir nicht erst zu Sophia?«, bat Alana, obwohl sie wusste, dass es gefährlich war. »Aber das sollen wir doch nicht, um ihren Aufenthaltsort niemandem zu offenbaren«, erklärte Tristan. »Will ich auch gar nicht«, bettelte sie. »Ich will sie nur sehen.« »Jetzt?« »Nur sehen.« »Du meinst, von der Kugel aus?« »Ja, ganz heimlich. Ich will selbst sehen, dass es ihr gut geht.« »Aber Pater Benedikt hat doch alles im Griff.« »Ich will meine Tochter selbst sehen.« »Ich verstehe das«, murmelte Tristan mehr in sich hinein. »Wo könnte sie denn sein?« »Ist das nicht egal?«, fragte sie zurück. »Ich meine, für die Steuerung der Kugel?« 275
»Eigentlich schon«, sagte Tristan. »Wenn es so funktioniert wie das letzte Mal.« »Dann lass uns gleich hin.« »Mitten in der Nacht? Sophia schläft bestimmt tief und fest.« »Jetzt gleich, mach schon«, drängelte sie weiter. Tristan, der sich selbst sehnlichst wünschte, die kleine Sophia friedlich schlafend vor sich zu sehen, konzentrierte sich auf das Mädchen. Eigentlich sollte es egal sein, wo sie wirklich war. Bei seiner Ansteuerung des Asteroiden kannte er auch nicht die Koordinaten und hatte ihn trotzdem nicht verfehlt. »Sophia«, murmelte er vor sich hin. »Sophia«, sprach auch Alana und war in ihrer unbequemen Haltung tief konzentriert. Die Kugel, aus dem unbekannten Metall und mit den beiden Reisenden in ihrem Inneren, durchstieß die Wolkendecke nach oben. Klar und ruhig funkelte der Sternenhimmel. Der Mond verströmte sein mattes Licht. Die Oberseite der Wolken reflektierte es perlmuttfarben. Das Spiel aus Farben unten und der Sternenhimmel oben ließen kein Gefühl für die Geschwindigkeit aufkommen, mit der sie gen Norden rasten. Davon sahen Tristan und Alana ohnehin nichts. Ihre Augen waren geschlossen und innerlich auf das geliebte Mädchen fixiert. Sie sahen nicht die dunklen Zacken, mit denen die hohen Berge der Alpen die Wolkendecke durchstachen. Sie sahen nicht, dass mit dem gewaltigen Gebirgszug unter ihnen die perlmuttfarbene Schicht endete. Sahen nicht die Lichter der Städte Südbayerns. Sahen nur Sophia vor ihrem geistigen Auge. Ihr Ziel. Tristan öffnete seine Augen. Vor ihm lag … Sophia. Ruhig atmend. Eingehüllt in einen warmen Daunenschlafsack. Ihre strubbeligen Haare versteckten große Teile des Gesichtes. Ein Arm lag auf ihrer Brust, der andere war im Schlafsack versteckt. 276
»Sieh nur«, flüsterte Tristan und stupste Alana an. Sie sah und schwieg. Ihr unregelmäßiger Atem zeigte die Gefühlsregung an, die sie bewegte. Tristan sah Alana in das Gesicht. Tränen liefen aus beiden Augen. Aber sie schwieg. Lange. Wagte nicht den Blick von ihrem Kind zu nehmen, aus Angst, es gänzlich zu verlieren. Tristan sprach kein Wort. Wartete geduldig und ließ Alana gewähren. Er litt mit ihr. Der Mond war auf seiner nächtlichen Bahn so weit emporgeklettert, dass er jetzt über die Bergkante der Fränkischen Schweiz ins Wiesenttal hineinleuchtete. Draußen war außer einem gelegentlichen Rauschen der Blätter oder einem entfernt fahrenden Auto nichts zu hören. »Wer sind die beiden anderen Kinder?«, fragte Tristan leise, als wolle er vermeiden, dass Alana ihn hörte. »Ich weiß es nicht.« »Scheinen gleichaltrig zu sein«, schätzte Tristan. »Vielleicht ein oder zwei Jahre älter.« »Ich möchte wissen, was das für ein Zeltlager ist.« »Kann ich aussteigen?« »Bitte nicht. Wir würden nur jemanden erschrecken und Aufsehen erregen«, sagte Tristan, »und genau das wollen wir doch unbedingt vermeiden.« »Du hast ja Recht«, entschuldigte sie sich. »Aber lass uns doch das Lager einmal ansehen.« »Ja, gleich«, sagte Alana. Ehe Tristan begriff, was sie tat, reckte sie ihren Arm nach unten. Strich zärtlich eine wilde Locke aus dem Gesicht. Ihre Tochter Sophia seufzte im Schlaf, drehte sich. Alana zog ihre Hand erschrocken wieder zurück.
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»Ich weiß, was in dir vorgeht«, tröstete Tristan. »Auch wenn man das dem trockenen Wissenschaftler vielleicht nicht ansieht, mir geht es genauso.« Alana seufzte, wie um einen Abschluss zu finden. »Lass uns das Lager ansehen«, willigte sie ein. Sie kreisten einmal langsam um die Zelte. Bemerkten das nur noch wenig glimmende Lagerfeuer. Sahen das runde Küchenzelt und das Eingangstor mit der Aufschrift. »Passwort Blau«, las Tristan leise. »Wer passt auf die Kinder auf?«, fragte Alana. »Bevor wir jetzt aber die Pfadfinderzelte durchsuchen, sollten wir lieber Benedikt fragen«, sagte Tristan. »Ich mag nicht rumschnüffeln.« »Warum bist du dann Wissenschaftler geworden?«, zog ihn seine Freundin auf. Tristan durchfuhr ein Blitz der Freude. Alana konnte ihre Sorge wieder etwas loslassen. Sie machte wieder Witze. »Wir sollten aber trotzdem noch mit Pater Benedikt sprechen«, schlug Tristan vor. »Wie könnten wir sonst nach Filisowieso finden?« »Oder erst schlafen?« Dabei gähnte Alana herzhaft. »Oder beides?« »Was zuerst?« »Weiß nicht. Sag du«, forderte Tristan sie auf. Aber Alana tat so, als sei sie an seiner Schulter eingeschlafen. Durch den aufsteigenden Nebel des kurvenreichen Flüsschens Wiesent davonfliegend, näherten sie sich Bamberg. Still erschienen die Gassen südlich des Domberges. Straßenlaternen leuchteten. Tristan flog direkt in Alanas Wohnung hinein. Dort schien alles wie immer. Dennoch fühlte er ein Unbehagen in der Magengegend. Sollte dieser Ort überwacht werden? Glaubte 278
jemand, Sophia würde auf ihrer Flucht hierher gebracht werden? Tristan steuerte die Kugel wieder aus dem Haus heraus. Die Gassen des Vorderen und Hinteren Baches, wie diese Gegend seit ihrer Besiedelung hieß und auf die Zeit davor hinwies, schienen friedlich. Parkende Autos. Nur in der Studentenbude um die Ecke brannte noch Licht hinter der Fensterscheibe. Nachtschwärze den Domgrund hinauf. Das Gefühl des Unwohlseins blieb. Zurück zum Hinteren Bach. War dort nicht für einen Augenblick ein roter Glutpunkt zu sehen? Verschwand sofort wieder? Tristan kam näher geschwebt. Und wirklich … in einem Fahrzeug saß ein schwarzgekleideter Raucher. Mich legt ihr nicht rein, dachte Tristan. Mit der Geschwindigkeit eines Gedankens verließ er den Ort. Alana schien an seiner Schulter wirklich zu schlafen. Außer Atmen war nichts zu hören. Dies schien Tristan gut so zu sein. Seine Liebste sollte sich nicht noch mehr ängstigen. Die Kugel schwebte nun inmitten seiner kleinen Wohnung in Erlangen, in der Nähe der Universität. Hier schien alles in Ordnung. Alles lag auf seinem Platz. Zumindest dort, wo Tristan die Sachen gedankenlos hingelegt hatte. Sogar ein Glas, welches halb mit Apfelsaft gefüllt war, der seit Tagen vor sich hinschimmelte, zierte seit seinem Verlassen die Küche. Seit einigen Wochen hielt er sich mehr bei Alana in Bamberg auf als in seiner kleinen Wohnung. Doch bevor er mit ihr hier die Nacht verbringen wollte, suchte er noch einmal sorgfältig alle Straßen und Gassen rund um das Haus ab. Er fand nur das Übliche. Parkende Autos und streunende Katzen. Keine Fußgänger und keine rauchenden Autofahrer. Das beruhigte ihn. Kurze Zeit später lag er zusammen mit Alana in seinem Bett. Kein Nachtessen, keine Abendtoilette. Nur sofortiger Tiefschlaf. Gerade noch dachte Tristan daran, ob der nächtliche Überwacher in Bamberg ihre Anwesenheit in Alanas Wohnung 279
überhaupt bemerkt hätte, wenn sie kein Licht gemacht hätten, aber noch bevor er eine Antwort darauf fand, forderte der erschöpfte Körper seinen Tribut.
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ENDE EINER PARTNERSCHAFT »Verdammt noch mal, Iscariot«, zischte Smith scharf ins Telefon. »Da serviere ich euch die beiden auf dem Silbertablett, und Sie lassen sie laufen.« Wütend schnaubte Iscariot. »Ihr Egoismus hat uns erst dahin geführt. Das Ding ist nicht beherrschbar. Deshalb muss es vernichtet werden. Sie sind schuld an dieser Flucht. Jetzt nehmen wir unsere Sache selbst in die Hand.« Dann etwas ruhiger: »Es war von Anfang an ein Fehler, sich mit atheistischen, machtgierigen Imperialisten einzulassen. Von jetzt an kämpfen wir mit flammendem Schwert, um die heilige Mutter Kirche vor Irrglauben zu verteidigen.« Iscariot schaltete das Handy ab. Die ungleiche Partnerschaft mit dem Mann vom Geheimdienst war beendet. Vor sich sah er Sophia zusammen mit anderen Kindern und einer Nonne die Muggendorfer Hauptstraße entlangwandern. Jetzt lehnte er sich zurück. Diesmal würde ihm niemand entkommen. Er brauchte nur noch auf die beste Gelegenheit zu warten. Er hatte Zeit. Selbstzufrieden griff er zum Autoradio und schaltete es ein. »… und nun zur Gesundheitspolitik: Der deutsche Ärztebund warnte heute die Bundesregierung davor, die Gesundheitsreform so zu gestalten, dass dadurch die Arbeit der Ärzte in irgendeiner Weise reglementiert wird. Dies würde unweigerlich auf Kosten der Patienten gehen. Davor müsse er geschützt werden. Es folgt das Wetter.«
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FLUCHT Than-Ja zuckte hoch. Zwei Hände legten sich auf ihre Schultern. Noch während sie erschrak, beruhigte sie sich auch wieder. Zu vertraut war ihr diese Berührung. Than stand hinter ihr. Sofort machte sich die Lust des Gesehenen wieder in ihr breit. Eng schmiegte sie sich an ihren Mann. Er ließ sie einen Augenblick gewähren. Aber den versuchten innigen Kuss lehnte er ab. Sie mussten weg. »Mara!«, fiel Than-Ja ein. Aber in diesem Augenblick kam Ken-Ja aus dem Dunkeln auf sie zu und sagte nur: »Darum kümmere ich mich«, und machte sich auf den Weg zu den müden Kriegern. Than-Ja ging mit. Ihr Mann zog sich in die Dunkelheit zurück. »Hat sie von den Nüssen genascht?«, fragte Ken-Ja. »Nein, ich glaube nicht«, vermutete Than-Ja. »Ich habe nur die Krieger, den Ältesten und seine Frau davon essen sehen.« Sinnlich grinste Ken-Ja. »Dann ist das wilde Blut der Jugend zwischen den Leibern muskulöser Männer mit ihr durchgegangen.« Sie entdeckten die Gesuchte. »Wäre mir vielleicht auch so gegangen, wenn ich hier gesessen hätte.« Jede packte eine Hand, und sie zogen sie mit vereinten Kräften empor. Sie gewannen dabei nicht den Eindruck, dass zwischen leidenschaftlichem Tanz und Zusammenbruch aus Müdigkeit viel passiert wäre. Nachlässig stülpten sie ihr das bis ans Knie reichende lederne Gewand über. Lächelnd quittierte Than-Ja die Tatsache, dass sie ihre Fußlinge noch ordnungsgemäß trug. Anschließend schleppten sie die Benommene zum Zelt der Gefangenen. Niemand hinter ihnen reagierte darauf. Es war absolut ruhig. Nur das Knacken des Feuers durchbrach das allgegenwärtige Rauschen des großen Flusses. 282
Vor dem Zelt wurden sie von Than empfangen. Er lotste sie sofort schweigend aus dem Lager hinaus. Henan, Jarten und Willa hatten sich schon vorher, während des allgemeinen Chaos des Rauschzustandes, aufgemacht und den sattsam für morgen bereitgestellten Reiseproviant sowie Decken und Speere für alle, auch Frauen und Kinder, geplündert. »Lasst uns das Lager anzünden«, hetzte Jarten lautstark durch die Nacht. »Pssst!«, mahnte Than. »Nein. Unsere Flucht muss so lange wie möglich unerkannt bleiben.« In Gedanken sprach er weiter, dass er sich auf keinen Fall auf dieselbe Stufe wie diese primitiven Wolfsmenschen stellen wollte. »Aber Rache muss sein«, forderte er. »Rache nützt uns nichts«, sagte Than und drängte darauf, weiterzugehen. Sie beide waren schon zurückgeblieben. Die letzten Flüchtenden waren in den Schatten des bleichen Mondlichts verschwunden. »Wenn wir sie alle erschlagen, können wir in aller Ruhe unseres Weges ziehen.« Jarten gab nicht nach. Die vor Hass glühenden Augen, wie Than sie nicht an seinem Freund kannte, blitzten wie die Spitzen scharfer Messer. »Nein. Wir müssen weiter«, forderte Than ihn erneut auf, den anderen zu folgen. »Das Blut würde unsere Ahnen stärken und das Leben aus der Tiefe der Erde erneuern«, versuchte Jarten zu argumentieren. Kurzatmig stand er da und stammelte mehr, als dass er überlegt sprach. »Diese da«, dabei zeigte er zurück auf das Lager der Wolfsmenschen, »wollten uns das Leben nehmen. Das Leben unseres Stammes für alle Generationen. Nehmen wir nun das ihrige, und wir werden noch stärker werden.« »Wir würden zu einem Wolfsmenschen werden«, knallte ihm Than hin. »Willst du das?« Die kurze Frage traf Jarten wie eine Ohrfeige. Stille. Keine Antwort. Nach einigen Augenblicken, in 283
denen nur die gepresste Atmung der beiden zu hören war, kam die kleinlaute Antwort: »Nein.« Mit eingezogenen Schultern und hängendem Kopf ging er weiter. »Will ich nicht«, murmelte Jarten noch in sich hinein. Schweigend schlichen sie hintereinander her. Fern vom Lager des Feindes gönnte sich die Gruppe eine Pause. Die Freude über die Befreiung wich der Erschöpfung. Ohne den notwendigen Nachtschlaf kam für viele der Aufbruch unerwartet schnell, Die Kinder schliefen gleich in den Armen ihrer Mütter ein. Sogar die Älteren schmiegten sich an. Man wärmte sich gegenseitig durch Körperkontakt. Jedem war klar, man durfte jetzt auf keinen Fall ein Feuer entzünden. Sogar Mara fügte sich klaglos. Than-Ja vermutete aber, dass sie in ihrem halbwachen Zustand glaubte, sie seien auf dem Marsch mit den Wolfsmenschen. Die Veränderung der Umstände war bei ihr noch nicht angekommen. Than konnte nicht ruhen. Er fühlte sich verantwortlich. Lief unruhig umher. Strich um die lagernde Gruppe. Streichelte hier übers Haar, schlug dort anerkennend auf die Schulter. Als er auf seinem Rundgang wieder auf diese Art sein Lob für das Geleistete ausdrücken wollte, zog ihn überraschend eine Hand nach unten. Ehe er sich versah, bekam er einen Kuss auf die Wange. Es war Than-Ja. Zärtlich küsste er ihre Hand, entwand die seine aber dann gleich. Er konnte nicht ruhen. Sie waren flussaufwärts gelaufen. Immer nah an den hohen Bäumen des Ufers. So blieb man im Schatten und konnte davon ausgehen, dass die Krieger der Wolfsmenschen nicht aus allen Richtungen gleichzeitig angreifen konnten. Taktische Routine war dies. Mehr nicht. Than ging ohnehin davon aus, dass der Rausch des Dämonentanzes erst zum Sonnenaufgang die Wolfsmenschen verlassen würde. 284
Weiter flussaufwärts hatten Henan und Willa, man kundschaftete am gestrigen Tag getrennt, eine Furt entdeckt. Diese wollten sie gleich nach der Pause durchqueren. Ein Führungsseil aus Lindenbast und Pferdehaar war von den Kundschaftern schon am Nachmittag angebracht worden. Es durfte also nichts schief gehen. Obwohl alles gut geplant war, trieb Unruhe Than umher. Er lief langsam ein wenig den Weg zurück, den sie gekommen waren. Selbst im Mondlicht erschien die Fährte wie ein breiter, dunkler Strich. Sie müsste jedem auffallen, der nicht gänzlich blind war. Bis morgen würde sich das Gras nicht aufgerichtet haben. Thans Unruhe steigerte sich. Langsam schritt er in der Fährte weiter. Nach etwa hundert Schritten blieb er stehen und lauschte in die Nacht. Nichts war zu hören außer dem Rauschen des Wassers. Im Wind glitzerten die leuchtenden Blätter der Silberpappel. Schnellfliegende Wolken stürmten über den Himmel. Than wusste, wenn die Wolken schneller waren als der Wind, wurde es meistens nässer und kälter. Hier am Fluss zog nur ein leichtes, aber kaltes Lüftchen vorbei. Der volle Mond zauberte wandernde graue Lichtflecken zwischen die Bäume und Büsche. Tief sog Than die Nachtluft in sich hinein. Es gab eigentlich keinen Grund zur Beunruhigung. Alles lief nach Plan, sagte er sich. Man müsste sicher damit rechnen, verfolgt zu werden, aber nicht mehr heute. Morgen, vermutlich gegen Nachmittag, würde man sich entsprechend vorbereiten. Das Gefühl der Unruhe wegschiebend, drehte sich Than wieder um. Er wollte zurückkehren. Die wabernden grauen Schatten nahm er schon gar nicht mehr wahr. Doch hatte er plötzlich den Eindruck, dass etwas mit ihnen nicht stimmte. Was war es nur? Die Gespinste des Mondlichtes sollten ihn doch nicht erschrecken? Und doch war Than irritiert. Ein gräulich leuchtender Schatten bewegte sich nicht im leichten Wind. 285
Ruhig stand er da. Reflexartig ging Thans Griff an sein Jagdmesser. Ruhe und Wärme machten sich in ihm breit. Dieses Körpergefühl passte so gar nicht zu dem gerade Erlebten. Mit vertrauensvollen Worten formte sich in seinem Inneren die Gewissheit, dass Sem vor ihm stand. Than ging auf ihn zu. Sem lächelte tiefgründig in der ihm eigenen Art. Sein ungewöhnliches graues Gewand hing lang an ihm herunter. Der alte Mann schien überhaupt nicht erschöpft zu sein. Than konnte sich nicht erklären, wie er den langen, beschwerlichen Weg genauso wie seine Gefährten und er hinter sich gebracht hatte. Sein Gewand war nicht verschmutzt und er sah aus wie in dem Augenblick, als er ihn an dem sonderbaren Ort in dem heiligen Land verlassen hatte. »Than, du hast wohlgetan. Dein Stamm ist befreit, ohne dass es Opfer gab«, sprach Sem. »Nicht dein Auftrag hat mich dazu gebracht«, sagte Than. »Ich weiß. Aber es war notwendig, damit du den nächsten Auftrag vollbringen kannst.« Than verstand wieder kein Wort. »Die Weisheit der Ahnen, die dich trägt, möchte ich nicht in Frage stellen«, begann Than vorsichtig, »aber ich brauche deine Aufträge nicht. Unser Stamm braucht ein neues Zuhause, neue Stärke, eine neue geistliche Führung und«, hier machte Than eine kleine Pause und rang nach den richtigen Worten, »irgendetwas, damit so etwas wie im Sommerlager nie mehr passieren kann.« Sem nickte. »Ich weiß.« »Unser Stamm sollte sich nicht mehr in kleine Trupps aufteilen müssen, was uns angreifbar macht. Wir sollten nicht mehr den Herden hinterherziehen müssen. Wir sollten nur noch ein Lager haben. Kein Sommer- und Winterlager mehr. Nur noch ein einziges Zuhause«, formulierte Than seine Sorgen zum ersten Mal. 286
»Du wirst ein Dorf gründen. Dies ist mein zweiter Auftrag an dich«, sprach Sem. »Ein Dorf?«, fragte Than unsicher. »Ein Lager für Sommer und Winter. Ein fest ausgebautes Lager mit großen Vorratskammern«, lockte Sem. »Wie sollen die Herden zu uns kommen, wenn wir ihnen nicht mehr nachziehen?«, wunderte sich Than, dem die Situation hier im Vollmondlicht am großen Fluss, bedroht von Wolfsmenschen, ziemlich irreal vorkam. »Sie werden kommen.« Ungläubig schüttelte Than den Kopf. »Wo soll dieses Dorf sein?«, fragte er, dem das Gespräch sehr unwirklich vorkam. »Wenn der Mond sich erneuert«, antwortete Sem vielsagend. »Dann erreichen wir das Winterlager«, erklärte Than. »Ja. Das ist dein Weg.« »Das Winterlager ist unser Ziel.« Than glaubte nicht, dass Sem ihn verstand. »Dieses Ziel ist dein Weg.« »Was?« Kopfschütteln. »Alles Weitere wird sich finden. Vertraue dir.« Sems Augen lächelten. »Wem?« »Dir selbst und deinen Fähigkeiten. Gehe, setze deinen Traum in die Tat um«, forderte Sem ihn auf. Dabei legte er väterlich aufmunternd seine Hand auf Thans Schulter. »Was soll ich tun? Kannst du uns nicht richtig helfen?«, bat Than. »Es ist alles in Ordnung. Vertraue dir«, sagte Sem. »Überquert jetzt den Fluss. Es ist Zeit.« »Aber …«, setzte Than an. 287
»Nein. Denke nicht daran, was ich für euch tun kann. Denke nur daran, deinen Stamm weiterzuführen. Weiter als vom Sommerlager zum Winterlager.« »Weiter?« »Deine Reaktion auf Jartens Gefühle zeigte, dass du der Älteste deines Stammes geworden bist«, sagte Sem. Than verwunderte es mittlerweile nicht mehr, dass der Unbekannte davon wusste. »Ältester? Nein, ich bin nur der, der das Beste für seinen Stamm will«, erklärte Than, der immer noch glaubte, Sem verstünde ihn nicht. »Du bist der, dem der Stamm vertraut. Selbst Jarten hat das gemerkt. Gehe jetzt.« »Sehe ich dich wieder?«, fragte Than. »Bis zu deinem Traum ist es noch ein langer Weg. Ich bin da«, sagte Sem in seiner geheimnisvollen Art. Than ging zurück zu den Schlafenden. Doch nicht alle schliefen. Treu hielten Henan, Willa und Jarten Wache. Kurze Absprache. Im Osten hellte sich leicht der Morgenhimmel. Es ging weiter. Wieder trottete jeder vor sich hin. Mal war Than vorne bei den Ersten, mal war er hinten, damit niemand zurückblieb. Als er wieder die hintereinander Stapfenden überholte, hakte eine junge Frau sich bei ihm ein. Es war Mara. »Was gibt es, Mara?«, fragte Than überrascht. »Du bist ja gar nicht Ta’ar?« Beinahe erschrocken zog sie ihren Arm zurück. Sie schien wieder klarer im Kopf zu werden. Im Dunkeln nur den Rücken der vor ihr laufenden Frauen und Kinder sehend, dachte sie wohl, die Wolfsmenschen seien bereits wieder aufgebrochen. »Nein«, versuchte er sie zu beruhigen. »Ich bin Than, wir sind auf dem Weg ins Winterlager. Die Wolfsmenschen sind weit
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hinter uns.« Überraschend für ihn war, dass sie dadurch nicht ruhiger wurde, sondern erschrak. »Was?«, schrie Mara fast und blieb abrupt stehen. Die Nachfolgenden mussten, um nicht mit ihr zusammenzustoßen, reaktionsschnell um beide herumgehen. Bis auf Than-Ja. Sie blieb stehen und nahm die überraschte Frau am Arm. Versuchte auf sie einzureden. Mit dem anderen Arm schob Than-Ja ihren Gefährten weg. Than konnte nicht begreifen, dass Mara bereits solche Gefühle Ta’ar gegenüber bereits entwickelt hatte. Wie konnte das nur sein? Langsam ging er nach hinten, wo Henan den Zug absicherte. Falls Than-Ja keinen Erfolg haben sollte, würde er selbst mit ihr strenger sprechen müssen. Müde Gesichter zogen an ihm vorbei. Mehr automatisch sich bewegend als bewusst voranschreitend. Dann kam Henan. Nach ihm reihte er sich wieder ein. Schweigend trottete er weiter. Der Osthimmel erhellte sich langsam. Grau in grau. Schwere Regenwolken ließen nur mit Widerwillen das Licht der Sonne durch. Dann erreichten sie die Furt. Die ersten liefen, sich am Führungsseil festhaltend, nach drüben. Die anderen folgten in wenigen Metern Abstand. Es ging überraschend flott. Niemand beschwerte sich über nasse Füße. Alle hatten sich ihrem Schicksal ergeben. Als Letzte bestiegen Than und Henan die seichten Fluten. Deutlich war die Strömung zu spüren. Bevor sie jedoch weiter durch das knietiefe Wasser wateten, löste Than noch sorgfältig die Verknotung des Seiles. Sie wollten so wenig Spuren zurücklassen wie möglich. Henan wartete, während Than die langen verknoteten Lederriemen zwischen Hand und Ellbogen aufrollte. Ohne Zwischenfälle erreichten auch sie das andere Ufer. Die Böschung hinauf. Than sah, dass der Stamm schon weitergewandert war. Mit schnellen Schritten erreichten sie 289
wieder den Anschluss. Dort übergab er das nasse Seil Henan und bahnte sich neben der Fährte wieder einen Pfad nach vorne. Tapfer nahmen seine Brüder und Schwestern des Stammes diese Strapazen auf sich. Als er Than-Ja und Mara passierte, bemerkte er, dass die junge Frau sich wohl widerwillig fügte. Verstehen konnte Than ihr Verhalten aber trotzdem nicht. Ein kurzer Blick Than-Jas sagte ihm, dass er weitergehen und nicht bei ihnen verweilen solle. Dies verstand und respektierte er. Mit dem Speer über der Schulter lief Than weiter bis zur Spitze der Karawane. Dort bahnten Jarten und Willa einen Pfad durch das hohe Gras, das in den Niederungen um den breiten Fluss wuchs. Wohlwollend registrierte Than, dass der Schwenk nach Süden bereits erfolgt war. Man musste das Gewässer jetzt verlassen, sonst kämen sie viel zu weit nach Osten. Selbst die Gegend, in der sie sich jetzt befanden, war unbekannt für ihren Stamm. Ihre Wanderrouten zogen sich weiter westlich entlang. Nach Thans Berechnungen erreichten sie aber auch von hier aus das Winterlager, wenn sie vorerst nach Süden gingen. Später konnte dann, je nach Gelände, entschieden werden, ob noch eine Korrektur des Pfades nach Westen notwendig war. Es war jetzt so hell geworden, dass man die durch Wiesen und Buschinseln geprägte Landschaft überschauen konnte. »Jetzt ist es so weit!«, murmelte Than seinen zwei Gefährten zu. »Was ist so weit?«, fragte Jarten. Than wusste, dass er mit den geheimen Zaubermitteln gar nicht vertraut war. »Jetzt lässt der Rausch des Dämonenschlafes nach. Die Wolfsmenschen erwachen«, antwortete Than. »Die sind aber viel schneller als wir!«, rief Jarten aus. Willa wirkte beunruhigt.
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»Nicht so laut, mein Freund«, mahnte Than. »Die anderen müssen nicht nervös werden. Wenn die Sonne ihren höchsten Stand verlässt, werden sie uns erreichen. Gegen Mittag werden wir uns einen Platz zur Verteidigung suchen.« Jarten schaute nervös zu der Stelle, an der die Sonne sein musste. »Wo ist die Sonne? Wo ist Mittag?« »Jarten, mein treuer Freund. Wir haben es bis hierher geschafft. Wir schaffen es auch weiter«, versuchte er ihn zu beruhigen. »Und wenn nur diese Wolken, die die Sonne verdecken, unser Problem sind, dann wäre es gut.« »Wir haben bessere Waffen«, bemerkte Willa kurz und bündig. »Richtig. Habt ihr Bögen und Pfeile in ihrem Lager gesehen?«, fragte Than. »Ich nicht.« »Ich auch nicht«, sagte Willa. »Ich auch nicht«, ergänzte Jarten. »Aber ihre Speere sind kurz und schlank. Mit der Speerschleuder wird diese Schar von Kriegern uns besiegen können«, gab er weiter zu bedenken. »Könnte, nicht wird«, verbesserte Than in ruhigem Ton. »Unsere Bögen schleudern die Pfeile weiter, und sie haben mehr Wucht«, mischte sich Willa wieder ein. »Ob das reicht?«, gab Jarten zu bedenken. »Auf jeden Fall haben wir noch nicht verloren«, fasste Than zusammen. »Willa hat nicht vor, sich besiegen zu lassen«, sagte Willa streng und schlug sich auf die Brust. Dann beschleunigte er seinen Schritt ein wenig, um zu zeigen, dass er nicht mehr über dieses Thema sprechen wollte. Der Vormittag war schon vorangeschritten. Der Stamm war daran gewöhnt, lange Strecken zu laufen. Seit Generationen liefen sie. Folgten den großen Herden. Gingen viele hundert 291
Kilometer zum Sommerlager. Folgten den Herden wieder nach Süden. Überwinterten im Winterlager, das etwas fester gebaut war. Aber heute war eine Ruhepause mehr als notwendig. Jeder Schritt quälte. Zuweilen drohte sich die wandernde Linie zu weit auseinanderzuziehen. Dann wurden Willa und Jarten vorne wieder etwas langsamer. Henan drängte von hinten zur Eile. Er befürchtete, dass die Wolfsmenschen sie bald erreichen würden. Je weiter sie kämen, desto besser für sie. Am liebsten hätte er alle noch einmal zu einem schnelleren Schritt angetrieben. Aber es half nichts. Sehr bald würden sie einen Lagerplatz aufschlagen müssen. Rechts von ihnen erschien ein weites Mittelgebirge, das der Stamm eher von seiner westlichen Seite, bei ihren Zügen gen Norden, kannte. Vorne machte zur selben Zeit Than einen geeigneten Platz aus. Felsen, Findlingsgesteine bauten sich vor ihnen auf. Mehrere, übermannshoch. Das sollte ihre Zuflucht sein. Hier würden sie die Wolfsmenschen erwarten. Die schmalen Nischen zwischen den einsamen Felsen ließen sich mit Pfeil und Bogen gut verteidigen. Than musste seine Gefährten nicht darauf aufmerksam machen. Sie hatten den auffälligen, trutzigen Ort auch sofort entdeckt. In wenigen Minuten würden sie ihn erreichen. Da kam Henans Warnruf. Die Wolfsmenschen waren schon da. Viel schneller als gedacht. Automatisch, nach einem unsichtbaren Generalstabsplan, bildete der Stamm einen Kreis. Die Kinder in der Mitte. Darum herum die Frauen mit den erbeuteten Speeren. Die vier Jäger standen außen. Mit gespannten Bögen. Weitere im Köcher in Griffweite. Im Halbkreis umfassten die Männer frontseitig die Gruppe. Jederzeit bereit, die Position zu verändern, um zu verhindern, 292
dass der Feind ihnen in den Rücken fiel. Sie standen so weit als möglich auseinander, um so auf größerer Breite die Ihren verteidigen zu können. Vor sich die großen Rückentragen als Schild. Die Bögen waren beinahe so lang, wie ein Jäger groß war. Die ausgeklügelte Pfeilkonstruktion mit Federn zu Stabilisierung des Fluges und sieben Zentimeter langen, rasiermesserscharfen Feuersteinspitzen wurde durch die Kraft der Sehne derart beschleunigt, dass sie die lederartigen Häute vieler Großtiere wie Butter zerschnitt. Diese Waffen standen nun eineinhalb Dutzend bärenstarken Männern mit Wolfsmaske und langen Speeren gegenüber. Than hörte hinter sich ein Kind wimmern. Er drehte sich nicht um. Der Feind kam immer näher. Er kam im Gänsemarsch, veränderte jedoch jetzt seine Ordnung und breitete sich nach rechts und links aus. In diesem Augenblick entließ Than seinen Pfeil. Ungezielt. Grobe Richtung. Das sirrende Geräusch ließ alle aufhorchen. Freund wie Feind. Der gefährlichste Zeitpunkt der Befreiung war da. Wenige Meter vor den Angreifern bohrte sich der Pfeil in den Boden. Schlagartig stoppte man dort seinen Schritt. Einer der Wolfsmenschen lachte, als wolle er verhöhnen, dass niemand getroffen wurde. Aber die anderen begriffen: Hier wurde die Grenzlinie festgelegt, die zu überschreiten gut zu überlegen war. Vorsichtig ging man dort sogar einige Schritte zurück. Der Lacher achtete nicht gleich darauf und stand plötzlich alleine zu weit vorne. Als er seine Kameraden dann hinter sich stehen sah, sprang er auf der Stelle zurück, ohne dass ihm gleich bewusst wurde, warum. Die Wolfsmenschen gingen in die Knie. Zu unübersichtlich war die Lage geworden. Ein einfacher plötzlicher Angriff von hinten hatte nicht den erhofften Erfolg gebracht. Verwirrt analysierten sie die Situation. Sie hatten deutlich mehr Krieger. Trotzdem konnte ein Frontalangriff viele das Leben kosten. Ein 293
geworfener Speer war, einmal geworfen, weg und für den Krieger, der ihn geworfen hatte, nicht mehr erreichbar. Er flog auch nicht so weit wie ein kraftvoll geschossener Pfeil. Um ihre Speere einsetzen zu können, mussten sie näher heran. Diese Gedanken gingen dem Ältesten durch den Kopf. Er suchte händeringend nach einer Lösung. Hilfesuchend blickte er zu seinen Kriegern nach rechts und links. Erwartete Vorschläge. Doch auch die anderen waren sich noch nicht sicher, was sie von dem Ganzen halten sollten. Nach ihrem üblichen Erfahrungsschatz gehörte ihnen der Sieg. Sie waren stärker. Aber hier griff ihre übliche Taktik, den Gegner einfach aus dem Hinterhalt zu überrennen, nicht. Hier rotteten sich diese schwächlichen Menschen, mit nur wenigen Kriegern, zusammen wie eine Herde Moschusochsen, an denen ein Wolfsrudel scheitern musste. Die Zeit verrann. Than war zum Warten verurteilt und dazu, dass die Wolfsmenschen den ersten Schritt machten. Er und sein Stamm konnten nur reagieren, nicht agieren. Sie belauerten sich. Warteten darauf, dass der andere einen Fehler machte. Than und seine Gefährten standen ruhig da. Sie kannten ihre Möglichkeiten. Die zwei Jungfrauen umarmten Mara. Than-Ja, Ken-Ja und andere hielten entschlossen den Speer vor sich. Andere trösteten weinende Kinder. Da begann es zu regen. Dicke kalte Regentropfen. Zum Weinen kam Schlottern. Zuerst froren die Kinder. Than ließ sich nichts von der Kälte anmerken, die mit dem Regen unter seine Kleidung auf die nackte Haut kroch. Er war vorbereitet, dass dies sein letztes körperliches Gefühl war und er von nun an als Ahne seine Lieben beschützen würde. Er war bereit, für die ihm Anvertrauten hier und jetzt sein Leben zu lassen. Da hielt es der unruhig gewordene Ta’ar von den Wolfsmenschen nicht mehr aus. Er rannte los, näherte sich 294
schnell. Mit wildem Geschrei vollführte er einen Scheinangriff. Than erkannte dies sofort, denn keiner seiner Krieger folgte ihm. Jarten begriff nicht. Sein Pfeil verließ die gespannte Sehne. Zischend bohrte sich das Geschoss in den Oberschenkel des Angreifers. Ein Schrei. Ta’ar ging in die Knie. Versuchte die Wunde mit den Händen zu bedecken. Ein zweiter Schrei. Than erschrak. Er kam von hinten. Aus den eigenen Reihen. Mara hatte sich von ihren zwei jüngeren Schwestern losgerissen. Rannte auf den am Boden Liegenden zu. Stürzte sich verzweifelt auf ihn. Versuchte ihn mit ihrem Körper vor weiteren Pfeilen zu schützen. Umarmte den Wolfsmenschen. Than verstand nichts mehr. Hilflos blickte er zu seiner Gefährtin. Eine vielsagende Bewegung mit den Augenbrauen auf die Frage, die er nicht ausgesprochen hatte. Die Krieger der Wolfsmenschen sprangen gleichzeitig wieder auf ihre Füße, als sie das Geschehen verfolgten. Auch für sie war das Ganze überraschend. Erstaunte Ausrufe. Unruhe war hier wie dort entstanden. Mit geschickten Griffen entfernte Mara den Pfeil, indem sie die Spitze, die so tief im Fleisch steckte, dass sie auf der anderen Seite schon wieder herauskam, ganz durchschob. Dies war für Ta’ar sehr schmerzhaft, aber er schien Mara zu vertrauen und biss die Zähne zusammen. Sobald die scharfe steinerne Spitze ganz außerhalb des Fleisches war, sägte sie mit seinem Jagdmesser den Schaft durch. Nach vorne und hinten zog sie die zwei Teile des Pfeiles. Dabei warf der Verletzte vor Schmerzen den Kopf in den Nacken. Verächtlich, mit einem Wutschrei, warf sie die Stücke des Geschosses hinter sich. Dann machte sie sich an einen Verband mit blutstillender Wundauflage. Ta’ar beobachtete sie dabei, als würde ihm ein Geschenk bereitet. Er konnte seinen Blick, der nun einen sanften Ausdruck angenommen hatte, nicht mehr von ihren besorgten Augen nehmen. 295
Für die Wolfsmenschen war es unerklärlich, was dort geschah. Dennoch wagten sie es nicht, die unsichtbare Grenzlinie zu überschreiten. Die überraschten Ausrufe waren verstummt. Als man sah, was Mara dort leistete, verfolgten die Krieger neugierig und ungläubig das Geschehen. »Mara!«, rief Than. Doch sie beachtete ihn nicht. »Mara!«, rief Than-Ja. Die ganze Aufmerksamkeit der jungen Frau schien auf den Verletzten gerichtet zu sein. Den Mann, dem ihre Blicke seit Tagen verklärt gefolgt waren. »Mara!«, riefen die beiden Jungfrauen von hinten. Sie hatten sich von den Kindern entfernt und mit verwirrtem Blick und offenem Mund ihre ältere Schwester beobachtet. Der kalte Regen nahm zu. Es bildeten sich Pfützen im Gras des weiten Tales zwischen dem Fluss und den Bergen. »Mara!«, riefen die Jungfrauen noch einmal. Zur Antwort wendete diese endlich ihren Kopf und sah die Mädchen mit ernstem und entschlossenem Gesichtsausdruck an. Dann wandte sie sich wieder Ta’ar zu. Sie half ihm auf. Mit ihrer Hilfe humpelte er zurück zu den Wolfskriegern. »Mara, was tust du? Bei den Seelen unserer Ahnen, was tust du?«, schrie Than. Seine Gefährtin war zu ihm herangekommen und legte eine Hand auf seinen Oberarm. Zärtlich wollte sie ihm damit mitteilen, was sie schon erkannt hatte und was nun einfach akzeptiert werden musste. Than sah ungläubig in die vielsagenden Augen seiner Gefährtin, als Mara den Kopf kurz zurückwandte und ausrief: »Ich bin eine Wölfin!« Sorgfältig half sie ihrem zukünftigen Gefährten durch das hohe Gras. Jubel brach unter den Wolfsmenschen aus. Die Speere in die Luft gereckt, hüpften sie auf und ab. 296
In dem Jubel, der den prasselnden Regen übertönte, achtete niemand auf die beiden jüngeren Schwestern. Weinend schrien sie sich die Seele aus dem Leib. Sich aneinanderklammernd, gaben sie den verzweifelten Gefühlen Ausdruck. Der Jubel wandelte sich in hämisches, triumphierendes Lachen. Hinter Than wurde es ruhig. Keiner, nicht einmal die zwei jungen Frauen, ließ sich hören. Sehnsüchtig sahen die beiden ihrer älteren Schwester nach, die sich nach dem Tod der Mutter bei dem Überfall der Wolfsmenschen mütterlich um sie gekümmert hatte. Es war, als risse ihnen jemand das Herz heraus. »Was will uns jetzt noch aufhalten!«, rief der Älteste Than zu. »Gebt auf oder seid des Todes.« Than antwortete nicht. Jarten, Henan und Willa blickten unsicher auf ihren Freund. »Eine von euch haben wir schon. Worauf wartet ihr noch?«, brüllte er weiter. Da drängelte sich Ulris zum Ältesten. Nur zu gut erinnerte er sich an das kurze und beinahe konspirative Gespräch mit ThanJa. »Bedenke die Zauberkräfte, die sie haben«, riet er. Der Angesprochene wurde nachdenklicher. Dieser seltsame Dämonentanz und der bewusstlose Schlaf waren für ihn unerklärlich. Trotz Siegesgefühl hatte er doch auch Bedenken. »Aber wir brauchen die Frauen«, gab er zurück. »Wir haben eine. Lass es genug sein«, forderte Ulris ihn auf. »Das ist nicht genug. Wir brauchen alle.« Die Stimme des Ältesten wurde lauter. »Erschlagt die schwächlichen Jäger.« Kriegsgeschrei von rechts und links. »Welche Zauberei könnten sie noch haben?«, fragte er gleich darauf unsicher Ulris. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie viel mehr als wir wissen«, gab Ulris zu bedenken. »Sieh doch nur diese Waffen.« 297
»Trotzdem sind sie die Schwächeren«, gab der Älteste ärgerlich zurück. »Wir dürfen diese Fertigkeiten und dieses Wissen nicht erschlagen«, trotzte Ulris. Streng packte der Älteste den Widerworte Gebenden am Kopfschmuck aus Wolfsschädel und Fell: »Zurück auf deinen Platz. Sollen die doch kommen mit ihrem Zauber.« Entsetzte Rufe und Jubel erstickten ein weiteres Streitgespräch. Hand in Hand, aneinander gedrückt, rannten die beiden jungen Frauen zu ihrer Schwester bei den Wolfsmenschen. Als wolle Than die Fliehenden noch greifen, streckte er seine freie Hand nach ihnen aus. Than-Ja zog den Arm ihres Gefährten verständnisvoll wieder zurück. »Ha! Und jetzt der Rest!«, brüllte es von den Wolfsmenschen. »Die Weiber zieht es ja schon zu den wahren Kriegern.« Dann, noch lauter, um den Platzregen zu übertönen, »holt euch den Rest, Wolfskrieger!« Ein Ruck ging durch die Angreifer, als wollten sie losstürmen. Ein Ruck, mehr nicht. Aus den Augenwinkeln sah Than, dass neben Willa plötzlich Ulris stand und seinen Speer entschlossen gegen seinen eigenen Stamm richtete. Willa grinste Than an. Wie ein verletztes Tier schrie der Älteste seine Wut hinaus. In diesem Augenblick knallten die ersten Hagelkörner in die Pfützen. Wasserfontänen spritzten auf. Mit einem Schlag prasselten faustgroße Eiskörner auf die Kontrahenten. Angst breitete sich aus. Man musste sofort Schutz suchen. »Zauberei!«, hörte Than-Ja durch das Chaos rufen. Die strenge Reihe des Gegners löste sich auf. Mara machte sich sofort mit Ta’ar auf, unter einem Baum Schutz zu suchen. Than-Ja grinste ihren Gefährten spitzbübisch an. Ihr war ein Gedanke gekommen. Ohne ein Wort ging sie ein paar Schritte 298
nach vorne. Beide Arme nach oben streckend und eine fantastische Beschwörungsformel singend. Ekstatische Gegenwart mächtiger Geister vorgaukelnd. Panisch flohen die Wolfskrieger. Mara lächelte wissend. Als kein Feind mehr zu sehen war, rannten die schon verloren Geglaubten, so schnell es mit Ausrüstung und Kindern ging, zur nächsten Baumreihe. »Diese Wölfe werden uns nicht mehr jagen«, lächelte Than seiner Gefährtin zu, als sie das schützende Blätterdach erreichten. »Dank meiner geheimnisvollen und mutigen Zauberin.« Than-Ja sog dieses Lob auf. »Ob es Mara und ihren Schwestern gut gehen wird?«, fragte sie besorgt. »Ich bin mir sicher, dass sie umsorgt und verehrt werden«, zerstreute er ihre Sorgen. »Unsere Frauen werden doch mit allen Männern fertig.« »Stimmt«, bestätigte sie. »Es geht ja nur darum, wilde Männer zu zähmen. Was ist das schon?«
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KORSIKA »Auf, du Schlafmütze«, weckte Tristan Alana trotz der derben Worte mit zärtlicher Stimme und sanftem Kuss. »Es ist schon Mittag und wir haben noch viel vor.« Sie schlang ihre Arme um ihn, als er sich auf dem Bett tief über sie beugte, und zog ihn zu sich. »Frühstück?«, fragte sie. »Nur etwas Knäckebrot«, gestand er. »Was?«, beschwerte sie sich, noch immer mit geschlossenen Augen, »und mit so einer miesen Ausstattung im Kühlschrank lockst du eine anspruchsvolle Frau wie mich in dein Bett?« Sie drehte sich gelangweilt zur Seite, ließ ihn dabei aber nicht los. »Wir haben wichtige Termine, da kann man nicht mit einem überladenen Magen den Tag beginnen«, sagte Tristan. »Termine«, sprach Alana mit dem Gesicht im Kissen, »ich habe keine Termine.« »Doch. In spätestens einer Stunde haben wir ein Gespräch mit einem Priester.« »Kann nicht sein. Du hast mich noch gar nicht gefragt«, ließ sich gedämpft aus dem Kissen hören. »Das ist auch erst später auf dem Terminkalender«, sagte Tristan. »Falsche Reihenfolge.« »Richtige Reihenfolge, aber anderes Thema.« »So lockst du mich nie aus dem Bett.« Die Stimme aus dem Kissen wurde immer leiser. »Dann um vierzehn Uhr haben wir einen Dienstgang am Strand von Korsika«, sprach Tristan weiter. Alana saß mit einem
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Mal aufrecht, mit aufgerissenen Augen im Bett. Tristan noch immer festhaltend. »Strand? Korsika?« »Korsika«, bestätigte er. Alana fiel trotz der Antwort wieder in ihr Kissen. »Du willst dort bestimmt nur wieder das Eine«, beschwerte sie sich jetzt. Tristans Lippen umspielte ein süffisantes Lächeln. »Was denn?« »Was du immer willst, ob am Strand, in den Bergen, in Bamberg oder sonst wo.« »Und was soll das sein?«, fragte Tristan, der sich im Augenblick immer weniger darunter vorstellen konnte. »Steine klopfen natürlich«, erklärte Alana mit dem Kissen im Gesicht. »Du willst immer nur Steine klopfen.« Jetzt verstand er erst. »Dann verspreche ich, dass ich das heute anders machen werde.« »Glaub ich nicht.« »Doch. Ich lasse das heute mit dem Steineklopfen«, bestätigte er noch einmal. Alana hob ihren Kopf und sah ihn verwirrt an. »Heute«, sagte Tristan, »klopfe ich keine Steine. Heute klopfe ich … dich!« Spaßhaft tat er so, als würde er auf die Stelle schlagen, wo er unter der Decke ihren Po vermutete. Kreischend drehte sie ihn weg und zog Tristan noch näher, damit er keine Bewegungsfreiheit für sein Vorhaben mehr hatte. »Du Gauner«, beschwerte sie sich und begann aus Rache eine Kitzelattacke, die Tristan schlagartig in die Defensive brachte. Er nützte die erste Gelegenheit, sich aus ihrem Griff und dem
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Bett zu winden. Mit den Worten »Frühstück ist fertig« verließ er lachend das Zimmer. Alana ließ sich noch viel Zeit mit dem Aufstehen und dem Badezimmer. Der Anblick Sophias, die sich jetzt in zumindest relativer Sicherheit befand, ließ die Anspannung der achtzehn Stunden von ihr abfallen. Sie genoss das langsame Aufwachen, die heiße Dusche, das Trödeln. Danach folgte ein karges Frühstück. Alana schlürfte nur an einer Tasse Kaffee. Tristans Hunger verlangte nach acht Knäckebroten, dick mit Butter und einem süßen Aufstrich versehen. Trotzdem war er noch hungrig, als sie einen Rucksack mit Mineralwasser, Taschenlampe und allerlei Nützlichem packten. Alana quittierte seine Frage »Willst du denn gar nichts essen?« nur mit einem schnippischen: »Wenn du mich schon in dein Bett lockst, erwarte ich, dass du mich zu einem üppigen Frühstück einlädst. Denke dir mal etwas Schönes aus.« Sein Blick spiegelte die Gedankenschwere einer komplizierten Planung wider. »Ja, ja, überleg mal«, sagte Alana lachend. »Vergiss dabei das Spülen nicht, damit deine Krümel nicht noch lebendig werden«, sagte sie stichelnd und mit einem vielsagenden Blick Richtung Spüle, wo die überalterte Apfelsaftschorle gestanden hatte. »Ich muss noch mal ins Bad.« Und weg war sie. Tristan vervollständigte die Vorbereitungen, und dann waren sie abreisebereit. Kurze Zeit später saß er im Schneidersitz in der Kugel und Alana ihm zugewandt auf seinem Schoß. Zwischen ihnen ihr Rucksack. Auf Wunsch Alanas flogen sie diesmal bedeutend langsamer. Die Strecke zwischen Erlangen und Bamberg legten sie deshalb nicht in drei Sekunden, sondern in etwa drei Minuten zurück. Eigentlich war dies für Alana, die der Kugel noch
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immer nicht traute, auch viel zu schnell. Aber angesichts des Geschehenen unterdrückte sie ihre Bedenken. »Warum nach Bamberg?«, fragte sie. »Wir wollten doch mit Pater Benedikt sprechen«, erinnerte Tristan. »Glaubst du, er ist noch in Bamberg?«, fragte Alana nach. »Stimmt«, sagte er. »Er ist vielleicht schon auf dem Weg nach Rom.« »Oder bei Sophia.« »Das wäre aber nicht so klug«, sagte Tristan. »Warum nicht?«, fragte Alana und sah ihm tief in die Augen, die aufgrund der Sitzposition beinahe näher waren als ihre eigene Nasenspitze. »Das würde möglicherweise nicht unbemerkt bleiben«, gab Tristan zu bedenken. »Man achtet bestimmt auf ihn. Er kann vielleicht immer nur kurz ›wegtauchen‹.« »Mir wäre aber lieber, er wäre in ihrer Nähe«, sagte Alana. Während sie sprachen, kreiste die Kugel mitsamt den Reisenden über den Platz zwischen Neuer Residenz und Dom, an der Alten Hofhaltung vorbei, zur Propstei und wieder zum Domplatz. Besuchergruppen scharten sich um Stadtführer. Mitarbeiter des Doms liefen geschäftig zum Ordinariat. Ab und zu holperte ein Auto über das Kopfsteinpflaster. Die Geräusche der Umgebung drangen ungefiltert an das Ohr der beiden ineinander Verschlungenen in der Kugel. »… der Dom ist somit der größte Schwarzbau der Bamberger Geschichte«, hörte Tristan gerade noch von einer mit einem auffälligen Strohhut bedeckten Stadtführerin. Der provokante Satz lenkte ihn von seinen Überlegungen ab. »Schwarzbau …?«, fragte er überrascht. »Nein, Benedikt!«, zog sie seine abschweifenden Gedanken wieder zurück. 303
»Du hast recht«, fasste sich der abwesende Tristan wieder. »Dann brauchen wir jetzt gar nicht in der Dompropstei zu erscheinen?« »Erscheinen?«, belustigte sich Alana an seiner Wortwahl. »Erscheinen? Klingt schön. Ich würde gern ›erscheinen‹.« Dabei betonte sie das Wort besonders. »Für mich bist du noch immer eine wundersame Erscheinung«, sagte Tristan mit weicher, zärtlicher Stimme und erwiderte ihren nahen, tiefen Blick. »So windest du dich aber nicht aus deiner Verantwortung, mir ein außergewöhnliches Frühstück zu besorgen«, erwiderte sie seinen tiefen Blick mit demselben Tonfall in der Stimme. Tristan merkte, dass er karikiert wurde, und kam wieder zum Thema zurück. »Dann konzentriere ich mich direkt auf Pater Benedikt«, sagte er. »Tu das, aber fliege bitte nicht so schnell.« Dabei genoss sie den Blick nach unten, aus dieser ungewohnten Perspektive. »Einsteigen und Türen schließen«, näselte Tristan und versuchte die Stimme eines Bahnhofsvorstehers durch eine schlechte Lautsprecheranlage zu imitieren. »Vorrrrsicht an der Bahnsteigkante.« Der Flug ging weiter. Sie verließen Bamberg Richtung Süden. Folgten der schnurgeraden Linie des Main-Donau-Kanals. Rechts vor sich sahen sie die Regnitzschleifen und ihre Auen. Links Bahnlinie und Autobahn. »Dann ist er doch schon Richtung Rom unterwegs«, bedauerte Alana. »Das heißt auch, wir sollten schneller werden«, sagte Tristan. »Wir sind zwar schneller als jedes Auto unter uns, aber der Weg nach Rom ist weit.« 304
»Mach schon«, hörte er nur kurz angebunden. Dann fühlte er, wie sie ihren Kopf auf seine Schulter legte. Tristan beschleunigte durch seine Konzentration den Flug. Stieg höher. Die Geschwindigkeit wurde atemberaubend. Die Landschaft unter ihm wischte nur so vorbei. Dann verloren sie wieder an Höhe. Gingen tiefer. Wenige Meter über dem Boden rauschten sie dahin. Mit einem Schlag drangen sie seitlich in einen fahrenden ICE ein. Tristan gab unwillkürlich einen kurzen Schrei von sich. Mehr Überraschung als Angst. Seine Ziele hatten bislang keine hohe Geschwindigkeit gehabt. »Was ist?«, zuckte Alana hoch. »Ach, nichts«, beruhigte Tristan sich wieder. »Pater Benedikt reist wohl in einem ICE.« Sie sahen sich um. Die Großraumkabine war nur bis zur Hälfte besetzt. Fahrgäste schauten aus dem Fenster, genossen die vorbeigleitende Landschaft. Andere saßen in Grüppchen und unterhielten sich. »Siehst du Benedikt?«, fragte Alana. »Nein, du?« »Nein, auch nicht«, antwortete sie. »Aber die Kugel hat uns doch hierher gebracht?« »Schauen wir mal etwas weiter nach vorne«, schlug Tristan vor. »Vielleicht hat mein kleiner Schreck den Flug etwas zu früh beendet.« »Wir fliegen in einem fahrenden Zug«, sagte Alana. »Irgendwie verrückt, oder?« »Absolut.« Langsam glitten sie unmittelbar unter der Decke durch die Kabine. Wechselten den Waggon. Danach folgten kleinere Sechserabteile. »Ich möchte zu Fuß weitersuchen«, sagte Alana. »Ich mag es nicht, wenn ich permanent durch eine Wand fliege.« 305
Tristan fragte sich noch, ob sie gesehen werden könnten, doch einen Augenblick später standen sie im Vorraum zu einem Gang, der an den Abteilen entlangführte. Sogleich machten sie sich auf den Weg. Aber im selben Augenblick, als Tristan die Schiebetür öffnete, sah er, dass ein Schaffner ihnen genau entgegenkam. Sofort schloss er sie wieder. »Was ist?«, fragte Alana, die das nicht mitbekommen hatte. »Hast du eine Fahrkarte?«, fragte Tristan neckisch. Im selben Augenblick sah sie auch den Uniformierten auf sie zukommen. »Was machen wir jetzt nur?«, fragte Alana. »Warst du nie Schüler? Hast du nie deine Fahrkarte vergessen?«, fragte er, wartete aber keine Antwort ab, sondern schob sie in die enge Toilette des ICEs. »Schließt du nicht ab?«, fragte Alana verwundert. »Nein, sonst weiß er ja, dass jemand hier drin ist.« »Dann kann er ja reinkommen«, entgegnete Alana. »Dann bist du weiblich empört und schließt ab.« »Aber dann weiß er ja, dass jemand drin ist?« »Die warten meistens nicht, bis man wieder herauskommt«, berichtete der schulwegerfahrene Tristan. »Früher waren sie schon strenger. Aber heute …« »Heute?«, fragte Alana weiter. »Heute gehen sie einfach vorbei«, sagte Tristan und öffnete die Tür. Lugte hinaus. Ein Blick nach rechts und links. Ein Blick um die Ecke. Die Luft war rein. An der Hand zog er Alana hinter sich aus der Toilette. Langsam schlenderten sie durch den Gang. Ohne Aufregung. Als wären sie auf der Suche nach einem freien Abteil. Schon im dritten wurden sie fündig. Pater Benedikt saß am Fensterplatz und las in einem Buch. Ihm gegenüber schlief ein Reisender. Die anderen Plätze waren leer. 306
Tristan öffnete die Schiebetür zum Abteil. Alana schob ihren Kopf neben seinen und guckte hinein. Sie sprachen Benedikt nicht an. Warteten, bis er reagierte. Das dauerte nicht lange. Irritiert über die geöffnete Tür blickte der Pater auf, erkannte die beiden, stand wortlos auf. Mit einem überprüfenden Blick auf den Schlafenden klappte er sein Brevier zu und kam schnell mit hinaus auf den Gang. »Was macht ihr denn hier?«, fragte er erstaunt. Achtete aber darauf, dass seine Stimme trotzdem gedämpft blieb. Niemand sollte zuhören können. »Hat euch Severino nicht gesagt, dass ihr nach Filitosa müsst. Dort führt die Spur weiter.« »Hat er«, sagte Alana, »aber nur kurz, wir haben den Namen gar nicht richtig verstanden …« »Doch«, widersprach Tristan. »Filitosa an der Südwestküste von Korsika«, und mit einem Seitenblick auf Alana, »weiß doch jeder.« »Du weißt das?«, fragte Alana erstaunt. »Natürlich«, war die Antwort. »Oder sagen wir mal so, ich war heute schon etwas früher wach und hab etwas im Atlas studiert.« Stolz über seine Überraschungsleistung blickte Tristan in die Runde. Aber niemand achtete auf ihn, weil Alana gleich weitererzählte: »Severino ist von den Schergen des gewalttätigen Priesters festgenommen worden.« Betroffen blickten alle zu Boden. »Bruder Iscariot«, sagte Benedikt vor sich hin. »Du kennst ihn?«, rief Alana erstaunt. »Ja, und …«, setzte der Pater gerade an. Da kamen Reisende in den Gang und wollten vorbei. Die drei drängten sich an die Seite und ließen sie passieren. Erst als sie den Waggon verlassen hatten, sprach er weiter. Dabei versuchte er so leise zu sein, dass
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seine Stimme in den Hintergrundgeräuschen des fahrenden Zuges unterging. »Egal«, tat Benedikt jetzt ab. »Lasst ihn meine Sorge sein.« »Was wird aus Bruder Severino?«, fragte Alana sorgenvoll. Pater Benedikt war über die jüngsten Vorkommnisse in Rom noch nicht informiert. Tristan erzählte von ihrer Gefangennahme, wie sie sich selbst befreit hatten und was Smith, der graue Geheimdienstmann, von der Kugel bereits wusste. Schließlich mussten sie leider davon berichten, dass Severino von Iscariots Leuten festgenommen wurde. Ruhig und überlegt hörte sich der Pater den Bericht an. »Darum werde ich mich kümmern«, sagte Benedikt. »Wichtig ist, dass ihr zwei euch um das Symbol auf der kleinen Statue kümmert.« »Severino sagte so schön, man müsse unbedingt dafür sorgen, dass solche Menschen nicht die Wahrheit verwalten dürfen«, sagte Tristan provozierend. Der Pater nickte. »Ihr von der Kirche habt wohl ein kompliziertes Verhältnis zur Wahrheit«, setzte Tristan nach. Benedikt lächelte gelassen. Das provozierte ihn nicht sehr. Er entgegnete: »Wie überall, wo Menschen zusammenarbeiten und voneinander abhängig sind.« »Das klingt, als würden Sie sie verstehen?«, fragte Tristan nach. »Ihre Beweggründe sind für mich nachvollziehbar«, sagte Benedikt ruhig, »ich halte sie allerdings eher für schädlich als nützlich.« »Ich verstehe«, sagte Tristan, »Wahrheit kann gefährlich für Institutionen und Positionen sein.« »Mehr noch«, sagte Benedikt, »sie kann Glauben erschüttern.« 308
»Aber nur wenn der Glaube auf falschen Grundsätzen beruht«, beteiligte sich Alana. »Davor habe ich keine Angst«, antwortete der Pater. »Es mag hier oder da ein Baustein unserer Religion ungerade liegen, aber das Haus steht fest. Davon bin ich überzeugt.« »Was ist, wenn sich bei unseren Forschungen der Mensch Jesus nur als Mensch Jesus herausstellt und nicht als Christus? Alles nur ein Irrtum ist«, forschte Tristan in Benedikts Gedanken weiter. »Christus ist kein Irrtum!«, sagte der Pater ruhig und selbstsicher. Diese Fragen Tristans brachten ihn nicht aus dem Gleichgewicht. »Christus ist der Christus, wenn er dein Herz zum Leuchten bringt. Ist ein weiterer Beweis nötig?« Benedikts strahlender Blick ruhte auf dem Gesicht des ungläubigen Tristan. »Das ist aber sehr mystisch ausgedrückt«, gab dieser Ungläubige zu bedenken. »Und nicht anders«, lächelte der Pater weiter. »Es ist wunderbar, euch beim Philosophieren zuzuhören«, mischte sich Alana ein. »Aber wir sind unter Zeitdruck. Unbekannte verfolgen uns. Severino ist verschleppt. Sophia kann nicht ewig in dem Zeltlager bleiben, und wir werden hier vielleicht von irgendwelchen Leuten belauscht und beobachtet.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Ihr habt Nerven!« »Tristan braucht einfach etwas Zeit, bis sein Glaube entfacht«, sagte Benedikt. »Die Glut ist schon vorhanden.« »Glaube ich nicht«, bockte Tristan. »Macht nichts«, entgegnete Benedikt. »Könnt ihr nicht weitermachen, wenn alles etwas friedlicher um uns herum ist?«, bat Alana. Tristan nickte.
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»Versucht in Filitosa Père Jaque zu sprechen. Er ist ein alter Studienfreund von mir …«, begann der Pater, aber Tristan unterbrach. »Das muss ja eine illustre Studentengruppe gewesen sein.« »Ja«, lachte Benedikt. »Das waren wir.« Sein Gesicht zeigte, dass in diesem Augenblick einige Erinnerungsbilder vor seinem geistigen Auge vorbeizogen. »Grüßt ihn von mir, und dann soll er euch nicht nur das erzählen, was die Touristen erfahren.« »Benedikt«, sagte Alana. »Ich habe noch eine dringende Bitte an dich.« »Ja, meine Liebe.« »Ich möchte, dass du bei Sophia bleibst.« »Ist das klug?«, gab er zu bedenken. »Ich fühle mich dann sicherer.« Gedankenschwer schaute er zu Boden. »Ich bin nicht sicher, ob ich überwacht werde.« »Aber irgendwie hast du das auch geschafft, als du sie bei meinen Eltern abgeholt hast.« »Das war ein kleiner Trick, der nicht immer gelingen muss.« Tristan mischte sich neugierig ein: »Wie eigentlich?« »Das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt wird«, antwortete Benedikt. »Bitte, Benedikt«, drängte Alana. »Gut«, willigte er ein. »Aber ihr zwei konzentriert euch voll und ganz auf eure Aufgabe.« Alana zog sich an seiner Kutte nach oben und küsste ihn auf die Wange. »Sollen wir dich irgendwie mit der Kugel vor einem eventuellen Verfolger wegzaubern?«, schlug Tristan vor. »Ich schaffe das auch so. Wir fahren gleich in Nürnberg ein. Da werde ich aussteigen«, sagte der Pater. 310
»Was wird mit Severino?«, fragte Alana besorgt. »Mit ihm soll euch gedroht werden«, sagte Benedikt. »Es ist sicher für ihn jetzt unbequem, aber nicht wirklich gefährlich. Iscariot braucht ihn noch als Druckmittel. Um ihn kümmern wir uns später. Eure Forschung ist jetzt erst einmal wichtiger.« Die Bremsen des schnell fahrenden ICE griffen. Das Häusermeer zeigte den nahenden Nürnberger Bahnhof. In diesem Augenblick kam durch die hintere Tür der Zugbegleiter. Tristan sah ihn als Erster und schob Benedikt und Alana in die andere Richtung. Als der Schaffner am Pater vorbeigehen wollte, trat dieser in den jetzt leeren Waschraum. Wie um zu beweisen, dass sonst niemand darin sei, wusch er sich bei offener Türe die Hände. Alana und Tristan verließen währenddessen den ICE und sahen nur noch das labyrinthartige Schienengewirr des beginnenden Bahnhofs mit seinen Weichen und Kreuzungen unter sich. Flugrichtung Süden. »Nimmt man auf Korsika Euro?«, fragte Alana. »Warum fragst du?«, wunderte sich Tristan. »Du schuldest mir noch ein Frühstück.« »Kann ich es auch gegen eine Mittagessen-Schuld umwandeln?« »Wenn es gut ist, jederzeit«, antwortete Alana. Nach den Alpen breitete sich viele Kilometer unter ihnen das blaue Meer aus. Es folgte ein atemberaubender Sturzflug zur verschlungenen Küste Korsikas hinunter. Je näher sie kamen, desto mehr erkannte Alana, dass das Ziel einige Kilometer im Landesinneren lag. Wellige Hügel, mit einer Art Buschwald bedeckt, stiegen von der Küste bis hinauf in alpine Höhen von über zweitausendfünfhundert Metern. Schon in der Kugel
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nahmen die Reisenden den intensiven Geruch von Lavendel, Wacholder und Rosmarin wahr. Er kitzelte regelrecht die Nase. Einen Augenblick später standen beide Hand in Hand unter einem alten schattigen Baum. Die gut fünfundzwanzig Meter hohe Kastanie trug schwer an ihren stacheligen Früchten. Der schwere Duft, die mediterrane Luft inmitten freier Natur war ein Erlebnis einer solchen Intensität, dass Tristan und Alana die Worte fehlten. Sie standen da und schauten, rochen, horchten. »Willkommen auf der Insel der Seeräuber und Korsaren«, sagte Tristan. Da schlug plötzlich und unerwartet etwas neben ihnen auf den Boden. Ein dumpfer Schlag. Beide zuckten zusammen. Schauten nach links und fanden sofort den Störenfried. Eine reife Kastanienfrucht war zu Boden gefallen. Ein Riss zeigte das schmackhafte Innere. »Esskastanien!«, rief Alana erfreut aus. Sofort hob sie sie auf. »Sieh nur, hier überall liegen Esskastanien.« Sie gab die Frucht Tristan. Der rollte zaghaft die stachelige Kugel in seiner Hand hin und her. Alana schmunzelte über seinen skeptischen Gesichtsausdruck. Tristan roch daran. »Hast du noch keine Esskastanie gesehen?«, fragte Alana. »Nein«, gab er zögerlich zur Antwort. Alana nahm sie ihm wieder ab. Mit einem geschickten Druck des Daumens hebelte sie die eigentliche Kastanie heraus. Hielt sie Tristan wieder hin. Der nahm sie, schaute sie wieder ungläubig an. Dann nahm er sie zwischen die Zähne und versuchte etwas abzubeißen. »Nein, nicht!«, rief Alana. Sofort spuckte er die Frucht aus. »Ich denke, sie ist essbar«, beschwerte sich Tristan und spuckte noch weiter, als wolle er die Reste loswerden. »Aber doch nur geröstet oder gekocht.«
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»Ach so«, sagte Tristan, noch immer verunsichert über seinen Probierversuch. »Dann sollte sie eigentlich Röst- oder Kochkastanie heißen.« In diesem Augenblick fiel die nächste Kastanie in unmittelbarer Nähe auf den Boden. »Jetzt aber schnell hier weg«, forderte Tristan auf. »Sonst werden daraus noch Kopfnusskastanien.« Mit ein paar schnellen Schritten verließen sie das lauschige Plätzchen. Vor ihnen verlief eine kleine Straße. Kurvenreich wand sie sich den Berg hinauf bis an diese Stelle. Weiter unten trieb ein Ziegenhirte seine Herde entlang. Er schien es nicht eilig damit zu haben, die Straße zu überqueren. »Ich glaube, wir müssen da lang«, sagte Tristan und zeigte in die andere Richtung. »Ach, wir sind noch gar nicht da?«, fragte Alana, Enttäuschung spielend. »Aber gleich«, munterte er sie auf. »Sag mal«, lenkte er ab, »nach was riecht es denn hier?« Alana blieb auf der Stelle stehen, stemmte die Fäuste in die Seiten: »Das kann ja doch bloß ein Mann fragen.« Tristan schaute sie irritiert an. »Da erschlägt uns der Lavendel, der um uns herum tiefblau blüht, mit seinem Duft, und du fragst, was hier so riecht. Ts, ts.« »Lavendel?«, fragte Tristan unschuldig. »Der Badezusatz?« »Also entweder riechen die Männer schlecht, oder sie riechen schlecht.« Dann schaute sie plötzlich spöttisch. »Da bin ich aber froh, dass ich einen von der ersten Sorte habe.« Genüsslich lächelnd hakte sie ihren Arm bei ihm ein und ging weiter. Er ließ sich halb ziehen. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er nichts verstand. »Welche Sorte?«, fragte er verwirrt.
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»Die richtige«, fasste sie kurz zusammen. Obwohl Tristan nicht genau wusste, wie er das verstehen sollte, nahm er sich vor, dass er das richtig verstanden hatte. Sein Gesicht jedenfalls spiegelte beide Gedanken wider. Ein paar hundert Meter vor ihnen zeigten sich Häuser. Der südländische Baustil fügte sich harmonisch in die Landschaft ein. Beim Gehen zeigten sich an verschiedenen Stellen der hügeligen Landschaft versteckte Gehöfte. Tristan vermutete, dass hier viel Landwirtschaft betrieben wurde. »Schau doch mal«, sagte Alana. »Den Bäumen dort mit dem dunklen Stamm scheint die Rinde abgeschält worden zu sein. Könnte das Kork sein?« »Könnte sein«, vermutete Tristan. »Aber eigentlich kenne ich mich nur mit Geologie aus.« »Dann erzähle doch etwas von der Geologie«, schlug Alana vor. »Aber bitte spannend und romantisch.« Tristan lachte. »Ich versuche es«, begann er. »Korsika ist die viertgrößte Insel im Mittelmeer. In nur einer Entfernung von vierundzwanzig Kilometern vom Meer erreicht das Land seine höchste Erhebung mit etwa zweitausendsiebenhundert Metern. Geologisch ist die Insel zweigeteilt. Westlich finden sich Granit und Porphyr als Grundgesteine, im Osten Schiefer, der durch die Auffaltung der Alpen sozusagen mitgefaltet wurde. Die östlichen Erhebungen erinnern in ihrem Typus mehr an Mittelgebirge, die westlichen mehr an das Hochgebirge.« Tristan schaute Alana an, um zu sehen, ob er sie mit seinem Vortrag fesselte. »Interessant«, bewertete sie mit kritischem Blick, »du lenkst mich aber von meinem Wunsch nach einem üppigen Frühstück damit nicht ab.« »Der Hauptkamm des westlichen hohen Gebirges ist eine Wasserscheide und lässt das Wasser durch wildromantische
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Täler und Schluchten zur buchtenreichen Küste fließen. Das gab dem Land den Beinamen ›Gebirge im Meer‹.« »›Gebirge im Meer‹ gefällt mir«, sagte Alana. »Im Süden zeigen sich Kalkfelsen wie die von Bonifacio, die wild von Ebbe und Flut und den Stürmen gezeichnet sind. Die schroffen Felsentürme von Aiguilles de Bavella werden auch korsische Dolomiten genannt.« »Da sollten wir mal spazieren gehen«, sagte Alana, der es gelang, die Schönheit hinter der sachlichen Beschreibung Tristans herauszuhören. »Aber nur gut gefrühstückt.« Tristan merkte sofort, dass er sie nicht sehr ablenken konnte. Zwischenzeitlich erreichten sie die ersten Häuser. Nur wenige. Das größte schien ein Museum zu sein. »Ist das der ganze Ort?«, fragte Alana enttäuscht. »Ich sehe gar kein Café.« Sie gingen an dem Museum vorbei um eine Kurve und bemerkten, dass das Dorf hier schon wieder zu Ende war. Rechts erstreckte sich ein Olivenhain. Sie kehrten wieder um. Liefen zurück zum Museum. Zwischen diesem und einem Anwesen gegenüber schien das Zentrum des Dorfes zu sein. »Wo fragen wir nach Père Jaque?«, fragte Tristan. Er stand ziemlich hilflos da. Alana zuckte mit den Schultern. »Schauen wir uns mal das Museum an«, schlug Alana vor. Sie ging zu einer Schautafel, in der die Sehenswürdigkeiten beschrieben wurden. »Sieh mal!«, rief sie Tristan. »Hier gibt es Statuenmenhire. Hier sind wir richtig.« »Aber dein Frühstück …?«, sagte er. »Wenn wir schon mal hier sind …, erst Menhire, dann Beschwerden durch die hungrige Alana, dann Frühstück.«
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Beide sahen sich die mehrsprachige Schautafel noch einmal an. »Sieh nur, diese Anlage gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Sie stammt aus dem Neolithikum.« Alana begeisterte sich. »Nur vier Euro«, kommentierte Tristan, denn das war für ihn als Nichtarchäologen das Erste, was er aus der historischen Beschreibung spontan herauslas. Alana zog ihn in das Gebäude, während er noch die Karte der umfangreichen Kultstätte studierte. »Wir müssen …«, fing er an. Alana unterbrach ihn: »… zur Kasse.« Eine freundliche Korsin begrüßte sie im typischen korsischen Dialekt. Tristan verstand kein Wort. Trotzdem antwortete er nicht nur mit einem freundlichen Nicken, sondern auch mit seinem eingerosteten Schulfranzösisch. Im breitesten Fränkisch grüßte er: »Bong Schuhr.« Die Kassiererin riss zwei Eintrittskarten ab und legte sie vor sich in die Wechselgeldschale. »Sill wu plää …«, versuchte er es weiter, aber da drängelte sich Alana nach vorne und übernahm das Gespräch. Verblüfft über ihre Sprachkenntnisse, verfolgte er die Konversation. Tristan verstand kein Wort. Aber er musste feststellen, dass die Stimme seiner Begleiterin auch in Französisch einen ganz besonderen Reiz auf ihn ausübte. Deutlich fielen ihm die Unterschiede in Betonung und Klangfarbe der korsischen Gesprächspartnerin auf. »Acht Euro«, sagte Alana dann so unvermittelt zu Tristan, dass dieser erst gar nicht reagierte. Noch immer hallten in seinen Ohren die französischen Worte. »Acht Euro«, wiederholte sie, »und, Père Jaque ist hier.«
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Aus seinen Taschen kramte Tristan die Münzen hervor. Als hätte er nicht richtig verstanden, fragte er noch einmal: »Aber wir haben gar keine Kirche in dem kleinen Filitosa gesehen.« Dabei schob er die Münzen hinüber und nahm die Eintrittskarten. »Er scheint hier zu sein«, betonte Alana noch einmal. »Hier in der Kultstätte.« Ungläubig folgte er Alana durch das Museum. Rechts und links standen metergroße Menhire mit deutlichem Gesicht. Einige mit Schwertern. Andere nur mit angedeuteten Zeichnungen für Gesicht und Kleidung. Aber Alana blieb nicht stehen. Sie lief weiter. Verließ das Museum wieder. Unter großen Kastanien führte ein Wanderweg vom Haus weg. Da bemerkte Tristan, dass hier eine Art Freilichtmuseum begann. Nach ein paar Metern passierten sie wieder eine jahrtausendealte steinerne Figur. Hinter einem Bächlein erhob sich zur Rechten ein Hügel. Bei näherem Betrachten stellte er sich als umfangreiche, teils mit Steinen befestigte Kultstätte heraus. »Dann ist das hier so eine Art steinzeitliche Kirche?«, fragte Tristan, der mit jedem Schritt ehrfürchtiger wurde. »Eine Kultstätte«, erklärte Alana, »die in der Jungsteinzeit erstmals erbaut wurde und dann in mehreren Abschnitten erweitert und verändert wurde. Bis hin zur römischen Epoche. Sozusagen von der Jungsteinzeit bis zur Eisenzeit.« »Woher weißt du das so plötzlich«, wunderte sich Tristan. »Ich dachte, der Bereich hier ist dir nicht so vertraut.« »Es ist immer von Vorteil«, lächelte sie spitzbübisch, »wenn man lesen kann. Und es dann auch tut, wenn große Beschreibungstafeln in mehreren Sprachen angebracht sind.« Sie folgten einem Pfad. Die Kultstätte war von Büschen und Bäumen eingerahmt. Als sie den nördlichen Rand erreichten, 317
bogen sie zum Hauptaufgang des Weges. Vor ein paar Büschen befand sich eine weitere Skulptur. Davor kniete ein mit einer braunen Kutte bekleideter Mönch. Den Kopf nach vorne gebeugt. Von der Richtung, aus der sich Alana und Tristan näherten, sah es so aus, als bete er davor. Für Tristan sah das bizarr aus. Alana hingegen ging flotten Schrittes direkt auf den Mann zu. Der Mönch schien in sich versunken zu sein und nahm die Ankömmlinge nicht wahr. »Père Jaque?«, fragte Alana vorsichtig, als wolle sie ihn ansprechen, aber nicht stören. »Oui?«, sagte der Angesprochene. »Pater Benedikt schickt uns …«, wollte sie gerade weitersprechen, aber bei der Nennung dieses Namens sprang der Père auf und streckte Alana freudig die Hand entgegen. »Mademoiselle Alana! Willkommen in Filitosa«, grüßte der Pater. »Willkommen, Monsieur Tristan. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise?« »Hatten wir«, antwortete Alana und blickte dabei mit einem Augenzwinkern auf Tristan. »Nur für ein Frühstück hat es noch nicht gereicht«, sagte Tristan. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie frage, aber was machen Sie hier?«, und schaute dabei irritiert auf den Menhir mit den schemenhaften, verwitterten Gesichtszügen. »Ich forsche hier, hat Ihnen das Benedikt nicht gesagt?«, erklärte der Père. »Heute erfasse ich Menhire aus einer bestimmten Epoche …« »Forschen?«, wunderte sich Tristan. »Aber natürlich«, lächelte Jaque. »Auch Priester forschen. Denken Sie an die Vererbungslehre, die verdanken wir einem Augustinermönch, die Urknalltheorie einem Priester, und die größte Insektensammlung wurde von einem Benediktiner 318
zusammengetragen. Aber lassen Sie uns doch bei einem Picknick in diesem gottgesegneten Ort weitersprechen.« Schlag auf Schlag flogen die Argumente an Tristan vorbei. Er kam kaum noch mit. »Ja«, sagte er lediglich. »Aber«, versuchte er einen tiefgründigen Einwand zu formulieren, »wir haben nichts für ein Picknick dabei.« Jaque lachte. »Aber ich«, sagte er. »Es ist zwar kein deutsches Frühstück«, dabei sah er Alana mitfühlend an, »aber vielleicht können Sie sich für Fladenbrot, Oliven, etwas Schafskäse und Rotwein erwärmen. Ich hole nur schnell meine Fotoausrüstung.« Und er verschwand hinter Büschen und Zweigen.
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HÖHLENWANDERUNG »Huhu! Ein schwarzer Mann!« Sophia entdeckte den Neuankömmling als Erste. Er war hinter ihnen eingetreten und gegen das Licht des Höhleneingangs nur schemenhaft erkennbar. Ihr lauter Ruf alarmierte die zwei anderen Kinder. Erschreckt drehten sie sich um. Starrten auf den schwarzen Schatten, der im Eingang der Witzenhöhle stand. Bei dem sonnendurchfluteten Hintergrund konnten die Geschwister nicht erkennen, um wen es sich handelte. Aber sie erkannte ihn sofort. Schwester Epiphania lächelte. Dieser Umriss hatte sich ihr eingeprägt. Nie hätte sie ihn vergessen. Sie lächelte. Die Nonne war mit den Kindern zu einer Höhlentour aufgebrochen. Muggendorf, Oswaldhöhle, Wanderweg über die typischen Kalkfelsen, im Wald hinunter zur Witzenhöhle. Für die Kinder war dieser Ausflug ein einziges Abenteuer. »Der Pater Benedikt ist da«, rief Sophia ihren neuen Freunden zu. Lief auf ihn zu. »Langsam«, warnte Benedikt, »damit du nicht stolperst.« Der Boden war hier alles andere als eben. Viele Steine, kleine und große Felsen erschwerten das sichere Gehen. Nur unwesentlich verringerte das Mädchen seine Geschwindigkeit, blickte jetzt jedoch während des Laufens starr auf den Boden, um nicht zu stürzen. Wenige Sekunden später hob der Pater Sophia hoch, und sie begrüßten sich stürmisch. »Du bist mir der liebste schwarze Mann in der ganzen Höhle«, freute sie sich. »Huhu!« »Huhu!«, antwortete Benedikt und klopfte ihr auf den roten Helm. »Ist heute Höhlenwandertag?«
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»Ja«, sagte Sophia, nahm ihn an der Hand und führte ihn zu den anderen. »Niemand weiß so viel über die Höhlen hier wie der Pater Benedikt.« »Hallo, Daniela, hallo, Florian«, grüßte er die Geschwister, die mit ihren Helmen und Stirnlampen wie echte Höhlenforscher aussahen. »Oh ja, Geschichten über die Höhle«, freute sich Florian, »die würde ich gern hören.« »Ich kann die Geschichten aber nur erzählen, wenn wir weiter hineingehen«, sagte Benedikt. »So weit hinein, bis es ganz stockfinster ist.« Dann erreichten sie die Zisterzienser-Nonne. »Gelobt sei Jesus Christus«, sagte Schwester Epiphania leise. »In Ewigkeit, Amen«, antwortete Benedikt. »Schön, dass Sie hier sind«, platzte sie heraus. Kurz darauf wusste sie nicht, ob darin nicht schon zu viel persönliche Offenbarung gelegen hatte. »Ich kann Sie doch nicht alleine in die gruselige Witzenhöhle lassen«, sagte er geheimnisvoll. »Gruselig?«, fragte Florian. »Oh ja«, sagte Benedikt. »Es ranken sich viele Geschichten um diese Höhle. Soll ich eine erzählen?« »Ja«, riefen die Kinder wie aus einem Mund. »Eine Gruselgeschichte.« »Aber nicht hier im Eingangsbereich«, sagte Benedikt. »Da ist es noch viel zu hell.« »Aber hier ist es doch schon dunkel«, gab Daniela zu bedenken. »Man muss doch schon die Taschenlampe einschalten.« »Man sieht aber noch den hellen Höhleneingang«, sagte der Pater. Schwester Epiphania stand belustigt daneben und wartete 321
gespannt darauf, was jetzt wohl kommen würde. »Wir müssen dorthin, wo kein Licht von außen mehr hinkommt.« »Da vorne ist ein kleines Loch«, rief Sophia aufgeregt, »nur für Kinder, nicht für Erwachsene.« »Ich kenne den kleinen Schluff dort vorne«, sagte Benedikt. »Dort war ich auch schon unten.« »Da passt du rein?«, fragte Sophia verwundert. »Aber ja. Sogar vor wenigen Wochen erst. Mit einer Gruppe von Bamberger Jugendlichen.« Entgeistert starrte Daniela den Pater an und flüsterte: »Was ist denn da unten?« Sie sprach leise, als hätte sie entweder Angst, in irgendwelchen Löchern und Nischen von Unbekannten gehört zu werden, oder aber imaginäre Höhlenwesen zu stören. Pater Benedikt blickte verzückt. Tat, als würde er nach Worten suchen, um wunderbare Dinge zu beschreiben. Setzte an: »Funkelnde, glitzernde …«, unterbrach sich wieder. Es schien, als seien diese Geheimnisse unbeschreiblich. »Tropfsteine«, lachte Sophia dazwischen. »Stalagmützen und Stalagtüten.« »Bevor wir aus der Höhle wieder herausgehen, habt ihr auch wunderbare Tropfsteine gesehen«, sagte Benedikt zu den Geschwistern. »Was ist ein Schluff?«, fragte Florian. »Das ist ein enger Durchgang, durch den man nur durchkrabbeln kann«, erklärte Benedikt. »Also durchschluffen.« »Dann will ich auch da vorne durchschluffen.« Florian strahlte vor Abenteuerlust. »Vielleicht später«, bremste ihn der Pater. »Höhlen sind nicht ungefährlich. Wir sollten immer zusammenbleiben, das heißt, wir machen nur Sachen, die alle mitmachen können.« »Wir wollen doch alle?« Florian schaute erwartungsvoll in die Runde. Daniela war zurückhaltend. 322
Mit einem Blick auf Schwester Epiphania sagte Benedikt: »Gehen wir doch erst einmal nach hinten in den dunklen Bereich der Höhle. Erst mal sehen, wie die Dunkelheit auf euch wirkt.« »Da hinten lang?« Florian zeigte in den tiefen schwarzen Schlund, der sich nach hinten auftat. Zwar schien man dort aufrecht gehen zu können, aber es wurde sehr schnell stockfinster. »Genau«, sagte Benedikt. »Erst einmal alle Lampen an, wer sie noch nicht eingeschaltet hat.« Epiphania tastete an ihrer Stirnlampe herum. Jetzt erst sah der Pater, dass sie das Häubchen gegen einen Helm eingetauscht hatte. Bislang hatte er den Blickkontakt vermieden. Das seltsame Kribbeln in der Magengrube wurde stärker, je länger er sie ansah. Wenn er es tat, fingen ihn ihre strahlenden Augen ein, wie Magnete. »Kann ich helfen?«, fragte er vorsichtig. Er wollte ihr nicht ungefragt näher kommen. Das Kribbeln könnte sich ausbreiten. »Ich finde den Schalter nicht«, sagte die Nonne. »Sie müssen die Lampe drehen. Warten Sie, ich helfe ihnen.« Mit einer Hand hielt er ihren Helm. Mit der anderen schaltete er die Stirnlampe ein. Dabei versuchte er konzentriert auf die Technik zu schauen. Doch er spürte die Magnete. Sie zogen kräftig. Sein Magen kribbelte. Epiphania sah ihn mit großen dunklen Augen an. Blickte tief in die seinen. Das Licht des Eingangs strahlte darin zurück. Für Benedikt war es reine Magie. Es schien ihm eine Ewigkeit, bis die Lampe brannte. Als es so weit war, ging er sofort wieder einen Schritt zurück. Wollte Abstand gewinnen. Seine Gedanken verknoteten sich. »Guck mal, ich kann alleine«, ließ sich Sophia hören und zog ihn damit aus dem Bann. »Was alleine?«, fragte er abwesend. 323
»Lampe anmachen, du Oberbeleuchter«, lachte Sophia. »Haben Sie keinen Helm?«, fragte Epiphania besorgt. »Doch«, stotterte Benedikt, »im … im Rucksack, der am Eingang …, also da, wo wir hereingekommen sind.« Sich über seine eigene Unsicherheit ärgernd, ging er dorthin zurück und kramte den Helm heraus. Brav warteten die drei Kinder vor dem Felsenanstieg, der in das Dunkle der Höhle führte. Die Größe des unheimlichen Raumes, die Kühle, die bizarren Schatten an der Wand im Licht ihrer Lampen forderten ihnen Respekt ab. Benedikt ging voran. Trotz seiner Kutte zog er sich behände die Felsen hinauf. »Achtet bitte genau auf eure Schritte«, warnte er, »der Boden ist uneben und voller Spitzen und Kanten.« Die Kinder folgten. Schwester Epiphania ging als Letzte. Sie kamen langsam voran. Immer wieder schauten sie nach oben, zur Seite, auf den Boden. Überall schien es geheimnisvoll. Schon nach ein paar Metern wurde es stockdunkel. Nur das direkt von den Lampen Beleuchtete war zu erkennen. Alles andere ging in einer nie gesehenen Schwärze unter. Anfangs trauten sich die Kinder noch mit Ruten das Echo der Halle auszuprobieren. Mit jedem Schritt wurden sie leiser. Schließlich waren nur noch die Geräusche ihrer Schritte zu hören. Und das Atmen. Der Weg war beschwerlich. Dann erreichten sie das hintere Ende. Über ihnen hingen unwirklich große Felsen, drohten jederzeit auf die Eindringlinge herabzustürzen. Dass die übermannshohen Brocken, die sie beschwerlich umgehen mussten, nicht von Riesen hereingetragen worden waren, begriffen sogar die Höhlenneulinge Florian und Daniela.
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»Ja, die sind hier mal runtergestürzt«, erzählte Benedikt. Alle Blicke, und damit die Strahlen der Lampen, richteten sich nach oben. Der Hauch des Atems bildete einen Nebel um die Köpfe. »… wahrscheinlich zur letzten Eiszeit«, versuchte er die Gemüter wieder zu beruhigen. Dabei blieb er vor einem glatten, flachen Felsen stehen. »Stellt euch mal um diesen Stein herum.« Brav reihten sich alle auf und warteten darauf, was der Pater zu erzählen hatte. Dabei fiel ihm auf, dass Schwester Epiphania etwas Abstand von ihm hielt. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Er war nun nicht mehr freudig, dass er hierher gekommen war, sondern unsicher und angespannt. »Wer weiß, warum die Witzenhöhle so heißt?«, fragte der Pater in die Runde. Schweigen. Niemand wusste es. »Na?«, setzte er noch einmal nach. Kleinlaut ließ sich Sophia hören: »Weil der Entdecker so geheißen hat?« »Du meinst den Herrn Dr. von Witzen?«, fragte Benedikt noch einmal nach. »Ja«, nickte Sophia aufgeregt, in der Hoffnung, sie hätte das Richtige getroffen. »Einen Dr. von Witzen kenne ich leider nicht«, sagte Benedikt und sah dabei Sophia übertrieben mitleidig an. Die blitzte wütend zurück. Der Pater begann seine Höhlengeschichten mit einem Zitat: »›Gewiss für den Gott der Rache lässt sich in Deutschland keine schicklichere Behausung als das Witzerloch finden‹, beschrieb 1774 Johann Friedrich Esper die Höhle.« Er ließ seine Worte erst einmal auf seine aufmerksamen Zuhörer wirken, bevor er weitersprach. »Er meinte damit den slawischen Kriegsgott Svantovit. Er gilt als oberste Gottheit der Ranen, also der Slawen der Elb- und Ostseegegend. Seitdem gibt es seltsame Geschichten von Götzenbildern und Heidenopfern, die von dieser Höhle erzählen. Und das hier …«, dabei schlug Benedikt 325
mehrfach mit seiner flachen Hand auf den Stein, »… ist der Opferaltar.« »… und die Höhle seine Heidenkirche«, flüsterte Daniela ehrfurchtsvoll. »Hat das was damit zu tun, dass es hier keine schönen Tropfsteine gibt wie in anderen Höhlen?«, fragte Sophia, der auch nicht ganz geheuer zumute war. »Man weiß es nicht«, flüsterte Benedikt, um den gruseligen Effekt zu verstärken. Dann, wieder mit normaler Stimmlautstärke: »Oder es liegt nur an den geologischen Gegebenheiten. Die Witzenhöhle ist eine so genannte Verbruchhöhle.« »Weil alles schon zerbrochen ist?«, fragte Florian. »Genau«, antwortete Benedikt, »und weiß jemand, warum sich Höhlen bilden und auch mal Felsen herunterbrechen?« »Weil die Jungens zuerst Indianer spielen wollen und dann doch alles kaputtmachen, ist doch klar«, fasste Sophia frech zusammen. Alle lachten. »Liegt das am Regenwasser?«, fragte Florian. »Regen fällt auf den Waldboden über uns. Der sickert in die Erde und frisst im Laufe von Jahrtausenden den Kalkstein auf«, erklärte Benedikt. »Erst bilden sich kleine Höhlungen, dann richtige Höhlen und zum Schluss …?«, fragte er in die Runde. »… kommt der ganze Schlunz herunter«, ließ Sophia sich wieder hören. Schwester Epiphania schaute zufrieden in die Runde und freute sich über die lebhaften Kinder. »Stimmt das mit den Götzenopfern?«, fragte Florian nach. »Der Herr Espers hat erzählt, dass in den ersten Jahren, nachdem er die Höhle erforscht hatte«, begann Benedikt wieder geheimnisvoll, »hier eine Götzenstatue gefunden wurde. Sie soll 326
einen menschlichen Körper mit Brüsten, aber auch einen Ochsenkopf und verschränkte Arme gehabt haben.« »Ein Teufel«, flüsterte Sophia. Alle anderen schwiegen und starrten Benedikt an. Das Dunkel um sie herum wurde ihnen etwas unheimlich. Nur Epiphania lächelte. »Oder das Bildnis einer slawischen Gottheit«, erklärte der Pater wieder mit sachlicher Stimme, »aber slawische Götter haben mehrere Köpfe. Svantovit hat vier. Ein jeder schaut in eine andere Richtung.« Da mischte sich Schwester Epiphania in die Diskussion ein: »Die Vierköpfigkeit passt aber nicht zu der angeblich hier gefundenen Statue mit dem Ochsenkopf.« »Da passt noch mehr nicht«, sagte Benedikt und schaute die Brasilianerin wieder an. Er wurde von ihrer Stirnlampe geblendet und konnte ihr nicht direkt in die Augen schauen. Aber er fühlte, wie sie ihn wieder anzogen. Ihre Stimme tat das Übrige, um das ungewohnte Gefühl im Magen wieder zu verstärken. Um auf ihre Worte zu antworten, brauchte er immer ein bis zwei Sekunden länger. Seine Gedanken fuhren Karussell. Die Antwort zu formulieren, war nicht so leicht. »Die angebliche Statue wurde ›leider‹ wenige Tage, bevor Esper erstmalig von ihr erzählte, weggebracht«, konzentrierte er sich wieder auf die Kinder, damit er nicht in den Worten stecken blieb. »Niemand hat sie je gesehen.« »Wahrscheinlich nicht mal der Herr Esper«, folgerte Florian. »Er wollte die Höhle vielleicht nur interessant machen«, sagte Benedikt. »Dann ist das doch nur eine ganz normale Höhle«, sagte Daniela erleichtert. »Eine Sturz-Versturz-Höhle«, reimte Sophia. »So normal, wie eine mehrere zehntausend Jahre alte Höhle sein kann«, sagte der Pater. »Sicherlich haben auch Germanen, 327
Kelten oder Steinzeitmenschen die Höhle gekannt und vielleicht sogar genutzt.« »Als religiöses Zentrum?«, fragte Schwester Epiphania. »Kann sein«, antwortete Benedikt. »Möglicherweise als ein Svantovit-Orakel wie das auf Rügen …«, hier machte er noch einmal eine Kunstpause und freute sich an den aufgerissenen Augen der Kinder, »oder nur als Unterstand bei Regen.« Da lachten die Kinder los. Die Geschichten von Götzen und Opferaltären, von Vielköpfigen und Kultfeiern nahmen sie derart gefangen, dass sie sich die Anspannung jetzt von der Seele lachten. Sogleich wurde ihnen die Dunkelheit wieder weniger dunkel. Wenn auch nicht wirklich, so doch von ihrem Gefühl her. »Ich mag mir jetzt mal wieder einen hellen Platz draußen im Sonnenlicht anschauen«, schlug Sophia vor. Daniela pflichtete bei. Nur Florian hätte noch gern diesen oder jenen Gang untersucht, aber er sagte nichts und fügte sich. Im Gänsemarsch ging es über die wild herumliegenden Felsen wieder zurück. Der Ausgang der Höhle war noch nicht zu sehen. Sein Licht reichte nicht bis hierher. Zuerst musste die Gruppe noch einen kleinen Hang hinauf. Auf dem glatten Stein kamen sie immer wieder ins Rutschen. Benedikt riet, kleinere Unebenheiten im Boden als Tritte zu benutzen und vor allem langsam zu gehen. »Haaaaalt«, rief Epiphania plötzlich sich selbst zu. Aber es war zu spät. Die Füße rutschten weg. Mit ihren Händen versuchte sie, schnell einen Halt im Felsen zu finden, doch sie fand keinen. Pater Benedikt sah nur ihren Lampenschein herumflitzen. Ihre Tracht wirbeln. Schon lag sie in seinen Armen. Erschrocken starrten sie sich in die Augen. So nah. Die unsicheren Gesichtszüge im anderen sehend, im Licht ihrer Lampen am Helm.
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Als wäre die Zeit stehen geblieben, hing Epiphania in seinen starken Armen. Benedikt half ihr nicht sogleich auf die Beine. Sie starrten in dieser unmöglichen Position nur einander an. Atmeten hektisch. Eine immer dichter werdende Wolke ihres Atemhauches wallte um ihre Köpfe. Dann zuckten beide zusammen. »Entschuldigung«, stammelte Epiphania. »Entschuldigung«, stotterte Benedikt. Half ihr auf die Beine. Währenddessen gingen die Kinder weiter. Sie waren zu sehr mit sich selbst, der Dunkelheit und sicherem Laufen beschäftigt. Suchten Halt in den Felsen. Drehten ihren Kopf mit Helmlampe in die Richtung, die sie beleuchten wollten. Beratschlagten, ob sie den großen Felsbrocken links- oder rechtsherum umrunden sollten. Plötzlich stand eine Gestalt vor ihnen. Schwarz gekleidet. Blockierte den schmalen Pfad zwischen Felsen und Höhlenwand. Florian zuckte zurück. Er war der Erste, in dessen Lichtkegel der Dunkle auftauchte. Mit offenem Mund starrte er den Mann mit der schweren Taschenlampe in der Hand an. Daniela folgte nach. Sah den Unbekannten einige Sekunden später. Sophias Augen waren auf den Boden gerichtet, damit sie nicht stürzte. Als sie erkannte, dass die beiden anderen Kinder stehen geblieben waren, sah sie auch sofort die schwarze Gestalt. Wie eine dunkle Wolke schälte sie sich aus der lichtlosen Höhle. Der Unbekannte hielt ihnen den Lichtstrahl seiner Taschenlampe direkt in die Augen. Die Kinder mussten die Augen geblendet schließen. Da erst erschrak Sophia. »Benedikt!«, rief sie. Der Schrei klang für den Pater anders als das übliche Kindergeschrei. Sofort wandte er sich zu den Kindern um. Der 329
Schein seiner Stirnlampe erhellte den Raum auf die etwa zehn Meter nicht mehr. Doch er sah genug. Ihn durchfuhr Angst, Schuld und Scham. »Pater Benedikt«, hörte man eine tiefe Stimme verächtlich. So schnell wie auf dem glatten Stein möglich kam der Angesprochene näher. Drängte sich vor die Kinder. Stellte sich schützend vor sie. »Iscariot!« Seine Stimme zitterte leicht. »Bruder will ich dich nicht nennen.« »Darauf lege ich auch keinen Wert«, antwortete die dunkle Gestalt. »Selbsternannter Saubermann …«, schnaubte er leise, »… Ketzer und Schädling nenne ich dich.« »Wie immer du mich nennst«, sagte Benedikt, »die Kinder hier haben nichts mit unserer Angelegenheit zu tun. Lasse sie vorbei.« »Du hast sie mit hineingezogen«, flüsterte Iscariot scharf, »also werde hier nicht moralisch. Alles, was folgen sollte, wirst du auf deinem Gewissen tragen.« Diabolisch klang die Stimme aus dem Dunklen. »Pater …?«, fragte Schwester Epiphania vorsichtig von hinten. Sie hatte ihre Arme um die Kinder gelegt, als wolle sie sie schützen. »Pater …, pah«, war verächtlich zu hören. »Ein Verräter an der heiligen Mutter Kirche ist er. Glaubt, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Ein schlechter Umgang für eine brave brasilianische Zisterzienserschwester.« Dann trat er einen Schritt zur Seite und rief, völlig untypisch für seine sonst leise verschwörerisch klingende Stimme: »Vorwärts und keine Mätzchen!« Dabei schwenkte er einen Revolver, um den Befehl zu unterstreichen. Pater Benedikt ging einige Schritte vor. Drehte sich wieder zu Iscariot. 330
»Lasse Epiphania und die Kinder gehen«, bat er. »Nichts da«, antwortete er zischend, »weiter!« »Du hast mich«, verhandelte Benedikt weiter, »und du hast Severino. Mehr brauchst du nicht.« Der Angesprochene hielt ihm den Revolver unter die Nase. »Das Leben von euch zwei Ketzern ist nichts wert«, zischte er. »Aber die Kleine hier«, dabei drehte er die Augen Richtung Sophia, »wird euch und den deutschen verbrecherischen Professor schon weich kriegen.« Energisch bittend sah Benedikt ihn an. Im Licht der Lampen sahen die Gesichtszüge düster aus. »Du brauchst das Leben der Kinder nicht zu gefährden«, bat Benedikt weiter. »Das hast du schon«, war die Antwort. »Pater Benedikt«, fragte Epiphania leise von hinten, »was ist denn los?« »Kein Wort mehr«, zischte Iscariot erneut. »Weiter! Dort hinüber!« Er zeigte auf die gegenüberliegende Felsenwand. Sie lag im Zwielicht. Der Lichtschein vom Eingang fand seinen Weg bis hierher. An der benannten Stelle stand ein weiterer dunkelgekleideter Mann. Er schwenkte seine Taschenlampe. Dorthin ging der Weg. Pater Benedikt wollte den Kindern über die Felsbrocken helfen, aber Iscariot trieb ihn unbarmherzig nach vorne. An seinem bewaffneten Mitarbeiter vorbei. In einer Nische, die zu einem Seitengang wurde, musste Benedikt stehen bleiben und warten. Von dort konnte er sehen, wie ein Dritter Schwester Epiphania und die Kinder vorwärts drängte.
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»Da lang!«, befahl Iscariot und zeigte den Seitengang entlang. Der Gang wurde immer enger. Der nackte kahle Fels der Höhlenwand kam immer näher. Dann war er zu Ende. »Weiter!«, trieb der Bewaffnete sie an und zeigte in Bodenhöhe auf ein Loch, das waagerecht in den Fels hineinführte. Als Benedikt zögerte – er hatte Bedenken wegen seiner unschuldigen Begleiter – stieß Iscariot ihm den Lauf seines Revolvers in Höhe der Nieren in den Körper. Es tat weh, aber Benedikt ließ sich nichts anmerken. Er sah im Augenblick weder die Möglichkeit, sich zu wehren, noch etwas anderes für die Kinder zu tun, als sich zu fügen. Also ging er in die Knie und streckte einen Arm voraus. Danach folgte der Kopf. Immer weiter schraubte er seinen Oberkörper in die kleine angeschlossene Kammer. Eine Felsspitze drückte auf sein Brustbein. Eine andere hielt sein Rückgrat fest. Benedikt musste vollständig ausatmen und so seinen Brustkorb verkleinern, damit er sich mit einer Drehbewegung durch die Engstelle hindurchzwängen konnte. Dann folgte die Hüfte. Mit ausgestreckten Armen stützte er sich vom Boden ab. Mit offenem Mund keuchte er. Dieses Hineinschlüpfen strengte ihn deutlich mehr an, als er auf den ersten Blick vermutet hätte. Seine ausgestreckten Beine hingen draußen in der Luft. Von dieser Seite verspürte er auch plötzlich einen Tritt. Beeil dich, schien er zu bedeuten. Die Stimmen vor der Engstelle waren nur gedämpft zu hören, nachdem er deren einzigen Zugang mit seinem Körper versperrte. Benedikt knickte mit seinen Armen ein. Prallte auf beide Ellbogen. Schmerzhaft schabte der steinige raue Boden über seine nackten Unterarme. Die Ärmel der Kutte waren bis zu seinen Oberarmen zurückgeschoben. Dadurch kam er jedoch wieder einige Zentimeter weiter. Ob er je wieder durch diese Engstelle in die andere Richtung durchkam? Benedikt zweifelte. Nur das Leben der Kinder und 332
Epiphanias trieb ihn voran. Seine Kniescheiben rieben über die Felskante der Engstelle. Fielen ebenfalls auf den harten Boden. Er war durch. Lag in dem winzig kleinen Raum, der kaum länger war als er. Die Höhe schätzte er auf etwa einen Meter. Benedikt zog seine Gliedmaßen wieder ein und versuchte sich hinzuhocken. Da knallte er mit seinem Helm gegen die niedrige Decke. Gerade wollte er melden, dass er durch sei, da folgte Florian. Benedikt musste weiter. Krabbelte auf Händen und Knien zwischen Tropfsteinen, die von der niedrigen Decke bis zum Boden reichten, ein kleines Gefälle hinab. »Weiter! Weiter!«, rief es von hinten. Der Pater hatte es als der Größte am Schwersten. Er konnte in der engen Höhlenkammer nicht sitzen, geschweige denn stehen. Nur ein verdrehtes Kauern war möglich. Die Kinder taten sich etwas leichter. Schwester Epiphania war zumindest noch ein zusammengekauertes Hocken möglich. »Weiter! Weiter!«, schallte es jetzt von der Engstelle. Iscariot war hinterhergekommen und drängte die Gruppe weiter. Wohin wollte er nur, fragte sich Benedikt. Die Kinder nahmen das Geschehen noch merkwürdig ruhig auf. Dennoch sah er im blitzenden Stirnlampenlicht der aufgeregt hin und her schauenden Köpfe Angst und Nervosität. Meist schauten sie auf Pater Benedikt. In ihn setzten sie die Hoffnung, dass dieser Albtraum bald endete. »Weiter! Weiter!«, rief es erneut. Benedikt kroch weiter zur nächsten Engstelle. Die Luft kam ihm matt und feucht vor. Wieder pumpten seine Lungen vor Anstrengung. Er schlängelte sich durch einen Wald von bräunlichmatt leuchtenden Stalagmiten, die bis zur niedrigen Decke aufgewachsen waren. Nun musste er sich auf dem Bauch vorwärts schieben. Schlängelte. Schob sich mit den Fußspitzen voran. Vierfüßig, auf Knien und Händen, war nicht mehr möglich, so niedrig 333
wurde es. Immer neue Spalten taten sich auf. Manche viel zu klein. Zeigten ins Schwarze. Leider auch welche, durch die er kaum noch hindurchkam. Und gerade durch diese wurden sie weitergetrieben. Noch gab es kein Ende ihres gefährlichen und kräfteraubenden Ausfluges. Er wagte gar nicht daran zu denken, was passieren würde, sollte er stecken bleiben. Iscariot wäre es vermutlich egal oder sogar recht. ›Besser ich als Schwester Epiphania oder die Kinder‹, dachte er. ›Schließlich bin ich für die Situation verantwortlich.‹ Pater Benedikts Gewissen plagte ihn. Er warf sich vor, leichtsinnig gewesen zu sein. Niemals hätte er Alanas Bitte, bei Sophia zu bleiben, nachgeben dürfen. So hatte er die Verfolger erst hierher geführt. ›Gewiss war es so‹, bedauerte er. Schwer atmend, keuchend, legte er eine Pause ein. »Weiter, da vorne«, rief Iscariot. »Einen Augenblick nur«, bat Benedikt. »Es gibt noch genug Zeit für Pausen«, sagte Iscariot. »Auch genug Zeit, dich mit deinen Gewissensqualen auseinanderzusetzen.« Er lachte diabolisch. »Das sollte dir nicht schwerfallen. Deine unschuldigen Opfer vor Augen.« »Was willst du von mir?«, fragte Benedikt noch einmal flehendlich. »Dass du endlich weitergehst!« Benedikt gab auf. Das Gespräch hatte keinen Sinn. Vor ihm war eine zwei Meter hohe Spalte. Vielleicht dreißig Zentimeter breit. Nach oben schmaler werdend. Benedikt stemmte sich aus den Knien hoch. Es gab nicht ausreichend Platz, um bequem aufzustehen. Sofort klemmte sich sein Helm oben fest. Also musste er sich beim Weitergehen bücken. Nicht zu sehr. Es war kein Platz für gebeugte Knie. Schon gar nicht für zwei Füße nebeneinander. 334
Fuß für Fuß schob er sich voran. Gebeugt. Sein Rücken schmerzte. Flach schob er sich in die Felsspalte. Immer wieder verklemmte sich sein Helm im schmalen Kopfbereich. Benedikt war gezwungen ihn abzunehmen. Ihn in der Hand voranzutragen. Es wurde immer niedriger. Er durfte auf keinen Fall steckenbleiben! Wenn er zu sehr in die Knie ging, konnte er mit dem Po nicht mehr rangieren. Immer wieder drückte er sich ein paar Zentimeter hinauf, ein paar Zentimeter hinunter. Kam auf diese Weise langsam vorwärts. Immer wieder saß er einen Augenblick lang fest, so eng war es. Keinen Millimeter gaben die massiven Felsen nach, dachte Benedikt erschrocken und resigniert. Eigentlich war dies eine Selbstverständlichkeit. Aber Benedikt nahm diese hochgefährliche Tatsache jetzt neu und intensiv wahr. Einen Meter vor ihm tat sich eine Nische auf. Sie versprach, dass er seine schmerzenden Knie einmal kurz durchstrecken konnte. Vielleicht sogar den Rücken. Ein Meter. Zentimeter für Zentimeter schob er sich vorwärts. Kurz in die Knie. Saß fest. Kurz nach oben. Saß fest. Ein Meter. ›Wie lang ist dieser Meter?‹, schrie es in seinem Kopf. Er drohte panisch zu werden. Er durfte nicht stecken bleiben. Schweiß rann über sein Gesicht. Wieder klemmten seine Knie fest. Pater Benedikt atmete hektischer. Verspannte sich. ›Ich darf mich nicht verspannen!‹, ermahnte er sich. ›Sonst stecke ich fest!‹ Seine Fingerspitzen reichten schon bis an das Ende der Spalte. Er hielt sich dort fest. Zog. Sofort verkeilte sich sein Kopf darin. Schmerz! 335
›Entspann dich!‹, befahl er sich selbst. Versuchte in die Knie zu gehen, um mit dem Kopf tiefer zu kommen. Es ging nicht. Die gebeugten Knie und der Po verkeilten sich. Immer hektischeres Atmen. Keuchen. ›Entspanne dich gefälligst!‹, schrie er sich mit einem Ausdruck von Panik und Wut an. Iscariot rief etwas von hinten. Benedikt verstand kein Wort. Alles klang gedämpft. Sein Blut rauschte. Was sollte er tun? Tief in seinem Inneren sprach eine ruhige Stimme zu ihm. Er achtete nicht auf sie. Stattdessen rüttelte er an der Felsenkante, die er mit seiner Hand festhielt. Rüttelte sich fester. Die Panik verbreitete sich wie Gift in seinem Körper. Lähmte ihn. Wie in einem Ganzkörperkrampf erstarrte er. Wollte ohnmächtig werden. Wieder sprach die Stimme. Benedikt kannte sie. Liebte die Ruhe, die sie ausstrahlte. Lauschte auf sie in tiefer Meditation und im Gebet. Sie sprach nicht in Worten. Sie sprach in Bedeutungen. Sie sprach von Ruhe. Entspannung. Loslassen. Sein Atem wurde ruhiger. Er öffnete wieder seine Augen. Schielte mit dem festgeklemmten Kopf zu seiner linken Hand. Sie umklammerte die Kante. Die andere Hand hielt seinen Helm. Die Stirnlampe leuchtete die Spalte bis zur Nische aus. ›Loslassen!‹, glaubte Benedikt wieder in seinem Inneren zu hören. Er begriff. Ließ die Kante los. Schob sich einige Zentimeter zurück. Das Fühlen dieser winzigen Bewegungsfreiräume ließ ihn wieder etwas entspannen. Beruhigte ihn. Dann ließ er seinen Helm fallen. Sorgfältiges Hinlegen war nicht möglich. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass die Stirnlampe weiterhin in die Nische leuchtete. Jetzt konnte er den freiwerdenden Arm, die freiwerdende Schulter nach hinten drücken. Dadurch gewann er die entscheidenden Zentimeter Spielraum. Er kam wieder voran. Zwar langsam, 336
aber wenige Minuten später streckte er sich dankbar in der Nische aus. Knie, Rücken und Hals nahmen diese Haltung dankbar ein. Wieder schloss Benedikt die Augen. Entspannte. Diesmal ohne den Druck massiver Felsen. Schon kamen die drei Kinder nach. Sie hatten nicht mit den Schwierigkeiten Benedikts zu kämpfen. Schlüpften geschickt hindurch. Da Epiphania gut einen Kopf kleiner als der Pater war, tat sie sich auch nicht so schwer. Dicht gedrängt standen sie in der Nische. In ihr stießen zwei Spalten zusammen. Durch eine der vier Kreuzspalten waren sie gekommen. In der kleinen Nische gegenüber stand Benedikt und füllte sie vollkommen aus. Im rechten Winkel endete die eine am Ende des Lichtkegels. Die Vierte führte eine schmale Felsenrutsche hinab. »Weiter! Weiter!«, melde sich Iscariot wieder zu Wort. Dieser windige, schleimige Bursche schien überall durchzukommen, dachte sich Benedikt. »Wohin geht es eigentlich?«, fragte er. »Mach dir darüber keine Sorgen. Es kommt alles, wie es sein muss«, sagte Iscariot, als solle es beruhigend klingen. Benedikt war alles andere als ruhig. Eng aneinandergepresst standen er, die Kinder und Epiphania in der Nische. Den beinahe hautnahen Kontakt zu der Nonne nahm er unter dem Stress, in dem er sich befand, nicht wahr. Erschöpfung, Gewissensbisse, Verantwortung. Das war alles, was ihn jetzt bewegte. Resigniert schlitterte er die schmale Felsenrutsche hinunter. In Kopfhöhe drohte er wieder stecken zu bleiben. Seine Füße rutschten ihm weg. Aber es war nicht mehr ganz so eng wie in der Spalte. Schnell war er unten. Dann drehte er sich und half den Kindern. Zuerst kam Florian. Sicher rutschte er hinunter. Drängte sich an Benedikt vorbei, um den Weg frei zu machen. Daniela und Sophia folgten.
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Schwester Epiphania zog sich die Tracht bis über die Knie, knüllte sie zusammen und hielt den Knoten mit einer Hand fest. Benedikt reichte ihr eine Hand. Sie rutschte gebückt los. Der Pater versuchte, sie mit der anderen Hand aufzufangen. Verfehlte wegen der Enge den Oberarm der die Tracht haltenden Hand. Verhedderte sich am nur nachlässig sitzenden Helm. Zog ihn ihr vom Kopf. Schwarzes wallendes Haar quoll hervor. »Autsch!«, rief sie auf. »Tut mir leid«, stammelte Benedikt, dem jetzt wieder bewusst wurde, wie nahe er ihr gekommen war. Versuchte, den Helm geradezurücken. Das gelang nicht. Epiphania versuchte, in der Enge ihre Haare neu zu richten. Auch das gelang nicht. Pater Benedikt half ihr. Vier Hände fummelten in der Enge auf ihrem Kopf herum. »Seht, seht«, spottete Iscariot von oben. »Fast wie Liebende.« Bei diesem Wort zuckten die beiden Angesprochenen zusammen und starrten sich in die Augen, die sich sehr nahe waren. »Ihr bleibt jetzt hier unten«, befahl Iscariot. Benedikt nahm Epiphania in den Arm. Sie zitterte. »Was soll das?«, fragte Benedikt. »Was jetzt?« »Warten. Und das weißt du«, sagte Iscariot. »Ihr hattet alle Chancen. Keine genutzt. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wer Lügen im Namen unserer Heiligen Kirche verbreitet, darf sich nicht wundern, wenn sie sich wehrt.« »Es geht nicht um Lüge«, wehrte sich Benedikt, »es geht um Wahrheiten. Versteckte Wahrheiten und bevormundete Menschen.« »Und das kannst du?«, spottete der verbrecherische Priester von oben, »Wahrheit von Lüge unterscheiden? Die Alten wussten genau, was richtig und was falsch ist. Ihr habt ihnen ins Handwerk gepfuscht. Das darf nicht sein. Eure so genannten 338
Wahrheiten sind gegen Gott selbst gerichtet. Du stellst ihn damit in Frage. Und das weißt du!« »Ich stelle nichts, aber auch gar nichts in Frage. Schon gar nicht Gott.« Verzweifelt schüttelte Benedikt den Kopf. Eigentlich fand er diese Diskussion mit dem verbrecherischen Vertreter seines Standes nutzlos. Es gab Wichtigeres. Benedikt wechselte das Thema. »Nimm die Kinder und Epiphania wieder mit nach draußen«, bat Benedikt noch einmal, »ich werde hier warten. Sie wissen nichts von den Forschungsergebnissen. Du brauchst nur mich.« »Dazu ist es jetzt zu spät«, drohte Iscariot noch einmal. »Blicke in dein Gewissen, das viel auf sich geladen hat …, bevor es zu Ende geht.« »Was? Nein!«, schrie Benedikt. Der Mann am oberen Ende zog seinen Revolver wieder. Dies war zwar nicht nötig, denn der Aufstieg auf dem engen rutschigen Stein war viel beschwerlicher, als der Abstieg. Trotzdem bekam er einen mächtigen Schreck, wegen Benedikts Schrei. Dann verschwand Iscariot im Dunkeln. »Kinder«, flüsterte Benedikt aufgeregt, »bleibt hier und haltet Ruhe.« Dann an Epiphania gewandt: »Helfen Sie mir hinauf.« Benedikt sprang, zog und stieß sich ab. Der Stein, der den Höhenunterschied von beinahe zwei Metern überbrückte, war spiegelglatt. Die Enge der Spalte verhinderte, dass er irgendwo Halt fand. Er stützte sich auf Epiphania. Streckte sich. Stieg in die Räuberleiter, die sie ihm bot. Er kam nicht hinauf. »Lassen Sie mich bitte«, schlug Epiphania vor. »Ob das gut ist?«, fragte er. »Oben ist Iscariot«, gab er zu bedenken. »Oder vielleicht nicht mehr«, sagte sie. »Ich bin leichter. Das ist vielleicht unsere einzige Chance.«
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Sie stieg mit einem Fuß auf seine flache Hand. Damit drückte er sie nach oben. Die andere Hand unter ihren Po. Jeden störenden Gedanken wischte er angesichts der gefährlichen Situation beiseite. Epiphania musste sich nur mit ihren Händen den Weg durch die Enge bahnen. Wie in einem kraftvollen Fahrstuhl fuhr sie die Schräge hinauf. »Ich bin oben«, meldete sie. »Soll ich jetzt vielleicht …«, aber Pater Benedikt unterbrach sie sofort. »Ziehen Sie mich mit der Hand hoch«, sagte er. »Verkeilen Sie sich in den Spalten rechts und links.« Sie suchte sich zu beiden Seiten festen Halt. Ging in die Knie. Hielt dem Pater ihre Hand entgegen. Er zog sich hoch. Rutschte zurück. Versuchte es noch einmal. Verkeilte seine Schuhe, um das Rutschen zu verhindern. Konnte den anderen Fuß nicht nachholen. Beide passten nicht nebeneinander. Epiphania zog nicht. Dazu reichte ihre Kraft nicht. Sie wartete, fest verkeilt, dass Benedikt sich emporarbeitete. Nicht auf ihre schmerzenden Gelenke achtend, ließ sie es über sich ergehen. Plötzlich war es geschafft. Benedikt stand vor ihr in der Nische. Er half ihr, sie an den Oberarmen fassend, hoch. Einen Augenblick lang genossen sie den Triumph. Dann wollte Benedikt weiter. »Wir gehen beide«, sagte Epiphania bestimmend. »Wir müssen uns gegenseitig helfen.« »Nein«, widersprach Benedikt, »Sie müssen bei den Kindern bleiben.« »Es ist viel zu gefährlich, wenn Sie alleine gehen«, gab sie zurück, »Sie könnten stecken bleiben und Hilfe brauchen. Ihre Lampe könnte verlöschen. Und und und … Die Kinder verstehen das und sind mutiger als man glaubt.« Dann, zu den Kindern gewandt: »Stimmt’s?« »Wir warten hier«, sagte Florian mit fester Stimme. »Ich passe auf. Ich würde sogar den Weg zurück finden.« 340
»Ihr seid gute Kinder«, lobte Epiphania ihre Schützlinge. Da sah Benedikt ein, dass es so besser war. »Ich gehe voran«, sagte sie und schlüpfte geschickt durch die enge Spalte, die jetzt vor ihnen lag. Benedikt zögerte. »Kommen Sie«, munterte sie ihn auf. »Die Spalte wird aus dieser Richtung immer breiter.« Der Pater fasste seinen ganzen Mut zusammen. Nahm seinen Helm. Stieß ihn voran. Schob, bohrte, quetschte sich wieder mit gebeugtem Rücken, gebeugten Knien. Aus den Fehlern gelernt habend, machte ihm diese Enge jetzt weniger Schwierigkeiten. Mit jedem Zentimeter wurde die Spalte weiter. Er wurde schneller. Erreichte Epiphania, die kniend wartete. Sie lächelte anerkennend. Da durchfuhr ein Beben den Fels. Ein dumpfer Schlag. Alles vibrierte kurz. Epiphania stürzte zu Boden. Fiel mit dem Kopf im Helm auf den kalten Fels. Benedikt ließ sich neben sie fallen. Scharrend kratzte seine Kopfbedeckung, die er in der Hand hielt, den Fels entlang. Der Pater legte schützend den Arm um seine Begleiterin. Da erreichte sie eine grauschwarze Staubwolke. Hüllte alles ein. Im letzten Augenblick schlug Benedikt die Kapuze seiner Kutte über seinen und ihren Kopf. Das Licht erlosch. Es wurde schwarz. Der Atem stockte. Bevor Pater Benedikt das Bewusstsein verlor, begriff er, Iscariot hatte den Weg nach draußen gesprengt. Keine Mitwisser. Die Wahrheit wurde dadurch wieder sein Eigentum. Erpressen konnte er Tristan und Alana trotzdem. Und er, Pater Benedikt, war schuld.
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ANSIEDELUNG Es widerstrebte ihnen, eine trächtige Kuh zu jagen. Zu anderen Zeiten wäre es ihnen so vorgekommen, als würden sie viel zu leicht die Nahrung von heute gewinnen und gleichzeitig die Nahrung von morgen vernichten. Doch dieses Mal musste es sein. So änderten sich die Zeiten. Schwer atmete die Gejagte. Das Gewicht ihres Leibes ließ jede Bewegung zur Anstrengung werden. Immer wieder versuchte sie auszubrechen. Immer wieder versperrten die Jäger ihr den einzigen Ausweg in das weite Tal. Verzweifelt stieß die Kuh dampfende Wolken aus den feuchten Nüstern. Schließlich ergab sie sich. Trottete mit hängendem Kopf in den engen Durchgang zwischen Zäunen aus geflochtenem, starkem Geäst. Hinter ihr fiel das Gatter in eine Haltevorrichtung. Stolz klopften sich Henan und Willa auf die Schultern. Die eingefangene Rinderherde mit langen Hörnern und zotteligem Fell wuchs. Schnell hatten die Jäger des Stammes gelernt, dass sich sogar die Kühe und Kälber verschiedener Herden vertrugen, wenn sie nur genug Weidefläche zur Verfügung hatten und Zugang zum Wasser. Beides gab es hier in Hülle und Fülle. Nachdem sie sich mit der Technik des Zäuneflechtens vertraut gemacht hatten, ging alles schneller als erwartet. Noch vermieden sie es, einen Stier einzufangen. Denn stark sollte er sein. Unverletzt bleiben. Sie selbst natürlich auch. Dieser besonderen Aufgabe wollten sie sich später stellen. »Heja!«, rief Than-Son von der Anhöhe herunter, »Händler sind gekommen. Das müsst ihr euch ansehen!« Das ließen sich Henan und Willa nicht zweimal sagen. Händler, das bedeutet Neuigkeiten, nützliche Gegenstände,
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fremde Dinge und manchmal auch Samen fremder Pflanzen. Sofort liefen sie los. Es war viel geschehen, seit sie vor einem knappen Jahr dieses fruchtbare Tal mit zwei fischreichen Flüssen, die sich hier vereinigten, erreicht hatten. Von Süden und von Nordosten kommend, strebten die Wasser von hier aus nach Westen. Oberhalb davon erhob sich ein trutziges Felsplateau. Am steilen Abhang zum Fluss hinunter, gewährte es einen weiten Blick und Schutz vor Angriffen nach drei Seiten. Nach Westen hingegen errichteten die Jäger des Stammes einen starken Palisadenzaun, vor dem eine Dornenhecke gepflanzt wurde. Nur an einer Stelle ließ sich das Winterlager, das sich nun zum festen Dorf gewandelt hatte, betreten. Mit schnellen Schritten liefen Henan und Willa den Trampelpfad hinauf und zum Eingang des Dorfes. Dahinter wuchsen noch große Bäume. Viele waren bereits gefällt worden, um Platz für den Anbau von Getreide zu schaffen. Der Emmer wuchs. Das Unkraut auch. Aber die beiden Jäger hatten keinen Blick für das Feld, denn der Händler war da! Was würde er heute für Waren und Geschichten mitbringen? Sie waren alle gespannt. Than trat mit seiner Gefährtin aus einer Hütte und schritt auf den Ankömmling zu. In kürzester Zeit versammelten sich alle Bewohner, denn die Kunde von seiner Ankunft hatte sich schnell verbreitet. Getreidebrei mampfend saß er auf einem Hocker. Gierig versenkte er die Finger seiner rechten Hand im Brei, um ihn dann genüsslich davon abzuschlecken. Neben ihm lag ein großer Rucksack, prall gefüllt, und ein kleinerer, den der Händler auf seiner Wanderschaft immer vor dem Bauch trug. »Sei gegrüßt, Händler«, sagte Than, der als Ältester für das ganze Dorf sprach.
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Der Angesprochene gab eine Antwort, die jedoch wegen seines vollen Mundes nicht verstanden wurde. Minutenlang folgten sie jeder Handbewegung des Essenden, aus Angst, sie könnten Wichtiges versäumen. Endlich ließ er die Tonschale mit einem kunstvollen eingeritzten Zickzackmuster zu Boden gleiten. Mit der anderen Hand wischte er sich seinen bärtigen Mund ab. »Seid gegrüßt«, wiederholte er nun verständlich, »ihr aus dem nördlichsten aller Dörfer. Weit musste ich zu euch wandern. Doch ihr seid noch immer an diesem wundervollen Ort, wenn andere Stämme, wie einst die Ahnen, beschwerlich den kleiner werdenden Herden hinterherziehen.« »Wir freuen uns, dass du uns erreicht hast. Doch unser Leben ist nicht so unbeschwerlich, wie du vielleicht meinen könntest«, sagte Than. Dann setzte er aus Höflichkeit hinterher: »Willst du noch einen Schlag von dem kräftigen Brei?« Erschreckt über die Frage ihres Dorfoberhauptes warteten die Zuhörer gebannt auf die Antwort. Noch ein Brei? Noch länger warten? »Mein Weg war weit«, erwiderte der Händler und hielt ThanJa die Schale hin. Enttäuschung machte sich in den Gesichtern breit. »Vielleicht später«, ergänzte er und stellte das Gefäß ungefüllt wieder ab. Freudige Erwartung machte sich breit. Große Kinderaugen, neugierige Frauen und interessierte Männer versuchten durch den Stoff des Rucksackes etwas von den Schätzen darin zu erkennen. Da streckte der Fremde seine Hand hinein. Leise tönte der Klang einer Trommel in den Ohren der Zuhörer. Ein anheimelnder Rhythmus verließ die lederne Tragevorrichtung mit unzähligen Taschen und anhängenden Bündeln. Pong, pong, pong. Es war mucksmäuschenstill im Kreis. Der Händler grinste. Pong, pong, pong. 344
Die Kinder hielten schier den Atem an. Nie in ihrem arbeitsreichen Alltag, an dem es viel zu wenig Zeit für Spiel und Spaß gab, erlebten sie solche Spannung. Pong, pong, pong. Langsam zog der Fremde die Hand wieder aus dem Rucksack heraus. In der Hand hielt er …, nein, so etwas hatten sie noch nie gesehen. An einem griffartigen Stiel befand sich eine etwa faustgroße Trommel. An deren oberen Ende hingen an zwei Schnüren hölzerne Kugeln. Der Händler schlug mit seinem Zeigefinger auf die gespannte Tierhaut. Vogelfedern ließen dieses Ding in den Augen der Zuschauer noch geheimnisvoller erscheinen. Plötzlich verdoppelte sich die Geschwindigkeit des Rhythmus. Pong, dipong, dipong, dipong. Aus dem Handgelenk heraus drehte er, genüsslich in den Augen seines Publikums lesend, die Handtrommel, worauf die Kugeln im Kreis fliegend auf die Trommelhäute schlugen. Jetzt begann er noch, ein ihnen unbekanntes Lied zu singen. Gebannt hörten sie zu. Dann begann er den Vers von neuem zu singen. In ihren Worten. Sie verstanden das Lied. Es erzählte eine Geschichte. Sie erzählte von einem mächtigen Ältesten eines Stammes, der König genannt wurde und ein Dorf besaß, das so groß war, wie sie es sich gar nicht vorstellen konnten. Reiche Speicher und steinerne Mauern. Neidische Feinde und starke Krieger kämpften um diesen Ort mit seinen Schätzen. Schließlich gewann der König. Sein Abbild wurde in den Himmel gezeichnet. Die Geschichten dieses Fremden, der schon zum zweiten Mal das Dorf aufsuchte, beschrieben ein so anderes Leben, als es die Zuhörer kannten. Wie aus einer anderen Welt. Dabei hatten sie bereits ihre Welt verlassen, als sie beschlossen, das ganze Jahr an einem Ort zu bleiben und stark an Kraft und reich an 345
Vorräten zu werden. Das Erzählte war ein Wandel ihrer Welt. Jedes neue Problem, das es zu lösen galt, jede neue Entscheidung, die getroffen werden musste, war eine weitere Station auf einem Pfad, von dem so gut wie keine Umkehr mehr möglich war. Das Schlimme daran war, dass die Ahnen nicht helfen konnten. Sie hatten keine Erfahrung mit dieser neuen Lebensweise. Thans regelmäßige Besuche beim mysteriösen Lehrmeister Sem brachten jedes Mal neues Wissen, neue Kniffe und neue Ideen. Zum Dank opferten sie ihm Obst, Gemüse und das neue handtellergroße Brot, das sie aus den gemahlenen Emmerkörnern herstellten. »Tag und Nacht bin ich gewandert«, sponn der Fremde seinen Text weiter, »über Berge und Flüsse, über Wolken und Wind, um zu euch zu gelangen. Denn die schönsten Sachen, die ich hier in meinem Rucksack habe«, bei diesen Worten klopfte er darauf, »habe ich für meine Freunde im Dorf oberhalb der Flüsse aufgehoben. So wie sich beide Flüsse zu einem großen und starken vereinigen, werden die Geheimnisse, die ich für euch habe, euer Dorf, Mann, Frau und Kind, stark und fruchtbar machen.« Vieles, was der Fremde erzählte, waren einfach nur schöne Worte, das wusste Than. Auch wenn manche seines Stammes glaubten, es wäre mehr, so schadete es nicht. Abwechslung von der mühevollen Tagesarbeit, Optimismus für die Zeiten, in denen Frost oder Dürre die Ernte dezimierte, tat allen wohl. Leise lächelte Than in sich hinein. Dabei zog er Than-Ja an sich heran. Dann ging es los. Der Händler packte aus. Schalen und Gefäße. Geflochten und tönern. Feuersteinmesser, Angelhaken, Pfeilspitzen, Stichel. Interessiert beugten sich sogar die erfahrenen Jäger nach vorne, um alles zu sehen. Das alles 346
konnten sie auch selbst herstellen. Aber die Ware des Händlers war oft anders und ungewöhnlicher als die der eigenen Produktion. Trotzdem kam Handel zustande. Aus neuen Töpfertechniken, Haken und Messern konnte man neue Techniken lernen. Wenn diese sich bewährten, würden sie umgesetzt werden. Ein sonderbares Messer erregte sofort Thans Aufmerksamkeit. Nach dem Griff machte das Holz einen Bogen. In diesem Bogen steckten viele scharfe Feuersteinspitzen nebeneinander. Interessiert ging er nach vorne und nahm es dem Händler aus der Hand, um es genau zu betrachten. »Das ist etwas ganz Besonderes. Gerade das Richtige für euch«, grinste der Händler geschäftstüchtig. »Ich habe die kleinen Felder hinter dem Palisadenzaun gesehen. Da …« »Klein?«, entfuhr es Than-Ja. »In so einem Feld steckt viel Arbeit.« »Sehr viel Arbeit. Ich habe im Süden, hinter dem großen Felsengebirge, Felder gesehen, die um ein Vielfaches größer waren. Aber mit den richtigen Werkzeugen«, er zeigte auf die Sichel in Thans Hand, »… geht es ganz einfach«, setzte Than, schmunzelnd karikierend und übertrieben, den begonnenen Satz des Händlers fort. Mit den Fingerspitzen fuhr er die Konturen des neuen Werkzeuges ab. Genau das könnte vieles vereinfachen, dachte er. Nur das Problem mit dem Unkraut wäre damit noch nicht gelöst. »Für eure Produktion«, sagte der Fremde mit Blick auf die Schwangerschaftsbäuche der Frauen, »habe ich leider nichts dabei. Aber da braucht ihr sicher auch nicht meine Hilfe.« Than hörte gar nicht richtig hin. Er bewegte die Sichel in der Hand und probierte in der Luft verschiedene Bewegungen aus, wie er das Getreide am besten ernten könnte. Überprüfte den festen Sitz der Schneiden und den sicheren Griff. Mit einem 347
kurzen Nicken beschloss er den Tausch gegen Räucherfleisch und Feile. »Wie viel brauchst du?«, fragte der Händler geschäftstüchtig. »Nur dieses eine«, antwortete Than. »Du sagst selbst, wir haben nur ein kleines Feld.« In Gedanken setzte er den Satz fort: »… und genügend Erfahrung, dieses Teil nachzubauen.« Bis spät in die Nacht gab es an diesem Tag nur noch Schmuck, Werkzeuge, Felle, aber auch Geschichten und Lieder. Nachdem der Händler am nächsten Tag das Dorf verlassen hatte, machte sich Than auf, um Sem in seiner Höhle im kleinen Gebirge zu besuchen. Viele Sorgen drückten ihn als Oberhaupt des Dorfes. Er brauchte Rat. Noch hatten sie genug zu essen. Aber die Vorräte reichten nicht für den nächsten Winter. Noch längst nicht. Vier Jäger, ein halbes Dutzend Frauen, die alle hochschwanger waren, und eine Schar Kinder. Alle mussten arbeiten. Von den Frauen konnte man immer weniger verlangen, aber noch weniger von den Kindern. Die vier Jäger bemühten sich um Fleischvorräte durch Jagd, was sich als sehr beschwerlich erwies, weil man beschlossen hatte hierzubleiben und nicht den Herden nachzuziehen. Daneben versuchten sie, eine eingezäunte Herde zusammenzustellen. Zu viel Arbeit für so wenige. Than wanderte das kleine Flüsschen hinauf. An seinen Ufern hatte sein Stamm schon viele Wisente erlegt. Aber es stand ihm heute der Sinn nicht nach den fleischlichen Genüssen. In Gedanken war er schon vorausgeeilt. Hinauf in den natürlichen Steintempel des unbekannten Lehrmeisters, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seinen Stamm zu unterstützen. Je näher Than dem Ziel kam, desto geringer drückten ihn die Sorgen eines Ältesten. Aus Sorgen wurden Fragestellungen, aus Fragestellungen Aufgaben. Wie eine Reinigung durchlief er diesen Weg an den mäandernden Ufern in diesem friedlichen Tal. 348
Schließlich folgte der kurze Aufstieg unter mächtigen Buchen. Vor seinem geistigen Auge konnte Than den Lehrmeister bereits sehen. Sprach schon mit ihm. Ohne Worte. Als würde er sich auf ein geistiges Niveau einpendeln. »Deine Sorgen um die Nahrung aus dem Getreidefeld beschäftigen dich«, begrüßte ihn Sem. Ehrfurchtsvoll legte Than einige Äpfel und Nüsse auf den schweren Felsbrocken, der wie ein wuchtiger Altar in der Mitte des Naturtempels lag. »Die Kinderaugen sehen den Unterschied von Emmer und anderen Gewächsen nicht, die Frauen können nicht mehr so schwer arbeiten und vier Jäger müssen das Dorf ernähren«, klagte Than. »Sem. Lehrmeister. Wir achten auf die Bahnen von Mond und Sonne. Wir ehren die wichtigen Stände der Gestirne durch Feste. Wir huldigen den Göttern oben, wir opfern den Göttern in der Tiefe, die die Fruchtbarkeit geben und das Leben bringen. Der Winter war lang. Wir konnten erst spät säen. Aber dann kam Emmer und Unkraut in solchen Mengen, dass die Kinder das nicht bewältigen konnten. Was machen wir falsch?« Than durchlitt bei seiner Erzählung die Mühen der letzten Wochen noch einmal. »Dein Wunsch war, den Stamm so umzugestalten, dass eine Katastrophe wie im Dogaland nicht mehr passieren kann«, begann der weise Mann. »Ein Dorf bedeutet für alle mehr Sicherheit und mehr Nahrung, wenn«, hier machte er eine kleine Pause, »wenn es eine bestimmte Größe hat. Mit jedem Kind muss die Herde, müssen die Felder größer werden. Viele neue Aufgaben verlangen Männer und Frauen, die spezielle Kenntnisse haben. Es wird der Zeitpunkt kommen, wo nicht mehr jeder alles wissen kann, wie das jetzt der Fall ist. Jede Familie gibt ihr Wissen an die Kinder weiter. Vater wie Mutter …« Hier unterbrach Than aufgeregt. »Vater? Woher wissen wir, wer wessen Vater ist?«, fragte er.
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»Du weißt doch auch, wer deine Gefährtin ist, oder?«, entgegnete Sem. »Weil wir uns anvertraut sind.« »Und der Sohn deiner Gefährtin?«, fragte Sem. »Ist ein Kind unseres Stammes. Alle sind Vater, alle Mutter, und durch den Leib Than-Jas ist er in diese Welt gekommen«, erklärte Than. Leise lächelte der Alte in sich hinein. »Und im Herbst haben alle Väter und Mütter noch mehr Kinder. Dafür kann jetzt keine der Frauen auf dem Feld arbeiten«, resümierte Sem. »Ist es nicht der Wille der Götter, dass unsere Frauen so viele Kinder bekommen?«, fragte Than. »Doch, sicher.« Nachdenklich suchte er nach den richtigen Worten. »Höre nur. Ein Stamm, der nicht mehr wandert, muss Vorrat anlegen. Er muss sich um die Tiere kümmern, auch wenn gerade keines geschlachtet wird. Unkraut muss gejätet werden, auch wenn keine Erntezeit ist. Es gibt viel Arbeit, auch wenn diese nicht unmittelbar den Magen füllt. Dieses tut sie aber später und langfristig.« Wieder suchte Sem seine Gedanken zusammen. »Überlege, wie du für die verschiedenen Arbeiten Verantwortung verteilst. Eine Verantwortung, die verlässlich an die Kinder weitergegeben wird«, sprach er weiter. »Du meinst, der Mann einer Gefährtin ist der alleinige Vater und ist hauptverantwortlich, sein Kind zu lehren und zu nähren. Der sich um die Herde kümmert, kümmert sich um die Herde. Der Bereiter von Werkzeug und Waffen perfektioniert seine Kunst. Mmmhhh«, überlegte Than. »Ulris ist ein geschickter Feuersteinschläger, aber unsensibel im Umgang mit dem Führen der Kühe auf eine neue Weide.«
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»Bedenke«, ergänzte Sem, »wenn Maras jüngere Schwestern, die den Tod ihrer Mutter zu beklagen hatten, von ihrem Vater gewusst hätten, der vielleicht wenige Meter in jenem eiskalten Regen, damals bei der Begegnung mit den Wolfsmenschen, neben ihnen stand, wären sie dem Stamm vielleicht erhalten geblieben.« »Zwei Verantwortliche für Kinder sind besser als einer«, überlegte Than. »Regle so die Familie. Sie gibt den Trommelschlag mit seinem Wirken. Alle zusammen den Rhythmus, in dem der Stamm sein Gedeihen tanzt«, fasste Sem zusammen. »Mmmhh«, überlegte Than. »Wie bekomme ich so viele Kinder über den kommenden Winter?« Sem lachte. »Frage deine Gefährtin, was Säuglinge mögen. Dann sieh dich um, welche Brust die älteren Kinder nährt.« Die Antwort war für Than unverständlich. Bevor er nachfragen konnte, sah er, dass das Gesicht des Alten ernst wurde. »Der Winter wird hart. Der nächste auch. Aber mit jedem Jahr wird es besser. Schon bald habt ihr mehr Vorteile durch das neue Leben, als euch euer altes je bieten konnte.« Sein Blick zeigte Mitleid mit Thans Situation. »Hab Mut, hab Geduld. Deinem Ziel, nie mehr solle eine Generation einfach so ausgelöscht werden können, wirst du von Jahr zu Jahr näher kommen.« »Dank deiner«, lobte Than. »Für eine gewisse Zeit werde ich euch noch begleiten«, sagte Sem. »Nein!«, rief Than erschrocken aus. »Wir brauchen dich.« Dann etwas ruhiger: »Wir bräuchten dich als Schamanen und Ältesten im Dorf. Aber ein schönes weißgekalktes Häuschen habe ich dir ja schon angeboten.« 351
»Auch diesmal lehne ich ab«, sagte Sem, Thans Anliegen verstehend, »weil ich möchte, dass ihr euren eigenen Weg geht. Ihr sollt nicht von mir abhängig werden.« Dann, mit langsamen, eindrücklichen Worten: »Ich bin kein Gott. Ich bin nur ein alter Mann, der helfen will. Verehrung ertrage ich nur in der von dir praktizierten Form«, dabei nahm er einen Apfel und biss herzhaft hinein. Der Saft lief in seinen grauen Bart, »… sonst schlägt es mir auf den Magen.« Than lachte. »Du bist ein treuerer Hüter unseres Stammes als manche Ahnen. Bleib bitte, so lange es dir möglich ist«, bat Than. »Sei beruhigt. Ein wenig Zeit habe ich noch, aber irgendwann werde ich andere Aufgaben übernehmen müssen.« Nachdenklich machte sich Than auf den Rückweg. Als er das enge Tal des kleinen Gebirges verließ, führte ihn sein Weg an einer trägen Hirschherde in der Heide vorbei, die nachlässig am Ufer des Heimatflusses graste. Niemand nahm vom anderen Notiz. Jeder hatte mit sich zu tun. Die Ahnen konnten nicht helfen, denn dieses war ein anderes Leben. Sem hatte ihm die mächtigen Gesetze des Himmels beigebracht. Sein Stamm wusste nun, wann zu säen und wann zu ernten war. Er sprach über die Kräfte der Tiefe, die Kräfte der Mutter. Er sprach nie von Göttern. Gottheiten des Himmels oder Gottheiten der Erde. Dennoch hatte sein Stamm das Bedürfnis, diese Kräfte durch regelmäßige Festlichkeiten zu verehren. Sem verwehrte es ihnen nie. Er sagte dazu immer, die echte Gottheit wohne im Inneren. Was er damit meinte, hatte Than nicht verstanden. Es schien Sem auch gar nicht wichtig zu sein, dass Than es verstand. Als würde man ein Kind gewähren lassen, da es manche Zusammenhänge noch nicht begreift. Hinter Than röhrte der Leithirsch. Ob dieser Warnruf dem vergeistigten Wanderer oder einem Rivalen galt, wusste Than nicht. Es interessierte ihn im Augenblick nicht, so sehr 352
konzentrierte er sich auf seine Gedanken. Sem lehrte ihn, in sich zu schauen. Den Moment in seiner Gleichzeitigkeit aufzunehmen. In solch einem Moment war Than jetzt. Vier Feste markierten den Sonnenlauf. Die kürzeste und die längste Nacht. Die Tag- und Nachtgleichen im Frühling und im Herbst. Diese waren für den Himmel. Dann gab es noch die Fruchtbarkeitsfeste. Den ersten Wonnemond und den Opferdank nach der Ernte. Verwundert musste Than wieder einmal feststellen, dass die neue Lebensweise mehr Reglementierung brauchte. Streitigkeiten mussten geschlichtet werden. Plötzlich hatte jeder mehr Besitz, als er mit sich tragen konnte. Die Verhältnisse änderten sich radikal. Wie sich jetzt zeigte, musste sogar darauf geachtet werden, dass nicht jede gebärfähige Frau, auch wenn sie keinen Gefährten hatte, sogleich schwanger würde. Sem meinte, dies solle mit der Aufwertung der Familie geschehen. Könnte diese wichtiger werden als der Stamm? Es gab noch so vieles, was die Zeit weisen würde. Es tat gut, dass mit der neuen Lebensweise nicht mit allen alten Traditionen gebrochen werden musste. Die Feste zur Ehrung der Ahnen blieben, obwohl sie immer weniger zu Rate gezogen wurden. Than fühlte sich wohl bei dem Gedanken, dass er nicht völlig in eine neue Welt geworfen worden war. »Than«, wurde er vorsichtig und unsicher angesprochen. Eine junge Frau stand neben einem der Büsche, die den Fluss säumten. »Wie? Ja?«, verwirrt blickte Than auf. Eine junge, doch abgemagerte Frau stand vor ihm. Das lange braune Haar mit einem Kamm aus Knochen lieblos nach hinten gesteckt. Sorge, Entbehrung und etwas Furcht lagen auf dem zarten Gesicht. Das grob geschnittene Gewand glich eher einem zu groß geratenen Sack als einem Kleidungsstück. Die Füße steckten in
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verbrauchten und an manchen Stellen durchgescheuerten Fußlingen. Than musste zweimal hinsehen. Dann noch einmal. Doch dann traf ihn die Erinnerung wie ein Blitz. »Mara?«, fragte er zaghaft. »Mara, bist es du?« »Ja, Ältester unseres Stammes«, sagte sie und blickte dabei zu Boden. »Mara, ist es denn möglich? Ich kann es gar nicht glauben.« »Hoffentlich warst du mir«, dann verbesserte sie ihren Satz hüstelnd, »war mir der Stamm nicht böse.« »Verwundert, ja. Böse, nein.« Die erste Überraschung war verschwunden. Than stürzte auf Mara zu und umarmte sie väterlich. Mara zitterte. »Was ist denn?«, fragte Than, der ihre Angst nicht ganz verstand. »Wo ist dein Gefährte Ta’ar? Und wie geht es deinen beiden jungen Schwestern, die dir gefolgt sind?« Er schien tausend Fragen an die junge Frau zu haben. Sie aber schien mit jeder Frage unfähiger zu werden, zu antworten. »Lass uns ins Dorf gehen. Than-Ja und alle anderen werden sich sehr freuen, dich zu sehen.« Dann kullerten die ersten Tränen aus den großen ängstlichen Augen. »Mara?« fragte Than verwirrt. »Nehmt ihr mich wieder auf?« Die tonlose Stimme wurde vom Mut der Verzweiflung getragen. »Aufnehmen?« Than schaute sie mit fragenden Augen an. »Ja, aufnehmen.« Jetzt verstand Than. Noch einmal blickte er die heruntergekommene Gestalt genauer an, als müsse er sich versichern. Bei den Augen angekommen, las er gerade darin, dass sie sein Zögern als Ablehnung werten wollte. 354
»Du warst nie weg. Nicht aus unserem Stamm, nicht aus unseren Herzen«, sagte er. Und so, als müsse er sie noch überzeugen: »Niemand freut sich darüber mehr als ich.« Er wollte sie gerade an sich ziehen, sie erneut umarmen, da drückte sie ihn leicht zurück. Than stutzte. »Ich bin nicht allein«, sagte Mara. »Nicht alleine?« Than sah sich nach allen Seiten um. Dann bemerkte er das Rascheln im Busch, vor dem Mara stand. Ihre beiden jüngeren Schwestern traten vor. »Ihr seid ja alle wieder da«, freute sich Than und begrüßte auch diese beiden auf das Herzlichste. »Lasst uns sofort ins Dorf gehen.« Er bemerkte, dass die drei immer besonders aufmerksam wurden, wenn er das Wort Dorf gebrauchte. Es klang in ihren Ohren ungewöhnlich. Than war stolz auf diese Reaktion. Dieses Dorf sollte auch den drei Rückkehrern ein friedvolles Zuhause geben. »Wir werden eure Ankunft mit einem Fest würdigen. Es ist wunderschön, dass ihr den Weg nach Hause«, hier benutzte er wieder absichtlich ein bekanntes, aber doch neues Wort, »gefunden habt. Folgt mir, ihr werdet euch wundern, was wir in dem einen Jahr alles geschaffen haben.« Mara hielt ihn wieder fest. Than stutzte wieder. »Wir sind nicht allein«, gestand sie erneut. Automatisch blickte Than zum Busch. Dort zeigte sich Ta’ar. Auch er sah nicht genährter oder besser gekleidet aus als die drei Frauen. Höflich grüßend kam er auf Than zu. Gefolgt von zwei weiteren jüngeren Kriegern der Wolfsmenschen. Than wollte gerade einen Schrecken ob der Erinnerung an die letzte Begegnung mit diesem wilden Stamm bekommen, da sagte Mara: »Dies sind die Gefährten meiner Schwestern.« So anders sahen diese Krieger aus. Ohne die aschgraue Bemalung im Gesicht. Ohne den stolzen, fast arroganten Blick in ihren Augen. Man sah auch ihnen Strapazen an, die sie 355
durchlebt und durchlitten haben mussten. Doch Than wollte sie nicht mehr mit Fragen aufhalten. »Wenn ihr in Frieden kommt, seid ihr willkommen.« Than lud sie mit einer Handbewegung ein, ihm zu folgen. Die Freude über die für den Stamm schon verloren geglaubten Frauen war unbeschreiblich. Man beschloss, ausnahmsweise ein Kalb zu schlachten. Man betrachtete den Tag als Festtag. Der Argwohn gegenüber den Wolfsmenschen, die keine mehr sein wollten, aber dennoch die Mörder der Alten und der zurückgebliebenen Jäger waren, war groß. Niemand wollte sich zu ihnen setzen oder mit ihnen sprechen. Than, als Ältester, fasste sich ein Herz und überwand seine unterschwellige Abneigung, die andere Mitglieder des Stammes offener zeigten. »Ta’ar, warum habt ihr den Stamm der Wolfsmenschen verlassen?«, fragte Than geradeheraus. Erfreut, endlich direkt angesprochen zu werden, gab Ta’ar bereitwillig Auskunft. »Für diese wichtige Entscheidung gab es mehrere Gründe«, begann er, als warte er schon lange auf diese Frage und hätte sich dafür eine genaue Antwort zurechtgelegt. »Unser Stamm war kaum noch überlebensfähig. Wir sind zwar starke Männer, aber es wurde schon lange kein Mädchen mehr geboren. Durch Überfälle auf andere lebten und überlebten wir. Vielleicht hast du schon gemerkt«, versuchte er Than in seine Worte mit einzubinden, »dass die Zahl des Wildes zurückgeht. Immer neue Stämme drängten in die Ebenen, auf der Suche nach den großen Herden. Die großen Herden sind klein geworden. Als wären wir vom Schutz der Ahnen verlassen worden.« Than glaubte ein Seufzen zu hören. Seine zwei jüngeren Begleiter starrten nur geistesabwesend ins Feuer. Es machte den Eindruck, als erlebten sie Ta’ars Beschreibung nach.
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»Wir haben es auch gemerkt«, bestätigte Than. »Deshalb sind wir Sommer für Sommer immer weiter nach Norden gezogen. Bis hinauf in das Dogaland. Aber auch das Meer wurde größer und begann, das Land aufzufressen. Noch vor einigen Jahren sahen wir den ganzen Sommer über keinen zweiten Stamm. Zuletzt trafen wir immer wieder auf andere. Einmal mussten wir sogar unser Sommerlager verlegen, weil wir zu nah an anderen waren und uns gegenseitig das Wild wegnahmen.« »Viele Stämme sind für einen starken Kriegerstamm, wie die Wolfsmenschen, leichte Beute. Zuerst hatten unsere Ältesten noch Hoffnung und wir nahmen uns, neben Kleidung, Nahrung und Waffen, die Frauen und Kinder des anderen Stammes nur für Blutopfer.« Than erstarrte innerlich, versuchte sich jedoch nichts anmerken zu lassen. Er wusste, dass es freiwillige Opferungen gab, damit die Lebenskraft der Muttergottheit in der Tiefe der Erde neues Leben hervorbringen kann. Neues Leben für den eigenen Stamm. Aber deshalb gezielt andere Stämme zu überfallen, war für ihn unvorstellbar und schrecklich. »Obwohl die Ahnen dazu rieten, half es nicht. Als die letzte Frau keine Frucht mehr bringen konnte, befahl uns der Schamane, andere Frauen und Kinder unserem Stamm einzuverleiben.« Er setzte kurz ab und überlegte, als ringe er nach den richtigen Worten. »Es macht stark, die Angst in den Augen des Feindes zu sehen. Aber wie sollte unser Stamm eine Zukunft haben, wenn diese Angst in den Augen der Frauen und Kinder, die diese Zukunft mitgestalten sollen, nicht verschwindet.« Er wagte einen kurzen Seitenblick auf seine Gefährtin. Aber gleich senkte er den Blick wieder. »Mara ist eine wunderbare Lehrerin. Sie lehrte uns den Umgang mit Kräutern. Bei der Heilung und bei der Zubereitung von Fleisch. Sie ist geschickt mit den kleinen Nadeln aus Feuerstein, mit denen die Kleidung ausgebessert werden kann. Und so viel mehr. Vor allem lehrte sie mich, auf sie zu achten. Auf ihre Schwestern zu achten. Auf den anderen zu achten. Als 357
dann das Jagdglück ausblieb, hungerten wir.« Sein gesenkter Blick hob sich und suchte Augenkontakt zu Than. »Wir wollen an der neuen Lebensweise teilhaben, die ihr hier lebt. Und wir wollen bei Mara und ihren Schwestern bleiben.« Während der Erzählung Ta’ars waren Henan, Willa und Jarten näher gekommen. Dem ernsten Ton nach musste das Gespräch wichtig sein. Sogleich mischte sich Jarten ein: »Ihr wollt in unser Dorf, in unseren Stamm? Ich habe noch nicht vergessen, wie ihr unser Sommerlager niedergebrannt habt«, sagte er leise, aber wütend zischelnd. »Ich erinnere mich noch sehr gut an die Beerdigung der grauenhaft Verbrannten. Sollte ich das vergessen?«, sagte Henan. »Ihr hättet uns bei unserer letzten Begegnung gnadenlos getötet, wenn Mara und ihre Schwestern nicht zu euch gegangen wären«, sagte Willa. »Ich kann das, was geschehen ist, nicht rückgängig machen«, sagte Ta’ar. »Aber wir sind starke Jäger. Wir sind bereit, unsere Kraft in diesen Stamm einzubringen, wie das Ulris auch macht.« Thans Blick schwenkte kurz zu Ulris, der sich gerade ein großes Stück vom gebratenen Kalb herunterschnitt. »Ulris ist zu uns gekommen, als wir in Not waren. Damals, bei der Konfrontation mit euch Wolfsmenschen. Er hat sich bewusst für das Gute entschieden. Ihr kommt, weil ihr Hunger habt. Das ist ein Unterschied«, plärrte Jarten dazwischen. »Wir kommen, weil wir ein Leben mit unseren Gefährtinnen führen wollen und weil wir so leben wollen, wie sie leben wollen«, rechtfertigte sich Ta’ar. »Gebt mir eine Prüfung, damit ich mich als würdig erweisen kann«, meldete sich plötzlich einer der beiden Jüngeren zu Wort. »Was für eine Prüfung?«, fragte Willa. 358
»Eine Aufgabe, die zu bewältigen ist. Die unsere guten Absichten beweist«, erklärte er. Die vier aus dem Dorf sahen sich ratlos an. »Irgendetwas, das Kraft und Mut erfordert«, sagte der Wolfsmensch. »Ja, ich will auch meinen Mut und meine Absicht beweisen«, meldete sich der andere. »Vielleicht haben wir ja was«, begann Than, »aber vorher wäre zu klären«, dabei wandte er sich an seine Gefährten, »ob wir euch diese Chance überhaupt geben wollen.« »Was spricht denn überhaupt dafür?«, brüllte Jarten. »Dass wir drei treue Männer von drei uns wichtigen Frauen für unser Dorf gewinnen können«, sagte Than. »Die überaus stark und geschickt sind«, ergänzte Willa. »Wo wir ohnehin zu wenig starke Männerarme hier im Dorf haben«, sagte Henan. Jarten, der sah, dass die anderen eine andere Meinung vertraten als er, schwenkte um und sagte: »Welche Aufgabe geben wir ihnen? Es sollte schwer sein, denn die Hürde, die sie zu nehmen haben, ist schwer.« »Es sollte eine für uns nützliche Aufgabe sein. Zum Wohl aller hier. Nicht nur ein einfacher Test«, sagte Than. »Sie könnten versuchen, den Stier zu fangen, dem wir seit Tagen die Kühe wegfangen«, fiel Henan ein. »Stier fangen?«, fragte Ta’ar verwundert. »Lebendig«, betonte Than, dem der Vorschlag gefiel. Dass dies eine schwere bis lebensgefährliche Aufgabe war, wussten alle. Sogar Jarten nickte zufrieden. Mit diesem Bullen könnten sie selber bestimmen, wann die Kühe Kälber bekommen und wann nicht.
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»Ulris!«, rief Than. »Komm bitte hierher. Wir müssen eine Entscheidung treffen, die alle mittragen sollen.« Mit den Worten: »Wolfsmenschen können das. Wir brauchen den Stier und die Männer«, gab Ulris kurz und bündig seine Gedanken wieder. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er sich sehr darüber freute, dass er alte Freunde als neue Freunde bekam. »Dann sind wir Männer uns einig«, sagte Than. »Jetzt lasst uns das mit den Frauen besprechen.« »Du bist Ältester, kannst du das nicht selbst entscheiden?«, fragte Ta’ar verwundert. »Ein Ältester kann viel allein entscheiden. Vor allem, ob es immer klug ist, das zu tun«, gab Than zurück. Während die Zuhörer um das separate Feuer der Männer noch über diese rätselhafte Antwort nachdachten, ging Than hinüber zum anderen Feuer, über dem die Reste des Kalbes hingen. Die Frauen waren in ihr Gespräch vertieft. Nur Than-Ja bemerkte ihren Gefährten und sah sofort, dass er Wichtiges besprechen wollte.
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BAMBERGER GÖTZEN »Filitosa I, Filitosa V, torreanische Kultur, Zyklopenmauer, Tappa I, und was sonst noch«, beschwerte sich Tristan, »ich bin ganz verwirrt. Über wie viele Jahre hinweg wurde diese Anlage betrieben?« Die über Jahrtausende gewachsene Kultstätte faszinierte und verwirrte Tristan gleichzeitig. Unvorstellbar schien ihm, dass vor Urzeiten wilde Steinzeitmenschen hier vor Mächten knieten, die in den vielen aufrechten Steinsäulen dargestellt waren. Vor allem die Filitosa IX genannte Statue hatte es ihm angetan. Eindrucksvolles Gesicht, dessen Ausdruck durch helle und dunkle Kontraste verstärkt wurde. Die ganze Anlage schien ihm wie ein riesiger Altar, auf dem ein Trampelpfad von einem Heiligtum zum nächsten führte. Auf der zentralen Erhebung erschien das Allerheiligste. Die unglaubliche Landschaft mit ihren eigenen Farben und Gerüchen unterstrich Tristans Empfindung noch. Père Jaque kaute noch bedächtig an einem Bissen Fladenbrot und sah den Fragesteller dabei an. »Über sechstausend Jahre lang diente dieser Ort als religiöse Kultstätte«, antwortete er und schluckte dabei die letzten Bissen hinunter. »Wir kennen Funde aus der Jungsteinzeit, der Megalith-Kultur, der berühmten und hier auf Korsika einzigartigen torreanischen Zeit, bis zu den Römern.« »Sechstausend Jahre?«, wiederholte Tristan beeindruckt. »Eine lange Zeit …« Vage ließ er seinen Arm umherschweifen, als wolle er grob alles hier umfassen. »Und was ist jetzt damit?« »Weltkulturerbe«, sagte der Père nicht ohne Stolz. »Die ganze Gegend hier, von Kap Girolata, Kap Por, und der gesamte Naturpark Scandola. Seit 1983.« »Das hat sie auch verdient«, sagte Tristan anerkennend. 361
»Bekomme ich noch eine Tasse Kaffee?«, fragte Alana, die froh war, dass der Pater außer Wein noch eine volle Thermoskanne mit Kaffee dabeihatte. »Selbstverständlich«, sagte er und goss ihr ein. »Die Statuenmenhire, wie die Gedenksteine mit angedeuteten Gesichtszügen genannt werden, sind die ältesten. Die jüngsten tragen gewisse Utensilien, zum Beispiel Schwerter.« »Dann sind das vielleicht gar keine Götter?«, fragte Tristan interessiert. »Wen sie genau darstellen, wissen wir nicht«, gab Jaque zu, »ich könnte mir aber vorstellen, dass die Waffenträger besondere Persönlichkeiten sind.« »Und die ohne Schwerter?«, bohrte Tristan weiter. »Sind womöglich Gottheiten, Schutzgeister, personifizierte Naturkräfte für Fruchtbarkeit bei Saat und Ernte«, erklärte Jaque. »Alles wäre möglich. Aus der Zeit gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen. Wir haben nur das, was wir hier sehen.« »Deswegen fassen Sie alles fotografisch zusammen?«, beteiligte sich Alana. »Es soll alles erst dokumentiert werden«, lächelte er, »eine wunderbare Arbeit.« »Ich muss zugeben, bislang kannte ich Menhire nur aus Frankreich und Irland«, gestand Tristan. »Dass dabei auch Gesichtszüge eingeritzt sind, war für mich neu. Vor dem kleinen Helgoländer Sandsteinmenhir wusste ich gar nicht, dass es so etwas gibt.« »Helgoland?«, fragte Père Jaque, »Sandsteinmenhir?« Jetzt sah Tristan betreten zu Alana. Hatte er zu viel erzählt? Ihr Blick bedeutete ihm aber, dass sie ja hier waren, um mehr über ihren kleinen Menhir zu erfahren. Dass funktionierte nur, wenn sie offen sprachen. Sonst kämen beide nach Hause zurück 362
und wüssten Neues und Interessantes über Filitosa, aber nichts über ihr sandsteinrotes Artefakt. Tristan beugte sich aus seinem Schneidersitz heraus, zu ihrem Rucksack. Kramte mit einer Hand das Bündel heraus, während er mit der anderen darauf achtete, keinen der Schafskäsewürfel zu verlieren, die er auf einem Stück Fladenbrot balancierte. Père Jaque verfolgte seine Bewegungen neugierig und sprach kein Wort. Dann wurde ihm von Tristan das eingewickelte Fundstück übergeben. Behutsam wickelte der Pater es aus. Sein sonst Fröhlichkeit ausstrahlendes Gesicht, egal bei welcher Mimik, schien jetzt angespannt. Als bestünde der Menhir aus zerbrechlichem chinesischem Porzellan, hielt er ihn schließlich vorsichtig, nur mit den Fingerspitzen beider Hände. Aufmerksam studierte er das Stück. Form, Farbe, Gestalt, Eingeritztes. »Woher ist dieses Artefakt?«, fragte er leise, als wolle er es nicht durch laute Worte schädigen. »Das wissen wir nicht«, antwortete Alana. »Noch nicht«, fügte sie hinzu. »Aha«, ließ der Père verlauten. »Der spezielle Sandstein ist aus Helgoland«, ergänzte Tristan pflichteifrig. »Helgoland?«, versicherte sich der Pater. »Kein Zweifel«, begann Tristan stolz zu dozieren. In seinem Fachbereich fühlte er sich wieder sicher. »Rötlicher Sandstein mit hohem Eisen- und Aluminiumgehalt ist typisch für die Sedimente des Zechsteinmeeres.« »Es gibt die Annahme, dass sich auf Helgoland in der Zeit um Mesolithikum und Neolithikum ein kleineres Kultzentrum befunden hat«, sagte Jaque, ohne den Blick vom Artefakt zu nehmen. »Verschiedene Funde könnten darauf hindeuten. Aber
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leider …« Er hielt inne. Studierte das Muster auf der Rückseite der Figur. »Aber leider?«, fragte Alana nach. »Helgoland ist durch die unsinnige Bombardierung nach dem Zweiten Weltkrieg förmlich umgegraben worden.« Der Père sah Alana jetzt direkt an. »Wenn es dort Nachweise gab, dann sind sie mit Sicherheit unwiederbringlich zerstört.« »Dann kann der Fundort nicht Helgoland sein?«, fragte Tristan nach. »Nicht, wenn er nach 45 entdeckt wurde«, sagte Père Jaque. »Aber vorher schon?« »Vielleicht«, sagte der Pater und drehte und wendete das Stück in seiner Hand. »Oder ganz woanders.« Das zum Gemurmel Gewordene klang dennoch hintergründig. »Wo?«, fragten Tristan und Alana wie aus einem Mund. »Natürlich Bamberg.« Stille. Tristan fixierte den Blick des Paters. Wollte an der Krümmung eines Mundwinkels entdecken, dass er einen Scherz gemacht hatte. Aber es folgte nichts dergleichen. Dann die Reaktion. »Bamberg?« Wieder wie aus einem Mund. »O, Madame et Monsieur«, wunderte sich Jaque, »Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, dass Sie die Bamberger Statuenmenhire nicht kennen?« Tristan platzte heraus: »Statuenmen …, was … Bam …?« Alana unterbrach: »Sie meinen die Bamberger Götzen?« Père Jaque nickte. »Die Bamberger Götzenmenhire.« »Wir nennen diese Statuen die Bamberger Götzen«, versuchte Alana zu erklären, »weil sie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der Nähe von Bamberg gefunden wurden. Beim Bau eines 364
Kanalstücks. Aber ehrlich gesagt, ist man sich bei den drei Figuren absolut unsicher, wie man sie datieren soll.« »Aber ich denke, Menhire gehören in die Steinzeit, … äh, Jungsteinzeit«, sagte Tristan. »Hier reichen aber die Schätzungen von etwa 5000 vor Christus bis zum Jahr 1000.« Dabei zuckte sie mit den Schultern und machte Handbewegungen, die alles oder nichts ausdrücken konnten. »Mehr gibt die wissenschaftliche Forschung leider nicht her.« »Wieso 1000 nach Christus?«, fragte Tristan in einem Ton, als wisse er als ›Freund einer Archäologin‹ mittlerweile mehr. »Das ist doch wohl offenkundiger Unsinn.« »Sage das nicht«, sagte Alana. »Man spricht von Grenzsteinen aus der Karolingerzeit genauso wie von Relikten aus einem asiatischen Fürstengrab.« Sofort sah sie Tristans skeptischen Gesichtsausdruck. »Die Mongoleneinfälle im siebten und zehnten Jahrhundert«, setzte sie sogleich nach. Tristan lächelte lieb. »Ich glaube dir sonst alles, was du mir sagst. Aber das nicht.« Père Jaque verfolgte interessiert das Gespräch der beiden. Sein lebendiger Blick verriet, dass er eine ganz eigene Meinung dazu hatte. Er drehte das Artefakt auf den Rücken und betrachtete die blasse Zeichnung, die dort erkennbar war. Er hielt es schräg in die Sonnenstrahlen, damit der Schattenwurf die feinen Linien zeigte. »Gerade in der Archäologie ist nicht immer alles eindeutig, mein lieber Tristan«, sagte Alana. »Das mag in exakten Wissenschaften wie der Geologie so sein. Da ist ein …«, sie suchte nach einem geeigneten Begriff, »… Sandstein ein Sandstein. So einfach ist das in der Archäologie leider nicht, auch wenn es schön wäre. Eine neuere Annahme besagt, dass die Figuren aus der Zeit des Religionswechsels stammen und die
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Missionare Kilian, Totnan und Kolonat oder Willibrord darstellen. Andere sprechen von hallstattzeitlichen Grabstelen.« »Aus der Keltenzeit?«, vergewisserte sich Tristan. »Ja, genau. In der Archäologie fehlen oftmals wissenschaftliche Bestätigungen. Da schaut man dann nach kulturellen Eigenarten, Fundort und typischem Erscheinungsbild«, sprach Alana weiter. »Du weißt, die Kelten haben fürstliche Grabmale mit Stelen ausgestattet.« »Wie die vom Fürsten vom Glauberg, die wir uns im Museum angesehen haben?«, fragte Tristan. Alana nickte. »Auch die Dreiheit des Fundes, also drei Figuren, könnte Aufschluss geben …« »Glaubst du?«, widersprach Tristan. »Nur weil ich zufällig drei Stücke derselben Sache finde, glaube ich doch nicht, dass es die einzigen davon wären. Vielleicht habe ich hunderte nicht gefunden, weil niemand auf die Idee kam, das ganze Bamberger Land mit Kanälen zu durchziehen.« »Oder sie sind bei der Christianisierung rituell bestattet worden«, mischte sich mit einem hintergründigen Lächeln Père Jaque wieder ein, »übrigens typisch für den Umgang mit neolithischen Götzenbildern, nachdem die Christianisierung eintrat. Was vorher heilige Religion mit verehrungswürdigen Göttern war, wandelt der Mensch in Götzen und Teufel, die bekämpft und vernichtet werden müssen.« »Dann glauben Sie auch an eine Evolution der Religion im Laufe der Zeiten?«, fragte Tristan spitzbübisch. »Natürlich«, lachte Jaque unberührt, als er bemerkte, dass sein Gesprächspartner ihm bedingungslose Fixierung auf das Christentum vorwarf. Also religiösen Chauvinismus. »Gott an sich ist für den Menschen nicht erfassbar. Er begegnet im Laufe seiner Entwicklung immer neuen Facetten, die ihn, seine Kultur und seinen Glauben voranbringen.« 366
»Dann ist das Christentum nur ein Stein …, verzeihen Sie, ich bin Geologe …, auf dem Weg«, trieb Tristan seine Provokation des gelassen lächelnden Père weiter. »Bestimmt. Wenngleich es für mich ein Diamant ist, der mir mit seinem Lichtstrahl meinen Weg weist.« Diese Antwort brachte Tristan zum Schweigen. Stille trat ein. Für einige Zeit war nur der Libeccio, der hier typische Südwestwind, zu hören. Die Blätter der mächtigen Kastanien raschelten leise. »Wir haben hier einen Statuenmenhir, wenn auch einen sehr kleinen«, begann Père Jaque wieder. Dabei wies er auf die Sandsteinskulptur in seinen Händen. »Erkennbar sind angedeutete Gesichtszüge und die Hände vor der Leibesmitte. Was ist nicht zu sehen?«, fragte er Alana und Tristan. Beide schauten auf die Figur, die Jaque langsam auf seiner flachen Handfläche drehte. Mittlerweile kannte Tristan fast jeden Strich in der Statue. Aber er konnte sich nicht vorstellen, was er erkennen sollte. Es schien so, als wisse der Pater das Ergebnis seiner Frage bereits. »Wie soll ich auf etwas schauen, was nicht da ist?«, fragte Tristan überfordert. »Sie haben vorhin viele Menhire, hier auf diesem Kultplatz, gesehen. Menhire verschiedener Typen. Vergleichen Sie bitte.« »Unsere Skulptur hat kein Schwert«, versuchte es Alana. »Korrekt«, lächelte Jaque. »Was sagt uns das?« »Hier in Filitosa werden Skulpturen mit Schwertern in die letzten vorchristlichen Jahrhunderte datiert«, sagte Tristan. Froh, dass er sich von dem interessanten Rundgang etwas gemerkt hatte. »Bis hinein in die Römerzeit«, vervollständigte Jaque die Antwort. »Weiter.« »Auf dem Rücken sind Rauten«, sagte Alana. »Wie viele?«, fragte der Père nach. 367
»Mmhh«, überlegte sie. Diese Rauten hatte sie zwar schon erkannt, aber zur Sicherheit zählte sie sie noch einmal nach. Die merkwürdige Anordnung und die Tatsache, dass sie schon sehr verblasst waren, ließen oftmals die Entscheidung nicht zu, was Verwitterungserscheinung und was Raute war. »Dreizehn!« »So viel zähle ich auch«, sagte Tristan. »Ich ebenfalls«, sagte Jaque und signalisierte dadurch, dass sie auf der richtigen Fährte waren. »Also ein kleiner Mondkalender, und mit etwas Fantasie«, dabei rieb er vorsichtig mit dem Daumen auf einigen Flecken, die sich an manchen Rauten zeigten, »inklusive Sonnenwende und Tagundnachtgleiche. Also kein stilisierter Mantel und keine Kapuze.« »Fällt damit die Keltenzeit raus?«, fragte Tristan, der glaubte, etwas begriffen zu haben. »Vielleicht. So genau kann ich mich auf den ersten Augenschein nicht festlegen.« Père schwenkte seinen Kopf unsicher hin und her. »Aber als erste Arbeitsgrundlage würde ich vom Neolithikum ausgehen.« »Was ist mit dem Triskell?« Tristan deutete auf das Symbol auf der Brust der Statue. »Das ist doch keltisch?« »Nein«, antwortete Jaque, »den geschwungenen Dreistern findet man schon in der Jungsteinzeit und nicht nur in Europa. Es ist sozusagen ein weltumspannendes Symbol.« »Warum Bamberg?«, fragte Alana nach. »Weil es mich von seinem stilistischen Charakter mehr an die Bamberger Menhire erinnert als an andere. Vieles hat klein begonnen und ist später größer geworden. Aus kleinen jungsteinzeitlichen Grabstätten zur Totenverehrung wurden große Pyramiden. Aus kleinen Altaren in irgendwelchen Kultstätten wurden große Tempel bis hin zum Turmbau zu Babel. Warum sollten die Menhire nicht anfangs klein dargestellt worden sein? Es war den Menschen damals wichtig, und jede Generation versuchte ihre Verehrung, ihre Achtung 368
und ihre Gottesfurcht durch größere und mächtigere Symbole auszudrücken. Das eigentlich Besondere an Ihrem kleinen Artefakt ist für mich nicht die Zeichnung, nicht mal der Mondkalender oder das mysteriöse Symbol. Es ist die Größe. Besser gesagt, die Kleinheit.« Gebannt starrten sie das rote Ding an. Es schien ihnen geheimnisvoller als noch vor ein paar Minuten. Der Gedanke, ein Vorläufermodell der Menhire vor sich zu haben, schien unbegreiflich. »Helgoland?«, fragte der Père noch einmal nach. »Kein Zweifel«, antwortete Tristan. »Der Sandstein ist typisch.« »Wann wurde das jetzige Nordseebecken geflutet und Helgoland zur Insel?«, fragte der Pater. Er wollte damit keine Antwort, sondern auf das ungeheure Alter des Menhirs hinweisen. »Viel wichtiger erscheint mir aber in diesem Zusammenhang«, sagte Tristan und machte jetzt eine kurze Atempause, als wolle er sich erst über das Ausmaß seines Gedankens klar werden, »wer war so wichtig, dass er in Form des ersten Menhirs dargestellt wurde.« Der Libeccio trieb Regenwolken heran, die bereits am Horizont zu erkennen waren. Genauso entstand in Alanas und Tristans Gedanken eine schemenhafte Gestalt, die den in der kleinen Skulptur Verewigten darstellte. »Ein Semn …«, wollte Tristan gerade ansetzen, aber Alanas strenger Blick ließ ihn verstummen. Pater Jaque konnte sie zwar nicht mehr hören. Zu weit hatten sie sich schon entfernt. Nach dem kurzen Abschied war dieser schon wieder in seine Arbeit vertieft und versuchte, das sich durch die Regenwolken ändernde Licht in seine Fotografien vorteilhaft einzubinden. 369
»Aber darauf muss es doch schließlich hinauslaufen«, sagte Tristan. »Ach, irgendwie hätte ich gewünscht, es würde sich alles als Irrtum herausstellen«, gestand Alana. »Es macht mir Angst. Schön ist zumindest, dass unser Weg uns jetzt wieder nach Bamberg führt. Ich will zu Sophia.« Tristans Gedanken wollten sie warnen. Sie fragen, ob das jetzt geschickt sei oder gefährlich. Aber er schwieg. Er wollte sie nicht noch weiter beunruhigen. »Bamberg«, sagte er, »jetzt die schnelle Variante.« Erschöpft lächelnd signalisierte Alana, dass sie diesmal nichts gegen eine kürzere Flugzeit hatte. Sie schmiegte sich eng an ihn, kniff die Augen zusammen und ließ so die nach wie vor beängstigende Reise vorüberziehen. Tristan sah sie lächelnd an. Sah, wie sie ihre Augenlider fest zukniff. Sah ihr langes schwarzes Haar, das diesem, jetzt sehr kindlichen, Gesicht einen fraulichen Rahmen gab. Nahm nur indirekt wahr, wie sich die Szenerie hinter ihr auflöste. Grüne und blaue Farbwirbel. Seine Konzentration zur Steuerung dieses außergewöhnlichen Flugobjektes lief automatisch ab. Wie in einer anderen Hirnregion. Er sah sich nur die Falten um Alanas Augen an. Wie ein verängstigtes Kind klammerte sie sich an ihn. Dann änderten die Wirbel ihre Farbe. Aus Weiß wurde Grün, dann Grau. Sie standen vor den alten Mauern einer der versteckten Domherrenhöfe Bambergs. Inmitten der Stadt, und doch hatte Tristan hier immer den Eindruck, er wäre in einer Ruheoase, fernab von Hektik und Krach. Der Ort war ideal für ihren Zweck der heimlichen Rückkehr. Nur selten verlief sich ein Tourist hierher.
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»Kalt ist es hier«, bemerkte Alana sogleich. Zaghaft öffnete sie ihre Augen wieder. Aber sie weigerte sich, Tristan loszulassen. »Was für ein Kontrast zur warmen Luft auf Korsika«, stellte Tristan fest und tat so, als würde er Alana wärmen, indem er ihre Arme rieb. Er spürte ihr Frösteln durch die dünne Strickjacke. Alana gab einige brummige Töne von sich, die Unwohlsein andeuteten. »Nur noch das Museum, dann machen wir Schluss für heute, oder?«, schlug Tristan vor. »Die drei Bamberger Götzen frieren bestimmt auch und sind schon zuhause am warmen Ofen«, scherzte Alana mit missmutiger Stimme. »Es ist erst vier. Ich glaube, die haben noch Dienst.« »Die sind heute bestimmt früher gegangen, weil es so kalt ist.« Alana fröstelte wieder. Es klang Tristan aber zu gekünstelt, als dass er den Eindruck hatte, er würde tatsächlich eine Frostbeule in den Armen halten. »Das sind altehrwürdige Bamberger«, gab Tristan zurück. »Ich glaube nicht, dass die einfach blaumachen.« »Wenn nicht, dann sind die bestimmt schon zu kaltem Stein erfroren«, ließ Alana mit trotziger Stimme hören. Sie verließen den Domherrenhof. Tristan wuchtete die schwere Tür auf. Dann gingen sie hinaus über das alte Kopfsteinpflaster, welches zu dem Charakter der historischen Gebäude um sie herum passte. Rechts zeigte sich der Zugang zur Dompropstei. Tristan erinnerte sich noch gut, wie er vor einiger Zeit, an einem lauen Sommerabend, mit Alana hier durchspaziert war. Noch keine geheimen Mächte, die sie verfolgten. Noch kein Wissen über die alten Lehrmeister der Menschen. Noch keine mysteriöse Kugel.
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Während Tristan derart nachdenklich den Anblick des Eingangsbereiches zur Propstei betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er auf all das auch verzichten könnte, was sich zwischen damals und heute ereignet hatte. Zu schnell war sein Leben geworden. Zu gefahrvoll. Nur auf eines wollte er nicht mehr verzichten. Die Antwort gab er sich, indem er Alana noch etwas näher an sich heranzog, als sie jetzt, Arm in Arm, dem hinteren Eingang der Alten Hofhaltung zustrebten. Der Bamberger Dom ragte majestätisch über die Gebäude der Hofhaltung, die in einem Viereck einen großen Hof umschlossen. Fachwerkhäuser, hölzerne Treppenaufgänge, der Verschlag des Hufschmieds. Wieder drängte sich Tristan das Gefühl auf, er könnte hier auch zu einer mittelalterlichen Zeit stehen und kaum einen Unterschied bemerken. Reisegruppen, die sich interessiert um begeisterungsfähige Stadtführer scharten und ihren Beschreibungen lauschten, gab es damals vielleicht weniger, aber das eifrige Hämmern und Schleifen, welches von links aus der Dombauhütte hallte, machte das wieder wett. Langsam schlenderten sie über den Innenhof. Einige Tauben flatterten irgendwohin. Arbeiter luden Stangen und Bretter von einem Anhänger. Bauten an einer Bühne, für die gelegentlichen Theateraufführungen in dieser historischen Szenerie. Nur friedliche Menschen um sie herum. Das beruhigte Tristan. Keine Blicke aus auffällig unauffällig starrenden Augen. Keine grauen Regenmäntel. Keine fragwürdigen Priester, die die Passanten anstarrten. Gemütlich gingen sie auf den Eingang des Historischen Museums zu. Erinnerungen, Erinnerungen. Tristan durchfuhr es beim Eintritt. Hier war er, noch unbekannterweise, auf Alana getroffen und die unbedarfte Sophia. Einige Tage später hatte er von Alana nicht nur eine Privatführung durch die Sonderausstellung der Kelten erhalten, sondern sich auch unsterblich in sie verliebt. Auch wenn ihm 372
dies, als trockenem Wissenschaftler, der er nun einmal war, erst später bewusst wurde. Jetzt konnte er sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. »Weißt du noch?«, fragte sie, leise ihm zuflüsternd. Tristan lächelte. »Ich denke auch gerade daran.« »Sag mal«, dabei sah sie ihn neugierig und spitzbübisch an, »seit wann warst du dir sicher, dass du verliebt bist?« Schnell setzte sie noch nach, weil sie befürchtete, ihre Frage sei zu allgemein und würde nur eine theoretische Abhandlung zufolge haben: »Also, ich meine, in mich.« Tristan sah konzentriert und ernst aus. Sah Alana an. Blickte zu Boden. Sah wieder zu Alana. Schon fürchtete sie, sie hätte ein Thema berührt, über welches er noch nie nachgedacht hatte. Sie lächelte erst. Wurde ernster. Erwartungsvoller. »Seit du es mir gesagt hast, natürlich«, kam seine Antwort. Kurz und unverständlich. Alana blieb stehen. Sah ihn herausfordernd an. »Wie soll ich das verstehen?«, fragte sie. »Ich hab dir etwas gesagt und du hast gehorcht?« Tristan erschrak. »Nein«, rief er. »Nein!« Er suchte nach Worten. Sah dabei gar nicht, wie Alanas Gesichtszüge ein Lächeln hervorbrachten. Sie wusste, dass sie ihn damit quälte. Und sie tat es gern. »Es ist nicht so«, stotterte er. »Es ist eher wie ein Land …« »So groß, so breit?«, unterbrach sie ihn. »Nein, nein«, beunruhigte er sich immer mehr, »eher wie eine kleine Insel …« »Eine Insel?«, fragte sie nach. Tristan befürchtete sofort wieder, dass sein Vergleich ungeschickt gewählt war. Er erwartete schon eine unpassende Spezifizierung einer Insel, die sie unschön beschrieb. 373
»Sie ist da, obwohl sie noch nicht entdeckt wurde«, schoss es aus ihm heraus. Alana kicherte. »Ich meine«, stotterte er weiter, »sie ist unentdeckt, bis sie entdeckt ist …, dann ist sie schon da.« »Das ist aber eine merkwürdige Insel«, stellte Alana fest. »Die Insel also ist noch nicht entdeckt, obwohl sie schon da ist …«, kämpfte Tristan um Worte. Er wurde zusehends nervöser. Wie nur konnte er Alana seine Liebe erklären? »… und dann ist sie da?«, versuchte sie ihm schalkhaft zu helfen. »Vorher schon«, betonte er immer lauter. Dann blickte er mit seinen verzweifelt suchenden Augen, als wäre die Antwort auf dem Steinboden des Vorraums des Museums zu lesen, auf. Direkt in Alanas Augen. Wollte geradewegs ihre Auffassung des Gesagten erkennen. Sah in spitzbübisch genießerische Augen und ein lachendes Gesicht. Die Kassiererin, die gerade mit zwei Museumsbesuchern sprach, verfolgte Tristans Versuch einer Liebeserklärung, wie auch die beiden, die sie gerade bediente. Sie vergaßen völlig den Bildband über das mittelalterliche Bamberg in ihren Händen. Um sich von der schweren Frage Alanas abzulenken, fingerte Tristan umständlich nach seinem Geldbeutel. Suchte nach Münzen, um den geringen Eintritt zu bezahlen. »Vorher, wann?«, bohrte Alana nach. »Hast du noch einen Euro?«, fragte Tristan unvermittelt und hielt einen Fünf-Euro-Schein hoch. »Vorher, wann?«, fragte Alana unbeirrt nach. »Was …?«, gab sich der Gefragte unwissend, »Die Insel?« »Frau Schäfer und Begleitung sind hier frei«, rief ihm die Kassiererin zu, als sie Tristans Geldschein sah. Dabei machte sie eine einladende Handbewegung zu den Ausstellungsräumen. 374
»Danke schön«, sagte Alana und zog den unsicher wirkenden Tristan hinter sich her. Wie eine Fahne wirkte der Schein in seiner erhobenen Hand. Schnell steckte er ihn wieder ein. Heute würdigten sie die Ausstellungsvitrinen und Schautafeln keines Blickes. Mit schnellem Schritt ging es daran vorbei. Das Alltagsleben im Mittelalter, dargestellt in Haushaltsgegenständen und Utensilien aus Medizin, Religion, Schriftwesen, Handel und Verkehr, vom sechsten bis zum achtzehnten Jahrhundert zog unbeachtet an den beiden vorbei. »Da vorne«, zeigte Alana, »im Übergang zum nächsten Gebäudeteil.« Und da standen sie plötzlich. »Die Bamberger Götzen«, las Tristan. In eisernen Gestellen standen drei etwa ein bis ein Meter siebzig große Menhire. Eingearbeitete Gesichtszüge, erkennbare Kleidung und die typische Haltung der Hände vor der Körpermitte. Zeichnungen auf dem Rücken, die als Kleidung oder Orientierungsraster für Kalenderwesen gedeutet werden konnten. »Unsere unbekannten Wesen«, sagte Alana. »Jetzt, wo ich sie vor mir sehe, erscheinen sie mir wie die großen Brüder unseres kleinen Freundes. Auch sonst scheint vieles vergleichbar zu sein.« »Keuper«, murmelte Tristan, der vorsichtig mit der Hand die Steinoberfläche berührte, sie aber sofort wieder zurückzog, als hätte er einen kleinen Stromstoß bekommen. Es kam ihm ungehörig vor, ein Ausstellungsstück in einem Museum zu berühren. »Was?«, fragte Alana nach. »Keuper. Ich meine die geologische Formation, aus der das Gestein stammt«, erklärte Tristan, sah dabei Alana an und bemerkte sofort, dass er weiter ausholen musste. »Vor etwa 375
zweihundert Millionen Jahren verlandete ein großes Meer und bildete in seinen Ablagerungen dieses Gestein. Während der Obere Keuper, also der Rhät, noch reich an Fossilien ist …« »Ich glaube, mir reicht die Erklärung für heute schon«, unterbrach Alana ihn. Denn sie befürchtete, er würde jetzt erst einmal zur Beschreibung der geologischen Geschichte des Obermaintales ausholen. »Gehörte übrigens zum Trias«, hub Tristan noch einmal an, »der Zeit, in der die Dinosaurier sich hier die hübschen Mädchen holten.« Mit einem überraschenden Griff packte er sie fest, aber doch liebevoll im Nacken. Zog sie zu sich. Wollte ihr einen Kuss rauben. »Bin kein Mädchen«, protestierte Alana. »Aber hübsch.« »Zu alt für Dinosaurier.« Tristan wollte gerade erneut zu seinem Kussraub ansetzen, da lenkte sie ihn ab. »Schau dir doch mal die Rückenzeichnungen der Bamberger Götzen an«, schlug sie vor. Sofort war Tristan wieder konzentriert bei der Sache. »Linien«, berichtete er, »waagerechte Linien.« »Könnten die einen Kalender darstellen?«, fragte Alana, beugte sich aber sogleich selbst an Tristan vorbei, um besser sehen zu können. »Was ist Linie und was ist Zeichnung im Stein selbst?«, fragte Tristan zurück. »Da scheint mir aber die Rückseite mit ihren dreizehn Rauten von unserem Menhir sinniger auf einen Kalender hinzuweisen«, sagte Alana. »Warum ist das mit dem Kalender so wichtig?«, fragte Tristan.
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»In landwirtschaftlich geprägten Kulturen wie der aufkommenden Jungsteinzeit war man sehr davon abhängig«, sagte Alana. »Er ist praktisch eine Landkarte des Lebenszyklus. Er zeigt die Zeiten für Geburt und Tod der Natur. Die Zeiten von Saat und Ernte. Feiertage zur Sonnenwende und zu den Tagundnachtgleichen bilden wichtige Wegpunkte.« Jetzt war es Alana, die sich begeisterte. »Dann könnte ja das Christentum auf den ersten Blick eine neolithische Religion sein«, überlegte Tristan. »Tod und Wiedergeburt, beziehungsweise Tod und Auferstehung der Gottheit.« Alana war unsicher, was sie von dem Beitrag Tristans halten sollte. Es fiel ihr nichts dazu ein. Sie schaute ihn verwirrt an. »Maria würde das Bedürfnis nach einer Muttergottheit erfüllen«, sprach er weiter. »Außerdem würden die an die Natur angelehnten Festlichkeiten auch sehr gut ins Christentum passen.« Alana blieb stumm und sah ihn streng an. Tristan sprach weiter. »Weihnachten, Ostern, Johannistag, Erntedank für Sonnenwende und Tagundnachtgleiche. Soll ich weitermachen?«, scherzte Tristan, der ihren überraschten Blick sah. Alana fiel nichts zu der Überlegung ein, das Christentum könnte neolithische Wurzeln haben. »Halloween, wo die Ängste vor Geistern in der zunehmend dunkleren Jahreszeit verarbeitet werden«, überlegte Tristan weiter, »Fasching oder Karneval, um diese Geister in der zunehmend helleren Jahreszeit wieder hinauszuschmeißen.« »Du glaubst ja sowieso, dass Religion nur Ausdruck eines menschlichen Bedürfnisses ist, das sich im Laufe der Zeit wandelt«, sagte Alana, die ihre Worte wiederfand, »also eine Evolution durchläuft wie …« Sie suchte nach einem Vergleich. 377
»Wie die Menschheit selbst«, half ihr Tristan auf die Sprünge. »Dann wäre das Christentum ja menschengemacht«, sagte Alana, »glaubst du das?« Tristan wirkte nachdenklicher. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, ließ er leiser hören. »Aber sieh dir doch diese drei Götzenmenhire an. Ihre zeitliche Einordnung geht von etwa 5000 vor bis 1000 nach Christus. Sechs Jahrtausende, die mit immer wieder gewandelter Bedeutung ihren Sinn im geistlichen Leben der Menschen haben.« »Wohin sollte eine Evolution der Religion uns führen?« Alana wirkte wieder ängstlicher. »Ich weiß nicht«, überlegte Tristan. »Vielleicht wird der Mensch ja klüger im Umgang mit sich und der Welt.« »Das ist doch das Ideal vieler Religionen durch viele Jahrtausende«, seufzte Alana. »Derzeit könnte man die zunehmende Kommerzialisierung für eine abartige Evolutionsstufe halten«, sagte Tristan, aber es gefiel ihm nicht, was er sagte. »Denkt man noch an die Geburt Christi zu Weihnachten? Oder eher an den roten Santa Claus, der Geschenke verteilt, die man dann doch kaufen soll? Erlöser oder Verkäufer?« »Welches Bedürfnis hat der Mensch heute eigentlich, wenn ihn so etwas anspricht?«, sinnierte Alana. »Denn eigentlich erhält ja nur er mit seinem Glauben den neuen Glauben am Leben.« »Leider ist es mit Ihrem Glauben nicht weit her«, sprach jemand unmittelbar hinter den beiden. Alana schrie vor Schreck kurz auf. Tristan zuckte herum und sah in das leidenschaftslose Gesicht von Smith. »Ich habe Sie wohlwollend gewarnt«, fuhr er fort. »Aber Sie haben mir nicht geglaubt.« 378
Alana schob sich förmlich in die Arme Tristans. Suchte Schutz. Atmete hektischer. »Ich hätte nie gewollt, dass der kleinen Sophia irgendetwas geschieht. Aber leider ….« Da kam in Alana die Tigerin hoch, die nur eines wollte, und das mit aller Gewalt. Ihr Junges beschützen. Unerwartet sprang die zuvor in den Armen Tristans Schutz Suchende auf Smith zu. Ein gellender, spitzer Schrei. Die zu Krallen gespannten Finger versuchten ihn zu greifen. Der packte sie an den Unterarmen. Vorsichtig, als wolle er sie nicht verletzen. Fest, damit sie nicht entglitt. Tristan versuchte, die Verzweifelte zurückzuziehen. Da sah er den Blick Smiths. Merkwürdigerweise erkannte er in dem sonst eiskalten Blick Mitgefühl und Verständnis. Ein zweiter Mann sprang, durch den Schrei aufgeschreckt, herbei. Die Hand bedrohlich im Jackett. Ein kurzes Zucken aus den Augenwinkeln befahl ihn wieder hinaus. »Nehmen Sie doch Vernunft an«, versuchte Smith zu beruhigen, »wir wollen nur das Artefakt. Sophia soll Sie motivieren, nicht mehr einfach zu verschwinden, ohne sich zu verabschieden.« »Wo haben Sie sie«, schrie Alana und versuchte sich loszureißen. »In sicherem Gewahrsam. Es geht ihr gut«, sprach der Geheimdienstmann weiter. »Sobald wir uns einig sind, lasse ich Sie zu ihr bringen und Sie können nach Hause gehen.« Sofort erschlaffte die Kraft in Alana wieder. Mit Schluchzen zog sie sich wieder in Tristans Arme zurück.
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ENTFÜHRUNG Wie eine ferngesteuerte Marionette wirkte Alana, als sie, angeschmiegt an Tristan, den Weg zu ihrer Wohnung nahe dem Domberg ging. Es war nicht weit. Trotzdem kamen ihnen die wenigen Minuten wie Stunden vor. Die Verzweiflung Alanas, was mit ihrem Kind sei, wuchs ins Unermessliche. Sie wagte nicht zu sprechen. Tristan hielt Alana fest im Arm und steuerte die Gasse zwischen dem erzbischöflichen Ordinariat und dem Dom an. Es war kalt. Das Kopfsteinpflaster schimmerte nass, als wäre ein Nieselregen niedergegangen. Smith und sein Mitarbeiter folgten schweigend. Die Hände tief in die grauen Regenmäntel vergraben. Der Geheimdienstmann war sich sicher, dass nun nichts mehr der Übergabe des Artefaktes im Wege stünde. Mit der Entführung Sophias waren alle Trümpfe auf seiner Seite. Die besorgte Mutter würde nun nicht mehr vor seinen Augen verschwinden wollen. Niemand würde jetzt mehr Widerstand leisten. Zwei kurze Anrufe auf seinem Handy waren die Auslöser für seinen Zugriff gewesen. Erst teilte der ihm unangenehme Pater Iscariot mit, dass er Sophia habe, und dann sein Mann in Bamberg, dass die dringend Gesuchten hier seien. Er war zwar abgestellt, Pater Benedikts Erscheinen zu melden, falls dieser in der Propstei auftauchte, aber so war es viel besser. Einsam lief die sonderbare Gruppe den Domberg hinab zur Gasse des Vorderen Baches. Betraten den Flur des Hauses, in dem Alana wohnte. »Hallo, Frau Schäfer«, schnatterte eine Nachbarin, die Alana gleich am Eingang abpasste. »Heute war der Schornsteinfeger
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da und obwohl Sie das wussten, waren Sie nicht hier. Deshalb habe ich ihn in Ihren Keller …« Aber Alana war so sehr in sich gekehrt, dass sie die ältere Dame gar nicht wahrnahm. Ging schnurstracks durch den Flur zum Hinterausgang. Überrascht blieb der Sprecherin der letzte Teil des Satzes im Mund stecken. Alana betrat den verwilderten Garten hinter dem Haus. Die Nachbarin wollte gerade wieder Luft holen und ihr den Rest der Information noch hinterherrufen, da traten Smith und sein Gefolgsmann an ihr vorbei. Sogleich verstummte sie wieder. Auch diese steuerten unbeirrt den Garten an. Vor Entrüstung schwer atmend erholte sich die Dame langsam wieder und stammelte ein »Also, Leut’ gibt’s …« hinterher. Sie steuerten auf einen Schuppen zu, der hier zwischen den trutzigen Schutzmauern des Domberges und dem Domgrund schon viele Jahrzehnte Wind und Wetter ausgesetzt war. Braungraue Bretter. Windschiefes Dach. An einer Seite stand ein hölzerner Biergartentisch. Daran lehnten zusammengeklappte Stühle. In diesem Augenblick öffnete Tristan das hölzerne Tor des Schuppens, das in seinen verrosteten Angeln quietschend protestierte. Allerlei Alteisen, Gartengeräte, Rasenmäher, aber auch eingelagertes Heu füllte den Raum. »Halt!«, rief Smith von hinten. Abrupt erstarrte Tristan. Wartete auf weitere Anweisungen. »Zurück!«, wies der Graue in militärischem Ton an. Eingeschüchtert ging Tristan einige Schritte zurück. Stieß dabei mit dem anderen Grauen zusammen, der ihn brutal zur Seite stieß. Tristan landete an der Bretterwand und verfing sich in den Stangen von Rechen und Schaufeln. »Ey!«, wollte er schreien. Der Ruf blieb ihm aber im Hals stecken. 381
Der Angesprochene achtete nicht auf ihn. Fing an zu wühlen. Sägen, Bretter, Beile flogen nach hinten. Reste von Dachblechen klirrten aneinander. »Dr. Wagner. Sagen Sie exakt, wo sie sich befindet«, ließ Smith scharf hören. Tristan schnappte noch nach Luft. Brachte sich zwischen den Gartenwerkzeugen wieder in die Senkrechte. »Shit!«, war vom vorgestürmten Geheimdienstmann zu hören. Er drehte sich um. Sein Daumen blutete. Geschickt wickelte er ein Taschentuch um die Wunde. »Sagen Sie endlich, wo sie versteckt ist!«, sagte Smith strenger. Tristan wies mit dem Kinn widerstrebend in die Ecke, in der der Mitarbeiter wühlte. »Hinter den alten Dachblechen«, stieß Tristan kraftlos hervor und ließ das Kinn auf seine Brust sinken. Er hatte verloren. Versagt. Ausgerechnet denjenigen, die das Artefakt nie in die Hände bekommen sollten, hatte er es ausgeliefert. Er wagte nicht, sich auszumalen, was das für die Menschheit bedeutete. Den entscheidenden Vorteil für eine Gruppe, die es skrupellos für egoistische Zwecke ausnützen würde. Zum Wohle der eigenen Elite. Das Gefühl tiefer Ausweglosigkeit bemächtigte sich seiner. Ihn beruhigte nur, dass er Sophia damit gerettet hatte. Klappernd und scheppernd arbeitete sich der Geheimdienstmann voran. Heubüschel flogen zur Seite. Scharfkantige Blechvierecke nach hinten. Tristan ging auf die Tür zu. Er wollte zu Alana, die dort vor Smith stand. Sie starrte niedergeschlagen zu Boden. Tristan suchte die Hand seiner Geliebten. Sie die seine. Doch Smith stieß ihn bestimmt, aber nicht brutal zurück an die Wand. Scheinbar hatte er die Befürchtung, dass noch etwas 382
Unvorhergesehenes geschehen konnte. So nah am Ziel wollte er kein Risiko mehr eingehen. Körperkontakt zwischen den beiden wollte er jetzt nicht dulden. »Smith!«, stieß der wühlende Mann hervor, als hätte er ein Messer zwischen den Zähnen. Dabei drehte er sich zu ihm, hob eines der Bleche an. Darunter zeigte sich die ungewöhnliche Gestalt des außerirdischen Artefaktes. »Zurück ins Haus!«, befahl Smith. Er zog, rückwärts gehend, Alana hinter sich her. Sein Begleiter schnappte Tristan schmerzhaft am Oberarm, drehte seinen Arm auf den Rücken und führte ihn wie einen Schwerverbrecher hinterher. Der Weg führte in Alanas Wohnung. Die steile Holztreppe in den ersten Stock konnte Tristan nicht ohne zu straucheln gehen. Der brutale Mensch an seiner Seite schob ihn rücksichtslos voran. Oben angekommen, sah er Smith und Alana nicht mehr. Tristan selbst wurde in das Schlafzimmer gestoßen und auf das Bett geworfen. Gerade wollte er seinen Oberarm und seine Schulter reiben. Es schmerzte sehr. Da saß der Brutale rittlings auf ihm. Tristan bekam kaum Luft. Beide Hände wurden auf den Rücken gedreht. Den Bruchteil einer Sekunde später schnürten dicke Kabelbinder Hand- und Fußgelenke. Sie schnitten ein. Trotz der angespannten Situation überlegte Tristan kurz, woher der Mann die Binder so plötzlich hatte. Er vermutete, dass sie zur ›Ausstattung‹ in seinem zweifelhaften Beruf gehörten. Schon sprang er wieder von dem Gefesselten herunter und war zur Tür hinaus. Tristan hörte nur noch, wie knallend die Tür in das Schloss fiel. Erschöpft schloss er die Augen. Alana erging es etwas besser. Zumindest körperlich. Sie saß – ungefesselt – in ihrem alten roten Ohrensessel. Starrte wieder vor sich hin. Innerlich zum Zerreißen angespannt. Sie atmete so flach, dass Smith es kaum wahrnehmen konnte. Sie war 383
ausgeliefert. Konnte nur abwarten. Und das war das Schrecklichste an der ganzen Sache. Smith ging aus dem Zimmer. Der andere kam. Blieb im Türrahmen stehen. Er starrte auf Alana. Seine Augen waren ausdruckslos. Seelenlos, würde Alana sie nennen, wenn sie überhaupt den Personenwechsel im Zimmer wahrgenommen hätte. Smith telefonierte. Seine Worte waren nicht zu verstehen. Nur, dass er sprach. Nicht einmal die Sprache, die er verwendete, konnte Tristan heraushören. Dann wurde es wieder still. Tristan lag bäuchlings auf dem Bett. Den Kopf zum Heizkörper hingedreht. In seinem Gesichtsfeld nahm er außer der Bettdecke die Nachttischlampe und das Fenster wahr. Draußen wurde es langsam dunkel. In seinem Gefängnis wurde kein Licht gemacht. Dann hörte er wieder Schritte. Nichts geschah. Seine Handgelenke schmerzten immer mehr. Eine Hand fühlte sich schon taub und pelzig an. Seinen Füßen erging es nicht besser. Tristan getraute sich nicht, sich auf die andere Seite zu drehen. Dann hätte er sich über die auf dem Rücken gefesselten Hände drehen müssen. Er scheute den Schmerz. ›Außerdem‹, dachte er sich, ›was soll das auch ändern?‹. So betrachtete er die Dunkelheit, die hereinbrach. Die Nachttischlampe wurde zum schattenhaften Scherenschnitt. Die Rippen des Heizkörpers lösten sich in gräulicher Schwärze auf. Da schlugen die Glocken des Domes. Laut hallte der sonore Klang durch die mittelalterlichen Gassen der Innenstadt. Acht Mal. Und nichts war bisher geschehen. Die Hände und Füße spürte Tristan jetzt gar nicht mehr. Nur ein leichtes Pochen des Blutes vor der Schnürstelle. Er stellte sich seine Gliedmaßen dunkelblau vor. Sofort versuchte er, das Bild davon wieder wegzuwischen. Es gelang nicht. 384
Dunkelblaues, mit schwarzen Aderbahnen durchzogenes Fleisch tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Das Bild zog ihn magisch an und war doch abstoßend. Tristan stellte sich vor, er stünde im Vorlesungssaal vor der Tafel und versuchte, das Bild mit einem Schwamm davon abzuwischen. Es gelang nicht. Wieder und wieder versuchte er, den Schwamm zu heben. Er bekam ihn nicht hoch. Schmerz durchfuhr ihn bei jedem Versuch. Verzweifelt blickte er hinunter zu dem Schwamm. Er hielt ihn in beiden Händen. Die Hände waren mit Plastikriemen gefesselt. Schwarze Hände. Tristan erschrak panisch. Dabei drückte er den Schwamm, um zu fühlen, dass er sich wirklich in seiner Hand befand. Eine blauschwarze Flüssigkeit quoll hervor. Angewidert schleuderte Tristan den Kopf weg von diesem Anblick. Schrie angeekelt auf. Da wurde die Tür zu seinem Gefängnis aufgestoßen. Der brutale Geheimdienstmann kam wieder. Packte ihn. Stellte ihn auf die Füße. Sie trugen nicht. Tristan brach sofort zusammen. Der Mann zögerte keinen Augenblick. Packte den Gefangenen mit rücksichtslosem Griff. Schleifte ihn hoch und zur Zimmertüre hinaus. »Alana!«, versuchte Tristan noch zu rufen, doch eine kräftige Hand presste sich auf seinen Mund. Wie eine Puppe wurde Tristan zur Wohnungstür hinaus- und die Treppe hinuntergeschleift. Vor der Haustür auf den Rücksitz eines parkenden Autos geworfen. Irgendwelche harten Konstruktionsteile des Fahrzeuges drückten in seinen Leib. Ein kräftiger Tritt seines Wärters, und Tristan verschwand vollends im Fahrzeug. Es war ein schwarzer Hummer-Jeep. Das nahm Tristan trotz seiner misslichen Lage im Bruchteil einer Sekunde wahr. Er hatte aber keine weitere Sekunde Zeit, das Gesehene zu verarbeiten. Das Fahrzeug fuhr los. Es war schrecklich. Eine Tortur für Tristan. Er hockte eingeklemmt im Fußraum des Rücksitzes. Seine Arme und Beine schmerzten. Er hatte keine Kraft, sich mit den Beinen 385
hochzustemmen, um auf dem Sitz Platz zu nehmen. Jede Bewegung schnitt tiefer in seine Gelenke. Seine Knie waren gegen die Vorderseite des Rücksitzes gepresst und sein Rücken gegen die Rückseite des Beifahrersitzes. Es gab gar keinen Platz, sich zu bewegen. Jeder Streckversuch des Knies drückte ihn nur weiter in den Vordersitz. Also ergab sich Tristan wieder seinem Schicksal. Versuchte seine Lage zu ignorieren. Dachte an nichts. Plötzlich klingelte ein Handy. Der bärenstarke Handlanger Smiths telefonierte. Bestätigungsgrunzer schienen jeweils ein ›Ja‹ zu bedeuten. Sogleich klappte er das Gerät wieder zu und ließ es in seiner Tasche verschwinden. Drehte sich zu Tristan. Zog ihn an den Schultern nach oben und drückte ihn auf den Sitz. Tristan kam gerade noch mit einer Drehbewegung seines Körpers zurecht, um auch auf seinem Hinterteil zu sitzen zu kommen. Etwas entspannter atmete er aus. Versuchte die Knie zu strecken und seinen Rücken zu entspannen. Gerade wollte Tristan nach draußen sehen, um sich zu orientieren, da vernahm er ein metallenes Schnappen neben sich. Das Geräusch klang gefährlich kalt. Augenblicklich warf er den Kopf herum und sah in die matt schimmernde Klinge eines Schnappmessers. Der Geheimdienstmann hielt es ihm unter die Nase. Verzog dabei keine Miene. Tristan schnappte nach Luft. Da wurde er auch schon mit dem Oberkörper nach vorne gedrückt. Ein rascher Schnitt, und seine Handfesseln waren durch. Die Pranke seines Wächters drückte ihn wieder in die Lehne des Sitzes. Wie eine Schraubzwinge hielt sie ihn dort fest. Ein kurzer Schnitt, und seine Fußfesseln fielen zu Boden. Mit zu Schlitzen zusammengezogenen Augen ließ der Mann das Messer wieder zusammenklappen und steckte es ein. Sein Blick war eine einzige Warnung, ja nichts Unbedachtes zu machen. Tristan wollte sich mit einem Lächeln bedanken, da spürte er, wie sein Blut zurück in die Gliedmaßen schoss. 386
Erst Kribbeln. Dann Schmerzen. Er versuchte die Gelenke zu reiben, um die Durchblutung zu fördern, ließ aber sogleich wieder davon ab. Seine Hände gehorchten ihm nicht. Selbst der Versuch hätte ihn aufschreien lassen. Doch er wollte seinem Nebenmann keine Blöße zeigen. Tristan biss sich auf die Lippen. Der Jeep, von den Ausmaßen einer Limousine, rauschte durch die neblige Nacht. Irgendwann erholten sich auch die Hände und Füße Tristans. Er starrte apathisch zum Seitenfenster hinaus. Nun war es geschehen, sagte er zu sich selbst. Sie hatten den leidenschaftlichen, für ihn aber auch wissenschaftlichen und philosophischen Kampf verloren. Die Kugel war jetzt sonstwo. Obwohl es möglich war, er würde sie jetzt nicht benutzen. Nie würde er Sophia oder Alana in Gefahr bringen wollen. Wo war Alana eigentlich? Sie waren getrennt worden. Inständig hoffte er, dass sie frei war. Es gab eigentlich keinen Grund mehr, sie festzuhalten. Sie brauchten nur ihn. Er konnte die Kugel bedienen. Sie brauchten auch Sophia nicht mehr. Hoffentlich war sie in Sicherheit. Tristan nahm sich vor, keinen Widerstand zu leisten und den Forderungen dieser Männer nachzugeben. Nichts war so wichtig wie das Leben und die Sicherheit seiner beiden Lieben. Stundenlang fuhren sie eintönig dahin. Weiter. Immer weiter. So verrannen Stunden um Stunden. Das sonore Brummen des schweren Motors schläferte ein. Das Chaos in seinem Kopf, die Sorge und die Angst, die in ihm schwirrte, schwirrte weiter und löste sich dennoch von ihm. Er glaubte, dieses Knäuel von außen zu sehen. Die Ängste, die Sorgen flogen weiter chaotisch um einen imaginären Mittelpunkt, aber er fühlte sich persönlich nicht mehr betroffen. Was konnte er denn tun? Nichts. 387
Diese Loslösung beruhigte ihn. Dann schlief er ein. Von den gelegentlichen Pausen bekam Tristan nichts mit. Alle paar Stunden vertrat sich der Fahrer die Beine. Nach einer Zigarettenlänge ging es weiter. Immer in diesem Rhythmus, den der Gefangene verschlief. Selbst wenn er aufwachen wollte, wehrte er sich dagegen, wach zu werden. Er konnte ohnehin nichts tun und wollte nicht in diese Realität zurückkehren, in der er ohnmächtig war. Dröhnend donnerte ein Laster vorbei. Tristan schreckte hoch. Die Fahrt dauerte jetzt schon sicherlich zehn Stunden. Ein leichter Schimmer gräulicher Helligkeit legte sich auf das Land. Die Fahrertür des Hummer-Jeeps war geöffnet. Lässig auf die Motorhaube gelehnt, stand der Fahrer am Auto und rauchte. Sein Wächter befand sich in der geöffneten Tür auf seiner Seite. Wieder dröhnte ein Lastwagen vorbei. Jetzt war Tristan endgültig wach. Er überlegte, ob er auch aussteigen dürfe. Die Natur half ihm zu einem schnellen Entschluss. Er bemerkte, dass er dringend einen der Büsche am Rande des Parkplatzes aufsuchen musste. ›Also raus hier‹, sagte er zu sich selbst. Bemühte sich, möglichst nicht zu schnell und mit hörbarer Geräuschkulisse auszusteigen. Sein Bewacher sollte nicht den Verdacht bekommen, er unternähme diesen Ausflug heimlich. Trotzdem sprang er schnell an Tristans Seite. Begleitete ihn. Dem mimiklosen Kraftprotz schien durchaus bewusst zu sein, dass diese Fahrt auch für Tristan lang war. Dieser nutzte die Gelegenheit, sich die Umgebung zu betrachten. Hinter den Büschen stockte ihm der Atem. Vor ihm lag das Meer. Ein mäßiger Wellengang brach sich am Strand. Nebel waberte über dem Wasser. Salzgeruch. Tristan gönnte sich ein paar tiefe Atemzüge. Langsam drehte er sich um die eigene Achse. Nahm in der ersten Helligkeit die Umgebung 388
wahr. Dann der Blick nach Osten. Ein rosiger Schimmer zeigte sich am Horizont über dem Wasser. Ein grimmiges Brummen seines Bewachers mahnte zur Eile. Tristan ignorierte ihn. Betrachtete den Felsen, der sich in der Ferne nahe der Küste, aber doch im Meer abzeichnete. Die Form kam ihm bekannt vor. Sonst allerdings nichts. Er war sicherlich noch nie hier gewesen. Aber der Felsen. Markant. Einzigartig. Mit seiner nadelfeinen Spitze. Da stieß ihn der Geheimdienstmann mit dem Handrücken gegen den Oberarm. Er solle nicht mehr trödeln, schien es zu heißen. Tristan beeilte sich mit einem unaufschiebbaren Teil der Morgentoilette. Dann ging es zum Jeep zurück. Bevor er einstieg, blickte er noch einmal die Straße hinauf und hinab. Vor ihnen erkannte er in der Dämmerung gerade noch ein Straßenschild. In großen Lettern stand dort St. Malo. Frankreich! Was um alles in der Welt sollte er hier?, fragte er sich. Aber noch bevor er sich versah, wurde er wieder in das Fahrzeug gestoßen, und es ging weiter. Tristans Interesse war geweckt. Aufmerksam verfolgte er jetzt die Strecke. Le Vivier sur Mer, las er an einer Ortseinfahrt. Typische bretonische Häuser aus rohem Granitstein säumten den Weg. Fachwerkhäuser, Schieferdächer. Das alles vermittelte Tristan das Gefühl von Ursprünglichkeit. Genießen konnte er die vorbeiziehenden Eigenheiten der Bretagne zwar nicht, aber sie lenkten ihn etwas von seiner beängstigenden Situation ab. Der Fahrer und sein Wächter schienen keinerlei Interesse an der reizvollen Umgebung zu haben. Das Meer zu seiner Rechten wechselte von leuchtenden grünen Flächen zu Aquamarin. Kleine Inseln vor der Küste und wilde Felsen, die im Strand zu stecken schienen, luden ein, auszusteigen und mit nackten Füßen am Meeresrand zu spazieren. Einzig fehlte die Freiheit – und Alana. 389
›Wo ist nur Alana?‹, schrie es plötzlich in seinem Hirn. Tristan warf seinen Kopf herum, wollte den Muskelprotz neben sich fragen. Verwarf sein Vorhaben aber sogleich wieder. Drohend blickte dieser ihn an, alarmiert durch die plötzliche Bewegung Tristans. Daraufhin zog der Gefangene seinen Kopf zwischen den Schultern ein. Er ergab sich wieder seinem Schicksal. Sein Blick wanderte durch die Landschaft. In diesem Augenblick passierten sie das Ortsschild von St. Malo. Der Hummer-Jeep fuhr durch Wohngebiete, streifte den historischen Stadtkern. Durch verwinkelte Gässchen sah Tristan einen mittelalterlichen gotischen Dom. Robuste Stadtmauern umgaben die Altstadt. Sie fuhren langsam. Schrittgeschwindigkeit. Ampeln und Fußgänger ließen kein schnelles Fortkommen zu. Der Geheimdienstmann neben Tristan fixierte ihn mit scharfem Blick. Keine Regung des Gesichts entging ihm. Er schien wohl zu befürchten, dass Tristan einfach aus dem Fahrzeug herausspringen und türmen würde. Das wäre ihm aber nie in den Sinn gekommen. Zu groß war die Sorge um seine Lieben. Außerdem müsste er erst probieren, ob sich die Tür zu seiner Rechten überhaupt von innen öffnen ließ. Selbst diesen Versuch wagte er nicht. Tristan wollte auf keinen Fall Misstrauen erzeugen. Wie gern würde er mit den Passanten tauschen, die er vor seinem Fenster sah. Mit Alana im Arm, der neunmalklugen Sophia voraus, durch den beginnenden Herbst in der Bretagne laufen. Hier in der Stadt der Korsaren. Viel wusste er nicht von dem Ort. Nur so viel, dass im sechzehnten Jahrhundert holländische und englische Handelsschiffe nichts zu lachen hatten. Gab es da nicht spannende Piratengeschichten?, fragte sich Tristan selbst. Aber es fiel ihm jetzt keine ein.
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›Ni français, ni breton, malouin je suis‹ las er jetzt auf eine Wand gemalt. Umgeben von Graffitis. Wie gern hätte Tristan jetzt, wenn ihm Alana die Übersetzung ins Ohr flüstern würde. Sein Französisch reichte einfach nicht. Die Scheiben des Hummer-Jeeps waren getönt. Er konnte gut hinaussehen, aber niemand hinein. Selbst mit einem bittenden Blick konnte Tristan niemanden auf seine Entführung aufmerksam machen. Er vergegenwärtigte sich wieder, dass er beschlossen hatte, sich in sein Schicksal zu ergeben. Also schob er solche Gedanken weit weg. Gleichzeitig schloss er auch die Augen. Irgendwann stoppte das Fahrzeug. Nicht plötzlich, aber doch unerwartet. Sie standen. Tristan öffnete seine Augen wieder. Sie parkten am Kai eines Jachthafens. Am hinteren Ende. Sein Begleiter blickte nervös durch alle Scheiben des Jeeps. Schien jemanden zu suchen. Drehte sich. Sah durch die Heckscheibe. Was sucht er nur?, fragte sich Tristan. Warum wurde er nur zum Jachthafen gebracht? Vom Kai aus verliefen Stege etwa fünfzig Meter hinaus in das Hafenbecken. Rechts und links von ihnen lagen sicherlich hunderte von Booten vertäut. Segelboote, Motorjachten in Größen und Formen, wie sie Tristan noch nie gesehen hatte. Ein Meer aus Schiffsmasten. Es roch nach Salzwasser. Feuchter Wind zeigte die Gegenwart des Meeres an. Hundert Meter hinter dem Fahrzeug sah Tristan die wuchtigen Stadtmauern St. Malos. Schwere Türme durchbrachen die sonst einheitlichen und uneinnehmbar scheinenden Steine. Plötzlich stieg der Fahrer aus. Sein Wächter blieb sitzen. Tristan wagte keine Bewegung zu machen. Sie könnte missverständlich gedeutet werden. Irgendetwas ging vor. Nur was?
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Um sie herum parkten noch andere Fahrzeuge. Die meisten jedoch am Beginn des Jachthafens. Hier am hinteren Ende schienen sie etwas versteckt. Wieder warten. Tristan stellte sich vor, wie er aus dem Auto sprang. Mit schnellen Sprüngen die Straße dort hinten erreichte und versuchen würde, Hilfe zu bekommen. Doch nein. Alana und Sophia waren irgendwo noch immer in Gefahr. Er würde nicht einmal wagen, zu laut zu atmen. Da würde er lieber … Noch ehe Tristan den Gedanken fertig gedacht hatte, riss sein Wächter die Türe auf. Sprang hinaus. Beugte sich sogleich wieder ins Fahrzeug. Packte Tristan mit derbem Griff am Oberarm und zog ihn auf seine Seite hinüber. Zog ihn aus dem Auto. Kaum stand Tristan wieder auf seinen zwei Beinen, da wurde er weitergedrängt. Schmerzhaft presste der Geheimdienstmann Tristans Oberarm mit seiner Pranke zusammen. Drückte ihn zu einem Treppenabgang, der zu den Anlegestegen der Boote führte. »Tristan!«, schrie es laut von hinten. Er erkannte sofort Alanas Stimme. Sie hier?, durchzuckte es sein Hirn wie ein Blitz. Tristan fuhr herum. Zu plötzlich für den Wächter. Er verlor den festen Griff. Da sah Tristan Alana neben einem anderen schwarzen Hummer-Jeep stehen. Dieser war größer und hatte hinten eine Ladefläche. Sie war mit einer Plane verschlossen. Alana stand in der offenen Tür. Smith neben ihr. »Tristan!«, schallte es von dort. Aber im selben Augenblick spürte Tristan wieder den schraubstockartigen Griff an seinem Arm. So fest, dass sein Blut abgeschnürt wurde. Smith machte befehlende Handbewegungen, dass sie verschwinden sollten. Tristan wurde weggezogen. 392
»Tristan!«, hörte er noch einmal. Sein Herz schmerzte, weil er vor allem die Verzweiflung aus dem Schrei heraushörte. Tristan stolperte nach vorne. Blickte nach hinten. Smith hielt Alana fest. Neben ihm stand ein Mann, den er bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Jeans, gelbe Regenjacke und rote Strickmütze. Das war kein üblicher Geheimdienstmann, dachte sich Tristan. Um diese Jahreszeit trugen nur bestimmte Menschen Mützen. Hippe Jugendliche, das war er nicht. Oder Seeleute. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass die Reise noch nicht zu Ende war. Sie wurden auf ein Schiff gebracht. Beide? Tristan stolperte. Zwei ebenfalls wie Seeleute gekleidete Männer stürmten an ihnen vorbei. Der Schraubstock quetschte noch fester und verhinderte sein Straucheln. Aber zu welchem Preis? Der Schmerz in seinem Arm war größer, als ein Sturz hätte sein können. Sobald er sich gefangen hatte, schaute er sofort wieder zu Alana. Smith hielt sie an einem Arm fest. Der Seemann am anderen. Sie schienen um sie zu streiten. Sollte sie mit oder nicht? Smith schien dagegen zu sein. Laute, wütende Worte drangen bis zu Tristan. Er verstand kein Wort, aber die Diskussion schien sehr heftig zu sein. Da erreichten die angeblichen Seeleute das Fahrzeug. Wollten dem Mann, der ihr Anführer zu sein schien, beistehen. Aber der winkte nur unwillig ab. Herrschte sie an. Da ließ er von Smith ab. Die Seeleute machten sich an der Ladefläche zu schaffen. Schienen etwas herauszuholen. Da traten die Füße Tristans ins Leere. Ehe er sah, dass sie die Treppe erreicht hatten, die hinunter zu den Booten führte,
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strauchelte er wieder. Mit einem wütenden Knurren hielt ihn sein Wächter wieder schmerzhaft fest. Alana konnte er nun nicht mehr sehen. ›Alana!‹, schrie Tristan in seinem Hirn. ›Was wird nun?‹ Mit schnellem Schritt wurde er weitergezogen. Den Steg entlang. Vorbei an den Booten der Reichen und Schönen. Motorjachten, Segelboote, Einmaster, Zweimaster, Katamarane. Alles, was ihn sonst interessiert hätte, auch wenn er keine Ahnung von Booten hatte, war hier aufgereiht. Aber heute war die Welt für ihn nicht mehr in Ordnung. Alles war aus den Fugen geraten. Ihre schnellen Schritte pochten dumpf trommelnd auf dem Holzsteg. Immer weiter ging es. Tristan war schon außer Atem. Er keuchte. Da erreichten sie das Ende, und er wurde achtlos auf eine weiße Motorjacht gestoßen. Mit einem Fuß in der Reling hängen bleibend, fiel er der Länge nach auf den Boden im Heck. Der Schraubstock an seinem Arm löste sich. Trotzdem konnte er sich nicht schnell genug abfangen. Tristan schlug mit seinem Kopf auf dem hölzernen Boden auf. Blut quoll sofort aus einer Wunde an der Stirn. Über ihm, noch auf dem Steg, stand breitbeinig sein brutaler Begleiter und sah zum Kai. Dann sprang er hinterher. Landete mit beiden Beinen donnernd auf dem Schiffsboden. Die Vibration ließ Tristans Schädel vor Schmerz glühen. Gerade versuchte er seine geschundenen Gliedmaßen wieder zu sortieren und quälte sich auf die Knie, um langsam aufzustehen, da sah er den strengen Zeigefinger des Geheimdienstmannes, der in den Abgang zur Kajüte zeigte. Das Boot war schnittig und hatte im vorderen Bereich einen Aufbau mit Brücke. Im Vorbeigehen sah Tristan das Steuer und die Armaturen. Aber ihm blieb keine Zeit, seine neue Umgebung zu betrachten. Es ging hinunter in eine Kajüte. Sie passierten eine winzige Küche. Kamen in einen Raum mit 394
Sitzen und einem kleinen Tisch. Tristan wähnte sich am vorläufigen Ziel seiner Tortur. Steuerte auf einen der festgeschraubten Sessel zu. Doch sein Wächter stieß ihn weiter. Tristan sah ihn fragend an. Da drückte ihn der Kraftprotz in eine Koje, die in die Wand eingebaut war. Gerade wollte er Tristans Beine mit einem Tritt hineinbefördern, da zog Tristan sie ein und kam ihm zuvor. Aber noch bevor er sich versah, fesselte ihn der Mann mit metallenen Handschellen an eine in die Wand eingeschraubte Öse. Zog die Vorhänge der Koje zu. Machte kehrt und verließ schnell den Raum. Tristan blieb allein im Halbdunkel zurück. Zumindest konnte er sich jetzt räkeln und strecken. Sein Blut wurde nicht abgeschnürt, dachte er sich. Aber damit war der Versuch, die Situation positiv zu bewerten, schon erschöpft. Langsam beruhigte sich wieder sein Puls. Der Schmerz in seinem Oberarm ließ nach. Nur sein Kopf schmerzte noch. Tristan bildete sich ein, dass er Rinnsale von langsam fließendem Blut auf seiner Stirn spürte. Ob dies Folge seiner überreizten Sinne war oder Wirklichkeit, konnte er nicht sagen. Eigentlich war es ihm auch egal. Aber irgendetwas war anders. Nur was?, fragte sich Tristan. Noch einmal fühlte er in seinen geschundenen Körper hinein. Fürchtete Reaktionen seiner Sinne übertrieben wahrzunehmen. Alles schien zu schwanken. War ihm schwindelig? Die Kopfverletzung? ›Nein! Seegang!‹, sagte er sich laut in seinem Kopf, als müsse er sich selbst belehren. Wieder eine Seereise. Schon suchte er in seinem Magen ein auffälliges kreisendes Gefühl. Aber Tristan kam mit seiner Selbsterforschung nicht weit. Dumpfes Trampeln dröhnte durch den Schiffskörper. Mal von da, mal von dort. Die Seeleute schienen zurückgekommen zu sein. Wahrscheinlich mit seiner Kugel. Denn um die ging es ja letztendlich. Und Alana? 395
Da sprang ein PS-starker Motor an. Heulte einmal auf. Ging dann in kräftige Drehzahlbereiche zurück. Ein Ruck durchfuhr das Boot. Es ging los. Wieder mit ungewissem Ziel. Wann hat diese Odyssee endlich ein Ende? Die da oben hatten doch schon alles, was sie wollten. Tristan hatte sich schon tausendmal geschworen, nichts zu unternehmen, was Sophia und Alana in Zukunft je wieder gefährden könnte. Was denn also noch? War er ein unliebsamer Zeuge, der wegmusste? Hatte Smith doch ein Herz und deshalb um Alana gekämpft? ›Das würde ja heißen …‹, wollte Tristan seine Lage weiter analysieren, aber Tränen rollten über seine Wangen, und er biss sich auf die Lippen.
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SUCHE Nun war es passiert. Nie hätte er es geglaubt, und doch hatte er es gewusst. Es lag in der Natur der Dinge. Einsam würde es um ihn herum werden. Sicher, Freunde gab es viele. Aber Seelenverwandte, Menschen, mit denen man sprechen konnte, ohne ein Wort dabei zu verlieren …? Die ihm auch nahe waren, obwohl sie räumlich getrennt waren. Wie eine Seele in zwei Körpern. Etwas hilflos stocherte Than mit seinem Wanderstock in der Erde, in der soeben Than-Ja verschwunden war. Zumindest ihr Körper. Oder war es sein Körper? Irgendetwas war mit ihr gestorben. Das spürte er in seinem Inneren. Er mochte sie sich gar nicht vorstellen, wie sie in dem mit Steinplatten ausgelegten Grab lag, umringt von ein paar Habseligkeiten, die sie auf ihrem Pilgerpfad auf die andere Seite brauchte. Eine Tonschale für die Nahrung und Samenkörner, um von dort Leben geben zu können. Um den Kreislauf des Lebens fortzusetzen, legte man sie in der Fötushaltung in das Grab. Vielleicht, weil sie hier gestorben war, um dort geboren zu werden? Umgekehrt als am Tage ihrer Geburt? Sie lag nach Osten, damit sie nicht in Dunkelheit schmachten musste. Die Strahlen der aufgehenden Lebenssonne sollten sie, wenn es an der Zeit war, wieder wecken. Ein Rand weißer Kieselsteine lag um das Grab herum. Als wollten sie sagen: Dies ist die Grenze zwischen dem Diesseitigen und dem Jenseitigen. Achte darauf, wohin du gehörst. Than stand auf dieser Grenze. Zu beiden Welten wollte er gehören. Mit einem Arm seine Than-Ja festhalten und mit der anderen sein Dorf führen. 397
Es wurde schnell kalt, seit die Sonne nach der Ernte keine Kraft mehr hatte. Thans Haut fröstelte, aber das spürte er nicht. So stand er stocksteif in einem grauen langen Gewand aus Schafwolle. Der Stoff war nicht so fein wie der von Sem, aber dieses Gewand war schon vor Jahren zu seinem typischen Erscheinungsbild geworden. Mit Sems weisen Ratschlägen, die nie aufdringlich, nie fordernd waren, hatte Than die ihm Anvertrauten geführt. Vom kleinen Lager mit zwei Hütten aus Zweigen zwischen den Baumstämmen, die in den Boden eingelassen worden waren, bis hin zu Häusern mit festen, kalkummantelten Wänden, in die kein kalter Luftzug dringen konnte. Geführt, von den ersten ängstlichen Kühen, ohne deren Milch es für die Kinder in den ersten harten Wintern unmöglich gewesen wäre zu überleben, Ziegen- und Schafherden und Milch, die besser bekömmlich für die Kleinen war, bis hin zur Wolle, deren Kleidung besser wärmte als Leder. Die Felder mit Getreide und Gemüse wurden immer größer. Bald war kein Platz mehr auf dem flachen Berg über dem Fluss. Die Felder mussten außerhalb des Schutzzaunes angelegt werden, der schließlich aus Stein neu, wuchtig und stark errichtet wurde. Bald folgten ein zweites Dorf flussabwärts und ein drittes flussaufwärts. Und immer war Than-Ja an seiner Seite. Beriet ihn. Beruhigte ihn. Zeigte ihm die Dinge, die er nicht sah, obwohl sie vor seinen Augen waren. Machte aus ihm einen weisen Ältesten seines Dorfes. Und nun lag sie unter einem kieselumkränzten Bereich, überhäuft mit Blumen, die sie so sehr liebte. Eine Frage schrie in ihm auf: Konnte er ohne sie weiterhin ein guter Ältester für die Seinen sein? Nebel zog auf. Es wurde dunkel. Über Than glitzerten die ersten Sterne. Der Wald zog sich in Schwärze zurück. Grau die
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Landschaft. Noch immer konnte er sich nicht von dieser Stelle losreißen. Was sollte er tun? Wohin sollte er jetzt gehen? Zurück in das Dorf? Nein, sagte sich Than. Ich kann jetzt nicht so tun, als liefe alles so weiter, wie es ehedem war. Denn das wäre eine Lüge. Es war nicht mehr so wie immer. Zu Sem wollte er am liebsten gehen. Viele Segnungen, Fertigkeiten, Kenntnisse und Ratschläge kamen von ihm. Sein Dorf wuchs und gedieh unter dem Einfluss des unbekannten Weisen. Auch Than wuchs und gedieh. In seinem Geiste. Nach den Lehren vom Gesetz im Äußeren, dem Himmel und der Erde, kamen Gesetze im Inneren. Für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft mussten Besitz, Streit und der Umgang miteinander geregelt werden. Was in einer kleinen Gruppe selbstverständlich war, konnte in einer Größeren ohne Gesetze und Absprachen nicht immer funktionieren. Er gab nur Anregungen. Überließ Than und den Seinen die Ausführung und die Klärung des Wie und des Was. Es gab viel zu regeln. Man sollte niemanden bestehlen, niemanden ermorden, niemanden belügen und betrügen. Man sollte die überlieferten und neu geschaffenen Feste einhalten, um die dahinter stehenden Gottheiten zu ehren. Man sollte von Neid und Missgunst Abstand nehmen. Und irgendwann, als das Dorf gedieh und sich dem annäherte, was sich Than im Dogaland vorstellte: dass sich Vorkommnisse wie damals im Sommerlager nie mehr ereignen konnten, verabschiedete sich Sem. Er müsse anderen Dörfern an anderen Orten helfen. Vorher aber lehrte er Than die Gesetze des Innersten. Den Umgang mit seiner ausgeprägten Konzentrations- und Imaginationsfähigkeit. Bereiche, zu deren Zugang Wachheit im Geiste und die innere Kraft, einen Rabenflug zu überstehen, erst der Anfang sind. Er lehrte ihn die Lebendigkeit des Jetzt, des 399
Augenblickes, betrachten, erkennen und erleben. Der kurze Zeitraum, in dem trotzdem das Potenzial für alles liegt. Das Jetzt, in dem Augenblick und Ewigkeit gleichgültig sind. Than erkannte schließlich, wie wichtig die innere Haltung des Menschen ist. Gerade in der neuen Form von Zusammenleben. Es gehört mehr dazu als nur der gemeinsame Instinkt zu überleben. Nämlich Vertrauen, Mut, Nächstenliebe, Ordnung und Dienstbarkeiten gegenüber der Gruppe, ohne sofortigen Selbstzweck. Dies konnten die neuen Vorschriften und Regeln nicht bewirken. Dies brauchte eine reife Religion. Weiter entwickelt, als es der Kult der Ahnen war. Than begriff irgendwann, weshalb Sem immer sagte: »Der wahre Glaube kommt aus dem Inneren«, und sich aus allem heraushielt. Er musste von selbst wachsen. Wie ein Kind, dem auch ein weiser Ältester die Lebenserfahrung nicht beibringen kann. Es wächst heran und lebt in Grenzen, die ihm Natur und Dorfgemeinschaft aufzeigen, doch es geht seinen eigenen Weg. Alles hatte Than von Sem gelernt. Wie Sem wollte Than werden. Darauf sagte Sem eines Tages: »Werde wie ich und kümmere dich um die Deinen. Führe sie weise. Ich werde an einem anderen Ort unserer allgegenwärtigen Welt tun, was ich kann.« Nach einer innigen Umarmung war Than ohne Lehrer. Allein. Ohne Rückversicherung. Da hatte er aber immer noch seine Seelengefährtin. Than-Ja. Jahrzehntelang führten sein kluger Verstand und ihre liebende Weisheit das Dorf. Neue Generationen kamen. Andere gingen. Nun ging Than-Ja und Than war allein. Seinem Leben war der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Es war ihm nicht klar, wie es jetzt weitergehen konnte. Aus den Augenwinkeln ließ er den Blick an die Waldränder und die Büsche streichen. In der Hoffnung, eine der grauen Nebelschwaden würde sich als Sems Gewand herausstellen. Aber der Nebel war nur Nebel. 400
Nichts konnte er denken. Nichts konnte er fühlen. Wie eine Statue stand er vor der Stelle, die den Körper seiner Gefährtin verschluckt hatte. Automatisch, als handle sein Körper nicht in seinem Auftrag, hockte er sich noch einmal auf seine Fersen. Strich mit der flachen Hand über die frische Erde. Konnte es immer noch nicht begreifen. Schließlich nahm er einen der weißen Kiesel in die Hand, stemmte sich an seinem Wanderstab, der schon lange kein Speer mehr war, hoch und ging. Es war Than völlig egal, wohin er ging. Er achtete nicht auf den Weg. Sein Bewusstsein hing nur an dem heutigen unglaublichen Geschehen. Es war passiert. Than war allein. Sicher, sagte er sich, er hatte viele Freunde in seiner Sippe. Alle achteten ihn und ehrten ihn als weisen Führer. Aber dieses Gefühl des Alleinseins und der Einsamkeit gründete tiefer. Er fühlte keine Seelenverwandtschaft mehr mit einem anderen lebenden Menschen. Außer vielleicht Sem. Doch der war irgendwo und nirgendwo. Plötzlich stand Than im Dorf. Er hatte bereits den Durchgang der Schutzmauer passiert und ging den Weg zwischen den Vorratshütten und Gemüsebeeten. Vor ihm brannte ein großes Feuer in der Mitte des Dorfplatzes. Jede Sippe, die ein eigenes Haus bewohnte, saß jedoch vor ihrem eigenen Feuer. Viele aßen zu Abend. Alle waren sie mit sich selbst beschäftigt. Than hatte nicht den Eindruck, dass man ihn wahrnahm. Sein Blick schweifte über das Dorf. Eigentlich konnte er zufrieden sein, was sein Stamm hier geschaffen hatte. Eigentlich war er es auch. Da zuckte ein kurzer freudiger Strahl durch sein Herz. Vor seiner Hütte, die in der Nähe des Abhanges stand, brannte ein Feuer. Wie jeden Abend. Der Anblick mochte sagen wollen, es sei so wie immer. Einer mitfühlenden Seele war der sonst erhellte Ort heute Abend wohl auch zu dunkel vorgekommen. 401
Schweigend ging er dorthin. Than wollte kein Aufsehen erregen durch seine späte Rückkunft. Er wollte einfach in seine Hütte zurück. Als er schon glaubte, den Ort seines bisherigen Lebens unbemerkt erreicht zu haben, wurde er von Ken-Ja angesprochen, die ihn erkannte und ihm sofort den Weg abschnitt. »Wir, die wir dieses Lager zum Dorf gemacht haben, sind alle alt geworden«, sagte sie. Dabei schien sie ihm das erste Mal etwas gebückt zu stehen. »Die große Mutter atmet aus und atmet ein. Irgendwann werden wir auch in das Mysterium gehen.« Dabei zog sie an seinem Ärmel, als wolle sie ihn wachläuten. »So ist es wohl«, sagte Than mit ruhiger Stimme. »Aber heute noch nicht. Komm an unser Feuer«, lud sie ihn ein. Than schaute zum Feuer und sah Ken-Jas Gefährten, der ihn heranwinkte. Es war ein starker, arbeitsamer Mann. Ihr zweiter, nachdem der erste bei dem unglückseligen Überfall ums Leben gekommen war. Einer, der mit seiner Gruppe an dem wachsenden Dorf vorbeizog und, als er Ken-Ja sah, sofort beschloss, sein Leben hier zu verbringen. So war die Liebe, dachte sich Than. »Heute bitte nicht«, sagte er und sah Ken-Ja mit einem um Verständnis bittenden Blick an. »Aber morgen«, forderte sie ihn mitfühlend auf. Than ging langsam weiter zu seiner Hütte. Ken-Ja ließ seinen Ärmel nicht sogleich los, sondern ließ ihn sich aus den Händen gleiten. Als wolle sie Than nur ungern allein lassen. Aber Than wollte allein sein. Setzte sich allein auf sein Bett. Ein hölzernes Gestell mit Stroh und Wolle unter der Decke. An manchen Stellen weich, an anderen hart. Wie sein Leben. Lang streckte er sich darauf aus. Keinen Blick hatte Than für die schöne Ausschmückung des Heimes durch die geschickte Hand Than-Jas. Er ließ seine Seele auf Reisen gehen. Auf den Pfad seines Lebens. Von Kindesbeinen an. Seine Ausbildung als 402
Jäger. Verbindung mit seiner Gefährtin. Überfall. Verfolgung. Alles zog vor seiner Seele vorbei. Durch seine starke Imaginationskraft wurden die Bilder beinahe real. Sein Rabenflug. Das heilige Land. Wieder durchfuhr ein freudiger Strahl sein Herz. An diesem Ort hatte er den geheimnisvollen Lehrmeister Sem das erste Mal getroffen. Aber auch die Schädel der Gemordeten bestattet. Than hatte das Gefühl, als hielte er jenen blutroten Sandsteinbrocken tatsächlich in der Hand. Eine Erinnerung an alle, die dort bestattet waren. Rau fühlte sich die Oberfläche an. Deutlich war der Sand im Stein zu spüren. Als wollte er sich mit der Hand an etwas festhalten, rieb er immer stärker den Stein. Immer wieder anders erlebte er die intensive Wahrnehmung seiner Fingerspitzen. Als könne er endlich etwas festhalten, was ihm nicht entschwinden würde. Bei diesen Gedanken wurde der raue Sandstein in seiner Hand glatt und rund. Verwirrt rieb er stärker. Der Stein blieb glatt. Widerstrebend öffnete Than die Augen, um ihn anzuschauen. Da bemerkte er, dass er nicht auf der freien Höhe des heiligen Landes stand, sondern in seinem Bett lag. Mit dem Kiesel von Than-Jas Grab in der Hand. Sofort setzte er sich auf. Das Erinnerungsstück aus dem hohen Norden lag in der Kuhle eines metergroßen quaderförmigen Kalksteines, den man zum Andenken in die Mitte vor dem Abhang gesetzt hatte. Dorthin ging Than jetzt. Um die Feuer war es ruhiger geworden. Viele waren schon schlafen gegangen. Nur manche saßen noch, unterhielten sich. Doch das nahm der einsame Trauernde nicht wahr. Schweigend stand er neben dem Steinblock und blickte in das Tal, das ihre Heimat geworden war. Ruhig zog der Fluss dahin. Feuer in der Ferne zeigten, dass in einigen Fischerhütten dort unten noch gearbeitet wurde. Sogar in der Schutzhütte auf der großen Insel leuchtete noch eine Fackel. Die Tiere, die dort frei laufen 403
konnten, wurden ständig versorgt. Überall um ihn herum lebte sein Dorf, seine Sippe, sein Stamm. Dann tat er etwas, was seit Jahrzehnten niemand mehr gewagt hatte. Er entnahm den heiligen roten Stein. Roch daran. Schmeckte mit der Zungenspitze. Aber die Zeit, mit der er ihn verband, war nicht mehr. Er fühlte nicht mehr die Nähe eines seelenverwandten Menschen. Das tiefe Gefühl der Einsamkeit bohrte sich in ihn, obwohl er von vielen umgeben war, die ihn mochten, sogar liebten. Aber das war es nicht. Was er schmerzlich vermisste, ging tiefer. Mit dem roten Sandsteinbrocken in der Hand setzte er sich vor sein Feuer. Zog sein Messer mit der Feuersteinklinge und begann damit, ihn zu bearbeiten. Ritzte und schabte. Bohrte und schliff. Zwischendurch blies er den Steinstaub davon, betrachtete das Gewordene. Das Modell dazu saß in seinem Geiste. Mit dem Blick auf das Unendliche gerichtet. In langem Gewand. Irgendwann in der Nacht kam jemand vorbei und legte an seinem Hüttenfeuer noch einige Holzstücke nach. Than nahm die Person nicht wahr, so sehr war er in seine Arbeit vertieft. Immer kälter wurde die Nacht. Bis sie kurz vor Sonnenaufgang den Tiefpunkt erreichte. Than fror nicht. Als die Sonne schließlich vergeblich versuchte, ihre roten Strahlen durch die tief hängenden Wolken zu senden, war die Steinmetzarbeit fertig. Nicht ohne Stolz setzte er die Nachbildung Sems, die er aus dem roten Sandstein geschaffen hatte, auf den Kalksteinblock. Erhaben lagen die Hände der Figur vor dem Bauch. Fortan sollte er über das Leben im Dorf wachen und es beschützen. Auf seiner Rückseite, dem Flusstal zugewandt, hatte Than Rauten eingeritzt. Jede Raute aus einem nach oben und einem nach unten weisenden Winkel gezeichnet. Damit sollten die
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Gottheiten des Himmels und die in der Erde geehrt werden. Dreizehn an der Zahl. Für jeden Vollmond im Jahreslauf einen. Ein letzter Blick. Ein Segensspruch. Dann packte er etwas Obst als Wegzehrung ein. Than wusste das Dorf in guten Händen. Seine Nachfolge war längst geregelt. Schließlich machte er sich auf den Weg. Than wollte sein Dorf nicht für immer verlassen. Aber er wollte Sem aufsuchen. Ihn über den Sinn seines noch vor ihm liegenden Lebens befragen. Wo er ihn suchen sollte, wusste er nicht. Wie er ihn suchen konnte, vielleicht. Zuerst einmal wollte Than die Stätte ihres üblichen Treffpunktes aufsuchen. Es wurde langsam hell im Tal der zwei Flüsse. Nebel verflüchtigte sich. Der Himmel lag noch in der Entscheidung zwischen einigen Sonnenstrahlen und Regen. Than wanderte nach Süden. Vorbei am Äsplatz der Hirsche. Durch das Tal kräftiger Wisente. Hinauf zur Stätte der Weisheit und der Führung, wie Than sie immer nannte. Doch die Stätte war leer. Wie sein Herz. Der Opferstein in der Mitte hatte schon lange keine Gaben mehr gesehen. In den Seitenhöhlen fand er außer einem versteckten Fuchs nichts. Sollte er hier bleiben und auf Sem warten? Aber sofort, als er sich die Frage stellte, schob er sie als unsinnig zur Seite. Er war nicht lebensuntüchtig niedergeschlagen. Er wollte Kontakt zu einem Menschen, dem er vertraute. Dann nahm der Regen zu. Was er jetzt brauchte, war Schutz vor dem Regen und Ruhe für das Insichgehen. Dazu war hier nicht der richtige Platz. Beides konnte er in einer der Höhlen auf der anderen Seite des wildreichen Flusstals finden. Dorthin machte Than sich auf. Bei strömendem Regen stapfte er durch das Wasser. Auf der anderen Seite machte er sich an den Aufstieg. Hinauf zu den Höhlen. Dort würde er in der abgeschlossenen Dunkelheit genügend geistige Kraft aufbringen, um sein Ziel zu erreichen. 405
Erst kam er zu dem höhlenartigen Durchgang. Der war schon so dunkel, dass er einen kleinen Vorgeschmack auf das Weitere gab. Doch dann erhellte sich sein Pfad wieder. Er war durch. Aber von Helligkeit konnte man nicht sprechen. Dunkel waren die Regenwolken. Kalt fielen die Schauer vom Himmel. Than gönnte sich ein paar Minuten Pause in der kleinen, wenige Meter tiefen Schutzhöhle, die auf dem Wege folgte. Hockte sich auf einen kleinen Felsen, blickte auf den gleichförmigen Regenschleier, ohne ihn richtig wahrzunehmen. Mit seinen Gedanken befand er sich schon auf seiner Reise, den Augenblick, sein Bewusstseinslicht in der Zeit, aufzunehmen und festzuhalten. Das Prasseln des Regens auf den Blättern, dem Fels und der Erde ergab ein ruhiges, einschläferndes Geräusch. Normalerweise wäre Than jetzt eingeschlafen, aber dazu war er jetzt schon zu tief in sich konzentriert. Seine Augen halb geschlossen, strich er mit dem Daumen leicht über den Kiesel. Sein Atem war ruhig geworden. Äußerlich kaum noch wahrnehmbar. Sein Bewusstsein nahm Kontakt mit der Gegenwart des Augenblicks auf. Und der Augenblick schlang sich um ihn. Nahm ihn auf, als wolle er ihn schützend einhüllen. Aber noch war Than nicht so weit. Regen oder nicht. Hier war nicht der rechte Platz. Sem hatte ihn gelehrt, dass er sich dazu in den Fels unter dem Erdboden zurückziehen musste. Dies geschah zu seinem Schutz. Er sollte nicht von Mensch oder Tier aufgeschreckt werden. Das gleichförmige Geräusch des fallenden Regens wurde etwas leiser. Haarfein nahm Than diese Nuance war. Energisch schlug er sich plötzlich rechts und links auf die Wangen, um sofort wieder wach zu sein. Der Atem wurde wieder tiefer. Schwer, mit einem leisen Stöhnen, zog sich Than an seinem Wanderstock nach oben. Ging ein paar Schritte aus der Schutzhöhle hinaus. Unten im Tal dampfte die Wiese um den Fluss herum. 406
Der einsame Wanderer drehte sich zum Fels. Mit sicherem Blick suchte er die Spalten und Nischen. Stieg und kletterte um die Höhle herum auf das breite Dach. Von da an suchte er seinen Weg durch den dort beginnenden Wald. Nach kurzer Strecke ging es bergab. Der Boden war durch den Regen sehr schlüpfrig geworden. Mit seinem Stab musste er den Schritt immer etwas abbremsen. Dann wurde es noch etwas steiler. Than benutzte im Weg stehende Bäume, um sich abzufangen und nach zwei bis drei schnellen Schritten wieder sicher zu stehen. Dann folgten die nächsten Schritte hinab. Bald sah er, wo er sich zwischen Busch und Fels vorbeidrücken musste, um sein Ziel zu erreichen. Ein übermannshoher Bogen empfing ihn. Ein Höhleneingang. Ebenerdig, aber mir vielen herabgestürzten Felsbrocken. Der Wanderer musste aufpassen, damit er nicht strauchelte. Aber er kannte den Weg. Oft war er mit Sem hier gewesen und hatte sich in der Wahrnehmung des Hier und Jetzt geübt. Des direkten Hier und Jetzt. Ohne das Vorhandensein von Objekten oder Menschen, die es nur illustrieren. Den großen Eingangsraum der Höhle benutzten die Jäger gern, wenn sie von Unwettern überrascht wurden. Unterstellen oder gar über Nacht lagern würden sie nur im offenen Anfang der Höhle. Weiter hinein wagten sich die wenigsten. Man glaubte, dass hier die Unterwelt begann. Die Welt der Toten und der finsteren Mächte. Jene, die das Leben fordern. Es wegnehmen wollen. Vor diesem Teil des Kreislaufs hatten alle Respekt und wollten ihr Schicksal nicht herausfordern. Außerdem konnte immer ein Höhlenbär oder ein anderes gefährliches Tier hier lauern. Nicht so Than. Zu oft war er hier gewesen. Er kannte jeden Felsen und jeden Stein. Er kannte jeden Seitengang und jeden engen Durchschlupf. Der Steinzeitjäger zögerte nicht. Schnell war die Fackel aus seiner Tasche mithilfe weniger Schläge seines Feuerzeuges aus 407
Feuerstein und Steinknolle mit Pyritkristallen entfacht. Der mit Zunderwolle, einem filzartigen Pilz, der auf abgestorbenen Buchen wächst, präparierte Ast fing sofort Feuer. Die Höhle erleuchtete sich im Umkreis weniger Meter. Die huschenden Schatten, die viele erschreckt hätten, ließen ihn kalt. Than schritt weiter. In der Höhle ging es bergauf. Er stieg über Felsbrocken höher. Keinen Blick hatte der Sucher für die kunstvollen Muster an den Wänden, die durch jahrhundertelange Versinterung entstanden waren. Mit keinem Blick würdigte er die zauberhaften Tropfsteine, die hier wuchsen. Zielstrebig zog es ihn zu einem kleinen Seitengang. Das Rauschen des Regens war verstummt. Geräusche von außerhalb drangen nicht mehr bis hierher. Than achtete vor allem darauf, dass der Boden vor seinen Füßen immer gut beleuchtet war. In unmittelbarer Nähe seines Weges gab es gefährliche Spalten und tiefe Schächte. Ein Fehltritt wäre fatal. Schon näherte sich Than dem niedrigen Einstieg in eine Seitenröhre. Nicht einmal fünfzig Zentimeter maß die Stelle, durch die er sich zwängen musste. Aber der einsame Jäger zögerte keinen Augenblick. Kurzerhand warf er seine Fackel voraus in den kleinen Raum, der sich hinter dem Durchschlupf auftat. Seine Tasche hinterher. Schließlich robbte der Alte geschickt wie ein Aal hindurch. Von nun an ging es nur noch auf allen vieren weiter. Die Gänge maßen jetzt gerade einen Meter in der Höhe. Oft weniger. Than kroch, krabbelte und robbte durch Engstellen und Übergänge. Tropfsteine von oben und unten, meist zusammengewachsen, verengten den Weg noch weiter. Der Sucher hörte nur noch die eigene Atmung. Gepresst klang sie und laut. Sein Atemhauch zog wie Nebelwolken durch die Spalten und Nischen, durch die er sich zwängte. Das Feuer der Fackel prasselte. Verlor auf seinem Weg Fetzen von Brennmaterial. Nicht immer gelang es Than, sie so zu 408
halten, dass er den Rauch nicht einsog. Hustenreiz unterdrückend, gönnte er sich eine kleine Pause. Aber nicht lange. Denn bald hatte er sein Ziel erreicht. Das wusste er. Vor ihm lag nur noch der enge Spaltengang. Dort war er gezwungen, auszuatmen, bevor er ihn passierte. Schwer drückte ihn der Fels auf Rücken und Brustbein. Einatmen würde er erst wieder können, wenn diese Engstelle genommen war. Aber das störte Than nicht. Als wäre er gerade mit Routinearbeiten beschäftigt, arbeitete er den Weg ab. Dann, nach einer Röhre, die es nicht erlaubte, dass er beide Arme gleichzeitig vorstreckte, weil er sonst zu breit gewesen wäre, rangierte er, enge Öffnungen zwischen den Sinterwellen nützend, in einen kleinen Raum. Die Fackel in eine Spalte geklemmt. Noch einmal aufrecht gestanden. Noch einmal die Arme gestreckt. Dann setzte er sich nieder. Die ständig präsente Feuchtigkeit rann hauchdünn über die fantastisch anmutenden Formen und Figuren aus Kalk. Than sah sich in dem kleinen Raum, von dem er, im Mittelpunkt stehend, beinahe jeden Teil der Wände mit den Händen erreichen würde, um. Sein Puls, seine Atmung beruhigten sich wieder von der körperlichen Anstrengung. Nun konnte er seine Suche beginnen. Die Fackel begann zu flackern. Sie hatte das Ende ihrer Brenndauer erreicht. Sie hatte lange genug gebrannt. In wenigen Momenten würde sie verlöschen. Than rückte auf seinem Platz noch einmal hin und her. Suchte die beste Sitzposition. Er könnte sich nach hinten anlehnen, aber noch würde er das freie, aufrechte Sitzen bevorzugen. Seine Hände fielen schließlich langsam in seinen Schoß. Seine Finger umschmeichelten den Kiesel. Dieser Stein sprach mit ihm. Er sagte ihm, warum er hier war. Er solle suchen. Er solle einen neuen Sinn für sein Leben suchen.
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Als Than die glatte Oberfläche des runden Steines fühlte, dachte er an Than-Ja. Da wusste er, dass seine Suche nicht vergeblich sein würde. Die Flammen aus dem präparierten Teil der Fackel flackerten wieder auf. Diesmal heftiger. Funken sprühten und fielen hinab. Es wurde dunkler. Sie fanden nur noch wenig Nahrung. Noch einmal flammte sie auf und erstarb. Es war vollständig dunkel. Der Rauch würde bald verzogen sein. Nur noch das Tropfen des durch den Fels sickernden Wassers war zu hören. Than zog sich die große Kapuze über den Kopf. Die Suche begann. Sofort, ohne Wartezeit oder Verzögerung, stand er wieder vor dem Licht des Augenblicks. Sein Bewusstsein erhellte sich. Das Jetzt hüllte ihn ein. Barg ihn. Nahm ihn auf. Noch ehe die letzten Funken verloschen waren, begegnete der Sucher dem Jetzt. Es gab keine Vergangenheit mehr. Es gab keine Zukunft mehr. Es gab nur noch das Jetzt. Mit der Kraft seines Geistes dehnte er das Jetzt aus. Von einem Bruchteil eines Atemzuges dehnte es sich immer weiter aus. Schließlich umfasste es Minuten, Stunden, Tage. Sem lehrte ihn das Überblicken des Augenblickes von einer übergeordneten Warte aus. Als würde er eine Landschaft nicht mehr Baum für Baum, Busch für Busch, Fluss für Fluss, Berg für Berg wahrnehmen. Sondern alles auf einmal, wie ein gewaltiges Gemälde. Das Jetzt weitete sich zu Wochen, Monaten, Jahren. Die Töne der Welt schlangen sich zusammen. Die äußeren wie die inneren Töne jedes Dinges, jedes Lebens. Während sich anfangs noch verschiedene Akkorde ablösten wie ein gewaltiges Orgelspiel, verschiedene Rhythmen miteinander rangen, nahm der Sucher wahr, wie sich alle umeinander webten. Gewaltigere Harmonien bildeten. Misstöne aufnahmen. 410
Der eine Augenblick dehnte sich zu Jahrzehnten, Jahrhunderten, Jahrtausenden. Der Ton der Welt erreichte seine Schwingung. Durchströmte Than. Durchströmte die Welt. Durchströmte das Jetzt. Erreichte die All-Einheit. Der Augenblick ward immerwährend und blieb unverändert. Gleichzeitig nahm Than das Weltplateau wahr. Gleichmütig nahm er es in sich auf. Sem. Wo war Sem?
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ATLANTIK In seinem Bauch kreiste es. In seinem Hirn kreiste es. Tristan stellte sich sein Gesicht grün mit irgendwelchen Flecken vor. Alles schwankte. Manchmal warf es ihn in seiner Koje hin und her. Der Seegang ging über seine Kräfte. Immer noch mit den Handschellen gefesselt, lag er hilflos da. Seinem Schicksal ergeben. Die Befestigungsringe schienen Tristan keine besondere Funktion zu haben. Zumindest keine seemännische. Sollten hier des Öfteren unfreiwillige Passagiere mitgenommen werden? Plötzlich schrie sein Bauch auf. Oder war es sein Hirn? Der gesamte Körper vibrierte. In Tristans Ohren tönte es lange nach. Dann noch einmal. Das waren nicht seine Eingeweide. Das war das Nebelhorn eines Schiffs. Tristans Sinne spannten sich auf das Äußerste an. Rufe! Schritte! Endlich wurde Tristan aus der Kajüte geholt. Einer der Seeleute scheuchte ihn nach oben. Die Hände im Rücken gefesselt. Auf dem Freiplatz im Heck der Motorjacht stehend, traute er seinen Augen nicht. Vor ihm stand, ruhig und unbeweglich wie eine graue Wand, ein gewaltiges Schiff. Soeben öffnete sich eine Tür in halber Höhe des Kolosses. Tristan wollte sich Hoheitszeichen oder andere Merkmale des Gefährtes ansehen, da trat sein Wächter zu ihm und stülpte ihm eine Kapuze über den Kopf. Der schon bekannte Schraubstockgriff zeigte Tristan, dass beide vermutlich das Boot wechseln würden. Schwankender Boden. Aufpeitschende Gischt der Wellen, die sich zwischen den beiden Fahrzeugen verfingen. Salzwassergeschmack auf der Zunge. Dann ging es voran. Geschoben und 412
geschubst. Scheinbar fester Boden unter den Füßen. Beim nächsten Schritt blieb Tristan an einer Stufe hängen. Er befand sich also auf einer Treppe. Von oben wurde er an den Schultern gezogen. Von unten vorwärts gedrückt. Eine Hand fühlte Tristan deutlich am Gürtel seiner Hose. Sollte bei all der Brutalität, der er ausgesetzt war, jemand Angst haben, dass er über Bord ging? Stufe um Stufe ging es nach oben. Zugleich Spritzer von Wasser. Tristans Leinenhose sog sich schnell voll. Irgendwann erreichte ihn die Gischt nicht mehr. ›Langsam müssten wir doch oben sein‹, dachte sich Tristan. Da bohrte sich der vibrierende tiefe Ton des Nebelhorns wieder in sein Hirn. Für einen langen Augenblick schien alles nur aus diesem einen kraftvollen Ton zu bestehen. Tristan war nicht in der Lage zu entscheiden, ob das sonore Signal beendet war oder in seinen Gehörgängen weiterhallte. Zu keinem Gedanken fähig, stolperte er weiter. War das in seinen Ohren jetzt das Rauschen der Wellen oder die Folge eines überstrapazierten Trommelfells, fragte sich Tristan. Er wusste es nicht. Als seine Ohren wieder andere Geräusche aufnahmen, hörte er lediglich die Tritte von Stiefeln auf Metallboden. Kein Wort wurde gesprochen. Kein Indiz darüber, auf welchem Schiff er sich befand. Es roch jetzt zusätzlich nach Öl und dem Schweiß vieler Menschen. Nach etlichen Treppen, Gängen, Schotts blieben sie plötzlich stehen. Die Geräusche der Stiefel schienen sich jetzt von ihm fortzubewegen. Dann fiel mit einem lauten Knall hinter ihm eine Eisentür zu. Ein metallisches Klacken bedeutete Tristan, dass sie auch noch verriegelt wurde. Schließlich Stille. 413
Nein. Jetzt erst nahm Tristan das allgegenwärtige Brummen der Maschinen wahr. Es durchzog das ganze Schiff. Eines jener Geräusche, die man nach kurzer Zeit gar nicht mehr registrierte. Es sei denn, es veränderte sich in Tonhöhe, Rhythmus oder Lautstärke. Was nun? Vorsichtig ging Tristan einen Schritt rückwärts. Dann noch einen. Es schien ihm sicherer, blind, wie er war, vorsichtig in die Richtung zu gehen, wo er sicher war, dass am Boden keine Stolperfallen waren. Dabei hob er seine Schuhe nicht an, sondern schliff über den Boden. Auf jedes Hindernis achtend. Dann rumpelte er gegen die Tür. Durch Hin- und Herbewegen versuchte er, Kanten und Schraubvorsprünge festzustellen. Tristan musste nicht lange suchen. Etwas, das sich wie eine gebogene metallene Leiste auf der Türumrahmung anfühlte, schien geeignet. Mit seinem Kopf fuhr er immer wieder über diese Stelle. Versuchte den unteren Rand seiner Kapuze daran hochzuschieben. Das fiel ihm gar nicht leicht. Immer wieder schrammte er mit seinem Gesicht oder Hinterkopf über die Stelle. Seine Nase und seine Ohren stellten sich dabei als komplizierte Widerhaken heraus. Schließlich hatte er die Kapuze so weit nach oben geschoben, dass er mit einem Auge darunter hervorschauen konnte. Seine Zelle war beleuchtet. Ein an der Seitenwand befestigtes Bett war heruntergeklappt. Einfachst gehaltene Toilette ohne bewegliche Teile wie Klodeckel. Kein Fenster. Da schlug die Tür hinter ihm auf. Sein Wächter schob ihn zur Seite. Öffnete ihm die Handschellen. Das Klappern der losen Eisenteile freute Tristan. Gleichzeitig fragte er sich, wie es um ihn bestellt sein musste, wenn er sich schon über dieses metallische Geräusch freute. Dann zog der Wächter ihm die Kapuze vom Kopf. 414
Tristan kniff die Augen zusammen. Das grelle Licht der Lampe fiel in seine Augen. Doch er sah noch, wie ein Matrose schweigend in die Zelle trat. Er ging neben das Bett. Klappte ein ebenfalls in die Wand eingelassenes Tischchen herunter. Stellte etwas dort ab und verschwand wieder. Der Geheimdienstmann war währenddessen nicht von Tristans Seite gewichen. Als der Matrose wieder gegangen war, schob ihn der Mann zum Tischchen. Darauf stand ein Teller mit Eintopf. Daneben lag eine Scheibe Brot. Tristan starrte auf die Suppe. Starrte auf die Teile, die darin schwammen. Essen? Jetzt? Dann nutzte Tristan seine neue Freiheit, sprang zur Toilette und erwartete das Schlimmste. Sein Wächter stieß ein paar Grunzer hervor, die vermutlich als Lacher interpretiert werden konnten, und verließ den Raum. Das schon bekannte metallische Geräusch zeigte Tristan an, dass der Raum wieder verschlossen wurde. Das Schlimmste kam nicht. Dabei hätte sich Tristan gern so viel von der Seele geschrien. Hier hinein. Und dann fortgespült. Die ganzen letzten Stunden. Aber es kam nichts. Von seinem Gefühl her schien der Kloß irgendwo im Hals festzusitzen. Die Angst um Alana und Sophia nahm ihm die Luft. Körperlich glaubte er sich viel zu erschöpft, als dass er der Seekrankheit Folge leisten könnte. Tristan legte sich erst einmal auf das Bett. Nach der Härte zu urteilen war es eher eine Pritsche. Starrte gegen die Decke. Sprang aber sogleich wieder auf. Gesessen und gelegen hatte er doch eine ganze Menge in den letzten Stunden, sagte er sich. Unruhig werdend, ging er hin und her. Drei Schritte bis zur Wand. Drei zurück.
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Zwischendurch ein ängstlicher Blick zur Tür. Eine Metalltür mit abgerundeten Ecken. Eine Metallleiste, auf der Nieten rundherum führten. Alles in eintönigem Weiß gestrichen. Resignierend einatmend, sog er den Geruch der Suppe in sich hinein. Schlimmer kann es nicht mehr kommen, sagte sich Tristan, und Hunger habe ich doch. So setzte er sich an das Fußende der Pritsche und begann, den Eintopf zu löffeln. Schlecht war er nicht. Das wunderte ihn. Nur das Brot war einfaches Weißbrot. Aber was sollte er auch anderes erwarten. Er war ein Gefangener. Aber kein normaler. Einer ohne Rechte, ohne Beistand und ohne die Erwartung von Hilfe. Das Einzige, was ihn retten könnte, wäre die Kugel. Den Gedanken schob Tristan aber sogleich wieder weit weg. Er durfte nicht mit dem Leben Sophias und Alanas spielen. So vergingen die nächsten Tage. Wenn er diese Zeiteinheit überhaupt wahrnehmen konnte. Das Licht in seiner Zelle ging nicht aus. Anhand des einfachen Essens vermutete er den Fortgang der Zeit. Morgens eine Tasse Kaffee und ein lappiges Marmeladenbrot. Abends Eintopf. Zumindest das Abendessen war genießbar. Tristan nahm an, dass er alle Mahlzeiten bekam, zu denen man kein Messer und keine Gabel benötigte. Niemand schien sich hingegen zu überlegen, ob er anderes essen wollte. So blieb es bei zwei Mahlzeiten. Oder war der Eintopf das Mittagessen? Dann gäbe es den Kaffee abends? ›Nein!‹, ermahnte sich Tristan. ›Meine Gedanken dürfen sich jetzt nicht verwirren.‹ Die Fahrt mit der Jacht begann frühmorgens. In der Koje hatte er zwar etwas geschlafen, aber immer mit dem Eindruck, dass etwas Tageslicht hereindrang. Die erste Mahlzeit hier konnte also nur das Abendessen gewesen sein. 416
Tristan versuchte mit allen Mitteln, einen äußeren Bezugsrahmen nicht zu verlieren. Hier in dieser Zelle mit ihrem immerwährenden Licht. Alana und Sophia sah er nur in seinen Träumen. Gedanken an sie versuchte er nicht oft hochkommen zu lassen. Angst und Sorge zehrten an seinen Nerven. Wie gern hätte er die Kugel aufgesucht. Wäre zu ihnen gereist. Vielleicht auch nur, um zu sehen, dass es ihnen gut ging. Dann würde das hier alles leichter zu ertragen sein. Die Kugel. Alana. Sophia. Diese Gedanken reichten aus. Er spürte die Gegenwart der Kugel. Sie war hier. Im Bauch des Schiffs. Das Gefühl, Verbindung mit ihr zu haben, ließ Panik in Tristan aufsteigen. Er durfte nicht. Es geht nicht um dich!, schrie Tristan sich an. Einen Augenblick später wusste er nicht, ob er die Ermahnung nur gedacht oder wirklich geschrien hatte. Plötzlich schlug die metallene Tür auf, und sein Wächter stand wieder vor ihm. In der Hand eine Kapuze und Handschellen. Einen Augenblick später stand Tristan, die Hände auf den Rücken gefesselt und mit der Kapuze über dem Kopf, in der Zelle. Weitere Personen traten ein. Er wusste nicht, wie viele. Wurde an die Wand zurückgestoßen. Der plötzliche Angriff überraschte ihn, ließ ihn stolpern. Die Wand verhinderte, dass er fiel. Angestrengt stemmte er sich mit dem Rücken wieder in die Senkrechte. Kaltes Schweigen! Keiner der Unbekannten sprach ein Wort. Tristan stand da und pustete die Luft beim Ein- und Ausatmen durch die Kapuze. Manchmal glaubte er, das Atmen der anderen zu hören. Oder war es doch sein eigenes? War er vielleicht wieder allein in der Zelle?, fragte er sich. Nein, denn dann hätte er zumindest die Metalltüre gehört. Lasse dich nicht verwirren, ermahnte sich Tristan. 417
»Erzählen Sie etwas über die Kugel«, war eine Stimme zu hören, die Tristan nicht kannte. Oder war es die von seinem Wächter? Er hatte bislang nicht gesprochen. Vielleicht war es ja seine Stimme. »Hören Sie, Wagner. Lassen Sie uns die Sache so schnell wie möglich zu Ende bringen«, sprach die Stimme weiter. Tristan überlegte fieberhaft. Er hatte kein Konzept für dieses Gespräch. ›Jetzt bin ich schon so lange hier, habe alle Zeit und stehe trotzdem ohne Konzept da‹, haderte er mit sich. Was sollte er nur erzählen. »Sie wollen hier weg. Ich will es auch«, war zu hören. »Was wissen Sie über die Kugel?« Keine Spielchen, dachte sich Tristan. Es geht um Alana und Sophia. Sollen die doch mit der Kugel machen, was sie wollen. Sie ist zwei Menschenleben nicht wert. Vielleicht nur sein eigenes. »Die Kugel ist ein archäologisches Artefakt. Die Kirche …«, begann Tristan. »Halt!«, gellte es in seinen Ohren. Dann Schweigen. Missmutiges Schnaufen war zu hören. »Aber es ist wahr«, beteuerte Tristan, der befürchtete, man würde ihm vielleicht nicht glauben wollen. »Erzählen Sie etwas, was wir noch nicht wissen, Wagner«, forderte der Unbekannte auf. »Ich habe keine Ahnung von Religion oder Geschichte der Kelten«, begann Tristan noch einmal. Fuhr aber sofort fort, denn er befürchtete sogleich beim Aussprechen, dass dieser Satz als Hinhaltetaktik gedeutet werden könnte. »Es ist wohl irgendetwas, nicht von dieser Erde …« Tristan hatte beschlossen, alles freimütig zu erzählen, und suchte schon jetzt nach Worten.
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»… mit dem Sie eine wichtige Rettungsmission blockiert haben«, hörte er barsch. »Es wäre falsch gewesen«, versuchte sich Tristan dafür zu rechtfertigen, »weil …« »Wie funktioniert die Kugel?«, unterbrach ihn der Sprecher. »Aber das steht doch alles auf dem Manuskript, das Sie aus dem Vatikan …«, wunderte sich Tristan. Aber der Unbekannte fiel ihm wieder barsch ins Wort. Er solle bei der Sache bleiben. »Man muss sich konzentrieren. Sehr konzentrieren«, begann Tristan noch einmal mit seinen Erklärungen. Diesmal war es absolut still im Raum. Alle schienen darauf zu lauschen, was er jetzt berichtete. »Sie hat eine Art psycho …«, suchte Tristan nach Worten, das außergewöhnliche Phänomen zu beschreiben. »… psychomentale Steuerung«, vervollständigte sein Gegenüber den Satz. Dabei versuchte er, möglichst gelangweilt zu klingen. Tristan geriet damit unter Druck, die anderen wüssten viel und er dürfe keinen Fehler machen. »Wie steuern Sie sie?«, fragte der Unbekannte. »Ganz konkret.« »Ich versuche, Gedanken und Gefühle auf einen Punkt zu bringen. Auf die Kugel sozusagen. Es ist wie …« »Gefühle?«, kam die verdutzte Rückfrage, »welche Gefühle?« »Liebe. Seelische Verbindung und so …« Es schnaubte wieder aus der Richtung des unbekannten Sprechers. »Wollen Sie mich verarschen?«, herrschte er ihn an. Tristan war sehr verunsichert. »Nein«, stotterte er fast. »So steht es auf dem Manuskript.« Dann beinahe trotzig: »Lesen Sie doch selbst nach, wenn Sie mir nicht glauben.« 419
Kurzes, unsicheres Schweigen. »Wir haben es jetzt nicht hier«, klang es etwas betretener. »Ich dachte …«, wunderte sich Tristan. »Weiter!«, herrschte sein Gegenüber ihn jetzt wieder an, »oder wollen Sie noch lange so weitermachen. Ich sage Ihnen doch, wenn wir fertig sind, sind wir fertig.« »Ich glaube, man kann damit überall hinfliegen …« Aber Tristan wurde schon wieder unterbrochen. »Sie haben vorhin versucht, sie zu aktivieren.« Dieser Satz klang scharf in seinen Ohren. Sein Gedankenspiel vorhin. Er war erwischt worden. Ertappt, wie ein Dilettant. Nicht wie ein geheimer Götterbote, als der er sich manchmal fühlte. »Woher wissen Sie das …«, stotterte Tristan und wusste sofort, dass er sich dadurch endgültig verriet. »Wir sind nicht dumm«, schrie der Unbekannte ihn an. »Aber«, seine Stimme wurde sanfter, fast genüsslich formulierte er seine nächsten Worte, »Sie haben uns damit auch einen kleinen Gefallen erwiesen.« »Ich verstehe nicht.« Tristan verstand nichts. »Geheim!«, war kalt und streng zu hören. »Nur so viel: Sie könnten sich mit dem Ding keinen Millimeter mehr bewegen, ohne dass wir es wüssten.« Tristan schwieg betreten. »Weiter!«, mahnte der Unbekannte an. Tristans Knie wurden langsam weich. Zitterten. Der psychische Druck des Verhörs schien auch körperlich auf ihm zu lasten. »Wie ist das mit dem Gefühl und dem Quatsch mit der Liebe?« Tristan wollte gerade beginnen, da fuhr ihm der Mann über den Mund: »Jede Lüge könnte Ihre letzte sein!« »Das ist genauso wichtig wie die mentale Konzentration. Liebe oder andere intensive, aber gute Gefühle scheinen wichtig zu sein.« 420
»Gute Gefühle, Liebe?« Schnauben wurde hörbar. Tristan vermutete Unwillen über das von ihm Gesagte. »Am Ende können nur die«, dabei wurde die Stimme des Sprechers zu einem überzogenen Säuseln, als würde er Tristans Aussage karikieren, »die reinen Herzens sind, das Ding benutzen, Herr Wagner.« »Es könnte so sein …«, ließ Tristan trotzig hören. Dass man ihm, der sich vorgenommen hatte, Alana und Sophia zu retten und alles zu erleiden bereit war, nicht glaubte, war niederschmetternd für ihn. »Ach, hören Sie doch auf!«, brüllte ihm der Unbekannte ins Ohr. Tristan zuckte zusammen. »Gleich haben Sie eine Kugel in Ihrem ach so reinen Herzen.« »Es ist wahr!«, beteuerte Tristan, gegen Tränen ankämpfend. Er musste dabei den Impuls unterdrücken, noch trotzig mit einem Bein auf den Boden zu stampfen. Tief in seinem Inneren sagte er sich in auffällig ruhigen Worten: ›Die können mit dem Gefühl der Liebe nichts anfangen. Diese Menschen wären immer unfähig, die Kugel zu steuern. Bis in alle Ewigkeit. Ihre Gefühlskälte und die Tatsache, dass sie andere beherrschen wollen, behindert sie. Beraubt sie einer wichtigen Fähigkeit. Sie sind genauso behindert, als würde ihnen ein Arm, ein Bein, ein Sinnesorgan fehlen.‹ Mutig streckte Tristan sein Rückgrat durch. Hob den Kopf. »Wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie alles in dem Schriftstück nach, das Sie gestohlen haben.« »Wir haben es nicht«, war zu hören. »Es ist in den Händen des verfluchten Priesters.« Tristan begann, etwas zu ahnen. »Warum sollte Ihr Verbündeter es Ihnen vorenthalten«, fragte er unschuldig nach, da er glaubte, die wahre Antwort zu kennen.
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»Zweckgemeinschaft. Kein Verbündeter«, sagte der Unbekannte ruhig vor sich hin. »Wo gibt es denn echte Verbündete?« »Zum Beispiel in Freundschaften, oder …«, antwortete Tristan mit derselben ruhigen Stimme, »… in der Liebe.« Eine rasche Bewegung, und Tristan fühlte die Hand des Unbekannten an seiner Kehle. Er wurde gegen die Wand gedrückt. Bekam kaum Luft. »Deshalb werden Sie uns in aller Liebe alles gestehen«, hauchte er mit scharfer, aber leiser Stimme in Tristans Ohr. »Für die Frau und das Mädchen würden Sie doch alles tun. Aus Liebe.« Da wurde Tristan klar, dass das nie enden würde. Sie hatten ihn in der Hand. Er würde alles tun, um seine Lieben zu schützen. Sie würden es nicht verstehen, weil sie dazu nicht fähig waren. Alana und Sophia würden immer in Gefahr sein. Solange die Kugel existierte. Erst wenn sie zerstört war, könnte Ruhe einkehren. Deshalb händigte wohl auch Pater Iscariot den Geheimdienstleuten das alte Manuskript nicht aus. Er wollte nicht, dass die Kugel verwendet wurde. Die Kirche des Altertums und des Mittelalters wollte die Kugel nicht. Zu viel Macht für Einzelne. Zu viele Begehrlichkeiten. Es würde nie aufhören. Auch wenn er alles gestand, was er wusste. Der Unbekannte hatte selbst gesagt, dass man trotz seiner ehrlichen Aussage eiskalt auf Alana und Sophia zurückgreifen würde, wenn es profitabel und nützlich erschien. Es gab kein Ende dieser Bedrohung. Es sei denn, er würde das Ende schaffen. »Ja, aus Liebe würde ich alles tun«, sagte Tristan trotz Luftmangels. Der Adamsapfel wurde gefährlich tief in den Hals gedrückt. Trotzdem wunderte sich der Unbekannte darüber, dass die Worte so selbstbewusst klangen. »Sogar sterben«, presste er heraus. 422
Dann sackte Tristan in sich zusammen. Aus Angst, seinen Gefangenen unfähig gemacht zu haben, bevor er alle Informationen aus ihm herausgeholt hatte, ließ der Unbekannte ihn los. »Wagner!«, schrie er ihn an. Unsicherheit und Verzweiflung klangen mit. Irgendwo heulte ein Alarm auf. Da sah er, wie Tristans Körper von einem seltsamen Licht umkreist wurde. Bögen umkreisten ihn mit der Geschwindigkeit eines Blitzes. Eine aura-artige Kugel glühte um Tristan herum auf. Im selben Augenblick war allen im Raum klar, was die Ursache des Alarms war. Irgendetwas war mit der Kugel. Alle Verbliebenen stürmten aus dem Raum. Hinauf an Deck. In einem abgedunkelten Raum auf dem Kriegsschiff starrte ein Geheimdienstmitarbeiter in Zivil auf einen Bildschirm. Hier in der elektronischen Informationszentrale liefen alle Daten zusammen. Neben vielen anderen Werten pulsierte eine rote mehrstellige Zahl. Der Wert für ein elektromagnetisches Kraftfeld, das man um einen Teil des Schiffes gelegt hatte, war um ein Vielfaches gestiegen. Dem Operator war klar, was das bedeutete. Die geheimnisvolle Kugel, die sie in internationalen Gewässern vor der Küste Frankreichs aufgenommen hatten, hatte sich nicht nur aktiviert. Sie bewegte sich auch. Die Analytiker, die sich im Vorfeld mit diesem möglichen Problem befasst hatten, konstruierten auch die Vorrichtung für das elektromagnetische Feld. Für den Bruchteil einer Sekunde war nicht nur die Aktivierung selbst, sondern auch die grobe Bewegungsrichtung der Kugel an den Werten ablesbar. Innerlich angespannt, aber äußerlich professionell ruhig erscheinend, gab der Mann Werte für eine spezielle Waffenstation auf dem Oberdeck in eine Tastatur ein. 423
Im selben Augenblick richtete ein anderer Geheimdienstmann an einer neuartigen Schallwellenkanone seine Waffe nach diesen Werten aus. Die an eine Satellitenschüssel erinnernde Kanone fokussierte einen Schallwellenimpuls auf eine Linie. Wie ein Laser bei Lichtwellen. Im Bruchteil einer Sekunde sauste Tristan in der Kugel durch die Stahlwände des Kriegsschiffes. Durchfuhr die Außenwand. War draußen. Unter ihm das bewegte Meer. Wellen trugen kleine Schaumkronen. Den in den letzten Stunden zunehmenden Wind nahm er nicht wahr. Nur weg von hier. Da traf ihn der konzentrierte Schallwellenimpuls. Ein Ton wie ein Schuss. Ein gewaltiger Schuss. Ein langer Schuss. Schmerzhaft durchfuhr ihn die Flugbahn des »akustischen Projektils«. Das Gehirn schien ihm zu explodieren. Scharf wie ein Messer fühlte er den grauenhaften, bis ins Mark kreischenden Ton in sich eindringen. Wie die Kugel aus einer Waffe durchschlug ihn dieser Ton. Seine Gehörgänge schienen zu bersten. Tristan zitterte. Krampfte. Verdrehte wie wahnsinnig seine Augen. Er hielt sich die Ohren zu. Mit beiden Händen. Es half nichts. Um keinen Deut verringerte sich der Wahnsinn in seinem Hirn. Panik. Schreien. In seinem Kopf existierte nichts mehr. Nur noch der alles zerstörende Ton. Tristan bemerkte gar nicht, dass er in das Kreischen der Zerstörung einstimmte. Er schrie. Schrie aus vollen Lungen. Versuchte damit ein Gegengewicht zu schaffen. Versuchte, das Zittern aus seinem Knochenmark hinauszuschreien. Keine Gedanken mehr. Nur noch allgegenwärtiges Kreischen. Keine Gefühle mehr. Nur noch allgegenwärtiger Wahnsinn im Kopf. 424
Keine Konzentration mehr. Die Kugel materialisierte. Stürzte sofort ab. Tristan erschien gleichzeitig. Ungefähr zwanzig Meter über den tiefblauen Wellen. Das nahm er aber nicht mehr wahr. Er hatte das Bewusstsein verloren. Sein Aufschlag auf das Wasser war hart. Das Spritzen des Aufpralls ging jedoch schnell in dem aufgewühlten Meer unter. Wenige Meter neben ihm knallte die Kugel auf die Oberfläche. Sofort wurde sie von den Tiefen verschluckt. Sie versank. Versank in den Seitenschluchten des Mittelozeanischen Rückens, tief unter der Absturzstelle. Atemlos erreichten die Geheimdienstmänner, die noch soeben bei dem Verhör in der Zelle zugegen gewesen waren, das Deck. Sie konnten nur noch beobachten, wie die Kugel schnell in den Wogen verschwand. Tristans Körper erreichte in der Nähe wieder die Oberfläche. Er lag bewegungslos auf dem Rücken. Der Deckoffizier gab soeben den Alarm »Mann über Bord« und leitete Rettungsmaßnahmen ein. Aber einer der Geheimdienstmänner schrie ihn an. Kam auf ihn zugerannt. Der Offizier verstand nicht. Aber nachdem der seltsame Mann in Zivil tuschelnd auf ihn eingeredet halte, nahm er den Alarm zurück. Keine Rettung. Seine Männer schauten irritiert. Der Geheimdienstmann scheuchte sie schnell wieder unter Deck. Dann ging der für den Deckoffizier ranghohe Zivilist wieder zu den Seinen. Oh, wie hasste er die Heimlichtuer und Wichtigmacher. Aber es half nichts. Mit einem Gefühl von schlechtem Gewissen blickte er noch einmal auf den treibenden Körper, den er zwischen den grünen Wellenbergen kaum noch sah.
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Das Kriegsschiff dampfte weiter seinen Weg, als wäre nichts gewesen. Jetzt, da das Artefakt vernichtet war, war für die Beteiligten auch nie etwas gewesen. Tristan bekam von alledem nichts mit. Bewusstlos trieb er in den Wellen.
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BEFREIUNG Wo waren seine Sinne? War es dunkel oder hell? Hatte er die Augen offen oder geschlossen? Pater Benedikt konnte keine dieser Fragen beantworten. Wo war er überhaupt? Er konnte sich nur noch an … nichts erinnern. »Aber vielleicht träume ich auch einen irrealen Traum«, sagte er sich. Nein, da war etwas. Schwang noch in seinem Inneren mit. Hatte ihn eben noch bewegt. War so bedeutungsvoll, dass, so glaubte er, sein bisheriges Leben dahinter zurückstehen musste. Je mehr er sich auf das Gefühl in seinem Herzen konzentrierte, umso mehr glaubte er, es fassen zu können. Es war da. Aber wo war die Bedeutung davon? Seine Gedanken erlebte der Pater als frei im Raum schwebend. Ohne körperlichen Bezug. Aber trotzdem spürte er dieses eindringliche Gefühl im Herzen. Also doch nicht nur freie körperliche Gedanken. Auch Herz. Benedikt wusste nicht, was mit ihm geschehen war. Es schien ihm, als sei er gerade erst ins Leben getreten. Eine rein mentale Welt, denn er konnte nur Gedanken formulieren. Was war das nur mit dem Herzen? Herz war Gefühl. Sicher, als Pater musste er allen Menschen ein positives Gefühl entgegenbringen. Und es war für ihn mehr als eine Pflichtübung. Aber das war es nicht. Das, was in seinem Herzen schwang wie eine Glocke, die noch nachhallte. Was gab es noch für Herzensgefühle? Liebe. 427
Benedikt lauschte in sich hinein. »Epiphania«, hörte er, wie ein fernes Echo. Das Bild der brasilianischen Zisterzienserschwester, die ihn mit ihrem Wesen so sehr berührte, erschien vor seinem geistigen Auge. Wie mit einem ehernen Schlegel wurde dadurch sein Herz gleich einer Glocke angeschlagen. Aus der Vibration, die er bislang spürte, wurde ein gewaltiges Beben seiner selbst. Epiphania, die Erscheinung. In dieses Wohlgefühl in seinem Herzen, das ihn wie ein goldenes Licht umstrahlte, schlug ein feuriger Blitz. Traf sein Herz. Spaltete es entzwei. Schuld! Im selben Augenblick sah er die Gesichter der Kinder vor seinem geistigen Auge erscheinen. Florian erschien und verblasste. Daniela. Und schließlich … Sophia. Er, Pater Benedikt, war schuld. Im selben Augenblick fiel ihm alles wieder ein. Wie sie von Iscariot, den er nicht einmal im Traum einen Geistlichen nennen mochte, in die Tiefen der Witzenhöhle getrieben wurden. Immer weiter. Durch engste Stellen. Und dann kam es zu der Explosion. Die Höhle stürzte ein. Die Höhle? Warum konnte er hier dann so lebendig in seinen Gedanken und Gefühlen kreisen? Gerade jetzt über die Tatsache nachzudenken, ob er das Diesseits bereits verlassen hatte, schien ihm zweitrangig. Erstrangig war das Leben. Das bohrende Gefühl der Schuld trieb ihn voran. Hätte er nicht dem Drängen Alanas nachgegeben, wäre er nicht hier. Seine Rückkehr hatte vielleicht erst Iscariot auf ihre Fährte gebracht. Die Schuld ließ Pater Benedikt aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen. 428
Es schien ihm, als höre er etwas. Eine Art Rauschen, wie Wind oder das Meer, das in seinen Ohren dröhnte. Pulsierend, als würde ein geheimnisvoller Rhythmus lautstark arbeiten. Als stünde er inmitten tausend röhrender Motoren. In diesem Höllenlärm war es nicht möglich, andere wahrzunehmen. Nicht das Atmen Epiphanias oder gar das Rufen der Kinder. Der Gedanke an die drei Kinder, die eingeschlossen verzweifelt um Hilfe riefen, ließ den Schmerz in seinem Herzen aufglühen, als ziehe jemand ein Messer durch den Muskel. Das Dröhnen wurde gleichzeitig lauter. ›Ich muss etwas tun‹, schrie er sich selbst an. Mit einer immensen Willensanstrengung öffnete der Pater seine Augen. In einem schwachen Lichtkegel sah er vielleicht dreißig Zentimeter weit. Irrlichternde Funken blendeten ihn. Ein wogender Nebel ließ seine Augen keinen festen Punkt finden, an dem sie sich fixieren konnten. Wie tausend kleine Sandkörner rieb es in seinen Augen. Sogleich schloss er sie wieder. Die tausend kleinen Sandkörner flogen in seine Lungen. Sein Kehlkopf verkrampfte sich. Mit einem würgenden Husten versuchte er, sie auszutreiben. Er hörte sein Husten nicht mit seinen Ohren. Es war, als würden die Geräusche verschluckt. ›Wie groß ist die Höhle denn hier?‹, fragte er sich, Panik zurückdrängend. ›Oder wie klein?‹ Das ihn umgebende Dröhnen wurde lauter. »So nicht«, ermahnte er sich, »keine Panik aufkommen lassen.« Pater Benedikt öffnete wieder die Augen. Der Nebel vor ihm wurde zu tanzenden Funken. Die Funken zu Staub. Mit jedem hektischen Atemzug gab er den Bewegungen neue Nahrung.
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Anfangs konnte er nur zwei Farben unterscheiden. Staubgrau und tiefschwarz. Je nachdem, ob die Staubfunken im Lichtkegel seiner schwächer werdenden Stirnlampe tanzten oder nicht. Benedikt versuchte, seine linke Hand hervorzuziehen. Es gelang nicht. Er lag auf ihr. Als ihm dies bewusst wurde, schmerzte ihn die unbequeme Seitenlage. Es gelang ihm jedoch nicht, seine Position zu ändern. Aber den rechten Arm konnte er bewegen. Tastete den Bereich vor ihm ab. Fühlte Geröll und Stein. Versuchte, seine Hand nach oben zu bekommen. In Kopfhöhe. In den Lichtkegel. Es gelang ihm nur mit viel Mühen. Bald stieß der Ellenbogen hinten gegen den Fels. Dann konnte er in der Enge, die ihn umgab, seine Handwurzel nicht weit genug abbiegen, um es zu schaffen. Wie es schließlich gelang, wusste Pater Benedikt nicht. Minimale Bewegungen von der Hüfte aufwärts brachten Schritt für Schritt die wenigen Zentimeter Bewegungsfreiheit, die er brauchte. Dann war seine Hand vor seinem Gesicht. Im Schein der Lampe. Die Hand war grau. Steingrau, wie der Staub und der Nebel. »Wir sind unter Felsgestein begraben«, sagte er zu sich, bemüht, ruhig zu bleiben. Um ihn selbst ging es ihm nicht. Schon als Tristan und er unter dem Michelsberg verschüttet waren, konnte er die gefahrvolle Situation ruhig annehmen. Es ging ihm nicht um sein Leben. Wenn nur das Schuldgefühl nicht wäre. Er hätte schon längst die grausige Realität akzeptiert. Aber der Stachel der Schuld hatte sein Herz durchbohrt. Mit Recht!, sagte er sich immer wieder. Langsam tastete er den Bereich des Lichtkegels ab. Verfolgte, wie seine graue Hand im grauen Nebel verschwand. Dass er etwas Weiches ertastete, nahm der Pater anfangs gar nicht wahr. 430
Er erwartete es nicht. Nur Stein und Fels um sich. Aber da war etwas. Wieder fasste er nach jener Stelle knapp jenseits des Lichtscheins seiner Stirnlampe. Haar! Graues Haar! Tief in seinem Bauch ballten sich ein paar verächtliche Lachimpulse. »Natürlich grau«, sagte er sich. Da fiel es ihm auch wieder ein. Schwester Epiphania war unmittelbar neben ihm gewesen, als es geschah. Sie schien ohne Bewusstsein zu sein. Jedenfalls reagierte sie nicht auf seine zärtlichen Streichelversuche auf ihrem Kopf. »Schwester!«, rief Benedikt mit heiserer Stimme. »Schwester Epiphania!« Den Klang seiner Stimme nahm er wie durch einen Dämpfungsfilter wahr. Das Dröhnen hatte etwas nachgelassen, war aber noch immer da. Oder gewöhnte er sich langsam daran? Wie laut konnte sein Blut wohl rauschen? Als er seine Hand von ihrem Kopf zurückzog, hatte sich ein Strang ihrer wunderschönen, eigentlich tiefschwarzen Haare in seinem Jackenärmel verfangen. Fielen regelrecht in seinen eingeschränkten Sichtbereich. Dem ersten Impuls nach wollte er sie zurückschieben. Sorgfältig glatt streichen. Etwas vom Staub säubern. Es gelang Benedikt jedoch nicht. Zu eng. Zu staubig. Immer wieder quollen sie vor sein Gesicht. Eigentlich wollte er auch nicht. Hier, verschüttet von Fels. Bewegungsunfähig. Vielleicht sollte er doch langsam die Ausweglosigkeit akzeptieren. Jedenfalls sah er keinen Ausweg. Würde er eher verdursten oder ersticken? Das eine wäre schier endlose Qual. Aber was konnte quälender sein als die Schuld, die er auf sich geladen hatte? 431
Das andere, ein Zuviel an Kohlendioxid oder Stickstoff, wenn der Sauerstoff aufgebraucht war, könnte eine Art Erlösung sein. Da bestünde die Chance, dass er bald in einem rauschähnlichen Schlaf dahindämmern würde. Der Realität entgleiten. ›Worüber denke ich eigentlich nach?‹, schalt er sich selbst. ›Solche Gedanken sind sinnlos und nutzlos.‹ Wie automatisch nahm er die wallende schwarzgraue Haarsträhne und führte sie an sein Gesicht. Nahm etwas davon zwischen seine Lippen. Um ihr nahe zu sein. Dann tastete er zu ihr hinüber. Ihrem Kopf. Ihrem Hals. Spürte leicht die Schlagader pochen. ›O selige Bewusstlosigkeit‹, dachte Benedikt. So Epiphania spürend, verwandelten sich vor seinen Augen die Staubkörner wieder in glühende Funken. Verwirbelten zu Nebel. Leuchteten in allen Farben. Das grau gepuderte schwarze Haar umfing sein Gesicht wie eine süße Welle, in die er eintauchte. Es roch gar nicht staubig, nach den pulverisierten Überresten des gesprengten Kalksteins. Es roch nach frischen Aprikosen. ›Bestimmt irre ich mich‹, dachte Benedikt bei sich. Aber er beschloss stillschweigend, dass es ihm gleichgültig war. So genoss er den Ausdruck von Weiblichkeit in seinem Gesicht. Stellte sich vor, wie er mit seiner Nase tiefer hineinwühlte. Das Gesicht Benedikts war über und über bedeckt von weichem, samtenem Haar. Schon das erste Mal, als er am Ufer der Wiesent ein paar nasse widerspenstige Locken unter dem Häubchen hervorquellen gesehen hatte, verspürte er das Bedürfnis, ihr nahe zu sein. Ihr, Epiphania. Wie eine himmlische Erscheinung hatte sie auf ihn gewirkt. Dadurch wurde ein Lebensgefühl in ihm geweckt, welches er überwunden glaubte. Gut, gestand er sich ein, zuweilen hatte er 432
Tristan beneidet. Um die Nähe zu Alana. Um die erblühende Liebe, die er in sich erlebte. Benedikt dachte von sich, er brauche das nicht. Sein Weg sei die Erforschung Gottes. In Wissenschaft und Gebet. In Analyse und Meditation. In Beobachtung und Anschauung. Jetzt, eingekuschelt im schwarzen Haar der begehrenswerten Nonne, überfiel es ihn wie eine spontane Erleuchtung. Ihm hatte immer etwas Entscheidendes gefehlt. Die Tiefen seiner Emotionen hatte er nie erforscht. Vielleicht sogar verdrängt. Bis zu diesem Augenblick für unnötig gehalten. Aber jetzt traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag mit voller Wucht. Sein Weg war wichtig und gut. War segensreich und hilfreich. Aber er war nicht vollständig. Er war nicht rund. Nicht heil. Nicht heilig. Benedikt erkannte jetzt: Wollte er vollkommen sein, musste er sich den Tiefen seiner Emotionen öffnen. Musste individuelle Liebe zu einem geliebten Menschen zulassen und leben. Tiefer wühlte er sich in das Haar. Nahm den Geruch in sich auf. Erlebte die Frau neben sich. Erreichte ihre Haut. Der verschwitzte Körper Epiphanias schimmerte leicht glänzend. Fasziniert nahm Benedikt diesen Anblick in sich auf. Begehrend tastete sein Blick über die zarte Halslinie, über das schmalsinnliche Kinn zu den roten Lippen. Sie schimmerten feucht. Benedikt entdeckte dahinter im Kontrast das Weiß der Zähne und das leidenschaftliche Rot der Zunge. Sein Blick streifte über die schlanke Nase hinauf zu den unergründlichen kastanienbraunen Augen. Geheimnisvoll. Tief. Wahr. Sie sah ihn mit großen Augen an. Liebend. Begehrend. Benedikt spürte, dass sich dieselben Gefühle in dieser Frau ausbreiteten. Die große Iris sprach Bände. Der hörbare Atem aus den feuchten Lippen ebenso.
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Die Augen zogen Benedikt magisch an. Die Lippen ebenso. Es zog ihn näher. Immer näher. Dann berührten sie sich. Haut, Lippen, Zunge. Den anderen intensiv sinnlich wahrnehmend. Die Augen geöffnet. Sie wollten einander sehen. Tief in die Seele des anderen blicken. Wahrnehmen. Bis zur kleinsten Regung. Ihre Münder verschlangen sich. Ihre Blicke verschlangen sich. Schon längst hatte sich die anfängliche Sympathie als tiefe Liebe entpuppt. Eine Liebe zwischen Mann und Frau. Jetzt durchpulste ihre Adern Begehren. Der Kreis von Sympathie, Respekt, Achtung, Liebe schloss sich mit dem Erleben des Begehrens. Zwei Menschen fanden zueinander. Benedikt fühlte den glühenden Körper Epiphanias. Fühlte ihre Lippen, die Leidenschaft ihrer Zunge. Spürte den schneller werdenden Atem aus ihrer Nase auf seiner Wange. Dann schlossen sich die Augen der Liebenden. Eine Hand Benedikts verfing sich zärtlich in ihren Haaren. Die andere fuhr sanft über den Hals, die Schulter den Arm hinunter. Der immer feuchter werdende Körper der Frau glitt unter seinen Fingerspitzen entlang. Dann die Hand. Ihre Finger umschlossen einander. Lösten sich wieder. Während Epiphanias Hand langsam über seinen Rücken und seine Schulter glitt und ihn noch näher an sie heranzog, entdeckte er ihre Hüfte und den Bauch. Sie bog sich unter seinen Berührungen. Die runden Formen der Tropfsteine und Sinterbecken um ihn herum wurden zu Rundungen der Leidenschaft. Sie schienen zu leben. Ekstatisch. Die Höhlenwände warfen das Echo des hektischen Atmens zurück. Verstärkten das Stöhnen. Schrien die Schreie tief in seine Seele. Wie von Sinnen verließen Benedikts Lippen den Mund Epiphanias. Glitten über das Kinn zum Hals. Liebkosten die 434
Schulter. Strichen weiter zu den sehr weiblichen Brüsten. Ruhten sich ein wenig zwischen ihnen aus. Währenddessen öffnete sich Epiphania. Bereit den Mann ihres Lebens in sich aufzunehmen. Die nackten Leiber pressten, glitten, strichen, übereinander, ineinander, miteinander. Der Atem Benedikts ging stoßweise. Vermischt mit unartikuliertem Stöhnen. Glitt auf dem nassen Körper wieder nach oben. Zum geöffneten Mund, den pulsierende kurze Schreie verließen. Bereit aufzunehmen und aufgenommen zu werden, vereinten sich die nackten Körper in höchster Leidenschaft. Schrien sich liebende Lust in den mit den Lippen des anderen verschlossenen Mund. Eine nie erlebte Flutwelle, ein Strom der Sinnlichkeit, eine Verkrampfung des Leibes, eine Explosion der Liebe, verbreitete sich von der Mitte des Körpers, bis zu den äußersten Fingerspitzen, bis zu den Zehen. Und darüber hinaus. Von einer Aura der Liebe umgeben. Aufbäumen, Zittern vor Anspannung. Das Erlebnis derselben Leidenschaft bei der Geliebten. Gemeinsame Innigkeit und das nie gefühlte Einssein zweier Menschen schuf das »Ich« zum »Wir«, das »Wir« zum »Ich«. Pater Benedikt erkannte. Erkannte, dass er mit Epiphania mehr erlebte, als das Begehren lüsterner Leiber. Er erkannte, dass ihm hier eine Erkenntnis widerfuhr, die jenseits aller Worte stattfand. Jenseits aller Gedanken. Nur Sein. Liebendes Sein. Gemeinsames Sein. Aber Pater Benedikt wusste, dass es nicht wahr war. Er wusste, dass er verschüttet und bewegungsunfähig in einer Höhle lag. Zum Sterben verurteilt. 435
Schuldig. Hoffnungslos. Verloren. Dennoch erfüllte es ihn mit einem inneren Reichtum, dass er etwas erlebt hatte, das ihn reicher machte. Reicher an Erkenntnis und Liebensfähigkeit. Reicher an Glauben und Wissen. Gott näher. Noch vor wenigen Tagen, ja wenigen Stunden, hätte er den Gedanken, durch das sinnlich Erlebte Gott näher zu kommen, für falsch, irrgläubig, ja blasphemisch gehalten. Jetzt wusste er es besser. Er war reicher geworden. Auch wenn es nur für die letzten Atemzüge in seinem Leben war. Hätte er noch ein Leben zur Verfügung, würde er es in aller Gänze leben wollen. Mit Gott und der Welt. In Verantwortung und Liebe. Benedikt war bewusst, dass er hier eine Kreuzung erreichte, an der er in seinem Lebensweg abzweigen würde. Aber dazu blieb ihm keine Möglichkeit mehr. Ein anderes Mysterium erwartete ihn. Verlangte sein starkes Herz und seinen wachen Verstand. Stille. Benedikt erwartete den Tod. Da berührte ihn etwas. Zog an seinen Füßen. Er schrammte mit seinem Rücken über den steinigen Boden. Steine drückten sich dabei schmerzhaft rechts und links neben seine Wirbelsäule. Benedikt öffnete die Augen. Sah im Schein der Stirnlampe den grauen Nebel der Staubschleier. Jemand zog ihn an den Füßen aus dem steinernen Grab! Seine Kutte schob sich nach oben. Kräftige Hände hatten ihn an den festen Wanderschuhen gepackt. Dann verließ sein Kopf den kleinen Hohlraum, von dem er dachte, dass er ihn nie mehr verlassen würde. 436
Was der Pater sah, begriff er nicht. Eine Fackel blendete ihn. Sie roch nach Harz. Die Flamme brannte unregelmäßig und flackerte an manchen Stellen immer neu auf. Daneben sah er eine Gestalt, die sich kaum von den unregelmäßigen Felswänden abhob. Fast konnte man an eine Sinnestäuschung glauben. Lange starrte Benedikt das Wesen an. Es trug ein langes Gewand, wie ein Druide. Am Gürtel allerlei Beutel. Unter dem farblosen Ärmel waren kräftige Arme zu sehen. Mysteriöse Tätowierungen verschwanden darunter. Ein zerfurchtes, faltiges Gesicht, aus dem ihn zwei gütige Augen anblickten. Langes graues Haar und ein ebensolcher Vollbart umrahmten das uralte und doch zeitlose Gesicht. Je länger Benedikt in das Gesicht starrte, desto weiser kam ihm der Blick des Retters vor. Wie aus tiefer Meditation erwacht. Als er ganz hervorgezogen war, streckte ihm der Fremde eine Hand entgegen. Benedikt zögerte nur kurz. Dann ließ er sich hochziehen. Je näher er dabei dem Unbekannten kam, desto irrealer erschien ihm die Situation. Hätte dieser ihn hier nicht leibhaftig aus dem Fels gezogen, hätte er ihn übersehen. Auch wenn er in der Höhle neben dieser Gestalt stehen würde. Er schien in den Fels überzugehen. Mit ihm zu verschmelzen. Benedikt sah ihn erstaunt und dankbar an. Der Fremde lächelte. Ohne die gütigen Augen würde der Pater einen urzeitlichen Geist vor sich vermuten. Aufgeregt versuchte Benedikt ihm zu sagen, dass noch eine Person unter dem eingestürzten Deckgestein lag. Sie müssten sich beeilen. Aber der Fremde bewegte sich nur langsam. Wie vergeistigt. Er schob Benedikt an sich vorbei zur schmalen Felsspalte, die zur Grottenkammer führte, in der sich die Kinder 437
befanden. Ungern ließ er das mit sich geschehen. Aber er leistete keinen Widerstand. Ließ sich weiterdrängen. Benedikt vermutete, dass der Unbekannte mehr Platz benötigte, um die Rettungsaktion fortzuführen. Er schlüpfte durch die Engstelle, die ihm beim Hinweg so große Probleme bereitet hatte. Seine Bewegungen waren durch die »Übung«, die er inzwischen hatte, weil er sich schon zweimal hindurchgewunden hatte, geschickter und angepasster. Kurze Zeit später erreichte Benedikt die Spitzabzweigung mit der Nische, die zum Rangieren des Körpers unverzichtbar war. Der Fremde war hinter ihm. Trotz der Fackel mit der flackernden Flamme huschte er geschickt durch die Passage. Vielleicht hatte er den Hinweis auf die verschüttete Epiphania nicht verstanden, befürchtete Benedikt. »Da liegt noch jemand«, rief er ihm zu. »Eine Frau.« Der Angesprochene reagierte jedoch nicht darauf. Seine weisen Augen schienen nur zu lächeln. »Eine Nonne«, beschrieb Benedikt weiter und machte dabei ein Handzeichen, um ein Häubchen anzudeuten. Dann etwas lauter: »Schwester Epiphania.« Durch die Namensnennung hoffte er es deutlicher zu machen. »Pater Benedikt!«, rief es aus der Kammergrotte unterhalb des engen Abstieges, über dem sie standen. Die Stimme klang gedämpft und weit entfernt. Der Pater konnte es nicht glauben. Das war die Stimme Epiphanias. »Schwester Epiphania?«, rief er ins Dunkel. Glaubte, sich verhört zu haben. »Ich bin hier unten«, war die Antwort zu hören. »Bei den Kindern.« Ungläubig und erstaunt starrte Benedikt den urtümlichen Fremden an. Machte sich dann aber sofort daran, die schmale 438
abschüssige Stelle zu überwinden. Schlitterte, mit gespreizten Fingern in der glatten Wand Halt suchend, hinab. Die danach folgenden kurzen Gänge mit rechtwinkligen Abzweigungen maßen genau eine Körperbreite. Schnell hetzte Pater Benedikt durch. Wollte sehen, was er nicht glauben konnte. Aber da waren sie. Die Kinder, unverletzt. Sie waren vom Explosionsherd zu weit weg gewesen. Wirkten nur etwas verängstigt. Ihre Augen strahlten jedoch sogleich vor Freude auf. Leuchteten beinahe heller als die Stirnlampe an ihren Helmen. Den Pater zu sehen bedeutete für sie, dass alles in Ordnung war. Benedikt fiel eine ungeheure Last von der Seele. Vielleicht käme doch alles zum Guten. Er war sich zwar bewusst, dass es keinen Weg nach draußen gab, aber zumindest waren alle am Leben. Unverletzt am Leib und scheinbar auch an der Seele. Sofort gab er dem Impuls nach, alle Kinder segnend zu berühren. Ihre Stirn, Hand oder Wange. Was immer er auch erreichte. Doch zwischen ihm und den Kindern stand in dem engen Gang Schwester Epiphania. Er versuchte, sich an ihr vorbeizudrücken. Dafür war es allerdings viel zu eng. Die Nähe interpretierte die Nonne als den Versuch einer Umarmung. So gut es in der Spalte eben möglich war. Sie erwiderte die vermutete Zärtlichkeit. Schmiegte sich an Benedikt. Ignorierte den verschmierten Schlamm auf Gesicht und Kleidung. Stieß mit ihrem Helm an seinen bei dem Versuch, ihre Wange an die seine zu drücken. Benedikt war wie vom Schlag gerührt. Erstarrte. Spürte ihre Lippen. Das war für ihn aber unvorstellbar. Während die Gedanken über diese Berührung immer chaotischer im Kreis tanzten, schien sein Körper eigenständig zu reagieren. Ohne bewusste Kontrolle. Holte sich, was er brauchte. Die Nähe der Geliebten. Erwiderte die Umarmung. Sah verliebt und verwirrt in die dunklen, liebevollen Augen, in 439
denen er dieselbe Leidenschaft erkannte, die er selbst in sich spürte. »Es ist wie ein Traum«, hörte Epiphania sich flüstern. »Es war ein Traum«, sagte Benedikt. »Es war mein Traum«, hauchte sie. »Wie können wir gemeinsam denselben Traum träumen?«, fragte Benedikt. »Vielleicht, weil wir einen gemeinsamen Traum haben«, versuchte Epiphania zu erklären. »Kann ein Traum über der Realität stehen?«, fragte Benedikt weiter. Dann trat der Fremde von hinten heran. »Than ist wieder da«, rief Florian. »Hallo Than«, grüßte Daniela den Fremden wie selbstverständlich. Ungläubig über die Tatsache, dass die Kinder den Unbekannten zu kennen schienen, wandte Benedikt den Kopf. Sah den Ankömmling hinter sich stehen. »Woher kennt ihr ihn denn?«, wunderte er sich. »Aber das ist doch Than, weißt du?«, sagte Sophia. »Woher kennt ihr ihn denn?« »Er kam plötzlich aus dem Dunkeln, als ihr weggegangen seid«, erklärte Daniela. »Gleich nach dem Donner«, setzte Sophia hinzu. »Das war ein Erdbeben«, formulierte Florian wichtig. »Sind die bösen schwarzen Männer weg?«, fragte Sophia. »Ja«, versuchte Benedikt sie zu beruhigen, aber seine Stimme klang alles andere als ruhig. »Aber was wisst ihr von Than? Habt ihr mit ihm gesprochen?«
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»Dummer Benedikt«, klang Sophia altklug, »Than spricht doch nicht unsere Sprache. Aber als weiser Zauberer aus der Vorzeit versteht er natürlich alles.« »Ja«, pflichtete Epiphania bei, lockerte dabei ihre Umarmung, ließ Benedikt aber nicht los. »Er scheint direkt zu verstehen. Ich weiß nicht, woher er kam, als er mich rettete. Aber ich glaube, ihn schickt der Himmel.« »Mir ist kalt«, jammerte Sophia. »Mir auch«, schloss sich Daniela an. Than verstand sofort. Er hob seine Fackel und bedeutete den Kindern, Epiphania und Benedikt, noch etwas weiter durch den Spalt zu gehen. Dort wurde es etwas breiter. Fest an ihre Rettung glaubend, himmelten die Kinder den Fremden an. Sie stellten sich alle so gut es ging in einen Kreis. Fassten sich Schulter an Schulter an. Die Fackel fiel in die Mitte. Die Lichtquelle zog ihre Augen magisch an. Ein Kribbeln durchzog die Gruppe. Die Fackel brannte zu ihren Füßen. Von irgendwoher schimmerte Tageslicht. »Wir sind gerettet!«, rief Sophia und löste sich aus dem Kreis. »Das gibt es doch nicht«, wunderte sich Florian. »Das muss Zauberei sein.« Ehrfürchtig blickte er den Fremden an. »Oder er ist ein Engel«, versuchte Epiphania das Erlebte zu fassen. Benedikt fixierte den Unbekannten skeptisch. In seinem naturwissenschaftlich geprägten Verstand begann es zu arbeiten. Die Kinder liefen auf dem schnellsten Weg zum Höhlenausgang. Zum Tageslicht. In die freie Natur. Das diffuse Licht des dunkler werdenden Tages hüllte den Wald durch die Blätter der Bäume hindurch in einen grünlichen Schimmer. Ein leiser Hauch von Braunrot kündete den nahenden Herbst an.
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Schwester Epiphania folgte den Kindern. Die waren schon um die Höhle herumgegangen und begannen mit dem Aufstieg zur Bergkuppe über dem Höhlensystem. Benedikt blieb bei Than. Schritt mit ihm langsam aus der Höhle. Da hielt er an. Stupste den Fremden am Arm, um ihm anzukündigen, dass er ihn ansprechen wolle. Mit ausladenden Handbewegungen formte Benedikt eine Kugel in der Luft. Wollte damit fragen, ob Than mit der Kugel in Verbindung stünde. Eigentlich sinnlos, dachte sich der Priester, denn die Enge in der Kugel hatte er mit Tristan selbst erlebt. Aber anders konnte er sich die wundersame Rettung nicht erklären. Than formte mit seinen Händen ebenfalls eine Kugel. Formte sie um seinen grauen Kopf. Sollte er mit dem keltischen Artefakt in Verbindung stehen? Sollte der urzeitlich wirkende Mensch tatsächlich ohne direkten Kontakt mit der Kugel diese aktivieren können? Benedikt selbst war ja froh, dass Tristan mit der Kugel zurechtkam. Ihm gelang nur die Unterstützung, selten die eigentliche Steuerung. Da fiel ihm das Schriftstück ein, welches sie in der unterirdischen Kammer unter dem Michelsberg fanden. Das letzte Bild. Stern über Mensch. Ohne Kugel. Sollte der auf den ersten Blick zerlumpt wirkende Mensch diese Fähigkeit haben? Wie lange gab es die Kugel schon? Kannte er die Semnotheoi? Wieso wirkte er, als passe er nicht in diese Zeit? Die Fragen schossen nur so durch Benedikts Kopf. Er wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Schon gar nicht, wie. Da gellte ein Schrei durch die Felsen. Verfing sich als Echo in der großen Vorhalle der Witzenhöhle.
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Pater Benedikt rannte sofort los. Stürmte ganz hinaus. Um die Felsen herum. Durch die Bäume. Zum Wanderweg, der sie zurückführen sollte. Und rannte dabei in die Hände Iscariots, der mit der Waffe in der Hand auf die verängstigten Kinder zeigte. Verständnisloser Blick in seinen Augen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie die Gruppe den Anschlag überlebt hatte. Doch eines wusste er. Alle Spuren der vorchristlichen Kugel mussten getilgt werden. Auch die Köpfe, die davon wussten. Und ihre zufälligen Begleiter. Egal welchen Alters. Benedikt wurde von dem Handlanger Iscariots gepackt. Zu Boden gedrückt. Mit den Knien auf seinem Rücken. Noch bevor die gewalttätigen Sektierer des Vatikans sich über einen neuen Plan klar werden konnten, geschweige denn ihn umsetzten, war der jungsteinzeitliche Jäger hinter ihnen. Unvermutet für die Bewaffneten und völlig unerwartet. Wie ein Schatten huschte er heran. »Ein Dämon der Hölle«, rief der Handlager erschrocken. Der Jäger aus der Jungsteinzeit packte den Verdutzten völlig unerwartet, drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn, den Arm als schmerzhaften Hebel benutzend, zu Boden. Die wettergegerbte Haut, seine wilde Tätowierung und sein graues Gewand waren ein unerwarteter und erschreckender Anblick für Iscariot. »Teufel der Vorzeit! Wie ist das möglich?« Im selben Augenblick lag auch er mit verdrehtem Arm auf dem Bauch. Die Waffe zwar noch in der Hand, aber diese war so sehr vom starken Griff Thans gebogen, dass der Lauf jetzt auf den Rücken des Priesters gerichtet war. Pater Benedikt nutzte die Gelegenheit und sprang auf. Iscariot achtete nicht mehr auf ihn. Seine Sinne waren nur auf den Steinzeitjäger gerichtet.
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»Lauft!«, rief Benedikt Epiphania und den Kindern zu. »Lauft! Bringt euch in Sicherheit!« Die Nonne zögerte keinen Augenblick. Nahm Sophia und Daniela an den Händen und zog sie den Waldweg bergauf. So schnell es eben auf dem steilen Trampelpfad ging. Florian sollte folgen. Tat es aber nicht. Sah fasziniert auf die Kämpfenden. »Florian!«, rief Epiphania ihm zu. »Florian, komm schnell!« Er konnte sich nicht von dem faszinierenden Anblick des Jägers losreißen, der mit Leichtigkeit die beiden Verbrecher zu Boden drückte. »Kein Teufel«, kommentierte Florian lauthals das Geschehene, »Than ist bestimmt ein magischer Zauberer.« »Aber einer von den ganz großen«, rief Daniela ihm zu. »Und dazu einer der guten«, fügte Benedikt hinzu. Mahnte dann aber: »Aber jetzt los mit euch!« Florian wollte sich nicht noch einmal rufen lassen und folgte den anderen nach. Scheinbar mühelos hielt Than mit beiden Händen die Schergen fest am Boden. Erstarrt vor Angst, ließen sie es mit sich geschehen. Keiner der beiden wagte es, auch nur einen Ton von sich zu geben. Da zog Than beide langsam hoch. Wie Puppen. In diesem Augenblick kam Benedikt eine Idee. War es seine? War es ein Gedanke Thans? Der Pater konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Aber er schien über Thans Blick einen Plan zu empfangen. Um zu signalisieren, was er verstand, umriss Benedikt mit beiden Händen eine imaginäre Kugel. Mit seinem Kopf im Zentrum. Than verstand. Benedikt spürte seine Konzentration. Er wollte die Kugel benutzen. Brauchte er überhaupt eine Kugel oder hatte er schon die geheimnisvolle dritte Phase des Reisens, wie es in dem alten Manuskript niedergelegt war, erreicht? Benedikt ahnte es. Wusste nichts. Trotzdem unterstützte er mit seinem Geist die Konzentration Thans. Glaubte intuitiv das Richtige zu tun. 444
Wohin mit den beiden Schergen der dunklen Mächte Roms? Am besten zurück in ihren Stall, dachte Benedikt lächelnd. Und es ging los. Keine enge Kugel, Keine Reise. Die Ortsveränderung fand unmittelbar statt. Benedikt, der schon viel Mysteriöses erlebt hatte, war sprachlos. Er nahm keine Zwischenzeit wahr. Keine Geschwindigkeit. Keine Bewegung. Im selben Augenblick standen sie, Benedikt konnte es nicht fassen, in der unterirdischen Bibliothek in den Katakomben Roms. Niemand war hier. Ein düsteres Notlicht brannte. Benedikt hatte mit Than den unbegreiflichsten Menschen gefunden, den er sich vorstellen konnte. Einen Mächtigen, der sich nichts aus seinen Fähigkeiten machte. Iscariot und sein Helfershelfer schwiegen. Leisteten keinen Widerstand. Benedikt war nicht einmal sicher, ob sie die Ortsveränderung überhaupt wahrgenommen hatten. Da legte er die Hand auf die Schulter Thans. Der hielt noch immer mit einem lässigen Griff die Widersacher fest. »Severino, mein Bruder in Christo«, sagte er nur. »Den kleinen lateinamerikanischen Mann?«, mischte sich Iscariot ein. »Den könnt ihr haben. An dem haben wir kein Interesse mehr.« Benedikt schwieg. Than sowieso. Die Stimme Iscariots klang jetzt höher. Ängstlicher. »Er gegen mich. Was wollt ihr denn mit mir?« »Er gegen euch beide«, konkretisierte Benedikt die Abmachung. »An euch habe ich auch kein Interesse.« Diensteifrig bot sich Iscariot sogleich an: »Ich hole ihn sofort.« »Nein!«, sagte Benedikt scharf. »Der andere soll gehen. Ihnen traue ich nicht. Auch wenn wir Brüder sind. Was ich aber nur theoretisch anzuerkennen vermag.« 445
Er bedeutete Than, den Begleiter Iscariots loszulassen. Das musste Benedikt allerdings nicht. Überrascht stellte er fest, dass der Mann aus der Jungsteinzeit jedes Wort verstand. Der Befreite strengte sich an, seinen Abgang auf dem Weg an den Regalen vorbei nicht als Flucht aussehen zu lassen. Würdevoll sollte sein Gehen erscheinen. Aber die Vorstellung, einen Dämon aus der Steinzeit hinter sich zu haben, ließ die Bewegung merkwürdig staksig erscheinen. Als er den unterirdischen Saal verlassen hatte, ließ Than Iscariot von sich aus los. Er sah keine Gefahr, dass dieser vorzeitig fliehen konnte. Jener stand auf. Rieb sich die Gelenke der Arme. Sie schmerzten. »Wer die Wahrheit ignoriert, erlebt Furcht vor der Wirklichkeit«, versuchte Benedikt den radikalen Priester in seiner Seele zu erreichen. Aber es kam nicht an. »Spotte nur«, kamen die Worte wie ausgespuckt aus seinem Mund, »wer Freiheiten, auch die der sogenannten Wissenschaft und Menschenrechte, in alle Richtungen gewährt, hat keinen Halt. Du und deinesgleichen seid die wahren Verführer der Seelen.« Es war sinnlos. Benedikt bemühte sich nicht mehr um ihn. Than blickte sich interessiert um. Er spürte die Geheimnisse dieses Archivs der versteckten Schätze. Noch mehr aber interessierten ihn die beiden Wesen, die bei ihm waren. Er blickte mit seinen hellwachen Augen in seinem runzeligen Gesicht auf sie. Er kannte aus seiner Welt keine so extremen Persönlichkeiten, die Gut und Böse verkörperten. Die Wolfsmenschen versuchten auf ihre Art zu überleben. Sein Stamm ebenfalls. Aber in den Augen Iscariots sah er das Verlangen nach Vernichtung von allem, was nicht in seine Welt passte. Während Benedikt selbst mit seinem Widersacher ins Reine zu kommen versuchte.
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Langsam streckte der Sucher seinen Arm aus. Zeigte auf Iscariot und formulierte mit tiefer Stimme ein Wort, das wohlüberlegt schien: »Dämon.« Iscariot durchfuhr Todesangst. Aber er kann doch keinen Geistlichen der Mutter Kirche verfluchen. Das ist doch nicht möglich, redete er sich selbst ein. Da kam Severin durch das Portal herein. Der Scherge hatte also Wort gehalten. Niemand folgte. Mit immer größer werdenden Augen kam Severin näher. Was er sah, glaubte er nicht. Wenn neben dem wild aussehenden Menschen kein lächelnder Benedikt stehen würde, dann wüsste er nicht, wie er reagieren sollte. Aber so ging er erwartungsvoll weiter. »Meu amigo Benedetto«, rief er in einer Mischung aus Freude und Furcht. »Es ist alles in Ordnung, mein Freund«, kam ihm Benedikt entgegen. »Es war ein Herzenswunsch unseres Kollegen hier«, damit bewegte er die Augen kurz Richtung Iscariot, »dass du bei uns sein sollst.« »Ich werde mich bei ihm bedanken«, sagte Severin. In diesem Augenblick machte sich Iscariot auf. Drückte sich vorsichtig an den beiden Freunden vorbei. Dann begann er zu laufen. Ließ die schwere Holztür hinter sich ins Schloss fallen. »Was machst du nur mit deinem alten Freund Severino.« Severin war sehr nervös wegen der neuen Situation. »Was ist geschehen?« Als erlaube ihm seine Aufgeregtheit nicht, die Antwort abzuwarten, schob er die nächste Frage gleich nach: »Was wird jetzt geschehen? Und wer ist dieser Amigo?« »Dies ist Than. Eine verwandte Seele. Ein Freund«, beruhigte Benedikt seinen Kollegen. »Komm mit uns nach Bamberg. Alles Weitere sollten wir dann dort bei einem guten Glas Wein besprechen.«
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Mit offenem Mund und aufgerissenen Augen kam der innerlich hin und her gerissene Severin näher.
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HEIMKEHR »Vor denen müssen Sie keine Angst mehr haben«, versuchte Smith Alana zu beruhigen, als sie gerade aus dem Taxi stiegen, das sie zum Domberg gebracht hatte. »Die haben jetzt, was sie wollten.« »Was ist mit Sophia?«, wollte Alana ihn anschreien, aber es kam nur ein unterdrücktes Flüstern heraus. »Sie ist frei«, sagte Smith verwundert, »aber die Nachricht hat uns doch schon im Flieger erreicht.« Ihre Emotionen herunterkämpfend, schnaufte sie schwer. »Ich traue niemandem«, sagte sie. »Warum sollte ich auch. Ihr habt mir Tristan genommen, und was Sophia betrifft, habe ich nur Ihr Wort.« Verächtlich presste sie Luft zwischen den Lippen hervor. »Und das ist nicht viel wert. Sollte es einen Grund geben, warum ich Ihnen glauben sollte?« Alana zitterte. Smith wollte wieder in das Taxi einsteigen. Stoppte aber in der Bewegung. Die Provokation Alanas nahm er demütig auf. Recht hatte sie. Wenngleich gerade das Leid dieser Frau, das er selbst mit verursacht hatte, ihn berührte. Eigentlich wollte er nicht, dass sie schlecht von ihm dachte. »Ich verstehe Sie. Verstehe ihre Gefühle«, versuchte er ihr zu vermitteln. »Aber Sie können beruhigt sein. Seit die Kugel in unseren«, hier räusperte er sich, »… in deren Händen ist, gibt es keinen Grund mehr, Sophia zu behelligen. Pater Iscariot hat sie bestimmt schon längst freigelassen.« Smith überlegte, ob er das so sicher sagen konnte. Dieser seltsame Pater war für ihn nicht berechenbar. »Ich traue ihm nicht. Ich traue ihm alles zu.« 449
»Aber warum sollte er?«, versuchte Smith sie zu beruhigen. »Es wäre sogar unvernünftig, sich mit einer Entführung zu belasten, wenn das Ziel bereits erreicht ist.« »Iscariot ist nicht vernünftig. Er ist wahnsinnig. Ich glaube, der geht auch über Leichen.« »Aber er hat sich doch telefonisch aus Rom gemeldet«, versuchte er die zitternde Frau erneut zu beruhigen. Legte die Hand auf ihre Schulter. Sie schüttelte sie ab. »Es ist alles in Ordnung, hat er gesagt. Er klang nur ziemlich durcheinander. Vielleicht hat ihn die Sache auch sehr mitgenommen.« »Er ist ein Teufel.« »Er ist ein religiöser Eiferer und Fanatiker«, korrigierte Smith. »Was ist mit Tristan?«, fragte Alana nun zum hundertsten Mal, seit sie aus St. Malo gestartet waren. »Er ist jetzt der Schlüssel, seit Iscariot die Weitergabe des Manuskripts verweigert hat. Weist er die Fachleute in die Funktionen der Kugel ein, ist alles in Ordnung.« Letzteres war eine glatte Lüge, schrie sich der sonst so besonnene Smith ins Hirn. Es tat ihm weh, Alana zu belügen. »Ich verstehe Sie nicht«, schaute Alana Smith jetzt mit traurigen Augen an. »Sie entführen uns, verschleppen uns stundenlang bis in die Bretagne und dann retten Sie mich vor den anderen. Organisieren einen Flieger. Bringen mich nach Hause. Warum?« Jetzt atmete Smith hektischer, als würde ihn etwas sehr belasten. Er wusste nicht, wie er diese Gedanken und Gefühle, die neu für ihn waren, in Worte fassen sollte. Gern hätte er es ihr gesagt. Gerade ihr, sonst vielleicht niemandem auf der Welt. Rang nach Worten. Wusste nicht, wo anfangen. Immer wieder neue Satzbruchstücke formten sich in seinem Kopf.
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»Fragen Sie bitte nicht«, war alles, was aus den zuckenden Lippen kam. »Gehen Sie nach Hause. Alles ist in Ordnung. Meine Leute haben gemeldet, dass die kleine Sophia dort ist, wo Pater Benedikt sie hingebracht hat.« »Bringen Sie mich sofort …«, begann Alana. In diesem Augenblick tönte sonor die alte Heinrichsglocke des Domes. Der durchdringende Ton vibrierte über den Domberg. Verbreitete eine ganz besondere Stimmung. Alana und Smith blickten ruckartig zum Glockenturm hinauf. Seltsam eindringlich war der Klang. Drei Schläge. Lange klang es nach. Es dauerte etwas, bis Alana sich wieder fasste. »Bringen Sie mich«, sie holte kurz Luft, »… bitte … zu Sophia.« Sie konnte die seltsame Veränderung von Smith nicht nachvollziehen. Erst eine Waffe vor das Gesicht halten und dann von Verständnis sprechen. Zu viel. Zu schnell. Sie wollte Gewissheit, was Sophia betraf. »Gut«, sagte er ihr und hielt die Tür zum Fond des Taxis auf. Setzte sich neben sie. »Muggendorf. Schnell«, rief er dem Fahrer zu. Das Fahrzeug ratterte über das alte Kopfsteinpflaster. Ein wolkenloser Himmel entschädigte für das Ende des Sommers. Immer früher konnte man teilweise grandiose Sonnenuntergänge erleben. Die Kondensstreifen der Jets hingen lange im tiefen Blau. Das Zeltlager der Pfadfinder, in dem Schwester Epiphania mit Florian und Daniela einige Ferientage verlebte, stand am Ufer der Wiesent. Einem kleinen Flüsschen, das sich durch ein wildromantisches Tal in der Fränkischen Schweiz schnitt. Alana wurde die Fahrt dorthin viel zu lang. Die Ungeduld plagte sie schon im Flugzeug. Alles war für sie nur dann in Ordnung, wenn sie ihre Lieben in die Arme schließen konnte.
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Sie war kaum mehr in der Lage zu warten. Seit Stunden nicht mehr. Erst die Sorge, dann die Ungeduld. Kurve folgt auf Kurve. Ein weiter Blick ins Tal war nicht möglich. Immer wieder wünschte sich Alana, um die Ecke schauen zu können. Wenigstens die Spitzen der Zelte zu sehen. Die langsam niedersteigenden Sonnenstrahlen leuchteten das Tal tief aus. Sofort erkannte Alana nach der nächsten Kurve die Flagge, die nur von einem Pfadfinderlager stammen konnte. Erst ein flatterndes Etwas. Dann ein rotes Kreuz auf weißem Grund. In einem Feld die Lilie. Sie waren angekommen. Kaum stand das Taxi, vergaß Alana Smith und überließ ihn sich selbst. Sie sprang aus dem Auto und rannte zum Lager, in dem schon die ersten Feuer brannten. Sie lief und lief. Durch das Tor, achtete nicht auf den Namen des Lagers. Vorbei an der Kochjurte. Und stand plötzlich mitten im Lager. »Mami!«, hörte sie und erkannte sofort die Stimme. Sophia hüpfte vom quer liegenden Baumstamm, der als Sitzgelegenheit diente. »Sophia!«, breitete Alana die Arme aus. Fing sie mitten im Sprung auf. Eine schier endlose Umarmung folgte. Alana klammerte sich an ihrer Tochter fest. Jetzt hielten sie keine Hemmungen mehr zurück. Keine Selbstdisziplin mehr. Sie weinte. Kuschelte sich immer fester an Sophias Kopf. Die Tochter schwieg dazu. Strich ihrer Mutter durchs Haar. »Mami«, sagte sie schließlich. »Warum bist du denn traurig?« »Ich bin nicht traurig«, war die Antwort. »Ich bin so glücklich, dich zu sehen.« »Dann freue dich doch«, sagte die Neunmalkluge. »Ich freue mich ja schon.« Alana zwang sich zu einem Lächeln und wischte sich dabei die Wangen trocken. Sophia hüpfte von Alanas Arm.
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»Komm, ich zeig dir was. Außerdem gibt es ja soooo viel zu erzählen«, schwärmte die Kleine. »Du hast ja soooo viel verpasst.« Während die beiden Hand in Hand zum Lagerfeuer gingen, stieg ein einsamer ehemaliger Geheimdienstmann in das Taxi und verschwand in der untergehenden Sonne. Sein Entschluss war gefasst. Sophia zog ihre Mutter zum hoch lodernden Lagerfeuer hinter sich her, denn sie konnte ihr die allerneueste Neuigkeit nicht schnell genug zeigen. Benedikt stand vom Boden auf und ging Alana entgegen, um sie freudestrahlend zu begrüßen. Alana zögerte. Irgendetwas war anders. Zu sehr war sie mit ihren Emotionen um Sophia beschäftigt, als dass sie das Naheliegende sah. »Wie siehst du denn aus?«, brach es schließlich hervor. Benedikt wollte sie eigentlich zur Begrüßung umarmen. Vor Freude, sie endlich gesund wieder zu sehen. Aber das Zögern Alanas zwang auch ihn, bewegungslos, mit ausgebreiteten Armen zu warten. Erwartungsvolles, aber auch fragendes Lächeln im Gesicht. »Wie sehe ich denn aus?«, gab er zurück. »Ja, wie ein ganz normaler Mensch?«, stieß sie staunend hervor. »Ich bin ein ganz normaler Mensch«, lächelte Benedikt über Alanas Verwunderung. »Du bist ein …«, sie stockte. Noch nie hatte Alana Benedikt ohne Kutte oder schwarzen Anzug gesehen. Jetzt schien ihr der Freund so anders. Ungewohnt. In Jeans und Rollkragenpulli stand er vor ihr. »Ich bin ein Mensch, der den Weg geht, der ihm vorbestimmt ist«, orakelte er.
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Alana zögerte noch immer. Benedikt wurden die Arme langsam schwer. »Aber …«, versuchte sie es noch einmal, doch ihr fehlten die Worte. »Nichts aber. Jetzt lass dich drücken«, lachte er. »Ich freue mich unbeschreiblich, dich zu sehen.« Da gab Alana sich doch einen Schubs und umarmte Benedikt. Ließ sich umarmen. Dabei nahm sie wahr, dass der Mann doch derselbe war wie immer. Er fühlte sich genauso an. Roch genauso. War Benedikt. Mit Sophia an der einen Hand und Benedikt an der anderen, kam Alana zum Feuer. Florian und Daniela wurden ihr vorgestellt. Sie freute sich, die neuen Freunde Sophias kennen zu lernen. Dann sah sie das tief in sich ruhende Lächeln Schwester Epiphanias. Dasselbe Feuer wie in Benedikts Augen leuchtete hier. Ein ungeheuerlicher Verdacht kam Alana. Unsicher lächelte sie. Benedikt lud sie ein, sich zu setzen. Sie suchte sich eine Stelle auf einem Baumstamm. Benedikt setzte sich neben Epiphania. Florian neben ihn. Daniela kuschelte sich neben Epiphanias Beine auf den Boden. Tiefe, liebende Verbundenheit umstrahlte sie wie eine Aura. »Alana«, begann Benedikt, »bevor du dich lange wunderst. Ich hatte heute ein langes Gespräch mit unserem Erzbischof.« Er nickte, als wolle er das eben Gesagte bestätigen. Für Benedikt war das alles, so schien es, auch nicht alltäglich und selbstverständlich. »Er war nicht erfreut. Wenn er von mir enttäuscht war, hat er es nicht gezeigt.« Benedikt blickte in die Flammen. Als müsse er sich das Gespräch bei seinem Vorgesetzten noch einmal vergegenwärtigen. »Aber er meinte schließlich: Reisende soll man nicht aufhalten. Er gehe davon aus«, da unterbrach Benedikt kurz und ergänzte: »mit Recht, natürlich«, dann zitierte er weiter, »dass die Entscheidung, mein 454
Priesteramt und mein Gelübde zurückzugeben, keine leichte war.« Tief atmete er durch. »So wie meine Seele ein halbes Leben lang nach geistlichem Streben gerufen hat, verlangt sie jetzt danach, Liebe mehr als eine Pflicht sein zu lassen. Mehr als eine philosophische Vokabel.« In den nachdenklichen Blick stahl sich ein spöttisches Lächeln hinein. »Eigentlich kann ich da nur mit Luther sprechen: Hier stehe ich nun und kann nicht anders. Es helfe mir Gott.« Jetzt riss er den Blick von den Flammen los und schaute Alana direkt an. »Tief in meiner Seele weiß ich, wenn ich meinem Herzen jetzt nicht folgen würde, würde ich einen Fehler machen. Nicht andersherum.« Alana war verwirrt, die Wandlung ihres besten Freundes in nur wenigen Minuten präsentiert zu bekommen. Doch sie verstand. Ihr Herz freute sich für ihn. »Aber Epiphania trägt noch immer ihre Ordenstracht«, stellte sie fest. »Epiphania möchte erst die Aufgabe zu Ende bringen, die sie als Schwester Epiphania begonnen hat«, sagte Benedikt. Am liebsten hätte er jetzt die Hand der Geliebten genommen und sie zart geküsst. Doch der Respekt vor dem Orden, den sie noch immer vertrat, hielt ihn davon ab. »Heute ist der letzte Abend dieses kleinen Ferienlagers. Morgen spricht sie mit ihrer Oberin. Da eine Nonne ihr Versprechen freiwillig abgibt, wiegt eine Rücknahme nicht ganz so schwer wie bei einem Priester. Aber der Schritt fällt auch ihr nicht leicht.« Dabei lächelte er Epiphania aufmunternd zu. »Aber lasst uns heute den letzten Abend unter dem wunderbaren Sternenzelt hier draußen genießen.« »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du dich um Sophia gekümmert hast«, wechselte Alana auf das Thema, welches sie eigentlich beschäftigte. »Die Sorge hat mich krank 455
gemacht. Aber ich hätte mir denken können, dass du alles im Griff hast.« Benedikt überlegte, ob er ihr jetzt schon das Geschehen in der Witzenhöhle erzählen sollte. Ob er damit warten und es vielleicht gar nicht in seiner ganzen Gefährlichkeit schildern sollte. Weil er es nicht wusste, schwieg er. Stattdessen antwortete Epiphania. »Diese Verbrecher waren hier, aber wir waren immer gut beschützt.« Benedikt freute sich über diese kleine Schützenhilfe. Es war ihm aber klar, dass er ihr die wahre Gefahr nicht auf Dauer verheimlichen konnte. Aber nicht gleich am ersten Abend ihres Treffens. Er musste es ihr sagen. »Genau, die Pfadfinder da drüben haben uns immer beschützt«, mischte sich Sophia ein. »Weißt du, wir sind in ihren Stamm aufgenommen worden.« »Du bist eine Pfadfinderin?«, freute sich Alana. »Ich bin ein Wö’«, strahlte Sophia. »Ehrenhalber.« »Ein Wö’?« Alana verstand nicht. »Na, ein Wölfling natürlich. Wir sind doch in den Stamm aufgenommen worden. Da müssen wir ja einen Rang bekommen«, erklärte Sophia, als wäre ihre Mutter wieder einmal zu langsam, sie zu verstehen. Mittlerweile war es dunkel geworden. Deshalb sah niemand den Näherkommenden, so vertieft waren sie in ihr Gespräch. Die Schritte waren schon sehr nahe. »Wie eine beinahe heilige Familie, ihr vier«, scherzte der Ankömmling. »Aber habt ihr da nicht ein paar wichtige Zwischenschritte übersprungen? Strengt euch mal ein bisschen an.«
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»Severino«, rief Benedikt, »schön, dass du es noch hierher geschafft hast«, und überging seine Bemerkung mit einem Lächeln. Nach einer kurzen herzlichen Begrüßung setzte sich Bruder Severin neben Alana ans Feuer. »Kinder«, sagte Epiphania, »wolltet ihr heute Abend nicht bei den Pfadfindern Abschied feiern?« »Ja«, jubelten Florian und Daniela wie mit einer Stimme. Sophia zögerte und schaute ihre Mutter an. »Geh schon, du Wö’!«, machte ihr Alana die Entscheidung leicht. »Singt noch ein paar schöne Lagerfeuerlieder.« Wie auf Kommando sprangen die drei auf. Rannten zum Feuer der Pfadfinder, wo der Leiter mit breitkrempigem Hut eine Geschichte über die Tugenden ihres Stammes erzählte. Alana sah den Kindern nach. »Hast du etwas von Tristan gehört?«, fragte Benedikt Severin. Die Frage kam für Alana so unvermittelt und trieb ihre zurückgedrängte Befürchtung sofort an die Oberfläche. Sie zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Severin schaute von Benedikt zu Alana und zurück. Entschuldigend hob er die Schultern. Spannte unsicher einen Mundwinkel an. »Leider nein.« »Aber irgendwelche Informationen muss es doch geben?«, fragte Benedikt ungeduldig. Alana sah ihn dabei, trotz ihrer aufgewühlten Gefühle, erstaunt an, denn Ungeduld war keine seiner Untugenden. »Pater Iscariot hat sich zurückgezogen. Es gibt Gerüchte, dass er vom Teufel faselt«, grinste Severin. »Damit meint er wahrscheinlich unseren neuen Freund.« Alana wollte nachfragen, aber der Frei erzählte weiter. 457
»Seit dem Vorfall vor der Höhle seid ihr kein Thema mehr. Soweit ich das überhaupt in Erfahrung bringen konnte, geht man davon aus, dass man mit dem Manuskript, welches man uns in der Bibliothek geraubt hat, ein Faustpfand gegen diesen Geheimdienst in Händen hält«, erzählte Severin weiter. »Die, für die Iscariot gearbeitet hat, waren entsetzt, als sie erfuhren, wie weit er gegangen ist.« »Aber mit der Entführung Tristans hat sich doch alles geändert«, warf Benedikt ein. »Ja, niemand hier ist mehr in Gefahr«, sagte Severin weiter. »Der Geheimdienst wird das Artefakt entweder nicht benutzen können, dann wird es irgendwo verschwinden und niemand wird von seiner Existenz erfahren. Oder sie werden, vielleicht mit Tristans unfreiwilliger Hilfe, die Technik erlernen, dann werden sie dies aber auch nur unter absoluter Geheimhaltung tun. Jedenfalls scheint Iscariot davon auszugehen. Sollte jemand von uns damit an die Öffentlichkeit gehen und über etwas sprechen, das es aus seiner Sicht eigentlich nicht geben darf, dann fehlt jeglicher Beweis. Man wird zum Spinner, zum Fantasten, zum Wichtigtuer gestempelt.« Es war für die Zuhörer beruhigend, dass endlich wieder Ruhe eintreten sollte. Aber alle wussten, dass Iscariot unberechenbar war. Niemand formulierte diesen Gedanken. Aber jeder dachte ihn. »Hier«, sagte Alana unvermittelt. Zog den kleinen Statuenmenhir aus ihrem Rucksack. »Damit hat alles angefangen. Ich will es nicht mehr.« Sie schluckte. »Viel haben wir nicht herausgefunden. Nur, dass es vielleicht eine Vorform aller Statuenmenhire ist und aus der Bamberger Umgebung stammt.« Alana schnaufte. »Eigentlich hochinteressant. Gerade für eine Archäologin. Aber, sei mir nicht böse, es ist mir egal. Nimm ihn bitte.« Mit diesen Worten reiche sie Benedikt die kleine Figur. 458
Benedikt nahm das Artefakt an sich. Nickte Alana zu. Nahm ihre Hand. Drückte sie. Signalisierte, dass er sie nur zu gut verstand. Für einige Minuten entstand eine Pause. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die Fahrtenlieder der Pfadfinder klangen herüber. Das Prasseln des Feuers gab den Rhythmus dazu. Schließlich ergriff Benedikt wieder das Wort. »Ich glaube nicht, dass sie es schaffen«, sagte er mysteriös. »Was denn?«, fragte Severin nach. »Die Fähigkeit entwickeln können, die Kugel zu verwenden.« »Warum?«, wunderte sich Alana, »Tristan hat es doch auch gelernt.« Benedikt lächelte Alana liebevoll an. »Tristan hatte die Kraft der Liebe und die Kraft des Geistes. Die bringen höchstens die Kraft des Geistes mit, aber nie die Kraft der Liebe.« Sie starrten in die Flammen. Überlegten, was das bedeuten würde. »Hätte das eine Auswirkung auf Tristans Leben?«, fragte Alana leise, als hätte sie Angst, es zu laut auszusprechen. »Das kann man unmöglich voraussagen«, antwortete Benedikt. Mitfühlend, denn er wusste, dass Alana dadurch nicht ruhiger würde. »Ich glaube, dass Beste wäre, die Kugel würde für immer verschwinden. Und genau das haben die Alten wohl auch gedacht, als sie sie immer wieder an neuen Orten versteckten.« »Ich verstehe nicht alles, was ihr von der mysteriösen Kugel erzählt«, sagte Epiphania, »aber wir sollten etwas für Tristan tun.« »Was können wir denn tun?«, fragte Alana verzweifelt. »Beten«, war die Antwort. Alle schwiegen. 459
»Ach, ich habe schon so viel gebetet.« Alana klang ermattet. »Dann geben wir dem Gebet noch einen sakralen Rahmen«, schlug Benedikt vor. »Ich möchte einen Gedenkgottesdienst abhalten. Nur unter uns. Für Tristan.« Alana bemühte sich zu lächeln. Es gelang nicht. »Was nützt es?« »Was schadet es«, antwortete Benedikt. »No, meu amigo«, sagte Severin, »ich werde den Gedenkgottesdienst abhalten.« Sogar Alana entwischte, wie allen anderen, ein kleines Lachen. Dass Benedikt kein Priester mehr war, ging nicht automatisch in ihre Köpfe. Nicht einmal in Benedikts eigenen.
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UMKEHR Smith verspürte eine tiefe innere Befriedigung, als er die alte Serpentinenstraße zum Kloster Leyre hinaufpilgerte. Ohne Plan. Ohne Auftrag. Nur mit dem dringenden Wunsch, etwas zu ändern. Es regnete leicht, aber das störte ihn nicht. Nie ließ er sich von solchen oder anderen Nebensächlichkeiten von einem Ziel abbringen. Schon gar nicht jetzt. Schon seit Längerem nagten Zweifel in ihm. Zweifel über die Integrität seiner Auftraggeber. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der gewählten Mittel, vor allem, wenn es Opfer gab. Nicht erst, seit er vor Kurzem erleben musste, wie sogenannte Kollegen von ihm mit Kindern umgingen. Jetzt aber musste Schluss sein. Kein Funktionieren mehr. Kein Abspulen von Befehl und Gehorsam in einem Krieg jenseits von Freiheit, Öffentlichkeit und Gesetz. Dort oben, in dem Kloster, dessen Kirche San Salvador schon zu sehen war, hatte er vor nicht allzu langer Zeit den letzten Anstoß bekommen. Von einer kleinen, arbeitsamen, demütigen, aber auch geistig wachen Hausfrau aus Deutschland. Sie hatte ihn bei dem damaligen Gespräch, es mochte für ihn gestern oder gar vor Jahren gewesen sein, mitten in seine Seele hineingetroffen. Wenn er überhaupt so etwas wie eine Seele besaß, sagte er sich verächtlich. Die schmerzenden Muskeln in seinen Oberschenkeln interessierten ihn nicht. Wichtig war für ihn, dass er die obere umlaufende Straße erreichte, die zum Klostereingang führte. Nach wenigen Schritten ging er an den Kirchentüren vorbei. Noch wollte er nicht hinein. Zuerst musste noch etwas anderes erledigt werden. Smith zog seine schwarzen, jetzt ziemlich verschmutzten Schuhe aus. Ebenso die Strümpfe. Band die Schnürsenkel 461
zusammen und warf die Schuhe wie ein Bündel über seine Schulter. Barfuß wollte er gehen. Barfuß wollte er sein. Barfuß die Umkehr beginnen. Für ihn war klar, zuerst wollte er die Quelle aufsuchen, an der er damals mit der Pfälzerin über das Leben philosophierte. Damals war es heiß. Jetzt kalt und regnerisch. Trotzdem stapfte er den Trampelpfad entlang. Schmutz an Hose und Füßen interessierte ihn nicht. Als er die Quelle erreichte, stellte er sich mitten hinein. Spürte das kalte, klare Wasser an seinen Waden. Wurde wach. Denn das wollte er – erwachen. Erwachen in ein verantwortungsbewusstes Leben. In seinem Hirn lief das Gespräch mit der lebenslustigen Petra wie ein penibel geführtes Protokoll ab. Er hatte jedes Wort behalten. Weil es so anders war, als das Vokabular, mit dem er sonst lebte. Vieles erfasste er erst nur als Wort, das wusste Smith. Die Bedeutung würde sich ihm erst hier in dem Kloster eröffnen können. Erst als Smith seine Adern durch die Kälte in seinen Füßen schmerzhaft pochen fühlte, verließ er das Wasser. Schnappte sich seine Schuhe. Jetzt begann sein neuer Pfad. Sein nächster Weg führte ihn zur Klosterkirche. Dort wollte er warten, bis sich Weiteres ergab. Er wollte sich seinem neuen Leben ergeben. Ohne Anweisungen oder Masterplan. Versunken saß Smith eine lange Zeit in der Kirche. Kein beobachtender Blick mehr in alle Richtungen. In sich versunken. Versuchte Wärme, Geruch und den Klang der Stimme von Petra wahrzunehmen. »Möchten Sie beichten?«, wurde Smith plötzlich von einem Priester angesprochen. Dankbar blickte der Angesprochene auf. Nickte. »Ich habe sehr viel zu beichten«, sagte Peter Smith und lächelte dabei zaghaft.
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KRYPTA Mehr als eine halbe Woche war schon vergangen, seit Tristan in St. Malo auf das Schiff gezerrt wurde. Alana litt Höllenqualen. Sophia trauerte mit ihrer Mutter. Er hatte ihr versprochen, einen Schulranzen zu kaufen. Bald war der erste Schultag. Aber das eigensinnige Mädchen weigerte sich, von den Großeltern oder jemand anderem einen kaufen zu lassen. Sie wollte ihn von Tristan. Den sie vermisste. An dem Schulranzen machte sie ihre Trauer fest. Heute würde diese Trauer, die tief schmerzte, in einem Gedenkgottesdienst in eine sakrale Form gegossen. Als würde sie dadurch amtlich besiegelt und bestätigt. Als würde die Hoffnung dadurch etwas weiter wegrücken. Langsam ging Alana mit ihrer Tochter, Hand in Hand, den kurzen Weg von ihrer Wohnung zum Domberg hinauf. Sie hätte jeden, der den dunkelblauen Popeline-Mantel als Trauerkleidung bezeichnet hätte, Lügen gestraft. Dennoch konnte sie sich selbst keine Hoffnung mehr geben. Es war Sophia, die voranschritt. Alana ließ sich ziehen. Eigentlich wollte sie nicht zum Dom. Nicht in die Krypta. Nicht zum Gedenkgottesdienst. Wer ihn Trauergottesdienst genannt hätte, wäre Alanas Wut begegnet. Sie wollte ihre Hoffnung nicht aufgeben. Auch, wenn sie keine Worte mehr fand, diese zu formulieren. Am Diözesan-Museum vorbei, kamen sie dem Eingang des Domes immer näher. Immer näher der Tatsache, dass es einen Grund zum Gedenken gab. Alana fröstelte. Der Herbst war über Nacht hereingebrochen. Es war kalt. Aber nicht nur außen. Auch im Inneren fror Alana.
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Die Stufen hinauf zum Portal. Dort warteten Benedikt und Epiphania. Der Anblick einer ganz normalen Frau, ohne Ordenstracht, an Benedikts Seite, lenkte Alana für einige Sekunden ab. In diesen Sekunden erkannte sie erstmals die rassige Schönheit der Brasilianerin. Auch wenn diese unter einem weiten Regenüberwurf verdeckt war. Aber als das schwere hölzerne Tor des Domes hinter ihnen wieder ins Schloss fiel, überkam sie wieder der Gedanke, warum sie heute hier war. Schlagartig. Wie ein Räuber. Der Weg zu den Stufen, die hinunter in die Krypta führten, war schwer für Alana. Vorbei am Sarkophag des Kaiserpaars, das einst den Dom erbauen ließ. Hinunter zu dem Ort, an dem Smith Benedikt und Tristan gezwungen hatte, in den Brunnen zu steigen. Der dann in sich zusammengebrochen war, woraufhin Alana schreckliche Stunden der Ungewissheit erlebte. Schnell huschten die Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei. Die Schritte an dem Brunnen vorüber fielen ihr besonders schwer. Wie magisch zog es ihren Blick in das schwarze Rund. Mittlerweile war er, zumindest soweit sie sehen konnte, im oberen Bereich repariert und wieder mit einem stabilen Abdeckgitter versehen, wirkte aber nicht weniger bedrohlich für sie. Das damals durch die Feuerblase vernichtete Holzdächchen wurde nicht mehr aufgebaut. Endlich hatte sie diese Stelle passiert. Zu intensiv war die Erinnerung, als dass sie mit Gleichgültigkeit hier hätte vorbeigehen können. Schon gar nicht an einem Tag wie diesem. In der zweiten Reihe vor dem Altar nahmen sie Platz. Benedikt und Florian rechts vom Gang. Epiphania, Alana, Sophia und Daniela links. Auf einen Organisten oder Ministranten wurde absichtlich verzichtet. Man wollte unter sich sein. Als Epiphania und Sophia Alana in die Mitte nehmen wollten, sie mit eingehakten Armen stützen wollten, lehnte sie ab. Nein, 464
sie wollte direkt am Mittelgang sitzen. Jederzeit die Möglichkeit haben, aufzuspringen und davonzulaufen. Weg aus der Krypta. Dieser Gruft. Dem Ort, der jetzt zum zweiten Mal seine Grabstätte werden sollte, auch wenn er diesmal nicht anwesend war. Frei Severino begann mit liturgischem Gesang. Alana rollten die Tränen über die Wangen. Sie zog die neben sich sitzende Sophia näher an sich heran. Starrte aber nach vorne. Zum Kreuz. Dann wurde aus Tristans Leben erzählt. Sein Werdegang, sein Streben, seine Wünsche, der Tod seiner Frau, die neue Liebe mit Alana. Auch sein Kampf gegen das Böse. Gegen die Mächte, die ihn aus Eigennutz und Machtstreben verfolgt und bedrängt hatten. Severin bat um die Errettung des immer noch nicht Zurückgekehrten. Um die Rückkehr zu seinen Freunden, seiner geliebten Alana und Sophia, die er wie eine Tochter liebte. Wieder setzte ein liturgischer Sprechgesang ein. Ein nebulös aufblitzendes Licht neben Alana. Plötzlich. Wie aus heiterem Himmel im Halbdunkel der Krypta. Severin stockte. Sah auf diese Stelle. Sah nichts. Alle starrten ihn an. Warum schwieg er? Verwirrt folgte Alana einem plötzlichen, inneren Impuls. Sah nach rechts. Da stand im selben Augenblick … Tristan. Tropfnass. Nur mit seiner Hose bekleidet. Zitternd. Schlotternd. Mit halb geschlossenen Augen seine Liebe ansehend. Alana sprang mit einem Schrei auf. Umarmte ihn. Den beinahe tot Geglaubten. Küsste ihn über und über. Strich ihm das nasse Haar aus dem Gesicht. Während ihr Schrei langsam in den alten Mauern verhallte, lösten sich auch die anderen aus ihrer Erstarrung, die das 465
überraschende Erscheinen ausgelöst hatte. Umarmten ihn. Umarmten beide. Tristan klapperten die Zähne. Seine Haut war blau vor Kälte. Frei Severino drehte sich weinend zum Kreuz. Kniete nieder und betete still für sich, für alle. Benedikt riss sich den Pullover vom Körper. Half Tristan beim Überziehen. Alana nahm ihren Regenmantel, legte ihn über den Bibbernden. Severino segnete schweigend seine kleine Gemeinde der Freude. Tausend Fragen wollten gestellt werden. Aber alle blieben sie unbeantwortet. Tristan war derart unterkühlt, dass er nicht sprechen konnte. Jeder Versuch endete in Stottern und unartikulierten Lauten. Es war klar, dass Tristan sofort in die nahe gelegene Wohnung von Alana gebracht werden musste. Benedikt half Alana dabei. Die Kinder sollten so lange bei Epiphania bleiben. Rechts und links gestützt, machte sich Tristan auf den Weg. Severino schnitt der Gruppe aber kurzerhand den Weg ab. Hielt seine Strümpfe und Schuhe in der Hand. Kniete, mit feuchten Flecken in den Augenwinkeln, vor Tristan nieder und zog ihm die Sachen über. Sophia sah den dreien mit einem Lächeln hinterher, das sie nicht unterdrücken konnte. Dann fing sie an zu tanzen und zu singen. Auf einem Bein hüpfend drehte sie sich um sich selbst: »Tristan ist der Beste. Tristan ist der Stärkste. Wenn er etwas macht, dann ist’s sogleich vollbracht.« Wandte sich dann den anderen zu und rief: »Mein Tristan ist der weltbeste aller obermagischen Zauberer!« Mit einem herzlichen Lachen stimmten die Kinder in Sophias Freudentaumel mit ein. 466
Der Außenlautsprecher des Cafés in der Villa Remeis über den Dächern von Bamberg brachte gerade Nachrichten: »Die Bundesregierung verkündete, dass man heute beschlossen habe, die Gesundheitsreform auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren, da ein Konsens zwischen den Interessensgruppen derzeit nicht möglich sei. Um die Bürger vor den Folgen dieser Uneinigkeit zu schützen, soll der unstrittige Teil, es handelt sich um eine gemeinsame Initiative zur Stärkung der Vorsorge, noch vor der Weihnachtspause auf den Weg gebracht werden. Eine entsprechende Broschüre soll bei einem Expertengremium demnächst in Auftrag gegeben werden. Das Wetter: Der wunderbare Sommer neigt sich auch in Bamberg dem Ende entgegen. Nach den Schauern heute Morgen ist es nachmittags wieder warm und schön. Unser Vorschlag: Nützen Sie im Radio-Bamberg-Land heute noch die Möglichkeit, mit der Familie zu grillen, mit Freunden ›auf den Keller‹ zu gehen oder bei einem gemütlichen Kaffee und selbst gebackenem Kuchen im Garten der Villa Remeis den letzten sonnigen Tag zu genießen. Kommende Nacht ist es zuerst sternenklar. Gelegentlich können Sternschnuppen beobachtet werden. Im späteren Verlauf ziehen Wolken auf und es beginnt zu regnen. Bei uns gibt es, egal ob heute oder morgen, sonnige Musik.« Die Regenwolken waren verschwunden. Noch einmal gewann die Sonne die Oberhand über die dunklen Wolken. Der Herbst stand unweigerlich vor der Tür. Aber noch einmal sollte es ein warmer Spätsommertag werden. Die Blätter an den alten Kastanien der Villa Remeis zeigten den ersten roten Schimmer. Einige Unentwegte saßen dort und genossen die Sonnenstrahlen. Eingehüllt in Jacken und Pullover. »Ich will ein Eis«, rief Florian.
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»Brrr«, kam von Benedikt, »da wird mir ja schon kalt, wenn ich nur daran denke.« »Und mir erst«, scherzte Tristan und freute sich auf einen heißen Tee. Der Verlorene und so plötzlich Zurückgekehrte hatte sich in den letzten Stunden prächtig erholt. Eine lauwarme Dusche, eine liebevolle Massage von Alana, ein paar Stunden Schlaf ließen die Auswirkungen der Minuten im kalten, winddurchtosten Atlantik, die wie Stunden erschienen, nicht mehr ganz so schlimm wirken. Rechtzeitig erwachte Tristan aus seiner Bewusstlosigkeit, bevor ihn seine Kleidung, vollgesogen mit Salzwasser, in die Tiefe ziehen konnte. Wie lange er im tosenden Meer um sein Leben kämpfte, bevor ihm bewusst wurde, dass die etwa siebentausend Meter Entfernung zur Kugel unter ihm keine wirkliche Entfernung waren, wusste er nicht mehr. Eigentlich wusste Tristan gar nichts mehr. Einzig der Gedanke an Alana und seine Liebe zu ihr erfüllten ihn in diesem Augenblick. Als er bereit war zu sterben. »Kommt, Kinder!«, forderte Epiphania die Schleckermäuler auf. »Gehen wir hinein zur Kuchentheke und suchen ein paar schöne Stücke aus. Nach so viel karger Lagerkost habt ihr euch das verdient.« Kaum war dies ausgesprochen, liefen die Kleinen los. Die Brasilianerin, die ihre Ordenstracht und ihr Gelübde zurückgegeben hatte, trug seit langem wieder einmal eine Hose. Es war ungewohnt für sie, die seit Jahren nur ihre Tracht als Kleidung besaß. »Käsesahne, nein, besser einen Mohnkuchen. Oder ein Bamberger Hörnla«, war noch zu hören. »Das mit dieser mysteriösen Kugel habe ich noch nicht begriffen«, begann Frei Severino das Gespräch, »erklärt mir das noch mal.« 468
Er war der Einzige in der Runde, der einen Habit trug. Der Anblick Benedikts »in Zivil« war für die Augen der Freunde noch immer nicht selbstverständlich geworden. Dieser winkte ab. »Wir können froh sein, dass das Ding als unrettbar verschollen gilt. Damit dürfte keiner mehr Interesse daran haben«, sagte er. »Aber wir«, überlegte Alana, »wissen doch davon. Sind wir keine Gefahr für manche, mit unserem Wissen?« »Ich glaube nicht«, sagte Benedikt. »Kein Artefakt, kein Beweis. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Spinner. So einfach ist das.« »Gut für uns«, fasste Severino zusammen. »Aber es funktioniert doch, oder?« »Tja, es gibt da nur ein Problem«, meldete sich Tristan, schmiegte sich dabei an Alana, »ich für meinen Teil will nicht mehr.« Dann nach einer kurzen, nachdenklichen Pause: »Erzählen Sie mir lieber etwas von dem geheimnisvollen Than. Sollte er wirklich ein Mann aus der Steinzeit gewesen sein?«, fragte Tristan neugierig. »Genauer gesagt, aus der Übergangszeit der Mittleren zur Jungsteinzeit«, antwortete Benedikt. »Ja, es gibt da noch etwas zu erzählen. Ich bin noch einmal allein in die Witzenhöhle gegangen. Er schien mich bemerkt zu haben und war plötzlich da. Auch er ist ein Sucher. Wie wir ja alle suchen.« »Was sucht er denn?«, fragte Tristan nach. »Die Wahrheit natürlich«, erzählte Benedikt weiter. »Aber erst einmal seinen Lehrmeister. Sem.« »Sem?«, fragte Tristan. »Hat das was mit den Semnotheoi zu tun?« »Ja«, antwortete Benedikt kurz und überraschend. »Scheinbar war Sem jahrelang ein Lehrer seines Stammes. Nahm Einfluss
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auf seine Entwicklung. Technologisch, kulturell und wissenschaftlich.« »Also doch«, sagte Tristan. »Wie wir vermutet haben. Aber wie kommt er hierher?« »Der Sucher scheint auch spirituell von ihm viel gelernt zu haben«, sagte Benedikt. »Aber, Moment mal«, klang Tristan kritisch. »Zeitreisen durch Spiritualität. Da haben wir schon mit der Kugel etwas Überfantastisches und Unglaubwürdiges. Aber Zeitreisen? Das glaube ich nicht.« Tristan schüttelte Kopf. Wie sehr freute er sich auf den Semesterbeginn. Dann begann für ihn wieder die handfeste und verständliche Welt der Steine. Fest und klar. »Es ist keine Zeitreise«, sagte Benedikt. »Ich weiß nicht genau, ob ich alles verstanden habe. Es war kein Gespräch mit Worten. Es war ein Gespräch mit gegenseitigen Gedanken und gegenseitigem Verstehen. Eigentlich haben wir nur dagesessen und geschwiegen.« Benedikt überlegte, wie er seinen Freunden das Unverständliche verständlich machen konnte. »Seine Spiritualität hat etwas mit dem Augenblick zu tun«, versuchte Benedikt zu erklären. Er suchte nach Worten und Vergleichen. »Ich habe einmal eine psychologische Abhandlung gelesen, derzufolge für den durchschnittlichen Menschen ein Augenblick drei Sekunden dauert. Drei Sekunden lang ist man gewöhnlich in der Lage, alles auf einen Blick wahrzunehmen. Erlebt darin eine Gleichzeitigkeit. Man lebt quasi in DreiSekunden-Rhythmen. Von Augenblick zu Augenblick. Von Wahrnehmungseinheit zu Wahrnehmungseinheit.« »Was hat das mit dem Sucher aus der Höhle zu tun?«, fragte Tristan ungeduldig, dem psychologisierende Erklärungen immer zu schwammig waren. »Was ist nun, wenn jemand diese drei Sekunden durch Konzentration, Meditation, Kontemplation, wie immer man es
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auch nennen mag, ausdehnen kann. Ausdehnen auf Minuten, Stunden, Tage, Jahre oder vielleicht auch Jahrtausende?« Alles schwieg. Hing an den Lippen, mit denen diese Unvorstellbarkeit formuliert wurde. »Ich weiß nicht, was dann ist«, sagte Severino wie geistesabwesend. »Dann war da noch etwas, was ich auch nicht ganz verstanden habe«, sprach Benedikt weiter. »Ich zeigte ihm unseren kleinen Statuenmenhir. Er nahm ihn und Tränen rannen seine Wangen herab.« Er wartete ab, ob seine Zuhörer irgendeine Reaktion zeigten. Aber außer Anzeichen gespannten Zuhörens, war nichts zu vernehmen. »Zur Antwort gab er mir einen weißen Kieselstein, den er immer mit sich herumträgt. Das Ganze muss ihn sehr bewegt haben.« Verwundert, dass niemand etwas dazu sagte, setzte Benedikt noch einmal nach: »Könnt ihr euch das nicht vorstellen?« Langsam schüttelte Severin den Kopf. »Was war dann?«, fragte Tristan nach. »Er gab mir wieder die Statue und ich ihm den Kiesel.« »Das war’s?« Tristan war erstaunt. »Das war’s«, bestätigte Benedikt. Bruder Severin starrte nur vor sich hin. Benedikt konnte nicht erkennen, ob er seinen kleinen Bericht verstanden hatte. »Ich will zurück zu meinen Steinen.« Tristan quälte sich förmlich dabei, dieser Erklärung zu folgen. »Das sagt mir also ein ehemaliger Priester, der keiner mehr ist«, versuchte er zu provozieren. »Viele sind nicht das, was sie zu sein scheinen«, antwortete Benedikt leise, wobei ein Lächeln seine Lippen umspielte. »Jesus war ein Jude. Luther ein Katholik …« »Mit denen vergleichen Sie sich?« »… und ich bin ein Mensch.« 471
Da meldete sich Alana zu Wort. Da sie das Gehörte, dieses »Große«, erst einmal verdauen wollte, hatte sie beschlossen, das Thema zu wechseln. »So viel zum scheinbar Wirklichen oder zum nur wirklich Scheinenden. Was wird aus dir, Benedikt? Was willst du tun?« Besorgnis um seine berufliche Zukunft klang in ihrer Stimme mit. »Du meinst, weil ich so dumm war, mir beim Einzigen, was ich gelernt habe, ein Berufsverbot einzuhandeln?« Alana lächelte. Benedikt machte sich Schlechter als er war. Eigentlich mochte sie nie auf solche Anspielungen reagieren. Jetzt tat sie es trotzdem. »Du bist für viele Aufgaben schlicht und einfach der Beste.« »Haha, danke vielmals. Aber das stimmt so mit Sicherheit nicht.« Benedikt freute sich sehr über ihre Einschätzung seiner Fähigkeiten. Er erzählte mit leiser werdender Stimme weiter. »Bei einem der hiesigen Kirche angegliederten Verband sehr initiativer katholischer Frauen werde ich ein Projekt starten«, begann Benedikt zu berichten. »Klingt ja interessant«, freute sich Alana. »Um was geht es denn?« »Es ist eine Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Das Projekt umfasst erst einmal Hausaufgabenhilfe und Freizeitarbeit. Geht aber dann noch viel weiter. Es sollen sinnvolle Ziele im Leben der Jungen und Mädchen gefunden werden. Persönliche, schulische und berufliche. Ich möchte ein Netzwerk zu Firmen und Universitäten aufbauen. Die Jugendlichen sollen Möglichkeiten bekommen, gerade im Bereich der Wissenschaft. Anreize durch Praktika bekommen. In den Osterferien vielleicht fotografieren mit Père Jaque, wer immer sich für Fotografie oder auch die Menhire auf Korsika interessiert. Bei Ausgrabungen im Chiemgau mitarbeiten oder einfach mit Tristan und seinen Studenten eine Exkursion zum Steineklopfen mitmachen. Oder 472
vielleicht Theater spielen, Sterne auf dem Feuerstein beobachten und viel, viel Sport treiben.« Benedikt begeisterte sich beim Beschreiben seiner neuen Aufgabe. »Einfach den Kosmos der Möglichkeiten im Leben den Kindern und Jugendlichen nahe bringen. Sie dafür begeistern, wie groß und fantastisch die Schöpfung ist. Nicht mehr und nicht weniger.« Zufrieden mit sich verschränkte er die Arme vor der Brust, um zu zeigen, dass er sich auf sein neues Leben sehr freute. »Und was ist mit Christus?«, fragte Tristan. Er wollte Benedikt, wie so oft, wieder einmal herausfordern. Der aber lächelte nur wissend. »Meine Haltung zu ihm hat sich nie geändert. Zu keinem Zeitpunkt.« In diesem Augenblick kam die Bedienung und servierte heiße Getränke. Die Kinder stürmten aus dem Haus hinterher und überschlugen sich fast bei der Beschreibung der leckeren Kuchen, die sie gesehen hatten und am liebsten alle ausgesucht hätten. »Sophia, meine Liebe«, sagte Tristan. Sie war noch ganz außer Atem. »Vergiss nicht, wir beide haben heute noch einen Termin beim Schulranzenverkäufer.« Während die Sonne sich langsam gen Westen verabschiedete, erzählten vor allem die Kinderstimmen von Pfadfindergruß und Höhlentouren, von Lagerfeuern und Liedern. Tristan und Alana waren froh, dass ihr Abenteuer kein Thema mehr war. Willkommen zurück im Alltags dachte Tristan.
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BIBLIOTHEK »Wie konnten Sie es nur zulassen, dass dieser Wahnsinnige sein Exil im Kloster Leyre verlässt?« Der fettwanstige Kirchenobere hasste es, wenn seine Pläne aus dem Ruder liefen. Er war es gewohnt, dass seine Befehle ausgeführt wurden. Ohne Wenn und Aber. Wenn es sein musste mit seiner Truppe, die keine Angst hatte, auch hart durchzugreifen. Dass nach der letzten Aktion sein Kommandotrupp zerschlagen wurde, störte ihn nicht besonders. Wenn Gras über die Sache gewachsen war, konnte er schnell neu formiert werden. Macht ließ sich für ihn im Vatikan nur sehr dezent ausüben. Nichts scheute der Monsignore mehr, als mit seinen dunklen Plänen ins Rampenlicht zu geraten, wenn er bei seinen Vorgesetzten Rede und Antwort stehen musste. »Iscariot hat in eigener Regie gehandelt. Ohne Anweisung. Ich kann nichts dafür«, verteidigte sich der Angesprochene. »Haben Sie denn gar nichts unter Kontrolle?«, donnerte der Erste wieder. »Wenn es an der Zeit gewesen wäre, hätte ich ihn schon wieder reaktiviert. Aber so?« Verächtlich spuckte er aus. »So muss ich Erklärungen abgeben. Unbequeme Fragen beantworten.« »Er hat nur im Sinne der Integrität der Kirche gehandelt …« »Was in diesem Sinne ist, bestimme ich, verdammt noch mal«, fuhr er ihm über den Mund. »Er soll sogar Kinder mit hineingezogen haben …« »Das tut mir auch sehr leid, aber …« »Ist mir egal! Der Zweck heiligt die Mittel! Aber wie sieht der aus?« »Der Zweck war die heidnische Kugel«, versuchte der Zweite sich zu rechtfertigen. 474
»Mmmh«, klang es nachdenklich. »Die ist aber jetzt endlich vernichtet.« »Mmmh«, brummte der Kirchenobere weiter. »Was ist mit diesem deutschen Priester?« »Der hat hingeschmissen. Zieht mit einer ehemaligen Nonne rum.« »Gut. Das lässt sich doch im päpstlichen Untersuchungsausschuss gut verwerten«, rieb er sich die Hände. »Was soll ich jetzt mit Pater Iscariot machen?«, fragte der Zweite. »Ich will ihn in meiner Nähe haben. So ein begabtes Genie darf nicht irgendwo ungenutzt abgestellt werden. Da gibt es doch die Sache mit der unterirdischen Bibliothek. Er soll sie jetzt machen«, befahl der Kirchenobere. »Aber er ist kein Historiker. Nicht einmal Wissenschaftler«, gab der Zweite zu bedenken. »Er weiß aber, wie man einen Schlüssel herumdreht.« »Ja?«, wunderte sich der Angesprochene. »Dann soll er das tun.«
Infos zum dritten Teil unter: www.fragmente-literatur.de
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