Der Hexer mit der Flammenpeitsche von Jason Dark
»Darf ich den Verstorbenen noch einmal sehen?« erkundigte sich die ju...
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Der Hexer mit der Flammenpeitsche von Jason Dark
»Darf ich den Verstorbenen noch einmal sehen?« erkundigte sich die junge Frau in der Trauerkleidung. Der Friedhofsangestellte nickte. »Aber selbstverständlich, Madam. Kommen Sie, der Sarg ist noch nicht geschlossen worden.« Die junge Frau lächelte dankbar. Hinter dem Leichenhallenwächter betrat sie einen dunklen Raum. Eine Leuchtstoffröhre an der Decke spendete kaltes, grelles Licht. Der Mann hob den Sargdeckel an. »Bitte, Madam.« Die Frau trat näher. Im nächsten Augenblick packte sie das kalte Entsetzen. Die Leiche hatte keinen Kopf mehr!
Ein, zwei Herzschläge lang starrte die Frau unbeweglich auf die grausam zugerichtete Leiche. Dann verzerrte sich ihr Gesicht zu einer Grimasse des Schreckens. Ihr Mund öffnete sich, und noch im selben Atemzug gellte ein markerschütternder Entsetzensschrei auf, der sich schaurig an den kahlen, grün getünchten Wänden brach. Dann – und es geschah wie in Zeitlupe – kippte die Frau nach hinten. Steif wie ein Brett fiel sie zu Boden. Ihr Schrei verstummte. Der Friedhofsangestellte hörte den harten Aufprall des Körpers, und dieses Geräusch schien ihn aus seiner Starre zu befreien. Er begann plötzlich zu zittern. Wie im Schüttelfrost schlugen die Zähne aufeinander. Laut, klappernd. Dann drehte sich der Mann plötzlich auf dem Absatz um, war mit zwei langen Schritten an der Tür, riß sie auf und hetzte schreiend und zitternd über den gefliesten Flur. Er lief den anderen Trauergästen in die Arme. Auch sie hatten den Schrei gehört. Die meisten waren beunruhigt. Ein Mann mit einem dunklen Hut packte schließlich zu und rüttelte den Friedhofsangestellten an beiden Schultern. »Was ist denn passiert, zum Teufel?« Der Friedhofsangestellte konnte vor Entsetzen keinen Ton hervorbringen. Er war schon älter, dazu dünn wie eine Bohnenstange und ziemlich klein. Er hatte einen gekrümmten Rücken, so daß er immer etwas gebückt ging. Der graue Kittel umflatterte seine magere Gestalt wie eine Fahne den Mast. »So reden Sie doch endlich!« Der Friedhofsangestellte nickte. »Die – die Leiche«, ächzte er. »Sie, sie …« Er sprach nicht mehr weiter, denn inzwischen hatten sich sämtliche Trauergäste um ihn versammelt. Eine junge, blonde Frau fiel besonders auf. Sie stach wegen ihrer modischen Trauerkleidung deutlich von den anderen Leuten ab. Auch unter dem Kostüm konnte jeder erkennen, daß sie eine atemberaubende Figur hatte. Das Haar fiel wie reifer Weizen bis auf die Schultern, und der Kopf wurde von
einer dunklen kleinen Kappe bedeckt. Der Mann, der den Friedhofsangestellten gepackt hielt, verlor die Geduld. »Wenn Sie jetzt nicht sagen, was passiert ist, dann …« Die gutaussehende Frau schob den Mann kurzerhand zur Seite. »Darf ich mal?« sagte sie. Ihre Stimme klang nicht laut. Es schwang jedoch ein Unterton darin mit, der den Mann zusammenzucken ließ. »Bitte sehr, Miss.« Die blonde Frau lächelte. »Danke.« Sie faßte den Friedhofsangestellten unter, der an der Wand lehnte und dessen Gesicht die Farbe eines Leichentuchs hatte. Blaß, käsig. Die Blonde entnahm ihrer Handtasche ein kleines Fläschchen. Geschickt schraubte sie den Verschluß auf. Die rot lackierten Fingernägel wirkten wie in Blut getaucht. »Trinken Sie«, sagte die Frau und hielt dem geschockten Mann die Flasche hin. Dankbar nahm dieser einen Schluck. Der Whisky rann über seine Lippen, brachte Farbe zurück in das Gesicht. Er setzte die Flasche ab. Seine mageren Finger umklammerten das Gefäß. Die Frau mußte ihm die Flasche aus der Hand winden. »So, und jetzt sagen Sie mir bitte, was geschehen ist.« Der Mann schluckte. »Ja … Jemand wollte den Verstorbenen noch einmal sehen. Ich hatte nichts dagegen. Der Sargdeckel war noch nicht verschraubt. Ich hob ihn zur Seite – und …« »Was und?« Der Mann senkte den Blick. »Die Leiche – sie hatte keinen Kopf mehr. Jemand hat ihn abgeschnitten!« »Nein!« Eine ältere Frau erlitt einen hysterischen Anfall, als sie die Worte hörte. Schreiend faßte sie sich an den Kopf, schüttelte ihn wild. Auch die anderen Trauergäste waren durch die Worte des Friedhofsangestellten geschockt worden. Niemand dachte daran, der
Schreienden zu helfen. Die Blonde handelte. Sie sprang vor und schlug der Frau zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schrei verstummte. Die Gesichtszüge der Frau versteiften zur Maske. Die Blondine führte die Frau zu einem Stuhl. »Bitte, setzen Sie sich.« Dann ging sie wieder zu dem Friedhofswächter. »Wo steht der Sarg?« erkundigte sie sich. »Ich – ich gehe nicht mehr dahin.« »Das brauchen Sie auch nicht.« Der Mann streckte den Arm aus. »Den Gang hier hoch. Dann die dritte Tür rechts.« »Danke.« Die Blondine ging los. Verfolgt von den Blicken der Trauergäste. Die Menschen bewunderten die Frau. Sie hätten nie den Mut aufgebracht, so etwas zu tun. Aber niemand wußte, daß diese blonde Frau einen besonderen Beruf hatte. Sie war Detektivin. Mit vollem Namen hieß sie Jane Collins, stammte aus London, wo sie auch ihr Büro hatte, und Kollegen behaupteten, sie wäre die hübscheste Detektivin Englands, was gar nicht mal übertrieben war. Jane Collins konnte sich wirklich sehen lassen. An dieser Beerdigung nahm sie teil, weil der Verblichene ein entfernter Verwandter von ihr gewesen war, der ihr vor Jahren mal einen großen Gefallen getan hatte. Damals war sie noch Studentin gewesen und hatte sich in Geldschwierigkeiten befunden. Da hatte ihr der Onkel einen Scheck geschickt. Jane Collins hatte die Tür der kleinen Kammer erreicht. Sie stand halb offen. Ihr Herz begann hart zu klopfen, als sie den kleinen Raum betrat, obwohl sie auf den Anblick gefaßt war, hatte sie doch
das Gefühl, der Magen würde ihr in die Kehle steigen. Der Anblick war schrecklich, so grauenhaft, daß sich Janes Gehirn weigerte, die Einzelheiten aufzunehmen. Die Detektivin schloß die Augen. Als sie sie wiederöffnete, wandte sie den Blick der Frau zu, die ohnmächtig auf dem Boden lag. Die Frau hatte eine Platzwunde am Hinterkopf. Geronnenes Blut klebte in den Haaren. Jane Collins hob die Frau behutsam an. Dann schleifte sie sie aus dem kleinen Raum und schloß die Tür. Als die Detektivin auf den Gang trat, liefen drei männliche Trauergäste auf sie zu, die sich dann um die Bewußtlose kümmerten. Inzwischen schien sich herumgesprochen zu haben, was geschehen war. Immer mehr Menschen hatten sich angesammelt. Auch vom Friedhofspersonal waren einige Männer erschienen. Und Jane entdeckte den Pfarrer, der die Trauerfeier zelebrieren sollte. Der Geistliche trat mit raschen Schritten auf Jane zu. »Miss …«, sagte er. »Collins, mein Name ist Collins«, stellte sich Jane vor. Der Pfarrer nickte. Er war schon älter, und das weiße Haar bedeckte seinen Kopf wie einen Kranz. »Stimmt es, daß dieser Verstorbene …« »Ja.« Jane Collins nickte. »Man hat der Leiche den Kopf abgetrennt.« Der Pfarrer wankte einen Schritt zurück. »Schrecklich«, flüsterte er. Instinktiv umklammerte er mit seiner rechten Hand die Kehle. »Wer kann so etwas nur tun?« Jane hob die Schultern. »Ich weiß es auch nicht. Aber das herauszufinden, ist Sache der Polizei. Wir müssen die Mordkommission in Sheffield anrufen. Tut mir leid, aber die Beerdigung wird wohl nicht stattfinden können.« Der Pfarrer senkte den Kopf. »Ja«, sagte er leise. »Das habe ich mir auch schon gedacht.« Er wischte sich über die Stirn.
»Entschuldigen Sie, Miss Collins.« Der Geistliche wandte sich um und ging. Jane suchte ein Telefon. Ein Apparat stand in dem kleinen Büro der Friedhofsverwaltung. Von dort rief die Detektivin die Mordkommission an.
* Chef der Mordkommission war Chiefinspector Sherman. Er war ein ruhiger Typ, der wenig sagte, viel zuhörte, aber dann die richtigen Fragen stellte. Sherman war Pfeifenraucher, hatte ein rosiges Gesicht und zwanzig Pfund Übergewicht, was ihn allerdings nicht störte. Zwanzig Jahre lang versah er seinen Job schon, doch als man ihn mit dem Toten konfrontierte, stieg ihm die Galle hoch. So etwas hatte er in seiner Laufbahn noch nie erlebt. Seinem jungen Assistenten wurde es schlecht, und er mußte sich übergeben. Sherman führte die ersten Verhöre durch. Nacheinander verhörte er die Trauergäste, doch niemand konnte ihm auf seine Fragen konkrete Antworten geben. Keiner hatte den oder die Täter gesehen, der ganze Fall blieb ein Rätsel. Auch der Friedhofswärter konnte kaum etwas aussagen. Der Mann hieß Victor Lanning und stand noch immer unter Schock. »Also, Mr. Lanning«, sagte der Chiefinspektor. »Wer alles besitzt einen Schlüssel zu dem Raum, in dem die Leichen vor der Beerdigung aufbewahrt werden?« »Den habe ich, Sir.« »Sonst niemand?« »Wieso?« Sherman schüttelte den Kopf. »Überall gibt es einen Zweitschlüssel. Wenn Sie den richtigen mal verlieren, was geschieht dann?«
»Ein Zweitschlüssel befindet sich noch im Rathaus.« Sherman räusperte sich. »Na, das sind vielleicht Aussichten.« Lanning hob die Schultern. »Sie müssen verstehen, Sir. Wir sind hier nur ein kleiner Ort. Knapp dreihundert Einwohner. Und hier ist die Zeit eben etwas stehengeblieben.« »Für Mörder aber wohl nicht«, erwiderte der Chiefinspektor bissig. »Fassen wir also noch einmal zusammen. Sie können sich also nicht erklären, wie der Mörder in den Raum eindringen konnte.« »Nein.« Sherman wandte sich an seinen Assistenten, der mit käsigem Gesicht in der Ecke saß. »Haben Sie alles mitgeschrieben, Tanner?« »Ja.« »Was sagt denn der Arzt? Er hat die Leiche doch untersucht. Von Tod eingetreten kann ja hier nicht die Rede sein. Um welche Zeit könnte man der Leiche wohl den Kopf abgeschnitten haben?« »Das kann der Doc nicht feststellen, Sir.« »Mist, verdammter. Sind denn alle Zeugen gefragt worden?« »Bis auf eine.« »Und wer ist das?« »Diese Detektivin, die die Ohnmächtige aus dem Raum geholt hat.« »Ach so, ja. Holen Sie die Frau her, Tanner. Und Sie, Mr. Lanning, können jetzt gehen.« »Danke, Sir.« Der Friedhofsangestellte stand auf, nickte den Männern zu und verschwand. Chiefinspektor Sherman zündete sich seine Pfeife wieder an. »Das wird ein Fall«, sagte er kopfschüttelnd und stieß dicke, blaugraue Qualmwolken gegen die Decke. »Ich glaube, Tanner, daran können wir uns die Zähne ausbeißen. Ich habe ja schon viel erlebt – aber so etwas. Sind das überhaupt noch Menschen, Tanner?« »Ich weiß nicht, Sir.« Tanner war ein schmaler Typ mit dunkler Hornbrille und langem braunen Haar, das die Ohren bedeckte. Er
stand jetzt auf und trat ans Fenster. »Wenn man so die Fachzeitschriften studiert, Sir, da …« »Ach, hören Sie mir doch mit Ihren Zeitschriften auf.« Tanner blieb jedoch hartnäckig. »Werfen Sie das nicht so weit weg, Sir. In der vergangenen Woche noch habe ich einen Bericht über Sekten und Teufelsanbeter gelesen. Diese Leute haben schreckliche Riten. Sie machen vor nichts halt. In dem Bericht stand auch, daß jemand eine Leiche gestohlen hat und sie durch finstere Beschwörung wieder zum Leben erwecken wollte.« »Das ist doch Unsinn.« »Natürlich, Sir. Aber die Dinge sind nun einmal nicht wegzuleugnen.« »Gut, Tanner. Bleiben Sie bei Ihren Zeitschriften, ich halte mich lieber an die Tatsachen und werde mal mit dieser Jane Collins reden. Bitten Sie die Lady doch herein.« Wenig später betrat Jane Collins das Zimmer. Der Chiefinspektor bot ihr einen Platz an, und sein Assistent Tanner mußte stehenbleiben. »Darf ich rauchen?« fragte Jane. »Aber bitte.« Tanner gab der Detektivin Feuer, was diese mit einem freundlichen Lächeln quittierte, so daß der junge Tanner rote Ohren kriegte. »Wir haben uns ja vorhin schon kurz kennengelernt«, sagte Sherman, »und ich habe mit Erstaunen registriert, daß Sie Detektivin sind. Eine Frage vorweg. Waren Sie beruflich hier?« »Nein.« »Bleibt nur noch privat übrig«, sagte Sherman mit einem angedeuteten Lächeln. Er sprach aber dann nicht weiter, sondern wartete auf eine Erklärung, die Jane ihm auch nicht länger vorenthalten wollte. »Der Verstorbene war ein entfernter Verwandter von mir. Ein Onkel zweiten Grades. Er hat mir einmal während meines Studiums kräftig unter die Arme gegriffen, und er galt sogar als relativ vermö-
gend.« Sherman nickte. »Das habe ich auch gehört. Ihr Onkel hieß Graham Sounders. Hatte er weitere Verwandte?« »Soviel ich weiß, war da noch ein Neffe«, erwiderte Jane. »Der aber nicht zur Trauerfeier erschienen ist«, bemerkte Chiefinspektor Sherman. »Gibt es einen Grund dafür?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Sherman lächelte hintergründig. »Gab es denn nicht irgendwelche Gerüchte?« Jetzt lächelte Jane auch. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und meinte: »Sie sind ein schlauer Fuchs, Sir. Aber über Gerüchte und Anschuldigungen rede ich nicht gerne.« »Es bleibt ja unter uns.« Sherman schielte Jane Collins über seine Pfeife hinweg an. »Okay, weil Sie es sind, Chiefinspektor. Man sagt, Neffe und Onkel hätten sich gehaßt. Phil Sounders ist seinem Onkel, wo er konnte, aus dem Weg gegangen. Die Leute hier im Dorf erzählten, daß er ihn seit Jahren nicht mehr besucht habe.« »Weiß denn jemand, wo dieser Neffe wohnt?« fragte Sherman. »Nein.« Sherman lehnte sich zurück. »Sie sind doch eine Frau, Miss Collins. Und man sagt den Frauen ja nach, sie seien gefühlsbetonter als wir Männer und sie gäben viel auf die Intuition. Sagen Sie mir eins, Miss Collins, glauben Sie, daß Haß noch über den Tod hinweg reicht?« »Möglich.« »Aber auch in dieser extremen Form, wie wir sie heute erlebt haben?« »Ja.« »Dann sind Sie schlauer als ich und können sich mit meinem Assistenten zusammentun. Er ist eifriger Fachzeitschriftenleser und hat vor allen Dingen die Zunahme der Sekten und Teufelsanbetertätig-
keit mit großem Interesse verfolgt. Er sieht den Mordfall in diese Richtung laufen.« »Womit er gar nicht mal unrecht hätte.« »Sie glauben auch daran?« Sherman war wirklich erstaunt. »Ich glaube nicht nur daran, sondern ich habe selbst schon mit finsteren Mächten zu tun gehabt. Sie kennen Oberinspektor Sinclair von Scotland-Yard?« Sherman winkte ab. »Ach – diesen komischen …« »Moment, Sir«, mischte sich plötzlich der junge Tanner ein. »Ich bin ein großer Bewunderer des Geisterjägers und habe schon oft gesagt, daß seine Erfolge …« »Ja, ja, schon gut.« Sherman zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. »Darf ich auch mal etwas dazu sagen?« fragte Jane. »Bitte sehr.« Jane blickte den Chiefinspektor an. »Ich bin mit Oberinspektor Sinclair befreundet, und wir haben bereits zusammen gegen finstere Mächte gekämpft. Es gibt sie, Chiefinspektor. Dämonen und Geister existieren tatsächlich. Meist machen sie sich Menschen zu willenlosen Werkzeugen, und es ist durchaus möglich, daß wir das Motiv dieses schrecklichen Ereignisses in einer Welt suchen müssen, die mit dem Verstand kaum zu begreifen ist.« Chiefinspektor Sherman schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Also, das ist mir zu hoch. Ich halte mich da lieber an Tatsachen.« Jane lächelte. »Manchmal könnten auch einem altgedienten Praktiker etwas Phantasie und Intuition nicht schaden.« Sherman war leicht pikiert. »Wollen Sie mich belehren, Miss Collins?« »Nein, um Himmels willen. Aber ich wollte Ihnen klarmachen, daß ich versuchen werde, diesen Fall aufzuklären. Das bin ich meinem Verwandten schuldig.«
Sherman riß ein Zündholz an und hielt die Flamme gegen den Pfeifenkopf. Der Tabak fing an zu glühen. »Wollen Sie hier allein weiterforschen? Ich habe im Prinzip nichts gegen Privatdetektive, aber wenn sie sich so direkt in die Polizeiarbeit einmischen, dann sehe ich mich gezwungen …« Jane ließ den Beamten nicht ausreden. »Keine Angst, Chiefinspektor. Ich werde heute noch Oberinspektor Sinclair anrufen. Gegen eine Einmischung von Scotland-Yard werden Sie ja nichts haben.« Sherman schwieg. Aber Jane sah ihm an, wie sehr ihn ihre Worte gewurmt hatten. Im Gegensatz zu Tanner, dem Assistenten. Er freute sich sichtlich, daß sein Vorbild John Sinclair diesen Fall übernehmen sollte. Tanner konnte sich nicht verkneifen, das mit Worten auch zum Ausdruck zu bringen. »Ich halte es für eine gute Idee«, sagte er. Chiefinspektor Sherman wandte den Kopf. »Ob die Idee wirklich gut ist, wird sich wohl erst in einigen Tagen herausstellen. Ich jedenfalls glaube nicht an diesen Zirkus.« Jane Collins hatte keine Lust mehr, sich auf lange Diskussionen einzulassen. Sie erhob sich und fragte: »Brauchen Sie mich noch, Sir?« »Nein, im Moment nicht. Aber wo kann ich Sie erreichen?« »Ich habe mir im Gasthaus ein Zimmer genommen. Es liegt direkt neben dem Bürgermeisteramt.« »Okay.« Jane nickte den beiden Männern noch einmal zu und verließ den Raum. Chiefinspektor Sherman stöhnte auf. »Die hat uns gerade noch gefehlt«, sagte er. »Und wenn mich nicht alles täuscht, gibt das noch schweren Ärger.« Dieser Meinung war sein Assistent Tanner allerdings nicht.
*
Der Schnee lag wie eine dicke Schicht aus Zuckerwatte über dem Land. Seit Tagen schon gab es auf der englischen Insel einen Kälterekord. Das Thermometer war in tiefste Minusregionen gefallen, und die Menschen froren um die Wette. Glatteis und Schnee machten das Autofahren zu einem Risikospiel. Nur die Skifahrer und die Kinder freuten sich über die herrliche weiße Pracht. Jane Collins war wieder in ihren Pelzmantel geschlüpft. Das schwere Fell bot ihr einigermaßen Schutz vor der beißenden Kälte draußen. Die Detektivin stieß die Tür der Leichenhalle auf. Es war windig geworden, und kleine Schneekristalle flogen wie blitzende Punkte auf Jane zu und setzten sich in dem Flausch ihrer weißen Mütze fest. Jane versank mit ihren halbhohen Stiefeln bis zu den Knöcheln im Schnee, als sie über einen schmalen Weg dem Ausgang entgegenschritt. Von einem Friedhof war nicht mehr viel zu erkennen. Der Schnee hatte Gräber und Steine mit einer zweiten weißen Haut bedeckt. Die Kreuze wirkten unter der Last des Schnees wie große Dreiecke. Raben zogen über der Winterlandschaft krächzend ihre Kreise. Nur mit Mühe hatte der Totengräber in dem hartgefrorenen Boden ein Grab ausheben können. Jane ging daran vorbei. Die Öffnung war mit Bohlen bedeckt. Auf dem Holz glänzte eine hauchdünne Eisschicht. Der Friedhof lag am Anfang des kleinen Dorfes. Es hieß Saxton und lag zwanzig Meilen von Sheffield entfernt in einer hügeligen waldreichen Gegend. Vor dem Tor parkten zwei Limousinen. Es waren die Wagen der Mordkommission. Eis hatte die Scheiben verkrustet. Einige Jugendliche hatten sich am Tor versammelt. Sie trauten sich wohl nicht, auf den Friedhof zu gehen, sondern sahen über die klei-
ne Mauer hinweg auf die Leichenhalle. Es hatte sich schnell herumgesprochen, was geschehen war. Als die Jugendlichen Jane sahen, senkten sie ihre Blicke. Stumm ließen sie die Detektivin an sich vorbeigehen. Unter Janes Schritten knirschte der Schnee, als sie auf ihren Wagen zuging. Es war ein roter Spitfire. Jane schloß den Wagen auf – die Türschlösser waren zum Glück nicht vereist – und setzte sich hinter das Lenkrad. Die Zündung reagierte erst beim zweiten Startversuch, der Auspuff begann zu knattern, und dann rollte der Spitfire. Es war ein Tanz auf dem Eisparkett. Hier war nicht gestreut worden, und die Straße eignete sich besser zum Schlittschuhlaufen. Die ersten Häuser tauchten auf. Die schrägen Dächer schienen unter der Last des Schnees zu stöhnen. Die Eingänge zu den zumeist zweistöckigen Häusern waren freigeschaufelt worden. Wie dunkle Schneisen wirkten die Wege in der hellen Schneepracht. Die fahle kalte Wintersonne sank bereits dem Horizont entgegen. Die Luft war schwer und eisig kalt. Sie drückte dem Boden entgegen. Nebel stieg von den Feldern hoch. Die grauweißen Schleier legten sich wie Arme um die schneebedeckten Sträucher und Bäume. Zwei Kinder zogen ihre Schlitten quer über die Straße. Jane mußte bremsen. Die Reifen rutschten auf dem glatten Eis. Jane lenkte gegen. Dann fuhr sie vorsichtig weiter. Aus zahlreichen Schornsteinen stiegen Rauchwolken in den Winterhimmel, Es waren graue, kerzengerade Fahnen, die von dem tiefhängenden Himmel verschluckt wurden. Der Gasthof, in dem Jane Collins abgestiegen war, lag in der Mitte des Ortes. Direkt neben dem Haus des Bürgermeisters. Jane konnte vor dem Haus parken. Bullige Wärme empfing sie in dem großen Gastraum. Jane zog ihren Mantel aus und setzte sich an einen der klobigen Eichentische.
Bei dem glatzköpfigen Wirt mit der roten Knollennase bestellte sie einen Rum. »Sofort, Madam«, sagte der Mann und verschwand in der Küche. Jane Collins war der einzige Gast in der großen Wirtsstube. Die Decke wurde von schweren Balken gestützt. Sie waren rauchgeschwärzt. In einer Ecke stand ein Kanonenofen mit einem langen Rohr, das dicht unter der Decke in die Wand mündete. Die Platte des Ofens glühte. Es war still. Jane hörte den Wirt in der Küche mit seiner Frau sprechen, und sie konnte Fetzen der Unterhaltung verstehen. »… ja … sie besorgt«, sagte die Frau eben. »… gut … hängen hoffentlich … Ruhe.« Dann schwiegen beide. Jane runzelte die Stirn. Das Wirtsehepaar schien sich vor irgend etwas zu fürchten, denn genauso klangen ihre Stimmen. Jane, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, beschloß, den Wirt zu fragen. Der Wirt brachte den Rum. Die heiße Flüssigkeit dampfte im Glas und verströmte einen angenehmen Geruch. »Bitte, Madam.« »Danke sehr.« Jane nahm Glas und Untertasse dem Wirt aus der Hand, als sie sah, wie sehr dessen Finger zitterten. Die Detektivin rührte mit dem Löffel um. Zuvor hatte sie sich Zucker genommen. Der Wirt war am Nebentisch stehengeblieben. Mit einem Tuch putzte er über die sowieso schon blanke Platte, und Jane Collins hatte das Gefühl, daß der Mann nur eine Möglichkeit suchte, um mit ihr ein Gespräch anzufangen. Schließlich faßte er sich ein Herz. »Entschuldigen Sie, Madam, aber Sie waren doch auch bei der Beerdigung.« Jane lächelte. »Sie meinen bei der, die nicht stattgefunden hat.«
»Ja.« Der Wirt stand jetzt an ihrem Tisch. Jane deutete auf einen freien Stuhl. »Wollen Sie sich nicht hinsetzen?« »Danke. Wenn Sie erlauben.« Der Wirt nahm Platz. Er drehte nervös an seinen Fingern, und als Janes Blick ihn streifte, verzogen sich seine Lippen zu einem sparsamen Lächeln. Jane Collins nahm einen Schluck von dem heißen Rum. Sie hatte das Gefühl, als würde das Getränk die Eiskristalle in ihrem Körper zum Schmelzen bringen. »Ja, es war schrecklich«, nahm Jane den Faden wieder auf. »Sicher kannten Sie den alten Sounders.« Der Wirt nickte. »Sehr gut sogar. Wir beide haben manche Stunde verplaudert.« »Worüber haben Sie denn gesprochen?« fragte Jane. Der Wirt hob beide Arme und ließ sie danach auf die Schenkel fallen. »Über Gott und die Welt. Er war an und für sich bei uns ein beliebter Mann. Wenn Weihnachten vor der Tür stand, dann hat er immer die Kinder aus dem Dorf beschenkt.« »Um so schwieriger, ein Motiv für den schrecklichen Vorgang zu finden«, sagte Jane. Der Wirt nickte. »Da haben Sie recht. Wir wissen ja mittlerweile alle, was geschehen ist, und niemand kann sich denken, was für einen Grund dieser Kerl gehabt hat.« »Es soll da noch einen Neffen geben«, meinte Jane. »Ach, Phil Sounders.« Der Wirt verzog das Gesicht. »Sie mögen ihn wohl nicht, wie?« »Nein, niemand mag ihn. Er wohnt auch nicht hier.« »Er hat aber seinen Onkel schon öfter besucht.« »Das stimmt. Sogar noch vor zwei Tagen.« »Was?« Jane sah den Wirt überrascht an. »Ja, es war kurz nach Neujahr. Völlig überraschend ist er aufge-
taucht. Sein Onkel saß gerade an dem Tisch, wo wir jetzt sitzen, Miss Collins. Er stand plötzlich hier im Wirtshaus. Der Alte ist dann sofort aufgestanden und mit ihm weggegangen.« »Wohin wissen Sie nicht?« »Doch. In sein Haus.« »Wann ist Phil Sounders denn wieder gefahren?« »Noch am selben Abend. Die beiden müssen Streit gehabt haben. Nachbarn haben die Auseinandersetzung gehört. Und seitdem haben wir nichts mehr von Phil Sounders gesehen. Aber wieso fragen Sie? Haben Sie ihn vielleicht in Verdacht?« Jane Collins schwieg. Der Wirt stand auf. »Naja, ist auch nicht mein Bier. Aber eine Frage noch, Miss Collins. Wann wollen Sie wieder abreisen?« »Ich weiß es noch nicht.« »Heißt das, Sie werden länger bleiben?« »Kann sein. Ich werde nachher noch einen Bekannten in London anrufen, damit er herkommt. Ich glaube, dieser Fall wird noch sehr interessant.« Der Wirt kniff die Augen zusammen. »Sind Sie etwa von der Zeitung, Miss Collins?« »Nein, nein, keine Angst. Ich bin Detektivin.« »Sie als Frau?« »Warum nicht?« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch noch nicht gehört.« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick betrat seine Frau von der Küche her die Gaststube. Unter beiden Armen trug sie große Stauden, und sogleich breitete sich der Geruch von Knoblauch im Raum aus. Der Wirt ging auf seine Frau zu, die Jane mit einem knappen Kopfnicken begrüßte. »Laß das, Wilma, ich häng die Dinger schon auf.« Der Wirt kletterte auf den Tisch und begann, die Knoblauchstau-
den an den Deckenbalken zu befestigen. Seine Frau und Jane Collins sahen ihm dabei zu. »Finden Sie den Knoblauchgeruch eigentlich so angenehm?« konnte sich Jane Collins nicht verkneifen zu fragen. Die Frau des Wirts reagierte als erste. »Wüßte nicht, was Sie das angeht«, sagte sie spitz. Der Wirt unterbrach seine Arbeit. »Sei doch nicht so unhöflich, Wilma!« »Stimmt doch, weshalb will sie das wissen? Sie soll sich um ihren eigenen Mist kümmern!« »Jetzt wirst du aber unverschämt!« Jane lächelte. »Lassen Sie mal. Ich kann ja verstehen, daß Ihre Frau Angst vor Vampiren hat.« Dem Wirtsehepaar blieb vor Überraschung die Münder offenstehen. »Wie – wie meinen Sie das?« fragte der Mann. »Ganz einfach.« Jane stand auf und zeigte auf die von der Decke hängenden Knollen. »Knoblauch schreckt Vampire ab. Schon vor Hunderten von Jahren haben die Menschen das gewußt, und diese Überlieferung erlebt in der heutigen Zeit eine Wiedergeburt. Sie brauchen mir nichts vorzumachen, ich kenne mich da aus. Sind hier in letzter Zeit Vampire aufgetaucht?« Die Wirtsleute blickten sich an. »Sag du es, Tom«, meinte die Frau. Sie hatte jetzt den Blick gesenkt, und in ihrem schmalen, verlebt wirkenden Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben. Die Finger hatte sie in die grobe Kittelschürze verkrallt. »Ja«, meinte der Wirt nach einer Weile. »Es ist hier ein Vampir aufgetaucht. Ich selbst habe ihn nicht gesehen, aber ein Freund von mir ist drüben im Forst angefallen worden und hat sich nur mit letzter Kraft retten können. Er ist in die Kirche gelaufen.« Jane Collins war ernst geworden. »Hat ihr Freund den Vampir er-
kannt?« »Nein.« »Und Sie wissen auch nicht, wo er herkommt?« Jetzt zögerte der Wirt mit der Antwort. Schließlich sprang seine Frau ein. »Wir haben einen Verdacht«, meinte sie. »Welchen?« »Es gibt hier in der Nähe eine Schule. Sie ist in einem ehemaligen Herrensitz untergebracht. Sie nennt sich MYSTERY SCHOOL, und soviel wir wissen, beschäftigt man sich dort mit recht seltsamen Vorgängen. Es heißt, man könne dort Verbindung mit den Toten aufnehmen. Die Schüler kommen für sechs Wochen dahin, nachdem sie zuvor über Inserate angeworben worden sind.« »Das ist ja interessant«, sagte Jane nachdenklich. »Besuchen die Schüler auch Ihr Dorf?« »Manchmal.« Die Frau reichte ihrem Ehemann die nächste Knoblauchstaude. »Wir haben natürlich den Verdacht, daß dieser Vampir dort von der Schule gekommen ist.« »Ja, das liegt nahe.« Jane trank ihr Glas leer. Dann hörte sie von draußen plötzlich Stimmen, und wenig später betraten drei junge Männer die Gaststätte. Jane Collins sah, wie sich die Augen der Wirtsfrau weiteten. Auch ihr Mann starrte ungläubig auf den mittleren der Männer. Dann sprang er vom Tisch und sagte mit spröder Stimme: »Guten Tag, Mr. Sounders!«
* Die Worte hatten die Wirkung einer Bombe. Stocksteif saß Jane auf ihrem Stuhl und betrachtete die drei Männer, die die Reißverschlüsse ihrer gefütterten Parkajacken aufzogen und langsam zum Tresen gingen. Dabei streiften sie die von der Decke hängenden Knoblauchstauden mit ihren Blicken, und die Detektivin meinte, einen abweh-
renden Zug auf ihren Gesichtern zu lesen. Die drei setzten sich aber doch an einen Tisch. Jane beobachtete Phil Sounders, der den Arm hob und dem Wirt zurief: »Drei Whisky, Tom, aber Beeilung!« Der Wirt eilte zum Tresen. »Sofort.« Phil Sounders grinste, während die anderen beiden Männer mit unbewegten Gesichtern auf die Tischplatte starrten. Sounders sah aus wie ein Playboy. Sein Haar war schwarz wie die Nacht, die Augen in den tiefliegenden Höhlen dunkel und geheimnisvoll. Er hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, auf dessen Wangen bläulich schimmernde Bartschatten wuchsen. Der Wirt brachte den Whisky. Sounders hielt den Mann am Arm fest, als er sich wieder entfernen wollte. »Hat man sich nicht gewundert, daß ich nicht zur Beerdigung des Alten gekommen bin?« »Ich weiß es nicht.« »Ach, hau ab, du Panscher!« sagte Phil Sounders und ließ den Wirt los. Dann leerte er mit einem Zug sein Glas. Die anderen beiden Männer taten es ihm nach. Phil Sounders lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und drehte dabei seinen Oberkörper so, daß er Jane Collins anblicken konnte. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Wen haben wir denn da Hübsches«, sagte er mit seidenweicher Stimme. »Gehören Sie auch zu der weitläufigen Verwandtschaft des alten Graham?« »Ja.« Janes Stimme klang unbeteiligt. Sounders stand auf. »Dann bist du vielleicht sogar meine kleine Cousine«, sagte er, breitete die Arme aus und trat auf Jane zu. »Laß dich an meine Brust drücken, Cousinchen. Das Wiedersehen wollen wir gebührend feiern.« »Fassen Sie mich nicht an«, sagte Jane Collins.
»Ho, warum so prüde?« Phil Sounders blieb stehen und grinste. Er bewegte den Kopf in Richtung der beiden Wirtsleute. »Da glotzt ihr blöde, was?« Seine rechte Hand fuhr über Jane Collins Haar. »Lassen Sie das«, sagte die Detektivin gefährlich leise. Wer sie kannte, wußte, daß Jane dicht vor einer Explosion stand. Nun, Phil Sounders kannte Jane Collins nicht. Im Gegenteil, er sah in ihr eine leichte Beute. Seine Hand rutschte an Janes Kopf entlang, berührte die Schulter, tastete weiter … Da packte die Detektivin zu. Wie eine Stahlklaue war ihr Griff, der das Handgelenk des Kerls umklammerte. Ein kurzer Ruck, und Phil Sounders machte eine unfreiwillige Verbeugung. Dann trat ihm Jane mit dem Fuß in die Kniekehlen. Phil Sounders legte sich lang. Dabei riß er noch einen Stuhl mit um. »Reicht das?« fragte Jane Collins scharf. »Ja, zum Teufel!« keuchte Phil Sounders. Ächzend stand er auf, wobei er sich mit einer Hand auf der Tischkante abstützte. Er blieb gebückt stehen, funkelte Jane nur haßerfüllt an. Dann zischte er so leise, daß nur Jane es verstehen konnte: »Du kommst hier nicht mehr lebend weg, Puppe!«
* Die blonde Detektivin mit den blauen Augen gab keine Antwort. Sie ließ Phil Sounders auch zu seinen beiden Kumpanen gehen. Mit einer wütenden Bewegung warf Sounders einige Geldstücke auf den Tisch und verließ mit seinen Begleitern ohne einen Gruß das Lokal. Hart fiel die Tür hinter ihnen zu.
»Mein Gott«, flüsterte die Wirtin und faßte sich an die Brust. »Ich hatte gedacht, jetzt ist es aus.« Jane Collins lächelte spröde. »Solche Typen können mir keine Angst einflößen. Aber etwas anderes. Ich möchte mal telefonieren. Wo kann ich das?« »Hinten in der Küche«, sagte die Wirtin. »Warten Sie, ich führe sie hin.« Die Küche war ziemlich geräumig. An der Wand stand ein großer eiserner Herd und darüber ein Regal mit schweren gußeisernen Pfannen darauf. Das Telefon stand auf einer Anrichte. »Es wird aber ein Ferngespräch«, sagte Jane. Die Wirtin winkte ab. »Nicht tragisch. Wir haben zwar keinen Zähler, aber den ungefähren Tarif können Sie mir ja sagen.« Dann verließ sie die Küche. Jane Collins wählte eine Nummer in London. Die von Scotland-Yard. Es war schon achtzehn Uhr, und John Sinclair, der Geisterjäger, hatte zwar schon seit einer Stunde offiziell Feierabend, aber Jane wußte aus Erfahrung, daß der Oberinspektor auch nach dem Dienst oft noch im Büro anzutreffen war. So war es auch heute. »Sinclair«, sagte eine frische Männerstimme. »Hallo, John.« Die Detektivin brauchte gar nichts weiter zu sagen. Der Oberinspektor hatte sie schon nach den ersten beiden Worten erkannt. »He, Goldstück«, rief er. »Beerdigung vorbei?« John Sinclair wußte, daß Jane Collins heute an der Beerdigung ihres Verwandten teilnehmen wollte. »Von wegen vorbei. Sie hat gar nicht stattgefunden.« »Erzähle.« Augenblicklich klang John Sinclairs Stimme ernst. Er wußte, daß Jane Collins nicht aus lauter Spaß anrief. Und Jane berichtete. John hörte geduldig zu und fragte dann, als
Jane fertig war: »Wann soll ich bei dir sein?« »So schnell wie möglich.« »Du kennst die Straßenverhältnisse.« »Zur Genüge.« »Nun gut, sagen wir, ich bin morgen vormittag bei dir. Okay?« »Einverstanden.« »Und noch etwas, Jane.« »Ja?« »Laß dich auf nichts ein. Ich habe das Gefühl, du bist da in einen Fall hineingestolpert, dessen Tragweite wir noch gar nicht übersehen können.« Jane Collins lachte. »Keine Angst. Unkraut vergeht nicht. Tschau, John.« Dann legte sie auf. Die Wirtin betrat wieder die Küche. »Hat’s geklappt?« »Ja.« »Das freut mich. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Collins?« Jane nickte. »Sagen Sie mir doch, bitte, wo Graham Sounders gewohnt hat.« Die Wirtin erschrak. »Sie wollen doch nicht …?« »Doch«, erwiderte Jane Collins, »ich will mir das Haus einmal ansehen …« Es war noch kälter geworden. Die Luft schien regelrecht zu Eis erstarrt zu sein. Längst war die Sonne untergegangen. Der Himmel war zwar klar, verschwamm aber trotzdem über dem Dunst- und Nebelschleier. Dunkel war es nicht, denn der Schnee reflektierte das Licht der Sterne. Kein Mensch befand sich auf der Straße. In dieser klirrenden Kälte hatten sich sämtliche Einwohner in ihre wärmenden, schützenden Häuser zurückgezogen. Die eisige Luft biß in Jane Collins’ Gesichtshaut. Die Detektivin hatte den Kragen ihres Pelzmantels zwar hochgestellt, doch ein Teil
ihres Gesichtes blieb ungeschützt. Sie ging durch das schweigende Dorf und hielt sich dabei dicht an den Häuserfronten. Der hartgefrorene Schnee brach und knirschte unter den Schuhen. Es war das einzige Geräusch, das Jane begleitete. Dicke Eisblumen zierten die kleinen Fenster. Manche waren zu seltsam grotesken Gebilden verlaufen. Hinter vielen Scheiben brannte Licht. Einmal sah Jane zwei Kindergesichter, die sich dicht an das Fenster gepreßt hatten. Große Augen verfolgten die Detektivin, bis sie von der Dunkelheit verschluckt wurde. Jane Collins blieb stehen. Still war es. Die Detektivin hatte angenommen, Phil Sounders würde sich mit seinen beiden Freunden in dem Haus aufhalten, aber dies schien nicht der Fall zu sein. Hinter keinem der Fenster sah Jane Licht brennen. Sie entdeckte auch keine Fußspuren im Schnee. Doch das hatte nicht viel zu sagen, denn der Schnee war an der Oberfläche verkrustet und harschig. Mit etwas steif wirkenden Schritten ging Jane Collins auf das Haus zu. Zu beiden Seiten des Weges bogen sich die Büsche des Vorgartens unter einer Eisschicht. Irgendwo knackte ein Ast. Jane schrak zusammen und schalt sich noch in derselben Sekunde eine Närrin, daß sie so ängstlich reagierte. Dann stand sie vor dem Haus. Eine Treppe führte zur Tür hoch. Knöchelhoch lag der Schnee auf den Stufen. Jane zückte ihre kleine Taschenlampe. Der Strahl tanzte über den Schnee, dessen Oberfläche blitzte, als wäre sie mit Hunderten von Diamantsplittern bedeckt. Jane leuchtete die Tür an. Sie sah ziemlich stabil aus und hatte einen messingfarbenen Kugelgriff. Über der Tür befand sich ein kleines Vordach, an dessen Rändern lange Eiszapfen hingen. Sie sahen aus wie zu dick geratene Finger. Jane ging vorsichtig über die Treppe. Auch hier entdeckte sie keine
Fußspuren. Sie drehte am Knauf der Tür und registrierte erstaunt, daß sie sich öffnen ließ. Die Detektivin trat in einen stockdunklen Flur. Die Leere und Kälte eines nicht bewohnten Hauses schlugen ihr entgegen. Jane Collins schloß die Tür wieder hinter sich. Das Haus fiel aus dem üblichen Rahmen des Dorfes. Es war größer, und die Decken waren auch wesentlich höher als in den übrigen Häusern. Jane betrat eines der Zimmer. Es war schon ein kleiner Tanzsaal. Eine weitere Tür führte vom Zimmer aus in den Nebenraum. Diese Feststellung machte Jane Collins im gesamten Erdgeschoß. Sämtliche fünf Räume waren miteinander durch Türen verbunden. Die Einrichtung des Hauses war alt, aber kostbar. Sicherlich würde sich mancher Antiquitätenhändler für das Mobiliar interessieren. Jane durchsuchte auch das Obergeschoß, doch irgendeinen Hinweis auf die Mitwirkung des Neffen an Graham Sounders Tod konnte sie nicht entdecken. Sie stand schon im Flur, als sie das Geräusch hörte. Es hatte sich angehört wie das Schlagen einer Tür. Jane Collins lauschte. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Die Detektivin atmete tief ein. Sollte sie dem Keller einen Besuch abstatten? Einen Augenblick lang zögerte sie, doch dann gab sie sich einen Ruck und schlich den Flur weiter entlang auf die Kellertür zu. Sie stand einen Spaltbreit offen. Jane vergrößerte den Durchschlupf, löschte die Lampe und tastete sich mit ihrem rechten Fuß vor. Unter der Stiefelsohle spürte sie die Kante einer Stufe. Janes rechte Hand fuhr an der Wand entlang und ertastete den Lauf eines eisernen Geländers. Die Kälte des Metalls drang sogar durch ihre Handschuhe. Stufe für Stufe stieg Jane Collins in die für sie unbekannte Tiefe
des Kellers. Dann hatte sie das Ende der Treppe erreicht. Rauher, unebener Stein bedeckte den Boden. Plötzlich sah Jane einen Lichtschimmer. Es war nur ein schmaler Streifen, der unter einer Tür hindurchschimmerte. Jane setzte sich in Bewegung. Sie ging so lautlos wie möglich und hielt sogar den Atem an. Die rechte Hand hatte sie in die Manteltasche gesteckt, und ihre Finger umklammerten den Griff der kleinen Astra-Pistole vom Kaliber 22. Die Waffe war zwar klein, aber perfekt in ihrer Ausführung und wurde gern von Frauen getragen. Vor der Tür, unter der der Lichtschein herschimmerte, blieb die Detektivin stehen. Sie legte ihr Ohr an das rauhe Holz. Stimmen! Flüsternd, wispernd. Dann ein Stöhnen. »Blut! Bluuut …«, ächzte jemand, und danach gab es ein pfeifendes, saugendes Geräusch. Jane Collins lief eine Gänsehaut über den Rücken. Hart preßte sie die Lippen aufeinander. Sie bekam es ein wenig mit der Angst zu tun, doch ihre Neugierde war letzten Endes stärker. Jane Collins wollte wissen, was hinter dieser Tür vor sich ging. Vielleicht befand sich sogar ein Mensch in Lebensgefahr, und sie hätte es sich nie im Leben verziehen, nicht eingegriffen zu haben. Janes Hand suchte die Klinke. Dann drückte sie sie vorsichtig nach unten. Es geschah fast lautlos. Jane hielt die Luft an, und dann konnte sie die Tür aufdrücken. Langsam schwang das Holz zurück. Ein Spalt tat sich auf, gerade breit genug, um Jane hindurchschlüpfen zu lassen. Die Detektivin schob sich in den Kellerraum. Genau einen Atemzug später erlitt sie den Schock ihres Lebens.
Etwa zwei Yards vor ihr befand sich ein Steinaltar. Er wurde von zwei schwarzen, armdicken Kerzen flankiert. Der Altar war mit einem schwarzen Tuch bedeckt, in dessen Mitte ein weißes Achteck gestickt war, und an dessen Kanten wiederum befanden sich Symbole der Schwarzen Magie. Aber das war es nicht, was Jane Collins so geschockt hatte. Es war der Kopf, der inmitten des Achtecks auf dem Altar stand. Er gehörte Graham Sounders!
* Jane Collins hatte sich so sehr auf den schrecklichen Anblick konzentriert, daß sie erst jetzt den Mann bemerkte, der sich aus dem Dämmer des hinteren Kellerraums löste. Es war Phil Sounders. Und er hatte sich verändert. Er trug ein enges pechschwarzes Trikot mit einem leuchtenden Totenkopf auf der Brust. Wirr hing ihm das dunkle Haar in die Stirn. Die Augen darunter leuchteten fanatisch. Hinter dem Altar blieb er stehen und streckte beide Arme aus, so daß sie über dem Kopf schwebten … »Komm her, meine Tochter!« flüsterte er heiser. »Komm zu mir, ich werde dich mitnehmen in das Reich der Toten.« Phil Sounders begann zu lachen. Es war ein böses, teuflisches Gelächter, das Jane Collins kalte Schauer über den Rücken jagte. Nur mit eiserner Gewalt riß sich die Detektivin zusammen. »Sind Sie wahnsinnig, Phil?« keuchte sie. »Sie waren es also, der Ihrem Onkel den …« Jane konnte nicht mehr weitersprechen. Phil lachte. »Ja, ich war es.« »Warum nur, warum?« »Es mußte sein.«
»Sagen Sie mir den Grund.« Jetzt schüttelte Phil Sounders den Kopf. »Nein, ich werde ihn dir zeigen. Komm mit, komm …« Jane Collins ahnte, daß Phil Sounders sie in eine Falle locken würde. Trotz der Kälte war sie am ganzen Körper schweißnaß. Es war es das kühle Metall der Pistole, das doch einigermaßen beruhigend auf sie wirkte. Jane Collins ging mit. Sie schritt um den Altar. Durch den Luftzug, den sie verursachte, geriet die ruhig brennende Kerzenflamme in Bewegung. Der tanzende Schein übergoß einen Teil der Wände mit bizarren Mustern. Phil Sounders war stehengeblieben. Er winkte Jane Collins zu. »Weiter«, drängte er. »Ich will dir etwas zeigen. Los.« Jane ging schneller und gelangte in den Teil des Kellers, der nicht so gut ausgeleuchtet war. Doch der Lichtschein reichte immer noch aus, um Gegenstände und sogar Einzelheiten erkennen zu können. Jane Collins sah zwei Särge an der Wand stehen. Sie waren offen – und … Die Detektivin erschrak, als sie die beiden Männer in den Särgen erblickte. Sie kannte sie vom Ansehen. Es waren Phil Sounders Begleiter in dem Gasthaus gewesen. Sie lagen auf dem Rücken, hatten ebenfalls schwarze Trikots an und die Hände auf der Brust verschränkt. Die Lippen waren geöffnet, und zwischen ihnen blitzten zwei weiße, nadelspitze Zähne. Die beiden waren Vampire! Gräßliche Blutsauger, die sich vom Lebenssaft der Menschen ernährten und somit ihr unsehges Dasein weiter fristen konnten. Die Ahnung, in eine Falle gelaufen zu sein, stieg mit nahezu tödlicher Gewißheit in Jane Collins hoch. Bis jetzt hatte sie nur auf die Vampire gestarrt und nicht darauf geachtet, was sich in ihrem Rücken abspielte.
Als sie das häßliche Kichern hörte, war es schon fast zu spät. Jane Collins wirbelte herum. Dicht vor sich sah sie Phil Sounders verzerrtes Gesicht. Der junge Mann hatte den rechten Arm erhoben. Dabei umklammerte seine Faust den Griff eines gefährlichen Messers mit etwa unterarmlanger, blutverschmierter Klinge … »Ich steche dich ab!« kreischte Phil Sounders. Noch während er die Worte schrie, fuhr der Arm mit dem Messer nach unten. Es war ein mörderischer Stoß. Jane Collins sah die blutverschmierte Klinge auf sich zurasen und warf sich mit einer blitzschnellen, gleitenden Bewegung zur Seite. Das Messer fegte an ihrer Schulter vorbei. Phil Sounders stieß einen enttäuschten Ruf aus. Er hatte die Bewegung seines Körpers abfangen können und warf sich auf der Stelle herum, um Jane ein zweites Mal anzugreifen. Die Detektivin zog ihre Pistole. »Rühr dich nicht, Sounders, ich schieße sofort!« Janes Stimme klang drohend, und Phil Sounders hielt mitten in der Bewegung inne. Der junge Mann zitterte am ganzen Körper. Er atmete keuchend. Sein Blick flatterte, zitterte zwischen Jane Collins und der blutverschmierten Messerklinge hin und her. »Laß es fallen!« sagte Jane scharf. »Los, wirf es weg!« Sounders gehorchte noch immer nicht. Er stieß ein böses Knurren aus und fletschte dabei die Zähne wie ein hungriger Wolf. Die Detektivin schoß. Der Donner des Schusses hallte in dem engen Kellerraum wider. Haarscharf pfiff das Blei an Phil Sounders’ rechter Schläfe vorbei. Doch der Mann zuckte nicht einmal zusammen. Die unbekannte Macht, die ihn gefangenhielt, mußte sehr stark sein. »Beim nächstenmal treffe ich!« sagte Jane. Sounders begann plötzlich zu lachen. Wild schüttelte er den Kopf.
Dann hob er den Blick. »Ich habe dir doch was versprochen«, heiserte er. »Du kommst lebend aus dem Dorf nicht mehr raus. Und das Versprechen halte ich.« Jane Collins war klar, daß sie den Kerl nicht stoppen konnte. Er würde sich auch von einer Pistole nicht einschüchtern lassen. Phil Sounders war unberechenbar und zu allem entschlossen. Und deshalb kam ihm Jane Collins auch zuvor. Blitzschnell sprang sie. Noch in der Bewegung drehte sie die Pistole, und dann ließ sie die kleine Waffe mit Wucht gegen Phil Sounders Schläfe krachen. Sounders wankte zurück. Er verdrehte die Augen, so daß Jane das Weiße darin schimmern sah. Dann gaben seine Knie nach, und er fiel mit einem erstickten Seufzer zu Boden. Jane riß das Messer an sich. Sie war dabei in den Lichtschein der Kerzen geraten. Das Licht spiegelte sich auf dem oberen Drittel der Klinge. Der andere Teil war blutverkrustet. Jane Collins hatte den starken Verdacht, daß mit diesem Messer das gräßliche Verbrechen an dem Toten begangen worden war. Ein Geräusch ließ die Detektivin herumfahren. Die beiden Vampire waren zum Leben erwacht. Eben noch hatten sie starr in den Särgen gelegen, doch jetzt richteten sie sich auf, als hingen sie an unsichtbaren Bändern. Zwei Augenpaare fixierten die Detektivin. Jane schauderte. Die Mäuler der Nachtgeschöpfe standen halb offen. Verkrustetes Blut klebte an den Rändern der Lippen. Auch die Augen waren blutunterlaufen. Nur die spitzen, dolchartigen Zähne blitzten als mörderische Hauer, die darauflauerten, in das Fleisch eines Menschen einzudringen, um das Blut trinken zu können. Denn nur der Lebenssaft garantierte die Existenz dieser Geschöpfe der Finsternis.
Die beiden Vampire fauchten böse. Jane Collins war sicherheitshalber zwei Schritte zurückgegangen. Wenn es hart auf hart ging, konnte sie immer noch mit ein paar raschen Sprüngen die Tür erreichen. Jane hatte noch nie solch direkten Kontakt mit Vampiren gehabt. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie über diese Geschöpfe gelesen hatte. Und vor allen Dingen, womit man sie bekämpfen konnte. Vampire scheuten das Sonnenlicht, auch fließendes Wasser vertrugen sie nicht. Am sichersten war aber immer noch die jahrhundertealte Methode, die besagte, daß dem schlafenden Vampir ein Holzpflock ins Herz gestoßen werden mußte, um ihn zu vernichten. Ebenso sicher war aber auch die Silberkugel oder das geweihte, vorn zugespitzte silberne Kreuz. Doch Jane hatte keine Waffe dieser Art, sie hatte nicht einmal Knoblauch, mit dem sie den Vampir hätte abschrecken können. Nur das unterarmlange Messer. Man kann Vampiren auch den Kopf abschlagen, hatte ihr Freund John Sinclair einmal gesagt. Es war zwar eine brutale, aber auch äußerst sichere Methode. Mit einem unwilligen Knurren stieg der erste Vampir aus dem Sarg. Er hatte die Arme etwas vom Körper gespreizt, seine Hände waren zu Klauen gekrümmt. Er ging mit gleitenden Schritten. Kein Sandkorn laurschte unter den Sohlen seiner leichten Stoffschuhe. Jane Collins packte das schwertähnliche Messer fester. Sie ließ die Bestie kommen, achtete auf jede Reaktion des Ungeheuers. Der Vampir starrte die Klinge an. Für einen Moment zuckte er zurück, dann aber kerbte ein böses Lächeln seine Lippen. Im selben Augenblick stieß Jane mit dem Messer zu. Sie wollte versuchen, den Vampir auf die alte klassische Art zu töten, in dem sie das Messer in Höhe des Herzens in die Brust stach. Die Detektivin traf gut. Der Vampir zuckte zusammen, starrte auf das Messer und sprang
dann erschreckt zurück. Die Klinge glitt aus der Wunde. Doch kein Tropfen Blut war zu sehen. Die scharfe, nicht geweihte Schneide hatte dem Untoten nichts anhaben können. Der Vampir war gegen die Wand geprallt. Er hatte den Kopf gesenkt, starrte auf seine Brust, und dann drang ein gellendes, siegessicheres Gelächter aus seinem Mund. Jetzt war er sich seines Opfers endgültig sicher. Und auch Vampir Nummer zwei hatte seine Chance erkannt. Wie ein Pfeil flog er auf Jane Collins zu. Für Sekundenbruchteile blitzten die Zähne im Lichtschein der Kerzen. Da schlug Jane Collins zu. Sie befand sich in äußerster Lebensgefahr und wußte, daß es nur noch die eine Chance gab. Sie bog ihren Oberkörper zurück, drehte sich, und das lange Messer fuhr pfeifend durch die Luft. Der Vampir sah das Unheil kommen, doch es war zu spät für ihn, noch auszuweichen. Die Detektivin traf genau. Und die Klinge war höllisch scharf. Urplötzlich hatte der Untote keinen Kopf mehr. Der Rumpf prallte vor Jane Collins auf den Boden. Arme und Beine zuckten, doch aus der Wunde drang nicht ein Tropfen Blut. Dafür trat der klassische Tod der Vampire ein. Der Satansbote begann zu verfallen. Sein Fleisch vertrocknete, und Sekunden später war er nur noch ein Häufchen Asche. Jane hatte den Vorgang nicht mit angesehen. Sie konzentrierte sich jetzt auf den zweiten Vampir, der den Tod seines Artgenossen mit wütenden Schreien begleitet hatte. Jane Collins schwang das große Messer wie ein Ritter aus vergangener Zeit. Sie hatte jetzt alle Hemmungen über Bord geworfen. Die Geschöpfe der Finsternis kannten keine Gnade, und sie durfte sie auch nicht kennen.
»Komm schon!« schrie sie aufgebracht. »Ich werde auch dich zur Hölle schicken.« Doch dieser Vampir war wesentlich schlauer. Er ließ sich auf nichts ein, sondern verwandelte sich innerhalb von wenigen Augenblicken in eine Fledermaus. Ehe Jane überhaupt reagieren konnte, wischte das etwa armgroße Tier durch die Luft und strich krächzend und fauchend dicht über Jane Collins Kopf hinweg. In Höhe der Tür drehte das Untier und flog dann mit aufgerissenem Maul und gebleckten nadelspitzen Zähnen auf die blonde Detektivin zu. Jane hatte das lange Messer in beide Hände genommen. Wild schwang sie es über ihren Kopf. Die Klinge blitzte auf, und es gelang der Frau, den Angriff der Fledermaus abzuwehren. Dicht über ihren Schädel strich das schwarze, blutgierige Ungeheuer hinweg. Der linke, wie Leder wirkende Flügel streifte noch Janes Haar. Doch diesmal war es die Detektivin, die es vorzog, das Weite zu suchen. Ihr war plötzlich klar geworden, daß sie auf lange Sicht den Kampf nicht gewinnen konnte. Einem zweiten Angriff konnte sie dadurch entgehen, daß sie sich auf den Boden warf. Und es trat noch ein Ereignis ein, das ihren Entschluß festigte. Phil Sounders erwachte wieder aus seiner Bewußtlosigkeit. Keuchend und ächzend versuchte er auf die Füße zu gelangen. Noch war sein Blick glasig, aber wenn er erst mal erfaßte, was gespielt wurde, dann sah es für Jane Collins verdammt kritisch aus. Die Detektivin sprang zur Tür. Aber da flog die Fledermaus bereits ihren dritten Angriff. Jane Collins warf sich herum und schleuderte das lange Messer. Der Stahl fegte auf die Fledermaus zu, die zwar noch ausweichen konnte, aber nicht rasch genug. Die Klinge riß ein Stück von dem linken Flügel ab. Die Fledermaus begann zu kreischen, sie flog in einer Spirale der
Decke zu, für einen Augenblick verwandelte sie sich wieder in einen Menschen, aber das alles sah Jane Collins nicht mehr. Sie riß die Tür auf, hetzte nach draußen und knallte die Tür wieder hinter sich zu. Mit der linken Hand holte sie die Lampe aus der Manteltasche. Der Strahl schnitt durch die Dunkelheit, und als die Tür des Kellerraums aufgerissen wurde und Phil Sounders und die Fledermaus in den Gang stürmten, hatte Jane bereits die Treppe erreicht. Wie ein Wirbelwind fegte sie die Stufen hoch, drückte die Kellertür auf und jagte mit fliegenden Schritten auf die Haustür zu. Sekunden später stand sie im Freien. Augenblicklich traf sie die klirrende Kälte. Jane übersah die Treppe, rutschte aus und fiel der Länge nach in den Schnee. Ihre rechte Hand mit der Waffe verschwand in der weißen Pracht. Aus dem Haus hörte sie das wütende Kreischen der Fledermaus und die Schreie des besessenen Phil Sounders. Diese Geräusche waren es, die Jane Collins wieder hochrissen. Sie taumelte über den glatten, gefrorenen Weg des Vorgartens und hatte schon fast den Zaun erreicht, als sie vor sich gelbe Punkte in der Dunkelheit tanzen sah. Dann vernahm sie ein schreckliches böses Knurren, das ihren Herzschlag stocken ließ. Jane Collins nahm sich die Zeit und wandte den Kopf. Von allen vier Seiten starrten sie die gelben kalten Augen an. Jetzt wußte Jane auch, was das Knurren zu bedeuten hatte. Es waren Wölfe! Und die grauen, blutgierigen Bestien hatten Jane Collins eingekreist …
* Tom Chester lief unruhig vor dem Tresen auf und ab. Er hielt in der rechten Hand ein Whiskyglas. Ab und zu nahm er einen Schluck
von der goldbraunen Flüssigkeit. Wilma, seine Frau, schaute aus der Küche. »Was ist denn mit dir los?« fragte sie kopfschüttelnd. »Du trinkst doch sonst nicht vor Mitternacht.« »Ich habe Sorgen.« »Wegen der Vampire? Aber wir haben doch Knoblauch aufgehängt.« Tom Chester blieb stehen. »Nein, ich mache mir Sorgen um die Detektivin.« »Sie hat dir wohl gefallen, wie?« fragte Chesters bessere Hälfte spitz. »Unsinn. Sie müßte nur längst wieder hier sein.« Tom stellte das Glas auf den Tresen und rieb sich gedankenverloren das Kinn. »Und was willst du jetzt unternehmen?« fragte Wilma ehester seine Frau. Der Wirt hob die Schultern. »Du kannst ja nachsehen«, sagte Wilma Chester. »Daran hatte ich auch schon gedacht.« »Warum tust du es nicht? Gäste kommen sowieso nicht mehr. Wenn sich bis jetzt keiner hat blicken lassen, dann …« »Okay, ich gehe«, sagte Chester. »Nimm aber dein Gewehr mit.« »Danke, das hätte ich bald vergessen.« Chester ging nach oben, wo die Wohnräume des Ehepaars lagen. Er betrat das Schlafzimmer. Es war mit alten Möbeln vollgestopft. Der Kleiderschrank reichte bis zur niedrigen Decke. Ihn öffnete der Wirt. Mottenpulvergeruch strömte ihm entgegen. Die Metallstange bog sich unter den Kleidungsstücken. Tom Chester wühlte sich durch Mäntel und Jacken, die zum Teil noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten, und fand schließlich, was er suchte. Seine alte Flinte stand ganz hinten in der Ecke. Ächzend zog Tom
Chester die schwere Waffe aus dem Versteck. Für einen Moment kräuselte ein Lächeln seine Lippen. Himmel, wie lange hatte er damit schon nicht mehr geschossen? Das waren bestimmt zehn Jahre her. Aber er hatte die Waffe immer gut gepflegt. Mit einer routinierten Bewegung kippte er den Doppellauf auf. Zwei Schrotpatronen steckten in den Kammern. Zufrieden brachte der Wirt den Lauf wieder in die alte Stellung. Dann holte er seinen alten, gefütterten und bis zu den Schienbeinen reichenden Ledermantel hervor und zog ihn über. Das Ding war schwer, aber es hielt warm. Die schweren Fellstiefel standen hinter der Tür. Tom ehester schlüpfte hinein. Das Holz der Treppe knarrte protestierend, als er die Stufen hinunterging. Seine Frau wartete unten. »Wenn das nur gutgeht«, sagte sie mit bedrückter Stimme. Chester grinste optimistisch. »Was soll denn schieflaufen?« Er klopfte auf seine Waffe. »Die alte Flinte streut noch.« »Hoffentlich.« Tom ging zur Tür. Er hatte schon eine Hand auf die Klinke gelegt, als er sich noch einmal umdrehte. »In einer halben Stunde bin ich wieder da.« »Paß auf«, rief ihm seine Frau nach. »Aber sicher doch.« Tom Chester zog die Tür auf. Eisiger Wind pfiff in den engen Flur. Der Wirt drückte die Tür rasch wieder hinter sich zu. Das Land schien unter der Kälte erstarrt zu sein. Auf den beiden Laternen über dem Eingang lag eine dicke Eisschicht. Tom Chester stampfte los. Der Schnee war gefroren und die Straße zu einer Rutschbahn geworden. Ein paarmal hatte Tom Chester Mühe, das Gleichgewicht zu behalten. Gegen den Wind kämpfte er sich voran, mit gesenktem Kopf und hart zusammengepreßten Zäh-
nen. Eigentlich ist es Unsinn, daß ich hier durch die Nacht laufe, dachte er. Fast alle Einwohner des Dorfes waren schon schlafen gegangen. Hinter kaum einem der Fenster brannte jetzt noch Licht. Die meisten Männer arbeiteten in der nahen Kreisstadt und wurden morgens schon in aller Herrgottsfrühe von den firmeneigenen Bussen abgeholt. Einige verdienten sogar in Sheffield ihr tägliches Brot. Aber fast genauso viele waren arbeitslos. Eine Seuche, die sich in England immer mehr ausbreitete. Und Tom Chesters Geschäft ging dadurch auch weiter zurück. Noch ein paar Monate, und er hing in den roten Zahlen. Dabei konnte er es den Leuten nicht einmal verübeln, daß sie nicht zu ihm kamen. Er hätte an deren Stelle das Geld auch lieber woanders ausgegeben. Tom Chester war so ins Grübeln geraten, daß er gar nicht merkte, wie weit er sich dem Haus genähert hatte. ehester nahm die Schrotflinte, die bisherüber seiner Schulter gelegen hatte, fest in beide Hände. Kein Geräusch durchbrach die Stille der Nacht. Ein ungutes Gefühl beschlich den Mann. Vorsichtig ging er weiter. Jetzt konnte er schon die Umrisse des Soundersschen Hauses erkennen. Und da geschah es. Chester sah, wie die Tür aufgerissen wurde und die Detektivin aus dem Haus hetzte. Schon nach zwei Schritten fiel sie lang in den Schnee. Chester wollte gerade losstürmen und Jane Collins anrufen, als er die Schatten durch die Nacht huschen sah. Gelbe, mörderische Raubtieraugen blitzten. »Wölfe!« entfuhr es Tom Chester. »Herr im Himmel, steh mir bei!« Dann begann Tom ehester zu rennen!
*
Sekundenlang schob der Wind die Wolken so rasch voran, daß sie den Mond freigaben. Sein Licht fiel nun ungehindert auf die Erde. Jane Collins sah alles überdeutlich. Die gräßlichen Wölfe, die hechelnd immer näher kamen und denen der Atem als Wolke vor den Lefzen stand. Acht geschlitzte Augen fixierten die Detektivin. Samtweiche Pfoten glitten über den Schnee. Eine Bestie – es mußte der Leitwolf sein – war schon ziemlich nahe. Er schüttelte sein Fell, und kleine Schneespritzer fuhren in Janes Gesicht. Die Gedanken der Detektivin überschlugen sich. Wölfe in England! Noch nie hatte sie gehört, daß es auf der Insel welche gab. Aber waren es überhaupt normale Wölfe? Konnten es keine Werwölfe sein? Wenn ja, dann war sie völlig machtlos, denn Werwölfe waren mit normalen Kugeln nicht zu töten. Man konnte sie nur mit geweihten Silberkugeln vernichten. In Sekundenbruchteilen schossen Jane diese Gedanken durch den Kopf. Auf jeden Fall mußte sie hier weg. Ins Haus zurücklaufen konnte sie nicht mehr. Dort kam sie vom Regen in die Traufe. Jane riß die Hand mit der Pistole aus dem Schnee. Da sprang die erste Bestie! Jane schoß. Die Waffe funktionierte noch, und die Kugel traf den Wolf genau zwischen die Augen. Das Tier wurde gestoppt. Dicht neben Jane Collins prallte der schwere Körper zu Boden. Die Beine zuckten noch einmal, dann lag das Tier still. Keine Werwölfe! fuhr es Jane durch den Kopf. Sie sprang auf. Da griff schon die nächste Bestie an. Jane Collins drehte sich und drückte ab. Diesmal klatschte die Kugel in das graue Fell des Tieres.
Blut spritzte. Der Wolf jaulte. Schmerzen fraßen in ihm, und diese Schmerzen machten ihn noch unberechenbarer. Er sprang Jane an. Die Detektivin schrie, als das Tier gegen sie prallte. Es war ein kapitaler Bursche, ziemlich groß. Er hatte die Vorderpfoten gegen Janes Schulterblätter gestemmt und versuchte mit seinem weit aufgerissenen Maul ihr die Kehle durchzubeißen. Jane Collins geriet in Panik, und doch tat sie haargenau das einzig Richtige. Ihre Pistole bellte auf, und die Kugel drang in den Kopf der Bestie. Sterbend brach das Tier zusammen. Aber noch waren die beiden anderen Tiere da. Und sie griffen gleichzeitig an. Jane konnte nicht mehr ausweichen. Und sie konnte es auch nicht schaffen, beide auf einmal abzuwehren. Sie sah die gestreckten Körper auf sich zufedern, sah die wilden Raubtieraugen und war nicht einmal mehr in der Lage, ihre Pistole hochzureißen. In diesem Augenblick donnerte ein Schuß. Das Echo hallte weit über das Land. Jane sah den Wolf, der ihr am nächsten war, zusammenbrechen. Blutüberströmt blieb er zuckend im Schnee liegen. Die zweite Bestie schaffte es, bis auf zwei Yards an die Detektivin heranzukommen, als abermals die schwere Waffe aufbrüllte. Das Tier wurde von der Schrotladung mehrfach getroffen. Der Körper rutschte ein ganzes Stück über den Schnee und blieb neben einem Gebüsch liegen. »Miss Collins!« rief eine Männerstimme. »Kommen Sie! Schnell!« Jane erkannte die Stimme des Wirts. Der Mann stand am Zaun und winkte. In einer Hand hielt er die Schrotflinte.
Jane Collins rannte los. Sie schlitterte über den gefrorenen Schnee, bis sie ihren Retter erreicht hatte. Der Mann faßte sie am Arm. »Rasch«, sagte er. »Wir müssen das Gasthaus erreichen. Wir …« Seine Augen weiteten sich plötzlich, und er begann am ganzen Leib zu zittern. Vom Dorfausgang her jagte ein seltsames Gefährt über die Straße. Es war ein Schlitten, gezogen von vier Wölfen. Der Schlitten war pechschwarz. Auf dem Bock saß ein Mann mit einem langen wallenden Umhang, der durch den Fahrtwind wie eine Fahne hinter ihm herflatterte. Der Mann hielt mit der linken Hand die Zügel umspannt, die rechte hatte er zu einer Faust geballt, die in Richtung der beiden entsetzt dastehenden Menschen zeigte. Für einen Augenblick sah Jane Collins auf der Brust des Mannes einen großen weißen Totenschädel schimmern, dann war der Spuk vorüber. Tom Chester bekreuzigte sich hastig. »Das war der Satan«, flüsterte er mit rauher Stimme. »Glaube ich kaum«, erwiderte Jane, die ihre Fassung wiedergefunden hatte. Der Wirt atmete schnell und hastig. »Jetzt aber nichts wie weg«, sagte er. »Moment.« Jane Collins schüttelte den Kopf. »Ich habe noch etwas zu erledigen.« »Was denn?« »Ich muß wieder in das Haus.« »Sind Sie denn wahnsinnig?« »Nein, aber ich möchte ein Beweisstück sichern.« Jane strich sich den Schnee aus dem Gesicht. Einige Blutspritzer waren auch dabei. »Sie können ja inzwischen die Leute beruhigen, die dort angerannt kommen«, sagte die Detektivin. Der Wirt drehte den Kopf. Jane hatte recht. Es liefen tatsächlich einige Einwohner des Ortes
auf die beiden zu. Die Schüsse hatten sie aufgeschreckt. Jane war schon wieder zum Haus gegangen, vorbei an den leblosen Wolfskadavern. Die Tür stand noch offen. Vorsichtig näherte sich Jane Collins dem Keller. Sie erwartete jeden Augenblick einen Angriff, doch nichts geschah. Alles blieb ruhig und friedlich. Hatten sich Phil Sounders und der blutsaugende Vampir abgesetzt? Fast schien es so. Wenig später erhielt die Detektivin die Bestätigung. Der Keller war geräumt worden. Phil Sounders hatte auch den Schädel mitgenommen. Er wollte kein Beweisstück zurücklassen. Nur die Asche des Vampirs lag noch auf dem Boden. Jane biß sich auf die Lippen. Nun hatte sie nichts in der Hand, wenn John Sinclair morgen früh in Saxton eintraf. Naja, dann mußte er den Fall eben von einer anderen Seite her anpacken. Jane Collins ging wieder nach oben und verließ das Horror-Haus. Mindestens ein Dutzend Menschen hatten sich in dem Vorgarten versammelt. Lampenstrahlen zerteilten die Dunkelheit. Die Menschen hatten sich um die blutigen Leichname der Bestien versammelt und diskutierten erregt miteinander. Als sie Jane Collins sahen, verstummten die Gespräche. Tom Chester trat vor. Er legte Jane die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Ich habe ihnen erzählt, daß die Wölfe plötzlich aufgetaucht sind. Aber von dem Schlitten habe ich kein Wort gesagt.« Jane lächelte. »Gut gemacht.« Dann wandte sie sich den Zuschauern zu. »Geht nach Hause, hier ist alles vorbei.« Ein stämmiger junger Bursche, der einen dicken Knüppel in der Hand hielt, rief: »Wo kommen die Bestien denn her? Wölfe hat es hier noch nie gegeben.« »Ich weiß es auch nicht«, erklärte Jane Collins wahrheitsgetreu. »Das hängt alles mit diesem verdammten Vorgang in der Leichen-
halle zusammen«, schrie der Mann. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. »Verschwinden Sie lieber, Miss. Seit Sie hier sind, hat der Ärger angefangen.« Jetzt mischte sich Tom Chester ein. »Das ist doch Unsinn, Leute. Miss Collins hat damit nichts zu tun. Sie ist schließlich von den Bestien angefallen worden.« »Dann hatten die auch einen Grund! Warum liegt die Frau denn nicht im Bett? Sie ist doch bestimmt in das Haus gegangen. Was hat sie darin überhaupt zu suchen gehabt? Wir werden die Polizei informieren.« »Tun Sie das«, erwiderte Jane Collins. Dann ging sie kurzerhand an den Männern vorbei, die ihr böse nachstarrten. Tom Chester hielt sich an Jane Collins Seite. Seine Frau erwartete die beiden schon mit Ungeduld. Als sie Jane Collins sah, wurde sie leichenblaß. »Ja, wie sehen Sie denn aus, Miss?« rief sie. »Sie sind ja voller Blut.« »Das macht nichts, das ist nur äußerlich.« »Was ist denn überhaupt geschehen?« fragte Wilma ihren Mann, der die Tür hinter sich verriegelte. »Erzähle ich dir später. Mach uns erst einmal einen heißen Tee. Aber mit Rum.« »Sofort, sofort.« Wilma Chester verschwand in der Küche. Jane zog ihren Mantel aus. Das Kleidungsstück war tatsächlich übersät mit Blutspritzern. Es mußte passiert sein, als sie dem Wolf eine Kugel in den Schädel geschossen hatte. »Ich werde Ihnen ein Bad richten«, sagte Tom Chester und wollte verschwinden. Jane hielt ihn zurück. »Das hat Zeit.« »Wie Sie wollen.« Der Wirt setzte sich wieder. Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht. Bisher war es in diesem Ort ruhig und friedlich, und nun …«
»Habe ich mich eigentlich schon bei Ihnen für die Lebensrettung bedankt?« Tom Chester winkte ab. »Wofür? Ich …« Jane reichte dem Mann die Hand. Verlegen lächelnd schlug Tom Chester ein.
* Jane Collins hatte John Sinclair telefonisch einen ziemlich umfangreichen Bericht gegeben, und der Oberinspektor wußte, daß seine Bekannte keine Spinnerin war. Am meisten hatte John die MYSTERY SCHOOL interessiert. Er hatte schon von diesen Schulen gehört, die auf der gesamten Insel wie Pilze aus dem Boden geschossen waren und in denen die Menschen der hochtechnisierten Welt des zwanzigsten Jahrhunderts eine Art Ersatzbefriedigung fanden. In den Schulen wurde mit der Faszination des Übersinnlichen spekuliert. Allein in London gab es fünf solcher Institute. Drei davon waren schon vom Yard unter die Lupe genommen worden. Mit negativem Ergebnis. Hier wurde den gutgläubigen und zahlungswilligen Menschen nur etwas vorgemacht. In den einschlägigen Anzeigen wurde der Kontakt mit dem Jenseits propagiert, der jedoch – und das wußte John aus Zeugenaussagen – noch nie zustande gekommen war. Und doch waren diese Schulen nicht ungefährlich, wie Jane Collins’ Anruf bewiesen hatte. John Sinclair war nach dem Telefongespräch in das im Keller liegende Archiv gefahren. Hier wurden die einschlägigen Zeitschriften und Veröffentlichungen katalogisiert und auf Magnetband gespeichert. »Aha, der Geisterjäger in Aktion«, wurde John von dem verantwortlichen Kollegen begrüßt. »Wo drückt denn jetzt wieder der
Vampir?« »Ein Vampir drückt nicht. Der beißt nur«, erwiderte der Oberinspektor grinsend. »Sony, Kollege, ich vergaß, daß Sie Fachmann sind. Also, was liegt an? Sagen Sie aber jetzt nur nicht die Ohren.« »Die außerdem«, meinte John, »doch im Ernst. Es geht mir um folgendes …« Haarklein begann John Sinclair, dem EDV-Menschen sein Problem auseinanderzulegen. Der Weißkittel nickte ein paarmal, machte sich einige Notizen und schritt dann zur Tat. Eine Lochkarte wurde mit Informationen bestückt, in den Computer gesteckt, und nachdem die komplizierte Technik wenige Sekunden lang die Information ausgewertet hatte, kam auch schon das Ergebnis. Der EDV-Mann mußte das Zahlengewirr für John Sinclair erst einmal verständlich machen. Dann war er aber soweit. »Also, es kommen vier Zeitschriften in Frage, die für diese komische Schule geworben haben. Das sind …« Er zählte die Namen der Zeitschriften auf und gab einem jüngeren Kollegen den Auftrag, die entsprechenden Broschüren herauszusuchen. Zwei Minuten später hielt John Sinclair sie in der Hand, bedankte sich und verließ die Abteilung. Wieder in seinem Büro, blätterte er die Zeitschriften durch. Draußen in den Straßenschluchten der Riesenstadt ballte sich bereits die Dunkelheit. Die Heizung im Büro arbeitete auf Hochtouren, denn London erlebte einen der kältesten Winter seit Jahren. Mit Schrecken dachte John an die am nächsten Tag stattfindende Fahrt über die vereisten Straßen. Die Streudienste kamen gegen das Wetter oft gar nicht an. John Sinclair fand die Annonce der MYSTERY SCHOOL im Mittelteil der ersten Zeitschrift. Sie nahm eine halbe Seite ein und warb
mit roten knalligen Lettern: WOLLEN SIE KONTAKTE MIT DEM JENSEITS EINGEHEN? WENN JA, DANN SIND SIE BEI UNS AN DER RICHTIGEN STELLE! WIR BIETEN IHNEN EINEN ZWEIMONATIGEN KURSUS AN, IN DEM SIE ALL DAS LERNEN KÖNNEN, WOVON SIE SCHON IMMER GETRÄUMT HABEN. Der Name MYSTERY SCHOOL stand unter dem Text. Es folgte dann noch die genaue Adresse. John Sinclair legte die Zeitschrift zur Seite und blätterte die anderen durch. Auch hier fand er denselben Text. Schreiend und werbewirksam aufgemacht. John blickte auf seine Uhr und wählte die Nummer seines Chefs. Superintendent Powell befand sich noch in seinem Büro. Er machte, wie fast jeden Tag, Überstunden. »Kann ich mal zu Ihnen kommen, Sir?« erkundigte sich der Oberinspektor. »Natürlich.« »Danke.« John legte auf, nahm die vier Zeitschriften und ging zum Büro seines Chefs, dessen Vorzimmer verwaist war. Powell erwartete John im Türrechteck. »Sie halten es aber heute lange aus«, empfing er den Geisterjäger. John grinste. »Aber nur, weil ich morgen wieder weg will.« »Wieso?« »Das wollte ich Ihnen ja gerade erklären.« »Kommen Sie.« Powell gab den Weg in sein Büro frei. Er bat John, Platz zu nehmen. Der Oberinspektor wunderte sich über die gute Laune seines Chefs. Meist kannte er Powell nur griesgrämig und mit einem permanenten Magenleiden. Heute jedoch schien ihn niemand geärgert zu haben. Superintendent Powell blickte seinen besten Mann durch die di-
cken Brillengläser an. Das Nasenfahrrad gab Powell immer das Aussehen einer Eule. Manchmal verglich John seinen direkten Vorgesetzten auch mit einem magenkranken Pavian. John schwieg, während Superintendent Powell die von ihm angestrichenen Annoncen durchlas. Als Powell die Zeitschriften zur Seite legte, hatten sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Glauben Sie im Ernst, John, daß etwas dahintersteckt?« Sinclair nickte. »Davon bin ich fest überzeugt.« »Na, ich weiß nicht so recht.« John hob die linke Hand. »Augenblick, Sir. Ich werde Ihnen auch gleich den Grund nennen.« Der Geisterjäger erzählte in wenigen Worten, was er von Jane Collins erfahren hatte. Powell kannte die Detektivin ebenfalls und wußte, daß sie keine Spinnerin war. Der Superintendent ließ sich von John Sinclair überzeugen. »Also gut, dann fahren Sie«, sagte er. »Danke, Sir.«
* Für Jane Collins war es eine schreckliche Nacht gewesen. Alpträume hatten sie stundenlang gequält. Immer wieder waren ihr die Wölfe im Traum erschienen und hatten sie über eine unendliche Schneefläche gehetzt. Dann war noch der geheimnisvolle Mann mit dem Schlitten gekommen. Lachend hatte er eine feurige Peitsche geschwungen und das Leder auf Janes Rücken klatschen lassen. Gegen sieben Uhr hielt es Jane Collins nicht mehr länger in ihrem Bett aus. Ihr Körper war in Schweiß gebadet, als sie die Beine aus dem Bett schwang. Im Zimmer war es kalt. Das Feuer des kleinen Ofens warüber Nacht erloschen.
Die Detektivin trat an das Waschbecken. Darüber hing ein Spiegel, halbblind schon. Er zeigte aber trotzdem, wie schlecht Jane Collins aussah. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen. Das blonde Haar hing ihr wirr in die Stirn, der Mund war zu einem müden Lächeln verzogen. Sie drehte den Wasserhahn auf. Eiskalt strömte ihr das Wasser entgegen. Jane formte beide Hände zu einem Trichter und fing das Wasser auf. Dann klatschte sie es sich ins Gesicht. Es erfrischte sie. Jane stieg aus ihrem Nachthemd. Sie fror zwar wie ein Schneider, wusch sich aber den gesamten Körper mit eiskaltem Wasser. Danach rieb sie sich mit einem langen Handtuch trocken, schlüpfte in ihre dicke Winterkleidung und merkte, daß die Müdigkeit verflogen war. Die Detektivin trat an das kleine Fenster und sah hinunter auf die lange Straße. Vor dem Eingang des Gasthofes schaukelten noch die beiden Laternen. Ihr milchiger Schein reichte kaum bis zum Boden. Jane hauchte gegen die Scheibe. An den Rändern hatten sich schon Eisblumen gebildet, so kalt war es geworden. Dann sah sie einige Kinder über die Straße schlittern. Sie trugen Schulranzen und Aktentaschen. Die Kinder waren bald aus Janes Blickfeld verschwunden, nur noch ihr Lachen war schwach zu hören. Janes Blickfeld wanderte weiter, über die Dächer der Häuser hinweg. Noch hielt die Dunkelheit das Land umfangen, aber bald schon würde die fahle Wintersonne im Osten über den Horizont kriechen. Sterne und Mond waren bereits verblaßt. Jane sah auch keine Wolken mehr am Himmel, der Wind hatte sie in der vergangenen Nacht weggefegt. Plötzlich stutzte die Detektivin. Ein glühender feuriger Punkt kreiste plötzlich hoch über den Dä-
chern des Dorfes. Im ersten Augenblick dachte Jane an eine Sternschnuppe, doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Eine Sternschnuppe fiel dem Boden entgegen, sie wurde nicht größer wie dieser Punkt, der sich immer mehr der Erde näherte. Ein ungutes Gefühl breitete sich in der Detektivin aus. War es Angst? Jane spürte, daß sich ihr Herzschlag verdoppelte. Der Punkt wurde immer größer, nahm Gestalt an und schwebte jetzt dicht über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Und dann erkannte Jane, was es mit diesem geheimnisvollen glühenden Gegenstand auf sich hatte. Es war der schwarze Schlitten! Und auf ihm saß der Unheimliche. In der rechten Hand hielt er eine glühende Peitsche. Genau wie in Jane Collins Traum. Die Detektivin hielt den Atem an. Jetzt raste der fliegende Schlitten mit ungeheurer Geschwindigkeit auf das Gasthaus zu und war plötzlich in Höhe des Fensters. Jane sah das grausam verzerrte Gesicht des Mannes. Der Arm mit der Peitsche zuckte vor … Jane Collins schrie. Und in ihren Schrei mischte sich das Klirren der Scheibe. Die glühende Peitschenschnur hatte das Glas in tausend Splitter geschlagen. Die Detektivin hatte sich instinktiv zurückgeworfen, so daß die flammende Schnur nur eine Handbreit vor ihrem Gesicht vorbeigefegt war. Nur einige Glassplitter hatten Jane Collins getroffen. In der nächsten Sekunde war der Spuk verschwunden. Nur die durch die zerstörte Scheibe ins Zimmer strömende Kälte zeugte davon, daß Jane nicht geträumt hatte. Jane Collins war bei ihrer heftigen Gegenreaktion zu Boden gefal-
len. Jetzt rappelte sie sich wieder auf und hörte auch schon die Schritte, die laut und deutlich die Treppe hochpolterten. Sekunden später klopfte es an die Tür. »Miss Collins!« rief die erregte Stimme des Wirts. »Was ist geschehen? Öffnen Sie.« Jane schloß die Tür auf. Sofort stand der Wirt im Zimmer. Bekleidet war er nur mit einer langen Hose und einem Unterhemd, über das sich breite blaue Hosenträger spannten. Verstört blickte er Jane Collins an und dann die zersplitterte Scheibe. »Was ist denn geschehen, um Himmels willen?« »Nichts, das Sie beunruhigen müßte«, erwiderte Jane. Sie hatte beschlossen, dem Wirt und seiner Frau gegenüber nichts von dem geheimnisvollen Vorgang zu erwähnen. Wilma Chester tauchte auch sehr schnell auf. Sie hatte sich einen alten geblümten Morgenrock übergeworfen und die knochigen Hände zusammengefaltet. »Kinder haben mir einen Stein ins Zimmer geworfen«, erklärte Jane Collins. »Es sollte wohl ein Schneeball werden«, fügte sie noch lächelnd hinzu. Die beiden Wirtsleute blickten sich mißtrauisch an. Es war zu sehen, daß sie Janes Erklärung keinen Glauben schenkten. »Ich werde Ihnen ein anderes Zimmer geben«, sagte Tom Chester, um das bedrückende Schweigen zu brechen. »Nehmen Sie das nebenan. Ich helfe Ihnen auch beim Umzug.« »Nein, nein«, wehrte Jane ab, »das ist nicht nötig. Danke, ich schaffe es schon allein.« »Wie Sie wollen.« Wilma Chester faßte ihren Mann am Arm. »Komm, Tom, ich muß das Frühstück vorbereiten. In einer halben Stunde bin ich wohl fertig, Miss Collins.« »Ist schon recht«, sagte Jane.
Das Ehepaar Chester verschwand. Jane räumte inzwischen ihre Sachen in das andere Zimmer. Viel war es nicht. Aber immer wieder spukte ihr die seltsame Erscheinung im Kopf herum. Wer war dieser Unheimliche auf dem Schlitten? Wo kam er her? Und wo hatte er sein Versteck? Fragen über Fragen, auf die Jane keine Antwort wußte. Sie hoffte jedoch, daß alles anders sein würde, wenn John Sinclair erst einmal da war. Fünf Minuten vor der Zeit ging Jane hinunter in die Gaststube. Es war dort angenehm warm. Der Wirt hatte schon längst das Feuer im Ofen angefacht. Wilma Chester deckte gerade den Tisch. »So, Miss Collins«, sagte sie, als sie das frisch geröstete Toastbrot auf den Tisch stellte, »ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.« »Danke sehr.« Jane Collins lächelte spröde und setzte sich. Es gab Tee, Milch, Toast und Schinken. Auf einem Schälchen lag etwas Marmelade. Obwohl Jane keinen allzu großen Hunger hatte, langte sie zu. Und es schmeckte ihr auch gut. Vor allen Dingen die selbst hergestellte Orangenmarmelade mundete ihr ausgezeichnet. Langsam verstrich die Zeit. Ein paarmal betraten Gäste die Wirtschaft. Sie tranken schnell einen Schnaps und verschwanden dann wieder. Die Detektivin erkannte auch Männer, die am gestrigen Abend vor dem Haus gestanden hatten. Sie selbst wurde mit keinem Wort angesprochen. Wilma ehester lächelte zufrieden, als sie sah, daß Jane fast alles gegessen hatte. »Besser als im nobelsten Hotel«, lobte Jane. Die Wirtin wurde etwas rot und hob verlegen die Schultern. Schweigend räumte sie ab.
Ihr Mann war draußen und versuchte, das Eis von der Straße zu kratzen, was aber ein sinnloses Unterfangen war, wie er selbst zugeben mußte. »Wir frieren hier noch an«, sagte er und zog seine dicke Jacke aus. Dann rieb er beide Hände gegeneinander. »Möchten Sie auch einen Drink, Miss Collins?« »Könnte nicht schaden.« Jane hatte bereits die Verdauungszigarette angezündet. »Okay, ich hole für uns beide einen Selbstgebrannten. Der ist wie Feuer.« Tom ehester hatte nicht übertrieben. Jane traten sogar die Tränen in die Augen, als sie die scharfe Flüssigkeit trank. Der Wirt wischte sich über die Lippen. »Wann wird denn Ihr Bekannter bei uns eintreffen?« fragte er. »Ich schätze, so gegen Mittag.« »Hoffentlich macht ihm das Wetter keinen Strich durch die Rechnung.« Jane schüttelte den Kopf. »John Sinclair ist ein ausgezeichneter Fahrer.« »Wollen wir’s hoffen.« John Sinclair war sogar noch etwas früher zur Stelle. Es war genau zwanzig Minuten nach elf Uhr, als der Wagen vor dem Gasthaus stoppte. Als Jane Collins den blonden Haarschopf ihres Freundes sah, fiel ihr ein Stein vom Herzen. »Jetzt wird es hier bald rundgehen«, sagte sie leise zu sich selbst.
* John Sinclair lächelte, als er die Gaststube betrat, doch schon in der nächsten Sekunde wurde sein Gesicht ernst. Er blieb stehen und blickte Jane Collins kopfschüttelnd an. »Du
siehst schlecht aus, Jane«, stellte er fest. Die Detektivin wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Es ist zwar kein Kompliment, aber du hast trotzdem recht.« Dann nickte sie Suko, dem Chinesen zu, der hinter John den Gastraum betreten hatte. Sukos breites Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Er reichte Jane die Hand, die mühelos einen ausgewachsenen Männerkopf umfassen konnte. »Wie schön, dich zu sehen«, sagte er. Er kannte Jane bereits über John Sinclair. John stieß den Chinesen in die Seite. »Brich dir ja keinen ab.« Dann zog der Geisterjäger seinen mit Pelz gefütterten Wildledermantel aus und hängte ihn über eine Stuhllehne. Suko behielt seine Jacke an. Er zog nur den Reißverschluß auf. Jane Collins machte die beiden Neuankömmlinge mit den Wirtsleuten bekannt. Wilma Chester wurde verlegen, als sie hörte, welch einen Beruf John Sinclair hatte. »Wollen – Sie – wollen Sie vielleicht eine Tasse Tee trinken?« fragte sie. John lächelte. »Sehr gern sogar.« Jane deutete auf ihren Frühstückstisch. »Kommt, wir wollen hier nicht stehenbleiben.« Sie nahmen Platz. Der Wirt stand unschlüssig neben dem Tisch und blickte auf seine Schuhspitzen. »Setzen Sie sich doch zu uns«, forderte Jane den Mann auf. »Ja, danke.« Tom Chester nahm nur auf der Stuhlkante Platz. John Sinclair bot Zigaretten an. Außer ihm rauchte nur noch Jane Collins. Der Geisterjäger lehnte sich behaglich zurück, blies den blaugrauen Rauch gegen die holzverkleidete Decke und sagte: »Nun erzähl mal, Jane. Wie ich an den Knoblauchstauden erkennen kann, habt ihr es ja schon mit Vampiren zu tun gehabt.« »Hier im Haus waren diese Blutsauger aber nicht«, warf Tom Chester ein.
»Die werden sich auch hüten. Bei dem Geruch«, meinte John. Die Detektivin drückte die Asche von ihrer Zigarette. »Was soll ich noch groß erzählen, John. Das Wichtigste habe ich dir ja schon am Telefon berichtet. Allerdings hatte ich heute morgen noch ein unheimliches Erlebnis.« Jane erzählte, wie sie nur haarscharf der glühenden Peitsche entgangen war. John streichelte ihre Hand, während der Wirt mit großen Augen auf dem Stuhl saß und nicht fassen konnte, was er eben gehört hatte. »Da hast du noch mal Schwein gehabt«, sagte der Geisterjäger. »Aber nun zu dieser Schule. Ich habe in entsprechenden Zeitschriften vier Anzeigen gelesen. Die MYSTERY SCHOOL rührt eifrig die Werbetrommel.« »Du brauchst erst gar nicht weiter zu fragen«, erwiderte Jane. »Ich weiß über die Schule nicht mehr als du.« »Dann aber bestimmt Mr. Chester?« wandte sich John Sinclair an den Wirt. Ehe dieser antworten konnte, brachte seine Frau den Tee. Er duftete verlockend und tat den Menschen gut. Der Oberinspektor setzte die Tasse ab. »Also, Mr. ehester, was hat es mit der Schule auf sich?« Tom ehester hob die Schultern. »Viel kann ich Ihnen auch nicht sagen, Sir. Ich habe das Haus erst einmal gesehen. Aber drin war ich noch nie.« Er schüttelte sich, als hätte ihm jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über den Körper gegossen. »Da traut sich niemand aus dem Dorf hin.« »Wissen Sie denn, wie viele Schüler dort einen Kursus belegt haben?« »Nein. Ein paar von ihnen sind wohl mal hier in der Gaststätte gewesen, aber sie haben mit den Einheimischen nie ein Gespräch angefangen. Sie tranken ihren Schnaps und sind dann gegangen.« »Wer leitet denn die Schule?« bohrte John weiter.
»Das weiß ich auch nicht.« »Aber die Leute müssen doch essen und trinken. Werden sie von hier aus dem Dorf nicht mit Lebensmitteln beliefert?« »Keine Ahnung.« »Wahrscheinlich ist es so, daß sie in Sheffield einkaufen«, vermutete Jane. »Ja, das wäre eine Möglichkeit«, gab der Oberinspektor zu. Der Wirt meldete sich wieder zu Wort. »Sie wollen doch sicher der Schule einen Besuch abstatten?« John nahm einen Schluck Tee. »Ja, natürlich.« »Dann passen Sie auf, man wird Sie kaum reinlassen.« »Das wollen wir doch mal sehen. Die Polizei ist zwar nirgendwo gerne willkommen, aber man wird sich hüten, uns mit Gewalt zurückzuhalten. Es geht schließlich um die Aufklärung eines scheußlichen Verbrechens. Wie mir Miss Collins berichtete, gehört dieser Phil Sounders auch zu den Schülern. Und ihn will ich sprechen.« John blickte auf seine Uhr und dann auf Suko. »Was meinst du? Eigentlich könnten wir uns jetzt auf den Weg machen. Die Zeit ist recht günstig.« »Ich habe nichts dagegen.« »Und ich komme mit«, sagte Jane Collins. »Nein.« Entschieden schüttelte John Sinclair den Kopf. »Du hast genug Ärger gehabt, und wenn sie dich sehen, werden sie sofort mißtrauisch. Es soll ja auch nichts weiter als nur ein kleiner Besuch werden. Wir sind bestimmt vor dem Dunkelwerden wieder zurück.« »Das hoffe ich«, sagte Jane. John stand auf. Er wandte sich an den Wirt. »Beschreiben Sie uns bitte den genauen Weg. Ich habe keine Lust, noch lange in der Gegend herumzulaufen.« »Okay.« Der Wirt erklärte John wortreich, wie sie fahren mußten und wünschte ihm und Suko viel Glück.
John bedankte sich. Von Jane Collins verabschiedete er sich mit einem Kuß auf die Wange. »Bis später, Jane, und halte dich tapfer.« Jane lächelte, doch in ihrem Innern dachte sie immer wieder: Wenn das nur gutgeht …
* George Tanner, Chiefinspektor Shermans Assistent, hatte sich Urlaub genommen. Er hatte seinem Chef weismachen können, daß dieser schreckliche Fall bei ihm eine Magenschleimhautentzündung ausgelöst habe. Und da er sich nicht für zwei oder drei Wochen krankschreiben lassen wollte, hatte er eben zwei Tage von seinem Jahresurlaub abgezweigt. Aber nicht, um zu faulenzen. Das Gegenteil war der Fall. Tanner wollte diesen rätselhaften Mord auf eigene Faust klären. Und da ein ungewöhnlicher Fall ungewöhnliche Maßnahmen erforderte, hatte er auch einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen. Tanner hatte die Nacht nicht im Bett verbracht. Er hatte in der näheren Umgebung von Saxton Nachforschungen angestellt, hatte Stunden in Gasthäusern verbracht und so allerlei Informationen erhalten. Die meisten waren natürlich Klatsch und Tratsch, aber etwas hatte sich doch bei all den Recherchen herauskristallisiert. Immer wieder wurde eine geheimnisvolle Schule erwähnt. MYSTERY SCHOOL, wie sie sich nannte. Und ihr wollte Tanner einen Besuch abstatten. Es hatte lange gedauert, bis er den richtigen Weg fand, der ihn geradewegs zur Schule hinführte. Sehr wohl spürte George Tanner den dicken Kloß im Magen. Noch nie hatte er ähnliches erlebt. Bisher hatte er immer die Rückendeckung seiner Polizeiorganisation gehabt. Aber nun war er völlig auf sich allein gestellt.
Das Haus lag ziemlich einsam, zwischen zwei Hügeln, die es im Norden und Süden begrenzten. Die Straße, die zur Schule hinführte, war kaum als solche zu bezeichnen, und als Tanner seinen Wagen neben einer schneebedeckten Buschgruppe abstellte, hatte er plötzlich das Gefühl, zu seiner eigenen Beerdigung zu gehen. Mit in den Taschen vergrabenen Händen schlenderte er langsam auf das Haus zu. Es machte eigentlich einen ganz harmlosen Eindruck. Es war schon ziemlich alt, aber noch gut erhalten. Es gab an der Vorderseite zwei große Erkerfenster, deren Scheiben jedoch durch Vorhänge abgedeckt waren. Auf den zahlreichen Vorsprüngen und Ecken lag eine dicke weiße Schneeschicht. Zwei blaugraue Rauchfahnen stiegen aus nebeneinander liegenden Schornsteinen. George Tanner nahm seine Brille ab und putzte die beschlagenen Gläser. Dann stand er vor der Tür. Sie war groß und aus stabilem Holz, in das seltsame Zeichen geschnitzt waren, mit denen George Tanner nichts anzufangen wußte. Wie sollte er auch die Sprache der Schwarzen Magie kennen? Er entdeckte keine Klingel, dafür wurde aber so plötzlich die Tür aufgerissen, daß Tanner erschrak. Eine ihm unbekannte Frau blickte ihn an. »Sie wünschen?« fragte sie mit flacher, tonloser Stimme, die so gar nicht zu ihrem Äußeren passen wollte. Der junge George Tanner war von der Schönheit der Frau fasziniert. Sie trug ein blutrotes, bis zum Boden reichendes Kleid, das weit ausgeschnitten war und die Ansätze ihrer vollen Brüste sehen ließ. Tanner wunderte sich, daß die Frau nicht fror, aber anscheinend schien sie die Kälte nicht zu spüren. »Sie wünschen?« wiederholte sie ihre erste Frage. »Nun – ich …« Tanner räusperte sich. »Also – ich möchte in ihre Schule aufgenommen werden.« »Bitte, treten Sie ein.« Die Frau gab den Weg frei, und George Tanner hatte, als er den
dunklen langen Flur betrat, das Gefühl, in eine Gruft zu gehen, aus der es kein Zurück mehr gab. Der Gang wurde von versteckt angebrachten Lampen nur spärlich erhellt. Mit fahrigen Bewegungen knöpfte Tanner seinen Mantel auf Die Frau ging dicht vor ihm. Sie bewegte sich aufreizend, und wenn George Tanner genau hinsah, konnte er das Spiel der Muskeln unter dem Kleid sehen. Die Frau schien nichts darunter anzuhaben. Plötzlich blieb sie stehen und wandte sich um. Tanner wäre fast gegen sie geprallt, hatte aber im letzten Moment noch aufpassen können. »Ich bin Elisa«, sagte die Frau mit den lackschwarzen Haaren. Ihr Gesicht schimmerte seltsam bleich, und die langen seidigen Wimpern berührten fast die Haut unter den Augen. »Tanner«, sagte der Polizeiassistent. »George Tanner.« Die Frau nickte nur. Dann wandte sie sich wieder um und ging weiter. Sie führte George in ein großes Zimmer, in dem schwarze Möbel standen. Kerzenlicht schuf Atmosphäre. Elisa deutete auf eine Couch. »Setz dich hin.« Automatisch nahm George Tanner Platz. Die Frau blickte auf ihn hinab. Sie hatte die Hände in beide Hüften gestützt, und ihre Zunge fuhr rasch über die seltsam blassen Lippen. »Warte hier. Ich bin gleich wieder zurück. Dann bringe ich dich zu den anderen.« Tanner konnte nur nicken. Elisa verschwand durch eine Tür, die sie sacht hinter sich schloß. Der junge Polizeibeamte wischte sich über die Stirn. Mein Gott, dachte er, wo bin ich nur gelandet? Dieses Haus, das Zimmer, die Frau – seltsam. Noch nie im Leben hatte er so etwas gesehen. Aber alles übte auf ihn eine gewisse Faszination aus, der er sich nicht entziehen konnte.
Und auch der Geruch, der in dem Zimmer schwebte. Er war seltsam süßlich und abstoßend. So roch nur Blut … George Tanner schwitzte plötzlich. Er zog seinen Mantel aus und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Für einen Augenblick dachte er daran, einfach wegzulaufen, dann blieb er doch sitzen und wartete auf die Dinge, die auf ihn zukommen würden. Es war still im Zimmer. Nicht einmal eine Uhr tickte. George hörte sein eigenes Herz schlagen. Ruhig brannten die Kerzenflammen. Die dicken Wachskerzen steckten in schweren Leuchtern. Die Flammen malten helle Kreise an die Decke, deren äußere Ringe ineinander überliefen und zu seltsamen Figuren wurden. Als die Tür wieder aufging, hatte George Tanner das Gefühl, schon Stunden in dem Raum verbracht zu haben. Elisa kehrte zurück. Sie trug einen schwarzen Umhang über dem linken Arm. Als sie den Umhang auseinanderfaltete, sah George, daß auf der Vorderseite ein weißer Totenkopf gemalt war. Elisa legte den Umhang über einen Sessel. »Zieh dich aus«, sagte sie dann. »Ich – ich …« George Tanner schluckte. »Ja, du sollst dich ausziehen.« Die Frau verzog die Mundwinkel. »Du wolltest doch bei uns aufgenommen werden.« »Das schon«, gab George zu. »Dann mußt du dich auch unseren Anordnungen fügen. Es gehört zu dem Aufnahmeritual.« Wenn ich jetzt meine Kleidung weggebe, dann bin ich völlig in ihrer Hand, dachte Tanner. Nein, ich werde es nicht tun. Ich werde mich jetzt umdrehen und auf der Stelle das Haus verlassen. Ja, das ist die einzige Lösung. Aus seinem Vorhaben wurde nichts, denn er sah, wie Elisa nach
dem Reißverschluß ihres Kleides griff und ihn langsam aufzog. Das schabende Geräusch elektrisierte George Tanner, ging ihm durch Mark und Bein. Er atmete schneller. »Nun?« fragte Elisa. Das Kleid war ihr über beide Schultern gerutscht und gab viel von der weißen Haut frei. Tanner vergaß alle Vorsätze. Er war ein noch junger Mann, und diese Frau konnte ihn schon um den Verstand bringen. Plötzlich fühlte er sich beschwingt, konnte die Leute verstehen, die Rauschgift nahmen, weil sie dann vielleicht ein ähnliches Gefühl verspürten. Die Nähe der Frau jagte ihm Schauer über den Rücken. George Tanner stand auf. Rasch schlüpfte er aus seinen Kleidungsstücken, bis er völlig nackt vor Elisa stand. Er streckte die Arme aus, wollte nach ihr greifen, doch sie entwich ihm mit einer raschen Drehung. »Später«, flüsterte sie und zog den Reißverschluß wieder hoch. George Tanner griff nach dem kuttenähnlichen Umhang. Gelassen streifte er ihn über den Kopf. Er war von innen aufgerauht und schmiegte sich warm an die nackte Haut. Elisa klatschte zweimal in die Hände. Zwei junge Männer erschienen, die die gleiche Kleidung trugen wie George Tanner. Sie verbeugten sich vor Elisa. »Bringt seine Sachen weg!« George Tanner wollte protestieren, als sich die beiden seiner Kleidung bemächtigten, doch dann spürte er den Griff der Frau an seinem Arm, die ihn mit sich zog. »Wir gehen zu mir. In mein Zimmer.« Tanner folgte willig. Er wunderte sich nur, wie kalt die Hand war, dachte aber nicht weiter darüber nach. Eine Treppe führte in den Keller. George sträubte sich an der obersten Stufe. Er wollte nicht weiter-
gehen. »Was hast du vor?« fragte er rauh. »Ich habe dir doch gesagt, daß wir zu mir gehen, mein Freund. Du bist Polizist, nicht wahr?« »Ja, das stimmt. Aber woher weißt du davon?« Elisa lächelte geheimnisvoll. »Das werde ich dir später sagen. Komm jetzt.« Tanners Bedenken waren zerstreut. Neben Elisa ging er die ziemlich breite Treppe hinunter. Sie erreichten einen feuchten Kellergang, der von blakenden Öllampen nur dürftig erhellt wurde. Nach einigen Yards verbreiterte sich der Gang zu einem Gewölbe, in das kreisförmig breite Nischen eingehauen waren. Zu einer der Nischen führte Elisa den jungen Mann. Dann blieben sie stehen. Georges Augen hatten sich mittlerweile an die Lichtverhältnisse gewöhnt. Er konnte sehen, was in der Nische stand. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, und sein Körper fühlte sich an, wie in Eiswasser getaucht. In der Nische stand – ein Sarg! Dicht neben seinem linken Ohr hörte Tanner das Lachen der Frau. »Es ist mein Zimmer«, sagte sie. »Ich wollte es dir doch zeigen. Und der Sarg ist meine Ruhestätte.« George Tanner fuhr herum, starrte Elisa ins Gesicht und glaubte plötzlich, den Verstand verlieren zu müssen. Die Frau hatte den Mund leicht geöffnet. Zwischen ihren Lippen schimmerten zwei nadelspitze Zähne. Elisa war ein Vampir!
* Fassungslos starrte George Tanner auf das Gesicht der Frau, das jetzt zu einer gräßlichen Fratze entartet war. Elisa hatte den Mund so verzogen, daß die beiden Enden der Zäh-
ne über die Unterlippe ragten. Und dann die Augen. In ihnen las der junge Polizist eine mörderische Gier. Vampire trinken Blut, schoß es ihm durch den Kopf. Nur so können sie weiter existieren. Und diese Frau ist verrückt nach Blut. Nach meinem Blut! Elisa hob den rechten Arm und winkte mit dem Zeigefinger. »Komm her, Söhnchen, komm zu mir. Ich wollte dir etwas zeigen. Du bist doch verrückt danach, mich zu besitzen. Ich sehe es dir an, mein kleiner Polizist.« Wild schüttelte George Tanner den Kopf. »Nein!« schrie er plötzlich. »Bleib weg von mir! Geh! Geh mir aus den Augen, du Bestie.« Abwehrend streckte er beide Arme aus, doch die Untote lachte nur. Sie wußte, daß ihr die Beute nicht mehr entkommen konnte. Da schlug George Tanner in seiner höchsten Verzweiflung das Kreuzzeichen. Sofort zuckte Elisa zurück. Ihre Augen schienen mit einemmal aus Blitzen zu bestehen. »Tu das nie wieder«, sagte sie. »Hörst du? Nie wieder.« Diesmal war es George, der lachte. »Irrtum!« kreischte er. »Ich werde dich in deine Schranken weisen, du Unhold!« Er ging rückwärts, hielt beide Arme gekreuzt vor seinem Gesicht. Die Vampirin folgte ihm nicht. Abwartend und sprungbereit verharrte sie neben dem Sarg. »Du kommst hier doch nicht raus«, geiferte sie. »Du nicht!« George Tanner ließ sich nicht beirren. Noch ein Schritt trennte ihn von der letzten Treppenstufe. Er machte diesen Schritt mit dem linken Bein – und stolperte. Erschrocken riß George Tanner die Arme hoch. Instinktiv wollte er sich irgendwo festhalten, doch da war nichts. Tanner ruderte immer noch mit den Händen, als er bereits fiel. Das war die Chance für Elisa. Mit einem wahren Panthersatz war sie bei dem jungen Polizisten.
Ihr Körpergewicht nagelte George auf der Steintreppe fest. Hart drückten die Kanten in seinen Rücken. Zwei Hände hatten sich in seinen Haaren verkrallt, preßten den Kopf nach hinten, bogen ihn zurück wie eine Feder. Frei lag George Tanners Hals vor dem Gebiß der Untoten. Weit riß Elisa den Mund auf. Unersättlich war ihre Gier nach dem frischen Lebenssaft geworden. Verzweifelt bemühte sich George, sich aus dem Griff zu befreien, doch die Untote besaß gewaltige Kräfte. »Nein – nicht!« röchelte George Tanner. »Ich …« Da hatte der weibliche Vampir sein Ziel erreicht. Mit einem Ruck schlug er die Zähne in den Hals des jungen Polizisten …
* Die Fahrt zur MYSTERY SCHOOL glich einer einzigen Rutschpartie. John Sinclair konnte nur im Schrittempo fahren. Suko hockte mit dem Gesicht dicht vor der Scheibe und hielt nach besonders gefährlichen Glatteisstellen Ausschau. Der Wirt hatte zwar gesagt, es wäre kaum möglich, mit dem Wagen bis dicht an die Schule zu gelangen, doch John hatte keine Lust gehabt, die letzte halbe Meile zu Fuß zu gehen. Er schaffte es auch so. Das Gebläse arbeitete auf Hochtouren. Obwohl noch Mittag war, hatte die Sonne kaum Kraft. John Sinclair sah erste Nebelschwaden zwischen den Büschen umhergeistern. Die Schleier wirkten wie ein großes Gespinst. Und der Nebel hielt die Kälte über dem Boden fest. Noch eine Kurve, und dann konnten John Sinclair und Suko die Schule sehen. Es war ein altes Haus, dessen obere Stockwerke bereits im Nebel verschwammen.
John grinste erleichtert. »Gleich haben wir es hinter uns«, sagte er zu seinem chinesischen Freund. »Moment, John! Halt doch mal an!« Der Geisterjäger trat behutsam auf die Bremse und brachte den Leihwagen zum Stehen. Er drehte seinen Kopf zu Suko. »Was ist denn?« Der Chinese öffnete die Wagentür. »Rechts, zwischen den Büschen, habe ich ein Auto gesehen«, sagte er während des Aussteigens. Auch John verließ den Wagen. Er folgte Suko, der bereits die mit Eisschnee bedeckten Zweige zur Seite schob. Dann sah John den Wagen auch. Es war ein Mini-Cooper. Er stand mit der Schnauze zum Feld hin. Die beiden Türen waren abgeschlossen. John hauchte gegen die Scheibe, putzte mit dem Ärmel nach und konnte in das Innere des Minis sehen. Auf dem Beifahrersitz lag eine Straßenkarte und in der Ablage hinter der Schaltung zwei Autohandschuhe. Der Oberinspektor richtete sich wieder auf. »Nichts«, sagte er, »nichts, was verdächtig ist.« Suko ging um den Wagen herum. Er wirkte in seiner dicken Kleidung wie ein tapsiger Bär. »Komisch ist es schon«, meinte er. »Ich frage mich, weshalb jemand seinen Wagen hier abstellt. Ob der zur Schule wollte?« »Kann schon sein.« »Aber dann wäre ich an seiner Stelle bis zum Haus gefahren.« »Es sei denn, er hatte einen besonderen Grund, nicht gesehen zu werden«, spann John den Faden weiter. »Ja, das ist auch möglich.« »Komm.« John Sinclair schlug dem Chinesen auf die Schulter. »Laß uns wieder einsteigen. Wir haben schon genug Zeit
vertrödelt.« Fünf Minuten später hielten sie vor der MYSTERY SCHOOL. Genau wie George Tanner suchten auch John und Suko vergeblich nach einer Klingel. Und sie waren ebenfalls erstaunt, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. Nur wurden sie von einem Mann empfangen, der erstaunt die Augenbrauen hob und die Besucher kühl musterte. »Sie wünschen?« John Sinclair zückte seinen Ausweis. »Polizei?« »Ja.« »Haben Sie einen besonderen Grund, uns mit Ihrem Besuch zu beehren?« fragte der Mann. »Ich finde, das sollten wir doch besser drinnen besprechen«, schlug der Geisterjäger vor. »Bitte, dann kommen Sie.« Der Mann führte die beiden in ein nüchtern eingerichtetes Büro und bot ihnen zwei Plätze an. Er selbst setzte sich hinter einen Schreibtisch. »Ich habe doch recht, wenn ich annehme, daß Sie nicht an einem unserer Kurse teilnehmen wollen. Oder täusche ich mich da?« »Sie täuschen sich nicht«, entgegnete John, der Zeit genug gehabt hatte, den Mann zu mustern. Er war ein hagerer, asketischer Typ mit eisgrauen Haaren und unwahrscheinlich langen und schmalen Fingern. Sein Gesicht war ziemlich nichtssagend, und nur die strichdünnen, zusammengepreßten Lippen zeugten von einer gewissen Grausamkeit, die in diesem Kerl steckte. Der Mann trug einen dunklen, unmodernen Anzug mit schmalen Revers. Auch der Binder war nicht breiter als zwei aneinandergelegte Finger. »Sie wissen sicher, daß hier in der Gegend ein schreckliches Ver-
brechen geschehen ist.« »Sie meinen die Sache auf dem Friedhof?« »Ja, Mister …« »Oh, ich bitte um Verzeihung, daß ich mich noch nicht vorgestellt habe. Aber Ihr Besuch hat mich doch etwas aus der Fassung gebracht. Und dazu noch Scotland Yard. Mein Name ist Lethian. Ich leite diese Schule.« »Und sind auch verantwortlich für die Anzeigen?« fragte John. »Die in den Zeitungen erscheinen?« »Ja«, entgegnete der Geisterjäger. Mr. Lethian nickte. »Die habe ich aufgesetzt.« »Aber wir kommen vom Thema ab«, sagte John. »Der Mann, der auf solch gräßliche Art verstümmelt worden ist, heißt Graham Sounders. Kannten Sie ihn vielleicht?« Mr. Lethian spielte mit seinen Fingern. »Warum fragen Sie mich das, Sir?« »Sie sind nur einer von vielen, die ich befrage.« »Nun ja«, gab der Mann zu. »Ich habe ihn mal kennengelernt. Er ist einmal zu mir gekommen. Er interessierte sich eben für die Schule und wollte wissen, womit wir uns beschäftigen.« »Hat es ihm gefallen?« fragte John. »Nein.« »Das war eine deutliche Antwort«, sagte John. »Was lehren Sie hier eigentlich?« »Nichts, das ungesetzlich wäre, Sir.« »Damit ist meine Frage nicht beantwortet.« »Sony, Sie haben recht. Wir wollen – ganz grob gesagt – die Menschen auf ihren Tod vorbereiten. Sie sollen die Angst vor dem Jenseits verlieren, und aus diesem Grunde weihen wir sie in die Geheimnisse ein, mit denen sie nach ihrem Ableben konfrontiert werden.« »Das ist allerhand«, sagte John. »Aber woher wissen Sie über das
Jenseits so gut Bescheid? Waren Sie schon mal tot?« John hatte die Frage bewußt spöttisch formuliert. Lethians Gesicht verschloß sich. »Ich bitte Sie, Sir. Mit diesen Dingen treibt man keinen Scherz. Sie müssen als Polizist sehr realistisch sein, aber es gibt Vorgänge in unserer Welt, die man nur begreifen kann, wenn man seinen Geist auch für andere Dinge öffnet. Dann werden dem Schüler Gebiete aufgetan, die so weit sind, daß der Verstand nicht ausreicht, um nur den Bruchteil von dem zu erfassen, was wirklich zwischen unseren …« »Schon gut«, sagte John. »Wir sind hier, um ein Verbrechen aufzuklären.« Lethian sprang auf. »Meine Schule hat damit nichts zu tun!« »Das hat auch keiner gesagt«, sagte John. »Was wollen Sie dann noch?« »Mit Ihren Schülern reden.« »Das geht nicht.« »Und warum?« »Sie haben im Augenblick Meditationsstunde. Eine sehr wichtige Geistesübung, aus der ich sie nicht herausreißen kann, ohne daß bleibende Schäden verursacht werden.« »Ich möchte auch nur einen von den Schülern sprechen.« »Wen?« »Phil Sounders«, sagte John lächelnd. »Ist er verwandt mit …« »Hören Sie auf, Mr. Lethian«, fuhr John dem Mann in die Parade. »Phil Sounders ist Schüler bei Ihnen. Ich habe mich erkundigt. Oder wollen Sie, daß ich eine Hausdurchsuchung vornehme?« »Nein, nein. Nicht nötig. Warten Sie, ich werde Phil Sounders holen. Bitte entschuldigen Sie mich.« Lethian stand auf und verließ mit steifen Schritten sein Büro. Suko blickte John Sinclair an. »Glaubst du ihm?« fragte er. »Nicht die Bohne. Das ist ein ganz durchtriebener Halunke, der
uns noch schwer zu schaffen machen wird.« John stand auf und ging ans Fenster. Sein Blick schweifte nach draußen. Das Land schien unter Eis und Schnee erstarrt zu sein. »Weißt du, was mich wundert, Suko?« »Nein.« »Daß es in diesem Haus so still wie in einer Gruft ist. Kein Geräusch, keine Stimmen – nichts.« »Aber wenn die Schüler meditieren …« John drehte sich wieder um. »Glaub doch so etwas nicht. Alles faule Ausreden. Laß dir gesagt sein, diese Schule ist eine Gefahr. Vielleicht ist sie sogar ein Hort der Dämonen, aber das wird sich noch herausstellen.« »Was hast du vor?« »Erst einmal mit Phil Sounders reden.« »Und dann?« »Das andere wird sich alles noch ergeben. Auf jeden Fall werde ich mich in der Schule umsehen. Wenn es jetzt nicht möglich ist, dann eben später.« John verstummte, denn die Tür wurde geöffnet, und Mr. Lethian betrat wieder das Büro. »Phil Sounders wird sofort erscheinen«, sagte er. »Wie ich schon vorhin erwähnte, befand er sich in tiefer Meditation, und da dauert es immer ein wenig, bis man …« Lethians Gesicht hellte sich auf. »Ah, da ist er ja.« Phil Sounders betrat den Raum. Er sah genauso aus, wie Jane Collins ihn beschrieben hatte. Schwarze Haare, ein kühnes, scharfgeschnittenes Gesicht und dunkle Augen, über die jetzt allerdings ein Schleier zu liegen schien, denn der Blick war seltsam entrückt. Und noch etwas war anders. Phil Sounders trug keine normale Straßenkleidung, sondern ein langes schwarzes Gewand.
In der Mitte – etwa in der Höhe der Brust – prangte ein weißer Totenschädel …
* Er dachte und fühlte nicht mehr als Mensch! All das, was früher seine Persönlichkeit ausgemacht und was ihm inneren Halt gegeben hatte, war verschwunden, weggefegt wie eine Seifenblase vom Wind. Er war kein Mensch mehr. Er war ein Vampir. Und für ihn gab es nur eins. Blut! Menschenblut, um weiter existieren zu können. Wie aus einem tiefen Traum erwachend, schlug er die Augen auf In den ersten Sekunden sah er sich verwundert um. Dann aber bemerkte er die Frau, die mit katzengleichen Schritten auf ihn zuglitt. Es war Elisa. Und sie lächelte, zeigte dabei ihre nadelspitzen Zähne, an deren Enden noch winzige Blutstropfen schimmerten. Sein Blut. »Wie fühlst du dich?« Unendlich sanft kam ihm die Stimme der Frau vor. »Nicht gut«, erwiderte er. Elisa nickte teilnahmsvoll. »Das kann ich mir vorstellen. Du wirst gewiß Hunger haben.« Da begannen seine Augen zu leuchten. »Ja«, flüsterte er, und während er das Wort sagte, zog er die Lippen auseinander und bleckte selbst zwei dolchartige Vampirzähne. George Tanner war zu einem Vampir geworden. Elisas Biß hatte ihn dazu gemacht.
Jetzt stellte er fest, daß er noch immer auf den Stufen lag. Elisa reichte George die Hand, und er ließ sich willig von ihr hochziehen. Er ging ein Stück vor. Langsam und mit steifen Schritten. Sein Blick fiel auf Elisas Sarg. Augenblicklich blitzte es begehrlich in seinen Augen auf. Elisa hielt ihn fest. »Nicht jetzt«, sagte sie. »Heut abend bekommst du auch eine Ruhestatt. Aber zuvor mußt du noch einen Auftrag erledigen.« »Welchen?« »Du kennst die blonde Privatdetektivin, die in einem Gasthaus in Saxton wohnt?« »Ja.« »Hol sie zu uns!« George Tanner verkrampfte die Hände. »Warum? Es ist besser, wenn ich sie …« »Nein. Ihr Blut bekommst du nicht. Es gehört dem Meister.« »Schade. Wer ist der Meister?« »Du wirst ihn noch früh genug kennenlernen. Ihn und die anderen!« »Wer sind die anderen?« »Unsere Schüler. Es sind insgesamt zwanzig an der Zahl. Wir haben sie inzwischen soweit, daß noch in der folgenden Nacht die Vampirtaufe stattfinden kann.« »Warum habt ihr sie nicht sofort …?« Elisa trat dicht an den Mann heran und streichelte sein Gesicht. Er empfand die Berührung als angenehm. »Es wäre zu auffällig gewesen, mein Lieber. Wir mußten sie erst von ihren Familienbanden lösen. Das dauert immer seine Zeit. Aber jetzt haben sie sich endgültig losgesagt.« »Aber ich war Polizist«, sagte George Tanner. »Man wird nach mir suchen.« »Das macht nichts. Morgen sind wir stark genug, um gegen alle
widerstehen zu können. Aber das wirst du alles noch sehen. Ich darf dir nicht zuviel verraten, George Tanner – Geh jetzt, es ist deine Probe.« »Wieso Probe?« Elisa lächelte. »Jeder von uns hat eine Probe zu bestehen. Leider hat die letzte etwas viel Staub aufgewirbelt. Du weißt schon.« »Die Sache in der Leichenhalle?« »Ja.« Tanner lachte glucksend. »Dann wart ihr das doch.« »Ja. Phil Sounders mußte seine Mutprobe bestehen. So, jetzt reicht es aber. Geh und bring die Blonde her. Ihr Blut wird uns besonders guttun!«
* Jane Collins rauchte Kette. Sie drückte jetzt schon die sechste Zigarette hintereinander aus. Ihr Rachen war bereits trocken, auf der Zunge lag ein pelziger Geschmack. Der Tee in der Tasse war kalt. Ein einsamer Tabakkrümel schwamm auf der Oberfläche. Träge hing der Zigarettenrauch unter der Decke. Vor wenigen Minuten waren die letzten Gäste gegangen. Es waren vier Bauarbeiter gewesen, die in den nächsten Ort mußten. Wilma Chester setzte sich zu der Detektivin. »Um diese Zeit ist bei uns nie etwas los. Der Betrieb fängt immer erst am Abend an.« Jane nickte. Wilma Chester furchte die Stirn. »Was ist los mit Ihnen, Miss Collins? So kenne ich Sie gar nicht. Sind Sie trübsinnig?« Jane atmete tief ein. Sie drehte der Wirtin das Gesicht zu. »Ich weiß es auch nicht genau, Mrs. Chester, aber ich spüre das Unheil direkt in der Luft liegen.« »Ach, Unsinn.« Die Wirtin winkte ab. »Gestern noch, da hatte ich auch Angst, aber seitdem ich den Oberinspektor kennengelernt
habe«, sie machte eine kleine Sprechpause, »also wissen Sie, der Mann flößt mir Vertrauen ein. Man sieht ihm förmlich an, daß man sich auf ihn verlassen kann. So etwas findet man heutzutage selten. Glauben Sie mir, Miss Collins.« »Sicher, ich kenne John schon lange.« »Sie lieben ihn, nicht wahr?« Ein schmerzliches Lächeln grub sich in Jane Collins Mundwinkel. »Ja, Mrs. Chester, wahrscheinlich liebe ich ihn. Aber mit uns ist es wie mit den beiden Königskindern. Uns trennt zwar kein Wasser, aber in unserem Fall sind es die beiden Berufe. John Sinclair würde sich nie binden, dafür steht er zu weit oben auf der Abschußliste gewisser Mächte. Tja, das nennt man dann wohl Schicksal.« Tom Chester, der den stabilen Tresen gereinigt hatte, legte den Lappen weg. »Fertig«, sagte er. Wilma drehte sich auf ihrem Stuhl um. »Auch im Keller?« »Nein, da will ich jetzt noch runter.« »Aber vergiß die Whiskyflaschen nicht, Tom.« »Nein, nein, keine Angst.« Kopfschüttelnd verschwand der Wirt aus dem Gastraum. Die Tür zum Keller war nicht verschlossen. Ausgetretene Steinstufen führten in die Tiefe. Tom Chester knipste das Licht an. Unter der Decke befanden sich in unregelmäßigen Abständen Glühbirnen. Der Fliegendreck klebte auf ihnen wie eine zweite Schicht. Der Keller war praktisch ein einziger großer Lagerraum. Tom Chester hatte die Verschläge alle herausgerissen. Ein großer Kohlenhaufen reichte fast bis zur Decke. Daneben hatte der Wirt kleingehacktes Holz aufgestapelt. Dem Kohlenhaufen gegenüber befand sich das selbstgezimmerte Regal. Es war sehr stabil, und in ihm lagerten Konserven und Eingemachtes. Ganz unten standen die Kartons mit den Spirituosen. Viele
waren es nicht mehr. Tom Chester war noch nicht dazu gekommen, Nachschub zu besorgen, aber wie das Geschäft im Moment lief, brauchte er das auch gar nicht mehr. Halblaut zählte der Wirt die Kartons. Dreimal Gin und viermal Whisky. Tom Chester grinste, als er die verstaubte Flasche Wodka in der Ecke sah. Ein Russe hatte sie ihm mal geschenkt. Das war schon über fünf Jahre her. Chester bückte sich, um einen Karton hochzuheben. Da hörte er das Geräusch! Augenblicklich stand der Wirt wie angewachsen. Eine Gänsehaut rieselte über seinen Rücken. »Wilma, bist du’s?« Keine Antwort. Wird wohl wieder ‘ne Maus gewesen sein, dachte Chester und wollte in seiner Tätigkeit fortfahren. Plötzlich sah er die Gestalt. Tom Chester wirbelte herum. Sein Herz schlug bis zum Hals. Doch im nächsten Augenblick atmete der Wirt beruhigt auf. »Sie sind es, Sir. Mein Gott, haben Sie mich aber erschreckt.« George Tanner blieb stehen. Er war durch die Hintertür in den Keller gelangt. Das einfache Schloß hatte ihm keinen allzu großen Widerstand entgegengesetzt. Der Wirt lächelte gequält. »Warum sind Sie denn nicht vorn hereingekommen?« Daß Tanner die Tür aufgebrochen haben mußte, fiel ihm gar nicht ein. Tanner hob die Schultern. Hinter seinen Brillengläsern funkelten die Augen. »Ich bin in einem – sagen wir Geheimauftrag unterwegs.« »Aha, ich verstehe«, erwiderte Chester, obwohl er nicht verstand. Aber er wußte, daß Tanner von der Polizei war. Er hatte ihn auf der Beerdigung kennengelernt. Der junge Mann war ihm von Anfang an sympathisch gewesen. Aus diesem Grund hatte Chester auch keine
Scheu und fragte: »Darf man wissen, was das für ein Geheimauftrag ist?« »Später«, erwiderte Tanner mit belegter Stimme. Er hatte sich verkrampft. Die Gier nach Blut machte ihn fast verrückt. Nie hätte er gedacht, daß dieser Drang einmal so stark werden könnte. Lange genug hatte er sich beherrschen müssen. Auf der Fahrt zum Dorf waren ihm zwei Frauen begegnet, und nur mit äußerster Mühe hatte er sich zurückhalten können. Doch jetzt, wo das Opfer so dicht vor ihm stand, war es mit seiner Beherrschung vorbei. Er mußte das Blut von diesem Mann haben! »Na gut, dann gehen wir nach oben.« Tom Chester bückte sich, um den Karton mit Whiskyflaschen hochheben zu können. Plötzlich spürte er die Gefahr. Irgend etwas warnte ihn. Vielleicht war es nur eine allzu heftige Bewegung des Polizisten, auf jeden Fall drehte Tom Chester den Kopf. Da griff Tanner bereits an. Er bewegte sich wie ein Raubtier, den Mund halb offen. Deutlich sah Tom Chester die beiden höllisch scharfen Zähne. Tom öffnete den Mund, und ein wahnsinniger Schrei entrang sich seiner Kehle …
* John Sinclair sah sofort, daß mit Phil Sounders etwas nicht stimmte. Diese geistesabwesende Art, der Blick – nein, das war nicht normal. Phil Sounders schien unter Drogen zu stehen. Und das bis zur Halskrause. Oder aber man hatte ihn mit anderen Mitteln bearbeitet. Vielleicht sogar mit Mitteln der Schwarzen Magie. Auch Mr. Lethian hatte bemerkt, daß John etwas an dem Benehmen des Mannes aufgefallen war. Er beeilte sich, sogleich eine Erklärung abzugeben.
»Wie gesagt, Sir, die Schüler befanden sich mitten in der Meditation.« John winkte ab. »Ja, ja, schon gut.« Dann wandte er sich an Phil Sounders. »Wollen Sie sich nicht setzen, junger Mann?« Sounders nahm Platz. Steif, staksig, wie ein Roboter. »Ich weiß allerdings nicht, Sir, ob Phil in der Lage sein wird, Ihre Fragen zu beantworten«, sagte Mr. Lethian. »Ich fürchte, er wird Sie gar nicht richtig verstehen.« »Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Ach so, ja, was haben Sie ihm da eigentlich für eine Kutte übergezogen? Wozu dieser stilisierte Totenschädel?« »Das Symbol des Vergänglichen, Sir. Es ist gewissermaßen unser Zeichen.« »Verstehe.« Dann blickte John Sinclair den Schulleiter direkt an. »Würden Sie mich bitte mit dem Zeugen Sounders allein lassen?« Lethians Gesicht verschloß sich. »Nein«, sagte er, »das geht auf keinen Fall.« »Und wieso nicht?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß sich Phil Sounders in einem etwas desolaten Zustand befindet. Eine falsche Frage nur, und Sie könnten an seinem Tod schuld sein.« Der Geisterjäger nickte. »Ja, in einem desolaten Zustand ist er, Mr. Lethian. Aber ich kläre hier ein Verbrechen auf, und Phil Sounders ist ein sehr wichtiger Zeuge.« Lethian hob nur die Schultern. John begann wieder mit seinem Fragespiel. »Sagen Sie, Mr. Lethian, wie lange dauert solch ein Zustand meistens an?« »Das kann über Tage gehen.« »Verstehe ich nicht. Er muß doch auch an dem anderen Unterricht teilnehmen.« »Äh, also …« Lethian war leicht aus der Fassung gebracht worden. »Bei Phil Sounders verhält sich das ein wenig anders. Er gehört zu
einer Gruppe von Personen, mit denen wir besondere Tests durchführen. Deshalb diese Trance.« »Ja, man sieht es.« John trat auf Phil Sounders zu und hob dessen Augenlid an. Keine Reaktion. »Was meinst du dazu, Suko?« fragte der Geisterjäger seinen Freund und kniff ihm ein Auge zu. Der Chinese wußte längst, worauf John Sinclair hinauswollte. »Ich meine, wir könnten es schaffen«, sagte er. »Genau.« Mr. Lethian stand dabei und schaute von einem zum anderen. Gern hätte er gewußt, was John und Suko mit ihrem kurzen Dialog bezweckt hatten, aber er brauchte auch nicht lange zu warten, um Aufklärung zu erhalten. »Ihre Ausführungen waren sehr aufschlußreich, Mr. Lethian«, sagte der Oberinspektor. »Da Phil Sounders jedoch ein sehr wichtiger Zeuge ist, müssen wir ihn leider mitnehmen.« Lethian wurde bleich. »Das ist unmöglich!« zischte er. John lächelte beruhigend. »Keine Angst, Ihrem Schützling wird schon nichts passieren. Dafür verbürge ich mich. Wir fahren ihn in die nächste psychiatrische Klinik, wo man sich näher mit ihm beschäftigen wird. Sie können also ganz beruhigt sein.« »Das erlaube ich auf keinen Fall!« »Wie wollen Sie mich denn an der Ausübung meiner Pflicht hindern?« fragte John gefährlich sanft. »Das werden Sie schon sehen!« »Etwa mit Gewalt?« »Wenn es …« Lethian schluckte und verbiß sich die Bemerkung. Statt dessen sagte er: »Ich werde mich beschweren.« »Das können Sie tun. So – und jetzt lassen Sie die Kleidung des jungen Mannes kommen, ich möchte ihn nicht gern in diesem Jahrmarktaufzug mitnehmen.« Lethian starrte John sekundenlang an. Er öffnete den Mund, um
etwas zu sagen, ließ es aber bleiben, sondern drehte sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer. »Bin gespannt, was er jetzt unternimmt«, sagte Suko. »Ich auch.« John faßte Phil Sounders an der Schulter, doch der junge Mann rührte sich nicht. »Er steht wahrscheinlich unter Hypnose«, sagte Suko. Lethian kam zurück. Schneller als erwartet. Er trug Phil Sounders Kleidung über dem Arm. »Zieh dich aus!« befahl er dem jungen Mann. Phil Sounders gehorchte. Er streifte die Kutte über den Kopf. Darunter war er nackt. »Warum wecken Sie ihn nicht aus der Hypnose?« fragte John den Leiter der Schule. »Er steht nicht unter Hypnose.« John Sinclair hob die Schultern. »Wie Sie meinen.« Phil Sounders hoffe sich inzwischen angezogen. Er trug jetzt einen dicken Pullover, Jeans und einen Mantel, der mit Fell gefittert war. »Auf geht’s«, sagte der Geisterjäger und ging in Richtung Tür. Phil Sounders befand sich zwischen ihm und Suko. Lethian begleitete die Männer noch bis zum Ausgang. Alle drei sahen nicht das böse Lächeln auf seinem Gesicht. »Also dann«, sagte John Sinclair und drehte sich noch einmal um. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.« »Gern geschehen, Sir.« Beide Männer wußten, daß sie sich anlogen, ließen sich aber nichts anmerken. Suko war schon ein Stück vorgegangen. Er hielt Phil Sounders am Arm fest. John war mit wenigen Schritten bei ihnen. »Bin gespannt, wie dieser Lethian jetzt reagieren wird.« »Du hast Phil Sounders nur als Köder mitgenommen, wie?« John lächelte. »Richtig, Suko. Ich wollte diesenaalglatten Kerl aus der Re-
serve locken.« John holte die Wagenschlüssel aus der Tasche und ging schon vor, um die Autotür aufzuschließen. Da hörte er einen Schrei. Sinclair fuhr herum. Phil Sounders hatte den Schrei ausgestoßen. Verzweifelt versuchte er sich aus Sukos Griff zu befreien, doch der Chinese hatte die Kräfte eines Bären. John lief die paar Yards zurück. Phil Sounders wand sich wie eine Schlange. Er stieß keuchende Laute aus, die sich nach kurzer Zeit zu Worten und ganzen Sätzen formten. »Blut!« keuchte er. »Ich sehe überall Blut. Sie kommen. Ja, sie kommen. Sie werden uns zerfleischen. Ich sehe sie ganz deutlich.« John Sinclair packte ebenfalls mit zu. Hart rüttelte er den Mann an der Schulter. »Wer kommt, Phil? Wer? Los, sagen Sie es uns!« Sounders riß den Kopf herum. Sein Gesichtsausdruck war eine Grimasse der Angst. »Die Wölfe! Ich sehe sie genau. Sie sind schon unterwegs. Und dann die Vampire. Sie werden den Wölfen folgen. Lauft, lauft weg, sonst ist es zu spät!« John und Suko tauschten einen schnellen Blick. »Zum Wagen«, sagte der Geisterjäger. »Nein!« kreischte Phil Sounders. »Ich will nicht. Laßt mich!« Der Oberinspektor und Suko gaben kein Pardon. Sie zogen Phil Sounders kurzerhand mit sich. Sounders versuchte zu treten. Ein paarmal traf er die Männer auch in die Waden, doch die Tritte waren zum Glück nicht schmerzhaft. John Sinclair riß die Tür des Austin auf. Phil Sounders gelang es, sie wieder zuzutreten. »Verdammt!« sagte Suko. Er ballte die Hand zur Faust, um sie Sounders ans Kinn zu schmettern.
John fiel dem Chinesen in den Schlag. »Laß das, ich weiß nicht, welche Schäden er durch einen Schlag davontragen könnte. Wir werden es auch so schaffen.« »Glaube ich kaum«, sagte Suko. »Sieh mal zurück!« John Sinclair schaute in Richtung Schule und sah genau wie Suko und Phil Sounders die fünf wolfsartigen Bestien, die in langen Sprüngen heranhetzten. »Ich habe es euch doch gesagt!« schrie Sounders. »Die Wölfe, sie kommen und werden uns zerfleischen!« Im nächsten Augenblick begann er gellend zu lachen!
* Wie von der Sehne geschnellt, sprang Jane Collins hoch. Sie hatte den furchtbaren Schrei vernommen und dachte sofort an den Wirt, der in den Keller gegangen war. Wilma Chester war kreidebleich geworden. »Das – das war im Keller«, flüsterte sie. »Mein Gott, Tom – da ist was passiert!« Wilma sprang ebenfalls auf, wollte in den Keller laufen, doch Jane Collins hielt die Frau zurück. »Sie bleiben hier!« befahl die Detektivin. »Ich werde gehen!« »Aber Tom, er ist …« Jane ließ Wilma Chester gar nicht ausreden, es war auch schon so zuviel Zeit vergangen. Mit schnellen Schritten lief die Detektivin durch das Lokal und gelangte wenige Sekunden später an die offenstehende Kellertür. Das Licht brannte. Jane Collins nahm zwei Stufen auf einmal. Das fürchterliche Stöhnen und Keuchen drang ihr auf der drittletzten Stufe an die Ohren. Dann sprang sie in den Gang. Im ersten Moment war sie wie gelähmt. Sie mußte die unglaubli-
che Szene erst verdauen. Zwei Männer kämpften miteinander. Einer davon war George Tanner, der Polizist. Und er war – ein Vampir! Jane hatte das Gefühl, unter einem Schock zu stehen. Tanner hatte den Kopf gedreht, deutlich sah sie die dolchartigen Hauer. Tom Chester lag auf dem Boden. Er hatte die Augen weit aufgerissen, und in seinen Blicken leuchtete der Wahnsinn. Tanner löste sich von seinem Opfer. Jane sah die Blutperlen an den Zähnen schimmern und wußte, daß Tom Chester schon gebissen worden war. Hoffentlich noch nicht so stark, daß er bereits zum Vampir geworden war. In den Sekunden, die Jane blieben, suchte sie fieberhaft nach einem Ausweg. Sie hatte keine Waffe, mit der sie dem Vampir wirksam begegnen konnte, sie mußte sich was einfallen lassen. Tanner kam näher. Er hatte seine Brille verloren, wie starre Murmeln wirkten seine Augen. »Auf dich habe ich gewartet«, flüsterte er rauh. »Dein Blut wird uns besonders stärken!« »Wer ist uns?« setzte Jane augenblicklich nach. Während sie die Frage stellte, war sie zurückgegangen, wieder auf die Treppe zu. Sie wollte versuchen, den Vampir aus dem Keller zu locken, nach oben hin, wo die Knoblauchstauden hingen. Doch diesen Plan machte Wilma Chester zunichte. Sie hatte es in der Gaststätte allein nicht mehr ausgehalten, wollte unbedingt wissen, was mit ihrem Mann geschehen war. Mt stolpernden Schritten lief sie die Stufen herunter. Jane hörte die Schritte hinter sich und drehte sich um. »Nicht, Mrs. Chester! Bleiben Sie oben!« Janes Warnung kam zu spät. Wilma Chester hatte schon ihren Mann entdeckt, der am Boden lag und keinen Ton von sich gab. Wilma stieß die Detektivin, die ihr
im Wege stand, kurzerhand zur Seite und lief auf ihren Gatten zu. Jane wollte die Frau noch festhalten, doch sie faßte ins Leere. Wilma Chester rannte genau in die Fänge des Vampirs. In ihrer Aufregung hatte die Frau gar nicht mitgekriegt, welch ein Unhold sich noch im Keller aufhielt. Sie hatte nur Augen für ihren Mann gehabt. Und als sie plötzlich die stahlharten Griffe an ihren Schultern spürte und dicht vor sich das aufgerissene blutgierige Maul des Vampirs sah, überfiel sie schlagartig die Todesangst. Wilma Chester schrie. Tanners Klaue würgte ihren Schrei ab. Er riß die Frau herum, heulte triumphierend auf und riß ihr mit einem Ruck das hochgeschlossene Kleid entzwei, so daß der Hals frei vor ihm lag. Da fegte Jane Collins heran. Ihre brettharte Handkante rammte gegen den Hals des Unholds. Bei einem Menschen hätte der Schlag eine absolut paralysierende Wirkung gehabt, der Vampir jedoch wurde nur zu Boden geworfen und ließ sein Opfer dabei glücklicherweise los. Schreiend kroch Wilma Chester zu ihrem Mann. Sie barg ihren Kopf wimmernd an seiner Brust. Obwohl die beiden Eheleuten vor Angst bald wahnsinnig wurden, konnten sie sich der Faszination des Kampfes zwischen Mensch und Bestie nicht entziehen. »Du hast keine Chance!« keuchte der Untote. »Ich werde es immer schaffen. Gib auf!« Er versuchte, nach Jane Collins zu greifen, doch die sport- und kampfgestählte Detektivin war zu wendig. Sie wich geschickt aus und lockte den Untoten dabei immer weiter von den beiden Wirtsleuten weg. Noch empfand der Vampir das Ganze als ein Spiel. Er war sicher, daß ihm Jane nicht entkommen konnte, deshalb ließ er es auch zu, daß sie sich auf die Treppe zubewegte. Jane hatte die erste Stufe erreicht, da sprang Tanner wieder vor. Blitzschnell riß die mutige Frau das rechte Bein hoch, und dann
prallte ihr Fuß dem Untoten dicht unter dem Hals gegen die Brust. Tanner wurde zurückgeworfen. Mit dem Rücken schlug er auf dem Boden auf, war aber sofort wieder auf den Beinen. Und furchtbar wütend. Jane Collins hatte die Zeit genutzt und war schon die Hälfte der Treppe hinaufgelaufen. Der Vampir rannte ihr nach. An die beiden Menschen im Keller dachte er nicht mehr, er wollte diese blonde Frau haben, um seinen Auftrag erfüllen zu können. In seinem unwahrscheinlichen Haß lief der Untote genau in Jane Collins Falle. In langen Sätzen hetzte er die Stufen hoch. Jane hatte ihn etwas näher herankommen lassen, wollte ihn noch mehr reizen. Sie wußte selbst nicht, woher sie den Mut dazu nahm, aber in den entscheidenden Augenblicken war sie immer eiskalt. Jane erreichte mit einem knappen Vorsprung die Kellerür. Sie schlüpfte hindurch und knallte sie gedankenschnell hinter sich zu. Der Vampir rannte gegen das Holz. Es gab einen dumpfen Aufprall, und Jane Collins hörte den wilden, wütenden Schrei. Aber da hatte sie schon den Gastraum erreicht. Sie sah die Knoblauchstauden von den verräucherten Deckenbalken hängen, gab ihrem Körper den nötigen Schwung und sprang mit gestreckten Armen hoch. Die Finger ihrer rechten Hand krallten sich um eine Staude, rissen sie herunter. Da stürmte der Vampir durch die Tür. Vier Schritte brachten ihn in den Gastraum. Und plötzlich geschah das Unerwartete. Der Untote blieb stehen. Seine Augen weiteten sich. Er schüttelte den Kopf, aus seinem
Mund drang ein schreckliches Ächzen, er krümmte sich zusammen und begann zu taumeln. Die abschreckende Wirkung des Knoblauchs hatte ihn voll getroffen! Für einige Augenblicke war er hilflos. Das wußte auch Jane Collins. Und bevor sich der Vampir wieder zurückziehen konnte, mußte sie ihn kampfunfähig gemacht haben. Jane nahm allen Mut zusammen und rannte auf den Unhold zu. Sie hatte von der Knoblauchstaude eine Knolle abgerissen, packte den Vampir an den Haaren, riß seinen Kopf in den Nacken und stopfte ihm die Knoblauchknolle zwischen die gräßlichen Zähne, bis weit in den Rachen hinein. Der Vampir wankte zurück. Er würgte. Seine Augen drehten sich. Aber Jane ließ George Tanner gar nicht erst zur Ruhe kommen. Weitere Knollen steckte sie ihm in die Kleidung, und den Rest der Staude drehte sie um seinen Hals. Der Vampir brach zusammen. Zuckend lag er auf dem Boden und stieß undefinierbare Laute aus. Wilder Schmerz zeichnete sein Gesicht, der Knoblauch mußte ihm unwahrscheinlich zu schaffen machen. Er war auch nicht in der Lage sich zu befreien, die unsichtbaren Bande hielten ihn fest. Jane hatte erst schon überlegt, ob sie den Vampir töten sollte, dann jedoch von diesem Vorhaben Abstand genommen. Nein, dieser Kerl konnte ihr noch wertvolle Dienste erweisen. Aber erst einmal mußte sie dem Wirtsehepaar Bescheid geben. Jane lief zur Kellertreppe und meldete, daß von dem Vampir keine Gefahr mehr drohte. Sie mußte zweimal rufen, ehe Wilma und Tom Chester die Treppe hochkamen. Die beiden stützten sich gegenseitig. Tom rieb sich dabei noch seinen Hals. »Lassen Sie mal sehen«, sagte Jane. Sie zog die Hand des Wirtes weg und sah die beiden Druckstellen im Fleisch und den dünnen
Blutfaden, der in den Pulloverkragen sickerte. Der Wirt schüttelte den Kopf. »Er hat es noch nicht geschafft«, sagte er. »Die Haut ist wohl geplatzt, aber er hat noch nicht zubeißen können.« Jane Collins atmete auf. »Sie können sich gar nicht vorstellen, Mr. Chester, welch ein Glück Sie gehabt haben. Eine Sekunde später, und Sie wären ebenfalls ein Geschöpf der Nacht, das ich hätte töten müssen.« Der Wirt sah betreten zu Boden. Er hatte seinen linken Arm um die Schulter seiner Frau gelegt, und Jane sah, wie sehr die Hände zitterten. »Haben Sie den Vampir erledigt?« fragte Wilma mit schwacher Stimme. »Nicht ganz«, erwiderte Jane. Angst flackerte in Wilmas Blicken auf. Die Detektivin legte der Frau beruhigend die Hand auf die Schulter. »Sie brauchen aber trotzdem keine Angst zu haben, Mrs. Chester. Ich habe den Unhold unschädlich gemacht. Ihr Knoblauch hat mir dabei sehr geholfen. Kommen Sie mit, und sehen Sie selbst. Aber bitte, erschrecken Sie sich nicht.« »Nein, nein.« Jane ging vor, und als die beiden Chesters ihre Gaststube betraten, hatte Wilma doch Mühe, einen Schrei zu unterdrücken. Das Bild, das sich bot, war wirklich nichts für schwache Nerven. Der Vampir wälzte sich auf dem Boden. Er war seltsam grau im Gesicht. Spitz traten die Wangenknochen hervor. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Er hatte es nicht geschafft, den Knoblauchknollen aus dem Mund zu stoßen. Zu schwach waren seine Reflexe. »O mein Gott«, flüsterte Wilma Chester nur. »Was werden Sie denn jetzt tun, Miss Collins?« »Chiefinspektor Sherman anrufen. Schließlich war Tanner ja mal sein engster Mitarbeiter.«
»Und was geschieht dann? Wollen Sie den Vampir denn nicht töten?« fragte der Wirt und schüttelte sich. »Nein!« »Warum das denn nicht?« »Weil ich in diesem Mann einen phantastischen Trumpf habe, den mir so leicht keiner mehr wegnimmt. Er wird uns über die Geheimnisse der MYSTERY SCHOOL aufklären können, und vielleicht, Mr. Chester, kann er uns auch hinführen.«
* John Sinclair handelte innerhalb der nächsten Sekunden. Entschlossen schnappte er sich Phil Sounders und zerrte ihn auf den Wagen zu. Als Sounders sich immer noch wehrte, war es der Oberinspektor leid. Mit einem wohl dosierten Schlag schickte er den jungen Mann ins Reich der Träume. Suko hatte inzwischen den gefährlicheren Teil der Aufgabe übernommen. Er hatte sich den Wölfen gestellt. Breitbeinig stand der riesenhafte Chinese da. Die hindernde Jacke hatte er sich vom Körper gerissen. Die Bestien jagten heran. Sie schienen förmlich über den Boden zu fliegen, so schnell waren sie. Der erste Wolf flog auf Suko zu. Der hünenhafte Chinese warf sich ihm entgegen und packte ihn mitten im Sprung. Beide Hände umklammerten die Kehle der Bestie. Suko stieß einen Schrei aus, drehte sich und schmetterte den Wolf zu Boden. Mit gebrochenem Genick blieb das Tier tot liegen. Den zweiten Wolf schaffte sich Suko mit einem mörderischen Karatetritt vom Leib, den dritten schlug er mit der Handkante bald entzwei. Dann war John Sinclair an der Reihe.
Er hatte Phil Sounders endlich in den Wagen geschafft und danach sofort seine Pistole gezogen. Der Geisterjäger schoß wie im Training. Die Detonationen der Schüsse zerrissen die Stille des langsam schwindenden Tages und rollten als grollende Echos über das vereiste Land. Die blutgierigen Bestien überschlugen sich mehrmals mitten im Sprung und rutschten dann tot über den glatten Boden. Vier Wölfe lebten nicht mehr. Der fünfte, den Suko mit einem Tritt gestoppt hatte, zog humpelnd und winselnd davon. Die beiden Männer ließen ihn laufen. Der Chinese wandte sich aufatmend um. »Bin gespannt, ob der Kerl noch mehr von diesen Tierchen auf Lager hat«, sagte er, rieb sich die klamm gewordenen Hände und zog seine Jacke wieder an. John steckte die Pistole weg. »Keine Ahnung, aber ich bin sicher, daß unser Kampf beobachtet worden ist.« Suko grinste. Er fühlte sich richtig in Form. »Und jetzt? Sollen wir den Laden da auseinandernehmen?« Der Oberinspektor überlegte einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, noch nicht. Ich muß erst noch mehr über die Schule wissen. Unser Freund da drin«, John deutete auf den Wagen, »wird uns bestimmt noch einiges sagen können. Ich schätze, daß wir dann eine Polizeiaktion starten können.« »Ist das nicht zu aufwendig?« Sinclair hob die Schultern. »Wir werden sehen.« Die beiden Männer stiegen ein. Phil Sounders lag auf dem Rücksitz, bewußtlos. Suko setzte sich aber sicherheitshalber in den Fond. »Für den Fall, daß unser Freund etwas früher aufwacht, als er soll«, meinte der Chinese. John nickte nur und ließ den Motor an. Vorsichtig wendete er den Wagen auf dem schmalen Weg. Dann fuhr er langsam zurück. Von den Bewohnern der Schule hatte sich niemand mehr blicken lassen.
Die Sonne ging unter. Nicht mehr lange, und es würde dunkel John und Suko sahen beide nicht, wie sich aus einem Fenster an der Rückseite der Schule eine Gestalt löste und mit weiten Flügelschlägen in die Luft stieß. Eine Fledermaus! Sie war halb so groß wie ein Mensch, ihr Gebiß höllisch scharf, und sie war geschickt worden, um das Blut der beiden Dämonenjäger zu trinken. Dieser Vampir gehörte zu den beiden, mit denen Jane Collins im Keller des Soundersschen Hauses gekämpft hatte. Seit dieser Zeit gierte der Vampir nach Blut. Er hatte den Tod seines Kameraden noch nicht vergessen. Und nun stand seine Bewährungsprobe an. Gleich zwei Opfer auf einmal. Aber noch war es nicht soweit. Noch fuhren John und Suko unbehelligt weiter. »Der Wagen ist weg«, sagte Suko plötzlich. Der Oberinspektor schaltete nicht sofort. »Welcher Wagen?« »Der bei unserer Hinfahrt in den Büschen gestanden hat. Komisch.« John mußte wieder zurück in den zweiten Gang schalten. »Glaubst du denn, daß er etwas mit unserem Fall zu tun hat?« »Ja, das Gefühl habe ich.« John gab keine Antwort mehr, er mußte sich jetzt ganz auf die Fahrbahn konzentrieren. Es war nur ein schmaler Weg, angereichert mit Eisbuckeln, auf denen die Reifen verrückt spielten und immer wieder abrutschten. Sie fuhren jetzt durch ein kleines Wäldchen, das durch die Schneemassen zu einer regelrechten Postkartenidylle geworden war. Die Zweige der Fichten bogen sich unter der weißen Last. Andere Baumstämme waren mit einer glitzernden Eisschicht überzogen. John hatte bereits die Scheinwerfer eingeschaltet. Die gelben Lichtlanzen tanzten über den weißen Weg.
»Wenn uns jetzt jemand entgegenkommt, können wir noch nicht mal ausweichen«, bemerkte Suko. »Dann werden wir eben fliegen«, erwiderte John trocken. »Übrigens, was macht eigentlich unser Freund Sounders?« Suko lachte. »Der schläft noch.« Fünf Sekunden später verging dem Chinesen allerdings das Lachen. Da konnte er nur noch »Vorsicht!« schreien, aber das Unheil war nicht mehr aufzuhalten. Etwas Dunkles, Großes flog von der linken Seite her auf den Austin zu. Instinktiv trat John auf die Bremse. Der Wagen rutschte weiter, auf den Straßengraben zu, und ehe er zum Stillstand kam, zersplitterte schon die Scheibe. Sie bestand an den Seiten nicht aus Verbundglas. Suko hatte reaktionsschnell seinen Arm hochgerissen, und über den Arm hinweg sah er genau in das weit aufgerissene Gebiß einer Fledermaus. Ein schreckliches Fauchen schlug ihm entgegen. Blutunterlaufene Augen starrten ihn an. John hatte sich auf seinem Sitz herumgeworfen. Ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken. »Aus dem Wagen!« schrie der Oberinspektor, riß selbst die Tür auf und warf sich ins Freie. Er paßte nicht auf, rutschte aus und fiel zu Boden. Er hätte sich selbst ohrfeigen können, daß er seine mit geweihten Silberkugeln geladene Pistole nicht im Holster stecken hatte. Der Koffer mit den Waffen für eine erfolgreiche Dämonenbekämpfung lag im Kofferraum. Der Geisterjäger rappelte sich wieder hoch und lief zum Heck des Wagens. Zum Glück hatte er den Zündschlüssel abgezogen, an dessen Bund auch der Schlüssel zum Kofferraum hing. Inzwischen war es Suko gelungen, ebenfalls den Wagen zu verlas-
sen. Phil Sounders hatte er mitgezogen und ein Stück weiter kurzerhand in den Schnee geworfen. Der gefährliche Flugvampir hatte sich aus dem Wagenfenster befreit, schraubte sich in die Luft und schoß im Sturzflug auf Suko zu. Der Chinese brachte sich mit einem gewaltigen Sprung zwischen den Bäumen in Sicherheit. Schnee und Eis rieselten auf ihn herab, und der blutrünstige Vampir verfehlte ihn. Er drehte eine enge Schleife und griff sofort wieder an. Diesmal flog er dicht über den Boden und ließ dem Chinesen keine Chance, ihm auszuweichen. Die beiden prallten aufeinander, und augenblicklich begann ein verbissener, mit aller Härte geführter Kampf. Der Vampir versuchte mit seinen Zähnen zuzustoßen, doch Suko drehte immer wieder seinen Kopf zur Seite. Die mörderischen Hauer verfehlten ihn. Der Vampir hatte sich in Sukos Kleidung verkrallt. Es gelang ihm sogar, mit seiner nicht menschlichen Kraft den starken Chinesen zurückzudrängen. Suko fiel gegen eine Fichte, die unter seinem Gewicht zusammenbrach. Jetzt hatte der Vampir die Oberhand. Er breitete seine Schwingen aus, um sich in die beste Position zu bringen, aus der er seinen entscheidenden Angriff führen konnte. Da stand John Sinclair plötzlich hinter der Bestie. Er hatte es endlich geschafft, die mit geweihten Silberkugeln geladene Pistole hervorzuholen. Er stieß den linken Arm vor, und seine Finger gruben sich in die lederartige Haut des Vampirs. Die Bestie drehte den Kopf. Kleine, blutunterlaufene Augen starrten den Oberinspektor an. John Sinclair sprang zurück und hob die Waffe. Da lachte der Vampir, denn er wußte genau, daß ihn eine Kugel nicht töten konnte. »Die Pistole ist mit Silberkugeln geladen«, sagte John Sinclair. Er
sah noch das Erschrecken in den Augen des Vampirs, dann drückte er ab. Dicht unterhalb des Kopfes traf er die Fledermaus in den Leib. Gleich zweimal. Die Bestie wurde zurückgestoßen. Ein gequälter, nahezu menschlicher Schrei gellte aus dem Maul der blutsaugenden Bestie. Sie drehte sich ein paarmal um die eigene Achse, Blut strömte aus den Wunden. Das Blut unschuldiger Opfer. Eine schreckliche Verwandlung ging mit dem Monster vor. Die lederartige Haut verschwand, genau wie die Schwingen und der übrige Leib. Vor John und Suko stand plötzlich ein verletzter, nackter Mensch, der langsam zusammensackte und innerhalb von Sekunden zerfiel und zu Asche wurde. Suko rappelte sich mühsam vom Boden hoch. Er grinste schon wieder. »Ich glaube, das war’s«, sagte er. »Teufel, noch ein paar von den Überraschungen, und ich werde ernstlich böse. Bin nur gespannt, was dieser komische Lethian jetzt sagen wird. Erst die Wölfe, dann der Vampir.« Suko klopfte sich den Schnee von der Kleidung. »Naja, wir werden ihm ja noch mal gegenüberstehen.« Suko wurde von John Sinclair unterbrochen. »Da, dein Schützling wird wach.« In der Tat. Phil Sounders versuchte sich stöhnend aufzurichten. Sein Blick war völlig klar, allerdings verständnislos. John Sinclairs Schlag mußte die Hypnose wohl aufgehoben haben. Phil blickte die beiden Männer an. »Wo – wo bin ich?« fragte er. »Und wer sind Sie?« Plötzlich hatte er Angst und wollte davonkriechen, doch Suko war mit zwei Schritten bei ihm und hob ihn spielerisch leicht auf die Beine. »Keine Sorge, mein Freund, du befindest dich hier in guten Händen. Der Herr dort ist Oberinspektor Sinclair von Scotland Yard, und zu mir kannst du Suko sagen.«
»Stimmt das, Sir?« erkundigte sich Phil Sounders zögernd bei John. Der Geisterjäger nickte. »Ja, mein Freund hat recht.« »Aber wie komme ich hierher? Was ist überhaupt geschehen?« Phil Sounders schüttelte verständnislos den Kopf, verzog aber dann das Gesicht, weil die Nachwirkungen des Schlages noch nicht völlig abgeklungen waren. »Das ist eine lange Geschichte, Phil, die ich Ihnen besser in Saxton erzähle.« »Ja, natürlich. Komisch, ich habe an die letzten Tage so gut wie gar keine Erinnerung mehr. Irgend etwas muß mit mir geschehen sein.« John und Suko tauschten einen bezeichnenden Blick. Dann gingen sie zum Wagen. Phil Sounders setzte sich in den Fond, während Suko auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Mit seinem fahrerischen Geschick gelang es dem Oberinspektor, den Austin aus dem Graben zu rangieren. »Mein Onkel ist tot«, sagte Phil Sounders plötzlich, als sie schon fast eine halbe Meile gefahren waren. »Das stimmt«, erwiderte John. Im Innenspiegel sah er, wie Phil Sounders den Kopf senkte. »Wissen Sie auch noch, was danach geschehen ist?« erkundigte sich John. »Teils, teils. Einmal war ich in Saxton, in der Gastwirtschaft, aber dann ist der Faden wieder gerissen. Halt, da war noch eine blonde Frau, die ich in dem Lokal getroffen habe. Ich wollte sie …« Phil Sounders hob die Schultern. »Tut mir leid, ich weiß nichts mehr.« »Keine Angst, wir werden Ihnen schon wieder auf die Sprünge helfen«, erwiderte John. »Aber jetzt freuen Sie sich erst mal auf einen heißen Tee. Den haben wir uns nämlich alle drei verdient.« Der Vampir schrie! Markerschütternd hallte das Gebrüll des Untoten durch den Raum. Es jagte den anwesenden Menschen kalte Schauerüber den Rücken, und vor allen Dingen die beiden Wirtsleute standen steif
vor Entsetzen. Das silberne Kreuz in John Sinclairs Hand zitterte nicht. Eine Handbreit vor den Augen des Vampirs stand er mit dem Kreuz wie ein Felsblock. Ruhig, unerschütterlich! Der Geisterjäger hatte dem Vampir den Knoblauch aus dem Mund genommen, hielt ihn aber dafür mit seinem silbernen geweihten Kreuz in Schach. John wollte von dem Vampir Informationen, und die konnte er nur auf eine bestimmte Art und Weise erhalten. »Du hast Angst vor dem Kreuz?« fragte der Geisterjäger. Der Vampir nickte hastig. In seinen Blicken lag die nackte Todesangst. John Sinclair lächelte kalt. Dann sagte er: »Wenn ich dich mit dem Kreuz berühre, wird deine Haut verbrennen wie Papier, du weißt das, George Tanner.« John hatte den Namen von Jane Collins erfahren. »Aber es gibt eine Möglichkeit der Rettung für dich«, fuhr der Oberinspektor fort. In den Augen des Vampirs glomm ein Hoffnungsfunke auf. »Welche?« ächzte er. Sinclair schüttelte den Kopf. »Nur nicht so hastig, mein Freund. Alles der Reihe nach. Erst bin ich einmal dran. Was hast du hier gewollt? Bist du nur aus reiner Blutgier gekommen, oder hattest du einen Auftrag?« »Einen Auftrag«, flüsterte der Untote. »Welchen?« »Die blonde Frau. Ich – ich sollte die blonde Frau holen.« John drehte den Kopf. »Damit meint er dich, Jane.« »Ich weiß«, erwiderte die Detektivin, die neben dem Oberinspektor stand. »Frag weiter.« John wandte sich wieder an den ehemaligen Polizisten. »Und
dann? Was solltest du mit der blonden Frau machen?« »Ich – ich durfte sie nicht töten. Der Meister wollte sie haben. Ich sollte sie in die Schule bringen.« »Wer ist der Meister?« hakte John Sinclair sofort nach. »Ich weiß es nicht.« »Ist es Mr. Lethian?« »Keine Ahnung.« John brachte das Kreuz noch näher an das Gesicht des Vampirs, so daß sich die Ausstrahlung des geweihten Metalls noch verstärkte. »Ich weiß es wirklich nicht!« kreischte der Untote. »Ich – ich habe ihn noch nie gesehen. Glauben Sie mir. Nehmen Sie das Kreuz weg! Ich tue alles, was Sie sagen – nur nehmen Sie es weg.« John zog das Kreuz wieder etwas zurück. Der Vampir stöhnte. Lang ausgestreckt lag er auf dem Boden. Um ihn herum hatten die Zuschauer einen Halbkreis gebildet. Tom Chester hatte das Lokal geschlossen. An diesem Abend wollte er keine Gäste mehr haben. Jane Collins und Wilma Chester hatten sich um Phil Sounders gekümmert. Der junge Mann hatte seinen Schock noch längst nicht überwunden. Im Augenblick saß er an einem der Tische und trank ein Glas Tee. Jane Collins und John Sinclair hatten untereinander die Informationen ausgetauscht und ein weiteres gemeinsames Vorgehen besprochen. Suko hatte in einer Nebenstraße den Wagen gesehen, der auf der Fahrt zur Schule zwischen den Büschen geparkt hatte. Jetzt war natürlich klar, daß George Tanner der Besitzer des Wagens war. Von Tanner hatte John auch erfahren, wer Elisa war und wie sie den jungen Mann in die teuflische Falle gelockt hatte. Ihm war nicht mehr zu helfen. George war völlig dem Bösen verfallen. Jane Collins hatte Chiefinspektor Sherman telefonisch benachrichtigt. Der Beamte war auf dem Weg nach Saxton. Bei den herrschenden Straßenverhältnissen würde es jedoch noch etwas dauern, bis er hier eintraf. Und so lange wollte John Sinclair nicht warten.
Er zog Jane Collins ein wenig zur Seite. Sie war die einzige, mit der er seinen Plan besprechen konnte. Suko hielt vor dem Haus Wache. Er sollte die anderen vor unliebsamen Überraschungen bewahren. »Setzen wir uns«, sagte der Geisterjäger. Er und Jane nahmen an einem der Tische Platz. John hatte dem Vampir die Knoblauchknolle wieder in den Mund gestopft. Der Untote lag völlig apathisch auf dem Boden. John Sinclair bot Jane Collins eine Zigarette an, die sie dankend entgegennahm. Jane blies den Rauch aus gespitzten Lippen gegen die Decke. Dann sagte sie: »Du willst in die Schule.« »Ja.« »Und wie?« John lächelte schmal. »Der Vampir wird mir dabei helfen. Und du natürlich.« »Wieso ich?« »Du wirst mit ihm gehen und so tun, als hätte er dich geschafft.« Jane lachte. »Das wirst du wirklich zulassen? Sonst hattest du doch immer Angst um mich.« »Diesmal bin ich ja in der Nähe. Es ist wichtig, daß der Untote dich in die Schule schleust. Wenn du erst mal drin bist, dürfte es dir keine Schwierigkeiten bereiten, uns hereinzulassen. Alles andere wird sich dann ergeben.« »Das klingt gut.« Jane Collins nickte. »Ach so, hast du schon mal was von einer Vampirtaufe gehört, die der Untote erwähnt hat? Angeblich soll sie heute nacht stattfinden.« »Ja, ich weiß, was damit gemeint ist«, erwiderte John. »Es ist ein uraltes Ritual, das sich in Vampirkreisen bis in die heutige Zeit gehalten hat.« »Erzähl mal.« »Ganz einfach. Der junge Vampir trinkt das Blut seines Meisters
und ist damit für alle Zeiten an ihn gekettet. Die Bande sind ungeheuer stark, und es gibt kaum eine Möglichkeit, sie zu lösen. Es sei denn, der Vampir würde vernichtet.« Jane drückte die Zigarette aus. »Hört sich ja schaurig an, deine Geschichte.« »Ist sie auch.« »Und wann soll unsere Aktion starten?« fragte die blonde Detektivin. John blickte auf seine Uhr. »Wir werden noch zwei Stunden warten und dann losfahren.« »Ist das nicht zu spät?« »Wieso?« »Dieser Meister erwartet doch bestimmt die Rückkehr seines Schützlings.« Jane hob die Schultern. »Ich weiß nicht so recht, das alles gefällt mir nicht. Der Plan birgt zu viele Risiken.« »Hast du einen besseren?« erkundigte sich John. »Ja.« »Dann raus damit!« »Ich verschwinde jetzt schon mit dem Vampir. Ihr kommt dann später und paukt mich raus.« »Nein, nein.« John schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist viel zu gefährlich. Du gerätst mitten in eine Hölle. Schlag dir deinen Plan aus dem hübscher Kopf.« »Aber John, ich …« Jane Collins unterbrach sich, denn Phil Sounders war an ihren Tisch getreten. Er hatte die letzten Worte gehört. Sounders hatte sich wieder einigermaßen gefangen, sah aber trotzdem noch sehr blaß aus. Nur unter seinen Augen lagen tiefe dunkle Ringe. Sie zeugten von den durchstandenen Strapazen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« fragte Sounders. »Bitte.« John deutete mit der Hand auf einen freien Stuhl. Sounders nahm Platz. Nervös spielte er mit seinen Fingern. »Ich habe un-
freiwillig Ihre Unterhaltung gehört, und ich glaube, ich habe bei Ihnen, Miss Collins, noch etwas gutzumachen. Ich werde Sie im Kampf gegen Lethian unterstützen. Ich weiß, wie man ungesehen in die Schule gelangt und kenne das Gebäude. Es stimmt, daß heute nacht die Vampirtaufe stattfinden soll. Und da meine ich, sollten wir eingreifen.« John atmete tief ein, ehe er weitersprach. »Ihr Vorschlag ehrt Sie, Mr. Sounders, aber ich schätze, in Ihrem Zustand sind Sie gar nicht in der Lage, uns helfen zu können.« »Das sagen Sie mal nicht.« Sounders schüttelte den Kopf. »Ich war verrückt und habe mich blenden lassen. Und so wie mir ging es vielen anderen. Es sind noch insgesamt zwanzig Schüler in der MYSTERY SCHOOL. Normale Menschen, die noch nicht zu Vampiren gemacht worden sind. Es gab welche, das will ich nicht bestreiten. Miss Collins hat ja einen von ihnen gelötet, indem sie ihm den Kopf abgeschlagen hat.« »Und einen habe ich vernichtet«, sagte John. »Dann ist nur noch Elisa da.« »Welche Rolle spielt sie?« wollte John wissen. »Sie ist die rechte Hand und die Geliebte des Meisters. Durch sie ist Lethian erst zu dem geworden, was er jetzt ist. Er hat uns mal seine Geschichte erzählt. Lethian ist von Geburt Rumäne. Er hat sich schon von Jugend an mit dem Vampirismus beschäftigt. Er hat in alten Büchern und Aufzeichnungen gestöbert und schließlich in einem wilden einsamen Tal in den Karpaten Elisas Grab entdeckt. Elisa ist bestimmt schon ein paar hundert Jahre alt. Auf jeden Fall hat Lethian sie wieder zum Leben erweckt, und aus Dankbarkeit hat sie ihn mit finsteren magischen Riten vertraut gemacht. Sie hat Kontakt mit Belphegor, einem der führenden sieben Dämonen, die das Gegenstück zu den Erzengeln bilden. Nun, sie haben Belphegor beschworen, und er hat seinen schwarzen Segen gegeben. Lethian ist nach England ausgewandert oder vielmehr geflüchtet. Hier hatte er we-
sentlich bessere Möglichkeiten, stand unter keiner Kontrolle und konnte schalten und walten. Er hat die MYSTERY SCHOOL gegründet, ist durch Anzeigen in verschiedenen Zeitschriften groß ins Geschäft eingestiegen. Es haben sich zahlreiche Menschen gemeldet, so daß Lethian ein Auswahlverfahren einführen mußte. Zwanzig sind dann insgesamt übriggeblieben. Sie sollen in der nächsten Nacht die Vampirtaufe erhalten, um endgültig in den Kreis des Bösen einzugehen. Das ist die ganze Geschichte. Wenn wir aber die Menschen nicht retten, wird Belphegor auf der Erde einen Stützpunkt haben. Dann kann er operieren und die Vampirpest über das Land schicken.« John Sinclair und Jane Collins hatten den Worten ruhig zugehört. Jetzt sagte der Geisterjäger: »Vielen Dank, Phil, daß Sie uns so eingeweiht haben. Okay, wenn Sie mitspielen wollen, meinen Segen haben Sie dabei.« »Das hatte ich gehofft, Sir.« Phil Sounders lächelte. Dann wurde sein Gesicht jedoch schnell wieder ernst. »Ich werde mich natürlich für die Tat in der Leichenhalle verantworten, wenn das alles vorbei ist.« »Das warten wir erst einmal ab«, erwiderte John. »Jetzt werden wir einen Plan aufstellen. Jane, tu mir einen Gefallen und hole Suko herein. Schließlich will er ja mit von der Partie sein.«
* Mit einem Ausdruck unbezähmbarer Wut im Blick trat Lethian vom Fenster zurück und schob den Vorhang wieder in die alte Lage, so daß er die Scheiben verdeckte. Er hatte mit ansehen müssen, wie die beiden Männer seine Leibwächter, die Wölfe, gekillt hatten. Dieser riesenhafte Chinese war mit den grauen Bestien umgesprungen, als wären es zahme Hündchen. Was der Chinese nicht geschafft hat, das hatte dieser Sinclair mit
ein paar Schüssen besorgt. Das Gefühl, sich vor diesem hochgewachsenen blonden Mann in acht nehmen zu müssen, verstärkte sich bei Lethian zusehends. Er hatte den beiden noch einen Vampir nachgeschickt, doch seine Hoffnung, daß der Untote etwas ausrichten könnte, verflüchtigte sich zusehends. Lethian wußte, daß hier ein Gegner aufgetaucht war, den er auf keinen Fall unterschätzen durfte. Als er hinter sich die Schritte hörte, wirbelte er wie von der Tarantel gebissen herum. Doch es war nur Elisa, die das Zimmer betreten hatte. Sie trug wieder ihr rotes, tief ausgeschnittenes Kleid und bot ein verführerisches Bild, das nur durch die häßlichen spitzen Eckzähne gestört wurde. »Und?« fragte Elisa. »Nichts und«, gab Lethian grob zurück. »Diese beiden Männer sind verdammt gefährlich.« »Polizisten«, sagte Elisa abfällig und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das sind keine normalen Bullen, glaub mir. Mit denen werden wir noch Ärger kriegen.« »Hast du Angst?« »Unsinn. Heute nacht ist die Vampirtaufe, und dann kann uns keiner mehr was anhaben. Ich werde Belphegor beschwören. Er wird mit seiner feurigen Peitsche erscheinen und die blonde Frau geißeln.« Lethian lachte, doch Elisa unterbrach ihn mit scharfen Worten. »Die Frau gehört mir!« »Danach, mein Täubchen, danach kannst du sie haben. Und jetzt hoffe ich nur noch, daß dein Lakai uns die Blonde bald bringt.« »Keine Angst, er wird es schon schaffen.« »Ich hoffe es für dich.« »Was soll das heißen?« In Elisas Augen trat ein lauernder Ausdruck.
»Du machst Fehler.« »Ach, auf einmal? Vergiß nur nicht, wer dir alles beigebracht hat, Lethian. Ohne mich wärst du nur ein kleiner Pinscher.« »Und wer hat dich aus der Gruft befreit?« höhnte Lethian. »Ja, das warst du, aber es wäre sicherlich auch ein anderer gekommen. Darauf brauchst du dir nichts einzubilden.« Elisa machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer. Hart warf sie die Tür hinter sich ins Schloß. Lethian ballte die Faust und schlug in die offene Handfläche. Bald war die Zeit reif, dann würde er Elisa zum Teufel schicken. Er freute sich schon darauf, ihr den Pflock ins Herz stoßen zu können und sie zu Asche zerfallen zu sehen. Belphegor hatte nichts dagegen. Für ihn war Lethian sowieso der stärkere, und darauf kam es letzten Endes an. Treue, Verdienste und Anhänglichkeit – das zählte bei den Mächten der Finsternis nicht. Für sie gab es nur die Macht. Sie war ihnen vor urlanger Zeit genommen worden, jetzt forderten sie sie zurück. Lethian wollte ihnen dabei helfen! Auch er verließ das Zimmer. Die Stille im Innern der Schule wirkte gespenstisch. Niemand wäre auf die Idee gekommen, daß unter diesem Dach zwanzig Schüler lebten. Sie alle hatten sich in dem großen Meditationssaal versammelt. Es war ein Raum ungefähr halb so groß wie eine normale Turnhalle. Er hatte keine Fenster. Die Wände waren mit Vorhängen bedeckt, die allesamt einen stilisierten Totenschädel aufwiesen. Die Schüler saßen um den kreisrunden Altar. Sie hatten die Beine verschränkt und die Hände vor die Brust gelegt. Licht gaben die Kerzen, die an der Peripherie des Altars standen und deren Flammen ruhig brannten. Lethian lächelte, als er auf das sah, was auf der Mitte des Altars lag. Es war ein Kopf!
Graham Sounders Schädel. Er stellte das wichtige Bindeglied zwischen den normalen Menschen und Belphegor dar, Er wirkte wie ein Katalysator, und nur mit seiner Hilfe gelang es, den Dämon zu beschwören. Die Schüler hatten den Eintretenden gar nicht bemerkt, zu sehr waren sie in ihre Meditation versunken. Lethians Blicke schweiften über die jungen Männer. Noch waren sie normale Menschen, aber in wenigen Stunden, nach der Vampirtaufe, würden sie zu blutgierigen, reißenden Bestien geworden sein, die nur ihm und Belphdgor gehorchten. Noch heute nacht sollten sie den Kontakt zu Belphdgor erhalten, um dann durch Elisa die Vampirtaufe zu erhalten. Lethian schloß die Tür hinter sich behutsam zu. Geräuschlos ging er in sein Büro. Dort blickte er nervös auf seine Uhr. Der Vampir mußte mit der blonden Frau schon längst wieder zurück sein. Denn auf sie allein kam es an. Belphegor brauchte ein Opfer, und er hatte sich die Blonde ausgesucht, nachdem er ihr einmal im Traum und dann in der Realität erschienen war. Draußen hatte sich die Dunkelheit bereits über das Land gelegt. Trotz der wärmenden Heizung hingen dicke Eisblumen an den Fensterscheiben. Der Himmel war klar. Die Sterne warfen ihr silbrig funkelndes Licht zur Erde, und der fahle kalte Halbmond stand wie ein großer Bruder zwischen ihnen. Lethian rauchte eine Zigarette und trank einen Schluck Saft. Aber auch das Nikotin konnte seine innere Unruhe nicht unterdrücken. Plötzlich hörte er das Geräusch eines fahrenden Wagens. Lethian eilte zum Fenster. Zwei helle Scheinwerferstrahlen zerschnitten die Dunkelheit, tanzten hin und her, und dann wurde der Wagen abgestoppt. Die Lichtfinger verlöschten. Türen schlugen. Lethian lachte leise. Also hatte es doch geklappt. Sie waren recht-
zeitig gekommen. Mit schnellen Schritten eilte Lethian zur Tür und riß sie auf … Suko hielt den Vampir wie in einem Schraubstock umklammert. Er hatte ihm den rechten Arm auf den Rücken gedreht und schob den Untoten vor sich her. John Sinclair ging neben den beiden. Sie hatten ihren Wagen ungefähr hundert Yards vor der Schule an einer geschützten Stelle abgestellt und waren zu Fuß weitergegangen, während Jane Collins und Phil Sounders ganz offiziell vorfahren sollten. John und Suko wollten mit dem Vampir an der Rückseite der Schule einen Eingang finden, um durch ihn ungesehen in das Gebäude gelangen zu können. Eine schwierige Sache, bei der vor allen Dingen George Tanner mitspielen mußte. Die unsichtbaren Knoblauchbande hielten ihn noch immer in der Gewalt. Sie verhinderten, daß er durchdrehte oder auch nur einen Warnschrei ausstieß. Und doch schien der Vampir zu merken, daß es ihm und den anderen bald an den Kragen gehen sollte. Er versuchte sich gegen Sukos Griff zu stemmen, was bei seinen augenblicklichen schwachen Kräften völlig sinnlos war, und er sah auch bald ein, daß es keinen Sinn hatte. Er ergab sich in sein Schicksal. Es war eine eiskalte, sternklare Nacht. Kein Windhauch wehte, und die Kälte schien den Atem vor den Lippen zu gefrieren. Das Thermometer sank noch tiefer. Sternenlicht brach sich glitzernd auf den Eiskristallen, die bläulich schimmerten. Unter den Schritten der Männer knirschte der hart geborene Schnee. Manchmal rutschten sie über Eisbuckel, vor allen Dingen dann, als sie den Weg verlassen hatten und sich durch kahles, schneebedecktes Buschwerk den Weg zur Rückseite hin bahnten. Sie befanden sich in einem Garten. Er war ungepflegt, alles wuchs wild durcheinander. Die Mauern der Schule ragten als dunkler, dro-
hender Schatten vor ihnen hoch, der durch keinen Lichtschimmer erhellt wurde. »Wie weit ist es denn noch?« zischte Suko dem Vampir ins Ohr. Der konnte nur grunzen und wies mit dem Kopf nach vorn. Sie gingen weiter. John Sinclair hatte sich jetzt an die Spitze gesetzt. In seiner Manteltasche steckte die entsicherte, mit geweihten Silberkugeln geladene Beretta. Suko war mit silbernen Dolchen bewaffnet, außerdem hatten sie noch einige wirksame Dämonenbanner eingesteckt. So gerüstet, hofften sie, ihren Gegnern wirksam begegnen zu können. John Sinclair riskierte es und ließ ab und zu seine Kugelschreiberlampe aufblitzen. Und er war es auch, der die Tür zuerst sah. Eine hohe, eisbedeckte Stufe führte zu ihr hoch. John leuchtete Suko kurz an. Der Chinese und der Vampir blieben stehen. »Frag ihn, ob die Tür offen ist, Suko«, flüsterte der Oberinspektor. Der Vampir hatte die Frage ebenfalls verstanden und schüttelte den Kopf. John Sinclair wußte Bescheid. Er faßte in die Innentasche seines Mantels und holte ein kleines Lederetui hervor. Es enthielt Meisterstücke der Feinmechanikerwerkstatt. Dietriche und Universalschlüssel. Während Suko weiterhin den Vampir in Schach hielt, werkte John Sinclair an dem Schloß herum. Es war zum Glück nicht vereist und immer gut geölt worden. Und doch hatte John einige Mühe, das Schloß zu öffnen. Er konnte den Vorgang auch ohne weiteres mit seinem Beruf verantworten. Der Oberinspektor wußte, welche Gefahren dieses Haus in sich barg. Überdies hatte er als Spezialist des Yard gewisse Sondervollmachten, für die er sich natürlich jederzeit verantworten mußte. Das Schloß gab ein schnackendes Geräusch von sich, und dann
war die Tür offen. John drehte sich halb um und winkte Suko zu. Die beiden drangen hinter Sinclair in die Schule ein. Dunkelheit umring sie. John mußte wieder die Lampe einschalten. Er sah vor sich eine kleine Treppe, die in einen hohen kahlen Flur führte, dessen Wände mit grüner Ölfarbe gestrichen waren. Der Boden war aus Stein, jeder Schritt hallte an den Wänden nach. John Sinclair drehte sich zu dem Vampir um und riß ihm die Knoblauchknolle aus dem Mund. Sofort setzte ihm Suko die Spitze eines geweihten Silberdolches in Höhe des Herzens an den Rücken. George Tanner wußte Bescheid. Er rührte sich nicht. John leuchtete ihn mit der Punktlampe an. Das Licht spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Pupillen. Die beiden Vampirzähne schauten als spitze Hauer aus dem Mund. John Sinclair hätte sie ihm am liebsten abgeschlagen. Statt dessen sagte er: »Okay, Freund, wie geht es jetzt weiter? Wo befinden sich deine Freunde?« »Im Tempel!« »Und wo ist der?« »In der ersten Etage.« »Okay, dann gehen wir.« »Halt! Noch nicht.« John drehte sich wieder um. »Was ist denn noch?« »Wir müssen Elisa retten.« »Wer ist Elisa?« fragte der Geisterjäger lauernd. »Eine Frau. Sie wird gefangengehalten. Unten im Keller. Kommen Sie mit, bitte.« John lachte hart. »Sie ist eine Vampirin, wie?« »Nein, sie …« »Still!« raunte John Sinclair plötzlich. George Tanner verstummte. Der Geisterjäger ging ein paar Schritte vor, blieb stehen und
lauschte. Selbstverständlich hatte er die Lampe ausgeknipst. Er hörte Schritte. Schnell, leichtfüßig, trippelnd. Eine Frau? Etwa die, von der George Tanner erzählt hatte? John Sinclair wagte nicht zu atmen. Er hatte sich eng gegen eine Wand gepreßt. Verschwommen nur konnte er Umrisse wahrnehmen. Dort, wo der Flur jedoch weiter ins Haus hineinführte, konnte John nichts mehr sehen. Er hatte das Gefihl, vor dem Eingang eines langen Tunnels zu stehen. Die Schritte waren lauter geworden. Kahle Wände warfen die Echos zurück. Und dann sah John die Gestalt. Kaum hob sie sich von der Dunkelheit ab. Längst hatte der Oberinspektor seine Pistole gezogen. Kühl lag das Metall der Beretta in seiner Hand. Nur noch wenige Yards, dann mußte die Person mit John Sinclair auf gleicher Höhe sein. Da sprang der Geisterjäger vor. Gleichzeitig ließ er den fingerdicken Lampenstrahl aufleuchten. John traf ins Ziel. Der Lichtschein klebte im Antlitz einer verteufelt rassigen Frau, deren untere Gesichtshälfte jedoch durch die beiden Vampirzähne entstellt wurde. John wollte schießen. Da überstürzten sich die Ereignisse. George Tanner hatte die Gefahr erkannt, in der Elisa schwebte. Mit einem plötzlichen, auch für Suko völlig überraschenden Ruck befreite er sich und taumelte auf die Frau zu. Sein Schrei gellte durch das Treppenhaus, wurde vielfach gebrochen und hallte schaurig nach. George Tanner hatte die Lichtbahn der Taschenlampe gekreuzt. Für Sekundenbruchteile konnte John die Frau nicht mehr sehen.
»Suko!« brüllte der Geisterjäger. Der Chinese reagierte traumhaft schnell. Plötzlich flirrte etwas Blitzendes, Silbernes durch die Luft und bohrte sich mit einem dumpfen Laut in George Tanners Rücken. Der Vampir zuckte unter dem Einschlag des silbernen Dolches zusammen, wurde ein Stück vorgestoßen und brach dann ächzend in die Knie. John konnte sehen, daß das Messer in Höhe des Herzens in seinem Rücken steckte. Suko hatte genau getroffen. Aber er hatte durch seine Attacke der Vampirin auch den nötigen Spielraum verschafft. Die Frau hatte die kostbare Zeit genutzt, sich auf der Stelle herumgeworfen und war auf die Treppe zugerannt, die in die obere Etage führte. John hetzte hinterher. Aus den Augenwinkeln nahm er noch wahr, wie George Tanner langsam zu Staub verfiel. Vampirschicksal. Dann flog John Sinclair die Stufen hoch. In der linken Hand hielt er die Lampe, in der rechten seine schußbereite Beretta. Er wußte nicht, ob Suko ihm folgte, darum konnte er sich auch jetzt nicht kümmern. Er durfte den weiblichen Vampir einfach nicht entwischen lassen. Wenn sie die anderen warnte, war das Spiel unter Umständen verloren. Mit einem Riesensatz flog John Sinclair die letzten vier Treppenstufen hoch. Jetzt stand er in der ersten Etage. Auch hier ein langer Gang, der sich zu beiden Seiten erstreckte. John lauschte einen Augenblick. Dann wußte er Bescheid. Die Vampirin war nach rechts gelaufen. John spurtete ebenfalls in die entsprechende Richtung. Doch nach vier Schritten blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Ein angsterfüllter, in panischem Schrecken ausgestoßener Schrei
war an seine Ohren gedrungen. De Schrei einer Frau! Jane Collins …
* Lethian hatte anscheinend keinen Verdacht geschöpft, und Jane Collins war ein Stein vom Herzen gefallen. Er hatte sich mit den Erklärungen der Detektivin zufriedengegeben. Jane hatte ihm gesagt, daß Sounders sie von der Harmlosigkeit der Schule überzeugt hätte. »Und George Tanner?« hatte Lethian gefragt. Mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt hatte Sounders erwidert: »Den haben wir nicht gesehen. Wer ist das überhaupt?« Daraufhatte Lethian keine Antwort gegeben und nur teuflisch gegrinst, was Jane Collins natürlich nicht entgangen war. »Dann kommen Sie bitte mit«, sagte Lethian. Er warf Phil Sounders noch einen prüfenden Blick zu. Wahrscheinlich wunderte er sich, daß der junge Mann nicht mehr unter seinem hypnotischen Einfluß stand. Selbstverständlich war in Lethian nicht alles Mißtrauen verschwunden. Dafür war er ein zu gewiefter Fuchs. Aber er wollte jetzt nicht noch mehr Zeit verlieren. Die Vampirtaufe stand unmittelbar bevor. Und hinterher würde er schon erfahren, was sich in Wirklichkeit abgespielt hatte. Lethian führte die beiden durch die langen Gänge des Hauses. Er hielt in der rechten Hand eine brennende Kerze, die auf einem golden schimmernden Unterteller stand. Lethian trug ebenfalls ein bis zum Boden reichendes Gewand. Nur war es blutrot und auf der Brust war ein schwarzer Totenschädel eingestickt. Sie gingen eine breite Treppe hoch, die in die erste Etage führte.
Niemand sprach ein Wort. Nur das Hallen ihrer Schritte war zu hören. Jane fröstelte. Ihr war die Umgebung unheimlich. Die künstliche Stille und die Gewißheit, bald mit einem Dämon konfrontiert zu werden, erfüllten sie mit Grauen. Phil Sounders erging es wohl nicht anders. Verstohlen tastete er nach Janes Hand. Vor einer breiten Doppeltür blieb Lethian stehen. »Dort hinein«, sagte er, legte die Hand auf die schwere gußeiserne Klinke und betrat als erster den dahinterliegenden Raum. Kerzenlicht schuf ein geheimnisvolles Halbdämmer. Die Schüler saßen noch immer um den runden Altar, versunken in tiefer Meditation. »Geht zu ihnen«, flüsterte Lethian. Jane und Phil gehorchten. Wohl war ihnen nicht bei der ganzen Sache. Nur zögernd setzten sie ihre Schritte. Niemand wandte sich ihnen zu, als sie hinter den Schülern stehenblieben. Und dann weiteten sich Janes Augen vor Entsetzen. Sie hatte den Kopf entdeckt, der mitten auf dem Altar lag. Neben ihr stöhnte Phil Sounders auf. Welche Gefühle mußten jetzt in ihm toben? »Kniet euch dicht vor den Altar«, befahl der hinter ihnen stehende Lethian. Jane und Phil schoben sich an den Schülern vorbei, bis sie dicht vor dem Altar standen. Dann fielen sie auf die Knie. Jane Collins hatte das Gefühl, die Augen des Kopfes würden nur sie anstarren, und sie meinte, in dem Blick eine stumme Anklage lesen zu können. Jane Collins spürte das Hämmern ihres eigenen Herzens. Das Blut rauschte in ihren Schläfen. Ihre rechte Hand krampfte sich um das kleine silberne Kreuz, das sie in der Manteltasche trug. Plötzlich be-
gannen die Kerzenflammen zu flackern. Wie auf Kommando hoben die Schüler die Köpfe, richteten sie gegen die dunkle Decke. Über Janes Rücken lief eine Gänsehaut. Sie hatte das Gefühl, von einem Eiszapfen berührt zu werden, und dann begannen die Schüler mit einem monotonen, fremdartig klingenden Singsang, der in Janes Ohren wie eine berauschende Musik widerhallte, Dazwischen hörte sie Lethians dumpfe Stimme. Er rief finstere Beschwörungen, die den Dämon Belphegor auf die Erde holen sollten. Und er kam. Plötzlich zuckte über dem Schädel ein blauweißes Licht auf. Er erstrahlte Sekunden später wie eine Aura und übergoß die Gesichter der Knienden mit kaltem, blauem Glanz. Jane spürte, wie ihre Wangen anfingen zu glühen. Dann sah sie, daß sich der Kopf vor ihr veränderte, daß die Gesichtszüge verschwammen und sich ein anderes gefährlicheres Gesicht herauskristallisierte. Belphegors Gesicht! Aber nur für Sekundenbruchteile, so daß Jane die Physiognomie nicht richtig erkennen konnte. Dafür puffte eine Rauchwolke auf, und plötzlich stand der Dämon in seiner vollen Größe vor Jane Collins und den anderen auf dem Altar. Belphegor hielt in der rechten Hand eine glühende Peitsche. Sein Gesicht war eine kalte, abweisende Fratze mit gnadenlosen Augen, in denen ein blau schimmerndes Licht tanzte. Der Mann aus deinem Traum! schoß es Jane durch den Kopf, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Die anderen Schüler waren in stummem Entsetzen erstarrt. Dann streckte Belphegor den linken Arm aus und begann mit Stentorstimme zu reden. »Ihr habt mich zu eurer Vampirtaufe beschworen, doch es wird heute nicht mehr dazu kommen!« »Nicht?« Lethians Schrei unterbrach den Dämon.
»Unterbrich mich nicht, du Wurm!« schrie Belphegor. »Du hast zwar durch Elisa, die Vampirin, den Kontakt zu mir aufnehmen können, aber in deiner Maßlosigkeit übersehen, daß sich mitten unter euch ein elender Verräter befindet.« »Nein!« brüllte Lethian. »Das ist nicht wahr! Wer ist es? Wer ist der Verräter?« »Er!« Belphegors Stimme peitschte auf, und sein linker Zeigefinger deutete auf Phil Sounders. Entsetzt riß Sounders den Kopf in den Nacken. Wahnsinn flackerte in seinem Blick. »Töte ihn!« kreischte Lethian außer sich vor Wut. »Töte ihn!« Lethian hatte die Worte noch nicht ausgesprochen, da fuhr die flammende Peitsche durch die Luft und legte sich mit einer schlangengleichen Umdrehung um Phil Sounders Hals. Jane Collins hielt es nicht mehr aus. Sie sprang auf die Füße und schrie gellend auf …
* John Sinclair hatte den Vorsprung der Vampirin zwar verkürzen, aber nicht aufholen können. Elisa erreichte als erste die breite Doppeltür, riß sie auf und verschwand in dem dahinter liegenden Raum. Bevor sie jedoch die Tür hinter sich zuwerfen konnte, war der Geisterjäger da. Mit einem wahren Panthersprung hechtete er vor. Mit den Füßen zuerst prallte er gegen die Tür, die sich noch nicht richtig geschlossen hatte. Wie eine Ramme flog die rechte Türhälfte dem weiblichen Vampir in den Rücken. Elisa wurde nach vorn katapultiert, hinein in den Meditationssaal, und brach eine Gasse in die Reihen der knienden Schüler. Einen Atemzug später war John Sinclair ebenfalls da. Der Geisterjäger kam sich vor wie ein Rachegeist. In Sekunden-
schnelle speicherte er das Bild, das sich seinen Augen bot. Es war grausam genug. Auf einem runden Tisch stand der Dämon. Er hielt eine Peitsche in der Hand, deren feurige Schnur sich um Phil Sounders Hals gewickelt hatte. Leblos hing der junge Mann in der Schlinge. Ihm konnte wahrscheinlich keiner mehr helfen. Und dann Jane Collins. Sie hatte sich in dem violett schillernden Umhang des Dämons verkrallt. Sie war Belphegor lästig geworden. Gerade eben hob er den Fuß und trat Jane von sich. Genau wie Elisa fiel die Detektivin zwischen die Schüler. John Sinclair hatte freie Bahn. Er schoß. Feuerte wie nach alter Westernmanier aus der Hüfte. Er jagte die silbernen Kugeln über die Köpfe der Knienden hinweg in den Körper des Dämons. Doch der lachte nur. Er schluckte die Kugeln, als wären es harmlose Erbsen. John Sinclair war wie versteinert. Selten hatte er erlebt, daß ein Dämon die silbernen, geweihten Geschosse ignorierte. Und wenn er es tat, dann war er ein Mächtiger, der in der Dämonenhierarchie ganz weit oben stand. Wie eben Belphegor. John Sinclair hatte ihn gereizt. Und er schlug zurück. Plötzlich löste sich die glühende Schnur von Sounders Hals, wischte durch die Luft und fegte mit ungeheurer Geschwindigkeit auf den Geisterjäger zu. »Johhhnnn!« Janes Warnschrei kam fast zu spät. Im letzten Augenblick flog Sinclair zur Seite, und die glühende Peitsche fauchte an ihm vorbei. John prallte auf den Boden, rollte sich ab, hörte den erstickten
Wutschrei des Dämons, sprang wieder auf und sah, daß der Dämon erneut ausholte. Da wurde der Geisterjäger zu einem Tornado. Er flog auf Elisa, die Vampirin zu, und hatte sie, ehe sie überhaupt eine Abwehrbewegung machen konnte, an sich gerissen und im nächsten Moment der feurigen Peitschenschnur entgegengeschleudert. Wie eine Schlange ringelte sich die Peitsche um den Leib der Untoten. Ihr Gesicht war gräßlich verzerrt, weit stachen die beiden spitzen Zähne aus dem Oberkiefer hervor. Mit einem gewaltigen Ruck zog der Dämon die Vampirin zu sich heran. Sie prallte auf den Altar des Bösen, riß ein paar Kerzen mit um und verlor nun vollständig die Beherrschung. Ein letztesmal bäumte sie sich auf und versuchte, ihre mörderischen Hauer in den Hals des Dämons zu hacken. Dessen freie Hand wischte über Elisas Kopf. Ein grünblauer Blitz zuckte auf und spaltete den Schädel der Untoten. John Sinclair mußte wegsehen. Belphegor nahm schreckliche Rache. Dann – nach Sekunden – puffte eine grauschwarze Wolke auf, und Belphegor war verschwunden. Er war wieder eingegangen in die Dimensionen des Wahnsinns und des Schreckens. Aber plötzlich dröhnte seine Stimme noch einmal auf. Sie schien aus der Unendlichkeit zu kommen, war aber dennoch so stark, daß jeder die Worte verstehen konnte. »Ich werde zurückkehren. Und dann siegen!« … siegen … siegen … siegen … Das Echo der Stimme verhallte. Zurück blieb ein Skelett, das auf dem Altar lag und langsam zu Staub wurde. Elisa! Sie war von ihrem eigenen Herrn hingerichtet worden. Die Geset-
ze der Dämonen waren grausam. Wer versagte, wurde liquidiert. Eiskalt, ohne Erbarmen. Und auch der menschliche Kopf war verschwunden. Er, der als Katalysator gedient hatte, war ebenfalls eingegangen in die Dimensionen der Unendlichkeit. Nur noch einer war übrig. Lethian! Er hatte alles mit ansehen müssen und war fast wahnsinnig geworden. Sein Lebenswerk, all das, worauf er jahrelang hingearbeitet hatte, war innerhalb von Sekunden zerstört. Lethian begriff es erst gar nicht, und als es dann soweit war, drehte er durch. Er sah den blonden Polizeibeamten inmitten der Schüler stehen. Sinclair wandte ihm den Rücken zu. Lethians Hand fuhr unter die rote Kutte. Plötzlich hielt er eine Pistole in der Hand. »Stirb, du Hund!« gellte seine Stimme. Sie war laut und übertönte das Sirren des silbernen Dolches, der mit wahnsinniger Geschwindigkeit auf Lethian zuraste und dumpf aufprallend in seiner Schulter steckenblieb. Lethian stieß einen gurgelnden Schrei aus, wurde nach hinten geschleudert und konnte auch noch abdrücken. Die Kugel klatschte in die Decke und riß dort ein faustgroßes Loch. Kalk rieselte wie Schnee auf die Anwesenden nieder. John Sinclair war herumgezuckt und starrte erleichtert auf Suko, der im Türrechteck stand, grinste und bereits einen weiteren Dolch in der Hand hielt. »Alles klar, John?« fragte er. Der Geisterjäger nickte. Dann ging er auf den verletzt am Boden liegenden Lethian zu. »Es ist aus«, sagte John. Lethian, der mit schrägem Blick auf das Blut starrte, das aus der
Wunde lief, fletschte die Zähne. »Fahr zur Hölle, du verdammter Bulle!« Er wollte noch etwas sagen, doch nur ein Ächzen drang aus seinem Mund. Eine Sekunde später war er ohnmächtig. Jane Collins hatte sich inzwischen um die Schüler gekümmert, die mit ratlosen Gesichtern dastanden und nicht so recht wußten, was eigentlich geschehen war. Daß sie nur haarscharf einem Untotendasein entgangen waren, würde John ihnen hinterher erzählen. Phil Sounders konnte niemand mehr helfen. Er war tot. Die feurige Peitsche hatte ihn erdrosselt. John ging neben der Leiche in die Knie und drückte Sounders beide Augen zu. Plötzlich spürte der Geisterjäger eine schmale Frauenhand auf seiner Schulter. Als er den Kopf drehte, begegnete ihm Jane Collins Blick, in dem noch all das Grauen lag, das die Detektivin gefühlt hatte. John erhob sich wieder. Er versuchte zu lächeln, doch es mißlang. »Komm«, sagte Jane Collins mit leiser Stimme. »Hier haben wir nichts mehr verloren.«
* Zwei Stunden später wimmelte es in der Schule von Polizisten. Chiefinspektor Sherman war mit seiner gesamten Mannschaft angerückt. Die ersten Verhöre wurden durchgeführt und Protokolle aufgesetzt. John Sinclair saß mit Sherman in Lethians früherem Büro, das sich der Chiefinspektor als eine Art Hauptquartier ausgesucht hatte. Immer wieder schüttelte er den Kopf. »Also, wenn ich nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, was hier geschehen ist, würde ich Sie für einen Lügner halten, Sinclair. Und dann die Sache mit Tanner – unbegreiflich. Wie soll ich das nur meinen Vorgesetzten erklären, können Sie mir das sagen?«
»Keine Angst, Kollege. Darum werde ich mich kümmern. Aber merken Sie sich für die Zukunft: Nicht jeder Fall ist mit den herkömmlichen Methoden zu lösen, und auch die reine Logik versagt oft. Fragen Sie diese Schüler, und Sie werden Antworten erhalten, die Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen.« »Tja.« Sherman senkte den Kopf. »Und ich habe nicht auf Tanner gehört. Urlaub hat er sich genommen. Ich habe der Sache gleich nicht getraut.« Schwer atmend wischte sich der Chiefinspektor mit der Hand über die Stirn. »Ich glaube, ich werde meinen Abschied nehmen. Solch einen Fehler kann niemand auf sich sitzen lassen.« John Sinclair winkte ab. »Überlegen Sie sich das lieber. So viele gute Polizisten gibt es nun auch nicht« Sherman lachte bitter. »Sie haben gut reden. Vielen Dank, daß Sie mir Mut zusprechen wollen. Doch das Problem muß ich wohl mit mir selbst ausmachen.« »Wie Sie wollen«, sagte der Geisterjäger und stand auf. Mit müden Schritten ging er zur Tür. Draußen auf dem Gang wurde er schon erwartet. Suko und Jane Collins blickten ihn gespannt an. John Sinclair nickte. »Laßt uns zurück nach Saxton fahren. Ich möchte noch eine Mütze voll Schlaf nehmen, ehe ich wieder nach London fahre.« Die beiden waren einverstanden, und während sie zum Wagen gingen, dachte John bereits an den nächsten Fall, der bestimmt schon auf ihn wartete … ENDE
Dämonen an Bord von A. F. Morland Er war ein Satan, ein grausamer Pirat, der Furcht und Schrecken auf dem Pazifischen Ozean verbreitete. Jedermann fürchtete Kapitän Achat und seine teuflischen Männer. »Herr, bewahre uns vor Stürmen, vor Unwetter und vor Kapitän Achat!« so beteten jene, die mit ihren Schiffen auf die Reise gingen. Manche Gebete erhörte der Herr, aber bei weitem nicht alle. Und so kam es, daß Kapitän Achat seine Schreckensherrschaft über viele Jahre ausübte, bis … Ja, bis ihn der Teufel zu sich in die Hölle holte. Aber Achat war all die Jahrhunderte nicht wirklich tot, und es ist der Tag nicht mehr allzu fern, wo sein versunkenes Schiff sich vom Meeresgrund lösen und Kapitän Achat seine Schreckensherrschaft erneut antreten wird …