Burt Frederick
Der Haß der Indianer Ihr Lachen war hell und klar. Ihre Arbeit war hart, und doch fiel sie ihnen leicht...
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Burt Frederick
Der Haß der Indianer Ihr Lachen war hell und klar. Ihre Arbeit war hart, und doch fiel sie ihnen leicht. So hörte es sich an. Denn ihre Fröhlichkeit war echt. Shoara, Riala, Mirimi and Koe bewegten die Stiele der einfachen Hacken mit Anmut. Nichts an ihren Bewegungen wirkte schwer, obwohl sie schon am frühen Morgen begonnen hatten, auf dem Maisfeld Unkraut zu jäten. Die Mädchen wußten um die Bedeutung ihrer Arbeit. Es bereitete ihnen Freude, den jungen Pflanzen jene Pflege angedeihen zu lassen, die sie brauchten, um sich fruchtbringend zu entwickeln. Die Chancen für eine abermals gute Ernte standen gut. Von der Ernte aber hing ab, wie das Volk derAlgonkins den Winter überstehen würde. Unvermittelt wisperte Shoara ihren Gefährtinnen zu: „Laßt euch nichts anmerken. Ich glaube, wir werden beobachtet."
Die Hauptpersonen des Romans: Shoara - die Häuptlingstochter fällt mit drei indianischen Schwestern in die Hände lüsterner Engländer. Sir William Godfrey- in seiner Gier nach Gold ist ihm jedes Mittel recht, einschließlich Mord und Totschlag. Shenon - der Häuptling der Algonkin muß erkennen, daß es unter den Weißen auch Kämpfer gibt, die ihren Gegner achten. Hasard und Philip Killigrew - die Söhne des Seewolfs finden einen verletzten Biber und starten eine Rettungsaktion. Philip Hasard Killigrew - bei der Erkundung des Landes für die Siedler gerät er mit seinen Mannen in des Teufels Küche.
1. Die Mädchen setzten ihre Arbeit ohne die geringste Unterbrechung fort. Riala, Mirimi und Koe wußten nicht, in welcher Richtung die Häuptlingstochter etwas erblickt hatte. Ihnen war jedoch klar, daß sie nicht anfangen durften, die Hälse zu recken. Shoaras leiser Hinweis hatte so geklungen, als ob sie selber nicht ganz sicher war, um was es sich handelte Freund oder Feind. Doch wenn es ein Freund war - welchen Grund für Heimlichkeiten sollte er dann haben? Die Fröhlichkeit fiel von den Mädchen ab, ob sie wollten oder nicht. Beginnende Besorgnis bemächtigte sich ihrer Gedanken. Sie hatten auf einen Schutz während der Feldarbeit verzichtet. Die Männer des Dorfes waren auf die Jagd gegangen, denn es wurden dringend Fleischvorräte gebraucht. Es mangelte der Dorfgemeinschaft ohnehin an Jägern und Kriegern. Die Auseinandersetzungen mit den weißhäutigen Eindringlingen hatten viele Opfer gefordert. Trauer war in
den Familien eingekehrt. Nur die jungen Menschen im Volk der Algonkins zeigten noch Frohsinn, waren ihnen die Sorgen der älteren doch weitgehend fremd. Häuptling Shenon, der Vater Shoaras, hatte indessen erklärt, daß die Maisfelder weit genug im Gebiet der Mittagssonne lägen. Bis dorthin seien die Weißgesichter bislang noch nicht vorgedrungen. Eben dies hatte Shoara und ihre Freundinnen in dem Entschluß bestärkt, den Männern zu versichern, daß sie nicht ängstlich seien und überdies sehr gut aufpassen würden. Und Shenon hatte seine Tochter dafür gelobt, daß die mit gutem Beispiel vorangegangen war. „Kannst du sehen, wer es ist?" flüsterte Mirimi, über den Hackenstiel gebeugt und eifrig am Werk wie ihre Gefährtinnen. „Nein", antwortete Shoara ebenso leise. „Er ist da drüben in den Heidelbeeren-Sträuchern. Ich weiß aber nicht einmal, ob es nur einer ist. Am besten, wir reden weiter irgendwelches Zeug wie vorhin. Und dann lacht gefälligst!" Sie versuchte, es scherz-
5 haft klingen zu lassen. „Ich gebe euch schon rechtzeitig ein Zeichen, wenn wir weglaufen müssen." Koe reagierte sofort auf den Hinweis. „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen", plapperte sie drauflos, „wie ich auf den Abend gespannt bin! Meine Brüder haben mir versprochen, mindestens zwei Antilopen zu schießen. Ich kann mir beinahe denken, daß sie aus V e r s e h e n ein Opossum treffen und sonst gar nichts." Koe kicherte und bückte sich, um ein besonders hartnäckiges Kraut mit der Hand aus der Erde zu zupfen. Die drei anderen lachten ebenfalls. „Meine Brüder sind auch solche furchtbaren Aufschneider!" rief Riala. „Wenn man ihnen glaubt, dann haben sie schon jede Menge Alligatoren mit der bloßen Hand getötet. Nur gesehen hat man nie etwas davon nicht einmal die Haut, um etwas daraus zu nähen." Wieder lachten sie voller ausgelassener Heiterkeit. Und sie fuhren fort, sich belangloses Zeug zu erzählen, während sie sich langsam jenem südlichen Feldrand näherten, wo die Heidelbeeren-Sträucher standen. Noch waren sie mehr als zweihundert Yards entfernt. Riala, Mirimi und Koe hatten mittlerweile die Stelle erspäht, an der Shoara den heimlichen Beobachter gesehen hatte. Der helle Fleck dort zwischen dem dichten Zweig- und Blattwerk war äußerst schwer zu erkennen. Aber er war da. Eindeutig. Und je sicherer sie waren, desto mehr glaubten sie auch daran, daß es weitere Beobachter gab. Hatte Shenon sich geirrt? Waren die blaßhäutigen Eindringlinge doch schon bis in dieses Gebiet vorgedrungen?
Wenn es sich so verhielt, dann gab es wahrhaftig Grund zur Besorgnis. Shoara und ihre Freundinnen hatten einiges über diese fremdartigen Menschenwesen erfahren. Immerhin hatten die Algonkins etliche von ihnen gefangengehalten, nachdem die Eindringlinge angefangen hatten, die Vorratslager in den Dörfern zu plündern. Dabei hatten sie sogar die wenigen jungen Männer getötet, die überhaupt zur Stelle gewesen waren, um sich zur Wehr zu setzen. Es gab so unendlich viel, was an diesen weißhäutigen Menschen fremd und unbegreiflich war. Nicht allein, daß sie sich gewaltsam am Eigentum anderer vergriffen, wenn man mit dem anderen doch darüber reden konnte, ob er etwas abzugeben hatte oder nicht. Nein, sie gingen auch mit Gewalt sogar gegen Frauen und junge Mädchen vor. Shoara und ihre Gefährtinnen hatten oft mit einem Gefangenen gesprochen, der viele Monate in ihrem Dorf gewesen war, bis vor kurzem die drei großen Kanus mit zahlreichen neuen Eindringlingen über das große Wasser gefahren waren. Shoara hatte von dem Mann einige Worte seiner Sprache gelernt, wie es auch ihr Vater gelernt hatte, aus dem er stammte. Seine Sprache hieß daher Englisch. Shoara hatte um den Engländer geweint, als er geopfert werden mußte. Er war anders gewesen als die kriegerischen von ihnen. Ausgerechnet ihn, einen friedfertigen Mann, hatte das Todesurteil treffen müssen. Aber Shoara hatte begriffen, daß es in der Auseinandersetzung mit den Männern von den großen Kanus keine andere Möglichkeit gegeben hatte. Dennoch hatte es am Ergebnis der blutigen Kämpfe wenig
6 geändert. Das hatte auch Shenon bestätigt. Für beide Seiten hatte es weder Sieg noch Niederlage gegeben. Der Engländer hatte Shoara viel erzählt über sein Land und die Menschen, die dort wohnten. Mit großen, staunenden Augen hatte sie zugehört, nachdem sie erst einmal imstande gewesen war, genug von seiner Sprache zu verstehen. Er hatte ihr erklärt, warum die Menschen dort, jenseits des großen Wassers, etwas kannten, das sie Schamgefühl nannten. Wegen dieses Gefühls, aber auch wegen der Kälte, liefen sie verhüllt umher. Sie bedeckten sich mit Kleidern aus grobem Stoff. Wenn Frauen jemals ihre Brüste oder andere Körperteile entblößten, so hatte der Engländer gesagt, dann taten sie das unbeobachtet. Eine Ausnahme von dieser Regel gab es nur für den Fall, daß eine Frau einen Mann in eine gewisse Stimmung versetzen wollte. Shoara hatte nur staunend den Kopf geschüttelt über derart komplizierte und schwer verständliche Verhaltensvorschriften. Gewiß, daß man seinen Körper in Stoffe hüllte, um sich vor der Kälte zu schützen, war auch bei den Algonkins bekannt. Aber so etwas tat man notwendigerweise nur im Winter. Und was die besagten Stimmungen zwischen Mann und Frau betraf, so pflegte man zwar auch die Zweisamkeit in solchen Dingen. Doch es wurde nicht als eine Heimlichkeit behandelt, über die man öffentlich nicht sprechen durfte und von der man so tat, als ob es sie überhaupt nicht gab. An all das hatte Shoara fortwährend gedacht, nachdem sie den Beob-
achter dort im Strauchwerk entdeckt hatte. Seinem Verhalten nach konnte es sich nur um einen der weißhäutigen Fremdlinge handeln. Denn Shoara erinnerte sich genau an die Worte des Engländers. Die Männer unter seinen Landsleuten waren regelrecht in Verzückung geraten, als sie die ersten AlgonkinFrauen gesehen hatten - fast völlig nackt. Jene unter den Engländern, die sie Priester nannten, verboten solche Blicke, obwohl sie natürlich niemanden wirklich daran hindern konnten. Als Strafe, so drohten diese Priester, würde etwas Furchtbares auf die Ungehorsamen warten. Nach dem Tod würden sie keine Ruhe finden, sondern entsetzliche Qualen leiden in einem großen Feuer, das sie Hölle nannten. Offenbar fürchtete sich aber niemand so sehr davor, daß er nicht doch ausgiebige Blicke riskierte. Sonst hielten sie sich aber ziemlich genau an die Gebote, die ihnen von ihrem Gott gesetzt worden waren. Einer von jener sonderbaren Sorte mußte es sein, der dort im Gebüsch kauerte. Sein ganzes Verhalten deutete darauf hin. Die Mädchen hielten mit ihrem heiteren Plaudern und ihrem Lachen nicht inne. Wenn sie es nur mit einem einzigen Weißhäutigen zu tun hatten, so überlegte Shoara, dann konnten sie ihn vielleicht mit einer List überrumpeln. Sicherlich ahnte er nicht, daß sie und ihre Gefährtinnen von jenen heimlichen Begierden wußten, unter denen weiße Männer zu leiden hatten. Man mußte ihn ein wenig herausfordern und ihn dann überlisten, wenn er unvorsichtig wurde. Sicher
7 hatte er eins von diesen tödlichen Feuerrohren bei sich. Und eine dieser kurzen Lanzen, die sie Säbel nannten, angefertigt aus jenem grausam harten Material, das sie als Stahl bezeichneten. Shoara erklärte es ihren Gefährtinnen. „Sobald wir nahe genug heran sind", sagte sie leise, „werden wir ihm ein paar kleine Spielchen vorführen, die ihn um den Verstand bringen." „Aber wie denn das?" flüsterte Mirimi staunend. „Dummerchen!" Koe kicherte. „Diese Burschen werden ganz verrückt, wenn du deinen Körper so bewegst, als ob du etwas mit ihnen vorhättest." Mirimi errötete. „Ich soll so etwas spielen? Das kann ich nicht." „Du mußt", sagte Riala energisch. „Eine andere Möglichkeit haben wir nicht, um den Gaffer zu überrumpeln." „Es gibt eine Schwierigkeit", fuhr Shoara leise fort. „Wir müssen es so tun, daß er nicht weiß, was wir von ihm wissen. Es muß so aussehen, als ob wir diese Spielchen für uns allein treiben." „An denen er dann sein besonderes Vergnügen hat, nicht wahr?" Koe kicherte erneut. Ihr bereitete der Plan offenbar am meisten Vorfreude. Shoara nickte und lächelte. „Wichtig ist nur, daß wir ihn herauslocken und ablenken. Der nächste Schritt muß dann sein, daß wir ihm die Waffen wegnehmen." „Ganz einfach", sagte Mirimi. „Zwei von uns tun so, als ob sie mit ihm etwas vorhätten." „Einverstanden", entgegnete Shoara und nickte. „Koe und ich werden das übernehmen, Riala und Mi-
rimi, eure Aufgabe wird es dann sein, dem Weißgesicht die Waffen abzunehmen. Dann haben wir die Möglichkeit, ihn zu überwältigen und ins Dorf zu bringen." „Wenn er sich wehrt, müssen wir ihn töten", sagte Riala düster. „Und wenn es mehr sind als nur einer?" flüsterte Koe. „Dann entscheide ich, ob wir fliehen", erwiderte Shoara. „Für einen solchen Fall bleibt es sowieso die letzte Möglichkeit, die wir haben." Sie näherten sich dem Feldrand bis auf hundert Yards. Wieder hatten sie begonnen, mit ihrem mädchenhaften Geplapper fortzufahren. Plötzlich bewegten sich die Zweige. Eine Gestalt brach hervor. Die vier Mädchen erstarrten vor Schreck. Es war ein Algonkin. Er taumelte vorwärts, wie unter Schwindelgefühlen, gegen die er machtlos war. Dabei zertrampelte er die jungen Maispflanzen, deren Wert er eigentlich hätte kennen müssen. „Varu!" rief Shoara entsetzt. Wie ihre Freundinnen erkannte sie den Jungen sofort. „Was ist mit dir?" Er war ein Halbwüchsiger, für sein Alter besonders groß geraten. Doch ihm war noch nicht erlaubt, mit den Männern auf die Jagd zu gehen. Deshalb streifte er viel umher. Hatte er sich verletzt? Vielleicht war er von einer Schlange gebissen worden. Shoara wollte auf ihn zugehen, nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte. Erst in diesem Moment sah sie Varus verzerrtes Gesicht, als er den Kopf hob. Seine Augen waren aufgerissen, wie er schwankend stehen-
8 blieb. Mühsam schaffte er es, sich auf den Beinen zu halten. „Flieht!" schrie er. „Lauft weg! Lauft - so schnell ihr könnt!" Erneuter Schreck traf Shoara und ihre Gefährtinnen bis ins Mark. Erst jetzt sahen sie, daß die Arme des Jungen auf den Rücken gefesselt waren. Jäh begriffen sie die ganze Wahrheit. Er war aus dem Gebüsch gestoßen worden! Aber weder Shoara noch eine der drei anderen erholte sich schnell genug von dem Schreck. Ohnehin hätten sie nicht fertiggebracht, einfach davonzulaufen und Varu einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Doch bevor sie noch eine Chance erhielten, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, hörten sie ein peitschendes, hartes Geräusch. Es war, als würde der Junge von einer unsichtbaren Faust vornüber auf den weichen Boden des Maisfelds geschleudert. Grauschwarzer, übelriechender Rauch quoll in einer dichten Wolke aus dem Strauchwerk. Der Schock lähmte die AlgonkinMädchen. Mit geweiteten Augen starrten sie auf den Jungen aus ihrem Dorf und konnten nicht fassen, was mit ihm geschehen war. Da war dieses unbedeutend scheinende Loch in seinem Rücken. Nur wenig Blut trat heraus. Und doch bewirkte es, daß kein Leben mehr in ihm war. Shoara und ihre Freundinnen wußten, wie ein Toter aussah. Varu war tot. Das Feuerrohr hatte ihn augenblicklich getötet. Der, dem es gehörte, trat als erster aus dem Gebüsch. Gleich darauf waren auch die anderen zur Stelle. Acht weißhäutige Männer mit schwerer
Kleidung, schweren Stiefeln und schweren Waffen. In breiter Front stürmten sie aus den Beerensträuchern hervor. Sie liefen so schnell, und sie bildeten ihren Kreis derart rasch, daß die Mädchen keine Chance mehr hatten, die Flucht zu ergreifen. 2. Mehrere Sekunden lang standen sie stumm und staunend da. Sir William Godfrey war es schließlich, der das Schweigen brach. „Das Bemerkenswerte scheint mir", sagte er näselnd und mit hochgezogenen Brauen, „daß diese entzückenden Grazien auch jetzt keinerlei Versuche unternehmen, sich an den entscheidenen Stellen zu bedekken." Er fuhr sich mit der linken Hand durch den wuchernden Bart, betrachtete die vor Furcht gelähmtem Algonkin-Mädchen und schien über das Phänomen ihres fehlenden Schamgefühls nachzudenken. Sir William war ein älterer Mann mit rötlicher Säufernase. Das graue Haar wuchs ihm bereits bis in den Nacken. An eine Pflege seines Äußeren verschwendete er keine langwierige Gedankengänge. Er verstaute die noch rauchende Pistole in dem Lederfutteral an seinem Gürtel. „Sie sind eben wie Tiere", erklärte Alec Morris, ein jüngerer Mann, schlank, braunhaarig und blauäugig. „Sie sind Wilde, vergessen wir das nicht. In ihrem ganzen Verhalten ähneln sie mehr den Tieren als den Menschen. Sie haben nur das Äußere von Menschen. Das ist das einzige, was uns mit ihnen verbindet" Sein Blick, mit dem er die Indianerinnen bedachte, hatte etwas Geringschätziges.
9 Die anderen wunderten sich nicht darüber. Sie hatten Morris als einen Schnösel mit großer Klappe kennengelernt. Und sie hatten festgestellt, daß tatsächlich nicht viel dahintersteckte. Für seinen Hang nach Abenteuern und zugleich für seine Überheblichkeit war Morris in Londoner Adelskreisen von seinesgleichen stets verachtet worden. Deshalb hatte ihm niemand keine Träne nachgeweint, geschweige denn auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet, als er sich entschlossen hatte, sich in die Neue Welt zu verabschieden. Eben dies galt auch für Frank Davenport, der in London derart verschuldet war, daß er sich dort niemals wieder blicken lassen konnte. Davenport hatte sein gesamtes Vermögen verspielt. Infolge seiner mangelnden Willenskraft war ein Familienbesitz zugrunde gegangen, den Generationen vor ihm aufgebaut hatten. Davenport hatte es geschafft, innerhalb weniger Jahre alles durchzubringen. Die letzte Hoffnung des verschlagen aussehenden bartlosen Mannes war nun das Gold, das er in Virginia zu finden hoffte. „Ich bin anderer Ansicht, mein lieber Alec", sagte er grinsend. „Mit diesen Süßen wird uns doch hoffentlich etwas sehr Entscheidendes verbinden." Die fünf übrigen Kerle lachten grölend. Sir William Godfrey und Alec Morris zogen lediglich in geübt blasierter Weise die Augenbrauen hoch. Damit gaben sie zu verstehen, daß sie den Grund zur Heiterkeit durchaus erkannten, es aber für unter der Würde eines Mannes von Rang hielten, über
derart primitive Zweideutigkeiten in Gelächter auszubrechen. Frank Davenport würde natürlich den feinen Hinweis nicht verstehen, den seine Standesgenossen ihm zugleich gaben. Sich durch solche gewöhnlichen Scherze hervorzutun, war nichts weiter als ein plumper Anbiederungsversuch. Davenport schien sich nichts dabei zu denken, sich auf das Niveau der fünf Kerle von der Karavelle zu begeben. Er schien nicht begriffen zu haben, daß man zwar mit ihnen zusammenarbeiten konnte, dies aber noch lange nicht in Kumpanei ausarten lassen durfte. Davenport grinste indessen noch breiter, womit er eindeutig erkennen ließ, daß er die Reaktion der fünf Kerle als einen Heiterkeitserfolg für sich verbuchte. Anführer der wenig vertrauenserweckenden Fünfer-Truppe war Atkinson Grey, ein hochgewachsener und muskulöser Mann. An ihm fiel besonders der riesige Oberlippenbart auf, von brauner Farbe wie seine Augen. Auf manche wirkte er fast gemütlich, doch dieses Äußere hatte schon viele getäuscht. Seine Skrupellosigkeit hatte sich aus seiner Bauernschläue entwickelt. Er war ein Bauernsohn aus Essex gewesen und war als Seefahrer Takelmeister geworden, der auch einiges von Navigation verstand. Den drei adligen Gents hatte er inzwischen verklart, was er sich fest vorgenommen hatte: Als steinreicher Mann würde er nach England zurückkehren. Um das zu erreichen, war ihm jedes Mittel recht. Sein treuester Gefolgsmann, ergeben wie ein Hund, war Jameson Kidd. Kidd war ein kleiner und dürrer Mann, der sich jedoch durch seine au-
10 ßergewöhnliche Zähigkeit und seine herausragenden Qualitäten als Messerwerfer einen Namen geschaffen hatte. Seine auffälligsten äußeren Merkmale waren mehrere Zahnlücken und eine senkrechte Narbe auf der rechten Wange, direkt unter dem rechten Auge. Kidd pflegte sich das Gesicht zu rasieren. Seine Augen waren grün, das strähnige Haar blond. Er war stets als einfacher Seemann gefahren. Doch in allen Crews hatte er sich dadurch hervorgetan, daß er sogar mit den einfachsten Mitteln eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten verstand. Frank Rosebery war klein und dick, aber sehr behende. Der Blick aus seinen dunklen Augen tastete glitzernd die nackte Haut der Indianerinnen ab. Er freute sich auf den Moment, in dem er einer von ihnen den verfluchten Lendenschurz wegreißen würde. Mindestens einer! Er grinste. Sein kurzes schwarzes Haar sowie der Oberlippen- und Kinnbart waren ungepflegt. Durch sein Grinsen wurden die auffallend großen Zähne sichtbar. Früher war er Zimmermann gewesen. Wie die meisten, mit denen er zur See gefahren war, stammte er aus einem der übelsten Viertel Londons. Seine Sauftouren an Land hatten stets zu den herausragenden Geschehnissen gehört, über die später in den Schenken noch monatelang berichtet worden war. Alle Saufkumpane kannten seinen Traum, ein Herrenleben in einem prächtigen Haus zu führen und sich von einer ergebenen Schar stummer Eingeborener bedienen zu lassen. Er war überzeugt, sich diesen Traum in der Neuen Welt erfüllen zu können.
Besonders furchterregend wirkte auf die Algonkin-Mädchen Spencer Taffe mit seinem kahlgeschorenen Schädel. Vielleicht rührte seine zumindest abstoßende Wirkung auf andere aber auch von seiner gelblichen Hautfarbe her. Wenn er Haare hatte, dann waren sie schwarz. Seine Augen hatten eine dunkelbraune Farbe. Sein Bart verdeckte zur Hälfte ein daumennagelgroßes Muttermal vor dem linken Ohr. Taffe war groß und hager und alles andere als der Typ des Muskelmanns. Verglichen mit den meisten anderen in seiner sonst gewohnten Umgebung konnte er sich einer gewissen Bildung rühmen. Als Gehilfe des Stückmeisters hatte er eine beträchtliche Fachkenntnis über Schußwaffen aller Art erworben. Fünfter im Bunde war Randolf Gordon, ein mittelgroßer Mann mit Halbglatze und viel dunkelbraunem Haar hinter den Ohren und im Nacken. Seine Augen waren grau, sein Körper überaus kräftig gebaut. Er galt als unbeherrscht, und oft gab es zwischen ihm und Grey Auseinandersetzungen, weil er dessen Entscheidungen anzweifelte. In alkoholseligen Momenten, aber auch bei anderen passenden Gelegenheiten pflegte er zu räsonieren, daß er sicherlich nicht mehr lange zu leben habe, aber vorher noch das Leben auskosten wolle. Zu dem letzteren Punkt paßte seiner Meinung nach die Gefangennahme der Indianerinnen hervorragend. In der Neuen Welt gab es schließlich noch keine Schenke und erst recht keine Bordelle. Also mußte man nehmen, was die Natur zu bieten hatte. Der Schnösel Morris mochte darüber seine verschrobene Meinung
11 haben. Sollte er ruhig seine Finger von den wilden Weibern lassen! Einer weniger, der sich um die hübschen Geschöpfe reißen würde. „Nun denn", sagte Sir William Godfrey, nachdem sie alle die AlgonkinMädchen ausgiebig begafft hatten. „Schaffen wir sie also an Bord. Aber vorher wird die Leiche ins Gebüsch geworfen, und jemand beseitigt die Spuren auf dem Maisfeld." Er gab Grey mit einer Handbewegung zu verstehen, dieser habe dafür zu sorgen, daß die besagten nebensächlichen Arbeiten durchgeführt wurden. Atkinson Grey nickte betont beiläufig. „Ich empfehle", sagte er gedehnt und mit gelangweiltem Gesichtsausdruck, „die Täubchen erst mal ein bißchen zu fesseln. Die bringen es sonst fertig und laufen uns glatt weg." Taffe und Rosebery lachten. Die anderen grinsten. „Äh - äh, das versteht sich - denn doch wohl von selbst", stotterte Sir William, und seine Gesichtsfarbe nahm die Tönung seiner Nasenspitze an. „Natürlich müssen sie gefesselt werden. Völlig klar." Auch Alec Morris und Frank Davenport konnten sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Immer wenn dem alten Säufer ein Schnitzer unterlief, erregte es ihre Heiterkeit am allermeisten. Aber er war nun einmal der ältere und vor allem auch der ranghöhere. Daran hatte man sich letzten Endes immer noch zu halten. In der Welt, aus der Morris und Davenport stammten, galten gewisse Spielregeln. Sie hatten gelernt, daß man gut daran tat, nach den geltenden Regeln mitzuspielen. Um so bes-
ser war man in der Lage, sein eigenes Süppchen zu kochen. Atkinson Grey befahl Jameson Kidd und Frank Rosebery den Indianerinnen die notwendigen Fesseln anzulegen. Grey, Taffe und Gordon zogen unterdessen blank und gingen zwei Schritte auf die Mädchen zu. Das metallische Ziehgeräusch und der blitzende Stahl der Säbel hatte die Mädchen erneut zusammenzukken lassen. Diese Waffen waren für sie vom Äußeren her furchterregender als die Feuerrohre. Letzteren sah man in unbenutztem Zustand nicht an, welche todbringende Wirkung sie hatten. Beim Anblick dieser Säbel aber konnte man sich genau vorstellen, welche grauenhaften Schmerzen sie verursachten, wenn sie einen Menschen durchbohrten. Willenlos ließen Shoara, Riala, Mirimi und Koe es geschehen, daß der strähnenhaarige und der dicke Mann ihnen die Handgelenke auf dem Rükken zusammenschnürten. Einen längeren Strick verwendete Kidd und Rosebery dazu, den Gefangenen die Fußgelenke aneinanderzubinden, wobei ihnen jeweils zwei Yards Abstand voneinander blieben. Auf Greys Anweisung übernahmen Kidd und Rosebery auch die Aufgabe, den toten Algonkin-Jungen ins Gebüsch zu schleifen und die Spuren zu verwischen. Die beiden Männer weideten sich an den fassungslosen Blicken der Mädchen, die noch immer zu jener Stelle starrten, an der die Leiche nun bestenfalls noch durch wilde Tiere gefunden werden konnte. Sir William Godfrey und seinen Verbündeten war unterdessen klar geworden, warum die Indianerinnen
12 nicht den Versuch unternommen hatten, zu schreien. Das Dorf, aus dem sie stammten, war zu weit entfernt, als daß man sie hätte hören können. Sie führten ihre Gefangenen in eine Waldschneise an der Westseite des Maisfeldes. Taffe und Gordon unterstützten Kidd und Rosebery dabei, nun auch die letzten Fußspuren auf dem Feld zu verwischen. Die wenigen umgeknickten Pflanzen würden kaum auffallen und konnten im übrigen auch von Tieren in diesen Zustand versetzt worden sein. Schließlich gab Sir William das Kommando zum Abmarsch. Atkinson Grey übernahm die Führung durch die Sumpfwälder und Flußniederungen. Jameson Kidd und Spencer Taffe folgten ihrem Anführer mit schußbereiten Pistolen. Solange sie das Schiff nicht erreicht hatten, fühlten sie sich nicht sicher. In diesem tückischen Gelände, das hatten sie gelernt, mußte man ständig nicht nur mit den Gefahren der Natur rechnen, sondern auch mit jenen Ureinwohnern, die sich so trefflich darauf verstanden, die Vorteile der wildwuchernden Pflanzenwelt zu nutzen. Die gefesselten Algonkin-Mädchen gingen hinter Grey, Kidd und Taffe. Ihnen folgten Sir William Godfrey, Frank Davenport und Alec Morris mit schlendernden Bewegungen, als befänden sie sich auf einem Spaziergang. Ständig sahen sie sich dabei nach allen Seiten um und setzten interessiert-beeindruckte Mienen auf, womit sie den Kerlen zu verstehen gaben, daß die Botanik für Menschen mit höherem Wissensstand eben viel aufregendere Anblicke bot als drei fast völlig nackte Mädchen. Rosebery und Gordon bildeten den
Schluß der kleinen Marschformation. Ihre Aufgabe war es, nach hinten zu sichern. Wesentlich mehr strengten sie sich jedoch dabei an, ihre Blicke auf die hübschen Kehrseiten der Gefangenen zu richten. Während des insgesamt zweistündigen Marsches ordnete Sir William dreimal eine Verschnaufpause an. Auf die verwunderten Blicke von Grey und seinen Kumpanen erklärte der Rotnasige, die Pausen seien erforderlich, um die Kampfkraft zu erhalten. Die Karavellenkerle verzichteten auf eine Erwiderung, doch die Blicke, die sie untereinander wechselten, sprachen Bände. Schließlich erreichten sie die Bucht, in der die „Explorer" ankerte. Begeisterungsrufe tönten von Bord der Galeone, als die Männer und die gefangenen Indianerinnen auf dem schmalen Streifen Strand vor dem Ufergebüsch erschienen. Aus allen Winkeln der oberen und unteren Decks liefen die Siedler herbei und drängten sich an der Backbordverschanzung der Kuhl. Zwei Dutzend Männer waren es, die sich Grey und den Adligen angeschlossen hatten, nachdem Grey und seine Kerle die „Explorer" gekapert und Kapitän Arnos Toolan sowie die gesamte Besatzung von Bord gejagt hatten. Mit Hilfe von Geiseln hatten sie sich unbehelligt empfohlen. Die Geiseln waren später, in sicherer Entfernung vom Albemarle Sound, über Bord geworfen worden. Sollten sie weiter versuchen, ihre Siedlung aufzubauen! Sollten sie ihre Hütten weiter von den Algonkins niederbrennen lassen! Sollten sie im Winter hungern und frieren! Jene, die dageblieben waren, mußten wissen, was sie taten.
13 Sie vertrauten dem Seewolf, der für sie auf der Suche nach einem besseren Stück Land war. In ihrem kleingeistigen Bewußtsein drehte sich alles nur um Land. Sie waren eben vor allem Bauern, einige auch Handwerker. Die Grenzen ihres Denkes vermochten sie nicht weiträumig genug zu stecken, um zu erkennen, daß es weitaus einträglichere Tätigkeiten gab, als Felder zu bestellen oder Pflugscharen zu schmieden. Andererseits, so überlegte Sir William, war es vielleicht gut so. Es durften eben nur die Besten nach oben streben, und von ihnen wiederum durften nur wenige die Spitze erreichen. Das Gold der Indianer war das Mittel, das den Weg zur Spitze ebnete. Natürlich mußten jene zwei Dutzend dort auf dem Schiff und jene fünf von der Karavelle mit einem erträglich geringen Anteil abgespeist werden. Man mußte das altbewährte Prinzip anwenden: Gib deinen Untertanen das Gefühl, daß sie großzügig versorgt werden, dann werden sie dir vor Dankbarkeit um den Hals fallen und dir deinen unermeßlichen Reichtum von ganzem Herzen gönnen. An Bord der Galeone starrten sie sich schier die Augen aus dem Kopf. Die Algonkin-Mädchen standen mit gesenktem Kopf in ihren Fesseln und schienen die Blicke nicht zu spüren, die sie gierig abtasteten. Sir William stemmte die Fäuste in die Hüften. „Was steht ihr und haltet Maulaffen feil?" brüllte er über das glatte Wasser der Bucht. „Fiert gefälligst die Beiboote und holt uns ab!" Sie begannen, durcheinanderzuhasten und liefen sich fast gegenseitig um. Grey und die anderen von der
Karavelle wechselten bezeichnende Blicke. Aus Bauerntrotteln Seeleute zu machen, war eben keine Sache von Tagen. Immerhin hatten sie aber schon gelernt, wie man die Jollen zu Wasser ließ und sie bemannte. Nachdem sich die Riemen gründlich verheddert hatten, gelang es ihnen schließlich, die Boote in Fahrt zu bringen. Staunend betrachteten sie die Indianermädchen, die ihrerseits wiederum die klobigen Jollen geradezu furchtsam ansahen. Nur widerstrebend stiegen die Mädchen auf die mittleren Duchten des einen Bootes. Taffe und Gordon folgten ihnen zur Bewachung. In der größeren Jolle fanden die übrigen sechs Männer eben noch Platz. Das Boot lag tief im Wasser, bei Seegang wäre es im Handumdrehen vollgeschlagen. An Bord ließ Sir William die Gefangenen auf das Achterdeck bringen und an der vorderen Querbalustrade aufstellen. Grey und die vier anderen bauten sich als Aufsichtspersonen hinter den Indianerinnen auf, obwohl dies im Grunde überflüssig war. Shoara und ihre Gefährtinnen zitterten vor Furcht. Die Höhe und die Größe des Schiffes wirkten mehr als respektgebietend auf sie. Allein die Fremdartigkeit der Umgebung reichte aus, um ihnen tiefstes Unbehagen einzuflößen. Sir William trat mit würdevollen Bewegungen in die Nähe des Backbordniedergangs und tat mit erhobener rechter Hand kund, daß er eine Ansprache zu halten wünsche. Es dauerte eine Weile, bis Ruhe einkehrte. Der aufgeregte Wortwechsel auf der Kuhl handelte ausnahmslos von den körperlichen Qualitäten der Gefangenen. Wenn sich Sir William
14 flüsterte sie ihren Gefährtinnen etwas zu. Sir William runzelte die Stirn. Auf der Kuhl klatschten und johlten sie noch immer. Energisch trat er auf die Gefangenen zu. Disziplin mußte sein. Er mußte zeigen, daß er hart durchgreifen konnte. „Was gibt es hier zu tuscheln!" fuhr er sie an. Jene, die geflüstert hatte, war einen halben Kopf größer als die anderen. Ihre Körperhaltung und ihr Gesichtsausdruck hatten etwas ausgeprägt Würdevolles. Stolz konnte man es fast nennen. „Ich lasse mir nicht den Mund verbieten", sagte sie in recht gutem Englisch. Sir Williams Kinnlade klappte Sir William Godfrey räusperte sich vernehmlich und blickte noch einmal nach unten. Er starrte die Indianerin genußvoll in die Runde. Es war lange an, als hätte er ein fremdartiges Weher, daß er ergebene Zuhörer um sich, sen vor sich. „Du sprichst unsere geschart hatte. Diese hier, an Bord Sprache?" der „Explorer", hatten zwar nicht „Da Sie mich verstanden haben, den hündischen Blick wie es bei dem muß es wohl Ihre Sprache sein." Gesinde auf seinen verschiedenen Auf der Kuhl lachten sie. Gütern der Fall gewesen war. Zorn rötete Sir Williams Gesicht. Aber diese Gefolgsleute gefielen „Nimm dir nur nicht zuviel heraus!" ihm dennoch nicht schlecht. Sie wa- zischte er. „Sonst könnte es sein, daß ren ebenso versessen darauf, ihr Ziel wir uns mit dir zuallererst befassen. zu erreichen, wie er selbst. Sie brauch- Wie heißt du?" ten jemanden, der ihnen das Denken „Shoara." ersparte. Denn dazu waren sie nicht „Gut, gut. Auskunftsfreudig bist du geboren. Und er empfand geradezu wenigstens." Er befingerte seinen körperliches Wohlbehagen dabei, an- Wucherbart. Das Gestrüpp aus deren den Weg zu weisen. grauen Haaren knisterte. „Woher „Ihr seht", sagte er, „wir haben kannst du Englisch?" euch einen hübschen Zeitvertreib „Ich habe es von einem Mann gemitgebracht." Er lächelte, seine rote lernt. In unserem Dorf." Nase leuchtete, und mit einer gönnerSir William zog die Brauen zusamhaften Handbewegung deutete er auf men. Er hatte von diesem Engländer die vier Mädchen. gehört, den die Algonkins vor den AuDie Männer klatschten Beifall. Ei- gen von Laura Stacey grauenvoll hingerichtet hatten. „Er war euer Gefannige grölten. Aus den Augenwinkeln heraus sah gener?" Godfrey, daß eine der Indianerinnen Shoara lächelte. „Er hat sich nicht die Lippen bewegte. Offensichtlich so gefühlt." Gehör verschaffen konnte, dann allein deshalb, weil einer mutmaßte, es werde jetzt eine Art Einteilung stattfinden - wer sich wann und wo mit den fremdartigen und doch überaus hübschen Geschöpfen beschäftigen durfte. Ihr schwarzes Haar und ihre ebenmäßigen Gesichtszüge waren genauso beeindruckend wie ihr makelloser Körperbau und der Bronzeton ihrer Hautfarbe. Die Männer schwiegen nun. Aber die meisten starrten nicht Sir William, sondern die Indianerinnen an.
15 „Aber er war es!" schrie Godfrey. Die Männer auf der Kuhl waren still geworden. Sie spürten, daß es um mehr ging als nur darum, sich auf ein besonderes Vergnügen vorzubereiten. „Wenn Sie es so wünschen", entgegnete Shoara kühl, „dann war er ein Gefangener." Sir William hob drohend die Rechte. Er kostete es aus, den Wütenden zu spielen, ohne mit ernstzunehmendem Widerstand rechnen zu müssen. „Ich warne dich!" schrie er. „Nutze meine Gutmütigkeit nicht aus! Ein Mann, den man hinrichtet, indem man ihm den Schädel spaltet, ist ein Gefangener! Niemand würde so etwas freiwillig mit sich geschehen lassen." „Ich bin in Ihrer Sprache nicht so gut, daß ich feine Unterschiede erkennen könnte", erwiderte Shoara. Sir William nickte und knurrte grimmig. „Also gut, lassen wir das. Du kannst anscheinend aber das Wichtigste verstehen. Das erspart mir eine Menge Mühe. Du brauchst nur zuzuhören, dann weißt du Bescheid." Er wandte sich ab, den Männern auf der Kuhl zu. „Welch ein Glücksfall", sagte Alec Morris und kicherte. „Wenigstens die eine versteht uns. Dann brauchen wir später nicht mit Händen und Füßen zu erklären, was sie für uns tun soll." „Und die drei anderen?" entgegnete Frank Davenport. „Überhaupt kein Problem." Morris feixte. „Die süße Shoara wird uns die einschlägigen Vokabeln in der Algonkinsprache beibringen." „Hervorragende Idee!" Davenport zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
Grey und seine Kumpane lachten glucksend. „Ich bitte um Ruhe!" rief Sir William ärgerlich. Er wedelte mit der erhobenen Hand. „Ich komme jetzt zu den wesentlichen Punkten, über die wir uns noch einigen müssen. Unser gemeinsames Ziel steht fest. Wir werden diesem ungastlichen Land so bald wie möglich den Rücken kehren und zurück nach England segeln. Was auch geschieht, daran werden wir festhalten. Ihr könnt mich in diesem Punkt beim Wort nehmen, Gentlemen." Beifall brandete auf. Sir William lächelte und bewegte die Handflächen dämpfend auf und ab. „Also gut. Über dieses Thema brauchen wir nicht weiter zu sprechen. Es gibt aber noch einiges, was in dem ach so gelobten Land zu tun ist. Wir müssen . . . " „Auf das gelobte Land pfeifen wir!" brüllte einer. „Es kann uns gestohlen bleiben!" schrie ein anderer. Wieder wurde gejohlt und geklatscht. „Wir müssen uns ausreichende Vorräte beschaffen", fuhr Sir William mit erhobener Stimme fort. „Wir dürfen die Reise über den Atlantik auf keinen Fall leichtfertig beginnen. Jeder noch so kleine Fehler kann uns später das Leben kosten. Ein Schiff kann in wochenlange Flauten geraten. Wir können in einer Nebelzone vom Kurs geraten. Auch ein Sturm kann uns die schlimmsten Verzögerungen bringen. Dafür müssen wir gerüstet sein. Aber das ist nicht alles." „Natürlich ist das nicht alles", sagte Frank Davenport leise kichernd hinter ihm. „Über das Wichtigste
16 sprichst du natürlich zuletzt. Du spannst uns wirklich auf die Folter, mein lieber William." „Hat den Mund!" zischte Godfrey nach rechts. Morris und Davenport kicherten gemeinsam. Für den Moment schienen die Männer auf der Kuhl die Indianermädchen vergessen zu haben. Sie spürten, daß Sir William in der Tat etwas Entscheidendes vorhatte, auf das er vermutlich erst durch die Gefangennahme der Mädchen gestoßen war. Gespannt blickten sie zu ihm auf. „Wir haben eine gewisse moralische Verpflichtung", fuhr er fort. „Eine Pflicht, die wir für unsere toten Landsleute zu erfüllen haben. Sie sollen nicht umsonst gestorben sein. Sie sollen uns gewissermaßen den Weg in eine bessere Zukunft bereiten. Dieser Weg führt über eine Vergeltungsaktion. Eine solche Aktion hätte ein gewisser Sir Philip Hasard Killigrew längst durchführen sollen. Aber dazu fehlte ihm offenbar der Mumm." Erneut klatschten die Männer Beifall. Grey und seine Kumpane und sogar Davenport und Morris schlossen sich an. Sir William bedankte sich mit einer Handbewegung. „Wir haben die Mittel und Wege, um das risikolos durchzuführen", fuhr er fort. „Unser aller gemeinsame Freundin Shoara wird uns zu ihrem Dorf bringen. Ihre drei Gefährtinnen bleiben natürlich hier an Bord, damit Shoara auch die entsprechende Bereitwilligkeit zeigt." Shoara stieß einen Entsetzenslaut aus. Die Männer an Deck grinsten, als Shoara für ihre Stammesgenossinnen übersetzte und deren Gesichter nicht weniger erschrocken aussahen. „Es wird eine harte, aber gerechte
Strafe werden!" rief Sir William. „Wir werden diesen Ureinwohnern in aller Deutlichkeit vor Augen führen, daß sie mit unsereinem nicht tun können, was ihnen gerade einfällt. Bei der Gelegenheit werden wir uns natürlich gründlich bei den Algonkins umsehen. Es ist unser moralisches Recht, eine Entschädigung für die Greueltaten mitzunehmen, die sie unseren armen Landsleuten angetan haben." Wieder wurde Beifall laut. Sir William bemerkte mit Genugtuung, daß das Entsetzen bei den Indianermädchen nicht nachließ. Die Dinge ließen sich hervorragend an. „Bereiten wir unsere Expedition schleunigst vor!" fuhr er fort. „Zehn Mann bleiben an Bord. Alle anderen marschieren landeinwärts. Hat jemand etwas dagegen einzuwenden?" Kein einziges Widerwort wurde laut. Davenport und Morris wechselten einen Blick. Sir William verdiente Anerkennung. Er hatte es geschickt eingefädelt. Die Siedler würden nicht mißtrauisch werden, da mehr als die Hälfte von ihnen an der Aktion beteiligt wurde. Sie wußten, wie die „Entschädigung" aussehen sollte, die Sir William ins Auge gefaßt hatte. Gold. Um nichts anderes ging es. Natürlich war die Vergeltungsaktion ein guter Vorwand, mit dem man sein Tun auch vor sich selbst rechtfertigen konnte. Die Siedler Waren in der Beziehung nicht auf den Kopf gefallen. Sie begriffen durchaus, was sich abspielen würde. Es war nur wichtig, daß sie später nicht mehr bemerkten, wer sich den Hauptanteil an der Beute unter den Nagel riß. Bis man England erreichte, blieb
17 eine Menge Zeit. Sir William und seine beiden adligen Freunde würden Zeit und Gelegenheit haben, ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen und alle anderen mit einem geringen Anteil abzuspeisen - auch Atkinson Grey und seine Kumpane. Es mußte eben die bewährte Methode angewendet werden, nach der man einfachen Leuten einen kleinen Brocken hinwarf und ihnen erklärte, daß es sich um eine außergewöhnliche Großzügigkeit handele. „Fangen wir also sofort an!" entschied Sir William voller Entschlossenheit. „In zwei Stunden brechen wir auf!" 3. Die Schebecke ankerte in Sichtweite in einer Flußmündung. Die Söhne des Seewolfs achteten sorgfältig darauf, sich nicht zu weit zu entfernen. Dabei ließen sie sich auch nicht von Plymmie beeindrukken, die immer wieder vorauslief, aufgeregt schwanzwedelnd zurückkehrte und dann das Spiel von neuem begann. „Irgend etwas hat sie gefunden", sagte Philip. Sie waren am Rand einer schilfumwachsenen kleinen Bucht stehengeblieben. „Klar hat sie was gefunden", entgegnete Hasard junior. „Da müßten wir sie ja schlecht kennen, wenn wir so was nicht feststellen würden." „Ja, und?" Philip sah seinen Zwillingsbruder an. Hasard junior erwiderte den Blick. „Was heißt , j a , und'?" „Himmel noch mal, reden wir doch nicht um den Brei herum! Plymmie wäre nicht so aufgeregt, wenn sie
nicht etwas Wichtiges entdeckt hätte." „Du meinst also, wir sollten nachsehen?" „Genau das." „Übernimmst du die Verantwortung?" „Wie soll denn das funktionieren?" „Ganz einfach. Du nimmst alle Schuld auf dich, falls was schiefgehen sollte." „Witzbold! Wer würde uns denn wohl glauben, daß du dich einfach von mir herumkommandieren läßt!" „Hm." Der Wortwechsel der beiden Jungen verstummte. Sie waren schon eher junge Männer. Dementsprechend trugen sie auch Pistolen und Entermesser an den Gürteln. Nichtsdestoweniger galt die Anweisung ihres Vaters, daß sie stets in Sichtweite der Schebecke zu bleiben hatten, wenn sie denn schon unbedingt einen Landgang auf eigene Faust unternehmen mußten. Die Zwillinge hatten ihren Dad jedoch in einem Punkt richtig eingeschätzt: Er unterdrückte ihren Tatendrang selten, wenn es nicht zwingend erforderlich war. Abermals hechelte die Wolfshündin im hohen Gras am Rand des Schilfsgürtels herbei. Ihr buschiger Schwanz fächerte das Gras, und jetzt stieß sie ein leises, heiseres Bellen aus. Es fehlte nicht viel daran, daß sie einen der Jungen am Stiefelschaft packte und ihn mit sich zerrte. „Also los", sagte Philip. „So weit kann es nicht sein. Sonst wäre sie nicht jedesmal so schnell wieder hiergewesen." „Auf deine Verantwortung?" „Himmel, fang nicht schon wieder an!" Die beiden Jungen grinsten sich an,
18 versetzten sich gegenseitig einen kameradschaftlichen Boxhieb an die Schulter und sahen sich um. Die Schebecke hatte ihren Liegeplatz noch nicht gewechselt. Sie gingen los. Plymmie drehte sich vor Freude im Kreis. Dann schoß sie wie ein grauer Blitz vor ihnen her. Es gab keinen Trampelpfad, praktisch nur eine Fährte, wo die Wolfshündin bei ihrem vielen Hin und Her das Gras niedergedrückt hatte. Nach Sekunden huschte Plymmie nach rechts davon und war nicht mehr zu sehen. Die Söhne des Seewolfs folgten ihrer Spur. Wenn sie sich umdrehten, konnten sie den Dreimaster in der langgezogenen Bucht noch immer sehen. Sie taten also nach wie vor nichts Verbotenes. Plymmies Spur führte nahezu rechtwinkelig vom Fluß weg. Weiter landeinwärts wuchsen Weidensträucher. Graue, abgestorbene Bäume waren zu sehen. Sie mußten den häufigen Überflutungen dieses Gebiets zum Opfer gefallen sein. Etwa in Musketenschußweite erhob sich der Rand eines Waldes wie eine dunkelgrüne Wand aus dem ebenen Gelände. Die Zwillinge waren ungefähr hundert Yards vom Flußufer entfernt, als die Fährte einen Bogen beschrieb, dann aber wieder geradeaus verlief. Philip und Hasard junior sahen, daß die Wolfshündin dem Lauf eines Baches folgte. Wegen des hohen Schilfs war die Mündung in den Fluß nicht zu erkennen gewesen. Sie näherten sich dem Wald. Abermals verharrten sie und wandten sich um. Wegen der vielen Weidensträucher konnten sie die Schebecke nun nicht mehr sehen. Doch sie
beruhigten sich gegenseitig, indem sie sich sagten, daß ja die Sicht nur ein bißchen versperrt war. Wenn man sich die Weiden wegdachte, machte es praktisch keinen Unterschied, denn die Entfernung war ja kaum größer als vorher. Unvermittelt öffnete sich das Gras zu einer sandigen Fläche am Rand des Baches. Drüben, am anderen Ufer, waren es nur noch wenige Yards bis zum Waldrand. Kegelförmige Erhöhungen zeichneten sich dort, am jenseitigen Ufer des Creeks, ab, und ein Stück weiter aufwärts war der Beginn eines Damms zu erkennen, der in das mit mäßiger Strömung fließende Wasser ragte. Die Kegel und auch das Stück Damm waren aus Zweigen und Ästen geradezu kunstvoll zusammengefügt. „Biber!" entfuhr es Philip. „Sieh dir das an!" „Na und?" entgegnete Hasard junior. „Das stößt mich nicht aus den Stiefeln. Als ob wir so was noch nie gesehen hätten! Verstehe gar nicht, daß Plymmie deswegen so aus dem Häuschen ist." Philip schüttelte den Kopf und maß seinen Bruder mit einem verständnislosen Blick. Natürlich hatte Hasard einerseits recht. Sie waren nicht zum ersten Male auf diesem nördlichen Teil jenes Doppelkontinents, der neuerdings auch Amerika genannt wurde - nach den Entdeckungsreisen des Italieners Amerigo Vespucci. Virginia gehörte zu Nordamerika ebenso wie jene unwirtlichen Landstriche an der Hudson Bay, die Philip und Hasard als Halbwüchsige kennengelernt hatten. Damals schon waren sie den Indianern Nordamerikas begegnet, und schon damals hatten sie auch die faszinierende und fremd-
19 artige Tierwelt dieses unbekannten Landes kennengelernt. Biber waren wirklich nichts Neues für sie. Bevor Philip seinen Bruder zurechtweisen konnte, erschien Plymmie. Schwanzwedelnd fegte sie auf dem Sandstreifen herbei, und sie wirkte noch aufgeregter als zuvor. Sie sprang an Philip hoch, es sah regelrecht so aus, als ob sie mit den Vorderläufen auf seine Brust trommeln wollte. „Ist ja gut", sagte Philip beruhigend und kraulte ihr den Nacken. „Ganz ruhig, meine Gute. Keine Angst, wir kümmern uns um alles, was du aufgestöbert hast." Plymmie ließ sich herunter und rannte von neuem los. „Manchmal will sie sich auch bloß aufspielen", sagte Hasard achselzukkend. Philip war bereits im Begriff, der Wolfshündin zu folgen. Er blieb noch einmal stehen und warf seinem Bruder einen zornigen Blick zu. „Ich möchte mal wissen, welche Laus dir auf einmal über die Leber gekrochen ist. Mir scheint's eher so, als ob du dich aufspielen willst." „Ich stelle die Dinge nur auf die richtige Stufe", erwiderte Hasard brummig. „Wenn Plymmie verrückt spielt, müssen wir nicht auch anfangen." „Sehe ich verrückt aus?" Philip schüttelte erneut den Kopf. Dann ging er weiter, ohne seinen Bruder noch zu beachten. Hasard folgte ihm grinsend. Manchmal bereitete es ihm ein heimliches Vergnügen, sein Bruderherz herauszufordern. Die nichtigsten Anlässe genügten schon, um ihn auf die Palme zu bringen. Plymmie war unterdessen im Uferschilf oberhalb des
Sandstreifens verschwunden. Philip betrat die schmale Gasse, die die Wolfshündin durch das Schilf gebahnt hatte. Im selben Moment ertönte das Geräusch. Ein scharfes Zischen, fast ein Pfeifen. Philip verharrte wie von einem Fausthieb gestoppt. Auch sein Bruder blieb unwillkürlich stehen. Philip zog die Pistole, Hasard folgte seinem Beispiel und schloß auf. Nur einen knappen Schritt voneinander entfernt, bewegten sich die Brüder jetzt weiter voran. Das Zischen wurde schärfer, drohender. Unvermittelt lichtete sich das Schilf. Als erstes sahen sie Plymmie. Die Wolfshündin stand mit gesträubten Nackenhaaren da, geduckt und nach vorn gebeugt. Die Schilflichtung war mit einer dicken Schicht von Zweigen und Ästen ausgelegt. Es gab eine Wegverbindung zum Bach hin, wo ebenfalls der Beginn eines Damms zu erkennen war. Plymmie knurrte nicht, fletschte nicht einmal die Zähne, stand einfach nur da und zeigte vorsorglich, wie aufmerksam und notfalls kampfbereit sie war. Doch sie mußte längst erkannt haben, daß hier kein Kampf erforderlich sein würde. Die Zwillinge traten neben die Hündin. Jetzt sahen sie den Biber. Er hockte in einer seltsam verkrümmten Stellung in der Mitte der kleinen Lichtung. Seine Zähne waren entblößt, die Nase gekraust, wie er die Jungen drohend anstarrte und fortwährend dieses Zischen ausstieß. Philip und Hasard steckten die Pistolen weg.
20 „In Wirklichkeit hat er Angst", sagte Philip. „Natürlich. Er ist verletzt", erklärte Hasard fachmännisch. „Mit Plymmie hat er sich wahrscheinlich schon halbwegs angefreundet, sonst hätte es viel mehr Getöse gegeben. Aber jetzt, nachdem wir aufgekreuzt sind, ist er wieder in Panikstimmung." Philip musterte seinen Bruder mit einem erstaunten Seitenblick. „Dein plötzliches Interesse ist ja unglaublich. Ich denke, Biber sind nichts Besonderes?" „Verletzte Biber schon. Wir sollten uns überlegen, wie wir ihm helfen können." „Dazu müßte er uns erst mal an sich heranlassen." Philip rieb sich das Kinn. „Wenn diese Burschen mit ihren Zähnen einen Baum umlegen können, dann dürfte eine Menschenhand oder ein Arm eine viel leichtere Übung für sie sein." „Vielleicht können wir ihm gut zureden", meinte Hasard. „Wenn er merkt, daß wir ihm nichts Böses wollen, müßte er doch aufhören mit seinem Gefauche." „Optimist! Dann versuch's mal!" Hasard ließ sich nicht zweimal auffordern. Er ging in die Hocke, um sich mit dem Biber auf eine Ebene zu begeben. Demonstrativ legte er seinen rechten Arm um Plymmies Nacken und zog die Hündin ein Stück zu sich heran. „Siehst du, Mister Biber? Mein Bruder und ich - wir beide mögen Tiere verdammt gern. Weil wir nämlich wissen, wie wichtig es ist, daß es Tiere auf der Welt gibt. Verstehst du, Mister Biber? Deswegen würden wir dir gern helfen. Wir wissen nämlich auch . . . " Unwillkürlich hielt er inne. Das Tier hatte mit dem drohenden
Zischen aufgehört. Es legte den Kopf schief und betrachtete den Jungen aus dunklen Knopf augen. „Wir wissen nämlich auch", fuhr Hasard rasch fort, „daß es dir überhaupt nicht gut geht. Das sieht man dir an. Schade, daß du nicht sprechen kannst. Dann könntest du uns verklaren, was mit dir los ist, und dann würden wir dich dem Kutscher vorführen. Ich sage dir, der hat dich im Handumdrehen kuriert. Der Kutscher ist nämlich als Medicus ein erstklassiger Fachmann. Hauptsächlich behandelt er Menschen. Aber Tiere versorgt er genausogut. Plymmie zum Beispiel könnte dir davon erzählen, wenn ihr beide die gleiche Sprache sprechen würdet. Also - wie ist es? Was hältst du davon, wenn wir dich mitnehmen und von deinen Schwierigkeiten befreien?" Der Biber war noch immer still und sah den Jungen an, der da vor ihm hockte und soviel redete. Das Tier hatte einen geradezu nachdenklichen Gesichtsausdruck. So jedenfalls wertete es Hasard junior. „Ich sehe, du bist ein bißchen beeindruckt", sagte er daher. „Hör zu, ich werde dich jetzt mal anfassen und streicheln. Das ist als kleiner Freundschaftsbeweis gedacht, verstehst du? Du gibst mir zu erkennen, daß du einverstanden bist, und alles weitere läuft dann wie am Schnürchen. Wir tragen dich zu unserem Schiff, und du wirst sehen . . . " Er streckte vorsichtig die rechte Hand aus, um das Tier im Nacken zu streicheln - etwa so, wie er es bei Plymmie gewohnt war. Jäh zuckte der Kopf des Bibers vor. Sein pfeifendes Zischen war wie ein Peitschenhieb, und seine mächtigen Nagezähne blitzten.
21 Erschrocken wich Hasard zurück. Er sprang auf und tat einen Schritt rückwärts. Plymmie knurrte leise. Der Biber beruhigte sich, rührte sich aber nicht vom Fleck. Philip lachte. „Was gibt es da zu lachen?" fauchte Hasard. Er ballte die Hände zu Fäusten und sah ganz so aus, als wolle er sich im nächsten Moment auf seinen Bruder stürzen. Philip prustete regelrecht und hatte Mühe, sich zu beruhigen. „Also wirklich! Ich hab ja die ganze Zeit an mich gehalten, um nicht loszubrüllen. Das war doch wohl ein Witz, Bruderherz! Du redest mit so einem Biber wie mit einem Menschen und denkst, der würde was verstehen. Wenn er überhaupt eine menschliche Sprache verstehen könnte, dann müßte es die der Algonkins sein. Unser Biber lebt schließlich hier, im Indianerland. Er ist kein aus England eingewanderter Siedlerbiber." „In England gibt's überhaupt keine Biber!" ereiferte sich Hasard. „Na, siehst du! Dein Gefasel war für die Katz, mein Lieber." „War es nicht!" „Und das Ergebnis? Sollte das etwa ein Erfolg gewesen sein?" „Man darf die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen. Himmel, Arsch, du hast ja keine Ahnung! Wenn man mit einem Tier spricht, dann geht es nicht darum, daß es die Wörter versteht. Es soll aus dem Klang der menschlichen Stimme heraushören, was man meint. In unserem Fall soll der Biber mitkriegen, daß wir es gut mit ihm meinen. Das ist alles." „Dann hat er dich aber total mißverstanden." Philip grinste. „Vielleicht haben wir es mit einem Biber
zu tun, der schwer von Begriff ist. Ist ja möglich. Nimm Plymmie. Sie ist wirklich klug, da sind wir uns ja wohl einig. Aber es gibt ja auch total blöde Hunde, stimmt's?" „Auf den Arm nehmen kann ich mich selber", entgegnete Hasard gallig. „Na gut. Zur Sache. Unser Problem ist nicht gelöst. Willst du es noch länger mit deiner gutmeinenden Überredungs-Besänftigungs-Methode versuchen?" Hasard schüttelte wütend den Kopf. „Wenn du weiter so eine abfällige Meinung darüber hast, hat es keinen Zweck. Dann funktioniert es nicht. Ein Tier spürt so etwas. Da kann ich mich noch und noch bemühen, es führt doch zu nichts." „Ach! Willst du jetzt mir die Schuld geben?" „Natürlich. Wenn du mitgeholfen hättest, wären wir vielleicht längst unterwegs zur Schebecke." „Weil wir beide vom Biber gebissen wären." Philip feixte. „Hör auf jetzt. Während wir beide herumstreiten, geht es unserem kleinen Freund immer schlechter." „Klein nennst du den? Ein ganz schöner Brocken ist das. Ich wette, der wiegt mindestens einen halben Zentner." „Lenke nur weiter vom Thema ab. Wenn er vor unseren Augen eingeht, hast du wirklich die Schuld." „Also gut, du hast recht, du hast mal wieder den klaren Überblick. Was schlägst du vor?" „Ich habe nichts vorgeschlagen, ich habe etwas unternommen. Du hast nur dagestanden und zugesehen. Du bist an der Reihe - wenn dir an dem armen Tier wirklich etwas liegt." „Hm." Philip nickte und rieb sich
22 das Kinn. Er betrachtete den Burschen mit seinem dunkel glänzenden Fell und dem breiten, platten Schwanz. Ein Prachtexemplar von Biber. „Es wäre wirklich schade um ihn. Nennen wir ihn Barnaby." Hasard griff sich an den Kopf. „Nein!" stöhnte er. „Das ist doch nicht zu fassen! Ich denke, du hast einen Vorschlag, wie wir ihm helfen können, und du tust nichts anderes, als einen Namen für ihn zu finden." „Das ist nicht wahr! Der fiel mir ganz plötzlich ein, einfach so, als ich ihn angesehen habe. Nenne es Eingebung, wenn du willst. Wie findest du Barnaby? Den Namen, meine ich." Hasard schnaufte. „Nicht schlecht", sagte er besänftigt. „Aber du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß wir ihn an Bord behalten dürfen." „Wenn wir uns für eine hilflose Kreatur einsetzen, hatten wir noch immer die Mehrheit auf unserer Seite. Das weißt du." Philip verschränkte die Arme vor der Brust. „Und jetzt zu meinem Vorschlag. Es ist ganz einfach, und du wirst mir nicht widersprechen können. Wenn wir ihn wirklich anfassen und wegtragen wollen, gibt es nur eine Möglichkeit. Wir müssen ihn betäuben." „Betäuben? Wie denn das?" „Denk ein bißchen nach." „Eine Flasche Rum werden wir ihm nicht einflößen können." „Meine Güte!" Philip stöhnte und verdrehte die Augen. „Die einfachste Methode wirkt am besten. Wir geben ihm eins auf den Schädel." „Bist du verrückt?" rief Hasard erschrocken. „Wir könnten ihn dabei leicht töten! Wir wissen nicht, wieviel er verträgt. Er ist doch kein Mensch." „Das ist mir klar. Hast du eine bessere Idee?"
„Warte . . . " Hasard rieb sich die Nase. „Er kann sich nicht bewegen. Laß uns mal davon ausgehen. Er hat irgendwas, so daß er sich nicht vom Fleck rühren kann. Wenn wir ihn irgendwie aufheben und tragen könnten, ohne ihn dabei anfassen zu müssen, wäre das Problem gelöst." „Du meinst eine Art Trage?" „Ja! Genau das!" rief Hasard strahlend. „In Ordnung, in Ordnung. Aber wie soll ihn der Kutscher behandeln, ohne ihn anzufassen?" „Ihm wird wegen einer Betäubung schon was einfallen. Darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen, wenn wir Barnaby erst mal auf den Weg gebracht haben." „Gut, einverstanden." Philip sah sich um. Im nächsten Moment zog er die Augenbrauen hoch. „Ganz einfach! Sieh dir die vielen Weidensträucher an. Was wir brauchen, sind zwei lange, stärkere Äste. Dazwischen flechten wir eine Art Korb aus Weidenzweigen. Das Ganze halten wir Barnaby vor die Nase, und dann brauchen wir ihn bloß noch hineinzuschieben." Hasard war begeistert. In aller Eile gingen sie an die Arbeit. Plymmie blieb bei dem hilflosen Biber Barnaby, während die Jungen in der Umgebung den benötigten Vorrat an Ästen und Zweigen aus den Weidenbüschen schnitten. Dann ließen sie sich am Rand der kleinen Schilflichtung nieder und begannen mit dem Flechten. Sie brauchten keine Stunde, bis sie die Bibertrage fertig hatten. Der schwierigere Teil der Aufgabe begann - Barnaby dazu zu bewegen, auf seine geflochtene Sänfte zu steigen. War er die ganze Zeit still gewesen, so
23 begann er jetzt zu zischen, zu fauchen und zu kreischen, als sie ihm das zwei Yards lange Weidengestänge mit dem Flechtkorb in der Mitte über den Kopf hoben und vor die Nase hielten. Verzweifelt versuchte das Pelztier, sich mit den kurzen Vorderbeinen zur Seite wegzuziehen. Doch schon bei der geringsten Bewegung schrie es vor Schmerzen. Philip und Hasard gelangten zu der Überzeugung, daß mit Barnabys Hinterbeinen etwas nicht stimmte. Sie ließen den Flechtkorb vor ihm liegen, die armdicken Äste zu seinen Seiten, und wichen zurück - in der Hoffnung, daß der Biber sich an das Ding gewöhnte. In der Tat wurde er nach einer Weile ruhiger und gab sein protestierendes Gezeter auf. Möglicherweise lag es aber auch daran, daß er einfach erschöpft war. Die Zwillinge versorgten sich mit zusätzlichen Weidenästen, die an der Spitze eine Gabel hatten. Behutsam versuchten sie, Barnaby auf das Korbgeflecht zu schieben. Sobald sie ihn berührten, schrie er abermals los. Schließlich verfielen die Jungen darauf, mit den Astgabeln in das Zweigwerk zu stechen, auf dem er lag. So gelang es ihnen, Barnaby mit einem Teil seiner Lagerstätte auf den Korb zu heben. Er war nun in der Tat zu erschöpft, um sich zu wehren. Sein Zischen und Pfeifen hatte erheblich an Lautstärke verloren. Plymmie umkreiste die Jungen aufgeregt, als sie die Trage mit dem hilflosen Biber hochhoben und losmarschierten. Schon nach wenigen Minuten sahen sie die Mastspitzen der Schebecke wieder. Nichts hatte sich verändert.
Ihr Vater war mit seiner Gruppe noch nicht vom Erkundungsgang zurückgekehrt. 4. Das Dorf befand sich unterhalb eines Hügels. Eine weite Ebene dehnte sich diesseits des Hügels. Das Land war von Wasserläufen durchzogen. Von der Hügelkuppe aus konnten Wachtposten ohne Zweifel das Land auf der anderen Seite überblicken. Sir William Godfrey und seine adligen Gefährten hatten für ihre Majestät, Königin Elizabeth I., nie in Kriegsdiensten gestanden. Taktische Überlegungen, sofern sie über die Augenblickssituation hinausführten, waren ihnen daher fremd. Dennoch wußten sie, daß die Algonkins einen hervorragenden Platz für ihre kleine Ansiedlung gewählt hatten. Das bedeutete andererseits, daß die Algonkins auch vor dem Eintreffen der englischen Siedler nicht in Frieden gelebt hatten. Es mußte demzufolge einheimische Feinde geben, gegen die sich dieser Indianerstamm zu schützen versuchte. Sir William und seine beiden Gefährten von Rang, Atkinson Grey und seine Karavellenkerle und die vierzehn Siedler verharrten im Schutz eines Waldrandes. Grey, der für die Gefangene verantwortlich war, hatte das Mädchen knebeln lassen - zusätzlich zu den Handfesseln. Shoara trug die Hände nach wie vor auf dem Rükken. Der Knebel sollte verhindern, daß sie ihre Leute durch Geschrei alarmierte. Sir William runzelte die Stirn. Das Dorf wirkte seltsam leer und wie ausgestorben. Schon mehrmals hatten
24 seine Kumpane und er bei ihren Erkundungen jene länglichen Hütten gesehen, die aus einem Halbrund als Dach und aus halbkreisförmigen Stirnwänden bestanden. Sie wußten daher auch, wie primitiv diese einfachen Behausungen beschaffen waren. Der Boden der Hütten bestand aus Fellen, die auf einem festen Untergrund lagen. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um sorgfältig zusammengefügte Zweige, selten um anderes weiches Material wie etwa Fellreste, die sich für sonstige Zwecke nicht mehr verwenden ließen. Das Gerüst der Hütten bildeten nahezu armdicke Äste, die akkurat gebogen waren. Die Zwischenräume waren mit Flechtwerk ausgefüllt. Außen waren die Hütten mit vernähten Tierhäuten abgedeckt. Sir William und seine Männer waren nahe genug heran, um weitere Einzelheiten erkennen zu können. Sie brauchten dazu nicht einmal Spektive. Es genügte, mit dem bloßen Auge zu spähen. Die Gasse zwischen den Hütten erweiterte sich zu einem zentralen Platz. Die Fläche wurde von einem hohen Pfahl in der Mitte bestimmt, um den sich ein Kreis von weiteren Pfählen gruppierte. Der Kreis maß gut zehn Yards im Durchmesser. Nur der mittlere Pfahl war mit eingefärbten Schnitzereien verziert. Die anderen bestanden aus rohem, glattgehauenem Holz. Dies mußte der Ort sein, an dem der gefangene Engländer hingerichtet worden war und an dem Laura Stacey und Gordon Jameson und seine Männer bis zur Befreiung durch den Seewolf gefesselt gewesen waren. Einige Rothäute waren bei der Be-
freiungsaktion getötet worden. Auch mehrere Hütten hatte man in Brand gesteckt. Dennoch, so konnten die Adligen und ihre Gefolgsleute jetzt feststellen, hatten die Algonkins schon wieder beträchtliche Aufbauarbeit geleistet. Gestalten bewegten sich nur von Zeit zu Zeit zwischen den Hütten. Frauen, die in ihren Bewegungen geschäftig aussahen. In den engen Gassen zwischen den Behausungen spielten Kinder. Hunde kläfften übermütig. Sir William wandte sich um, nachdem sie das Dorf bestimmt zehn Minuten lang beobachtet hatten. „Was ist da los?" herrschte er die junge Indianerin an. „Jetzt ist doch bestimmt keine Mittagsruhe mehr! Was hat das zu bedeuten? Liegen eure Kerle den lieben langen Tag auf der faulen Haut?" Shoara schluckte. Ihr Herz hämmerte. Natürlich kannte sie die Erklärung. Die Männer befanden sich noch immer auf der Jagd. Vielleicht erkundeten sie zugleich, ob neue Feinde in ihr Gebiet vorgedrungen waren. Auf jeden Fall waren bestenfalls ein paar Wachtposten im Dorf zurückgeblieben. Verzweifelt suchte Shoara nach einer plausibel klingenden Erklärung. Dann kam ihr der rettende Gedanke. So schien es ihr jedenfalls. Ihr wurde nicht bewußt, wie wenig glaubhaft dieser Gedanke war. Grey näherte sich ihr von hinten und zupfte an den Knoten des Tuchs, mit dem ihr Knebel festgehalten wurde. „Ein lauter Ton, und ich drücke dir die Kehle zu!" drohte er im Flüsterton. Shoara schüttelte heftig den Kopf.
25 Sie räusperte sich mühsam, als der hochgewachsene, muskulöse Kerl ihr den Knebel herausnahm. „Die Männer haben ihren Versammlungsplatz auf der anderen Hügelseite", sagte sie. „Da treffen sie sich zum Palaver. Frauen dürfen nicht dabei sein und nichts hören." Sir William blickte sie an. Morris und Davenport grinsten. Die anderen schüttelten ungläubig die Köpfe. „Sehr lobenswert, diese Einstellung", sagte Sir William schließlich. „Das Weibervolk muß ja auch nicht immer alles mitkriegen. Manchmal ist es besser, die Ladys erfahren überhaupt nur das Nötigste." Die Männer lachten gedämpft. „Das klingt, als ob du aus Erfahrung sprichst", sagte Alec Morris grinsend. „Dabei kann ich mir nicht vorstellen, daß sich jemals eine Lady mit dir als Ehehälfte eingelassen hätte." „Habe ich dir etwa meinen Lebenslauf in allen Einzelheiten anvertraut?" entgegnete Sir William zischend. „Was meinst du, welche Erfahrungen hinter mir liegen? Davon hast du nicht die leiseste Ahnung." „Hört, hört!" rief Morris halblaut. „Der Fachmann in allen Lebenslagen spricht!" „Schluß jetzt!" stieß Godfrey hervor. „Wir sehen uns das mal näher an. Im Bogen um das Dorf! Wenn es sein muß, stören wir das traute Palaver unserer lieben Algonkin-Freunde." Er sah Shoara zwinkernd an. Dann gab er Grey einen Wink. Der Anführer der Karavellenkerle stopfte Shoara den Knebel wieder in den Mund und verknotete das Tuch. Es durchfuhr sie siedendheiß. Mit ihrer Behauptung hatte sie nicht die leiseste Chance, Unheil vom Dorf ab-
zuwenden. Im Gegenteil. Womöglich stürzte sie ihre Stammesgenossen dadurch nur noch mehr ins Verderben. Denn gegen die todbringenden Waffen der Engländer war kein Kraut gewachsen. Vor allem konnten die paar Wachtposten nichts gegen Feuerrohre und Säbel ausrichten. Auch drei große Bogen hatten sie dabei, größer als ein Mann waren diese Bogen und die Pfeile in den Köchern so lang wie ein Männerbein. Die Männer lachten wieder, als sie sich in Bewegung setzten. Der Gedanke, die vermeintliche AlgonkinVersammlung gründlich zu stören, schien ihnen außerordentlich gut zu gefallen. Sie schlugen einen weiten Bogen nach Norden. Dabei nutzten sie jeden sich bietenden Geländevorteil. Es gab genügend Buschwerk und Baumgruppen, die als Sichtschutz dienten. Shoara flehte zu den Göttern, daß sie ihrem Vater und den anderen Männern einen Hinweis geben - daß Shenon und seine Jagdgefährten die Gefahr spürten, die dem Dorf drohte. Doch es gab keine gütige Fügung, die die Dinge noch einmal zum Guten wendete. Das Verderben ließ sich nicht mehr aufhalten. Dies wurde Shoara bewußt, als sich die Marschformation der Engländer der bisher abgewandten Seite des Hügels näherte. Dort gab es natürlich keinen Versammlungsplatz. Gras und niedriges Buschwerk erstreckten sich über die gesamte Anhöhe. Sir William gab das Zeichen zum Halten und wandte sich um. „Sieh an, sieh an", sagte er grinsend. „Da hat unsere kleine Freundin uns doch tatsächlich belogen! Was sollen wir denn davon halten?"
26 „Wenig, was ihre Ehrlichkeit betrifft", antwortete Frank Davenport feixend. „Aber viel, was die Lage der Dinge angeht. Vom Hügel aus wird alles Weitere noch leichter als zu ebener Erde." Sämtliche Männer nickten zustimmend und erfreut. Erst in diesem Moment wurde Shoara klar, welchen furchtbaren Fehler sie begangen hatte. Statt die Gefahr abzuwenden, hatte sie die Lage für das Dorf nur noch verschlimmert. Sie wünschte sich, nicht mehr zu leben. „Siehst du", erklärte Sir William und sah sie mit breitem Grinsen an. „Das kommt dabei heraus, wenn ungezogene kleine Mädchen nicht gleich die Wahrheit sagen. Nun, wir werden uns später noch damit befassen, wie wir dich für diese Ungezogenheit bestrafen müssen. Ich bin sicher, uns wird etwas Passendes einfallen." Die Kerle lachten leise und glucksend. Shoara war froh, daß sie wegen des Knebels nicht antworten konnte. Zugleich wußte sie, daß es nicht den winzigsten Grund zur Erleichterung gab. Zeit ihres Lebens mußte sie sich von nun an die schlimmsten Vorwürfe bereiten. Denn nichts konnte das Geschehen jetzt noch aufhalten. Sir William gab knappe Anweisungen. Sie alle waren keine kriegserprobten Kämpfer. Bestenfalls die Karavellenkerle verstanden das Waffenhandwerk. Doch für die Lage, die sie hier vorfanden, bedurfte es keiner gewieften Taktiker. Sir William schickte die Männer in Position. In breiter Front verteilten sie sich auf der Hügelkuppe. Zwei Langbogenschützen gingen an den Flanken in Stellung, der dritte
in der Mitte. Jeweils zwei Männer teilten sich den Einsatz der Musketen, der eine war für das Feuern, der andere für das Nachladen verantwortlich. Da jeder Mann eine Muskete bei sich trug, würde eine hohe Feuergeschwindigkeit erzielt werden. Sir William wählte den Platz neben dem mittleren Bogenschützen. Er plazierte Shoara neben sich, damit er sie im Auge behalten konnte. Dann blickte er nach beiden Seiten. Die Männer zeigten ihm den hochgereckten Daumen. „Feuer frei!" rief er halblaut. Das Verderben brach mit einem Donnerschlag über das Dorf herein, da alle Musketen nahezu im selben Sekundenbruchteil abgefeuert wurden. Von den Bogensehnen stiegen Brandpfeile funkensprühend und zischend in das Sonnenlicht des Nachmittags. Entsetzensschreie waren aus dem Dorf zu hören. Helle Stimmen von Frauen und Kindern. Welke Stimmen von den Greisen. Die knappen, energischen Rufe der Wachen gingen in der Panik unter. Der Nachhall der ersten Salve war noch nicht verklungen, als bereits der nächste Donnerschlag einsetzte. Die tödlichen Kugeln verstärkten die markerschütternden Schreie. Unablässig zischten die Brandpfeile. Shoara barg ihr Gesicht im Gras. Ihre schlimmste Marter war, daß sie sich nicht die Ohren zuhalten konnte. Bald hörte sie das Prasseln der Flammen. Immer mehr Schreie gellten. Das Krachen der Musketen und der Kugelhagel nahmen kein Ende. Dann, nach einer Ewigkeit des mör-
27 derischen Infernos, gab Sir William den Befehl zum Sturmangriff. Mit blankgezogenen Säbeln sprangen die Karavellenkerle und die Siedler auf und liefen los. Die drei Adligen blieben zurück. Sie erhoben sich wie auf einen Feldherrnhügel. Sie zerrten Shoara auf die Beine und zwangen sie, den Untergang ihres Dorfes anzusehen.
Die Strömung war mäßig. Die Arwenacks hatten wenig Mühe. Zügig pullten sie den Fluß hinauf, immer weiter hinein in das unbekannte Land. Die Ufer waren flach, längst nicht mehr überall erstreckten sich jene hochragenden Schilfzonen, die den Blick auf das Land verwehrten. Wogendes Grasland war nun häufiger zwischen den Mischwäldern und Buschzonen zu sehen. Fruchtbares Land, so weit das Auge reichte. Hier würden es die Siedler leichter haben. Für den Anfang war kein zeitraubendes Roden erforderlich. Sie konnten ihre Pflüge und ihre Spaten einsetzen, um das Land urbar zu machen. Wenn ihnen auch die Arbeitspferde fehlten, um sie vor die Pflüge zu spannen, so konnten sie allein mit der menschlichen Arbeitskraft ihre Äcker vorbereiten. Es wurde höchste Zeit, wenn sie vor dem Wintereinbruch noch etwas ernten wollten. Niemand hatte genaue Erfahrungen darüber, wann in Virginia der Winter einsetzte. Die freundschaftlichen Verbindungen zu den Algonkins existierten nicht mehr. Man konnte die Indianer nicht mehr fragen. Wenn sie nur einen Weißen sahen, gerieten sie außer sich vor Wut. Philip Hasard Killigrew saß auf
der Achterducht der Jolle und führte die Ruderpinne. Auf der vorderen Ducht waren es die beiden Riesenkerle Edwin Carberry und Ferris Tucker, die sich mit kraftvollen Riemenschlägen am Vorankommen der Jolle beteiligten. Ferris, dessen Kreuz so breit wie ein Rahsegel war, hatte die mächtige Zimmermannsaxt neben sich liegen. Der Stiel ruhte auf dem Dollbord. Carberry schob immer wieder das kantige Rammkinn vor, während er das Ufer auf seiner Seite mit wachen Blicken absuchte. Sein Narbengesicht drückte eiserne Entschlossenheit aus. Ein Griff würde ihm genügen, um sich eine der Musketen zu schnappen, die fertig geladen im Bugraum der Jolle lagen. Auf der mittleren Ducht saßen Batuti, der herkulisch gebaute Schwarze aus Gambia, und Smoky, jener bullige und braunhaarige Mann, der sich vor allem mit Hilfe des Durchsetzungsvermögens seiner Fäuste zum Decksältesten hochgearbeitet hatte. Heute brauchte er die Fäuste nicht mehr, um sich innerhalb der Crew zu behaupten. Längst war sein Rang gefestigt und die Arwenacks hatten in den Jahren andere Sorgen gehabt, als untereinander Streitigkeiten auszutragen. Batuti hatte seinen englischen Langbogen und den Lederköcher mit einem dicken Bündel von Pfeilen neben sich liegen. Er verstand es, diese Waffen mit einer solchen Präzision einzusetzen, daß Gegner auf allen sieben Weltmeeren mindestens aus dem Staunen nicht mehr herausgelangt waren - wenn sie überhaupt noch zum Staunen in der Lage gewesen waren.
28 Batuti schaffte es mit einem Pfeil mühelos, auf hundert Yards eine Bilgenratte an der Außenbeplankung festzunageln, wenn sie gerade das sinkende Schiff verlassen wollte. Die Plätze unmittelbar vor dem Seewolf hatten Pete Ballie und Sam Roskill eingenommen. Pete war als Gefechtsrudergänger eine Klasse für sich. Schon unter dem Kommando von Sir Francis Drake hatte er seine Fähigkeiten bewiesen. Während der Jahre, in denen er für den Seewolf am Kolderstock oder am Ruder gestanden hatte, hatte Pete seinen Freunden immer wieder vor Augen geführt, daß es ihn nicht mehr als ein Grinsen kostete, dem Teufel ein Ohr abzusegeln. Sam Roskill, schlank und dunkelhaarig, war der Draufgänger aus dem Bilderbuch. Schon als Karibikpirat war er gefürchtet gewesen, ehe er zur Mannschaft des Seewolfs gestoßen war. Hasard beobachtete die Flußufer, ohne sich in seiner Aufmerksamkeit auch nur einen Atemzug lang ablenken zu lassen. Das Land war menschenleer und in seinem Urzustand. Doch es gehörte zum Jagdgebiet der Algonkins. Zwar waren die Indianer dieses Stammes zugleich Bauern, doch reichten die Feldfrüchte, die sie ernteten, fraglos nicht aus. In ihrer Tätigkeit waren sie nicht zu vergleichen mit englischen Farmern, die ihre Familien selbst versorgen konnten, indem sie ihre Felder bestellten und Haustiere hielten. Nutztiere, wie man Rindvieh, Schweine und Geflügel besser bezeichnete, waren den Algonkins fremd. Zwischen den Schilfzonen gab es Buchten mit schmalen Sandstränden, aber auch Uferabschnitte, an denen
das Gras bis unmittelbar ans Wasser reichte. Nirgendwo verliefen die Ufer gradlinig. Häufig passierten die Männer auch Mündungen von Bächen. Von weitem waren die Creeks nur als dunkelgrüne Linien von hohem Schilf zu erkennen, die sich landeinwärts schlängelten. Häufig raschelte es dort, wenn Wassergetier vor der heranrauschenden Jolle die Flucht ergriff. Es geschah so blitzartig, daß selbst die Wachsamkeit des Seewolfs nichts nutzte. Ein scharfes Zischen durchschnitt die Riemengeräusche. Ein harter Schlag, fast ein Krachen, beendete das Zischen. „Himmel, Arsch und Zwiebelfisch!" brüllte Carberry, als er den gefiederten Pfeilschaft unmittelbar neben sich aus dem Dollbord ragen sah. Hasard handelte reaktionsschnell, noch ehe er ein Kommando gab. Augenblicklich hatte er den Drehling im Anschlag und jagte die erste Kugel in die Richtung, aus der der Pfeil herangeschwirrt war. Wummernd hallte der Schuß über das Wasser. Die Kugel peitschte hohes Schilf in dem Moment, in dem das erste Kanu aus der Bachmündung glitt. Der Pfeilhagel geriet den Algonkins außer Kontrolle. Die Arwenacks duckten sich. Hasard zog die Pinne mit der Linken an sich. Das Boot beschrieb einen engen Bogen nach Backbord. Mit der Rechten feuerte der Seewolf Kugel um Kugel ab. Die Pfeile zischten hoch über die Männer hinweg oder klatschten weit vor ihnen ins Wasser. Das zweite Kanu erschien auf dem Fluß. Nur dem sofortigen Feuer Hasards
29 war es zu verdanken, daß die Indianer ihre Absicht nicht verwirklichen konnten. Der Hinterhalt blieb wirkungslos. Aus dem tödlichen Schwarm von Pfeilen wurde nichts. Der sengende Hauch der Bleikugeln brachte die bronzehäutigen Männer in Verwirrung. Etliche duckten sich verzweifelt, die anderen vermochten nicht präzise genug zu zielen. Eine der Kugeln des Seewolfs fuhr einem Algonkin in den Oberarm. Er brüllte vor Schmerzen. Die anderen stießen Entsetzensschreie aus, als sie sahen, wie die Wucht des Einschusses ihren Gefährten um ein Haar aus dem Kanu geschleudert hätte. Jetzt waren die Arwenacks einsatzbereit. Ihre Jolle lag quer zur Strömung. „Haltet in die Wasserlinie!" rief der Seewolf und zog den Kopf ein, während er seine sechsläufige Pistole nachlud. „Feuer!" Die erste Salve von fünf Musketen krachte. Der Nachhall verdichtete sich zu einem Donnerschlag. Fontänen stiegen aus dem Wasser unmittelbar längsseits der Kanus hoch. Batuti jagte seine Pfeile in die Birkenrinde der Kanus, und die Algonkins mußten begreifen, daß ausgerechnet der Mann mit der schwarzen Haut ihnen zumindest ebenbürtig, wenn nicht überlegen war, was das Handhaben des Bogens betraf. Schreie gellten. Die Algonkins dachten nicht mehr daran, ihre Pfeile abzuschießen oder die Streitäxte einzusetzen. Ungeheuer rasch zogen ihre Kanus Wasser. Und dann gerieten die bronzehäutigen Männer endgültig in Panik. Ferris Tucker hatte seine Muskete sinken lassen. Er richtete sich in der Jolle auf und schleuderte die schwere
Zimmermannsaxt. Dem rasenden Wirbel von Stahl und Stiel folgte der Aufschlag. Dem ersten Kanu riß es den runden Bug weg. In wildem Durcheinander warfen sich die Indianer ins Wasser. Ihnen folgte der rollende, weithallende Kampfruf aus Cornwall. „Ar - we - nack! Ar - we — nack!" Die Kanus waren gesunken, noch bevor die Algonkins das rettende Ufer erreichten. Die Männer in der Jolle ließen ihre Waffen sinken und beobachteten die Fliehenden, wie sie in einem Schilfgürtel Zuflucht suchten und sich an Land in Sicherheit brachten. „Und jetzt?" fragte Carberry grollend. „Warum ziehen wir den heimtückischen Rübenschweinen nicht die Haut in Streifen von ihren Affenärschen? Verdient hätten sie es." Hasard schüttelte den Kopf. „Ich bin froh, daß wir keinen von ihnen töten mußten. Sie sind normalerweise nicht hinterhältig. Aber sie wissen, daß wir die überlegenen Waffen haben. Versetzt euch in ihre Lage. Wie sollen sie sich darauf einstellen?" Die Männer nickten schweigend. Selbst der Profos hatte nichts gegen das Argument des Seewolfs zu sagen. So gab es auch keinen Widerstand, als Hasard entschied, umzukehren. Sie wollten nicht weiter in das Land des roten Mannes vordringen und die Algonkins unnötig herausfordern. Durch ihre Niederlage waren sie vorerst genügend gedemütigt. Die zehn Krieger, die diese Niederlage hatten einstecken müssen, würden es schwer haben, sich vor dem Rest ihres Stammes zu verantworten. So luden die Arwenacks ihre Waffen nach und begannen dann, flußab-
30 wärts zu pullen. Hasard hatte ohnehin genug gesehen. Die Suche nach geeigneterem Siedlungsgebiet war von Erfolg gekrönt. Das flache Land bot auch einen besseren Überblick. Die Anwesen der Familien würden hier besser zu verteidigen sein, wenn sie sich zu einer Art Wehrdorf zusammenschlossen. 5. „Biber Barnaby bittet an Bord kommen zu dürfen!" Philip rief es mit heller Stimme. Sie hatten sich dem Dreimaster bis auf zwanzig Yards genähert. Philip stand im Bugraum der kleinen Jolle, während Hasard junior achtern einen der Riemen zum Wriggen benutzte - aus Respekt vor den scharfen Zähnen ihres Schützlings, der zwischen den mittleren Duchten in seinem Weidengeflecht lag und vor Angst zitterte. Sämtliche Arwenacks, die an Bord zurückgeblieben waren, hatten sich an der Backbord verschanzung der Schebecke versammelt. Mit ungläubigen Augen blickten sie auf das, was ihnen da blühte. Plymmie thronte als stolze Entdekkerin und Beschützerin auf der Ducht unmittelbar hinter dem Weidenkorb. Ben Brighton fand schließlich als erster die Sprache wieder. Als Erster Offizier vertrat er den Seewolf während dessen Abwesenheit. „Was, in aller Welt, hat das zu bedeuten?" rief er. „Seid ihr noch ganz bei Trost?" „Sir, wir sind noch bei Trost!" entgegnete Philip standhaft. Sein Bruder wriggte unermüdlich weiter und hielt auf die Jakobsleiter zu. „Plymmie hat den Biber aufgestöbert. Das
arme Tier ist verletzt und kann sich nicht mehr bewegen. Sonst hätten wir es ja auch nicht mitbringen können." Die Männer begannen zu grinsen. „Ja, und?" entgegnete Ben Brighton energisch. „Dieses Schiff ist kein Lazarett für Viehzeug! Was haben verletzte Biber getan, bevor sie das Glück hatten, daß zwei junge Engländer auftauchten, die sich in diesem Teil der Welt als Beschützer aller Tiere aufzuspielen gedenken?" „Sir, darum geht es doch nicht", erwiderte Philip. „Barnaby haben wir nur zufällig gefunden. Wir wollen nicht jedes verletzte Tier anschleppen. Ganz gewiß nicht! Ein Biber ist doch etwas Besonderes! Sehen Sie sich bloß mal dieses Fell an, Mister Brighton, Sir!" Schon am Gesichtsausdruck des Ersten Offiziers war zu erkennen, daß er weich wurde. Auch in den Mienen der übrigen Männer waren gewisse Anzeichen von Rührung nicht zu übersehen. Die Zwillinge registrierten es mit Genugtuung, doch sie hüteten sich, sich davon etwas anmerken zu lassen. „Sir!" rief Philip beinahe flehentlich. „Wir dachten nur, daß sich der Kutscher den Burschen mal ansehen könnte. Wenn wir ihn nicht an Bord bringen dürfen, versorgen und pflegen wir ihn notfalls auch an Land. Aber da bestünde natürlich die Gefahr, daß er von anderen Tieren gefressen wird, zumal er sich doch nicht wehren kann . . . " „Das sind eben Naturgesetze", entgegnete der Erste. „Ich denke nicht daran, die Verantwortung für eure Verrücktheit zu übernehmen. Es wird also ein Mehrheitsbeschluß gefaßt. Und der gilt nur solange, bis der Seewolf zurück ist."
31 „Danke, Sir!" riefen die Zwillinge wie aus einem Mund. „Ihr wißt ja noch gar nicht, wie die Abstimmung ausfällt", entgegnete Ben trocken. Den Anflug eines Grinsens konnte er sich jedoch nicht mehr verkneifen. Eine Minute später wurden Seile über die Verschanzung geworfen. Die Abstimmung hatte einen einstimmigen Beschluß ergeben - zugunsten Barnabys, des Bibers. Nach einer weiteren Minute war er an Bord gehievt worden, und auch Plymmie und die Zwillinge waren auf dem Hauptdeck zur Stelle. Die Männer bildeten einen Kreis um den Weidenkorb, in dem der pelzige Bursche zischend und fauchend in die Runde blickte. Plymmie hatte sich stolz neben der behelfsmäßigen Trage niedergelassen. Arwenack hing in zehn Fuß Höhe am mittleren Mast, hielt sich lässig mit der einen Hand und kratzte sich mit der anderen die Stirn, als müsse er über das nachdenken, was sich seinem Auge bot. Sir John, der karmesinrote Arara-Papagei, hatte sich auf der Rute des mittleren Mastes niedergelassen und gab erstaunlicherweise keinen Ton von sich. „Ich bin zwar kein Veterinär", sagte der Kutscher nach einer Weile. „Aber eins dürfte ja wohl feststehen: Bevor ich mir unseren Freund Barnaby ansehe, müssen wir ihn betäuben." Die Zwillinge wechselten einen erschrockenen Blick. „Welche Art von Betäubung?" fragte Hasard junior besorgt. Der Kutscher lächelte. „Ich kenne nur eine, die funktioniert. Wenn du eine bessere weißt, darfst du sie gern anwenden."
Hasard junior biß sich auf die Unterlippe. „Vielleicht - vielleicht könnten wir ihn in einen Zuber stecken, den wir mit Rum füllen. Dann tauchen wir ihn unter, daß er gezwungen wird, das Zeug zu schlucken und . . . " Energischer Protest wurde laut. „Wohl nicht bei Verstand?" brüllte Matt Davies entsetzt. „Unseren guten Rum für einen badenden Biber? So weit kommt es noch!" Hasard junior zog den Kopf zwischen die Schultern. „Dann gibt's nur das eine", murmelte Philip betreten. Der Kutscher nickte und lächelte. „Man reiche mir einen Belegnagel", sagte er feierlich. Jeff Bowie folgte der Aufforderung. Alle grinsten, als der Feldscher den Belegnagel packte und auf Barnaby zutrat. Nur die Zwillinge wandten sich entnervt ab. Der Biber zischte und pfiff wütend. Plymmie knurrte leise. Arwenack, immer noch am Mast hängend, stellte sein Stirnkratzen ein und begann mit einem verhaltenen Keckem, es klang geradezu schadenfroh. Sir John krächzte. Zunächst hörte es sich nur an, als räusperte er sich. Dann aber wurde seine Stimme klar und deutlich: „Affenärsche! Verdammtes Viehzeug! Verdammtes Viehzeug. Verdammtes . . . " Der Kutscher schleuderte den Belegnagel nach ihm. Kreischend und flatternd brachte sich Sir John in Sicherheit. In ausreichender Höhe segelte er wütende Runden um die Schebecke. Dabei drehte er den Kopf im Flug wie eine Möwe, die nach Freßbarem äugt. Der Belegnagel polterte auf das Achterdeck. Jeff Bowie reichte dem Kutscher einen zweiten. Noch immer
32 ließ der Biber seine zornigen Töne hören. Die Zwillinge stützten sich auf die Verschanzung wie nach einer schweren körperlichen Belastung. Beharrlich blickten sie zum Ufer der Bucht. Ein trockener Laut beendete Barnabys Zischen. Arwenack wurde still. Auch Plymmie stellte ihr Knurren ein. Philip und Hasard junior wandten sich um und eilten besorgt zum Schauplatz des Geschehens. Barnaby lag ausgestreckt in seinem Weidenkorb, und der Kutscher war bereits dabei, ihn zu untersuchen. Vorsichtig drehte er das Tier auf den Rücken. „Aha", sagte er nach einem Moment. „Da haben wir's ja schon." Behutsam betastete er die kräftigen Hinterbeine des Bibers. „Beide gebrochen. Damit wäre er allerdings jämmerlich zugrunde gegangen." Die Zwillinge wechselten einen stolzen Blick. „Dann haben wir also doch richtig gehandelt", sagte Hasard junior auftrumpfend. „Mit dem Vorbehalt, den schon Mister Brighton geäußert hat." Der Kutscher hob den Kopf und sah die Jungen von der Seite an. „Es gibt nicht genug Menschen auf der Welt, daß man sich ständig um alle kranken Biber kümmern könnte - und um sämtliche anderen kranken Tiere. Wir Menschen können ja nicht einmal alle unsere eigenen Krankheiten kurieren. Versteht ihr?" „Natürlich, Sir", antwortete Philip. „Aber wenn man auf eine Situation stößt, in der jemand Hilfe braucht ob Mensch oder Tier -, dann hat man doch das Verlangen, zu helfen." „Auch wenn's noch so unlogisch ist", fügte Hasard hinzu.
„Ihr habt völlig recht." Der Kutscher nickte. „Ich denke, niemand an Bord bereitet euch einen Vorwurf. Nicht wahr?" Er blickte in die Runde. Die Männer lächelten. Kein anderslautendes Wort war zu vernehmen. Die Zwillinge strahlten. „Also gut", sagte der Kutscher. „Dann wollen wir mal. Ihr beide besorgt Schnüre und bindet euren Freund Barnaby fest. Vor allem seinen Kopf. Ich möchte mir nicht gern einen Finger dafür abbeißen lassen, daß ich ihm die Beine wieder in Ordnung bringe." Bill hatte bereits Schnüre geholt. Er half den Söhnen des Seewolfs, den Biber fachgerecht an dem Weidenkorb festzubinden, und zwar so, daß sich das Tier nicht selbst strangulieren konnte. Mac Pellew unterstützte den Kutscher dabei, die gebrochenen Hinterbeine mit kleinen Holzstäben und Bandagen aus festen Leinenstreifen zu schienen. Aufmerksam schauten die Männer der Prozedur zu. Sir John hatte sich in respektvoller Entfernung auf der Heckbalustrade niedergelassen, gab indessen noch immer keinen Ton von sich. Der Kutscher schaffte es, die Behandlung zu beenden, bevor das Pelztier aus seinem Schlummer erwachte. „Alles klar", sagte der Feldscher und Kombüsenmann. „Damit müßte Mister Barnaby zurechtkommen. Was er jetzt braucht, ist ein Käfig, damit er ruhig gehalten wird und uns nicht entwischt." Er blickte die Zwillinge an. „Schließlich wollt ihr ihn ja aufpäppeln, denke ich." Philip und Hasard nickten voller Eifer. In den unteren Decksräumen gab es genügend Bauholz, aus dem sich etwas Geeignetes zurechtzimmern ließ. Sie wollten Barnaby nicht
Den folgenden Brief schrieb uns P E ,A , 4700 Hamm 1: Sehr geehrte Herren! Endlich konnte ich mich dazu durchringen, Ihnen zu schreiben. Im Seewölfe-Forum der Nr. 612 (''Hexenhölle'') schrieben Sie, daß Adam Hardy der Autor der Seewölfe 1-11 (Lieutnant Fox) nicht zu den sogenannten Vielschreibern gehöre. Da muß ich Ihnen leider widersprechen. A. Hardy ist das Pseudonym des Schriftstellers Henry Kenneth Bulmer, welcher noch ein halbes Dutzend anderer Pseudonyme benutzt. Unter dem Namen Alan Burt Akers schrieb er an die 40 Taschenbuchromane der Dray Prescot Saga (Antares I Kregen I Scorpio Zyklus), von denen inzwischen 27 im Heyne Verlag erschienen sind. Dieses habe ich zum Teil (Pseudonyme und KregenZyklus bis Band 16) dem Buch »Lexikon der Science Fiction«,Band 1, entnommen. Es erschien 1980 im Heyne Verlag. So, nun hätte ich noch eine Bitte. Es fehlen mir nur noch sieben Seewolf-Romane, die ich trotz aller Bemühungen nicht auftreiben konnte. Es handelt sich um die Nummern 12, 13,15,18,19,22und28. Vielleicht findet sich auf diesem Wege jemand, der mir die fehlenden Exemplare verkauft oder wenigstens für kurze Zeit leiht. Mit freundlichen Grüßen-P E Herzlichen Dank für Ihren Hinweis, lieber Herr E . Wir müssen aber gleichfalls widersprechen bzw. etwas richtigstellen, was von Ihnen im besagten Forum der Nr. 612 vielleicht mißverstanden wurde. Tatsache ist, daß wir seinerzeit bei dem englischen Lizenzgeber der Fox-Romane anfragten, wie viele Romane der Autor Adam Hardy pro Jahr für seine Fox-Serie schreiben könne, denn wir hatten die Absicht, monatlich einen Fox-Roman herauszubringen. Die Antwort des Lizenzgebers war nicht ermutigend - zum mindesten hätten wir nicht mit einem Fox-Roman monatlich auf den Markt kommen können - auch nicht zweimonatlich! Insofern »war« Adam Hardy - was die Fox-Serie betrifft - kein »Vielschreiber«. Wir hätten es uns ge-
wünscht, denn die Fox-Romane waren gut recherchiert (was sich auf das Umfeld und die Zustande bei der Royal Navy zur Zeit Nelsons bezieht), seemännisch exakt dargestellt und spannend geschrieben. Erst als für uns feststand, daß wir von Adam Hardy keine 12 Romane im Jahr erwarten konnten, entschloß sich unser damaliger Cheflektor, eine eigene Seeabenteuer-Serie herauszubringen - die Killigrew-Romane, die dann mit der fortlaufenden Nummer 12 ihren Anfang nahmen. Im Grund war das eine Verlegenheitslösung, aber die inzwischen erreichten 634 Hefte beweisen wohl, daß wir damit einen Treffer gelandet haben. Natürlich muß hier hinzugefügt werden, daß wir unsere Serie mit mehreren Autoren bestreiten und die Romane wöchentlich erscheinen. Was Adam Hardy bewogen haben mag, allenfalls drei oder vier »Föxe« im Jahr zu schreiben, entzieht sich unserer Kenntnis. Vielleicht schreibt er lieber Science Fiction, was ihm niemand verübeln kann, denn Romane dieses Metiers haben offenbar eine größere Lesergemeinde als solche aus der Welt der Seefahrt (was wir sehr bedauern). Lassen Sie uns von der Autorenseite her noch etwas hinzufügen, lieber Herr E . Roman-Autoren sind Einzelkämpfer, und bestimmt sind sie keine Roboter, bei denen man auf den Knopf drückt, und dann rappeln sie los. Sie sind Stimmungen unterworfen, schreiben mal schnell, mal langsam - oder würden ihre Tippmaschine am liebsten zum Mond schießen, vor allem in jenen Stunden, in denen sie auf ein leeres Stück Papier glotzen, auf das sie lediglich bisher eine »1« getippt haben, was besagt, daß dies ihre erste Manuskriptseite ist. Und 90 oder 100 und mehr Seiten haben sie noch vor sich. Einzelkämpfer - allein mit sich und der Maschine. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
In der Seemannskiste der Nummer 629 stellten wir unseren Lesern ein Stagsegel und ein Gaffelsegel vor. Hier nun widmen wir uns zwei Rahsegeln, nämlich dem Marssegel (A) und dem Untersegel (B), die aufden beiden vorigen Seiten abgebildet sind. Zur Segelschiffszeit bestand das Segeltuchmaterial aus einem leinwandartigen Gewebe, das aus den langen Fasern des Flachses hergestellt wurde. Der zur Verarbeitung gelangende Flachs mußte frei von schwarzen und holzigen Teilen und die Garne mußten gut und glatt gesponnen sowie gehörig gedreht sein. Das fertige Segeltuch lieferte man in Stücken, deren Breite 40 bzw. 61 cm und deren Länge ungefähr 35 m betrug. Hinsichtlich der Dicke bzw. der Stärke teilte man vor und nach der Jahrhundertwende das Segeltuch in neun Nummern ein, die mit den Zahlen 0 bis 8 bezeichnet wurden. Das Segeltuch Nr. 0 war das stärkste, das Tuch Nr. 8 das schwächste Gewebe. Dar Nr.-8-Tuch war auch abweichend von den übrigen Sorten nur 40 cm breit. Üblicherweise nahm man es als schwächstes Tuch für die Besegelung der Beiboote, für Sonnensegel usw. Aus dem Tuch der Nummer 0 als dem stärksten wurden naturgemäß die Sturmsegel genäht. Das Gewicht des 0Tuchs betrug pro qm 1000 Gramm, das Tuch der 8-Sorte hingegen wog 510 Gramm pro qm. Dieses letztere Tuch war also schon um nahezu die Hälfte leichter. Bei sämtlichen Segeln nennt man den oberen Teil den Kopf, den unteren Teil den Fuß. Bei Rahsegeln heißen die beiden Ecken des Kopfes die Nocken und die beiden Ecken des Fußes die Schothörner. Die Nummern bedeuten: A 1 Kopf, 2 Rahliek oder Anschlagliek, 3 Seiten oder Kanten, 4 Stehende oder Seitenlieks, 5 Fuß, 6 Fußliek, 7 Nockohrenlegel, 8 Refflegel, 9 Refftaljenlegel, 10 Brilleniegel, 11 Reffband (erstes Reff), 12 Reffband (zweites Reff), 13 Reffband (drittes Reff), 14 Refftaljenlappen, 15 Mittelband und 16 Bauchgordinglappen. B 1 Kopf, 2 Rahliek oder Anschlagliek, 3 Seiten oder Kanten, 4 Stehende oder Seitenlieks, 5 Fuß, 6 Fußliek, 7 Nockohrenlegel, 8 Refflegel, 9 Refftaljenlegel, 10 Brillenlegel, 11 Reffband, 12 Refftaljenlappen, 13 Mittelband, 14 Bauchgordinglappen und 15 Buliensprut.
37 noch einmal betäuben. Deshalb würden sie den Käfig um ihn und den Weidenkorb herumbauen müssen. Dann konnten sie die Schnüre von außen mit genügend langen Klingen durchschneiden. Natürlich mußten sie ausreichend starkes Holz verwenden. Sie hatten keine Ahnung, wieviel Zeit ein Biber brauchte, um eine Planke durchzunagen. Das beste würde sein, wenn man den Käfig Tag und Nacht bewachte.
Das Dorf war dem Erdboden gleich. Noch dreißig Krieger hatte Shenon. Sie standen schweigend da - ohne jede Bewegung. Bis auf Steinwurfweite hatten sie sich der verbrannten Stätte genähert. Beißender Geruch lag in der Luft. Von den Hütten war nichts als Asche geblieben. Nur noch einzelne verkohlte Holzstangen ragten wie mahnende, doch leblose Finger auf. Selbst der Pfahlkreis existierte nicht mehr. Auch die Toten waren den Flammen zum Opfer gefallen. Dort, wo sie sich in den Hütten verkrochen hatten, waren sie unter der Asche nicht mehr zu erkennen. Wo sie auf freier Fläche von den Feuerrohren der Weißhäute getötet worden waren, lagen sie verkrümmt und bis zur Unkenntlichkeit von den Flammen verstümmelt. Shenons Gesicht war wie gemeißelt. Seine Augen brannten, er konnte das Feuer spüren, das hier gewütet hatte. Er empfand die Schmerzen, unter denen die Frauen, Kinder und die Alten zugrunde gegangen waren. Diese Schmerzen
höhlten ihn aus, töteten etwas in ihm ab, das noch vorhanden gewesen war. Er hatte oft darüber nachgedacht, warum Menschen dazu neigten, sich gegenseitig Gewalt anzutun. Auch sein eigenes Volk war keineswegs frei von jener grausamen und rätselhaften Seite des Wesens. Shenon hatte sich gefragt, ob es richtig gewesen war, daß er den Befehl gegeben hatte, den weißen Gefangenen zu töten, sobald andere weiße Eindringlinge auftauchten. Und dann waren sie in Scharen erschienen. Wie viele von ihnen befanden sich noch auf dem großen Wasser? Es gab Visionen. Shenon erinnerte sich an das, was die weisen alten Männer gesagt hatten. Fremdlinge werden aus unseren Flüssen und Bächen schöpfen. Fremdlinge werden Pflanzen aus unserer Erde wachsen lassen. Fremdlinge werden unserem Volk den Lebensmut nehmen. Unser Volk wird ausgelöscht werden, es wird aufhören, zu existieren. Shenon hatte stets auf den Rat der alten Männer gehört, denn er wußte um die Bedeutung ihrer Weisheit. Doch er hatte nicht glauben wollen, daß ihre düsteren Prophezeiungen jemals eintreten würden. Nun waren sie ein Teil der verbrannten Erde geworden. Ihr Leben mußte mit der Gewißheit zu Ende gegangen sein, daß sie den Anfang des Untergangs miterlebt hatten. Unser Volk wird ausgelöscht werden. Ein wilder Schrei drang tief aus Shenons Brust. Er hörte sich selbst diesen Schrei ausstoßen, und es war, als stünde seine Seele neben seinem Körper, um ihn in Schmerz und Zorn zu beobachten.
38 Die Schreie der Krieger fielen wie von selbst mit ein. Ihre Wut und ihr Verlangen nach Rache formierten sich zum Ausdruck einer vereinten Willenskraft, wie sie das noch nie zuvor empfunden hatten. Ihre Blicke richteten sich zum Himmel und in die sinkende Sonne. Sie spürten die Nähe des Großen Geistes. Sie waren nicht mehr allein, auch wenn ihre Gemeinschaft nahezu aufgehört hatte, zu existieren. Shenon empfing in diesen Augenblicken die Botschaft, von der er wußte, daß er sie weitertragen mußte. Gefahr drohte allen Algonkins. Nicht nur ihnen, auch den anderen Völkern, mit denen man in Freundschaft oder Feindschaft lebte. Es war die Aufgabe der Zukunft, und sie würde unmenschliche Anstrengung kosten: Die Völker dieses Landes mußten im Sinne des Großen Geistes vereint werden. Nur dann, wenn ihnen das gelang, würden sich die Weissagungen der alten Männer nicht erfüllen. Die Aufgabe, die sie nun vor Augen sahen, ermöglichte es Shenon und den dreißig Kriegern, den Schmerz zu überwinden. Sie wandten sich ab und kehrten der Stätte des Todes den Rücken. Sie würden ihr Dorf niemals wiedersehen. Pflanzen und Tiere würden die verbrannte Erde in Gewahrsam nehmen und tilgen. Schon in einigen Monden würde nichts mehr an diesen Ort erinnern, an dem frohes Lachen geherrscht hatte. Auch die Felder würden zurückgegeben werden an jene unermeßliche Macht der Natur. Da waren die Spuren im Grasland.
Eine Fährte, wie sie deutlicher nicht sein konnte. Es war leicht, ihr zu folgen, beinahe zu leicht. Aber Shenon und seine Männer wußten dennoch um die Gefahr. Die Feuerrohre der Fremden hatten eine verheerende Wirkung. Darüber mußte man sich im klaren sein. Man mußte solche Feuerrohre erbeuten und lernen, damit umzugehen. Nur dann würde man den Bleichgesichtern ebenbürtig sein. Es war eine der wichtigen Aufgaben der Zukunft. Eine Meile östlich von der Stätte des Todes teilte Shenon Seine Krieger in drei Gruppen ein. Er selbst übernahm die mittlere Gruppe, die weiter der Fährte folgen würde. Die beiden anderen schwärmten nach Nordosten und nach Südwesten aus. Ihre Aufgabe war es, zu beobachten, mehr nicht. Wenn sie etwas Verdächtiges entdeckten, weitere Eindringlinge etwa, galt für sie der Befehl, dies sofort ihrem Häuptling zu melden. Shenon hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Trauer überwunden. Sein Kampfwille bewirkte das. Die Gedanken an seine Familie rückten in den Hintergrund - selbst die Erinnerung an seine Tochter, die sein ganzer Stolz gewesen war. Auch alle anderen im Dorf waren ihm nahe gewesen. Er mußte sie vergessen, und er war imstande dazu. Die höhere Pflicht rief ihn mit aller Macht. In seinen Überlegungen vermochte er klar zu erkennen, was sich abgespielt hatte. Begonnen hatte es mit dem Geschehen auf dem Fluß. Das breite Kanu war aufgetaucht. Die Weißhäute hatten mit dem Rücken zur Fahrtrichtung darin gesessen. Shenons Krieger, die dies beobachtet
39 hatten, waren darüber besonders erstaunt gewesen. Aufgefallen war ihnen auch die seltsame Art, wie die Fremden die Paddel führten. Vielleicht, so überlegte Shenon, hatten sich seine Männer zu sehr von diesen ungewöhnlichen Äußerlichkeiten beeindrucken lassen. Möglicherweise war dadurch ihre Aufmerksamkeit beim Angriff geschwächt gewesen. Auf alle Fälle war es ein Fehler gewesen, daß sie nicht gewartet hatten, bis er mit seiner Gruppe zur Stelle gewesen war. So hatten sie jene schlimme Niederlage erlitten. Unerklärlich war für Shenon nur die eine Tatsache geblieben: Die Weißen hatten keinen der Krieger getötet. Nur der eine war verwundet worden. Shenons Männer waren entschlossen gewesen, ihre schon gefallenen Stammesgenossen zu rächen. Sie waren wildentschlossen gewesen, zu töten. Die Fremden in ihrem plumpen Boot mußten das gespürt haben. Und trotzdem hatten sie so zurückhaltend reagiert. Welchen Grund es dafür auch gegeben haben mochte - die Bleichgesichter hatten ihre ganze Grausamkeit an den Tag gelegt, als sie auf das Dorf der Algonkis gestoßen waren. Wenn sie die Krieger beim Angriff auf dem Fluß auch verschont hatten, so bedeutete das nichts mehr angesichts der unendlich größeren Schuld, die sie auf sich geladen hatten. Ein Dorf voller wehrloser Menschen auszulöschen, war das niederste, was man sich vorstellen konnte. Die meisten Tiere waren edler in ihren Wesenszügen, von Coyoten und Ratten abgesehen.
Hasard hatte beschlossen, auch noch das etwas hügeligere Land an der Nordseite des Flusses zu erkunden. Dabei waren sie auf die Spuren gestoßen. Eindeutig handelte es sich um Spuren von Weißen. Die Abdrücke der Seestiefel waren im weichen Gras noch zu erkennen. Der Seewolf hatte nicht lange gefackelt. Er hatte Befehl gegeben, der Fährte zunächst nach Westen zu folgen. Nun, eine Stunde später, standen sie vor den Resten des Algonkindorfes. Es war das Dorf, aus dem sie Laura Stacey und Jameson und seine Männer befreit hatten. Das Entsetzen schnürte ihnen die Kehlen zu. Auf ihren Reisen über die Weltmeere hatten sie die grauenvollsten Dinge gesehen - so ziemlich alles, was sich Menschen an Greueln antun konnten. Aber dies übertraf alles, was ihnen bisher unter die Augen gekommen war. „Eines verstehe ich nicht", sagte Edwin Carberry nach langem Schweigen. Seine Stimme klang so belegt wie selten. „Wo sind die Männer gewesen, die das Dorf hätten verteidigen können? Wie konnten sie die Wehrlosen sich selbst überlassen?" „Sie haben mit keiner Gefahr gerechnet", antwortete Hasard. „Eine andere Erklärung gibt es nicht." „Aber sie hätten doch wissen müssen...", setzte Pete Ballie an. Er wußte nicht weiter. „Was hätten sie wissen müssen?" sagte Batuti. „Was konnten sie denn wissen?" Pete schwieg betreten. „Du hast recht", erklärte Hasard, wobei er den Gambianeger ansah. „Die Algonkins mußten den Eindruck haben, daß die Lage für sie vor-
40 erst bereinigt war. Wir hatten Laura Stacey, Gordon Jameson und die anderen befreit. Danach konnten sie davon ausgehen, daß sie vorerst Ruhe haben würden." „Und jetzt bleibt die große Frage", sagte Ferris Tucker. „Was für verdammte Schweinehunde haben dies hier angerichtet?" Mit einer Handbewegung, die seine ganze Fassungslosigkeit ausdrückte, wies er auf die niedergebrannte Ansiedlung. „Der Frage werden wir auf den Grund gehen", entgegnete der Seewolf grimmig. „Darauf kannst du dich verlassen." Er sah die anderen an. Dann atmete er tief durch. Auch ihn kostete es einige Anstrengung, das Gesehene einfach abzuschütteln. Immer mehr Unheil wurde angerichtet. Ein Teil der Siedler, sicherlich nicht der repräsentative Teil, setzte dem künftigen Leben in Nordamerika die denkbar schlechtesten Vorzeichen. Hasard gab sich einen Ruck. „Also gut. Sehen wir nach, ob wir etwas finden." Die Männer nickten. Sie wußten, daß der Seewolf nicht mit Überlebenden rechnete. Es gab keine. Aber vielleicht würde man Spuren finden Hinweise auf diejenigen, die für das Massaker verantwortlich waren. Sie mußten zur Rechenschaft gezogen werden. Ein Gericht mußte gebildet werden, das sie aburteilte. Ein grundloses Gemetzel an Ureinwohnern dieses Landes war nicht minder verwerflich, als wenn sich eine solche Bluttat gegen Weiße gerichtet hätte. Der Seewolf und die Arwenacks fanden Spuren auf der Hügelkuppe und am jenseitigen Hang. Doch es waren ebenfalls nur Stiefelabdrücke, älter schon. Mehr als die Tatsache, daß
es sich um etwa zwanzig Männer gehandelt haben mußte, ließ sich nicht feststellen. In den verkohlten Überresten des Dorfes und seiner Bewohner kroch Hasard und seinen Gefährten lediglich das Grauen über den Rücken. Da gab es kein verlorenes Messer oder einen Säbel - nichts, was einen Rückschluß auf die Bluttäter ermöglicht hätte. Die Männer von der Schebecke begaben sich auf den Rückweg zu ihrer Jolle. Nur zwei Meilen vom Ort des Grauens entfernt, brach jenes Geschehen über sie herein, das sie selbst mit der allergrößten Überzeugungskunst nicht hätten abwenden können. Auf etwa hundert Yards führte der Weg durch ein Waldstück. Mit den überhängenden Baumkronen bildete sich eine Art Hohlweg, wenn man das dunkle Dickicht als Seitenwände betrachtete. Die bronzehäutigen Gestalten brachen von beiden Seiten hervor. Mit schrillen Angriffsgeheul stürzten sie sich auf die Arwenacks. Hasard und den anderen blieb keine Wahl. Sie mußten zu den Säbeln greifen, denn diesmal hatten sie alle Mühe, sich ihrer Haut zu erwehren. Smoky entging um Haaresbreite dem sausenden Hieb einer Streitaxt. Er warf sich herum und schmetterte dem hünenhaften Angreifer die Axt aus der Hand. Batuti hatte es gleich mit zwei Gegnern zu tun. Er entblößte die blitzenden Zähne und tauchte unter ihnen weg. Über ihm zischten die Streitäxte ins Leere. Im vorberechneten Moment federte der Gambianeger hoch. Die beiden Algonkins flogen über ihn hinweg, wie von einem Katapult ge-
41 schleudert. Im nächsten Moment brachten sie drei ihrer Gefährten zu Fall, die sich auf Pete Ballie und Sam Roskill stürzen wollten. Carberry ließ seine Säbelklinge wirbeln und brachte einen Angreifer mit einem Hieb der Plattseite zu Fall. Ferris Tucker zertrennte seinem Gegner den Axtstiel mit einem einzigen präzise berechneten Hieb. Hasard erkannte die unglaubliche Wut, die hinter dem Angriff der Indianer steckte. Ein breitschultriger Riese war es, der sich tänzelnd und geduckt zwei Schritte vor ihm bewegte. Sein bronzefarbenes Gesicht war eine verzerrte Maske. Ruckartig hob er die Streitaxt mit der mächtigen Hartholzklinge - und senkte sie wieder. Ein paarmal wiederholte er das Spiel, um den Seewolf irrezuführen. Hasard ließ sich jedoch nicht täuschen. Als sein hünenhafter Gegner jäh losstürmte, warf er sich reaktionsschnell nach rechts. Mit Wutgebrüll stieß der Algonkin ins Leere vor. Hasard wirbelte herum. Fast im selben Sekundenbruchteil vollführte der Indianer die gleiche Bewegung. Hinter ihm tobte das Kampfgetümmel der anderen. Der Seewolf konzentrierte sich dennoch auf den einen Mann, der es auf ihn abgesehen hatte. Mit blindwütiger Verbissenheit drang der Algonkin erneut auf ihn ein. Hasard kalkulierte den Axthieb und parierte mit der Präzision des Säbels, in unzähligen Duellen auf Schiffsplanken und an Land geübt. Der Indianer prallte zurück, als er die vordere Hälfte seiner Axt davonwirbeln sah. Hasard zeigte ihm die Säbelklinge, versuchte, sie auf ihn wirken zu lassen und ihn dadurch von einem weiteren wahnwitzigen
Angriff abzuhalten. Es gelang ihm nicht. Blitzartig, mit einem wutentbrannten Schrei, warf sich der Algonkin vor. In die Säbelklinge hinein. Schon von der Blankwaffe durchbohrt, griff er mit beiden Händen nach dem Hals des Seewolfs. Hasard hatte das Gefühl, von Eisenklauen gepackt zu werden. Er konnte nicht mehr tun, er hatte den Mann nicht töten wollen. Aber jetzt sah er das Gesicht des Sterbenden vor sich, nur wenige Inches entfernt. Die Augen des Indianers schienen aus den Höhlen zu quellen. Sein Gesicht wurde zur Fratze. Aber immer noch lag unbändige Kraft in seinen Händen. Hasard ließ den Säbel los und packte die Handgelenke. Es schien, als würden die Eisenfinger von einer verfrüht einsetzenden Totenstarre befallen. Hasards Atem wurde knapp. Mit einer ruckartigen Kraftanstrengung schaffte er es, sich aus der tödlichen Umklammerung zu befreien. Der hünenhafte Algonkin sank zu Boden. Es war wie ein Zeichen für die anderen. Jäh warfen sie sich herum, wichen den Säbelhieben aus und tauchten im Dickicht unter. Zwei weitere reglose Körper blieben auf dem Waldweg zurück. „Die waren ja wie Selbstmörder", sagte Ferris Tucker kopfschüttelnd. „Als ob sie richtig wild darauf wären, sich selbst in den Tod zu stürzen." „Aber sie wollten wenigstens ein paar von uns dabei mitnehmen", erwiderte Hasard. „Das wollten sie ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben schaffen." Die Männer sahen sich an und
42 schwiegen. Ihnen dämmerte es. Auf einmal wurde ihnen bewußt, was vor sich gegangen war. Die Algonkins etwa zehn waren es gewesen - hatten ihnen nicht ohne Grund aufgelauert. Sie hatten sie beobachtet und für die Bluttäter gehalten. Der Seewolf nickte und sprach aus, was alle dachten: „Wir sind aus der Richtung des Dorfes gekommen. Das hat ihnen als Beweis gereicht. Es muß ein Zufall gewesen sein, daß sie uns gesehen haben. Sie sind planlos vorgegangen." Beklemmung erfaßte sie alle. Sie begruben die Toten und setzten ihren Weg mit erhöhter Wachsamkeit fort. Aber das Land bis hin zum Fluß war nun übersichtlicher. Überraschungen blühten ihnen nicht mehr, bis sie die Jolle erreichten. 6. Sir William Godfrey und die beiden anderen Adligen verfolgten das Geschehen auf der Kuhl vom Achterdeck aus. Im Zwielicht aus Abenddämmerung und Bordlaternen tanzten die vier Algonkin-Mädchen in der Nähe des Großmastes. Atkinson Grey hatte sich aus den Bordvorräten eine neunschwänzige Katze besorgt. Immer wieder ließ er die Lederschnüre durch seine linke Hand gleiten, während er den graziösen Bewegungen der Mädchenkörper zusah wie alle anderen. Ja, sie waren auf eine natürliche Weise graziös, obwohl sie zu diesem Tanz gezwungen wurden. Frank Rosebery hatte eine Trommel entdeckt. Er hockte auf einer Taurolle, hielt die Trommel zwischen die Knie ge-
klemmt und schlug einen wirbelnden Takt. Andere Musikinstrumente waren an Bord nicht aufzutreiben gewesen. Grey hatte bislang nicht zuschlagen müssen. Shoara und ihre Gefährtinnen wagten nicht, sich zu sträuben. Ohne die Neunschwänzige zu kennen, wußten sie doch allein bei deren Anblick, welche furchtbaren Schmerzen damit zugefügt werden konnten. „Diese wilden Weiber werden denken, wir seien genauso primitiv wie sie", murmelte Alec Morris. „Wie kommst du denn darauf?" sagte Frank Davenport stirnrunzelnd. „Weil wir nur eine Trommel haben. Sie werden ihren Leuten berichten, daß auch die Engländer nur Trommeln besitzen. Dabei haben wir eine Musikkultur, von der diese Wilden nur träumen können. Es ist eine Schande, unter welchen Umständen wir das Leben in diesem Teil der Welt beginnen sollen." Sir William drehte sich ärgerlich zu den beiden um. „Himmel noch mal, ihr habt vielleicht Sorgen! Als ob es nichts anderes gäbe, über das wir uns den Kopf zerbrechen müssen!" „Zum Beispiel?" erwiderte Davenport trocken. „Zum Beispiel, zum Beispiel!" äffte Godfrey ihn nach. „Daß wir in dem ganzen verdammten Rothäute-Kaff keinen einzigen Klumpen Gold gefunden haben, scheint euch nicht zu stören, was?'' Morris und Davenport grinsten unverhohlen. Sie wußten, Sir William machte sich mit seiner Gier nach dem Gold halb verrückt. Sie waren ja ebenfalls dahinter her. Aber sie wußten auch, daß man nichts erzwingen konnte. Man würde weiter nach Hin-
43 weisen suchen müssen, wo sich Goldlagerstätten befanden. Daß ihnen das Glitzerzeug nicht in den Schoß fiel, war völlig klar. „Es stört uns sehr", erwiderte Morris, ohne sein Grinsen einzustellen. „Aber ehrlich gesagt, diese Goldstücke da unten", er deutete zur Kuhl, „erleichtern es einem, an etwas anderes zu denken." Sir William schüttelte verständnislos den Kopf. „Heute nacht spielt sich nichts ab mit den Weibern. Wir brechen morgen in aller Frühe auf und suchen weiter." „Das verklare mal unseren Freunden da", sagte Davenport und wies mit einer Kopfbewegung ebenfalls zur Kuhl. „Mich berührt das ja nicht weiter, ich würde sowieso nichts anrühren, was der Pöbel schon in den Fingern gehabt hat. Aber diese Kerle malen sich doch schon die irrsinnigsten Stunden aus." „In der Tat", sagte Morris. „Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn du denen plötzlich alle Vorfreude nimmst. Ich fürchte, die würden glatt so weit gehen, zu meutern." „Sie werden sich hüten", entgegnete Sir William bissig. Er beugte sich über die Querbalustrade und rief Grey zu sich. Der Anführer der Karavellenkerle übergab die Neunschwänzige an Jameson Kidd und meldete sich gleich darauf zur Stelle. „Sir William?" „Folgende Lage", begann Godfrey. Er brauchte nicht leise zu sprechen, denn die Trommelschläge und das Händeklatschen der Männer auf der Kuhl übertönten sowieso jedes andere Gräusch an Bord. „Wir werden unsere Suche morgen fortsetzen. Es läßt mir keine Ruhe, daß wir in dem verdammten Indianerdorf nichts ge-
funden haben. Können Sie das verstehen?" „Selbstverständlich, Sir William." Atkinson Grey verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen. „Niemand kann das besser verstehen als ich. Wir sind in der verdammten Neuen Welt, um reich zu werden. Nur deshalb haben wir den verfluchten Atlantik überquert. Sollte uns da ein bißchen billiges Vergnügen wichtiger sein? Nicht im Leben!" Sir William lächelte erfreut. Seine Züge entspannten sich. „Sind Ihre Freunde der gleichen Ansicht?" „Sicher. Sie werden erst ein wenig enttäuscht sein, aber wenn ich es ihnen richtig erkläre, sehen sie's auch ein." „Sehr gut. Dann treffen Sie schon mal alle Vorbereitungen, daß wir spätestens bei Sonnenaufgang aufbrechen können. Von mir aus können die Indianer-Flittchen noch eine Weile herumhüpfen. Aber sehen Sie zu, daß Sie die Lage nachher im Griff haben." „Da können Sie unbesorgt sein, General!" Grey deutete grinsend eine Art militärischen Gruß an, vollführte eine Kehrtwendung und begab sich zurück auf die Kuhl. Er übernahm die Neunschwänzige wieder und wandte sich seinen Rabauken zu. Sir William Godfrey beobachtete, wie der muskulös gebaute Mann lediglich mit seinen Gefährten von der Karavelle Worte wechselte. Die Kerle nickten nur, Gordon zuckte mit den Schultern. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit sofort wieder den Tänzerinnen zu. Die Siedler hatten ohnehin an nichts anderem Interesse. Keiner von ihnen schien überhaupt mitgekriegt zu haben, daß Atkinson Grey zum
44 „Befehlsempfang" bei Sir William gewesen war. Die Augen der überwiegend jungen Männer verschlangen immer noch die vier tanzenden Indianerinnen. „Ein brauchbarer Mann, dieser Grey", sagte Davenport halblaut. Sir William grinste. „Alle Männer sind brauchbar, wenn sie ein Ziel vor Augen haben, das sich mit dem Ziel ihrer Verbündeten deckt." Morris lachte glucksend. „Sehr gewählt ausgedrückt, mein Lieber. Grey will sich eine goldene Nase verdienen. Im wahrsten Sinne des Wortes. So könnte man es auch nennen." „Ja, und?" Sir William Godfrey grinste hinterhältig. „Lassen wir ihm doch die schöne Illusion - einerlei, wie man das nun umschreibt. Ihr wißt, das ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Taktik, wie man mit der Unterschicht umgeht. Diese Leute müssen immer das Gefühl haben, daß sie bei allem, was sie tun, außerordentlich gut verdienen. Solange sie in dem Glauben leben, werden sie nie aufmucken." „Also der einzig wahre Glaube?" sagte Frank Davenport lachend. Sir William nickte. „Das ist meine Meinung. Unsere Königin hätte weniger Schwierigkeiten mit ihren Untertanen, wenn sie meine Methode anwenden würde. Natürlich müßte sie ein bißchen von ihrem Reichtum darauf verwenden, das Volk glücklich zu stimmen. Himmel, diese einfältigen Naturen sind doch so genügsam!" Davenport und Morris wechselten einen Blick. „An dir ist ein Berater vorlorgengegangen", sagte Morris. Sir William tat, als überhörte er den Spott. „Es ist mein Ernst, Freunde. Ihr werdet sehen, wie es mit
Grey und seinen Kerlen funktioniert. Erst speisen wir gemeinsam mit Grey und seiner Gruppe die Siedler ab, und zwar so, daß die Einfaltspinsel vollauf zufrieden sind. Bei Grey und den anderen werden etwas gehobenere Ansprüche zu berücksichtigen sein. Aber auch diese fünf Kerle werden glückselig von dannen ziehen. Für uns drei bleibt dann die angenehme Aufgabe, den Löwenanteil unseres Goldschatzes aufzuteilen." „Wenn wir den bloß erst hätten", sagte Davenport und stöhnte. „Dann wäre mir ganz erheblich wohler." „Mir auch", sagte Morris und nickte bekräftigend. „Aber es klingt verteufelt gut, was du sagst, William. Bei diesem Grey habe ich allerdings ein bißchen Sorge, daß er sich so abspeisen läßt, wie du es vorhast." Godfrey schüttelte den Kopf. „Keine Sorge nötig. Wirklich nicht. Ich habe meinen Kopf zum Denken. Und es kommt immer noch eine Menge dabei heraus. Verlaßt euch drauf." Morris und Davenport sahen sich an. Zweifellos hatte Sir William für den Fall recht, wenn sein Kopf frei von Alkoholnebeln war, daheim in England hatte sein Geisteszustand fast ausschließlich dem Londoner Nebel entsprochen, selten war da etwas aufgeklart. Hier, in Virginia, hatte er sich beträchtlich zusammengerissen. Wenn man genau hinsah, konnte man auch meinen, daß seine Nase schon etwas weniger rot war. Aber das mochte natürlich auch eine Sinnestäuschung sein, hervorgerufen durch eine positive Einstellung ihm gegenüber. Sir William wandte sich ab, nachdem er dem Geschehen auf der Kuhl noch eine Weile zugesehen hatte. Er
45 nickte seinen beiden Standesgefährten zu und begab sich mit schlendernden Bewegungen zur Heckbalustrade. In wenigen Minuten würde es dunkel werden. Sir William lehnte sich an die Balustrade und blickte auf das schwarze Wasser hinaus. Das Uferdickicht war längst zur düsteren Wand geworden, mit Blicken nicht mehr zu durchdringen. Über der Weite des Flachlandes und der fernen Hügel dehnte sich der Abendhimmel in einem Blau, das an Tinte erinnerte." Sir William fragte sich, welche Rätsel dieses Land enthielt, wieviel Unentdecktes. Wer hörte die Trommelschläge von Bord des Schiffes, die rauhen Stimmen der Männer? Wer vermißte die vier Mädchen? Sir William versuchte, sich vorzustellen, was mittlerweile bei dem Dorf geschehen war. Wenn die Jäger und Krieger zurückgekehrt waren, mußten sie begriffen haben, was die Stunde geschlagen hatte. Sie konnten sich nicht länger gegen die Entscheidungen des weißen Mannes auflehnen. Sie hatten keine nennenswerte Kultur und waren primitive Wilde. Folglich hatten sie auch keinen Anspruch auf das Land, das sie bewohnten. Sie durften froh sein, wenn ihnen ein kleiner Winkel zum Leben blieb. Aber im Grunde würde es wohl nur dann Ruhe geben, wenn die Rothäute mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden. Dann konnte man das Land in Frieden besiedeln und es mit der Zivilisation hohen englischen Niveaus überziehen. Sich einer solchen Aufgabe zu stellen, hatte Sir William allerdings nicht vor. Seine Stunde schlug jetzt, bevor Besiedelungsmaßnahmen größeren Umfangs eingeleitet wurden.
Dieses Land barg sagenhafte Schätze. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Schließlich profitierten die Spanier schon seit vielen Jahren vom Reichtum der Neuen Welt. Die Dons karrten das Gold tonnenweise über den Atlantik und füllten ihren Torre del Oro, ihren Goldturm. Warum sollte ein englischer Adliger nicht die gleichen Rechte haben? Und es gab keinerlei Hinweis darauf, daß dieser nördlichere Teil der Neuen Welt geringere Reichtümer barg als der Süden. Gold. Auch die Indianer wußten natürlich um den Wert des edlen Metalls. Deshalb hatten sie es versteckt. Sir William nickte und knurrte leise zur Selbstbestätigung. Die Strafexpedition hatte den Überlebenden hoffentlich vor Augen geführt, daß es keinen Sinn hatte, die verborgenen Goldlager noch länger zu verheimlichen. Aber wenn es denn wirklich nicht freiwillig klappte, mußte man diese Algonkins eben durch Folter zur Aussage zwingen. Sir William fühlte sich wohl, wenn auch von brennendem Eifer erfüllt, gleich morgen wieder aufzubrechen. Er hatte einen wichtigen ersten Schritt unternommen. Die Vernichtung des Dorfes ebnete ihm Wege für die Zukunft. Für die nahe Zukunft. Auf der Kuhl endeten die Trommelschläge. Atkinson Greys Stimme war zu hören. Die Männer murrten, aber dann kehrte doch nach und nach Ruhe ein. Die Indianerinnen wurden in die Vorpiek gesperrt. Grey teilte Wachen ein. Morris und Davenport begaben sich in ihre Achterdeckskammern oder in die Messe,
46 eher wohl letzteres, denn sie wußten einen guten Tropfen und die Behaglichkeit zu nächtlicher Stunde durchaus zu schätzen. Sir William harrte auf dem Achterdeck aus und lauschte den Tierstimmen, die aus dem Dickicht drangen. Er blickte in die Nacht hinaus, ohne etwas sehen zu können. Im anheimelnden Schein der Bordlaternen fühlte er sich wie auf einer sicheren Insel. Er war allem überlegen, was es in diesem primitiven Virginia gab. Dieser Umstand mußte ausgenutzt werden. Es galt, die geheimen Gold-Lagerstätten auszubeuten, bevor andere es taten. Das Uferdickicht war wie ein vielstimmiges Wesen - mit seinem Rascheln, Krächzen, Quiecken und Pfeifen. Es schien doch eine Menge Tiere zu geben, die erst nachts munter wurden. Bisweilen hatte Sir William den Eindruck, als habe das Dickicht Augen. Doch er grinste über seine eigenen kindischen Vorstellungen. Natürlich gab es dort nur die stupiden Augen von Tieren. Daß er sich irrte, hätte er nicht für möglich gehalten. Denn er spürte den Haß nicht, der unter schmalen Lidern glomm.
Sie hatten andere Sorgen gehabt. Als der Seewolf und die sechs Männer von ihrer Erkundung zurückgekehrt waren, hatten sie sich zwar über die Geschehnisse an Bord informieren lassen, und sie hatten auch einen kurzen Blick auf Barnaby, den Biber, geworfen. Aber zu mehr Interesse hatten sie sich denn doch nicht
aufgerafft. Selbst Carberry war nicht mehr dazu aufgelegt gewesen, eine Polterserie von Sprüchen vom Stapel zu lassen. Die Zwillinge stiegen im Morgengrauen noch vor allen anderen aus ihren Kojen, und kaum waren sie wach geworden, mußten sie daran denken, was sich am Abend abgespielt hatte. Himmel, sie hatten davor gezittert, daß ihr Dad Befehl geben würde, das vierte Tier an Bord augenblicklich über die Verschanzung zu kippen. Das wäre nicht einmal übermäßig grausam gewesen, denn bei einem Biber handelte es sich schließlich um ein schwimmfähiges Tier. Aber nichts dergleichen war geschehen. Philip und Hasard junior hatten den Grund sehr bald verstanden, als ihr Vater und die anderen berichteten. Das unvorstellbare Grauen beim Anblick des niedergebrannten Indianerdorfes mit den verkohlten Leichen von Frauen, Kindern und alten Leuten. Dann der wahnwitzige Verzweiflungsakt der AlgonkinGruppe, welche die Arwenacks auf ihrem Rückweg zum Ankerplatz angegriffen hatte. Wie alle anderen an Bord der Schebecke konnten sich auch die Zwillinge nur zu gut in die Lage der Indianer versetzen. Wer die Greueltat auch begangen haben mochte - er war nicht mehr mit menschlichen Maßstäben zu messen. Der oder die Bluttäter mußten mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden. Darin waren sich nach dem Lagebericht sämtliche Arwenacks einig. Während der Dunkelheit hatte es allerdings keinen Sinn mehr gehabt, mit der Jagd auf die Mörderbande zu beginnen. Außerdem brauchten die Männer mindestens eine Mütze voll
48 Schlaf. So waren sie in ihre Kojen gesunken und hatten dem Biber in seinem Käfig keine besondere Beachtung geschenkt. Einerseits waren die Zwillinge froh darüber gewesen, andererseits doch beinahe enttäuscht. Insgeheim hätten sie sich mehr Aufmerksamkeit für ihren bedauernswerten Schützling gewünscht. Aber die Jungen waren auch selbstkritisch. Möglicherweise würde man ihnen vorhalten, daß sie lediglich im Mittelpunkt stehen wollten. Daß es gar keine wahre Hilfsbereitschaft von ihnen gewesen war, den Biber an Bord zu bringen. So würden sie also ihre Krankenpflegepflichten in aller Stille erfüllen. Wenn ihr Vater und die anderen Männer mit dem Geschehen an Land so vollauf ausgelastet waren, dann erledigte sich das Problem Barnaby vielleicht fast von selbst und ganz am Rande - zumindest aber ohne großes Aufsehen. Philip und Hasard junior schlichen an Deck, ohne einen der Männer zu wecken. Auf dem Achterdeck sahen sie Luke Morgan und Stenmark, die als Wachen eingeteilt waren. Die beiden verharrten auf ihrem Rundgang, winkten den Zwillingen zu und lächelten. Philip und Hasard werteten die morgendliche Heiterkeit der Männer als Ausdruck von Belustigung darüber, wie man so verrückt sein konnte, nichts anderes als einen verletzten Biber im Kopf zu haben. Sie erwiderten den Morgengruß dennoch und eilten nach vorn. Sie hatten den Käfig vor dem vorderen Mast plaziert. Das Bibergehäuse bestand aus zwei Inch starken Planken, die sie mit jeweils einem
Inch Zwischenraum zusammengefügt hatten. Oben hatten sie eine Klappe eingebaut, damit sie Barnaby später ohne große Umstände freilassen konnten. Auf den ersten Blick war er im trüben Morgenlicht nicht zu sehen. Die Zwischenräume der Planken warfen Schatten. Die Jungen wollten vor dem Käfig in die Knie gehen. Es war, als versetze ihnen jemand einen Schlag. Fassungslos starrten sie auf das sauber gefräste Loch, dessen Durchmesser sich über die Breite von zwei Planken erstreckte. Zwei Holzteile, beide in der Form eines Halbkreises, lagen vor dem Käfig. Philip und Hasard warfen sich zu Boden und spähten hinein - ungeachtet der Gefahr, etwa den gefährlichen Nagezähnen ausgesetzt zu sein. Der Käfig war leer. Das trübe Licht des beginnenden Tages reichte aus, um das zu erkennen. Luke Morgan und Stenmark näherten sich, blieben stehen und blickten lächelnd auf die Zwillinge hinunter. „So lösen sich Probleme von selbst", sagte Stenmark. Die Jungen federten auf die Füße. „Ihr müßt es gesehen haben!" rief Philip erbost. „Warum habt ihr uns nicht gerufen? Warum habt ihr nichts getan?" „Bis vor ein paar Minuten war es noch stockfinster", entgegnete Luke Morgan. „Wir haben nicht mal was gehört. Vielleicht ist euer Barnaby schon bei der vorherigen Wache abgehauen. Oder noch früher." Die Zwillinge sahen sich an. Hasard junior zog die Schultern
49 hoch. „Jetzt können wir ihm auch nicht mehr helfen. Er war eben ein dummer Biber. Sonst hätte er gemerkt, was wir für ihn getan haben." „Wahrscheinlich hast du recht", sagte Philip dumpf. 7. Beim ersten Tageslicht war Sir William Godfrey auf den Beinen. Etwas wie eine innere Uhr hatte ihn geweckt. Er hörte Geräusche aus dem Bauch des Schiffes und grinste zufrieden. Auf Atkinson Grey war wirklich Verlaß. Er hatte die Kerle aus den Kojen gescheucht, pünktlich, wie befohlen. Alles lief wie am Schnürchen. Es war der Beginn eines vielversprechenden Tages. Sir William reckte sich, gähnte und trat an die achteren Bleiglasfenster der Kapitänskammer. Der Himmel schien klar zu sein, das Wetter für einen ausgedehnten Landmarsch würde also günstig bleiben. Er öffnete das Schott zur Heckgalerie, ging hinaus und atmete die frische Morgenluft tief ein. In der Tat war noch keine Wolke am Himmel zu sehen. Im Osten, über der endlosen Weite des Atlantik, schwebte ein Streifen von blassem Rosa über der Kimm. Der Sonnenaufgang würde eine Lichtexplosion werden. Sir William wandte sich dem Land zu. Die Bucht war still und friedlich wie eh und je. Nichts hatte sich verändert. Im Ufergebüsch waren die Nachttiere verstummt. Noch rührte sich nichts von jenem Getier, das tagsüber das Leben in der Wildnis bestimmte. Und die Galeone war wie eine
schwimmehde Festung. Alle Geschütze befanden sich in feuerbereiter Stellung, aus den Verzurrungen gelöst. Die Stückpforten waren geöffnet, zum Land und auch zur See hin. Im Ernstfall konnten die mächtigen Bronzerohre in Minutenschnelle geladen werden. Angreifer würden ihr blaues Wunder erleben, zumal von den Drehbassen praktisch alles unter Feuer genommen werden konnte, aus welcher Richtung es sich auch näherte. Ja, es würde ein erfolgreicher Tag werden. Sir William spürte es mit allen Fasern seiner Sinne. Er beeilte sich mit dem Waschen und Ankleiden und begab sich zum Frühstück in die Offiziersmesse. Natürlich war er der erste. Er hatte jedoch Morris und Davenport in ihren Kammern rumoren hören. Sie waren also ebenfalls von der Erwartungsfreude gepackt, die sich aller an Bord bemächtigt zu haben schien. Der Mann, der zum Kombüsendienst eingeteilt war, trug ein großes Tablett herein und stellte es auf den Tisch. „Vielen Dank, junger Freund", sagte Sir William wohlwollend. „Was haben wir denn da?" „Gebratenen Schinkenspeck, Sir, frisch gebackenes Brot und eine heiße Fleischbrühe, die Ihre Lebensgeister wecken wird, Sir." Der Siedler deutete eine Verbeugung an. „Und das hast du alles allein fertiggekriegt?" staunte der Adlige. „Ja, Sir. Ich habe rechtzeitig in der Nacht angefangen." „Gute Arbeit, wirklich sehr gute Arbeit. Ich werde dich als ersten berücksichtigen, wenn es um die Einteilung der Indianermädchen geht." „Oh, vielen Dank, Sir!"
50 Sir William schaufelte den duftenden Schinken auf seinen Teller, schnitt sich eine Scheibe von dem Brot ab, das innen weich und außen knusprig war, und ließ sich von dem Kombüsenmann Brühe einschenken. Er zog die Muck zu sich heran. „War in der Nacht übrigens alles ruhig? Keine Schwierigkeiten mit den Algonkin-Flittchen?" fragte er. „Es hat keine Zwischenfälle gegeben, Sir. Sonst hätten die Wachen Sie ja auch sofort benachrichtigt." „Dann bin ich beruhigt. Was für ein herrlicher Tag!" Sir William biß herzlich von dem Brot ab und zog im nächsten Moment anerkennend die Brauen hoch. „Hervorragend!" rief er kauend. „Wirklich hervorragend. Bist du Bäcker? Hast du das Backen gelernt?" „Auf einer Farm lernt man sehr viel, Sir. Ich bin nur ein einfacher Bauer." „Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Mann." Sir William wedelte energisch mit der Hand. „Sobald wir nach England zurückgekehrt sind, werde ich mich dafür einsetzen, daß du eine Stellung erhältst, die deinen Fähigkeiten entspricht. Ich könnte mir vorstellen, daß du imstande wärest, die Küche eines großen Herrschaftshauses zu leiten - mit allen Aufgaben, die dazugehören: von der Vorratshaltung bis zum Zusammenstellen der Speisepläne gemeinsam mit dem Hausherrn oder der Hausherrin. Hättest du Interesse an einer solchen Positon?" „Aber ja, Sir!" rief der Kombüsenmann strahlend. „Gut, gut, dann bereite dich schon mal seelisch darauf vor." Sir William schlürfte von der Brühe und brach abermals in Entzücken aus. Als er
auch den Schinken probiert hatte, war er restlos begeistert. „Ich sage dir, du hast diesen Tag zu deinem und unser aller Glückstag erhoben, junger Freund. Schicke mir jetzt Mister Grey herein, zur Lagebesprechung und zum Befehlsempfang." „Aye, aye, Sir", sagte der ehemalige Farmer, der wie alle anderen Zeit und Gelegenheit genug gehabt hatte, sich Ausdrücke aus der Seefahrersprache anzueignen. Alec Morris und Frank Davenport erschienen und wurden gleich darauf ebenfalls mit ihren Frühstücksportionen versorgt. Dann meldete sich Atkinson Grey zur Stelle. Sir William forderte ihn auf, am Tisch Platz zu nehmen und bot ihm an, an der Mahlzeit teilzunehmen. Grey bedankte sich, er habe bereits mit den anderen draußen auf der Kuhl gefrühstückt. „Ich möchte, daß wir in einer Stunde aufbrechen", sagte Sir William. „Wird das möglich sein?" „Natürlich", antwortete Grey ohne Zögern. „Die Kerle sind alle versessen darauf, ihre Aufgaben so gut wie möglich zu bewältigen. Sie wissen ja, was als Lohn auf sie wartet." „Gut. Ich stelle mir vor, daß es besser wäre, eine möglichst starke Truppe mitzunehmen. Wie viele Männer würden Sie als Mindestbewachung auf dem Schiff zurücklassen, Mister Grey?" Grey rieb sich das Kinn zwischen Daumen und Mittelfinger. „Sechs Mann. Es sieht nicht so aus, als ob wir mit irgendwelchen Gefahren zu rechnen haben. Die Lage an Land scheint ruhig zu sein. Andererseits sind sechs Mann ausreichend, um alle Register zu ziehen. Wenn ich da nur an die Drehbassen denke . . . " „Gut, einverstanden", sagte Sir
51 William sofort. „Teilen Sie die sechs Mann ein, und rüsten Sie den Rest mit allen erforderlichen Waffen aus. Im übrigen gilt die strikte Order, daß die Indianerinnen in der Vorpiek bleiben." „Ich werde alles entsprechend veranlassen." Atkinson Grey stand auf und verließ die Kammer. Eine Stunde später versammelte sich die Truppe abmarschbereit am Ufer der Bucht - die drei Adligen, Atkinson Grey und seine KaravellenKerle sowie achtzehn Siedler. Vier Mann, die die letzte Jolle gepullt hatten, kehrten zu ihren beiden Gefährten zurück, die an Bord geblieben waren.
Graham Borrow war ein untersetzter Mann, der sich zu keinem Zeitpunkt seit dem Aufbruch in die Neue Welt gefürchtet hatte. Als Stallknecht auf einem Gut in der Grafschaft Devon hatte er ständig unter der Willkür eines blasierten Verwalters zu leiden gehabt. Eine andere Möglichkeit, als davonzulaufen, hatte es für Borrow nicht gegeben, denn er besaß keinen Penny. Aber er wollte sein Leben nicht als Leibeigener beenden. So war er mit all den anderen in London an Bord der „Explorer" gegangen. Graham Borrow marschierte an der Backbordverschanzung der Galeone auf und ab und rückte die geschulterte Muskete zurecht, deren Schaft einen ungewohnten Druck verursachte. Er spähte über das ruhige Wasser der Bucht. Da war aber am Ufer nichts, was seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Nichts hatte ihm Angst eingejagt,
obwohl er noch niemals in seinem Leben auf Schiffsplanken gestanden hatte. Nur die Küste von Devon hatte er gelegentlich gesehen, Schiffe, die bei Sturm gestrandet oder an Klippen zerschellt waren, Leichen von Seefahrern und Passagieren, die ans Ufer geschwemmt worden waren. Das Schicksal solcher armen Seelen war ihm an die Nieren gegangen. Aber als er selbst an Bord eines Schiffes gegangen war, hatte er keinen einzigen Gedanken mehr an die Schrekken auf See verschwendet. Die Stürme auf dem Atlantik hatten ihn nicht gebeutelt und ebensowenig die Krankheiten und Seuchen, die so manchen dahingerafft hatten. So erschien ihm auch das unbekannte Land Virginia keineswegs furchteinflößend. Die Gefahr durch die Ureinwohner war nach Ansicht von Graham Borrow keine wirklich Gefahr. Mit Kanonen, Musketen und Pistolen war man den Algonkins unendlich überlegen. Nichts hatten sie der Macht dieser Waffen entgegenzusetzen. Absolut nichts. Sie verfügten nicht einmal über geschmiedete Klingen. Ihre Äxte fertigten sie aus Hartholz an, das zwar leidlich scharf geschliffen werden konnte, sonst aber geradezu lächerlich primitiv war - im Vergleich zu dem hochwertigen Stahl der englischen Blankwaffen. Graham Borrow verharrte kurz vor dem Niedergang zur Back. William Wright, fünfter Sohn eines Farmers in Hartfordshire, patrouillierte dort oben. Er beugte sich über die Balustrade und winkte Borrow zu. „Sieht so aus, als ob dies unser langweiligster Tag in Virginia werden sollte, was, Graham?" Borrow grinste. „Man soll den Tag
52 nicht vor dem Abend loben, das müßtest du doch wissen. Aber ich glaube, du hast recht. Hoffen wir, daß unser Suchtrupp diesmal was findet. Um so eher können wir zurück nach England." Wright nickte. „Eigentlich schade", sagte er und lehnte sich an die Balustrade. „Wenn dieses verdammte Virginia bloß etwas gastlicher wäre! Dann könnte man ja hierbleiben. Aber mit der Aussicht, zu verhungern oder von den Rothäuten massakriert zu werden?" „Wir haben uns entschieden, William. Für uns sollte es kein Zurück mehr geben." „Natürlich nicht. Nur in mein Heimatdorf werde ich nicht zurückgehen. Mal sehen, wieviel Gold wir kriegen. Vielleicht kaufe ich mir ein Stück Land in Irland." „Ein Stück nur?" Borrow lachte. „Ein ganzes Gut, Mann! Etwas in der Art werden wir uns zulegen können." „Wir als Landlords?" Wrights Augen leuchteten. „Meinst du wirklich?" „Klar doch. Irgendeinem verarmten adligen Säufer kaufen wir seinen Besitz ab, und dann leben wir für den Rest unserer Tage in Ruhe und Frieden." „Und lassen andre für uns arbeiten." „Darauf kannst du Gift nehmen!" William Wright strahlte in grenzenloser Vorfreude. Borrow nickte ihm zu und wollte sich abwenden, um seinen Wachgang fortzusetzen. Auf dem Achterdeck stand ein weiterer Posten, Alvin Stoddard. Die drei übrigen Männer befanden sich im Logis und waren lediglich dafür verantwortlich, von Zeit zu Zeit die Vorpiek zu kontrollie-
ren. Im Zweistundenrhythmus wechselten sich die Wachen dann ab. William Wright strahlte noch immer. Er schien auf einmal vor lauter Freude die Sprache verloren zu haben. Doch nun beugte er sich vor, als wollte er doch etwas sagen. Er kippte. Graham Borrow durchfuhr der Schreck bis ins Mark. Ein Pfeil ragte aus dem Rücken Wrights, Die bunten Federn am Schaftende leuchteten im Schein der aufgehenden Sonne. Wright blieb über der Balustrade hängen. Die Augen, die Borrow im Fallen für einen Moment angestarrt hatten, waren bereits gebrochen. Borrow überwand seinen Schreck und wirbelte herum. „Stoddard!" brüllte er. „Aufpassen! Die verdammten Rothäute haben . . . " Er hörte einen dumpfen Schlag, und er begriff nicht, daß dieser Schlag ihn selbst getroffen hatte. Denn er spürte keinen Schmerz. Sein Leben war wie abgeschnitten, ohne daß er es überhaupt mitkriegte. Deshalb konnte er auch nicht mehr sehen, wie Stoddard auf dem Achterdeck von einem Pfeil getötet wurde, der seine Kehle durchbohrte.
Shenon gab seinen Kriegern das Zeichen. Rasch brachten sie vier Kanus zu Wasser und schwangen sich hinein. Von kräftigen, doch lautlosen Paddelschlägen getrieben, glitten die leichten Boote durch das Wasser. Wenige Augenblicke später erreichten sie die Jolle, die an der Jakobsleiter der Galeone vertäut war. Shenon enterte als erster auf. Die anderen folg-
54 ten ihm dichtauf. Sie konnten sich Shenon schickte seine Krieger los, sicher fühlen. Die fünf besten Bogen- damit sie das große Kanu durchsuchschützen kauerten im Uferdickicht ten. Er war überzeugt, daß Shoara, und würden jeden, der sich auf dem Riala, Mirimi und Koe noch lebten. Hauptdeck zeigte, sofort töten. Die Eindringlinge waren furchtbare Doch unbehelligt erreichten She- Stümper im Beseitigen von Spuren. non und seine Gefährten die Kuhl der Es war leicht nachzuvollziehen gewe„Explorer". Sie sahen die drei Toten. sen, welches teuflische Spiel sie mit Mit erhobenen Streitäxten wichen sie dem jungen Varu getrieben hatten, auseinander und verteilten sich auf um die vier Mädchen vom Maisfeld den Decks. Shenon wußte um das Ri- weg zu verschleppen. siko, das er einging. Das große Kanu Die sechsundzwanzig Weißhäute, der Weißhäute war ihm unbekannt. die am Morgen das große Kanu verEr hatte keine Ahnung, wie es im lassen hatten und landeinwärts vorBauch dieses mächtigen Kanus aus- gedrungen waren, mußten jene sein, sah. Es war ohnehin viel größer, als die das Dorf ausgelöscht hatten. Sheman es sich vorgestellt hatte. non und seinen Gefährten war es verDer Zufall erleichterte Shenon das teufelt schwergefallen, in ihren Buschverstecken auszuharren und Vorgehen. Aus einer Luke schob sich ein Kopf, die Bluttäter unangefochten ziehen Shenon reagierte blitzartig und zu lassen. Aber es war wichtiger geschleuderte seine Streitaxt in das wesen sich erst über das Schicksal schreckgeweitete bleiche Gesicht. der Mädchen Klarheit zu verschafNicht einmal einen Todesschrei fen. Die Bleichgesichter würden auf jebrachte der Mann noch zustande. Shenon schickte seine Krieger den Fall wieder zu ihrem großen durch die Luke. Sie waren mittler- Kanu zurückkehren. Es würde also weile gewitzt genug, um sich auf die nicht übermäßig schwer sein, ihnen mögliche Gefahr einzustellen. So ließ aufzulauern und sie gnadenlos zu tösich der erste einfach in das schwarze ten. Shenon hatte den Verlust jener Loch fallen. Es krachte, und die Pisto- Männer verwunden, welche die Fallenkugel verfehlte ihn wegen seiner schen angegriffen hatten. Die Gruppe raschen Bewegung. Auf den Planken hatte sich zu einer falschen Folgehochfedernd schleuderte er seine rung verleiten lassen, weil sie die Streitaxt. Ebenso geschah es, als die Weißen aus der Richtung des Dorfes nächsten beiden Krieger eindrangen. hatten nahen sehen. Sie hoben die drei toten BleichgeDer Beschreibung nach, die die sichter hoch und ließen sie von den Überlebenden von den Männern geGefährten auf das Hauptdeck ziehen. geben hatten, handelte es sich bei ihShenon empfand trotz des Anblicks rem Anführer um jenen großen von sechs Toten keine Genugtuung. schwarzhaarigen Mann, den Shenon Er wußte, daß sein Rachedurst noch auch bei der Befreiung der Gefangelange nicht gestillt sein würde - viel- nen aus dem Dorf gesehen hatte. leicht niemals. Sechs tote Weißhäute Jener Mann war ein harter, aber gewogen nicht auf, was im Dorf der Al- rechter Kämpfer. Das gleiche galt für gonkins geschehen war. seine Gefährten. Heimtücke war die-
55 sen Männern nicht zu eigen. Shenon wußte, daß ausgerechnet ihnen das Massaker im Dorf unter keinen Umständen zuzutrauen gewesen wäre. Die Mitglieder der voreiligen Gruppe hatten das eingesehen, als Shenon es ihnen auseinandergesetzt hatte. Er spielte mit dem Gedanken, das große Kanu anzuzünden. Er konnte sich vorstellen, was die Weißhäute planten. Sie wollten das Land ausplündern und soviel wie möglich an Bord schaffen - was immer sie zu finden hofften. Dann würden sie die Heimreise antreten. Wenn es ihnen nur um jenes Material ging, das sie Gold nannten, würden sie sich die Nasen stoßen. Doch in ihrer Gier waren sie vermutlich hemmungslos. Dies wurde durch den Umstand bewiesen, daß sie Shenons Tochter und die drei anderen Mächen entführt hatten. Fraglos hatten sie sie mit über das große Wasser nehmen wollen, um sie in jenem fernen Land zur Schau zu stellen wie seltene Tiere. Shenon überlegte, was richtiger war: den Eindringlingen den Rückweg abzuschneiden oder sie zu töten. Wenn er das große Kanu in Flammen aufgehen ließ, blieb ihm keine andere Wahl mehr, als die Bleichgesichter zu bezwingen. Überließ er ihnen das Riesenboot aber in einwandfreiem Zustand, dann würden sie auch im Fall seiner Niederlage das Land verlassen. Es war also unbedingt ratsam, das große Kanu unbeschädigt zu lassen. Shenon gab den Kriegern, die noch auf dem Hauptdeck waren, Anweisung, den toten Bleichgesichtern die Waffen abzunehmen - einschließlich der Feuerrohre und des Zubehörs, ohne das man diese Art von Waffen offensichtlich nicht benutzen konnte.
Shenon nahm sich vor, bei der nächsten Begegnung mit den Weißhäuten genauer darauf zu achten, wie sie ihre Feuerrohre einsetzten. Man würde vermutlich keine andere Chance haben, dieses Rätsel zu ergründen. Endlich wurden die Mädchen auf die Kuhl gebracht. Shoara stürmte auf ihren Vater zu und ließ sich von ihm in die Arme schließen. Auch die Väter von Riala, Mirimi und Koe waren noch am Leben, und sie nahmen ihre Töchter ebenso bewegt in Empfang. Fünf Minuten herrschte Schweigen auf dem großen Kanu, das sie erobert hatten. Dann war Shenon gezwungen, ihnen zu erklären, was mit dem Dorf geschehen war. Shoara brauchte lange, ehe sie wieder sprechen konnte. Aus tränenverschleierten Augen blickte sie zu ihrem Vater auf. „Diese Weißen sind Bestien", sagte sie mit erstickter Stimme. „Sie haben uns gedemütigt. Aber es ist noch nicht zum Schlimmsten gekommen. Doch wir hätten gern mehr gelitten, wenn dadurch unsere Brüder und Schwestern, unsere Mütter und unsere Alten hätten gerettet werden können." Shenon schüttelte kaum merklich den Kopf und strich ihr über das Haar. „Es wird für uns keine glückliche Zukunft geben, meine Tochter. Unser gesamtes Volk hat keine Zukunft mehr. Was geschehen ist, wird für immer ein Schatten bleiben, der auf uns lastet." Shoara schluckte. „Wird denn niemand die Eindringlinge für die Schuld bestrafen, die sie auf sich geladen haben?" Shenon zog die muskulösen Schultern hoch. „Der Große Geist wird uns in unserem Kampf unterstützen.
56 Aber es wird ein schwerer Kampf werden, und möglicherweise erleben wir den Sieg nicht mehr. Wir müssen bescheiden sein. Es ist eine schwere Prüfung, die uns auferlegt wird. Alle unsere Kräfte werden gefordert werden." Sie verließen das große Boot und erreichten sehr schnell das schützende Uferdickicht. Sie trugen die Kanus nur ein Stück landeinwärts und verbargen sie dann. Es war nicht auszuschließen, daß man die Kanus in der Bucht noch einmal brauchte. 8. Diesmal war Dan O'Flynn dabei, als Hasard erneut mit der Jolle aufbrach. Dans Fachkenntnisse als Navigator waren gefragt. Er hatte sich mit Kartenmaterial sowie mit Zeichenpapier, Feder und Tinte ausgerüstet. Eine Landkarte auf der Grundlage präziser Vermessungen sollte nicht entstehen, konnte nicht entstehen. Dazu fehlten die Mittel. Doch die Skizzen, die Dan anzufertigen gedachte, würden ausreichen, um den Siedlern ein Bild von dem Land zu geben, das man für sie entdeckt hatte. Noch an Bord der Jolle waren die Zwillinge, Edwin Carberry, Ferris Tucker und Batuti. Die Söhne des Seewolfs erfüllten bereits ihre Aufgabe als vollwertige Rudergasten. Plymmie hatte diesmal auf der Schebecke bleiben müssen. Als sie sich der Einmündung jenes Baches näherten, den sie noch gut in Erinnerung hatten, konnten sich Philip und Hasard junior nicht zurückhalten. „Dad", sagte Philip bescheiden, nachdem er mit seinem Bruder einen
Blick des Einverständnisses gewechselt hatte. „Wäre es ungehörig, wenn Hasard und ich darum bitten würden, kurz an Land gehen zu dürfen?" Er deutete auf das Ufer, wo der Creek einmündete. „Wenn ihr fragen würdet", antwortete der Seewolf und lächelte, „wäre es in der Tat ungehörig. Da du dich aber in der Möglichkeitsform ausgedrückt hast, mein Sohn, erübrigt sich die Sache wohl." Dan und die anderen grinsten. Philip blickte plötzlich betroffen drein. Hasard junior stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. „Siehst du!" zischte er. „Das hast du davon, wenn du dauernd versuchst, dich so verdammt gewählt auszudrücken!" „Dauernd?" fragte Philip erbost. „Was soll das heißen?" „Was es bedeutet, Mann. Dauernd heißt dauernd. Soviel wie ständig." „Das weiß ich auch." „Was fragst du dann?" „Weil mir nicht entgangen ist, was du mir da unterzujubeln versuchst daß es eine Gewohnheit von mir wäre, geschraubt zu sprechen." „Richtig", entgegnete Hasard junior feixend. „Dann hast du mich ganz richtig verstanden." „Das ist doch wohl ...", empörte sich Philip und holte tief Luft. Sein Vater fuhr dazwischen. „Da wir an euren brüderlichen Zwistigkeiten nicht interessiert sind, schlage ich vor, ihr führt eure kleine Auseinandersetzung an Land fort." Ohne ein weiteres Wort legte er die Ruderpinne herum, und die Männer pullten grinsend auf die Einmündung des Baches zu. Die Zwillinge kriegten den Mund
57 nicht wieder zu. Dann aber strahlten sie vor Freude. „Aye, aye, Sir!" rief Hasard junior begeistert. „Brüderliche Zwistigkeiten an Land fortsetzen!" Der Seewolf nickte. „Dan wird die Gelegenheit nutzen, eine erste Skizze anzufertigen." Er wandte sich Dan O'Flynn zu. „Wieviel Zeit gibst du den beiden Streithähnen?" „Eine halbe Stunde", entgegnete Dan lächelnd. „Wenn's eine dreiviertel wird, ist es auch nicht schlimm." „In Ordnung", sagte der Seewolf und blickte seine Söhne an. „Ihr habt es gehört. Falls ihr mit eurem Streit früher fertig seid, könnt ihr von mir aus die Zeit nutzen, um das Leben der Biber in dieser Gegend zu erforschen." Die Zwillinge ließen sich das nicht zweimal sagen. Kaum an Land, waren sie augenblicklich wieder ein Herz und eine Seele und folgten abermals jenem Pfad, der im hohen Gras noch recht gut zu erkennen war. „Eine feine Taktik ist das", sagte Philip unvermittelt. „Von was redest du?" Hasard sah ihn stirnrunzelnd von der Seite an. „Wie wir das eben hingekriegt haben. Wenn wir in Zukunft etwas erreichen wollen, brechen wir einen Streit vom Zaun, der sich gewaschen hat. Und schon haben wir die betreffende Sache durchgesetzt." Hasard hatte sich umgedreht. „Ich weiß nicht. Wenn wir jedesmal Aufpasser am Hals haben, ist es wohl nicht das Ideale." Philip wandte sich ebenfalls um. Ed Carberry und Ferris Tucker schlenderten in zweihundert Yards Entfernung durch das kniehohe Gras und sahen dabei aus wie die gelangweiltesten Menschen der Welt.
„Hm", brummte Philip. „Hast recht, Bruderherz. Vielleicht gibt es doch bessere Taktiken." Fünf Minuten später standen sie an der Stelle, an der sie Barnaby gefunden hatten. Die kleine Lichtung im Schilf und das Lager aus auf einandergeschichteten Zweigen waren leer. Es versetzte den Jungen einen Stich. „Barnaby ist bestimmt tot", murmelte Philip düster. „Bestimmt konnte er nicht richtig schwimmen. Und dann hat ihn ein Alligator gefressen. So oder so ähnlich muß es gewesen sein. Ich kann es mir nicht anders erklären." Sein Bruder stieß ihn an, kaum daß er zu Ende gesprochen hatte. „He, sieh mal da drüben! Ich glaube, an deiner Alligator-Geschichte ist nichts dran." Philip lenkte seinen Blick in die Richtung, in die Hasards ausgestreckter Arm wies. Und im nächsten Moment kamen beide aus dem Staunen nicht mehr ehraus. Eine muntere Schar von Bibern war schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Baches, mit dem Weiterbau des begonnenen Dammes beschäftigt. Durch das Auftauchen der beiden Menschenwesen, die ja weit genug entfernt waren, ließen sie sich nicht im mindesten stören. Philip und Hasard sahen nur den einen, der auf den Damm gekrochen war und dort thronte, als wolle er aller Welt zeigen, was er geleistet hatte. Barnaby. „Das gibt es nicht!" flüsterte Philip kopfschüttelnd. „Er blickt zu uns", sagte Hasard. „Ob er uns erkennt?" „Bestimmt. Ganz sicher. Deshalb
58 ist er doch auch nur auf den Damm gerutscht. Damit wir seine geschienten Hinterbeine sehen können. Er will uns zeigen, daß es ihm gutgeht." „Meinst du wirklich?" „Klar. Was denn sonst?" „Das würde ja aber voraussetzen, daß er denken kann." „Unsinn. Es genügt sein Instinkt. Barnaby spürt, wie er uns eine Freude bereiten kann. Er zeigt uns, daß er sich mit den Schienen bestens zu bewegen vermag. Irgendwann verrotten die Dinger und fallen ab. Dann werden auch die Beine wieder gesund sein." Hasard nickte nachdenklich. Die beiden Jungen schauten dem munteren Treiben der Biber noch eine Weile zu. Schließlich wandten sie sich ab. Sie waren zufrieden, denn sie hatten einen erfolgreichen kleinen Eingriff in die Grausamkeit der Natur vorgenommen. Barnaby würde wieder wie ein richtiger Biber leben können. Seine gesunden Artgenossen hatten ihn wieder in ihre Gemeinschaft aufgenommen.
Zehn Stunden erfolgloser Suche waren vergangen. Müde und zerschlagen rasteten Sir William Godfrey und seine Männer am östlichen Rand eines Waldes, wo sie im Schatten sitzen konnten. Denn die Kraft der Nachmittagssonne war noch immer beträchtlich. Die Kleidung der Männer war durchgeschwitzt. Einziger Vorteil war, daß es genügend Trinkwasser gab. Das kristallklare Wasser der Flüsse und Bäche war im Überfluß vorhanden. Jederzeit konnte man
sich erfrischen, weil es Wasserläufe praktisch alle paar hundert Yards gab. Sonst schien dieses verfluchte Land aber nur aus Wildnis zu bestehen. Systematisch hatte Sir William die Umgebung des niedergebrannten Dorfes in immer größeren Radien erforschen lassen. Es war zum Verrücktwerden. Seine Vermutung wollte sich nicht bestätigen. Nirgendwo existierte eine geheime Lagerstätte, in der die Algonkins ihre Reichtümer aufbewahrten. Das Gelände war nicht unübersichtlich genug, ein solches Geheimlager wäre nicht zu übersehen gewesen. Sir William saß mit dem Rücken an einen Baumstamm gelehnt, die Beine lang ausgestreckt. Immer wieder wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Morris und Davenport hatten keinen Anlaß, über ihn zu grinsen. Ihnen ging es nicht besser, sie fühlten sich hundeelend und zerschlagen. „Es hat keinen Zweck", murmelte Sir William niedergeschlagen. „Wir sind schon wieder am falschen Ort. Am besten wird sein, wir segeln ein Stück weiter nach Süden und sehen uns in einem anderen Landstrich um." „Denke ich auch", brummte Alec Morris. „In einer Einöde, wo keine Menschen leben, kann es auch keine verborgenen Schätze geben." „Blödsinn", knurrte Frank Davenport. „Die größten Schätze werden doch meist dort gefunden, wo früher mal Menschen gelebt haben." „Nicht solche Schätze", sagte Sir William unwillig. „Du sprichst von diesem vergrabenen Zeug alter Kulturen. Das ist es nicht, was wir su-
59 chen. Wir wollen das Gold der Indianer. Nichts anderes." „Woher wissen wir eigentlich, daß es das gibt?" entgegnete Davenport. „Daß es was gibt?" bellte Sir William und straffte seine Haltung. Langsam wurde er wütend. Wenn er körperlich in schlechter Verfassung war, konnte er Kritik oder Zweifel auf den Tod nicht ausstehen. „Das Gold der ...", setzte Davenport an. Atkinson Grey, der sich aus dem Inneren des Waldes näherte, unterbrach ihn. „Gentlemen", flüsterte er, „ich denke, wir sollten uns besser verdrükken. Da marschiert eine Truppe von Rothäuten durch die Gegend. Noch haben sie uns nicht gesehen, und sie scheinen auch nicht in unsere Richtung zu kommen. Aber man kann ja nie wissen. Gefährlich nahe sind sie jedenfalls." Sir William und die beiden anderen Adligen rappelten sich eilig auf und folgten Grey im sicheren Sichtschutz der Bäume bis zum südlichen Waldrand. Der Blick reichte weit über die Ebene. Im Grasland, nicht weit von einem langgezogenen Waldstreifen entfernt, waren bronzehäutige Gestalten zu sehen, die sich zielstrebig nach Nordwesten bewegten. Es waren mehr als zwei Dutzend Indianer. „Wir wären ihnen nicht unterlegen", flüsterte Sir William. „Rein zahlenmäßig nicht", antwortete Grey ebenso leise. „Aber sie kennen das Gelände besser als wir. Ich würde einen Angriff nicht empfehlen. Ich schlage vor, so unauffällig wie möglich zur Bucht zurückzukehren und ankerauf zu gehen. Wir sollten woanders weitersuchen. Nicht
hier. Ich bin sicher, daß wir hier nur unsere Zeit vertrödeln." „Haargenau den Gedanken hatte ich auch", sagte Sir William. „Und so geschieht es. Punktum." Er brauchte seinem Befehl nicht erst Nachdruck zu verleihen. Fast alle Männer hatten vom Herumstolpern genug und sehnten sich nach ihren Kojen. Ohnehin waren sie nicht mehr sehr weit von der Bucht entfernt. Als sie eine Stunde später an Deck standen, lief es ihnen eiskalt über den Rücken. Sie wußten auf einmal, daß sie von Glück reden konnten, wenn sie überhaupt noch in der Lage waren, Segel zu setzen. Die Toten würden sie der See übergeben.
Das Unheil brach aus heiterem Himmel herein. Philip und Hasard hatten jene Stelle erreicht, an der der Pfad unmittelbar am Ufer des Baches entlangführte. Edwin Carberry und Ferris Tucker waren noch etwa hundertfünfzig Yards entfernt und wandten sich bereits um. In diesem Moment stürmten die Krieger aus dem Wald auf der anderen Seite des Creeks hervor. Philip und Hasard zuckten zusammen und waren sekundenlang starr vor Schreck. Diese kurze Zeitspanne genügte den Indianern, um den Bachlauf zu überwinden. Carberry und Ferris Tucker hatten nicht die geringste Chance, noch etwas zu unternehmen. Entgeistert mußten sie mit ansehen, wie die Zwillinge blitzartig von den Algonkins eingekreist und gepackt
60 wurden. Die Jungen wehrten sich verzweifelt, konnten jedoch gegen die Krieger nichts ausrichten. Jeweils zwei Indianer hielten sie an den Armen fest, und ein dritter trat mit erhobener Streitaxt hinter sie so daß Carberry und Ferris es deutlich sehen konnten. Die Zwillinge wagten nun nicht mehr, sich zu rühren. Sie wußten, daß sie in höchster Gefahr schwebten. Sie hatten von dem grausigen Schicksal jenes Engländers gehört, der vor den Augen Laura Staceys hingerichtet worden war. Dem Profos und dem Schiffszimmermann blieb nichts anderes übrig, als den kurzen Weg zurückzulaufen und den Seewolf zu verständigen. Es bestand keine Frage, daß die Indianer mit der Gefangennahme der Zwillinge eine bestimmte Absicht verfolgten. Denn anderenfalls hätten sie die Jungen sofort und ohne jegliche Bedenken getötet. Hasards Gesicht versteinerte, als er erfuhr, was geschehen war. Selten hatten die anderen den Profos und Ferris Tucker so verstört erlebt wie in diesem Augenblick. „Es ist allein unsere Schuld", sagte Carberry niedergeschlagen. „Verdammt, wenn wir dichter dran geblieben wären, hätte das nicht passieren können." Ferris nickte voller Bitterkeit. „Unsinn", sagte Hasard beinahe schroff. „Dann trifft mich mindestens genausoviel Schuld. Ich hätte diese blödsinnige Bibersuche überhaupt nicht erlauben dürfen." Er gab Dan und Batuti einen Wink, und sie brachen auf. Bereits zehn Minuten später näherten sie sich jener Stelle am Bachufer, wo die Algonkins im Halbkreis hinter
den sechs Kriegern standen, die die Zwillinge festhielten und bedrohten. Bei den Kriegern waren vier junge Frauen oder Mädchen aus dem Stamm der Algonkins. In hundert Yards Entfernung gab Hasard das Zeichen zum Halten. Der Häuptling der Algonkins trat vor. Hasard erinnerte sich, den Mann seinerzeit im Dorf gesehen zu haben, als er Laura Stacey und Gordon Jameson und seine Gefährten befreit hatte. Hasard folgte dem Beispiel des hochgewachsenen Algonkin und ging langsam auf ihn zu. Zwanzig Yards voneinander entfernt blieben die beiden Männer stehen. „Ich bin Philip Hasard Killigrew", sagte der Seewolf. „Verstehst du meine Sprache?" „Ja", antwortete der Indianer. „Ich", er schlug sich mit der flachen Hand auf den Brustkasten, „bin Shenon." Der Seewolf deutete mit einer knappen Handbewegung an ihm vorbei. „Das da sind meine Söhne." Shenon nickte. „Ich sehe Ähnlichkeit." „Ich werde nicht zulassen, daß ihnen etwas geschieht." Der Häuptling lächelte kühl. „Nichts ihnen wird geschehen - wenn du befolgen meine Befehle." Hasard nickte. ,,So ähnlich habe ich mir das gedacht. Fassen wir uns kurz. Was verlangst du?" „Übergabe von Weißhäuten, die unsere Frauen und Kinder und Alten haben getötet" Shenons Stimme erstickte. Hasard sah ihn kopfschüttelnd an. „Das ist unmöglich. Ich kenne die Täter nicht Meine Männer und ich müß-
61 ten sie erst lange suchen. Und wenn sie ein Schiff haben, wird es sowieso fast aussichtslos sein. Wir haben euer Dorf gesehen. Wir sind genauso empört über das, was dort geschehen ist, wie ihr. Wir können euren Schmerz nachempfinden. Die Bluttäter haben ihr Leben verwirkt. Aber ich habe nicht die Mittel, das in die Tat umzusetzen." „Du wirst tun", sagte Shenon rauh. „Söhne bleiben bei mir. Solange, bis . . . " „Nein!" unterbrach ihn der Seewolf scharf. Er trat einen Schritt beiseite und drehte sich halb um. Mit einer Handbewegung deutete er zu Carberry, Ferris, Dan und Batuti. „Meine Männer haben Pistolen, Feuerrohre nennt ihr sie vielleicht. Sie werden deine Krieger töten, bevor sie meinen Söhnen etwas tun können." Zur Unterstreichung seiner Worte zogen die vier Arwenacks ihre Waffen. Shenons Miene verhärtete sich. Herausfordernd schob er die Unterlippe vor. „Falsch!" rief er. „Du vier Männer mit Feuerrohren. Du auch Feuerrohr." Er zeigte auf den Drehling an Hasards Gürtel. „Wie viele Algonkins können töten?" Hasard preßte die Lippen aufeinander. Dieser Mann hatte gelernt, er wußte, daß die Schußwaffen der Weißen nachgeladen werden mußten - in den meisten Fällen schon nach der ersten Kugel. „Zehn", sagte er und klopfte auf seine Waffe. „Ich habe sechs Kugeln in den Läufen, meine Freunde jeweils eine. Zehn von deinen Männern werden sterben." Shenon nickte und lächelte erneut auf seine kalte Weise. „Viele von uns
gestorben. Wir alle trauern. Zehn von uns sterben, und elfter und zwölfter töten deine Söhne." Hasard biß sich auf die Unterlippe. Seine Augen verengten sich. Er konnte die ohnmächtige Wut der Algonkins verstehen. Aber die Bedingung, die Shenon stellte, war nicht erfüllbar. Eigentlich mußte er es wissen. Er war intelligent genug, und er hatte genug über den weißen Mann gelernt, um die Lage zu begreifen. „Ich fordere dich heraus", sagte der Seewolf kurzentschlossen. „Bist du bereit, gegen mich zu kämpfen? Um das Leben meiner Söhne?" Er bemerkte die entsetzten Blicke von Philip und Hasard, und indem er sie ansah, versuchte er, ihnen die stumme Botschaft zu übermitteln, daß sie keine Angst zu haben brauchten. Shenons Augen waren ebenfalls zu Schlitzen geworden. Für lange Sekunden schwieg er. Hasard sah eins der Mädchen zu den anderen flüstern. Das Mädchen hatte große Ähnlichkeit mit Shenon. Es mußte seine Tochter sein. Sie übersetzte ihren Stammesgefährten, was gesprochen wurde. „Kämpfen!" stieß der Häuptling hervor. Er hob die rechte Faust mit einer ruckartigen Bewegung in Schulterhöhe. „In Ordnung", erwiderte Hasard. „Da ich der Herausforderer bin, bestimmst du die Waffen. So ist es bei uns Brauch." Shenon runzelte für einen Moment die Stirn. Dann nickte er und stieß einen grimmigen Knurrlaut aus. Er drehte sich um und ließ sich zwei Streitäxte geben. Beide legte er mit zwei Schritten Abstand voneinander
62 auf den Boden, wo das Gras noch niedergedrückt war. „Zehn Schritte", sagte er dumpf. „Hier aufstellen, zehn Schritte weg, dann herum und zugreifen." Hasard verstand. Er legte seine eigenen Waffen ab und ging auf die Streitaxt zu, die für ihn bestimmt war. Rücken an Rücken, unmittelbar neben den mörderischen Hiebwaffen, stellten sie sich auf. „Gehen zehn Schritte langsam, dann umdrehen und laufen." Shenon gab das Zeichen, einen scharfen Zischlaut. Hasard befolgte die Anweisung und zählte die Schritte. Während er sich seinen Gefährten näherte, las er die Besorgnis in ihren Augen. Zehn. Er verharrte und vollführte eine Kehrtwendung. Shenon hatte den Zeitpunkt ebenfalls erreicht. Ohne Ankündigung schnellte, er los. Hasard ließ seine Beinmuskeln nur einen Sekundenbruchteil später explodieren. Der Grasboden flog unter ihm weg, während er mit langen, federnden Sätzen lief. Rasend schnell war die Distanz überwunden. Er war sicher, daß Shenon keine List anwenden würde. Dieser Häuptling war ein aufrechter Mann, kein hinterlistiger Schurke. Und richtig. Mit einem letzten Satz erreichte Shenon die Streitaxt auf seiner Seite. Hasard war gleichfalls zur Stelle, packte, den Stiel der klobigen Waffe und brachte sie hoch. Er duckte sich und taxierte das Gewicht der ungewohnten Axt. Shenon war einen Schritt zurückgewichen. Mit ungefähr drei Yards Abstand versuchten die beiden Männer, ihre Reaktionen abzuschätzen.
Jäh schnellte der Algonkin los. Nicht die geringste Ankündigung einer Bewegung war zu erkennen gewesen. Seine Streitaxt kreiste sausend. Unmöglich, vorherzusehen, wo und wie er mit seinem ersten Hieb zu treffen versuchen würde. Hasard reagierte erst im allerletzten Moment. Schon kerbte sich Triumph in die bronzenen Züge des Häuptlings, als der Seewolf das Unerwartete tat. Er warf sich vor und hielt die Streitaxt dabei vom Körper weg. Shenon stieß einen Wutschrei aus. Hasard traf seine Schienbeine mit den Schultern. Der Rammstoß hieb dem Algonkin buchstäblich die Beine unter dem Körper weg. Shenons Schrei gellte langgezogen, wie er über den Seewolf hinwegflog. Hasard rollte sich ab, war im nächsten Atemzug wieder auf den Beinen und kreiselte herum. Shenon lag flach auf dem Bauch. Sein Wutschrei war verstummt. Robbend versuchte er, seine Streitaxt zu erwischen, die einen guten Schritt von ihm entfernt lag. Hasard war schneller zur Stelle. Mit aller Kraft ließ er seine Axt niedersausen. Die Hartholzklinge zertrennte den Stiel der am Boden liegenden Axt in zwei Stücke. Jenes, nach dem Shenon eben griff, wirbelte in hohem Bogen davon. Er legte den Kopf in den Nakken und blickte zu Hasard hoch. „Mein Leben gehört dir, Bleichgesicht", sagte Shenon tonlos. Hasard sah ihn sekundenlang schweigend an. Dann schleuderte er die Streitaxt mit einem Ruck hinter sich ins hohe Gras. „Nein", sagte er mit metallisch klingender Stimme. „Bei uns muß der
63 Sieger eines Kampfes den Unterlegenen nicht töten. Ich verlange nur den vereinbarten Preis: meine Söhne." Hasard wartete. Seine Nerven vibrierten. Dem Verlierer das Leben zu schenken, war normalerweise eine Beleidigung. Bei vielen Indianerstämmen jedenfalls. Möglicherweise hatte Shenon aber bereits genug gelernt, um zu wissen, daß die Maßstäbe seine Vorväter längst nicht mehr uneingeschränkt galten. Er stand auf und nickte. Dann wandte er sich ab, ohne den Seewolf noch einmal anzusehen. Hasard schloß seine Söhne in die Arme. Die Algonkins wandten sich ab und zogen nach Westen. Der Seewolf, seine Söhne und die Männer schauten den Indianern noch lange nach. Der Anblick schnürte ihnen die Kehle zu. Shenon und die letzten seiner Sippe hatten alles verloren. Wie sie weiterleben würden, war ein Rätsel. Für Hasard war es klar: Es gab keinen Grund, stolz darauf zu sein, daß man ein Weißer war. Dabei hatte das Töten auf dem Territorium des roten Mannes erst angefangen. Es war noch nicht einmal abzusehen, was den Ureinwohnern dieses Landes noch alles geschehen würde.
Noch am Abend desselben Tages gingen die Arwenacks ankerauf. Ihre Aufgabe war es nun, die Siedler im Albemarle Sound so schnell wie möglich zu verständigen. Das geeignetere Land war gefunden. Es hatte keinen Sinn, dort, wo ohnehin das meiste zerstört war, unnötige Wiederaufbauarbeiten zu leisten.
Die bessere Zukunft lag greifbar nahe. Die Chance mußte nur genutzt werden. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte die Schebecke das offene Meer erreicht. Sie waren gezwungen, gegen einen überaus handigen Nordwest zu kreuzen. Alle Männer blieben an Deck. Wolkenbänke zogen herauf. Regen setzte ein. Schon Minuten später waren die ersten milchigen Schwaden zu erkennen. Nahezu gleichzeitig ließ der Regen nach. Die Schwaden segelten auf die Schebecke zu - wie Schiffe, die mit unsichtbarem Kiel über das Wasser schweben. „Verdammter Mist!" fluchte Ben Brighton. „Da braut sich eine feine Suppe zusammen." Der Seewolf konnte nicht widersprechen. Das Gegenteil ließ sich leider nicht nachweisen. Bereits nach einer halben Stunde war es soweit. Hasard ließ die Segel wegnehmen und Treibanker ausbringen. Es war nun fast, als säßen sie in einer festen Konsistenz fest, in einem milchigen Brei, der zwar vorhanden war, sich jedoch nicht mit Händen greifen ließ. Im Singen des Windes hörten sie unvermittelt ein Rauschen. Die Männer auf dem Hauptdeck der Schebecke verharrten regungslos und starrten in den undurchdringlichen Nebel. Das Rauschen verstärkte sich und übertönte den Wind. Sekunden später wurden die Zusatzgeräusche deutlich. Das Knarren von Takelage und das feine Säuseln des Windes in laufendem und stehendem Gut.
64 Es glitt vorüber - haarsträubend nahe. Nur ein großer Schatten war es, mit mattschimmernden Lichtflecken der Bordlaternen. „Ein Geisterschiff", raunte Old Do-
negal Daniel O'Flynn auf dem Vorschiff der Schebecke. „Da hol mich doch der Teufel, wenn das nicht ein Geisterschiff war!" Der Spuk war vorüber, noch bevor der „Admiral" den Satz zu Ende gesprochen hatte . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 635
Goldrausch im Küstennebel von Sean Beaufort Als sich die Schiffsseiten bis auf wenige Zoll genähert hatten, setzten die Seewölfe über, klammerten sich an die Sprossen der Jacobsleiter, an Teile der Rüsten oder des Schanzkleids. Einige Atemzüge später klettere eine schreiende, furchterregende Horde von mehr als eineinhalb Dutzend Seewölfen über das Schanzkleid der Galeone und stürzte sich auf den Gegner. Der Profos, die schwere Blankwaffe in der linken, die Pistole in der rechten Hand, wandte sich nach rechts und feuerte auf Atkinson Grey, der sich von einem Niedergang auf ihn warf. Grey blutete bereits aus mehreren kleinen Wunden. Der Schuß pfiff an der Schulter des Rabauken-Anführers vorbei. Aber als Grey den Profos ansprang, prallte er Vierkant in den Profoshammer, der ihn mit der Wucht einer Ramme traf...
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KAPTAIN STELZBEIN 2011
Printed in Germany. Mai 1988