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Über dieses Buch Wer ist jener mysteriöse Komponist Richard Stier, dessen »extraterrestrische« Rock-Musik die Jugend des amerikanischen Kontinents umkrempelt? Warum kleidet er sich ausschließlich in Weiß? Warum sind seine Hohepriesterinnen Magdelaine, Winnie, Terhikki und Mrs. Chen bestrebt, aus seiner Musik einen neoreligiösen Kult zu machen? Wer sind die geheimnisvollen Neun, die Richard Stier protegieren, ohne jedoch selbst in Erscheinung zu treten? Weshalb bauen sie Richard Stier, das Idol der Jugend, zum Gegenkandidaten des reaktionären kanadischen Premierministers auf? Paul Odeon, ein Werbetexter einer amerikanischen Agentur, spürt diesen Fragen nach und gelangt zu einer Erkenntnis des Schreckens. Robin Sanborn entlarvt in seinem Buch das pseudoprogressive Geschwätz jener internationalen Ehrenmänner, die sich mit Hilfe legaler Drogen die Jugend gefügig machen wollen.
Robin Sanborn
Der Große Stier Science Fiction Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe Fischer Taschenbuch Verlag Juni 1973 Umschlagillustration: Eddie Jones Umschlagtypographie: Jan Buchholz/Reni Hinsch Titel der amerikanischen Originalausgabe: ›The Book of Stier‹ Erschienen bei Berkley Publishing Corporation, New York Ins Deutsche übertragen von Regine König Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © der deutschen Ausgabe 1973 by Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main © 1971 by Robin Sanborn Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany Scan by Brrazo 12/2010 ISBN 3 436 01729 9
Gewidmet meiner zweiten und dritten Frau, Vere de Vere, die mich gelehrt hat, lachend zu weinen.
1.TEIL: Sausalito, Kalifornien Er stolperte im Dunkeln über seine eigenen Schuhe, die neben dem Bett standen, und hob die Bettdecke so hoch, daß er neben sie hineinschlüpfen konnte. Er legte seine Anne um sie, bis seine Hände ihre Brüste bedeckten, und preßte dann beide sanft und rhythmisch, so daß er das warme gerundete Fleisch zwischen seinen Fingern spürte. »Du duftest wie Blätter«, flüsterte er, »wie dicke, frische Blätter voller Saft. Im Frühling. Weißt du, was Frühling ist? Es ist eine Jahreszeit, ein Hervorbrechen, ein rasches Aufspringen, ein Ursprung und ein sich Wälzen im Bett. In Kalifornien gibt es das nie. Hier ist immer Sommer. – Spätsommer.« Er hob den Kopf vom Kissen. »Mein Körper kann sich nicht daran gewöhnen. In meinem Blute regnet und schneit es, schmilzt und wallt auf, friert und taut … Er ist wie diese Muscheln, die sich bei Flut und Ebbe öffnen und schließen, sogar wenn sie tausend Meilen vom Meer entfernt in einem Faß voller Wasser schwimmen. Hier gibt es keinen Schnee. Weißt du überhaupt, was für ein Geräusch ein roter Pfeilschlitten vor deinem Magen macht, wenn du einen guten Start hast bei der Wettfahrt und einen eisbedeckter Abhang hinunterjagst?« Er ließ ihre Brüste los, faßte höher und betastete die kühlen Porzellanperlen ihrer Halskette. »Die gewaltigste Erregung, die ich jemals bei einem Menschen weiblichen Geschlechts empfunden habe, war im Schnee. Dies kleine Mädchen und ich, wir waren beide ungefähr sieben Jahre alt, sind gleichzeitig von unseren Schlitten gefallen. Und als wir wieder aufstanden, berührten sich unsere Wangen. Nichts als das. Genauso ist es gewesen, aber mich hat es so erregt und erschreckt, daß ich geweint habe.« 9
Er begann die Perlen zu zählen. »Die Temperatur in Kalifornien ist ausgezeichnet, um Keime auszubrüten. Kleine psychische Käfer, die in deinem Gehirn nisten.« Er zog seine Beine an die Unterseite ihrer Oberschenkel hoch. »Weißt du auch, warum die Menschen sich im Dunkeln lieben? Damit sie einander nicht anlächeln müssen. Manche Dummköpfe lächeln sogar im Dunkeln. Ich zum Beispiel. Ich lächele so sehr, daß mir die Wangen wehtun. Zum Teufel auch, die Tiere wollen sich nicht einmal ansehen, wenn sie zusammenkommen, nur die Menschen legen ihre Nasen zusammen.« Er küßte ihr Ohrläppchen. »Das ist der große Vorteil, wenn man es so macht wie die Hunde. Man liegt nicht so, daß man sich gegenseitig ansieht und dabei versucht, darüber nachzudenken, was man sagen könnte. Stimmt’s? Jetzt bist du an der Reihe. Was ist deine Gleichung für diese dunkle Geometrie?« Er setzte an, um in sie einzudringen, doch ihr Atemgeräusch ließ ihn aufhören; es sprudelte ihr jetzt in kurzen Schnarchlauten aus der Kehle. Da er nicht imstande war, den Schmerz in seiner linken Schulter zu mißachten, öffnete er die Augen. Eine silberne Haarnadel in einem zerdrückten Aufbau orangefarbenen Haares. Warme, feuchte Haut, die sich gegen seine Knie preßte. Er befreite sich aus dem Bett und zog seine Shorts an, ehe er sich umwandte, um sie anzusehen. Ein Mädchen mit orangefarbenem Haar. Es schnarcht. Unter diesem Kissen lag wohl ein Gebirge voll brauner Sommersprossen. Und behaarte Beine. Falsch gedrehte Hüften. Ihre Brustmuskulatur war sicher schwach, und 10
sie wusch ihren Büstenhalter wahrscheinlich nur einmal im Monat, wenn nicht noch seltener. Er ging in die Küche und zündete unter dem mit silbrigen Blasen bedeckten Kessel den Brenner an. Er beschloß, nicht zu duschen. Denn wer sie auch sein mochte, sie könnte davon aufgeweckt werden. Mit einem leichten Schlag stellte er das Transistorradio an, ging zum Ausguß und ließ kaltes Wasser über seine Handgelenke laufen. Waren sie nicht gestern abend beide zusammen in der Duschzelle gewesen? Nach dem Wein, vor dem Gin? Nancy … nein, Natalie. Sie hatte gesagt, daß sie Natalie hieße. Er sprühte eine Menge zitronenduftender Creme auf seine Wangen und rasierte sich; zwischendurch trank er in kleinen Schlucken Kaffee. Eine metallisch klingende Stimme im Radio sagte an, es sei sieben Uhr und fünfzehn Minuten, als er auf den Zehenspitzen zum Wandschrank ging. Er zog sich rasch an; er wählte einen seriösen braunen Anzug, ein kommerzielles weißes Hemd, einen dezenten rostbraunen Schlips mit schöpferischen Goldstreifen. Als er das schwarze Haar gekämmt und gebürstet hatte, bis es anlag wie ein zweiter Schädel, und die Schuhspitzen mit dem noch feuchten Rasierhandtuch poliert hatte, bewaffnete er sich unerbittlich mit Kamm, Reisetasche, Handtuch und dem Fahrkartenheftchen. Er ging ins Wohnzimmer zurück, dort hockte das Mädchen im Indianersitz am Kopfende des Bettes und stieß mit allen zehn Fingern auf ihrer rechten Brust herum. Er zog die Vorhänge zurück und lächelte ihr zu. »Alles in Ordnung?« fragte er. »Ich seh grad mal nach. Möchte nicht Krebs kriegen.« »Du liebe Güte, nein.« 11
»Oh, du bist schon ganz angezogen. Ich glaub, du hast wirklich einen Job. Was für einen denn?« »Wie: was für einen denn?« »Was für’n Job?« »Werbe-Agentur.« »Und was machst du?« »Werbung.« »Ach so. Na ja, ich kann mir denken, daß es irgend jemand machen muß.« Sie zog das Bettuch zwischen ihren Beinen hoch und sah sich im Zimmer um. »Was für eine hübsche kleine Wohnung! Gestern abend habe ich tatsächlich nicht viel davon gesehen, bloß die Duschzelle. Mensch, war ich blau!« »Es ist Pulverkaffee da«, sagte er und vergrub dabei die Arme im Regenmantel, »und das Wasser ist schon heiß. Schlaf du ruhig noch ein bißchen, wenn du möchtest, ich muß den Autobus erwischen.« »Du kannst weit sehen durch das Fenster da. Kannst du von hier aus San Francisco sehn?« »Einmal hab ich es flüchtig zu sehen gekriegt, als ich vom Balkon heruntergefallen bin.« »Ach! Na, ich glaube, ich zieh mich lieber an. Es war doch wirklich prima gestern abend, nicht?« »Ja, wirklich prima.« »Ich heiße Natalie.« »Ich weiß.« »Und du heißt … Paul?« Er nickte. »Viel Vergnügen bei der Werbung!« Er warf ihr einen Handkuß zu und schloß die Tür hinter sich. Als er oben auf der Treppe stand, schob er seine Sonnenbrille zurecht und warf einen Blick über sein Reich. Wie die Häuser sich jenseits des Tals gleich Würfelzucker-Stücken aufschichteten, wie die silberne Morgensonne feurige Schlangen in die Ge12
wässer der Bucht rieseln ließ, wie die Bäume und Büsche in der leichten Brise schauerten – es hätte Neapel sein können! Die Bucht von Nawarino! Monte Carlo! Aber das war es ja nicht, es war Sausalito. Um genau zu sein, es war die Hurrikanschlucht, und er stand dreiunddreißig Steinstufen oberhalb der ungepflasterten Straße, die zur Bushaltestelle führte. Paul Odeon ging herunter. Pflanzen, die er nicht einmal dem Namen nach kannte, klammerten sich an seine Hosenbeine, blattlose Zweige peitschten auf seinen Regenmantel und hinterließen feuchte Spuren. Auf der drittletzten Stufe bewegte sich eine fette Schlange mit feuchter, olivenfarbiger Haut über die Steinplatte, mit winzigen Bewegungen, und zog einen Faden ihrer morgendlichen Absonderung nach sich. Paul hielt seinen Absatz wenige Zentimeter über ihren Kopf und genoß einen göttlichen Taumel, doch dann schritt er über sie hinweg und sprang wie ein Fallschirmjäger mit beiden Füßen gleichzeitig auf die Straße. Er zählte seine vierhundertsiebenundachtzig Schritte bis zur Bushaltestelle, die vor der chinesischen Wäscherei lag. Er riß einen Fahrschein ab, kaufte sich aus einem gelben Plastikautomaten eine Zeitung, zündete sich eine Zigarette an und dachte an die Erzählung, die er eines Tages schreiben würde … Das StudioApartment mit dem Sofa, das man zu einem Bett umklappen konnte. Die eine Stufe, die zur Küche führte. Der Anblick der Würfelzucker-Häuser auf der anderen Straßenseite. Die Einsamkeit. Und dreiunddreißig Stufen, die nach unten führten … An der Bushaltestelle war jetzt die übliche Gruppe von Frauen versammelt und unterhielt sich über dummes Zeug. … Und der Kerl, der dort lebte, würde ein Künstler sein. Ein Maler. Er lebt mit einem Mädchen aus Belgien 13
zusammen (sehr verführerisch, mit vollen Brüsten), das er einmal bei einer Party gemalt hat, das ihn auf eine fremdartige Weise liebt und das all die Gewächse und Blumen zu beiden Seiten der nach unten führenden Steintreppe gepflanzt hat. Sie geraten über etwas in Streit, er verstößt sie, die von ihr gepflanzten Gewächse und Blumen werden böse auf ihn und fangen an, während sie weiter wachsen, ihn zu ergreifen … Der Greyhound nach San Francisco hält knirschend in einer Wolke bläulichen Monoxyds. Paul stieg ein, lächelte der Busfahrerin zu und setzte sich auf seinen gewohnten Platz, links hinten oberhalb des Rades. … Eines Morgens bekommt er die Tür nicht auf und kann nicht hinausgehen, weil die Weinranken den Türgriff umwachsen haben. Und die Wurzeln haben draußen die Telefonleitung zerrissen. Sie wachsen zum Küchenfenster herein, winden sich um den Ofen und um den Eisschrank und blockieren die Badezimmertür. Er kann an nichts Eßbares herankommen, er kann nicht um Hilfe rufen, und er muß seine Notdurft in den Ecken des Wohnzimmers verrichten; dabei schlägt er den Wein mit einem Drahtkleiderbügel ab. Sie erreichen ihn … Er blinzelte und schlug den Sportteil von The Chronicle auf. Mitten auf der Golden Gate Bridge hielt der Bus plötzlich an. Man hörte nervöses Autohupen, und im Bus hörte man, wie einige Uhren aufgezogen wurden. Niemand sprach. Es vergingen volle drei Minuten, und der Chor der Autohupen schwoll an zu einer Hindemithschen Orchestrierung. Endlich setzte der Bus sich schwankend in Bewegung und fuhr mit niedriger Gangschaltung die ganze Straße herunter bis zum Zollhaus, das von Polizisten umgeben war. Die Busfahrerin sprach mit ei14
nem, dann drehte sie sich auf ihrem Sitz um und erklärte die Ursache der Verzögerung: Heute morgen gegen acht Uhr und dreiundzwanzig Minuten hatte die gesamte zweite Klasse der Lincoln-High-School sich das Leben genommen, indem sie sich bei den Händen gefaßt hatten und vom Mittelteil der Brücke (auf der Seite nach San Francisco hin) heruntergesprungen waren. Jemand sagte: »Verdammte Teenager«, und verschiedene Fahrgäste brachten mit Zunge und Zähnen kurze, saftige, glucksende Laute hervor. Drei Männer in schwarzen Anzügen berichteten verschiedene Versionen über das Massenspringen, während Paul im Aufzug zum sechsten Stockwerk hinauffuhr. Er ging rasch den Flur entlang, nickte dem neuen Mädchen an der Schalttafel zu, ebenso einem Buchhalter und dem Art-Director. Er öffnete die Tür zu seinem Büroraum und schlug sie hinter sich zu. Er hängte seinen Mantel über den Aktenschrank, ließ sich in seinen Stuhl fallen und durchblätterte den aufgetürmten Stoß von rosa Zetteln auf seinem Schreibtisch. »Anruf Rich. betr. Milch-Entwurf.« – »Gebühren für den Copywriter’s Club fällig. Sie sind dran!« – »Ein Mädchen, das sich als ›Natalie‹ bezeichnete und sagte, Sie wüßten Bescheid, hat um acht Uhr fünf und vierzig angerufen.« Natalie. Wie hat sie die Nummer rausgekriegt? Eine Besuchskarte auf dem Schreibtisch gefunden? Vielleicht hat sie entdeckt, daß sie Brustkrebs hat. Gestern abend hat sie in der Duschzelle etwas von orientalischen Männern erzählt, die Prostatakrebs hätten. Und er hatte gesagt, Krebs würde durch Rundfunk- und Fernsehwellen hervorgerufen, so wie bei dem Fisch, den jemand in einem Behälter zu nahe an einem Fernsehgerät stehen gelassen hatte; der Fisch war an 15
den Strahlen gestorben. Da fing sie an zu kichern und ihn zwischen den Beinen mit Gesichtsseife zu waschen … Er zeichnete jeden Notizzettel mit seinen Anfangsbuchstaben ab und lehnte sich in seinem Stuhl zurück; da machte Clayton Kickard die Tür auf und kam hereingewirbelt; er zog einen großen Bogen Pauspapier hinter sich her. »Hier ist der Entwurf für Meltzer, Paul. Sag mal, hast du diese verrückten Kinder von der Brücke herunterspringen sehen, als du von Sausalito herübergekommen bist?« Er schwenkte das Blatt, als ob er ein Bettuch lüften wollte, und brachte es dann auf Pauls Schreibtisch in die richtige Stellung. »Du hast es auf den Kopf gestellt«, sagte Paul. »Nein, bloß die Kaffeekanne ist auf den Kopf gestellt. Hab ich mit Absicht so gemacht. Damit die Leute wirklich stehenbleiben.« »Schrecklich.« »Das mit den Kindern, meinst du das? Ja. Über hundert. Die ganze zweite Klasse.« »Dieser Entwurf ist schrecklich.« »Damit die Leute wirklich stehenbleiben. Und dein Text käme … direkt hier drüber.« Clayton machte eine großzügige Handbewegung. »Massenhaft Leser.« »Das tut’s nicht, Gayton. Es bringt mich nicht dazu, daß ich kaufen möchte.« »Kaufen?« »Vergiß nicht: ›Es geschieht nichts, solange nichts gekauft wird.‹ Ich werde dir eine neue Textüberschrift geben …« Paul spannte ein Blatt gelbes Durchschlagpapier in die Schreibmaschine und schrieb: SCHENK DIR MAL MELTZERS KAFFEE EIN, DANN SAGST DU: JA, NUR DEN ALLEIN! 16
»Das bedeutet ja, daß ich einen ganz neuen Entwurf machen muß«, sagte Clayton. »Mach ihn nur ganz im Groben. Dann zeige ich ihn heute nachmittag Collier.« Clayton rieb sich die Stirn, als ob er nach Geschoßlöchern darin suchen wollte. Paul knickte den Entwurf in der Mitte von oben nach unten, faltete ihn zur Hälfte, faltete ihn wieder, knickte ihn und faltete ihn noch einmal. »Ich hab mal irgendwo gelesen, es wäre unmöglich, ein beliebiges Stück Papier öfter als fünfmal auf die Hälfte zu falten«, sagte er; er übergab Clayton ein Bündel Banknoten etwa in der Größe eines winzigen Butterbrots. »Laß die Tür bitte offen, ja, heute ist der Tag, an dem Miss Cook ihren blauen Pullover anhat.« Clayton murmelte etwas auf Lateinisch, das schmutzig klang, und ging. Paul holte ein Buch ›Verkaufen leicht gemacht‹ aus der Schublade und hielt es so, daß jeder, der an der offenen Tür vorbeikäme, den Titel lesen könnte. Er richtete den Blick auf das erste Wort des ersten Abschnitts von Seite vierunddreißig und erwartete nach der gestrigen Trinkerei seinen Kater. Für elf Uhr vormittags war eine Besprechung der künstlerischen Mitarbeiter im Büro von Lyle »Renner« Summers einberufen, dem Inspektor der California Industrial Company (Calico). Paul setzte sich auf seinen üblichen Platz am Tisch, zwischen Jerry Miller und Louise Duggan. Ned Collier, der Erste Texter, saß am anderen Ende neben Gayton Kickard, der sich damit beschäftigte, Dreiecke auf seinen Skizzenblock zu malen. Louise Duggan, die einzige Frau unter den techni17
schen Sekretären in der Agentur, schwatzte vergnügt mit dem schläfrigen Jerry Miller, der mit zitterigen Fingern an seinem Bart zog und mit seinen wässerigen grauen Augen blinzelte. Paul schätzte den Alkoholgeruch, den Jerry von sich gab, auf das Ergebnis von siebenunddreißig Glas Wein; oder vielleicht hatte er auch um neun Uhr Gin getrunken, eingeschenkt aus der Vase mit künstlichen Blumen, die Jerry auf seinem Schreibtisch stehen hatte. »Zum Teufel auch, wo ist Renner?« Ned Collier richtete diese Frage an die Stoppuhr, die er am Handgelenk trug. »Er hat sich verspätet«, sagte Clayton. »Vielen Dank«, sagte Collier. Paul faltete die Hände auf dem Tisch und fing an zu überlegen, was für Melodien er summen könnte. Jerry bekam einen Hustenkrampf. Da ging die Tür auf, und Lyle Summers, der sagenhafte Renner der Sansome Street, kam hereingestürzt. Sein kleines, rundes Gesicht glänzte von Schweiß. Er betupfte es heftig mit dem Rücken seines Handgelenks; dabei grinste er die ihm zugewandten Gesichter mit dem Ausdruck eines liebenswürdigen Kindes an, das seine Weihnachtsgeschenke zu früh ausgepackt hat. »’tschuldigung zusammen«, sagte er, machte seinen grünen Seidenschlips auf und zerrte ihn nach unten auf den Versammlungstisch; »aber heute morgen ist mir auf dem Wege zur Agentur eine höchst drollige Sache passiert. Was meinen Sie, ich hätte fast einen neuen Bericht gekriegt. die zweite Klasse der Lincoln-HighSchool!« Alles lachte mit Ausnahme von Jerry, dessen Gesichtszüge in sich zusammenfielen und einen Ausdruck bekamen, als litte er an akuter Verdauungsschwäche. 18
Renner Summers wischte sich die Handflächen an den Seiten seines tadellos geschneiderten schwarzen Mohair-Anzugs ab und lehnte sich über den Tisch. Ned Collier nahm die Brille ab. Paul zog einen kleinen Notizblock aus der Brusttasche. Gayton hörte auf, Dreiecke zu malen. Louise fing an, sich die Fingernägel zu feilen. Jetzt würde die Besprechung anfangen. »Wie Sie ja alle wissen«, sagte Renner, »brauchen die Jungen unten in Calico nicht lange, um mit einer ziemlich aufregenden Angelegenheit herauszukommen. Ihre Abteilung R und D da unten schleift die Spätzünder ein; die Folge ist, daß die gesamte Industrie zu neuen Horizonten getrieben wird!« Renners Hand, jetzt Düsenflugzeug, jagte heftig aufwärts, beschrieb eine scharfe Kurve, bombardierte den Tisch und landete dann sicher in seiner Hosentasche. »Womit sie jetzt herausgerückt sind, das wird nicht nur die Landwirtschaftsindustrie revolutionieren, es wird auch die chemische Industrie revolutionieren, es wird die Industrie en gros und en detail und die Landwirtschaft revolutionieren.« »Ja was zum Himmel noch mal ist das denn?« fragte Collier und preßte seine Brillenbügel in der Hand. Renner erhob sich auf die Zehen, verschränkte die Hände im Rücken und sog an seiner Oberlippe. Er blickte zur Decke hoch, bis das Gewicht seines Geheimnisses geradezu seinen Kopf nach vorn herunterfallen ließ. »Ich frage Sie, meine Herren – und meine Dame. Was bringt Obst und Gemüse zum Wachsen? Ist es nicht Dünger? Und was ist der beste Dünger, den der Mensch kennt? Sogar noch besser als chemischer Dünger?« 19
»Scheiße«, sagte Jerry zwischen seinen Fingern hervor. »Genau!« Louise kicherte. Clayton malte ein kleines Dreieck auf seinen Skizzenblock. Renner neigte den Kopf, als, ob er auf Würmer horchte. »Und ich möchte Ihnen ehrerbietigst zu bedenken geben; das einzige Exkrement, welches den tierischen Exkrementen überlegen ist«, flüsterte er, »ist das menschliche Exkrement! Stellen Sie sich einmal die traurige Lage unserer armen Bauern vor, wenn Sie wollen, die traurige Lage der armen Bauern in kleinen Ansiedlungen und Dörfern jenseits des Ozeans, wie beispielsweise in Vietnam und ähnlichen Gegenden. Nun, und wir exportieren buchstäblich Tonnen von chemischem Dünger, damit Flugzeuge über solche Gegenden fliegen und ihre Saat bestäuben können. Es ist uns noch nicht gelungen, ihre Saat mit Exkrement zu bestäuben – weshalb nicht?« Renner schüttelte betrübt den Kopf und zog eine gelbe Rolle aus seinem Schriftenkoffer. »Weil bis heute, meine Herren, nicht genug tierischer Dünger angefallen ist, um der Bevölkerungsexplosion nachzukommen. Und weil bis heute tadelloser menschlicher Dünger unnütz vergeudet worden ist!« Er fing an, die Rolle aufzuwickeln. »Ich bin froh, sagen zu können, daß – dank den Jungen in R und D unten in Calico – das Problem des menschlichen Exkrements angeschnitten worden ist!« Mit heftigem Knittern glättete er das Papier zwischen seinen ausgestreckten Händen. Es zeigte die flüchtige Zeichnung eines Feldes, eines Bauern und eines halb ausgeleerten, groben Leinensackes. 20
»Hier ist es! Dies ist nur eine erste Skizze, verstehen Sie, die einer von den Jungen der Ingenieurklasse hergestellt hat, aber das Entscheidende dabei ist dies: daß Calico ein Verfahren gebracht hat, welches das menschliche Exkrement geruchlos, geschmacklos und nahezu farblos macht, ideal zum Versprühen … in Vietnam oder gleich wo sonst! Nun also, ich zweifle nicht daran, daß Sie einen besseren Namen finden werden, aber erst einmal haben wir es HUMANUR genannt!« Ned Collier war dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, verbrannte sich die Finger und fluchte. Louise sah zu Jerry hinüber, der mit geschlossenen Augen dasaß. Clayton Kickard fing an, ein großes H zu zeichnen. »Ich glaube«, sagte Paul, »daß darin wirklich Möglichkeiten liegen.« Collier, der Erste Texter, lud Paul zum Mittagessen ein und bot ihm sogar an, es zu bezahlen; das bedeutete ein privates Geschäft. Sie gingen über die Straße zu Benny’s; es war schon überfüllt mit der zur Mittagszeit üblichen Zusammenstellung von Agentur-Angestellten, Maklern, Versicherungsleuten, hochgeschätzten Sekretären, Bauarbeitern von dem neuen Bankhaus mit ihren gelben Helmen. Das Geräusch der Eisstücke, die in Metallausgüssen rasselten, mischte sich mit dem Klappern der Würfel, die aus ledernen Bechern geschleudert wurden und sich über die feuchte MahagoniBar verteilten. Nach zehn Minuten setzten sie sich in eine Kabine neben dem Musikautomaten. »Was nimmst du, Paul?« »Ein Sandwich mit Eiersalat.« »Ich meine, was du trinken willst!« »Milch.« »Trinkst du nie? Ich meine etwas Echtes!« 21
»Nur an Lincolns Geburtstag.« Collier nahm seine Brille ab und erhob die Arme zu einem Zeichen, das der Barkellner als einen doppelten Dry Martini entzifferte. »Das war doch wirklich mal was«, sagte Collier, »mit diesen Kindern, die da von der Brücke heruntergesprungen sind.« »Das war wirklich mal was.« »Bist du sicher, daß du dir’s nicht anders überlegst mit einem Drink?« Paul schüttelte den Kopf. Als der Musikautomat vibrierend zu spielen anfing, konnte er spüren, wie der Tisch zitterte. »Hab heute morgen ein kleines Gespräch mit Gerner gehabt«, sagte Collier. »Er möchte, daß du den Text für den Bericht über die Ahornblatt-Schallplatten machst.« »Jerry arbeitet ja schon daran.« »Nicht mehr lange. Entweder Foss oder Meyer hat den Gin in dieser Blumenvase entdeckt, die Jerry auf seinem Schreibtisch stehen hat.« »Wahrscheinlich Foss. Er trinkt selber Gin.« »Das macht es nur schlimmer; ich möchte auch, daß du den Programmtext für Renners Scheiß-Problem machst.« »Was wird mit Jerry?« Eine Kellnerin beugte sich eben lange genug zwischen sie, um einen sprudelnden Martini abzusetzen und dabei zu verschütten. Collier grunzte, wischte mit seinem Taschentuch über den Fleck und sagte dann etwas, das Paul durch den heftigen Ausbruch der Trommeln und Trompeten vom Musikautomaten her nicht verstehen konnte. Paul nickte, klopfte die Asche von seiner Zigarette ab und starrte auf die Nikotinflecken an Colliers Fingern. Sie erinnerten ihn an Professor 22
Berrick. London. Das Seminar. Und Berrick. Berrick, wie er über sein Pult sprang, absolut lächerlich, und auf die Hand zeigte, die an seinem Handgelenk hing. »Dies ist eine Hand! Dies ist eine menschliche Hand!« Bei Gott, Herr Professor, Sie haben durchaus recht. Knotige blaue Adern standen unter der straffen weißen Haut hervor. »Ist es das, was der Bischof Berkeley gesehen hat? Ich frage Sie, Mr. Odeon, ist dieses Fleisch, das noch kein Pfund wiegt, nicht der Beweis jeder Philosophie?« Wenn du mit dieser Hand noch näher kommst werde ich sie beißen … »Weißt du, was ich meine?« fragte Collier. »Ich hätte sie gebissen.« »Waas?« »Bloß so ein Gedanke.« Er bedeckte sein Sandwich mit einer Papierserviette und nahm eine Handvoll Kartoffelchips. »Schon fertig?« fragte Collier. »Ich hatte vor, früh wieder zurückzugehen.« »Dann treffe ich dich da wieder, ich will noch einen trinken.« »Gut«, sagte Paul, »ich treffe dich da wieder.« Er ließ einen Vierteldollar unter seinen Teller gleiten und drängte sich an dem Musikautomaten vorbei, der jetzt ein altes Seemannslied aus den sechziger Jahren spielte … »Hittin’ all the waves with a koo-mah-ker-chowby Gettin all the raves with a koo-mah-ker-chowby Takin’ it in spurts with a koo-mah-ker-chowby Golly how it hurts with a koo-mah-ker-chowby«. Paul ging zweimal an den Wasserkühler, damit er sicher sein konnte, daß jeder, den es vielleicht interessie23
ren würde, bemerkte, daß er nach dem Mittagessen schnell wiedergekommen war. Dann schaukelte er fast eine Stunde lang ruhig in seinem Drehsessel vor und zurück; dabei schaute er aus dem Fenster und besah sich den Frühnachmittags-Nebel. »Irgendwelche Briefe?« Miss Cook stand am Türeingang, in einer Hand den Block, in der anderen den Bleistift, und hatte die Arme nach der Weise unbekannter ägyptischer Gottheiten vor der Brust gekreuzt. »Zur Post zu geben?« »Oder zu diktieren …?« »Ach ja. Miss Cook, tatsächlich. Bitte nehmen Sie doch Platz.« Miss Cook trug nicht nur ihren blauen Pullover, sie hatte noch eine Verfeinerung hinzugefügt – ein schweres Medaillon an einer dicken Silberkette, das direkt zwischen ihren Brüsten lag. Ihr kaffeefarbenes Haar war straff zurückgekämmt bis auf kleine Kringel, die die zarten Kurven ihrer Ohren nachzeichneten und ihre braunen Augen gleichsam einklammerten, Ihr Rock war eben eng genug – wenn sie sich hinsetzte und die Beine übereinanderschlug, lag der Saum faszinierend vier Zoll oberhalb des Knies. Paul glaubte bestimmt, daß niemand auf der Sansome Street so vollendet geformte Hüften besaß wie Miss Cook, und er hatte oft daran gedacht, sie mit den seinen zu vereinigen. Irgendwann. Irgendwo. Aber nicht jetzt. Angestellte sollen ihre Federhalter nicht in andere Tintenfässer des Betriebs tauchen. »Sie … haben einen Brief?« Sie kaute an ihrem Bleistiftende. »Sehr geehrter Herr«, fing Paul an. »Name, Adresse?« »Das gebe ich Ihnen dann noch. Sehr geehrter Herr! Der Texterstab hier bei G., F. & M. hat Ihr Manuskript 24
sorgfältig beurteilt und hat das Empfinden, daß wir Ihnen leider raten müssen, nicht auf seine Veröffentlichung hinzustreben. Komma nach ›G.‹ und Komma nach ›Empfinden‹.« »Ich weiß – ›Empfinden Komma daß‹.« »Absatz. Als Handelsobjekt bietet Ihr Buch gewisse Probleme. Teil eins ist weitschweifig mit viel zu vielen Personen und erforscht Gegenstände, die allgemein nicht als handelsüblich angesehen werden. Vergewaltigung, Inzest und Sodomie mögen an sich interessant sein, doch nicht für den durchschnittlichen Verbraucher, der auf dem Wettbewerbsmarkt etwas erwartet, das sich wirklich vom Üblichen unterscheidet. Haben Sie das?« »Jawohl, ›vom Üblichen unterscheidet‹.« »Teil zwei ist etwas abgedroschen. Die Handlung ist durchweg zu konventionell. Ja noch schlimmer, sie hat ständig den Tonfall einer finsteren Unterwürfigkeit – schwerlich ein Klima, das dem Verkauf förderlich ist. Wir meinen, daß Sie die Handlungsführung verbessern könnten, wenn Sie einen Anflug von Humor hereinbrächten. Beispielsweise ›Jesus zwinkerte‹ oder Maria bekannte mit einem leichten Grinsen‹. Gestalten Sie einen glücklicheren Ausgang. Die Amerikaner haben gern Spaß, und … Miss Cook, Sie schreiben ja nicht.« »An wen ist dieser Brief?« »Gott. Großes G, kleines o, zwei kleine t.« »Ist das alles, wofür Sie mich hereingerufen haben?« Zur Strafe stellte sie die Beine nebeneinander und zog ihren Rocksaum über die Knie herunter. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich Ihnen meine Gedanken zu dem vietnamesischen Schitt-Problem diktierte?« »Hat Ned Collier Sie am Ende zu einem Martini überredet?« 25
»Woher wissen Sie denn, daß ich mit Collier zusammen war?« »Ich habe Sie bei Benny’s gesehn. Mr. Foss hat mich mit zum Mittagessen genommen.« »Gratuliere!« »Es war dienstlich. Ich mußte eine Liste für die Party aufstellen.« »Welche Party denn?« »Von der Rundfunkstation. KFRT. Am Freitag nachmittag. Ich kann Ihnen nur raten, mitzumachen. Die hohen Tiere werden alle da sein. Und Ned Collier geht auch hin.« »Warum erwähnen Sie Collier?« »Sie möchten seinen Job haben.« An Pauls Telefon leuchtete das blaue Lämpchen auf. Er nahm den Hörer zur Hand. »Hier Odeon.« »Odeon, hier ist Gerner. In mein Büro. In fünf Minuten.« Paul legte den Hörer auf und riß die mittlere Schreibtischschublade auf. »Das war Gerner«, sagte er und fischte eine große runde Plakette heraus, auf der geschrieben stand: »Keine schwachen Avancen, sondern starke Annoncen.« »Nein«, sagte Miss Cook, »das war im vorigen Monat.« Er zog eine zweite Plakette heraus – »Es geschieht nichts, solange nichts verkauft wird.« Nach einem zustimmenden Nicken von Miss Cook befestigte er es an seinem Rockaufschlag und eilte zur Tür hinaus. »Werfen Sie diesen Brief an Gott weg«, rief er ihr über die Schulter zu, »ich werde den Leiter persönlich besuchen.« Der Abstand von der Texterabteilung bis zum Büro von Scofield (»Scuffy«) Gerner betrug schätzungsweise 26
vierzig Jahre. Er begann im Empfangsraum mit seinem Teppich, in den ein Muster von Eibischblättern eingewebt war, und setzte sich durch die Büros von Foss und Meyer hindurch fort, mit ihrer glänzenden Täfelung, deren bernstein-, indigo- und kobaltfarbenes Licht den Weg mild beschien. Büschel von Grün und Pflanzen erfüllten die konditionierte Luft mit dem Aroma frisch geschnittenen Grases. Aber gerade dann, wenn alles gar zu schön zu werden drohte, sah man das zerbeulte Linoleum unter dem Teppich, roch die Luft bitter nach feuchten Zigarren, und die kahlen Wände reflektierten das grausam weiße Licht der einzigen nackten Birne, die unanständig aus der Fassung über Gerners Bürotür herausragte. Die Tür stand offen, Paul klopfte leicht an die Wand. »Herein, verdammt noch mal!« Gerner sprach diese Worte aus, ohne den Kopf vom Okular des Mikroskops auf seinem Schreibtisch zu erheben. Er zeigte jedoch auf Den Stuhl. Paul nahm alle Kraft zusammen, ging steif auf Den Stuhl zu und setzte sich darauf. Auf dem Stuhl saß nie jemand, ja es brachte nie jemand fertig, länger als ein paar qualvolle Minuten damit in Verbindung zu bleiben; haargenau das war die Absicht von Scuffy Gerner, der bei G., F. & M. den ersten Namen und das letzte Wort hatte. Es war sein stolzester Beitrag zu einer Welt der rauhen Wirklichkeit, in der er lebte. Der Sitz war versteinerter Ahorn, durch tausend sich windende Hinterteile bis zu diamantener Vollkommenheit poliert. Schmale, hölzerne Latten waren an Lenden-Rückgraten abgewetzt, die Armlehnen bogen sich zur Gestalt eines umgekehrten Schuhanziehers, die beiden vorderen Stuhlbeine waren 27
um zwei Zoll gekürzt. Ein muskulöser Sitzender konnte die Schwerkraft vielleicht vier Minuten lang bekämpfen, ehe er vom Stuhl glitt und sich auf seine Füße stellte. »Der gottverdammte Riß«, sagte Gerner und schielte weiter durch das Okular. Vierteldollar-, Zehnteldollar-, Fünfcentstücke, aufgetürmte polierte Pennies waren auf seinem Schreibtisch verstreut; in einem kleinen kupfernen Aschenbecher schwelte noch eine zerdrückte Zigarre. Gerner lehnte sich vom Mikroskop zurück, stieß seinen grünen Zelluloidschirm auf der Stirn höher und setzte sich die Brille auf, die seine Augen so groß wie Mokkatassen erscheinen ließ. »Ein Riß, Mr. Gerner?« »Sie erkennen doch, wenn etwas nicht richtig klingt, Mr. Odeon?« »Wie meinen Sie das?« »Sehn Sie sich’s an, verdammt noch mal, sehn Sie sich’s an! Hier …« Gerner hängte ein schmutziges Vierteldollarstück aus dem Mikroskopschieber aus und schnellte es zu Paul hinüber. »Jetzt lassen Sie’s mal fallen, da auf die Schreibtischecke, wo Sie es hören können.« Paul ließ es fallen. »Und jetzt das hier«, sagte Gerner und schüttelte ein glänzendes Fünfundzwanzig-Cent-Stück aus einem winzigen kastanienbraunen Samtbeutel. Paul ließ es fallen. »Na und?« »Das erste klang ungefähr ›plinky-plink‹«, sagte Paul. »Und das zweite klang deutlich ›clink-clickityitity-itity‹.« »Verdammt richtig.« »Man kann sie wirklich unterscheiden, wenn man sie nur ansieht.« 28
»Verdammt richtig.« »Eine wunderschöne Münze!« Paul hielt die clinkclickity-itity-itity an das Licht. »Silber, mein Lieber, und keine Spur Kupfer darin. BU.« B. U. Paul dachte an die Boston University. »BU«, wiederholte Gerner. »Brillant Unbenutzt. Staatsmünze, mein Lieber, keine Spur Kupfer darin.« »Keine verdammte Spur, Mr. Gerner.« Paul ließ die Münze wieder fallen. Sie machte »clink«, ehe Gerner sie erwischte, als sie hochprallte, und sie liebevoll in den kleinen Samtbeutel steckte. »Das Unglück für unser Land hat angefangen, als die verdammte Regierung anfing, Sandwich-Münzen mit einer Kupferschicht innen zu prägen.« Er klopfte auf einen kleinen Münzenturm von BU-Halbdollars. – »Odeon, wissen Sie, nach welchem Motto mein Vater lebte und starb?« »Nein, Mr. Gerner.« »›Es geschieht nichts, solange nichts verkauft wird.‹ Er hat es nicht gewußt, aber diese wenigen einfachen Worte wurden zur Seele und Substanz dessen, was Sie tun, was ich tue und was alle in der Agentur tun. Verkaufen. Keine geistreichen Texte, keine phantasievolle Kunst, nicht schwache Avancen, sondern –« er ließ beide Fäuste mit genügender Kraft auf den Schreibtisch fallen, um zwei Pennystücke in die linke Hand zu nehmen, »– starke Annoncen! Annoncen, die verkaufen! Annoncen, die wahr klingen!« »Ja, Mr. Gerner.« Fast wäre Paul von Dem Stuhl gerutscht. Er berührte die Plakette an seinem Rockaufschlag, drückte die Knie zusammen und zwängte sich wieder auf den keilförmigen Sitz. Gerner umfaßte das Mikroskop mit beiden Händen, stellte es sacht an eine Seite, dann legte er zur Bemäntelung den Korrekturab29
zug einer Annonce über das Münzen-Mosaik auf seinem Schreibtisch. »Wissen Sie darüber Bescheid?« Paul erkannte sofort, daß es eine von Jerry Millers Annoncen für die Ahornblatt-Schallplattenserie war. »Nur in großen Zügen«, sagt er. »Wenn ich jemals eine Sandwich-Münze gesehen habe, dann ist das hier eine!« »Hat es nicht den richtigen Klang?« »Den hat es verdammt nicht. Hier, sehn Sie mal!« Der Stuhl half Paul auf die Füße. Er ging im Halbkreis um Gerner herum, bis er hinter ihm stand, und sah ihm über die Schulter. Der Entwurf war sauber, das Druckbild geschickt, der Text verlockend, klar und knapp. »Ich fürchte«, sagte Paul mit Ernst, »daß diese Art Zeug einfach keine Schallplatten verkauft.« »Es würde nicht mal zwei Dollar für fünf Cent verkaufen!« Gerner riß den Korrekturabzug durch, knüllte beide Hälften zu Kugeln und ließ sie kaum rechtzeitig genug fallen, um ein Niesen zu unterdrücken. »Gesundheit!« sagte Paul. »Die verdammte Zentralheizung!« Gerner wischte sich die Handflächen an den Hosen ab. Paul hob die zwei Papierknäuel auf und arrangierte sie nachdenklich auf der Standfläche des Mikroskops. »Ich lasse Sie den Bericht über die AhornblattSchallplatten machen«, sagte Gerner. »Jerry Miller ist …« »Dieser verdammte Miller hat seinen letzten verdammten Zug aus seiner verdammten Blumenvase getan! Und wenn Sie meinen, der Bericht wäre zu schwierig für Sie, Odeon …« »Durchaus nicht, Mr. Gerner.« »Gut. Wir haben eben ein neues Aktenbündel bekommen. Zeug aus Kanada.« Gerner wandte sich um 30
und zog rasch einen dicken Manila-Umschlag aus der offenen Schublade des Aktenschranks. Paul wählte inzwischen mit Sorgfalt zwei BU-Halbdollarstücke aus und ließ sie in seine Tasche gleiten. »Dies wird Ihnen genug Background-Information über die Angelegenheit geben. Und sehen Sie zu, ob Sie diesen Kerl namens Stier aufspüren können.« »Kerl namens Stier?« »Richard Stier. Das ist der, der diese Sex-Oper geschrieben hat, die in Kanada so ein verdammtes Getue ausgelöst hat. Wir werden nächstens sein erstes Plattenalbum von unserer Dienststelle aus loslassen, und Sie müssen genug von seiner verdammten Biographie zusammenkriegen, damit Sie die Rückseite des Umschlags damit füllen können. Sie wohnen doch in Sausalito, oder?« »Ja.« »Er hat da drüben ein Haus gemietet. Gehn Sie ihn besuchen. An irgendeinem Abend nach der Arbeit. Ihre Tage halten Sie sich frei, damit Sie an HUMANUR arbeiten können. Renner hat sich gut darüber geäußert.« »Danke schön, Mr, Gerner.« Gerner rieb sich die Nase, kratzte sich am Kinn und blickte einmal wild rings durch den Raum, ehe er sich den grünen Schirm wieder über die Augen schob. »Das wär’s, Odeon.« Bis Paul seinen eigenen Schreibtisch wieder erreicht hatte, hatte er die Verantwortung für die AhornblattSerie auf zwanzig Dollar Gehaltserhöhung pro Monat veranschlagt, die Erwähnung durch Renner Summers über HUMANUR auf weitere zehn Dollar, die zwei brillanten unbenutzten Halbdollarstücke auf genau einen Dollar. Die Akten des heutigen Tages waren als B plus einzustufen. Vielleicht sogar als A minus. 31
Paul stand in eine Ecke des Aufzugs eingezwängt und wußte, daß er den Fünfunddreißiger Bus nur mit einem heftigen Dauerlauf erreichen würde. Während er das Countdown der aufleuchtenden gelben Stockwerksnummern beobachtete, atmete er tief und sog die schwindelerregenden Düfte von Pfeifentabak, getrocknetem Deodorant, feuchtem Kölnisch Wasser und Pfefferminz-Lifesavers in seine Lungen ein. Heute würde Paul Odeon den Grand Prix der Marktstraße gewinnen, nach einer wenig bekannten, aber unbekümmerten Meldung aus Sausalito. Die Aufzugstür öffnete sich mit einem Summton, das Schwenken einer bunten Flagge brachte ihn durch das Gesindel. Graue Anzüge liefen vor ihm her, er verkürzte seine Schritte; dabei ging er bis zum Ende der Sansome Street an den vor ihm Gehenden vorbei. An der Ecke des Marktplatzes begann er seinen Eilmarsch; er steuerte scharf nach innen, wand sich zwischen den vor ihm Gehenden hindurch und überholte rasch eine langsam schreitende Gruppe von Architekten des Phelan-Gebäudes. Er kämpfte sich bis auf wenige Zoll an eine rothaarige Sekretärin heran und lief in einem gewagten Manöver an ihr vorbei; dabei machte er in der letzten Sekunde eine Wendung, um nicht mit einer Reihe von Briefkästen zusammenzuprallen. Beim letzten Vorstoß zum Fährhaus gelang es ihm, das Tempo genügend zu drosseln; die Quadrate der Pflastersteine flogen wie Rahmen eines leeren Films vor seinen Augen vorbei. So ging Paul die sieben Häuserblocks entlang bis zur Bus-Endhaltestelle. Er setzte sich im Bus ganz nach hinten, wo er rauchen konnte, ohne erwischt zu werden. Außerdem verminderte das die Möglichkeit, daß er von einem Knallkopf aus Minnesota in den Hinterkopf geschos32
sen wurde … wie das eine Mal vor noch nicht einem Monat, als so ein Bursche im Mill-Valley-Autobus direkt durch den Gang feuerte, dabei drei Ohrläppchen abriß und einen Schädel zertrümmerte, ehe er eine junge Nonne in die Hüfte traf. Er steckte sich eine Zigarette an und öffnete den Manila-Umschlag, den Gerner ihm gegeben hatte. Darin waren ein Brief, der den von der Agentur mit einem Schallplattenstudio abgeschlossenen Kommissionsund Gebührenvertrag erläuterte, sowie mehrere Zeitungsausschnitte. Paul breitete die Ausschnitte auf seinen Knien aus und las die Überschriften. REKORD DER AUSSERGEWÖHNLICHKEITEN KLETTERT IN DIE HÖHE NAMENLOSE KLÄNGE GEWINNEN KRITISCHEN BEIFALL FERNSEH-DEBUT DES GEHEIMNISVOLLEN KOMPONISTEN RICHARD STIER KANADA BERAUSCHT DURCH STIERMUSIK OPERNAUFFÜHRUNG VON STIER IN STRATFORD GEPLANT NEUROTISCHE SEX-SHOW – EIN SCHLAG FÜR STRATFORD Den letzten Ausschnitt, eine Drahtmeldung von UPI, las Paul sorgfältig: »Nach der ersten Abendvorstellung einer Oper von Richard Stier, Kanadas mysteriöser Persönlichkeit, ist die schläfrige Stadt Stratford in Ontario, die Stätte des Stratforder Shakespeare-Festes, heute zu einer Brutstätte der Erregung geworden. Das Werk, ›Iliyu‹, wurde von den Kritikern fast einstimmig gelobt; doch die gesetzten Einwohner von Stratford, die sich an Shakespeares unzüchtige Partien 33
und an die sommerlichen Possen nymphenartiger Schauspielerinnen gewöhnt haben, waren durch die Aufführung wie betäubt. Während einige mühsam einen Sinn zu finden suchten, waren die meisten sprachlos, als zu den zugegebenermaßen heidnischen Klängen des radikalen Komponisten nackte Frauen auf der Bühne tanzten. Nelson Prockett von der im allgemeinen konservativen ›New York Times‹ bezeichnete die Oper als ›die bedeutendste individuelle Schöpfung unserer Generation‹ und lobte die ›Tonführung und den Entwurf der Instrumentierung, welche die öde Konvention zerreißt, die wir bisher als Klang akzeptiert hatten‹. Sid Gluckman von ›Variety‹ schilderte ›Iliyu‹ als ›ein Bild von Mama und Papa für Erwachsene, eine Eskimo-Orgie, begleitet von dreiunddreißig verwirrten Musikern, die an ihren G-Saiten zupften. Aber ich möchte das Werk noch einmal sehen. Und noch einmal. Und noch einmal!‹ Eine Stratforder Hausfrau reagierte heute morgen recht bezeichnend. ›lch würde nie eins meiner Kinder diese unanständige Aufführung sehen lassen‹, sagte sie. ›Es ist gerade schlimm genug, daß sie sich den ganzen Tag seine Schallplatten anhören.‹ Sie wurde interviewt, während sie für Eintrittskarten Schlange stand. Kirchliche Gruppen haben die lebhaftesten Einwände geäußert. Sie haben darauf hingewiesen, daß diese Oper die freie Liebe, die Abschaffung der Ehe und die Verehrung heidnischer Bräuche befürwortet. Andere gaben ihrer Furcht vor der ›hypnotischen Macht‹ Ausdruck, ›die diese Musik über junge Menschen ausübt‹.« Der Bus fuhr langsam auf die Golden Gate Bridge zu. Paul steckte die Ausschnitte wieder in den Umschlag und sah aus dem Fenster zum Meer hin, wo die unter34
gehende Sonne auf dem dunkler werdenden Fleisch des Himmels anschwoll wie eine Blutblase. Warum sollte ein Komponist aus Kanada sich ein Haus in Sausalito mieten? An der nächsten Haltestelle ging ein dickes Mädchen im Bus nach hinten und setzte sich neben ihn. Glitzernde Schweißperlen rollten ihr über die Pausbacken herunter, lösten das Make-up auf, das ihr Gesicht wie mit Kreide bedeckte, und bildeten kleine Waffeln an den Seiten ihres Kinns. Paul schloß die Augen und legte seinen Kopf gleich einem Vogel auf die Schulter. Er wußte, er würde nicht schlafen können. Und auch nicht das Mädchen ansehen können. Paul trottete die dreiunddreißig Stufen zu seinem Apartment hinauf und fand einen Papierstreifen mit einem Gummiband am Türknauf festgebunden. Er entfaltete ihn und las: »Rosenblätter, von Tränen befleckt, Das sind die Laute des Lachens in der Nacht.« Es war Beebees Art, ihm zu sagen: »Wir sehn uns später noch.« Beebee machte stets Versprechungen in Haiku. Er schloß die Tür auf und war nicht überrascht, daß das Bett gemacht war, die Aschenbecher ausgeleert, die Schüsseln aufeinandergestapelt und trocken. Auf seinem Schreibtisch, seitlich auf einer mit Wasser gefüllten Untertasse, eine einzelne blaue Blüte. Beebee war immer besonders phantasiereich, wenn sie entdeckte, daß er die Nacht mit einem anderen Mädchen verbracht hatte. Nancy? Norma? Nein, sie hatte gesagt, sie hieße Natalie … Auf dem Weg in die Küche zog er sich aus, ließ dort 35
zwei Schweinsrippchen in die frisch gespülte Pfanne fallen und ging zur Dusche. In der Seife fand er ein langes orangefarbenes Haar; er tat es in ein Stück Toilettenpapier und spülte es fort. Was hatte Beebee einmal gesagt? »Alle Junggesellen pissen in Ausgüsse.« Er war früh genug mit dem Duschen fertig, um die Flamme unter den sprudelnden Schweinsrippchen klein zu drehen. Er zog die abendliche Kleidung von Sausalito an, braune Kordhosen mit einer zerrissenen Tasche, schwarze, mit Milchflecken beschmierte Schuhe, einen schwarzen Sweater. Mit dem Finger malte er ein Z auf den beschlagenen Spiegel und rief »Zorro!«, dann steckte er ein Küchenmesser in einen kalten Kopf Salat. An seinem Schreibtisch balancierte er den Teller auf den Knien und las dabei, was er am Abend vorher auf seiner Maschine geschrieben hatte: »84. Ein alter Hebräer hatte eine Vision, und eine Religion entstand. Ein heutiger Amerikaner hat keine Vision, und er holt den Fernseh-Reparaturfachmann.« Er biß ein Stück von einem Schweinsrippchen ab und tippte mit der freien Hand: »85. Wir langweiligen und sauertöpfischen Leute haben unsere Antworten bekommen, ehe wir unsere Fragen gestellt haben. Wir werden prächtig erzogen. Aus wirtschaftlicher Notlage geboren und für nukleare Verbrennung vorgesehen, denken wir mit den Eingeweiden eines Wurmes. Das heißt, da wir weder unseren Anfang noch unser Ende kennen, reagieren wir auf das Leben, indem wir uns zusammenziehen.« 36
Ein Kratzen an der Tür. Paul streckte sich hinüber und öffnete sie so weit, daß Ginger mühsam ins Zimmer watscheln konnte. Die alte Hündin, ein CockerSpaniel, umkreiste zweimal das Zimmer, ehe sie ihre fetten Flanken vor seinen Füßen niederließ. Ihre Augen waren wässerig, und die Haare auf ihrer erhobenen Schnauze waren vom Alter weiß und räudig. »Warum bringst du nicht mal eine Zeitung oder irgend etwas mit?« fragte Paul und hob den Teller außer Reichweite. Ginger blinzelte in stummer Duldung und neigte den Kopf für die wichtigere Beschäftigung, ihre verfallenden Lenden zu belecken. Paul suchte sich das grünste Salatblatt aus, ehe er seinen Teller neben sie auf den Fußboden stellte. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und begann, die Tagesereignisse in der Agentur methodisch zu rekonstruieren. Mehrere Minuten vergingen, während er auf das dünne, feuchte Blatt in seiner Hand starrte, und nach und nach kehrten seine Gedanken zu den knirschenden Lauten von Gingers Zähnen zurück, da die Hündin den spröden Knochen ihres Schweinsrippchens zerbiß. »Nimm stets Naturdung Humanur«, sagte Paul und steckte rasch das Salatblatt in den Mund. Wie auf ein Zeichen hin erhob Ginger ihr Hinterteil und furzte. Sie hatte die Ohren flach an den Kopf gelegt. Der Geruch halbverdauten Schweinefleisches erfüllte das Zimmer. »Ich habe dir doch gesagt, daß du das nicht sollst!« rief Paul und wedelte vor seiner Nase herum. Er lief zum Wandschrank, schnappte sich seinen Regenmantel, wandte sich um und zeigte mit einem Finger wütend auf den Fleck zwischen Gingers blinzelnden Augen. »Das ist jetzt schon das zweite Mal in dieser Woche, 37
Hund!« sagte er. »Ich lasse die Tür weit offen. Ich rate dir, daß du hier verschwunden bist, wenn ich wiederkomme …« Er ging den schmalen Fußsteig entlang, der die Bridgeway-Mauer zur See hin einsäumt. Das flache schwarze Wasser der Bucht leckte sanft Salz von den verkrusteten Steinen unterhalb des Fußsteigs ab; vorbeifahrende Autos haschten seinen Schatten und hüllten ihn in zitronenfarbenes Licht. Eine feuchte Brise blies von San Francisco herüber; er lehnte den Hals in die Wärme seines hochgestellten Kragens und ging über die Straße zum ›Cat and Fiddle‹. Die meisten Tische waren leer. Drei Fischer saßen an der Bar und schluckten dampfendes Bier. Die Cocktailkellnerin Rachel lächelte ihm zu, als er sich auf den Hocker neben, ihr setzte. Gute Rachel. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, vor drei Monaten, als er nach Sausalito zog und gräßlich betrunken war, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Auf den Knien, zu Füßen dieses gleichen Hockers. Rachel war eine von den Frauen, wie alleinschlafende Männer sie sich vorstellen, wenn sie auf ihrem Kopfkissen liegen. Die großen Augen der erwartungsvollen Jungfräulichkeit, der feuchte Mund, der jede Obszönität verspricht. Ihre Brüste waren groß, mit Milch für jedermann; ihre Hüften üppig, leer, schmerzend vom Verlust ihres letzten Kindes, angeboten in Erwartung des nächsten. Ihre Stimme war leise, schmollend, doch immer an Gelächter grenzend. Nicht das metallisch klingende Kichern, durch das die meisten Frauen Verlegenheit vortäuschen, sondern ein lautes und kräftiges Lachen, durch das sie fähig war, die unschuldigste Bemerkung in einen köstlichen schmutzigen Witz zu verwandeln. 38
»Mr. Odeon, das Optimum«, sagte sie. »Früh für dich, nicht wahr?« »Ein furzender Köter hat mich hierhergetrieben.« »Hallo, Mann, das ist gut! – Was für’n Drink?« »Ale. Das schwarze Zeug aus Schottland.« Er tippte mit dem Ende seiner Zigarette auf die Bar. »Wo sind die andern alle?« »Wenn du Beebee meinst, die will Sorkin nicht mehr hier reinlassen, weil sie erst vierzehn ist und uns die Schanklizenz kosten könnte. Harvey war heute nachmittag hier, sagte, er käme wieder. Greek-O ist vor einer Stunde gegangen. Furbish und Kate sind unten am Pier Fünf und tanzen zu Stiermusik.« »Stiermusik?« »Wo bist du eigentlich gewesen, Baby? Es ist die Musik! Wahrscheinlich wird sie deinen Kopf runterbeugen.« »Ich will meinen Kopf nicht runtergebeugt haben.« »Oh. Alle Wetter. Odeon, du bist unbegreiflich. Du bist vom Land. Du könntest normal sein, Baby, wenn du aufhören würdest, mit Achtkläßlern ins Bett zu gehn …« »Beebee ist auf der Oberschule.« »Sie hat erzählt, du hättest angefangen, dich mit ihr abzugeben, als sie neun war.« Rachel langte über den Schanktisch, machte eine Flasche Schottisch Ale auf und gab sie Paul. »Strohhalm?« »Nein, ich trinke es so.« Paul langte über den Schanktisch, schüttelte die Seife vom Rand eines Glaskrugs und goß sich ein. Bis Paul seine zweite Flasche Ale hatte, war die Bar beinahe voll, mit den Stammgästen auf den Hockern, den Touristen an Tischen. Hinter der Bar lief Sorkin von einer Flasche zur andern, von einem Glas zum andern, vom Ausguß zum 39
Abfalleimer; er rupfte Oliven und Zitronenstücke aus der Reihe von Apothekerkrügen vor seinen Knien, hob seine knochigen Finger hoch in die Luft, tauchte sie konzertant in Kübel mit Eisstückchen oder mit Spülwasser. Gelegentlich fluchte er auf Rachel, die lächelte, zwinkerte, träumerisch um die Tische herumging und mit ihren leichten Ledersandalen klatschende Geräusche hervorbrachte. Paul kreuzte die Beine unter seinem Hocker, um einem hochgewachsenen und bärtigen Neger Platz zu machen, der seiner blonden Freundin auf den Hocker neben ihm hinaufhalf, ohne seinen schützenden Griff auf ihre rechte Brust zu lösen. Sie legte ihre weiße Hand auf seine, er bedeckte sie mit seiner schwarzen, die sie wiederum mit ihrer anderen weißen Hand bedeckte. Weiter unten an der Bar rangen zwei Mädchen mit den Armen über, einem Aschenbecher voll brennender Streichhölzer, angestachelt durch eine schwangere Frau, die eine nicht gebrauchte Soldatenjacke trug. Am äußersten Ende befeuchteten zwei Jungen in engen Hosen und flaumigen Sweatern sich gegenseitig die Stirn, wozu sie ihre mit Monogramm versehenen Taschentücher in ihren Gin tauchten. Die Touristen an ihren Tischen sahen zu. Die Männer renkten sich die Hälse aus, die in steif gestärkten Kragen steckten, sie nippten Scotch, knipsten polierte Zigarettenanzünder an und machten Geräusche wie »poch poch poch«, wenn sie mit den Pfeifenköpfen gegen ihre rosigen und manikürten Hände schlugen. Die Frauen trugen Kleider, die sich beliebig oberhalb und unterhalb der Umrisse ihres Körpers spannten. Wenn sie die Beine übereinanderschlugen oder wieder nebeneinanderstellten, gaben ihre Oberschenkel seidige, wispernde Laute von sich; ihre Hände flogen wie er40
schreckte Schmetterlinge zu ihren Hinterköpfen an die Frisur, während sie Kaugummi oder, um zu necken, die weichen Innenseiten ihrer Wangen kauten. Paul quetschte die letzten Tropfen aus seiner Flasche, als Harvey von hinten her nach ihm packte. »Komm, Odeon!« Harveys Gesicht hatte die Farbe und Beschaffenheit von Tapioka. »Nun mal sachte, Harvey, ich kriege vor Freitag kein Geld …« »Lazio ist auf der anderen Straßenseite dabei, jemanden zu vergewaltigen, du sollst mir helfen, nachzusehn und ihn davon abzuhalten.« Er faßte in die Tasche seiner roten Lumberjacke, zog ein künstliches Gebiß heraus und schob es über den Bartisch. »Sorkin, schließ das in die Registrierkasse ein.« »Wem gehört das?« fragte Paul. »Lazio. Wenigstens kann er sie nicht beißen! Komm, gehn wir …« Der Südwind hatte einen dichten Nebel mitgebracht, so dicht, daß Paul nicht einmal die andere Straßenseite sehen konnte. »Wohin, Harvey?« »Zu dem Auto, da drüben unter dieser Straßenlaterne …« Als sie zu dem Kabriolett rannten, sah Paul nur Lazio, mit dem Rücken zum Steuerrad, wie er etwas, das eine Nerzstola zu sein schien, in lange, schmale Streifen zerriß. Als sie das Auto erreicht hatten, sah er, daß Lazios Füße fest auf den Schultern eines ziemlich fülligen Mädchens standen, das mit dem Gesicht nach unten über dem Sitz lag. »Laß das Mädchen in Ruhe, verdammt noch mal, Lazio!« Harvey versetzte Lazio mit beiden Händen einen Stoß gegen die Schultern, der harmlos abprallte. Lazio beugte sich nieder, riß die Arme des Mädchens 41
auf ihrem Rücken zusammen und fing an, ihre Handgelenke mit einem Streifen Nerzpelz zusammenzubinden. »Ich habe gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen!« Harvey sprang hin und her. »Hau ihm eine, Paul!« »Daß ihr ihn bloß nicht anrührt!« sagte das Mädchen vom Fußboden des Autos her. »Er ist ein erschreckter Vogel!« »Gibft du mir wohl meine Ftähne, du Ftörenflied!« »Der weiß nicht, was er tut!« brüllte Harvey. »Meine Ftähne!« Paul kletterte in den Rücksitz des Wagens. Harvey ging um den Wagen herum und setzte sich neben ihn. »Er hat den ganzen Tag Narkotika gehabt«, sagte Harvey. »Von Narkotika wird Lazio sehr unzuverlässig.« Lazio grunzte und fing an, dem Mädchen hinten den Rock aufzureißen. »Mein armer erschreckter Vogel«, sagte das Mädchen. »Ruhe deine Flügel aus, oh du Ruheloser ...« »Sie ist so ein Mädchen«, sagte Harvey, »ein verrücktes Mädchen. Sie kam zu den ›Two Turtles‹, als Lazio auf seiner Geige spielte und ich mein Gedicht über die Seemöwen rezitierte. Das muß ihr Grillen in den Kopf gesetzt haben …« Harveys Stimme klang schleppend, als er beobachtete, wie Lazio den Slip des Mädchens mit einer raschen Bewegung bis zu ihren Fußknöcheln herunterzog, »Lazio macht sehr wüste Sachen mit seinen Händen, nicht?« »Ein Vogel kennt nur den Himmel«, stöhnte das Mädchen, »und schlägt mit seinen müden Flügeln gegen die Wolken, bis er in – uh! – bis er in jener einen feierlichen, einzigartigen und unvollkommenen Nacht in das – ooh! – Nacht in das irdische Nest aufgenommen wird …« 42
»Ihr Ftörenfliede habt meine Ftähne geftohlen!« »Was machen wir jetzt?« sagte Harvey. Plötzlich wurde alles hell, als ein Wagen neben ihnen anhielt. »Polizei!« brüllte Harvey und boxte Lazios Schulter. Paul langte nach dem Steuerrad, drehte sich nach den Scheinwerfern um und fing an zu winken. »Fröhliche Weihnachten!« rief er, »und ein Rebhuhn in ein paar Bäumen!« »Alles klar bei euch, Leute?« Paul sah, daß es kein Polizeiwagen war. »Bloß eine kleine Schwierigkeit, das Verdeck hochzukriegen.« »Lafft mich doch, ihr Biefter!« »Wie?« »Ich sagte, bloß eine kleine Schwierigkeit, das Verdeck hochzukriegen.« »Braucht ihr Hilfe?« »Nein, danke …« Im Wagen wurde die Gangschaltung betätigt, dann kroch er langsam den Bridgeway herunter. Paul rutschte in den Rücksitz, Harvey bog Lazios fliegenden Ellbogen nach unten. »Oh, es ist so wirklich!« Das Mädchen wand sich jetzt, als Lazio seinen Kopf gegen ihr Rückgrat stieß. »… hart brennender Edelstein der Wahrheit, nicht bezeichnet, nicht berührt von der abschleifenden Mittelmäßigkeit …« Paul und Harvey kurbelten die Fenster hoch, stiegen aus dem Wagen und zogen gemeinsam das leinene Verdeck wieder darüber. »Es könnte noch jemand durch die Fenster gucken«, sagte Harvey. »Die sind bald beschlagen«, sagte Paul und steckte sich eine Zigarette an. Als sie langsam durch den dichten Nebel auf die 43
bernsteinfarbenen Lampen des ›Cat and Fiddle‹ zugingen, meinte Paul ein einziges halb ersticktes Wort zu hören, das zum Himmel emporgeschrien wurde. »Stier!« Paul gähnte und sah auf seine Uhr. Eins. Die meisten Touristen waren gegangen, Rachel und Harvey spielten, sie schossen Pfeile. Vielleicht noch eine Flasche Ale vor dem langen Heimweg. Dann entdeckte er Greek-O. Seine Überziehhose und sein Hemd waren mit weißer Farbe bespritzt, kleine weiße Farbflecken waren auf seinen langen Augenwimpern hart geworden, auf seinen Augenbrauen, auf dem blauen Handtuch, das er sich nach orientalischer Art um den Kopf gewunden hatte. Als er Paul sah, lächelte er und schob den kurzen Zigarettenstummel in einen Mundwinkel; das ließ ihn wie einen Gangster wirken, der er, zwischen seinen Jobs, ganz sicherlich auch war. »Ich würfle mit dir um einen Drink, altes Ekel«, sagte er. »Ein Wurf«, sagte Paul. »Ein Wurf.« Sie schnappten sich die Würfelbecher, schüttelten sie wild und verstreuten die Würfel über den Bartisch. Pauls hoher Wurf schlug Greek-O’s Würfelpaar mit seinen vier Augen. »Das war Betrug«, sagte Greek-O. »Unsinn«, sagte Paul, »’s war ein Wurf.« Greek-O grinste, wobei er seine Zigarettenasche herumstreute, und faltete zögernd einen Fünf-DollarSchein auseinander. »Hoffentlich bist du das nicht der Mafia schuldig«, meinte Paul. »Trinkst du noch das widerliche schwarze Zeug?« »Jetzt nicht. Nimm einen Wodka auf Eis.« 44
Greek-O bestellte für sich selbst ein Glas Rotwein, für Paul Wodka; dann fing er an, mit seinen Knöcheln zu knacken. »Siehst du all die weiße Farbe?« fragte er. »Weißt du, was ich gemacht hab?« »Zebrastreifen angestrichen.« »Kommt nicht in Frage, altes Ekel. Ich hab ein Haus angestrichen. Weiß. Ich meine, nicht die Außenwände weiß gestrichen, ich meine das Haus innen weiß gestrichen. Wie ein verdammtes Krankenhaus.« Paul zuckte die Achseln. »So …« »Es ist das große Haus da oben auf dem Wolfback Ridge, nicht weit von deiner Wohnung. Irgendein verdrehter Kerl aus Kanada hat’s gemietet. Komisch mit dem Weiß. Weiße Wände, weiße Decken, weiße Teppiche … Hat sogar verdammt weiße Möbel im Haus. Er heißt Steer oder so ähnlich.« »Stier? Hast du ihn kennengelernt?« »Der ist nicht da. Dieses verdrehte Weibsstück wohnt jetzt da oben. Sie macht Standbilder. Sogar diese verdammten Dinger sind weiß.« Stier ist nicht zu Hause, dachte Paul. Kein Text über Stier, dann wird Collier bis Freitag etwas über HUMANUR haben wollen. Was ist am Freitag los … diese Party von der Rundfunkstation. Und Miss Cook. Miss Cook sieht Rachel ein kleines bißchen ähnlich. »Weißt du, was ich denke?« fragte Greek-O. »Na, was denkst du, Greek-O?« »Ich denke, es ist halt eine verdammte Tarnung für irgendeine verdammte Unternehmung.« Er trank ein paar Schluck Wein und kniff die Augen zusammen. »Kann sein, daß es wirklich so ein Folterhaus ist, so eins, wo Übergeschnappte Geld bezahlen, damit man sie auspeitscht und ihnen die Birne weichklopft. Viel Geld zu machen bei dem Spiel.« Er hob sein Glas, um wieder zu trinken, hielt aber 45
inne, als die Tür krachend aufging und Lazio mit offenem Hosenschlitz hereingestolpert kam und gegen die Bar fiel. »Ihr Ftörenfliede, geft mir meine Ftähne wieder!« »Er ist wieder da!« schrie Harvey und schoß einen Pfeil ab, der Lazios Kinn um drei Zoll verfehlte. Sorkin stempelte die Registrierkasse ab und zog das künstliche Gebiß heraus, Lazio kletterte oben auf die Bar, Greek-O stürzte den Rest Wein herunter, ging gelassen zum letzten Hocker, kletterte darüber hinauf und warf Lazio mit einem einzigen Stoß auf den Fußboden. »Gib mir sein verdammtes Gebiß«, sagte Greek-O. »Lazio kämpft noch gegen die verflixte Revolution, um Himmelswillen …« er stopfte das Gebiß in die klaffende Höhlung, die Lazios Mund war, hob ihn an seine Knie und schleifte ihn zur Tür hinaus. Paul und Rachel starrten sich bestürzt an, als Harvey anfing, auf und ab zu springen. »Hallo, liebe Leute!« sagte Harvey. »Gehn wir drei doch runter zu Crimps Hausboot und ziehen einen durch.« Paul schloß die Augen und trank den Wodka, den Greek-O für ihn bestellt hatte. Der Nebel war weggeblasen und hatte jede Spur des blauen Kabrioletts mit sich genommen, das auf der anderen Straßenseite geparkt hatte. Paul kurbelte das Fenster von Rachels Volkswagen herunter, damit die kalte Luft ihm ins Gesicht strömte. Sie fuhren rasch den Bridgeway herunter und auf den Kiesweg, der zu der Reihe von Hausbooten am Pier Fünf hinführte. Die Luft wurde schwer vom Salzgeruch und verrottenden Holz; die glatte Wasseroberfläche lag ruhig unter einer Schicht von Schleim. Und der Mond, wie ein angekauter Fingernagel, lag 46
ausgezackt, gekräuselt und austrocknend am Himmelsgrund. »Hei, da wären wir!« schrie Harvey und sprang breitbeinig auf das Deck von Crimps Hausboot. Paul und Rachel führten sich gegenseitig über die abgenutzte Rampe. Es war dunkel, er hielt mit seinen Händen ihre Taille fest und ging hinter ihr durch einen schmalen Verbindungsgang; das Deck hob und senkte sich unter seinen Füßen. Harvey war irgendwo weiter vorn und stieß gegen eine leere Konservendose. »Jemand zu Hause?« Er fing an, die Konservendose heftig herumzustoßen. »Verflucht, warte doch eine Minute!« Irgend jemand kicherte. »Das hörte sich an, als ob es Furbish wäre«, sagte Rachel über ihre Schulter hinweg. Paul ließ ihre Taille los und tastete seinen Weg an der Wand entlang. Es gab eine Balgerei in der Dunkelheit, dann das Reiben eines Streichholzes, das Licht aufstrahlen ließ, so daß man einen Augenblick lang zwei bloße Knie und einen Knöchel sah. Der Lichtschein sprang auf den Docht einer kurzen Kerze über. Paul blinzelte zu den Gestalten hin, die sich auf Kissen rings um den Tisch räkelten, der mitten im Zimmer stand. Kate saß da und hatte die Arme um ihre Knie geschlungen, der Rock war ihr zur Taille hochgerutscht. Das Haar hing ihr glatt über das Gesicht herunter; sie teilte es gerade so weit, daß sie ihre Sonnenbrille wieder zurechtschieben konnte. Neben ihr hatte sich Furbish ausgestreckt, mit einem erfreuten Grinsen auf seinem schmalen und eckigen Gesicht. Durch die verzerrten Schatten vom Kerzenlicht her wirkte seine Nase so lang, daß sie ihm bis ans Kinn reichte, und seine Ohren so hochstehend, daß sie sich oben auf seinem Kopf getroffen hätten, wenn 47
nicht das wild zerwühlte braunlockige Haar dazwischen gewesen wäre. »Was verschafft uns dies verdammt große Vergnügen?« fragte Furbish. »Wo ist Crimp?« sagte Rachel und machte es sich auf einem Kissen neben ihm bequem. »Wir haben gehört, hier soll jemand eine Stierplatte haben.« »Crimp ist auf dem Klo und läßt ihre Bomben platzen«, erklärte Furbish. »Sie steht gewaltig unter LSD, und Stiermusik kommt bei ihr an.« Er langte zu Kate hinüber und zwickte sie sacht in den Oberschenkel. »Kommt irgendwie bei uns auch an, nicht, Schatzi …« »Wo ist der Stoff?« fragte Harvey. »Furby, wenn ich Münzen werfe, wirst du sie deuten?« Rachel schob die Ärmel ihres Pullovers zurück. »Für mich hast du seit einer Woche keine gedeutet, und da ist was, das ich wissen muß.« »Kann ich nicht machen, eh ich nicht Kates verdammte Vibrations los bin. Kate, sei mal ein lieber Schatz und besorge mir zwei Löffel. Und guck mal, ob Crimp damit fertig ist, sich da hinten zurückzuziehen.« Paul sah sich bedächtig in dem Raum um. Eine Wand war mit den Tierkreiszeichen bedeckt, die irgend jemand als Ziele beim Pfeileschießen benutzt hatte. Auf die Wand gegenüber war ein Hindu gemalt; an seinen Nasenlöchern wickelten sich Windungen von Energie und Geist zusammen, belebende Geister gingen spiralenförmig in sein Rektum oder kamen aus ihm heraus. Auf dem Tisch diente ein Foto von Bob Dylan als Teller für zwei angebissene Salami-Sandwichs. »Was ist nun mit der Stierplatte?« Der hohle Klang von Pauls Stimme überraschte ihn selbst. »Ich würde sie gern mal hören.« »Du lieber Himmel, Odeon, ich hab dich dahinten nicht mal gesehen. Setz dich nur, Freund. Harvey, sei 48
ein guter Kerl und gib mir die Spulen da rüber, ja? Du hast nicht lange gebraucht, das Gras zu finden, wie?« »Heut nacht werde ich zum Schaf.« Harvey hörte auf, die Enden des Joints zu drehen, und zündete das Mundstück an der Kerzenflamme an. Mit einem heftigen, saugenden Geräusch zog er den süßen, gelben Rauch tief in seine Lungen ein, hielt den Atem an und gab die Zigarette an Paul weiter. »Bei mir ist das Zeug verschwendet. Es macht nichts weiter, als daß ich aufstoßen muß. Und meine Fußgelenke werden schwer.« Er tat einen einzigen Zug, preßte den Stengel zusammen und gab ihn zu Rachel herüber. »Ich bin ein Schaf. Hatschi, hatschi, hatschi!« Paul stieß auf und spürte, wie seine Fußgelenke allmählich schwer wurden. Rachel fing an, vor sich hin zu summen, während Furbish die vier Spulen mit buntem Garn abwickelte. Kate kam zurück, den Arm um Crimp gelegt. Crimp war heute nacht als Frau angezogen. Niemand wußte wirklich, ob Crimp homosexuell oder ob sie lesbisch war. Sie (oder er) war nie lange genug ohne Gras, um Sex zu haben. »Hier, Crimp, gutes Mädchen, setz dich zu mir. Ich werde dir zeigen, wie man ein Gottesauge macht.« Furbish zog an der Zigarette, schluckte den Rauch und gab sie an Kate weiter. »Hast du die Löffel mitgebracht, Liebling?« »Eßstäbchen.« Sie hielt sie ihm hin. »Noch besser.« Paul war durstig. Seine Fußgelenke wurden schwerer und schwerer. Er gähnte, als er zusah, wie Furbish orangefarbenes Garn um die Eßstäbchen wickelte, die er wie ein Kreuz in der Hand hielt. Harvey übergab ihm einen glühenden Stummel; er tat einen schwachen 49
Zug, wich zurück, als die Hitze auf seinen Lippen brannte, und gab den Stummel an Rachel weiter. Sie starrte zur Decke hoch, mit unglaublich großen und dunklen Augen, den Mund halb geöffnet und mit einem gedankenvollen Ausdruck. »Furby«, sagte sie sanft, »als du und Kate geheiratet haben in dem Tempel da in San Francisco, da hast du einen Bart gehabt. Warum hast du keinen Bart mehr?« »Ich habe jetzt eine andere Einstellung, Liebling.« »Sabud?« »Sabud war ein Anfang …« »Die Prophezeiung hat sich erfüllt!« sagte Crimp. Niemand achtete im geringsten darauf. »Wird das Gottesauge mir sagen, was ich wissen muß?« fragte Rachel. »Das wird es, wenn … ich jemals das verdammte Ding fertigkriege. Verflucht noch mal!« Er verknotete den orangefarbenen Strang und fing an, den blauen zu verweben. Paul erinnerte sich an die Sabud-Versammlung, bei der er gewesen war. Der Saal voll singender Männer. Das unentwegte Pochen der indianischen Trommel. Die ekstatischen Schreie aus dem Saal, in dem die Frauen ohne Musik tanzten. Was für ein Haufen Blödsinn! Er fing an, sich auf Händen und Knien zum Badezimmer hinzubewegen. »Wenn nun mal irgendwo ein Haufen Staub wäre«, sagte Rachel, »und er käme zusammen, daß ein alter Mann daraus würde. Und der Mann wird jeden Tag jünger und jünger, bis er siebzig Jahre später ein kleiner Junge wäre. Alle seine Erinnerungen lägen in der Zukunft. Und alles, worauf er sich freuen könnte, wäre die Vergangenheit …« »Hatschi, hatschi, hatschi! Und der Mann, wahrscheinlich, der stirbt nicht, er wird geboren!« 50
»Gelbes Garn. Der blutige Schatten des Lebens …« »Ich muß wissen …« In der Dunkelheit des Badezimmers tastete Paul seinen Weg an dem kalten Porzellanbecken entlang, zog sich daran hoch, drehte beide Wasserhähne auf. Heißes Wasser kam aus dem einen, fast kochend heißes aus dem anderen. Er wartete minutenlang, stundenlang, tagelang darauf, daß das Wasser kühler würde, und als das nicht geschah, trank er es trotzdem, indem er es mit der hohlen Hand zum Munde führte. Seine Zunge war so trocken, daß sie ihm am Gaumen klebte. Er hatte vollkommen vergessen, wie man schluckt. Er ließ sich wieder auf die Hände und Knie sinken, drehte sich herum und fing an, durch die Wolken von gelbem Parfüm und heißem Wachs zu kriechen; dabei preßte er sich an den Fußboden, um Sauerstoff zu bekommen. Kate redete zu Harvey. »… kommt nur einmal, wie eine Zerkleinerungsmaschine, bläst die gemeinen Rots in ein Nervensolo …« Harvey zu Kate: »Hatschi, hatschi, hatschi.« Furbish zu Rachel: »… es ist, als hättest du die Worte zu einem Lied gehört, das noch niemand geschrieben hat, du bist verdammt traurig, daß du’s nicht singen kannst. Die Orgel spielt, und die Fenster sind schmutzig …« Rachel zu Furbish: »Noch mehr Schmerz?« Crimp zu Crimp: »Er aus dem Norden, dessen Seele Eis und Feuer ist, schleudert den Grabgesang herab, entflammt den Scheiterhaufen; zerschmetterte Kreuze, die im Nordlicht scheinen, lachendes Kind, das sich an der kalten, schwarzen Brust der Nacht nährt …« Paul kroch zum Plattenspieler, lehnte sich darüber, um die Aufschrift der Platte zu lesen, »Stier Nr. 1«. Es 51
gelang ihm, den Tonarm zu lösen und in Bewegung zu setzen. Auf das trockene Flüstern einer Flöte, das durch das Sprechen flatterte, folgte ein Schrei der Blechblasinstrumente, ein Crescendo der Trommeln, das Pauls Kopf auf den Fußboden hämmerte. Die Laute schienen die Feuchtigkeit aus seinem Gehirn zu saugen, sie sprühten brennende Farben über seine Augenlider, stießen ihm lange metallene Finger in den Magen und in die Brust. Er schwamm in heißem Wachs, er wand sich, um die Nasenlöcher über die Oberfläche zu halten. Seine Hände konnten seine Ohren nicht finden. Er schloß die Augen, hielt den Atem an. Dann nichts. Absolut nichts. Seine Gesichtsmuskeln arbeiteten nicht, sonst hätten sie gezuckt. Er hatte Mühe, die Pupillen seiner Augen im Spiegel wiederzufinden; ein schwarzer Bart lag über seinen Lippen und Wangen wie Pfeffer auf einer geschälten, nassen Kartoffel. Das prickelnde, saubere Licht in der Herrentoilette malte pastellblaue Wasserflecken unter seine Augen, seine Nase und sein Kinn. Dreimal hatte er sich die Zähne geputzt, um die Verschwitztheit davon zu beseitigen, und als er in das Becken spuckte, sah er rosafarbene blutige Streifen, die sich mit dem aufgeblasenen weißen Schaum der Zahnpasta mischten. Er spritzte kaltes Wasser auf seine Handgelenke, damit seine Hände nicht zitterten. Dann schraubte er die Kappe von einer kleinen Tube Rasiercreme, bedeckte sein Gesicht mit einer Schicht kalten Schaums und begann, sich heftig zu rasieren. Himmel noch mal, wenn Gerner oder Foss oder auch nur Meyer jetzt hereinkäme … 52
Zigaretten beruhigen das Zentralnervensystem, brennen den Hals aus, bedecken die Lungen mit Krebskulturen. Alkohol massiert das Gemüt, ist Balsam für das Gehirn und versteinert die Leber. Feuchte Vaginas regen den Blutkreislauf an, trocknen die Seele aus und entleeren das Wesentliche der Männlichkeit. Nahrung vergärt zu Fett, das den Puls abdrosselt. Radioaktive Milch macht das Knochenmark zu Gallerte. Leben heißt viele Dinge oft hintergehen, aber warum sich schuldig fühlen? Wenn man schmerzlich nach Umgang mit dem Leben verlangt, weshalb kann man den Deckel der Vaselinedose nicht aufbekommen? Er streifte die Toilettensachen in seine Aktentasche, ging auf den Flur, schritt mit gemessenen Schritten zu Jerrys Büro. »Guten Morgen«, sagte Jerry. »Ich brauch was zum Aufputschen«, erklärte Paul. »Wie weit hast du denn dringesteckt?« »Ich würde denken, eine von diesen kleinen, grünen, dreieckigen Pillen könnte mich bis halb zwölf in Schuß halten …« Paul ergriff die Vase mit den künstlichen Blumen und hielt sie sich unter die Nase. »Übrigens, Gerner weiß Bescheid über dein Blumenwasser.« »So, er weiß es?« Jerry verhakte seine Finger in seinen Bart. Er hatte zwölf Standard-Ausdrücke, die jeder eine Kreuzwegstation darstellten. Die siebente Station zeigte sich so, daß er in sich hineinlachte. »Komisch, wie?« fand Paul. »Sie jagen deinem Hintern nach!« »Den können sie haben. Beide Backen. Das heißt, ich kann sechsundzwanzig Wochen lang Arbeitslosengeld beziehen.« »Kann ich eine kleine, grüne, dreieckige Pille haben?« Jerry lachte wieder, langte in seinen Schreibtisch und nahm eine kleine Kugel weißen Lehm heraus. Er 53
rollte sie zwischen seinen Handflächen und bot sie dann Paul an. »Was soll ich damit machen – es essen?« Jerry preßte seine Hand an die Nase und atmete tief ein. »Reibe es nur mit deinen Händen und rieche dran.« »Du hast andre Gedanken als an das Wasser von deinen künstlichen Blumen«, sagte Paul und rieb den Lehm zwischen seinen Handflächen. »Was ist das für ein Zeug? Woher hast du das?« »Ich bin gestern abend zum Reservat rübergefahren, um mit den Indianern Peyote zu nehmen. Aber sie benutzten alle diesen weißen Lehm. Dies Stück habe ich für fünf Dollar gekauft.« Paul hielt die Hände an die Nase und schnupperte. Zuerst roch er nur das Aprikosen-Aroma der Aftershave Lotion, die er benutzt hatte. Aber dann wehte ein neuer Duft, ein Aroma noch reiner als Sauerstoff, durch seine Nasenlöcher hoch und küßte die Innenseite seiner Augen. Seine Kopfschmerzen verflogen, seine Nackenmuskeln lösten sich, sein Geist schwamm mühelos durch Wogen reinen Entzückens. Eine einzige, selbstsüchtige Sekunde lang dachte er daran, die Lehmkugel in die Tasche zu stecken, doch er rollte sie statt dessen über das Löschblatt zu Jerry hin, der schließlich ein nobler Kerl war. Ein einzigartiger Mensch. Ein fabelhaft guter Texter. Ein wirklich wunderbarer – »Wie ist dir jetzt zumute?« fragte Jerry. »Mit beiden Köpfen«, sagte Paul. Er drehte sich um und glitt ruhig aus dem Raum. Drei Stunden lang hämmerte Paul auf seiner Schreibmaschine. Die Sätze tanzten heiter in seinem Geist, die Abschnitte strömten von seinen Fingerspitzen. Mittags aß er das beste Schinken-Sandwich und 54
trank die beste Tasse Kaffee, die er jemals genossen hatte. Der Nachmittag brachte lebendige Telefongespräche, interessante und aufschlußreiche Besprechungen. Und der wenig bekannte, aber furchtlose Zugang von Sausalito her ergab einen neuen Laufrekord für den Weg bis zur Bushaltestelle am Fährhaus. Erst als er die dreiunddreißig Steinstufen hinaufstieg und die Tür zu seinem Apartment aufschloß, kehrte sein Zeitbewußtsein zurück. Er roch schalen Tabakrauch, und die Zunge in seinem Munde hatte einen üblen Geschmack. Er erinnerte sich jetzt daran, wie er in hektischer Eile von Crimps Hausboot bis zu seinem Apartment geklettert war, um seine Kleidung zu wechseln, wie er dann zum Autobus gerannt war und nachher vom Fährhaus zur Herrentoilette von G., F. & M … Er roch an beiden Handflächen. Feuchtes Salz. Was auch immer in dem weißen Lehm gewesen war, den Jerry ihm gegeben hatte – es war verbraucht. Er goß sich ein Glas gekühlten Weißwein ein. Der Wein schmeckte sauer. Der Speck, den er sich briet, war Gummi, die Eier tropften und glitten ihm durch die Gabel. Er zündete sich eine Zigarette an, füllte sein Weinglas von neuem und fing an, zwischen Bett und Schreibtisch hin und her zu gehen. Er sah aus dem Fenster auf den flimmernden Schein farbiger Lichter am Abhang. Kleine blaue Würfel von tausend Fernsehgeräten. Haustürleuchten, die gelb waren, um die Wanzen zu verscheuchen. Leuchtturmlampen, die rot waren, um die Flugzeuge zu verscheuchen. Straßenbeleuchtung blendend weiß, um die Leute zu verscheuchen. Er erinnerte sich an die Musik von Stier. Nicht zum Anhören, wenn man unter dem Einfluß von Alkohol 55
und Marihuana stand. Crimp hatte sich mit Kate im Badezimmer eingeschlossen. Furbish und Rachel hatten auf den Kissen alles angestellt, außer ein Kind zu machen. Oder träumte er das? Das Telefon läutete dreimal, eh er dranging. »Hallo?« »Du fehlst mir.« »Hallo, Beebee …« »Kann ich rüberkommen?« »Heute abend?« »Ich möchte gern ein neues Spiel ausprobieren, von dem ich heute gehört habe.« Paul hatte Visionen von Gewehrkugeln, die in Patronenkammern eingedreht waren, von zwischen die Zähne geklemmten Rasierklingen, von unbekannten tödlichen Dingen, die nur eine Vierzehnjährige erfinden würde. »Ich muß ein Weilchen rausgehen, Beebee.« »Kann ich dich im ›Cat and Fiddle‹ treffen?« »Nein. Die Polizei ist hinter Sorkin her, weil du noch ein Kind bist. Warum … kommst du nicht rüber und wartest hier auf mich?« »O. K. Dies Spiel wird dir bestimmt gefallen.« »Aber sicher.« »Bye-bye einstweilen …« »Tschüs, Beebee.« Er legte den Hörer auf, zählte bis zehn, hob ihn wieder an und bestellte sich ein Taxi. Der Taxifahrer, Tony, hatte das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben, kaute aber weiterhin eine verblüffende Vielfalt von unangebrannten Zigarren. Heute abend hatte er eine kurze, dicke, am Ende abgeflachte, wie diese dicken Spikes, die Bergsteiger auf den Granitflächen der Gebirge benutzen. Das Taxi fuhr über den Wolfback Ridge, und Paul 56
redete vom Wetter. Tony grunzte. Paul redete von der zweiten Klasse, die von der Golden Gate Bridge heruntergesprungen war. Toni grunzte. Paul redete von Stiermusik, wie beliebt sie in Kanada war, daß sie in Kalifornien wahrhaftig Anklang fand, daß Stier das Haus gemietet und weiß gestrichen hatte, zu dem sie jetzt fuhren. Toni grunzte. Es war ein beruhigendes Grunzen, und Paul gab ihm einen Vierteldollar Trinkgeld extra, als er aus dem Taxi ausstieg. Es war das erste Mal, daß er wirklich am Ende der Hurrikanschlucht war. Der Geruch feuchter Kiefern und des Seegrases vermischte sich mit den Nebelschwaden, die vom Pazifik hergetrieben wurden. Vom Presidio bis zum Embarcadero leuchtete San Francisco wie rasch zusammengescharrte glühende Kohlen, und ein Gewebe grüner Funken erstreckte sich über die Bay Bridge bis nach Oakland hinüber. Er ging durch eine schmale Lücke in der hohen, unbeschnittenen Hecke und sah das Haus. Es war ein großes Gebäude, errichtet in dem Neu-England-Stil, der vor dem zweiten Weltkrieg beliebt war, vollständig mit einem Holzspalier, das die schmale Eingangstür umschloß. Paul suchte nach einem Klingelknopf, auf den er drücken könnte, fand aber keinen und klopfte mit den bloßen Fingerknöcheln an die hohe, weiße Tür. Es vergingen mehr als zwei Minuten, ehe sie sich vorsichtig zwei oder drei Zoll weit öffnete, dann wurde sie nach innen gezogen, daß die Öffnung eine dunkle weibliche Gestalt in weißem Glanz umrahmte. »Guten Abend«, sagte Paul. »Ich hoffe, daß ich an der richtigen Stelle bin. Ich suche das Haus von Richard Stier.« »Stier ist nicht da.« »Ich weiß. Das heißt, ich bin gekommen, weil ich 57
etwas über die ganze Angelegenheit erfahren möchte, wenn’s geht. Ich bin bei der Agentur, die die Werbung für seine Schallplatten in den Vereinigten Staaten besorgen wird. Darf ich reinkommen?« Sie wich zurück, und Paul trat in die Vorhalle. »Ich arbeite hinten im Haus«, sagte sie. »Ich möchte nicht länger als sieben Minuten mit Ihnen reden.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, und Paul folgte ihr über den dicken weißen Teppich zum Wohnzimmer. Weshalb hatte sie sieben Minuten gesagt? Warum nicht zehn? Oder fünf? Der unerforschliche östliche Geist. Jedenfalls sah sie wie eine Art Orientalin aus, mit hohen Backenknochen, schmalen dunklen Augen, glattem schwarzem Haar, das ihr bis an die Taille reichte. Sie hatte einen federnden Gang und setzte die Füße genau voreinander – das hatte die angenehme Wirkung, die Rundungen ihres Hinterteils rhythmisch schwingen zu lassen. Paul vermutete noch weitere interessante Bewegungen unter ihrem Kittel, einem losen Gewand, das anscheinend aus gegerbten Tierhäuten zusammengenäht war. »Hier entlang«, sagte sie. Das Wohnzimmer blendete die Augen. Die Wände waren weiß emailliert, der Kamin aus schimmernden weißen Steinen gebaut. Ein Kronleuchter aus milchweißem Kristall hing von der Decke herab. Auf einem weißen Teppich standen weiße Stühle und ein weißes Sofa, in der Nähe des Fensters ein weißer Flügel. Greek-O hatte recht: Stier war auf Weiß versessen. Das Mädchen führte ihn in ein großes Atelier, in dem mehr als ein Dutzend weiße Statuen in verschiedenen Vollendungsstufen auf weißen Podesten standen. Sie zog sich zunächst Handschuhe an, ergriff dann Hammer und Meißel und fing an, an der entstehenden 58
Schulter eines Indianerhäuptlings in Lebensgröße herumzuklopfen. »Die sind alle sehr gut«, sagte Paul. »Sind sie alle von Ihnen?« »Fassen Sie sie nicht an!« Paul steckte die Hände in die Taschen. »Es scheinen alles Indianer zu sein …« »Ich bin selbst Indianerin.« »Oh, das habe ich nicht gewußt. Sie haben keinen Akzent oder so etwas.« Das Mädchen warf ihm einen durchbohrenden Blick zu. »Möchten Sie gern, daß ich ›Howgh‹ oder ›Uff‹ sage?« »Nicht ohne daß Sie einen inneren Drang danach, fühlen.« Sie lächelte nicht. Es mußte einen durchaus logischen Grund dafür geben, daß ein indianisches Mädchen in dem ganz und gar weißen Haus eines kanadischen Komponisten in Sausalito Indianerstatuen meißelte; aber er kam anscheinend der Lösung nicht näher, was denn verflixt noch mal dieser Grund war. In bezug auf die verborgenen Rundungen hatte er allerdings recht gehabt; ihre vollen Brüste zeigten sich in klaren Konturen, wenn sie die Arme erhob, um an dem mit Federn geschmückten Haupt der Statue zu arbeiten. »Darf ich nach Ihrem Namen fragen?« sagte Paul. »Ich heiße Magdelaine. Ich bin eine SiwashIndianerin. Das ist alles, was ich über mich selbst sagen will. Wenn Sie etwas über Stier wissen möchten, schlage ich vor, daß Sie zu Ihrer Agentur zurückgehen, ganz gleich, wo sie ist, und sich Stiermusik anhören.« »Das habe ich getan. Mir ist schlecht geworden dabei.« 59
Sie ließ die Arme sinken und sah ihn groß an. Ihre Nüstern weiteten sich, und sie faßte den Meißel fester. »Ich wollte sagen«, erklärte Paul schnell, »daß ich gestern abend krank war, und unglücklicherweise hatte ich da zum erstenmal Gelegenheit, Stiermusik zu hören.« Sie begann wieder, am Haupt der Statue herumzuklopfen. »Ich wollte nur etwas Background-Information über Stier haben, die ich für eine kurze Biographie benutzen könnte. Ich hatte sicherlich nicht den Wunsch, in Ihr Privatleben einzudringen …« »Sie stehn mir im Licht«, sagte sie. »Aber … ich kommum in Friedum. Paul Odeon wünschum zu Magdelaine Freund. Denkum ich kämpfum Schlacht verlorum.« Ihr hübsches Gesicht zeigte nicht den leisesten Ausdruck. Paul trat von einem Fuß auf den anderen und sah sich im Raum um. Er hatte sein Pulver für sieben Minuten in weniger als dreien verschossen. »Dürfte ich bitte Ihr weißes Telefon benutzen, um ein weißes Taxi zu bestellen?« »Auf dem Ständer. Wenn Sie hinausgehen.« Paul ging mit schleppenden Füßen zum Wohnzimmer. »Ich werde meiner Mutter schreiben«, sagte er, »und sie bitten, meine Sammlung von Pfeilspitzen wegzuwerfen.« Auf der Rückfahrt zu Pauls Apartment gab Tony nur einen einzigen Satz von sich: »Hab vor ner halben Stunde Beebee dahin gebracht.« Für Tony war das ein epischer Haufen Worte, den Paul anerkannte. Ihm war kalt und trübsinnig zumute, und er erwärmte sich an der Vorstellung, daß er bald Wein trinken würde, mit Beebee plaudern, einen Schwips kriegen und ihr neues Spiel mit ihr spielen, gleich was es sein mochte. Büsche und Weinreben zwickten ihn an den Fußge60
lenken, als er die Stufen hinaufstieg und grübelte, was ihm an dem Geruch im Atelier von Stiers Haus so vertraut vorgekommen war. Als er die Tür aufmachte, war er außer Atem. Das Geräusch der Toilettenspülung bedeutete, daß Beebee sein Kommen gehört hatte; der Stapel Bücher, die säuberlich in das Gelb und Blau der MarinOberschule eingeschlagen waren, hieß, daß sie wahrscheinlich ihren Eltern erzählt hatte, sie ginge Babysitting. Er schritt zum Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Wein ein. »Hallo, Paul!« »Hallo Beebee!« »Alles in Ordnung!« »O.K.!« Er trug das Glas Wein ins Wohnzimmer, legte Beebees Bücher vom Bett herunter auf den Fußboden, setzte sich in seinen Schreibtischstuhl und wartete. Beebee kam ins Wohnzimmer gesprungen und schwenkte dabei ein wenig die Hüften, warf ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn. Ihr blondes Haar war in Zöpfen geflochten, die straff um ihren Kopf gewunden und hinten mit einem braunen Plastik-Kamm festgesteckt waren. Mit Ausnahme der leicht roten Flecken eines Schönheitsmittels über ihren strahlenden Augen wirkte ihr Gesicht rosig, winterlich, wie eben frottiert. Sie kratzte sich an der Spitze ihrer kurzen Nase und sah auf seinen Mund. »Wo bist du gewesen, du Anzeigenblatt?« »Cowboy und Indianer spielen.« »War sie hübsch? Wie hieß sie?« Sie schob ihre Unterlippe vor und lehnte sich gegen ihn, wobei sie ihre kleinen Brüste über seinen Brustkasten schob. »Ich mach nur Spaß.« Paul trank aus seinem Glas. 61
»Kann ich ein Schlückchen davon haben?« »Nein.« »Warum nicht?« »Das würde zur Verführung einer Minderjährigen beitragen.« »Aber ich bin fünfzehn.« »Vierzehn.« »Nächsten Monat fünfzehn.« »Dann kannst du an deinem Geburtstag ein Schlückchen davon haben. Nächsten Monat.« »Du weißt doch, was ich mir zum Geburtstag wünsche …« Sie hüpfte wieder in die Küche und stellte das Radio an. »Was hast du deinen Eltern erzählt, Beebee?« »Worüber?« »Wo du heute abend hingingest?« »Papa ist in Fresno. Meiner Mutter hab ich nichts gesagt, sie ist mit dem guten ollen Onkel David ausgegangen. – Oh! Ich muß dir das Spiel erklären!« Sie stand im Kücheneingang und hatte ihre kleinen Daumen in die Taschen ihres Capris eingehängt. »Wie sind die Spielregeln?« »Zieh dich erst aus!« »Für eine Vierzehnjährige, Beebee, weißt du anscheinend eine riesige Menge Spiele, für die man sich ausziehen muß …« »Fünfzehnjährige.« Sie zog den Reißverschluß von ihrer Hüfte nach unten. Paul trank das Glas Wein aus und fing an, sich auszuziehen. Beebee zerrte ihr Capris zu den Füßen herunter und stieß es weg. »Ich hab mir heute einen neuen Büstenhalter gekauft. Er schiebt sie nach oben und nach vorn, verstehst du? Gefällt er dir?« 62
»Ich würde sie lieber selbst nach oben und nach vorn schieben.« »Du wirst Gelegenheit dazu haben.« Sie ließ die Träger über die Schultern herunterfallen und beugte sich nieder, um sich an den Knien zu kratzen. »Meine Knie haben mich gejuckt.« Paul ging zum Bett herüber und wollte sich darauf setzen. »Nein«, sagte Beebee, »wir müssen es auf dem Fußboden machen.« »Was machen?« »Das Spiel. Komm schon, ich zeig dir’s. Ein Mädchen in der Schule hat mir davon erzählt. Keine Möglichkeit, schwanger zu werden.« »Nimmst du denn keine Pillen mehr?« »Doch, sicher. Aber ich glaube, dies Spiel ist erfunden worden, als es noch keine Pillen gab. Egal, fangen wir an. Es macht Spaß!« »Was sollen wir denn da machen?« »Buchstaben bilden. Mit unseren Körpern, meine ich. Und es ist alles erlaubt dabei. Zuerst machen wir das A, dann das B, dann das C, und so immer weiter. Wir müssen zehn Sekunden lang in jeder Stellung bleiben, eh wir zum nächsten Buchstaben übergehen.« »Das kann doch nicht dein Ernst sein …« »Doch, ist es! Guck dich doch mal an«, sagte sie und zeigte zwischen seine Beine. »Du hast schon angefangen, das A zu machen! Sieh nur mal! Ich stehe so, halte deine Schultern fest, und wir sind ein großes A!« Paul lachte und half ihr. »Wer gewinnt?« »Wer den andern zuerst dazu bringt, aufzuhören. O. K., wir haben’s, jetzt müssen wir zehn Sekunden lang so bleiben.« Für das B verschränkte Beebee ihre Hände hinter 63
Pauls Hals, schlang ihre Beine um seine Hüften und lehnte sich zurück. »Und jetzt«, sagte sie, »heb ein Bein hoch und berühre den anderen Knöchel mit deinem Fuß … Ooo siehst du? Sehr schönes B!« Das C fanden sie langweilig, das D probierten sie mehrmals, bis sie das kleine d heraus hatten und gut über eine Minute in der Stellung blieben. Als sie bis zum K gelangt waren, war Paul bereit, nachzugeben. Beim Q mogelte Beebee ein wenig, und beim R verlor Paul das Spiel. Später, in der Nacht, bewegte sich Beebee im Bett nach oben, bis ihre Lippen nur noch wenige Zoll von Pauls Ohr entfernt waren. »In der Nacht«, flüsterte sie, »kommt mir manchmal dies unheimliche Gefühl, daß nichts irgendwas bedeutet. Und dann erschrecke ich.« Sie legte ihre kleine Hand auf seinen Brustkasten. »Ich wünschte, ich wäre auf die Welt gekommen, als die Menschen noch an Gott glaubten und so was, weißt du? Und die meisten heirateten für eine Zeitlang?« Ihre Hand sank zu seiner Taille herunter. »Der Bruder meiner Schulfreundin ist vorige Woche getötet worden, drüben im ›Krieg‹. Er war achtzehn, verstehst du? Und ich werde nächsten Monat fünfzehn, und womöglich hab ich dann nur noch drei Jahre zu leben. So können die Menschen sterben. Vielleicht werde ich nie so alt wie du, nicht? Ich muß alles jetzt tun. Könntest du mir was beibringen? Paul? Tätest du das?« Sie zuckte mit dem Kopf zurück, als Paul sich umdrehte und das Kissen unter seinem Kinn einklemmte. Er schlief. 64
In seinem Büro las Paul die Donnerstag-Morgenausgabe von ›The Chronicle‹. Ein Stanforder Psychologe erklärte, der nun schon legendäre Todessprung der zweiten Klasse von der Lincoln-Oberschule sei »ein einzigartiges Beispiel der gegenseitigen Beeinflussung einer Gruppe von Gleichgestellten, die sich im offenkundigen Ausdruck einer von außen her gelenkten Wertabweisung vereinigt haben«. Er überlas flüchtig eine Notiz über Kannibalismus in Los Angeles … gegen elf Einwohner von Brentwood vorgegangen und sie aufgegessen, einen Immobilienmakler aus der Culver City teilweise verzehrt … Eine vom Pentagon freigegebene Nachricht kündigte die Entwicklung eines Nervengases an, das »direkt auf die Prostatadrüsen feindlicher Soldaten einwirkt, eine sofortige Ejakulation und anschließende Einsatzunfähigkeit zur Folge hat«. Im Unterhaltungsteil waren drei verschiedene Berichte über Stier und Stiermusik groß aufgemacht: Die Konstruktion des Stierschreins in Stratford, der plötzliche Erfolg von Stier Nr. 2 und Stier Nr. 3, die Stiermanie in Greenwich Village, Sunset Strip und North Beach. Als Paul das vertraute Tick-Tick-Tick von Miss Cooks Absätzen im Gang hörte, sah er von seiner Zeitung auf. Miss Cook hatte sich sehr schön verpackt in eine burgunderfarbene Seidenbluse und einen engen weißen Rock, ihr Haar war steif zurechtgekämmt. Ihr Gesichtsausdruck lag irgendwo unter dem Gefrierpunkt. »Ich nehme an, Sie haben das Neueste gehört«, sagte sie. »Welches Neueste?« »Das von Jerry Miller.« »Was ist mit Jerry Miller?« 65
»Er ist an die Luft gesetzt worden. Gerner hat eine Notiz hinterlassen. Sie werden Jerrys Bücher übernehmen. Und auch eine Gehaltserhöhung bekommen, denke ich. Freuen sie sich jetzt?« »Im Augenblick sind Sie etwas boshaft, Miss Cook. Ich habe ihn nicht an die Luft gesetzt. Wo ist er?« »Er hat mich angerufen. Er möchte, daß ich die Sachen aus seinem Schreibtisch zusammenpacke. Er ist mit Chris am Museum.« »Und wer ist Chris am Museum?« »Jerry lebt mit Chris zusammen, sie ist zufällig eng mit mir persönlich befreundet.« »Wie, Miss Cook! Sie sind aber mit rassigen Leuten persönlich befreundet!« »Ihre Laune mag ich nicht.« Miss Cook räusperte sich. »Ich bin in Ihr Büro gekommen, weil ich Sie an die Party erinnern sollte, die KFRT morgen geben wird. Außerdem sind zwei neue Stierplatten im Postzimmer, falls Sie sie hören wollen. Und das wollen Sie doch sicher, jetzt wo Sie den Text zu schreiben haben.« Sie drehte sich um, und mit einer sarkastischen kleinen Bewegung ihres Hinterteils marschierte sie steif zur Tür hinaus. Paul dachte an Jerry und seine Freundin, wie sie durch das Museum wanderten. Wahrscheinlich an ihren Handflächen schnuppernd und an die Särge im Raum für Ägyptologie stoßend. Ein kleines Schnuppern an dem weißen Lehm würde Miss Cook gewaltig gut tun, dachte er; dann nahm er die Zeitung wieder zur Hand. Am Abend betrank sich Paul im ›Cat and Fiddle‹ vollständig, und als er wieder nach Hause ging, fiel er von der vierundzwanzigsten Stufe herunter. 66
Am Freitagmorgen schrieb Paul drei verschiedene Werbetexte für HUMANUR; den Freitagnachmittag verbrachte er größtenteils mit Band drei (Baltim bis Brasilien) der »Encyclopedia Brittanica«. Halb hatte er einen Besuch von Jerry, ein paar Salven Sarkasmus von Miss Cook oder sonst etwas erwartet, das den merkwürdig ruhigen Nachmittag unterbrechen würde. Dann fiel ihm die Party ein – sie mußten wohl alle zum ›Pink Garter‹ hinübergegangen sein. Nicht einmal Collier reagierte auf seinen Summer. Paul steckte sich eine neue Schachtel Zigaretten in die Tasche und schlenderte aus dem Büro hinaus. Am Freitagnachmittag ist ganz San Francisco eine Party. Die Luft ist mit Zimtreis und frischem Brot gewürzt, Autos hupen daherstolzierenden Sekretärinnen verwegene Einladungen zu, auf den Gehsteigen drängen sich Männer in dunklen Anzügen, die nach Friseur riechen, ein parfümiertes Lächeln auf ihrem Gesicht haben und das Pflaster mit blanken Lederschuhen bepflanzen. Als Paul das ›Pink Garter‹ betrat, nahm er seine Sonnenbrille ab und bahnte sich einen Weg bis zum Ende der Bar. Ein Mädchen im rosa Bikini, auf dessen keckem Hinterteil die Buchstaben KFRT aufgedruckt waren, gab ihm einen Namenszettel und einen fettigen Bleistift. Er kritzelte »Pgjxyn Oggdb« auf den Zettel und klemmte sich ihn an seinen Rockaufschlag. Am Rande der Tanzfläche bewegten sich Kellnerinnen von einem Tisch zum andern, mit Tabletts voller Drinks und Sandwiches in der Größe von Streichholzschachteln. Sie waren nackt bis auf kurze schwarze Stiefel, enge schwarze Höschen und große, zerzauste Platinperücken, mit denen sie aussahen wie James Madison als Frau aufgemacht. 67
Ein Beamter irgendwelcher Art versuchte, mitten auf der Tanzfläche stehend, eine Rede zu halten. »Dam und Herrn, darf grüß bei KFRT, geben grau grau groß Willkomm un schöne Herwartigung!« Er streckte seine Hände aus zum Zeichen, daß Ruhe herrschen sollte, und wurde berauscht durch die Oberseite seiner eigenen Finger. Er starrte sie eine volle Minute lang an, drehte sich um und drängte sich durch bis zur Bar. Aus den beiden großen Lautsprechern über der Tanzfläche hörte man ein Knattern, und eine Kellnerin stieg auf einen Stuhl, um den Tanz anzusagen. Niemand schien darauf zu achten. Paul nahm sich einen Martini vom Tablett einer vorbeigehenden Kellnerin. Die Töne von Stier Nr. 2 fluteten durch die Gespräche, und einen Augenblick war alles andere still. Die Kellnerinnen liefen alle nach der Mitte der Tanzfläche hin zusammen, zogen ihre winzigen schwarzen Höschen auf ihren Hinterteilen noch einen Zoll höher und begannen mit den sanften, stetigen Schwingungen des Stiertanzes. Die Männer kamen einer nach dem anderen, um sich mit ihnen zu vereinen, sie bewegten sich ungeschickt hin und her, mit nach vorn geschobenen Schultern; ihre Schlipse schwangen vor und zurück, als wären es Metronome aus Seide. Die Mädchen von G., F. & M. entdeckte Paul an zwei Tischen in der hinteren Ecke. Eins von ihnen, die kleine Chinesin aus der Vermittlungsabteilung, stand vom Stuhl auf wie in Trance und begann den Stiertanz ganz allein am Rande der Tanzfläche. Auch Miss Cook schien in der Schwebe und bereit, in der sich windenden Tänzerschar mitzumachen. Dann zeigte es sich. Die Mädchen von der Agentur. Sämtlich alle paar Sekunden ihre Handflächen beriechend. 68
Als Paul an den Tisch kam, sah Miss Cook zu ihm auf und lächelte ihn an. »Mr. Odeon, sind Sie gekommen, um mich zum Tanz zu bitten?« »Ich täte es liebend gern, Miss Cook, aber es ist ein bißchen überfüllt hier, finden Sie nicht auch?« »Sie brauchen mich nicht Miss Cook zu nennen. Wir sind hier nicht im Dienst, und ich heiße Janice. Wollen Sie sich nicht setzen?« »Danke vielmals.« »Sie sind sehr gutaussehend, ich meine, sehr gern gesehen.« Paul fing an, seinen Martini zu trinken, überlegte es sich aber anders und schob sein Glas zur Tischmitte hin. »Sie scheinen nicht mehr ärgerlich zu sein.« »Wie könnte ich? Es ist alles so wunderbar.« Ihre Augen leuchteten, als sie sich umdrehte, die Tanzenden zu betrachten. »Haben Sie noch irgend etwas von Jerry gehört?« fragte Paul. »Er kommt heute abend mit Chris zu mir. Warum kommen Sie nicht auch?« Sie hielt sich ihre linke Handfläche an die Nase und inhalierte. »Gefallen Ihnen diese kleinen Höschen, die die Kellnerinnen tragen? Und die Perücken? Ich glaube schon, Sie sind doch ein Mann, und Männer sehen gern Mädchen ohne ihre Kleider. Wissen Sie was!« »Was denn?« »Ich würde gern eine Kellnerin und so wie die angezogen sein. Nur würde ich mich nicht gern von unserer Agentur trennen. In der Agentur sind so viele wunderbare Menschen.« »Miss Cook Woher haben Sie und die Mädchen den weißen Lehm?« »Sie wissen von dem weißen Lehm?« 69
»Ja.« »Von Jerrys Schreibtisch. Möchten Sie welchen haben?« Sie machte ihre Geldbörse auf und gab ihm einen winzigen Pfropfen, der aussah wie weißer Kaugummi. Paul hielt ihn sich unter die Nase. »Nicht so«, flüsterte Miss Cook, »rollen Sie ihn in den Händen. Er wirkt nur, wenn er auf Ihrer Haut ist.« »Ich weiß«, sagte Paul und rieb ihn sich in die Handflächen. »Ich wette, er würde sogar auf einem Beckenknochen wirken.« Paul lehnte sich im Sofa zurück und meditierte über jede faszinierende Einzelheit in Miss Cooks Apartment; die eingerahmten Drucke, englische Jagdszenen darstellend, die blauen Wedgewood-Aschenbecher auf dem schmucken Kaffeetisch aus Teakholz, die nervös züngelnden Flammen, die sich im Kamin ihren Weg zwischen den sprühenden Holzklötzen suchten. Es war angenehm zu sehen, wie Miss Cook Kaffee einschenkte, und erregend, die braunen Blasen durch den Glastrichter der Kaffeekanne strömen zu sehen. Jerry sah adrett und gesund aus, und Chris entpuppte sich tatsächlich als eine sehr anziehende junge Dame. Was hatte Jerry in dem Kasten da? »Was hast du eigentlich in dem Kasten, Jerry?« »Ein Spiel«, sagte Jerry. »Warten Sie nur, bis Sie es sehen«, meinte Chris. »Wir haben es an dem Tag gekauft, als Jerry aus der Agentur rausgeflogen ist, als eine Art Festgeschenk.« »Erzählt mir bloß nicht, es wäre noch mehr weißer Lehm«, sagte Paul. »He, nicht doch, Mann«, sagte Jerry. »Wenn du den kriegen willst, mußt du ins Reservat gehen. Da mußt du sogar Schlange stehen, es hat sich rumgesprochen.« »Weißt du, wie es wirkt?« Paul beschnupperte seine Finger. »Ich meine, weißt du, wodurch es wirkt?« 70
»Es wirkt überhaupt nicht, wenn du eine Menge Alkohol getrunken hast. Es ist stärker als Marihuana, versetzt dich nicht in so einen Zustand wie LSD.« Jerry roch an seinen Händen. »Komisch, am besten scheint es zu wirken, wenn man Stiermusik hört. Es erregt einen dann noch intensiver.« »Ich will mal meine Stierplatte auflegen«, sagte Miss Cook. »Zeig ihnen das Spiel, Jerry …« Chris berührte ihre Nase und kicherte. »Richtig!« Jerry hob den Deckel von dem Kasten ab. »Es heißt ›Porno-Schach‹. Sie haben’s jetzt endlich in Plastik.« Er klappte das Schachbrett auf und fing an, die Figuren aufzustellen. Statt der gewohnten schwarzen und weißen Figuren waren es Plastik-Nachbildungen von nackten Männern und Frauen, jede in einer anderen Stellung. »Man stellt die Männer auf diese Seite, die Frauen hier drüben hin … Die Frauen, die sich auf ihre Ellbogen lehnen, gelten als Bauern, auch die Männer auf Händen und Knien. Das Mädchen, das so wie dies hier sitzt, ist ein Turm; das nach vorn gebeugte ist ein Springer; das eine, das sein Bein hebt, ist ein Läufer.« »Der König ärgert mich«, sagte Chris mit einem wiehernden Lachen. »Seht euch das nur mal an!« »Die Königin wirkt sehr beweglich«, sagte Paul. Miss Cook kam vom Plattenspieler zurück, warf einen Blick auf die ausgebreiteten Figuren und wurde rot. »Du meine Güte«, flüsterte sie. »Sie passen wirklich«, sagte Jerry. »Die Figuren greifen ineinander. In richtigen Stellungen.« Chris sah zu Miss Cook auf. »Warum spielst du nicht die erste Partie mit Paul?« Die Musik von Stier Nr. 1 kroch durch den Raum. 71
»Sie und Jerry haben mehr Übung drin«, meinte Paul. »Wir werden hier sitzen und zugucken und merken, wie weit uns der weiße Lehm bringen kann. Oder wollten Sie gern spielen, Miss Cook?« »Nein, wir werden zusehn«, sagte sie, mit einem aufgeregten Blick der Erleichterung und Dankbarkeit. »Ich werde gehen und den Lehm holen.« Im Verlauf des Spiels wurde Paul durch die Zusammenstellungen auf dem Brett gefesselt. Gleichzeitig wurde er intensiv Miss Cook gewahr, die neben ihm auf dem Sofa saß und Lehm von der feuchten Kugel austeilte. Er bemerkte das Wesentliche von Miss Cook. Selbst wenn ihre Hand die seine berührte, schien sie nicht wirklicher zu sein als diese Plastikfiguren, die sich auf dem Schachbrett ineinanderspreizten. »Hoffentlich hat diese Bauernfigur ihre Pille genommen«, sagte Chris und klatschte entzückt in die Hände. Die Musik von Stier wurde lauter. Paul sah auf die schimmernden Plastik-Hüften eines Läufers herab, die sich zwischen den Beinen einer gefangenen Bauernfigur krümmten. Er spürte, wie sein eigener Körper hart und schimmernd wurde, spürte den Körper von Miss Cook kühl und hart unter sich. Er blinzelte und sah sich um. Er und Miss Cook waren auf einem weißen Quadrat allein. Er spürte, wie ihre Handfläche sacht seine Nase berührte. Er spürte ihre harten, glatten Beine an seinen Hüften hinaufgleiten. Er drängte sich nach unten, beugte sie, strengte sich an, um sie zu finden, bis endlich … »KLICK!« Er spürte das harte Plastik in sie hinein schmelzen, 72
sah die heiße Flüssigkeit in ihren Augen schwimmen, hörte ihre letzten geflüsterten Schreie in seinen Ohren pfeifen. »Stier! Stier! Stier!« Paul öffnete die Augen im hellen Sonnenlicht, wälzte sich herüber und fand sich Brust an Brust mit der schlafenden Gestalt von Miss Cook. Ihre langen Beine waren in die verdrehten lavendelfarbenen Bettücher eingewickelt, ihre Hände waren über ihrem Kopf auf dem Kissen ineinander verschlungen. Ihre Brüste waren unbedeckt und bewegten sich durch ihre Atemzüge sanft auf und nieder. Er berührte eine mit den Fingerspitzen. Weicher als Plastik, dachte er. Er fand seine Kleidungsstücke auf dem Fußboden neben dem Bett und hatte sich gerade fertig angezogen, als der Wecker klingelte. »Der Wecker!« Miss Cook machte die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. »Wo ist er, wo ist die Uhr?« »Die was?« »Die Uhr.« »Da drüben …« Paul ging an den Tisch, stellte die Uhr hinter einen Kasten voll rosa Kleenex und stellte sie ab. »Ist es geschehen?« Miss Cook zog sich die Decke bis ans Kinn. »Gestern abend, ist es wirklich geschehen?« »Ich glaube ja«, sagte Paul. »Wissen Sie es nicht?« »Wenn ich mich nur erinnern könnte. Können Sie es?« »Nicht so richtig …« »Eine schlechte Zensur für weißen Lehm.« 73
Miss Cook sah aus dem Fenster. »Ich hätte es nicht getan, wenn ich nicht betäubt gewesen wäre.« Paul nickte. »Die Musik war auch mit schuld, daß ich es wollte.« Paul kämmte sich mit gespreizten Fingern das Haar aus der Stirn und steckte sich dann eine Zigarette an. »Werden Sie mich jetzt nicht fragen?« »Was fragen?« »Warum ich nicht mehr unberührt bin.« »Das könnte ich mir wahrscheinlich selbst zusammenreimen.« »Ich bin vergewaltigt worden, als ich dreizehn war.« Sie wartete auf seine Reaktion, sah aber keine. »Durch meinen Vater.« »Das muß schrecklich gewesen sein«, sagte Paul. »Aber es ist besser als ein Feuerlöscher.« »Ich habe versucht, es zu vergessen.« Als sie das Kopfkissen hinter ihrem Rücken hervorzog, fiel ihr die Decke von den Brüsten. Sie deckte sich rasch zu. »Waren Sie einmal verheiratet?« »Natürlich.« »Wo ist Ihre Frau? Ich meine, Ihre ehemalige Frau?« »Weiß nicht. Irgendwo in einem Wohnwagen, nehme ich an.« »Hatten Sie Kinder?« »Einen Sohn.« »Warum haben Sie Schluß gemacht?« »Sie stellte fest, ich wäre homosexuell.« »Nein, aber wirklich …« »Wir sind nicht nett zueinander gewesen. Und ich glaube, daß wir Angst hatten, es würde uns etwas fehlen, wenn wir zusammen blieben. Das einerseits, und auch fehlen, wenn wir nicht mit jemand anderem zusammenkämen.« 74
»Haben Sie sich denn nicht geliebt?« »Wir haben sehr viel rumgevögelt. Tatsächlich, wir konnten uns nur in einem einig sein – auf einer Matratze. Glauben Sie, daß noch Kaffee da ist?« »Stimmt es, daß Sie ein College in London besucht haben?« »Sie wissen doch, wo die Personalakten sind.« »Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich jemals zur Werbung entschlossen haben.« »Schelten Sie nicht auf die Werbung. Ohne sie hätten die Apostel niemals Jesus hochbringen können. Wo ist der Kaffee? Ich möchte erst sicher sein, daß ich absolut nüchtern bin, eh ich mich ausziehe und wieder ins Bett gehe.« »Jesus war ein gutes Erzeugnis«, sagte Miss Cook, als sie das Betttuch einschlug. »G., F. & M. hat keinen Jesus.« »Aber sicher haben wir einen. Haben Sie es nicht gehört? Er heißt Stier.« »RATTENFÄNGER VON HAMELN IN LOS ANGELES? KINDER UND POLIZISTEN IN EINEM BLUMENREGEN Die ›show-down‹ Gegenüberstellung von Teenagern aus Sunset Strip und dem Polizeidepartment Los Angeles endete mit dem bizarrsten Vorfall, den der Berichterstatter jemals gesehen hat. Was nach den Befürchtungen vieler die blutigste Schlacht hätte werden können, die jemals auf dem von Aufruhr heimgesuchten Sunset Strip ausgefochten wurde, das wurde statt dessen zu einem märchenhaften Auftritt, wie er nur in dieser Stadt der Täuschungen inszeniert werden konnte. Gegen einundzwanzig Uhr und fünfzehn Minuten waren die Schlachtlinien gezogen. Die Teenager, etwa 75
zweitausend oder dreitausend, trugen dicke Kleidung zum Schutz vor geschleuderten Schlagstöcken. Sie verhielten sich still, ausgenommen ein paar Mädchen in der vordersten Reihe, die zu schreien begannen, als die Polizeihunde erschienen. Knapp zwanzig Meter weiter schnallten sich etwa vierhundert Polizisten den Kinnriemen fester, ließen den Lauf ihres Dienstrevolvers sehen und hielten ihre Schlagstöcke bereit. Sie wollten ebenso vorgehen wie gegen die Kriegsdemonstranten: Zuerst würden sie die Hunde loslassen, dann die Massen mit Schlagstöcken stürmen, schließlich mit Tränengasbomben unter ihnen aufräumen. Und dann geschah es – ein einziger, durchdringender Laut, der aus der Richtung der Doheny Street zu kommen schien. Ihm folgten weitere Laute, Musik und hysterisches Gelächter. Es wuchs zu einer rasenden Intensität an, als der Menschenzug erschien. An seiner Spitze gingen kleine Kinder, die brennende Fackeln trugen. Ihnen folgte eine Schar Frauen verschiedener völkischer Herkunft; sie tanzten, sangen und warfen händevoll weiße Blütenblätter um sich. Die meisten Frauen waren nackt. Dieser unglaubliche Umzug bewegte sich direkt zwischen der Reihe von Polizeibeamten und dem Gedränge der Teenager hin; die meisten Teenager tanzten bereits zu dem hypnotisierenden Rhythmus der Pfeifen und Trommeln. Die Polizeibeamten standen verlegen da, die Hände an die Seiten gelegt, als nackte Frauen um sie herumtanzten, sie küßten und ihre Schutzhelme mit weißen Blumengirlanden schmückten. Einige Zuschauer haben berichtet, daß mitten in der Prozession ein ganz in Weiß gekleideter Mann aufgetaucht sei, der möglicherweise die tanzenden Teenager 76
angeregt hätte, mit ihren wilden Gesängen zu beginnen. Doch ein größeres Rätsel bleibt ungelöst. Denn in wenigen Minuten war die Prozession verschwunden, und als die Polizisten sich von ihrer äußersten Verwirrung erholt hatten, fanden sie keine Spur fackeltragender Kinder, nackter Frauen oder des geheimnisvollen weißgekleideten Mannes. Übriggeblieben waren nur ein Teppich von weißen Blütenblättern und kleine Gruppen von Teenagern, die vergnügt den Strip entlang tanzten, wobei sie noch immer das eine Wort sangen: ›Stier!‹« Als dieser Artikel in der SonntagvormittagsAusgabe von San Franciscos ›Chronicle‹ erschien, war ihm ein drahtlich übermitteltes Foto beigefügt; es zeigte einen Polizeileutnant aus Los Angeles mit Tränen in den Augen, um dessen Helm eine weiße Blumengirlande geschlungen war. Paul schnitt den Artikel sorgfältig mit einer Rasierklinge aus der Zeitung aus. »He«, sagte Beebee, »du schneidest doch nicht etwa ein Stück von den Witzen aus, wie?« »Nein, die Witzseite kriegst du.« Er legte den Zeitungsausschnitt neben die Schreibmaschine auf seinen Schreibtisch. »Es ist wieder eine Sache mit Stier.« »Stier, Liebling.« Beebee saß auf der Bettkante und breitete die Zeitungsblätter zu ihren Füßen aus. »Sie haben hier eine Annonce von ihm drin.« »Wo drin?« »In der Anzeigenspalte. Die Anzeigenspalte lese ich immer.« Sie befeuchtete einen ihrer winzigen Finger und durchblätterte flüchtig die aufgeteilten Seiten. »Hier ist sie …« »Lies sie mir mal vor.« »›Stiergesellschaft‹, heißt es da, ›Gruppenbildung in 77
San Francisco. Bewerber müssen mindestens einen Universitätsgrad haben, Begabung für Logik, Geschick zum Schreiben, Kenntnis es-esso-e-s-o-t-e-r-i-scher Schriften, Bereitschaft zum Verzicht auf die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten. Vier dreiundzwanzig Dexter Street, Sonntag achtzehn Uhr.‹ Das ist heute.« »Seltsam. Wir werden hingehen und uns das mal genauer ansehen.« »Ach nein, ich nicht …« »Warum nicht? Du hörst gern Stiermusik …« »Ja, sicher. Aber ich geh nicht gern wohin, wo sie über Logik und solche Sachen reden.« Paul ging zum Bett hinüber und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Was hast du denn gegen Logik?« »Na, das heißt doch, daß man angestrengt über alles mögliche nachdenken muß«, sagte sie und runzelte die Nase, »und das tu ich nicht gern. Was bedeutet es-ohteer-ick?« »Es bedeutet … na, es ist wie eine Geheiminformation. Metaphysisches Zeug, Sachen, die nicht durch empirische Beweise festzustellen sind, Empfindungen von Dingen, die man nicht sehen oder berühren kann.« »Ooch Junge! Weißt du, wie ich das finde? Es ist langweilig.« »Hast du nie solche Empfindungen?« »Warum auch?« Sie zwinkerte und legte beide Hände zwischen seine Beine. »Ich habe lieber etwas, das ich fühlen kann.« »Laß das sein …« Paul trat zurück, ließ aber seine Hände auf ihren Schultern liegen. »Komm, ich mach deinen Reißverschluß auf!« »Beebee, nicht jetzt, nicht wenn wir grade –« »O. K., zum Donnerwetter! Dann also nicht!« Sie ließ die Hände herunterfallen, als wären sie gestochen worden, und drehte das Gesicht zur Wand hin. »Du 78
bist am Freitagabend nicht hier gewesen, du bist am Samstag erst nachmittags wiedergekommen, und gestern abend hast du nichts anderes gemacht, als dies verrückte Zeug über Logik zu schreiben.« »Um Himmels willen, kleines Mädchen!« Paul übte Vergeltung aus, indem er seine Hände von ihren Schultern nahm und sie in seine Hosentaschen zwängte. »Ist dir eigentlich schon mal eingefallen, daß wir imstande sein könnten, etwas mehr zu tun als zusammen ins Bett zu gehen?« »Zum Beispiel denken?« »Zum Beispiel denken!« Er hatte sie nicht anbrüllen wollen, und ihm brannten die Ohren davon. »Du kannst an jeder passenden Straßenecke, wo du willst, jemanden finden, der mit dir ins Bett geht, warum lungerst du dann bei mir herum? Soll ich etwa um Verzeihung bitten, daß ich einen Verstand habe?« Beebee sprang vom Bett auf und stellte sich steif hin. »O.K., Anzeigenblatt, ich werde mir jetzt eine von diesen passenden Straßenecken suchen!« »Was für eine geistreiche Antwort!« »Und wenn du das nächste Mal Gelüste kriegst«, sagte sie und riß die Tür auf, »dann kannst du’s in ein Buch über Logik stecken!« Sie knallte die Tür hinter sich zu. Paul fing an, auf und ab zu gehen. Kleine Hexe, dachte er, Dummkopf! Das langte für Haiku. Er schenkte sich Wein ein und versuchte, die Vorstellung loszuwerden, daß er es in ein Buch über Logik steckte. Er hatte einen Schluckauf. Von einer lausigen Gallone kalifornischen Weißwein hatte er einen Schluckauf bekommen. 79
Während er den regenglatten Abhang der Dexter Street hinaufging, hielt Paul den Atem an und probte für seine Bewerbung. Universitätsgrad. Nachprüfbar. Begabung für Logik. Londoner Universität, keine geringere. Geschick zum Schreiben. Eben der beste kleine olle Texter bei Gerner, Foss und Meyer, das war alles. Esoterische Schriften? In die konnte er eindringen (Tertium Organum). Mit einem Ball, der hinter seinem Rücken festgebunden war. Und was war das mit dem Verzicht auf die amerikanische Staatsbürgerschaft? Vier dreiundzwanzig Dexter Street hatte nur eine einfache Holztür, die Adresse war mit grünen PlastikBuchstaben darauf angebracht. Über eine niedrige Treppe kam man in einen großen, fensterlosen Saal, ohne Tische oder Stühle für die eventuellen Mitglieder der Stiergesellschaft, die plaudernd in den vier Ecken des Raumes standen. Er sah auf seine Uhr. Achtzehn Uhr zwanzig. Er lehnte sich gegen eine Wand, stieß auf und sah sich in dem Raum um. Die Versammelten waren etwa so, wie er es erwartet hatte. In einer Ecke standen die alternden Jünger der Beat-Welle aus den fünfziger Jahren. Sie trugen abgelegte Militär Jacken, schmutzige Trenchcoats und Kordhosen, die an den Knien ausgebeult waren. Die Frauen hatten alle langes, ungepflegtes Haar; schwarze Sonnenbrillen verbargen die Runzeln zwischen den Wangen und den Augenbrauen. In einer anderen Ecke standen die Hippie-Graduates aus den siebziger Jahren. Sie trugen Zigeunerblusen, mexikanische Boleros, Capes und indianische Mokassins. Von den Mädchen trugen manche Omabrillen, und sie hatten sich alle Plastikblumen ins Haar gesteckt. Dann waren da noch Leute mit Prinzip, die durch ihre 80
Krawatten und Anzüge auffielen, durch ihre frisch rasierten Gesichter und durch den Rauch ihrer Pfeifen, der nach verbrannten Äpfeln roch. Und schließlich eine düstere Schar von Leuten, mit den Narben von tausend Demonstrationen: für Bürgerrechte, Frieden, Love-ins, Be-ins, für Abtreibung und gegen Wählerscheiben mit einstelligen Zahlen. Einer aus dieser Gruppe, ein Mann mit einer schwarzen AntiKriegs-Plakette, kam zu Paul herüber. »Wissen Sie vielleicht, wann diese Veranstaltung eigentlich anfangen soll?« fragte er. Paul stieß auf und schüttelte den Kopf. »Einen Schluckauf gekriegt?« Paul nickte. »Stopfen Sie sich die Ohren zu.« »Die Ohren?« »Hilft immer.« Paul langte nach seinem Taschentuch und war dabei, zwei schmale Stoffstreifen abzureißen, als von der Decke des Saales eine Stimme herabdröhnte. »GUTEN ABEND, LIEBE LEUTE …« In der darauf folgenden Stille war Pauls Schluckauf im ganzen Saal zu hören. Er rollte die Stoffstreifen zu kleinen Kugeln zusammen und steckte sie sich in die Ohren. »SIND SIE SICH NICHT SCHON FRÜHER BEGEGNET? SIE SIND DIE ANFÜHRER DER UNZUFRIEDENHEIT. MIT EINEM WORT, SIE SIND VERRÄTER …« Alles starrte zur Decke empor; dort war kein Lautsprecher zu sehen, nur ein rosa Gummischlauch, der in der Mitte gerade herunterhing. »SIE SIND ALLE GEGEN DEN KRIEG. HEUTE ABEND WIRD IHRE REGIERUNG SIE FÜR IHRE OPPOSITION BELOHNEN. SIE WERDEN ALLE FÜR DAS WOHL IHRES LANDES STERBEN.« 81
Im Saal hörte man Rufe wie »er ist wahnsinnig«, und »Sehn wir doch zu, daß wir hier wieder herauskommen«; dabei strebten fast alle auf die Tür zu. »DIE TÜR IST ZUGESCHLOSSEN, UND FENSTER GIBT ES NICHT. SCHAUEN SIE ÜBER SICH … IN GENAU ZEHN SEKUNDEN WIRD DIESER KLEINE GUMMISCHLAUCH IHRE ENDGÜLTIGE BEFREIUNG BEWIRKEN. ER WIRD EIN GAS AUSSTRÖMEN, DAS GERUCHLOS, FARBLOS, OHNE GESCHMACK IST, EIN GAS, DURCH DAS SIE LEBLOS ZU BODEN FALLEN WERDEN. WAS SAGEN SIE NUN, MEINE AMERIKANISCHEN MITBÜRGER?« Es gab eine panische Flucht zur Tür hin. Paul preßte sich gegen die Wand und zog sich die Pfropfen aus den Ohren. Er hatte nicht gehört, was das sein konnte, das alle zum Ausgang stürzen ließ. Dann, als die Rufe und Schreie lauter wurden, horte er von oben aus dem Gummischlauch ein heftig zischendes Geräusch. Das Geräusch tat seinen Ohren weh; er stieß schnell die Pfropfen wieder hinein. Die Leute an der Tür fingen an, auf die Knie zu fallen, sie kämpften, um sich gegenseitig zu stoßen oder einander festzuhalten. Ein Mann im braunen Anzug lag und trommelte mit den Fäusten gegen den Fußboden. Manche von den Beat-Männern fielen auf HippieMädchen und stellten schwache Versuche an, Liebe zu machen. Anderen gelang es, halb wieder hochzukommen, sich an den Händen zu fassen und den ersten Kehrreim des Liedes »We shall overcome« herauszuschreien, ehe sie kopfüber auf den Haufen stürzten. Pauls Schluckauf war vorbei. Die anderen an der Tür lagen totenstill. »Was ist passiert?« Seine eigene Stimme klang gedämpft, er zog sich die Pfropfen aus den Ohren. Das zischende Geräusch war verstummt. »Was ist passiert?« 82
Er merkte, daß irgend etwas seltsam roch. Er schloß seine Augen und tat einen tiefen Atemzug. Und noch einen. Was es auch war, es wurde schwächer. Er tat die Augen auf und befühlte seine Nase, ohne zu wissen warum. Er versuchte weiter, bewegte beide Arme und beide Beine. »GRATULIERE. SIE SIND DER EINZIGE ERFOLGREICHE BEWERBER.« Paul sah zur Decke empor und blickte finster drein. »GEHEN SIE ZU DER TÜR, DURCH DIE SIE HEREINGEKOMMEN SIND. SIE IST JETZT OFFEN.« »Was bist du – die Stimme des Schattens, um Christi willen?« »DORT WERDEN SIE IHRE ANWEISUNGEN BEKOMMEN.« Paul blieb mit dem Rücken zur Wand und ging den ganzen Weg bis zur Tür mit seitlichen Schritten. Er ging mit gespreizten Beinen um den Berg bewußtloser Leiber herum und drückte die Klinke herunter. Die Tür war offen. Unter dem Menschenhaufen hervor stöhnte jemand, Paul wandte sich um und begann, Arme und Beine hochzuheben. »Lassen Sie sie, wo sie sind.« Paul drehte sich schnell um, in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Sie!?« »Für die dort wird schon gesorgt.« Magdelaine blickte neugierig auf die beiden, die der Tür am nächsten lagen, und fing an, sich ihre Handschuhe anzuziehen. »Was ist mit ihnen passiert?« »Ich erkläre es gleich. Kommen Sie jetzt mit mir.« »Es ist nicht zu glauben. Mann, ihr Indianer … Ich dachte, es gäbe einen Vertrag?« »Wenn Sie mich bitte mit Ihrem Humor verschonen und einfach mitkommen wollten. Es gibt viel zu tun.« 83
»Und die hier so liegen lassen?« »Sie sind durch Schallwellen in Schlaf versetzt worden. In fünf Minuten wird eine andere Lautfrequenz übertragen; sie werden alle wieder aufwachen und sich niemals daran erinnern, was mit ihnen geschehen ist.« »Oh«, sagte Paul, »ich verstehe. Eine andere Frequenz. Sie werden sich nicht erinnern. Jetzt ist mir alles so verdammt klar.« Er stieß wieder auf. »Haben Sie … Alkohol getrunken?« »Nicht genug.« Magdelaine drehte sich um und ging die Treppe hinab. Paul hielt den Atem an, als er ihr nach draußen zum Wagen folgte. »Macht es Ihnen gar zu viel aus, wenn ich ein paar Fragen stelle?« Paul stützte sich mit einer Hand gegen das Handschuhfach, als der Wagen die Powell Street herunter zur Golden Gate Bridge fuhr. »Sie dürfen alles fragen, was Sie wollen.« Kein Lächeln zeigte sich auf Magdelaines Gesicht, das durch die rotierende Schartenblende des Gegenverkehrs lebhaft angestrahlt wurde. »Wo fahren wir hin?« »Zu Stiers Haus.« »Weshalb?« »Das werde ich erklären, wenn wir dort angekommen sind.« »Was ist über und über schwarz und weiß und rot?« Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Sie sind betrunken.« »Vergast, das trifft es wohl besser …« Er beobachtete, wie sie schweigend die Gangschaltung betätigte 84
und sich auf dem Sitz zurücklehnte. »Wer hat diese Anzeige in die Zeitung gesetzt?« »Das war ich. Auf Verlangen von Stier. Wir brauchen Hilfe, und dies war die beste Möglichkeit, die richtige Person herauszufinden. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie es sein würden.« »Was für eine Art Hilfe?« »Ich glaube, Sie würden es … Public Relations nennen.« »Dazu gehört Logik und Kenntnis esoterischer Schriften, muß ich wohl schließen.« »Für die meisten Menschen ist es sehr schwierig, Stier zu verstehen. Sie können auf seine Musik reagieren, aber seine Gedanken müssen in die gewöhnliche Ausdrucksweise übersetzt werden, damit ein gewöhnlicher Verstand sie begreifen kann.« »Und diese Schlußzeile, daß man bereit sein müßte, die US-Staatsbürgerschaft aufzugeben?« »Bloß ein Mittel, unsere Auswahl von Bewerbern auf diejenigen zu beschränken, die unabhängig wären und fähig, in einem fremden intellektuellen Klima zu fungieren. Außerdem wurde dadurch das Experiment überzeugender. Diese Menschen würden alle einen triftigen Grund haben, die Regierung zu fürchten.« »Die Stimme, war das Stier?« »Es war eine Übertragung. Stier hatte das Ergebnis des Experiments vorausgesagt, er sagte, es würde nur eine Person bestehen.« »Nobles Experiment. Leute vergasen.« »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß kein Gas benutzt worden ist. Die Hypnose ist ganz und gar durch Schall erreicht worden. Sie waren nicht davon betroffen, weil Sie sich die Ohren verstopft hatten. Vielleicht ein Zufall, aber dabei hat sich gezeigt, daß Sie mit … ungewöhnlichen Situationen fertig werden können.« 85
Paul stieß auf und sah starr auf die Reihe dunkelroter Lichter, die sich über die Brücke hinzog. »Sie haben keine Sorge, daß diese Leute anfangen, nach der Polizei zu rufen, wenn sie aufgewacht sind?« Magdelaine sah auf die Uhr am Armaturenbrett. »Jetzt ist der Gegengift-Schall schon übertragen. Sie sind wach, aber sie haben nicht die geringste Ahnung, was mit ihnen geschehen ist.« »Soll ich Ihnen mal was sagen?« Paul zog eine Zigarette heraus. »Ich glaube, daß ich diesen Schall beinahe selbst hören kann.« Sehr geehrter Herr, Sie sind für folgende Aufgaben verantwortlich: 1. Verwaltung aller Angelegenheiten, die sich auf die Verbreitung und den Verkauf der Schallplatten mit Stiermusik in den Vereinigten Staaten beziehen. 2. Verwaltung aller Angelegenheiten betreffend die Aufführung von ›Iliyu‹ auf dem Gipfel des Mount Tamalpais am neunten Tage des neunten Monats dieses Jahres, neunzehnhundertneunundsiebzig. 3. Bereitstellung eines Buches, das die vier Akte von ›Iliyu‹ einzeln erläutert, und Verbreitung dieses Buches vor der Aufführung der Oper. Sie werden hiermit ermächtigt, diejenigen Personen zu beschäftigen, die für die erfolgreiche Durchführung der obengenannten Aufgaben erforderlich sind. Geldmittel werden Ihnen zur Verfügung gestellt. Sie können dieses Blatt nach Wunsch unterzeichnen – mündliche Vereinbarung genügt. (gez.) Richard Stier Paul faltete das Schreiben zusammen, als Magdelaine wieder in das Wohnzimmer kam. Sie hatte sich umgezogen und trug ihren weißen Kittel aus Tierhäuten und 86
Hausschuhe aus weißem Pelz. Sogar ihr langes schwarzes Haar, das sie jetzt zu Zöpfen geflochten hatte, die ihr lose auf dem Rücken herunterhingen, war an den Enden mit weißen Perlenschnüren zusammengebunden. »Sagen Sie«, fragte Paul und gestikulierte mit dem Schreiben, »der Teppich vor dem Kamin, die Möbel, der Flügel, alles in diesem Zimmer ist weiß. Und Sie kleiden sich in Weiß. Warum?« »Stier hat das gem. Haben Sie den Vertrag zu Ende gelesen?« »Ja.« »Wie ist Ihre Entscheidung?« »Das ganze Ding ist etwas nebelhaft. Abgesehen von der Tatsache, daß es hinsichtlich des Gehalts überhaupt keine genauen Angaben enthält, weiß ich absolut nichts über ›Iliyu‹, abgesehen von einigen wenigen Zeitungsausschnitten, die ich in der Agentur bekommen habe.« »Sie werden alles besser verstehen … nach Ihrem Adventus.« »Meinem … wie bitte?« »Wenn Sie den Bedingungen des Vertrages zustimmen, können wir jetzt anfangen. Ziehen Sie es aber vor, Ihre Stelle in der Agentur zu behalten, dann kann ich nur um Entschuldigung bitten, daß ich Ihre Zeit beansprucht habe, und Sie ersuchen, daß Sie nicht mehr hierher kommen.« »Wo soll ich unterschreiben …?« »Kommen Sie. Wir werden nach hinten gehen.« Das Atelier war ganz so, wie er es in Erinnerung hatte, große Platten weißen Lehms auf weißen Postamenten, halbfertige Statuen indianischer Krieger in verschiedenen Stellungen. »Im Yukon-Territorium liegt ein See«, sagte Mag87
delaine, »der von Ablagerungen weißen Lehms umgeben ist. Der Lehm selbst hat keine Kraft, aber wenn er mit Haut in Berührung kommt ..« »Das ist es also! Diese Statuen sind alle aus weißem Lehm geformt …« Paul steckte einen Finger in einen noch feuchten Klumpen. »Ich meine, aus dem weißen Lehm!« Magdelaine packte nach seiner Hand. »Sie haben das schon gemacht?« »Ein Freund von mir, Jerry Miller. Er hat in einem Indianer-Reservat welchen gekauft.« Zum erstenmal lächelte Magdelaine. »Es würde Ihren logischen Sinn nicht befriedigen, wenn Sie die Wirkungen vor ihren Ursachen kennenlernten.« Sie wischte seinen Finger mit einem Tuch ab. »Ich werde Ihnen Lehm geben. Wenn es Zeit ist.« »Es ist genug von dem Zeug hier, um das ganze Land in Ekstase zu versetzen.« »Der weiße Lehm ist nicht dafür gedacht, zu berauschen. Das ist die erste Lehre von ›Iliyu‹ – daß manche Dinge dazu hergestellt werden, den Hersteller zu vervollkommnen.« »Diese Statuen?« »Der Lehm hat einfach deshalb die Form von Statuen, damit die Zollinspektion erleichtert wird. Die Statuen werden in Kanada als Kunstwerke an Bord gebracht, wir schicken sie an Indianer-Reservate hier in den Vereinigten Staaten. Die Medizinmänner verstehen sich darauf, dies Material mit gewöhnlichem Lehm zu mischen. Und diese Mischung haben Sie kennengelernt.« »Aber warum das? Des Geldes wegen?« Paul setzte an, die Hand zu heben und an die Nase zu halten, doch dann steckte er sie statt dessen in seine Hosentasche. »Hat Stier das wirklich nötig?« 88
»Das Geld behalten die Indianer, und es ist sogar sehr wenig. Stier hat nur den Wunsch, daß die Menschen bereit seien, die Mischung zu benutzen, damit sie sich retten können.« »Sich retten, wovor?« »Vor dem Alkohol, vor dem Rauchen, vor LSD und Rauschgiften, die den Instinkt verzerren. Aber zuerst müssen sie ›Iliyu‹ verstehen, und darin wird Ihre wichtigste Aufgabe liegen.« Magdelaine ergriff einen kleinen Meißel und begann, mit seiner Spitze ein geometrisches Muster auf einer Lehmplatte einzuprägen. »Haben Ihre Studien auch die Werke der Alchimisten mit einbegriffen?« »Nur wenn Sie Einstein dazu rechnen …« »Es gehörte zur Ordnung der Alchimisten, genau ein und dasselbe Experiment gut tausendmal zu wiederholen – nicht nur, um das genaue Verhältnis von Materie herauszubekommen – sondern um ihnen eine Erholung möglich zu machen.« »Und ein bißchen Gold zu machen, wenn wir schon mal dabei sind!« »Für sie war Gold ein Adventus. Aber sie hätten noch den Adventus der Laute entdecken müssen. Das heißt, sie hätten einen Extrakt gewinnen müssen … die exakte Anordnung von Atomen, mit diesem System höchst geläuterter Substanzen …« Ihre Stimme wurde schleppend, bis sie in Schweigen versank. Paul studierte das Muster, das sie in den Lehm gezeichnet hatte. »Ist das die chemische Struktur des weißen Lehms?« »Es ist die notwendige Anordnung vieler Dinge. Einschließlich eines atomaren Krafterzeugers. Doch ehe wir das weiter untersuchen, möchte ich Ihnen den ersten Akt von Iliyu schildern.« 89
Am gleichen Abend versuchte Paul, vor seiner Schreibmaschine sitzend, all das in eine Ordnung zu bringen, was Magdelaine ihm erzählt hatte. Die große Wanderung der Hopi-Indianer zum nördlichen Tor der Welt, den unendlichen Raum von Tokpela, von Palongawhoya, und den Widerhall der Schöpfung in Tönen. Die Menschen der vier Erdfarben und die Vereinigung mit dem Großen Geist durch die empfindlichen Stellen oben auf ihrem Kopf. Die angreifenden Rauschgifte des Westens, die passiven Rauschgifte des Ostens, den tödlichen Kampf von Iliyu, bis er die Umgestaltung von Stoff und Geist entdeckte … Nehmen wir also einmal an, daß eine unserer Wissenschaften schließlich die endgültige Formel entdeckt, und daß durch ihre Anwendung jeder Zufall, jedes Schicksal, jedes Ungefähr und Glück oder Unglück aus unserem Universum verbannt werden. Durch eine Verschiebung des Rechenschiebers erfahren wir, wie man Krebskranke heilt, Krieg beendet, alle Verbrechen abschafft und jedem von uns unbegrenzte Gesundheit, Wohlstand und Weisheit sichert. Daraus folgt, daß wir auch Entdeckungen, Forschungen, Experimente und Spekulationen abschaffen – kurz gesagt all diese enttäuschenden Tätigkeiten, aus denen unser gegenwärtiges Leben besteht. Aber was dann? Unsere Formel bringt nicht nur gute Musik, gute Malerei, gute Ehen, gute Hustentropfen zustande, sondern die besten, die überhaupt möglich sind. Fehler jeglicher Art, Enttäuschung, Zweifel, Überraschung – all das wird unmöglich. Was würden wir dann tun? Eine akademische Frage? Es wird nie dahin kommen? Dann sind wir uns alle darüber einig, daß wir nach dem Unmöglichen streben (eine Feststellung, die uns von Künstlern seit langer Zeit kräftig eingeredet wurde) – aber wir erkennen doch die Correlarien 90
unserer existentialen Geometrie an? (1) Unvollkommenheit strebt auf die Vollkommenheit zu mit der Hoffnung, sie nicht zu erreichen. (2) Erfolglosigkeit ist das Kennzeichen unseres Daseins. (3) Es ist nicht so, daß der Mensch Gott sein möchte, sondern Gott möchte Mensch sein. Unser Wille wird zu einem Pfeil, abgeschossen auf die Stelle, wo gestern ein Hirsch stand. Ein Un-Ziel, wie die Buddhisten sagen würden. Wir zielen also auf nichts. Auf gar nichts? So begann die Erläuterung von Iliyu. Am Montagmorgen, gerade vor der Frühstückspause, blieb Miss Cook bei dem Wasserkühler vor Pauls Büro stehen. Ihr Spiegelbild versicherte ihr, daß ihr Lippenstift-Rouge noch feucht war, ihre Augenbrauen gleichmäßig nachgezogen, ihr Haar präzise an beiden Seiten ihres Kopfes festgesteckt. Sie hatte die HUMANURAkte fest an ihre Brust gedrückt, öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, sah Paul und stieß einen Schrei aus. »Sie haben eine höllische Art, guten Morgen zu sagen, Miss Cook.« Paul trat von dem Haufen Bücher und Papiere auf seinem Schreibtisch zurück. Er trug ein zerrissenes schwarzes Flanellhemd, Khakihosen und braune Schuhe, die an den Absätzen aufgerissen waren. Er war unrasiert, und sein ungekämmtes Haar ringelte sich fast bis auf die Nase herunter. »Mache eben einen kleinen Hausputz«, sagte er lächelnd, »und all dies Zeug wollte ich zu den Hauptakten zurückgeben.« »Was –« »Sie sehen heute morgen fabelhaft aus, Miss Cook.« »Lassen Sie sich bloß nirgends so sehen!« Sie blickte wild im Büro herum, gerade so, als ob sie einen Feuerlöscher suchte. 91
»Ist Ned Collier schon da? Und der alte Scuffy Gerner?« »Was machen Sie da? Was ist passiert?« »Ganz einfach. Da ich die Verbindung mit Wittgenstein verpaßt habe, bin ich in einen Bus gesprungen und dann durch Schall vergast worden, aber nicht wirklich vergast, und hatte eine lange Unterredung mit einer Indianerin über empfindliche Stellen auf dem Kopf und Apachen-Rauschgifthändler, auch über Irokesen und Seminolen, glaube ich, und über den ersten Akt von Iliyu und solche Sachen; also mußte ich heute morgen hierher kommen, um alles zum Abschluß zu bringen, ehe ich Mrs. Chen besuchen gehe.« »Sie gehen hier weg?« Ihr Lippenstift war trocken. »In Kürze.« Er setzte sich in seinen Stuhl, lehnte sich nach hinten und legte seine Füße über Kreuz auf den Schreibtisch. »Rufen Sie Gerner und Collier über die Telefonzentrale an, würden Sie das bitte tun? Nein, besser noch, sprechen Sie’s in die Ruf anläge, ich möchte es auch hören. Sagen Sie: ›Mr. Odeons Büro, in genau drei Minuten‹. Und vergessen Sie nicht, genau zu sagen.« »Das ist doch nicht Ihr Ernst!« »Doch, Miss Cook, ist es. Gehen Sie also. Sonst werde ich meine Selbstbeherrschung verlieren, Sie packen und direkt hier auf meinem Schreibtisch schachmatt setzen!« Sie ging. Paul schlug die Arme übereinander und wartete, bis er ihre Stimme durch den Lautsprecher hörte. Es würde lustig sein, zuletzt diese Szene zu veranstalten, gescheite Dinge genau im richtigen Augenblick zu sagen, dreißig Gramm Fleisch von all den Pfunden auf einmal wieder herauszuziehen, die er durch seine Schreibmaschine gepreßt hatte. Lustig, aber nicht praktisch. Er 92
hatte Stier noch immer nicht kennengelernt; tatsächlich, er wußte nicht einmal genau, wo Stier überhaupt war. Magdelaine hatte etwas von Los Angeles gemurmelt und dann wieder etwas von Kanada. Und dann diese Geschichte, daß er sich heute nachmittag in Chinatown mit Mrs. Chen treffen sollte. »Du Judaspriester!« Ned Collier kam keuchend angelaufen. »Du bist ja wohl wahnsinnig!« »Ned, du bist mir lieb, denn kein anderer als nur du konnte Judaspriester sagen.« »Du bist ja wohl wahnsinnig«, sagte er noch einmal, als Gerner im Türeingang erschien. Gerners Gesicht glühte unter seinem grünen Zelluloidschirm, er stand da und pendelte steif vor und zurück, als ob seine beiden Beine geschient wären. »Ich nehme an, daß Sie alle neugierig sind, weshalb ich Sie heute morgen hier zusammengerufen habe«, sagte Paul, grinste und steckte sich eine Zigarette an. »Du meine Güte, Paul!« sagte Collier. »Mir ist es verdammt egal weshalb!« platzte Gerner heraus. Paul löschte mit einer schüttelnden Bewegung das Streichholz aus und ließ es auf den Fußboden fallen. »Ich habe etwas anzukündigen!« »Ich auch«, sagte Gerner. »Sie sind entlassen!« »Ich bin als Werbungsmanager für Stier angestellt worden.« Collier und Gerner sahen sich mit großen Augen an. »Oder, um es deutlich zu sagen, für die Reportage, die den halben Etat dieser Agentur darstellt.« Paul schnippte die Asche auf seinen Schreibtisch. »Vielleicht auch neunzig Prozent.« »Stier hat dich angestellt?« Collier ließ seine Brillenbügel über die Ohren nach vorn gleiten. »Und zwar schon gestern abend.« 93
»Na«, sagte Gerner und fingerte an seinem Mund herum, daß er sich in eine Falte legte, »das ist, ehem, schön, das ist verdammt gut!« »Ich habe viele andere Verpflichtungen, darum muß ich sichergehen, daß ich mir eine Werbe-Agentur aussuche, der ich trauen kann.« Paul schwang seine Beine vom Schreibtisch herunter und lehnte sich nach vorn. »Eine, die wahr klingt.« »Verdammt richtig«, sagte Gerner, und ein schwaches Lächeln erstarrte auf seinem Gesicht. »Der Kostenvoranschlag nur für Stierplatten beläuft sich auf etwa zwei Millionen. Vielleicht ist das mehr, als wir – ich meine, als Sie – zu handhaben gerüstet sind. Dafür werden weniger Plaketten nötig sein, weniger Slogans, aber sehr viel mehr schöpferische Fähigkeiten.« »Ja sicher, Paul, sicherlich!« sagte Collier. »Du weißt, daß wir Teamarbeit leisten …« »Ich dachte, Jerry Miller könnte die Kalkulation leiten.« »Miller?« Gerner stach mit seinem Daumennagel durch den Zelluloidschirm. »Miller. Ja. Prima Kerl. Verdammt prima Kerl.« »Dann ist das also geklärt.« Paul sprang auf seine Füße und sah über Gerners Schulter zu den Sekretären, Postjungen, Art Directors und Buchhaltern hin, die sich am Wasserkühler versammelt hatten. »Ich freue mich auf eine glückliche Ehe zwischen der Agentur und dem Auftraggeber. Gut so, Ned?« »Jawoll, mein Herr!« Collier hob Pauls schlaffe Hand hoch. »Gut so, Mr. Gerner?« Paul hielt seine Hand einige Zoll von Gerners vorstehendem Bauch entfernt. »Auf Gerner, Foss und Meyer können Sie sich verlassen. Wenn wir für jemanden arbeiten, stellen wir nicht einfach einen Haufen Annoncen zusammen, wir –« 94
»Ja ja, ich weiß, den Prospekt habe ich geschrieben …« Paul fühlte, wie Gerners feuchte Hand die seine ergriff, und er wußte, daß die Sache beendet war. Nicht schlecht. Sie hätte viel dramatischer ausfallen können, aber trotzdem, nicht schlecht Besser jetzt nichts sagen, nur lächeln und sich verabschieden. Er lächelte und verabschiedete sich. Paul ging eilig die Grant Street hinauf und beobachtete, wie sein Spiegelbild von Schaufenstern zurücksprang, die vollgestopft waren mit schwarzen Teakholzmöbeln, blauen Jade-Schachfiguren, elfenbeinernen Elefantenbrücken, einfältig grinsenden Buddhas. Jeder Häuserblock hatte einen anderen Geruch, nach würzigen Hühnchen, nach Safran, an der Sonne getrocknetem Fisch und Reiswein, Litchinüssen und Kokosnüssen, gelegentlich mit einem Hauch von SandelholzWeihrauch. An jeder Ecke standen Chinesen in ihren Überröcken und betrachteten schweigend den langen Zug von Touristen. Drei griechische Matrosen stritten sich mit einem Droschkenfahrer, ein Texaner mit einem ZehnGallonen-Hut wurde beinahe umgerannt, da er mitten auf der Straße stand und eine Teleskop-Linse in einen der drei Fotoapparate einschraubte, die ihm vor der Brust baumelten. Paul fand die Adresse, die Magdelaine ihm gegeben hatte; eine schmale Treppenflucht führte in das Kellergeschoß eines aus roten Ziegeln erbauten Warenhauses. Als er durch einen unbeleuchteten Flur ging, hörte er das Schmettern von Zimbeln, das Scheppern von Hörnern und Saiteninstrumenten und einen Chor nasaler Stimmen das vertraute Vorspiel zu Stier Nr. 2 wehklagen. Die Tür am Ende führte in einen Tanzsaal. In einer 95
Ecke drängten sich chinesische Musiker um ihre Instrumente, ohne auf die Tanzenden zu achten, die vergnügt auf und ab stampften, heulende Töne von sich gaben und in die Hände klatschten. Zwanzig oder dreißig Paare, mitten darunter ein Mädchen, das anscheinend ohne Partner tanzte. Es hatte ein kurzes weißes Seidenkleid an, das im Rhythmus an seine Oberschenkel hochflog, während es im Tempo den Stiertanz hüpfte. Die anderen gruppierten sich um das Mädchen herum und fingen an, seine Bewegungen nachzuahmen. Niemand hatte Pauls Kommen bemerkt. Er stand im Schatten eines künstlichen Kirschbaums und sah zu den jungen Männern und Frauen hinüber, die in Nischen an einer Seite des Saals saßen. Er entdeckte vier, die an ihren Handflächen rochen. Dann sah er sie. Sie stand etwa drei Meter von ihm entfernt, halb verdeckt durch einen Zweig mit rosa Papierblumen, der aus dem gewölbten Rücken eines in Keramik gearbeiteten Drachens hervorwuchs. – Sie hätte hundert Jahre alt sein können, aber sie war schön. Das Alter hatte zarte Linien in ihr Gesicht eingeätzt, ihr Haar war so straff an ihrem Hals zusammengewunden, daß es wie poliert wirkte; ihre Augen waren ruhig und dunkel, sie blinzelten nicht, als sie Mund und Nase hinter ihrem ausgebreiteten weißen Fächer verbarg. Als Paul auf sie zu ging, konnte er in ihrem weißen Brokatkleid metallisch goldene Fäden entdecken. Als er sie anredete, wandte sie den Kopf ein ganz klein wenig und sah ihm starr direkt in die Augen. »Verzeihung«, sagte er, »ich bin Paul Odeon.« Sie sah ihn starr an. »Ich komme wegen … Richard Stier.« Sie sah ihn starr an. 96
»Magdelaine hat mir gesagt, wo ich Sie finden könnte.« Sie lächelte. »Sollen wir anderswo hingehen und miteinander reden?« »Nix verstehn.« »Ehern … Sie sind Mrs. Chen?« »Nix sprechen.« »Sie sind nicht Mrs. Chen?« »Mrs. Chen da …« Sie zeigte mit ihrem Fächer auf das tanzende Mädchen in dem kurzen weißen Kleid. Wie auf Befehl verstummte die Musik. »Verzeihung, ich hatte gedacht, Sie seien ...«, Paul zuckte die Achseln, »Mrs. Chen.« Er widerstand der Versuchung, sich zu verbeugen, wandte sich um und eilte über die Tanzfläche. Er hatte Mrs. Chen gerade erreicht, als das kleine Orchester in eine wilde Fassung von Stier Nr. 3 ausbrach. »Mrs. Chen?« Das Mädchen strich sich die Haare aus der Stirn und sah zu ihm auf. »Mein Name ist Paul Odeon.« »Mr. Odeon. Gut. Es ist Mittag.« Paul sah auf seine Uhr. »Mittag. Ganz recht. Es ist zweifellos Mittag.« »Folgen Sie mir bitte.« Ihr ganzer Körper war feucht von Schweiß, ihr Seidenkleid legte sich eng an ihre Beine an, als sie ihn eine kurze Treppe hinauf in den hinteren Teil eines kleinen Studio-Apartments führte. »Bitte warten Sie hier.« Sie ließ Paul mitten im Zimmer stehen und verschwand hinter einem dreiteiligen Wandschirm. Bis auf einen kleinen Tisch und zwei Stühle am Fenster war der Raum kahl. Es war noch ein Bücherregal eingebaut, dicht gefüllt mit Büchern, die in Leder 97
eingebunden waren, alle in chinesischer Sprache. Paul steckte sich eine Zigarette an und sah aus dem Fenster; zu seiner Überraschung blickte er direkt hinunter auf einen vollendeten steinernen Springbrunnen im Mittelpunkt eines von Bäumen umgebenen Innenhofes. »Ich dachte, wir wären unten«, redete Paul den Wandschirm an. »Es scheint, daß wir im zweiten Stockwerk sind.« »Das täuscht. Dies Gebäude steht auf einem Abhang.« »Wohnen Sie schon lange hier?« »Stier hat es für mich gemietet.« »Und … Mr. Chen?« »Es sind nicht viele Möbel hier. Ich halte den Raum frei, damit ich Tanzen üben kann.« Paul schlenderte zu den Büchern hinüber und warf einen Seitenblick auf die chinesischen Zeichen. Mrs. Chen hatte wie Magdelaine ein Talent dafür, auf Fragen zu antworten und sie dabei nicht zu beantworten. »Jetzt können wir diskutieren«, sagte Mrs. Chen und kam hinter dem Wandschirm hervor. Sie hatte einen weißen Pyjama an, wie eine Judo-Uniform zugeschnitten, und winzige weiße, gestickte Hausschuhe. »Haben Sie eine Vorliebe für Weiß, Mrs. Chen?« »Es ist eine Farbe, die Stier gefällt.« »Allerdings.« »Setzen Sie sich bitte hier an den Tisch.« »Machen Sie es beruflich?« Paul hielt die gewölbte Hand unter die länger werdende Zigarettenasche. »Ich meine, ob Sie von Beruf Tänzerin sind.« »Ich tanze für Stier. In Iliyu.« »Wo ist Stier eigentlich?« Er setzte sich an den Tisch und begrub seine Zigarette in einer kleinen Schale; er hoffte, daß es ein Aschenbecher war. »Er hat etwas für Sie hinterlassen. Ich will es holen.« 98
Sie langte hinter die untere Buchreihe in dem Bücherregal und zog einen dicken weißen Umschlag hervor. »Hier … machen Sie es auf.« Paul riß eine Seite auf und schüttelte sechs Blocks Blankoschecks heraus. Sie trugen alle den Stempel der Royal Bank of Canada und jeder war mit »Richard Stier« unterzeichnet. »Auf diesen Schecks sind keine Geldbeträge eingetragen«, sagte Paul. »Ich könnte ja jeden beliebigen Betrag darauf schreiben.« »Genau das sollen Sie tun. Die Schecks werden Ihre Ausgaben decken und das Gehalt, das Sie sich selbst auszahlen möchten. Und vielleicht müssen Sie auch die Kosten für die Veröffentlichung Ihres Buches bezahlen.« »Meines Buches?« »Ihrer Erläuterung zu Iliyu.« »Ich verstehe.« Paul durchblätterte die Scheckhefte. »Jedenfalls glaube ich, daß ich es verstehe.« »Können wir mit Ihrem zweiten Adventus fortfahren?« »Adventus. Das ist das gleiche Wort, das Magdelaine gebraucht hat. Was bedeutet es eigentlich?« »Es ist eine Bewußtseinsstufe, Iliyu ist die Erfahrung von vier Stufen, Magdelaine verleiht die erste und ich die zweite.« »Dann gehören außer Ihnen noch zwei andere dazu, für den dritten und vierten Akt.« »Ja.« Paul griff in seine Tasche nach einer neuen Zigarette. »Dann waren Sie … Sie und die anderen am letzten Wochenende in Los Angeles? In der Zeitung stand etwas von einem Happening auf dem Sunset Strip. Wilde Musik. Nackte Tänzerinnen und weiße Blumen, es war ein Foto dabei.« 99
»Wir tanzen unbekleidet. Es wäre mir lieber, wenn Sie jetzt nicht rauchen würden.« »Könnte ich nicht Klartext reden? Ich meine, muß ich jetzt anfangen, weißen Lehm zu beriechen?« »Es ist äußerst wichtig, Mr. Odeon, daß Sie verstehen.« Sie löste den Gürtel ihres Pyjamas. »Ich werde den zweiten Akt von Iliyu für Sie tanzen, ehe ich Ihnen mehr erkläre. Dann wird Ihr Gemüt fröhlich sein in der Wahrheit der endlosen Wiederkehr.« Paul faßte das Scheckbündel fester, als Mrs. Chen in die Mitte des Raumes ging und ruhig aus ihrem Pyjama stieg. Die Musik von Stier klang ihm innerlich nach, als sie mit den ersten langsamen, kaum wahrzunehmenden Schwingungen des Stiertanzes begann. Paul an diesem Abend vor seiner Schreibmaschine: Es gibt nur zweierlei, was wir annehmen müssen, und die meisten von uns haben es bereits angenommen: Das erste ist die endliche Materie, das zweite ist die unendliche Zeit. Nun aber – die Anzahl der Atome im Universum ist sehr groß, größer als irgendeine Zahl, die wir uns vorstellen können. Wir wollen diese Zahl, wie sie auch heißen mag, »X« nennen. Was Du in diesem Augenblick, da Du diese Zeilen liest, erfährst, ist eine Kombination von X. Diese bestimmte Kombination von Atomen hat Dich hervorgebracht, Deine Haarfarbe, Deine Augenfarbe, Dein Gehirn, das Blatt Papier, das Du jetzt liest; kurz, alles, wie es jetzt für Dich existiert. Doch bedenke, es ist nur eine mögliche Kombination. Und wenn die Zeit unendlich ist, wird jede mögliche Kombination sich irgendwann einstellen. Nicht nur einmal, sondern unendlich oft – tatsächlich, jede mögliche Kombination (einschließlich der jetzigen, die Dich hervorgebracht hat) ist bereits unendlich viele 100
Male eingetreten! So. Was hast Du da über Sterblichkeit gesagt? Und in dieser Art setzte sich die Erläuterung zu Iliyu fort. »Bist du sicher, daß du keinen Drink haben möchtest?« Rachel tauchte das Spültuch in warme Seifenlauge und wischte damit mehrere Male über die Theke. Paul schüttelte den Kopf. »Ketchup für deinen Hamburger?« »Nein, es ist so gerade richtig.« »So. Was ist denn dann passiert?« »Es ist schwer, sich daran zu erinnern. Sie hat getanzt, das weiß ich noch, und sie fing an, weißen Lehm an ihren Körper zu reiben. Dann wurde die Musik lauter, und –« »Ich meine, du hättest gesagt, es wäre keine Musik dabei gewesen …« »Es war welche dabei oder auch nicht. Jedenfalls habe ich welche gehört. Irgendwie muß ich mit ihrem Körper in Berührung gekommen sein. Der Lehm wirkt nur, wenn er auf der Haut ist und du ihn dann riechst, verstehst du? Und wir haben von den acht Dimensionen des Sonnensystems geredet, von verschiedenen Dimensionen für jeden Planeten, die Erde als die dritte Dimension … die bembinische Tafel der Isis, das Smaragd-Täfelchen von Hermes, Hinu Samadam, die Neun des Plotinus, Nostradamus, Mithras und die Ursprünge von Pi.« »Was sind die Ursprünge von Pi?« »Der Ursprung von Pi ist im Weltall. Selbstverständlich.« »Irre.« »Aber kannst du dir vorstellen, wie es wäre, wenn 101
die Menschen anfingen, an die Wiedergeburt zu glauben? Denk doch mal, wie das auf die Zahl der Verbrechen wirken würde. Niemand würde mehr jemanden ermorden, wenn das Opfer doch die Möglichkeit hätte, das nächste Mal wiederzukommen und ihn zu kriegen! Die Lebensversicherungs-Gesellschaften wären außer sich.« »Das ist unheimlich.« »Es wird dir alles klar sein, sobald du den zweiten Akt siehst. – Aber sag mal, trotzdem, wo sind die andern alle? Greek-O? Furbish? Harvey? Ist einer von ihnen hier gewesen?« »Die sind alle unten im Hausboot und berauschen sich mit Lehm. Crimp ist diese Woche ›männlich‹ geworden und versucht mit aller Gewalt, eine Partnerin zu kriegen.« »Woher haben sie den Lehm?« »Aus dem Reservat in Nevada. Furbish und GreekO sind am letzten Wochenende auf einen Peyote-Trip hingefahren, aber die Sache wurde abgeblasen. Das heißt, keine nächtlichen Szenen mehr mit Lagerfeuern und kein Knospenkauen mit anschließendem Übelsein. Die Indianer berauschen sich jetzt ganz anders. Sunshine und Stierplatten auf transportablen Plattenspielern. An den Fingern riechen. Du verstehst, den ganzen Kram. Ich bin bloß gespannt, wann die Polizei dahinterkommt.« »Wieso? Lehm ist nicht illegal.« »Das kommt noch.« Sie zeigte auf eine Reihe Whiskyflaschen. »Die Bosse, die das Zeug herstellen, werden ein Gesetz durchbringen, wie sie’s beim Gras auch geschafft haben. – Möchtest du einen Kaffee?« »Nein, ich muß mich beeilen. Um achtzehn Uhr fliege ich nach Los Angeles.« »Um Stier kennenzulernen?« 102
»Ich hoffe. Ich habe die Adresse einer weiteren Tänzerin. Akt drei in meinem Adventus.« »Bei Gott, er ist ein fabelhafter Mann. Wenn ich seine Musik höre …« Sie sah zu dem bunten Glasfenster hinüber, das im Schein der Nachmittagssonne auf einmal hell wurde. »Der Nebel steigt.« »Ja«, sagte Paul und langte nach seiner Reisetasche. »Es sieht ganz so aus.« Drei Wodka-Martinis machten ihm den Flug angenehmer. Sie landeten in der Dunkelheit, die Lichter von Los Angeles waren durch eine dicke Schicht bläulichbraunen Smogs gedampft. Auch der Flugplatz war von beißendem Rauch eingehüllt; er trieb dünne, stechende Tränen aus Pauls Augenwinkeln, als er die Rolltreppe verließ und sich zum Taxistand begab. Er glitt in den Rücksitz des ersten Taxi in der Reihe und gab die Adresse auf der 103. Straße an. »Sie machen wohl Spaß«, sagte der Fahrer. »Wirklich?« »Dort hinaus fahre ich Sie nicht.« »Wieso nicht?« »Ich bin kein Nigger.« »Das hab’ ich gesehen.« »Hören Sie mal, mein Lieber, ich weiß schon, Sie sind wahrscheinlich gerade aus einem Flugzeug ausgestiegen; aber lesen Sie keine Zeitung? Das Gebiet da unten ist gesperrt.« »Ich muß dort aber hin.« »Ohne mich.« »Sie wollen mich nicht hinbringen?« »Da wetten Sie ruhig um Ihren Hintern.« Paul seufzte, öffnete die Tür und stieg aus. Er ging die Reihe der Taxis entlang, bis er zu einem kam, dessen Fahrer ein Neger war. 103
»Ich möchte zur 103. Straße«, sagte Paul. »Haben Sie ’n Passierschein?« »Was ist ein Passierschein?« »Ohne Passierschein kommen Sie nicht rein, die Polizei will da unten keine Weißen haben. Um diese Zeit sind die Aufstände, Mann.« »Ich verspreche, keinen anzufangen.« Der Fahrer grinste. »Wie krieg ich einen Passierschein? Für Geld?« »Kann sein. Wenn wir ’n weißen Polizisten finden. Wieviel haben Sie?« »Massenhaft.« »Dann also rein.« »Klasse!« Die Luft schmeckte nach Kohlenstoff und Benzin, als sie die Straße hinunterfuhren. Aufstrahlende Neonlampen, von den Fenstern reflektiert, zeichneten meterlange »Hot Dogs«, umkreisten Bierzeichen, wurden zu den Gesichtern von Gebrauchtwagenhändlern, schrieben unmögliche Nachrichten wie beispielsweise »Ocean Spray Manor« und »Bei Air View Motel«. Eine schräge Rampe führte in einer Rundung durch ein Bauprojekt der Regierung bis an die Grenze von Watts. Dort war aus Metallstangen und Stacheldraht ein kunstloses Tor errichtet worden, unterhalb dessen zwei behelmte Beamte des Polizeidepartments von Los Angeles standen. Der eine hatte ein leichtes Maschinengewehr, dessen Kolben auf seiner Hüfte ruhte, der andere zog mit seiner Taschenlampe kleine Halbkreise, als das Taxi auf einen Halteplatz zufuhr. »Machen Sie’s in Ruhe ab«, sagte der Fahrer. Paul griff eben nach seiner Reisetasche, als der Polizist mit der Taschenlampe, ein Weißer, den Strahl auf den Rücksitz richtete. 104
»Wohin?« fragte der Polizeibeamte. »Da rein«, zeigte Paul. »Warum?« »Jemanden besuchen.« »Passierschein?« »Nein.« »Dann, bei allen Teufeln, machen Sie sich hier aus dem Staube.« »Ich dachte, ich könnte einen kaufen …« Paul öffnete seine Reisetasche und fing an, Zwanzig-DollarScheine herauszufächern. »Ist Ihr Leben sechzig Dollar wert?« »So ungefähr.« »Ich sage, es ist achtzig wert.« »Einverstanden.« Paul faltete vier Zwanzigerscheine zusammen und gab sie dem Beamten, der ihm dafür ein Blatt gelbes Papier hinhielt. »Unterschreiben Sie das«, sagte er. »Was ist das?« »Da steht drauf, daß Sie auf eigene Gefahr reingehen. Viele Nigger sind gewaltig auf eine weiße Haut aus, die sie vor ihren Kamin legen können.« Paul warf einen kurzen Blick auf den dünnen Aufdruck oben auf dem Blatt, etwas über das kalifornische Aufruhr-Statut von 1973, dann unterschrieb er. Der Beamte stopfte das Papier in seinen Handschuh und beleuchtete mit seiner Lampe den Fahrer. »Sie wohnen da drin?« »Nein, ich –« »Dann sehen Sie zu, daß Sie in zwanzig Minuten wieder hier sind. Sonst kommen Sie heute abend nicht mehr raus. Kapiert?« »Jawohl.« Das Tor wurde geöffnet. Das Taxi kroch hinein. »Wie lange ist Watts schon so abgesperrt?« fragte 105
Paul und blickte durch das Fenster, auf die dunklen Straßen. »Schon lange. Seit dem letzten Aufruhr.« »Ich wußte gar nicht, daß es wirklich umzäunt ist …« »Die Handelskammer gibt’s nicht richtig bekannt.« Es brannten keine Straßenlaternen, aber sogar in der Dunkelheit konnte Paul flüchtig die Männer sehen, die in den Toreingängen standen. Manche waren schwarz gekleidet, andere hatten bunte Tuchstreifen um den Kopf gewickelt. »Moslems«, sagte der Fahrer. »Haben alles ziemlich so gekriegt, wie sie’s wollten. Alles Schwarze.« Das Taxi eilte an leeren Schaufenstern vorbei, an Reihen von teilweise ausgebrannten Häusern, welche die Straßen wie verfaulende und zerbrochene Zähne einfaßten. Eine Flasche knallte gegen die Motorhaube. Der Fahrer fluchte und preßte seinen Fuß nach unten gegen das Gaspedal. Als Paul in der 103. Straße aus dem Wagen sprang, zahlte er mit einem Zwanzigdollarschein und wies das Wechselgeld mit einer Handbewegung zurück. Es war ein reichliches Trinkgeld, aber es gingen ihm andere Dinge durch den Kopf. Beispielsweise hatte er momentan große Angst. Ein wütendes Gebell vom Nachbarhaus her trieb ihn die Treppe hinauf. Er klopfte mit beiden Händen an die Tür und sah über seine Schultern zurück, als irgendwo ein zweiter Hund bellte und dann ein dritter. Da das Hundegeheul ihm in den Ohren klang, hielt er sich dicht an die Tür und wäre fast hingefallen, als sie sich vor ihm auftat. »Die Hunde könn’n dich riechen.« Sie faßte nach seinem Arm. »Besser, du schiebst dein’n weißen Arsch über die Türschwelle …« 106
»Jawohl!« Er jagte hinein und schloß selbst die Tür. »Knall die Tür nicht so, Baby, du machst ja die Nachbarn wach.« Er schaute nach unten und dem schwärzesten Mädchen ins Gesicht, das er jemals gesehen hatte. Und klein war sie. Sie reichte ihm kaum bis zum Brustkasten. »Bin ich an der richtigen Stelle?« Er ließ den Türknauf los. »Das is der Ort …« Sie trat von ihm zurück, als ob sie ihn besser sehen wollte, und ihre Augen musterten seine Gestalt von den Füßen bis zur Stirn. Pauls Augen taten das gleiche, nur in umgekehrter Reihenfolge. Sie hatte dicke Lippen, breite Nüstern und eine so schwarze Haut, daß ihre Zähne und Augen zu leuchten schienen. Ihre schmale Taille ließ Brust und Hüften unangenehm groß wirken, und der weiße Stoff ihrer Bluse und der Shorts war straff genug gezogen, daß man das schräggenommene Gewebe sehen konnte. »Mann, du siehst dir ’n Mädchen wirklich an!« Sie legte den Kopf seitlich und lachte; ihre Wangen wirkten dabei im Schimmer der unbedeckten elektrischen Birne über ihnen bläulich. »Verzeihung«, sagte Paul. »Ich habe einfach auf deinen Körper geschaut.« »Is es auch nix and’res?« Sie rieb sich mit den Händen über ihren Bauch und fing von neuem an, in sich hineinzulachen, die Zunge zwischen den Zähnen. »Ich bin Winnie. Du bist Paul?« »Ja. Mrs. Chen in San Francisco gab mir ein –« »Weiß schon, weiß schon. Komm mit nach hinten. Da sind keine Hunde.« »Wird Stier, Richard Stier, später hier sein?« »Nein, Baby. Bloß du un’ ich heut’ Abend.« Paul spürte eine Erektion und brachte eine Entschuldigung vor, daß er seine Hand in die Hosentasche 107
schob – und zog schnell ein Taschentuch heraus, als Winnie wieder hersah. »Haste Schwierigkeiten gehabt, reinzukommen?« »Reinzukommen?« »Haste ’n Passierschein?« »Ich hab’ einen gekauft.« »Is nich mehr viel hier unten. Hab’ fast alles gepackt.« Das hintere Zimmer war – wenigstens früher einmal – eine Bücherei. Die Wände waren mit Eichenholz getäfelt, der Fußboden bestand aus genageltem und poliertem Holz. In einer Ecke stand ein Feldbett mit orangefarbenen Decken unter einem Dutzend Reihen leerer Bücherbretter; an einer Seite des schwelenden Kamins waren Koffer säuberlich aufeinandergestellt. »Hab’ die meisten Möbel weggegeben«, sagte Winnie grinsend. »All mein Zeug is in den drei Koffern.« »Sag mir nichts, laß mich raten!« Paul steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie anzuzünden, und fing an, einen kleinen Kreis in der Mitte des Raumes abzuschreiten. »Stier ist nicht hier, weil er nie vorgehabt hat zu kommen, stimmt’s? Und du trägst Weiß, weil er das gern hat, stimmt’s? Du wirst mir was über den dritten Akt von Iliyu sagen, und du wirst mich dazu auffordern, daß ich mich hinsetze und zu verstehen versuche; und wenn ich’s nicht verstehe, wirst du mich an weißem Lehm riechen lassen.« »Immer die Ruhe bewahr’n, Junge.« Winnie beugte ihre Schultern vor, ging grotesk wie eine Ente zum Bett und setzte sich. »Ich hatte erwartet, daß ich ihn antreffen würde.« »Selig sind die, die glauben un nich gesehn werden!« Sie lachte und fing an, in die Hände zu klatschen. »Frollein, Frollein!« »Verarschst du dich gern selbst?« 108
»Was meinste?« »Ich warte gerade darauf, daß du mir ein Brathühnchen und eine Wassermelone anbietest!« Winnie kicherte und lehnte sich zurück auf die Ellenbogen. »Baby, jetzt weiß ich, warum er dich ausgesucht hat!« Paul zerbröckelte die Zigarette zwischen den Fingern und warf sie in den Kamin. »Nur damit es gerecht ist, Winnie, ich denke, du sagst mir, warum Stier dich ausgesucht hat?« »Bei dir führt der Kopf, sicher.« »Wirklich, ich möchte es gern wissen. Wie bist du mit der Oper in Verbindung gekommen? Und mit Stier?« »Er hat mich ausgesucht, das is alles.« »Was warst du vorher? Ich meine, ehe du in der Oper getanzt hast?« »Beste Matratze vonner Hunnertdritten Straße.« Sie zog die Knie bis ans Kinn hoch und fing an, oben an ihren Shorts zu zerren. »Für Geld?« »Das kannste wohl annehmen.« »O. K. Ich gebe auf. Es wäre enttäuschend, wenn irgendwas jetzt einen Sinn gäbe.« Paul lehnte sich gegen den Kamin zurück. »Ziehst du dich aus?« »So schnell wie’s geht …« »Für den dritten Akt?« »Mmh.« »Ich muß gestehen«, meinte Paul und griff wieder nach seinem Taschentuch, »daß ich etwas weißen Lehm brauchen könnte.« »Kein weißer Lehm diesmal, Baby …« Winnie beugte sich vor und fing an, ihren Büstenhalter aufzuhaken. »Du un’ ich ha’m ganz allein ’n Adventus, gleich.« Er fühlte die kühle Haut ihrer Beine an seinen eige109
nen, und er konnte in der Dunkelheit ihre weißen Zähne sehen, wenn sie redete. »Un’ als er Lehm entdeckt hat, fängt Iliyu an, über Sachen anders zu denken. Wie er gelebt vorher hat, irgendwo, viel früher. Un’ er is ganz durcheinander, weil er seine Partnerin sucht, un’ jede die er findet, scheint nicht die Richtige zu sein. So geht er wieder hin, wo alles angefangen hat, zu den vier Flüssen. Da war’n Weiße aus Urpurt, Kaiin, Sigrix, Shalbir un’ Quest, oben im Norden von Ruta.« »Wo, Winnie, war diese Stelle?« »Zwischen England – hieß damals Lyonesse – un’ den Vereinigten Staaten von Amerika.« »Atlantis …« »Stier sagt, wir wern’s bald sehn können, ’s wird wieder aus dem Meer raufkomm’n. Jedenfalls, sinta bloß noch weiße Leute, die roten sin’ schon gegangen nach Mexiko un’ Ägypten. Drum sin’ auf diesen alt’n Bildern auf Mauern von den Pyramiden rote Leute, sin’ alle von Ruta gekommen. So sin’ die schwarzen Leute von Kusmin gekommen, un’ sie hab’n alle weißen Leute zu Sklaven gemacht.« »Haben die Weißen keinen Kampf angefangen?« »Sie war’n zu zivil’siert dazu. Etwa, sie war’n so hoch über gewöhnlichen Leuten wie heute Menschen über Tier’n. Baby, sie ging’n nich mal zusamm’n ins Bett, Kinder zu mach’n, sie hatt’n sogar andre Methoden für das. Die Schwarzen ha’m das bloß nich’ gewußt, drum ha’m se überall Liebe gemacht. Das is, wie alles angefang’n hat, alle die Angst, die ihr weiß’n Leute habt vor uns schwarzen. Is keine Frage von Bürgerrecht’n; is einfach, de weiße Rasse is bange vor Vergewaltigen oder so was.« Paul stützte sich auf einen Ellbogen. »Du tust eine bewundernswürdige Arbeit.« 110
»Da, hier is der große Schalter, verstehst du? Nach der Invasion fang’n die Weißen an un’ denk’n mit ein’m andern Zentrum. Sie ha’m nich mehr GeistBewußtsein; sie fang’n an un’ kriegen KörperBewußtsein. Un’ für de schwarzen Leute von Kusmin is’ es grade andersrum. Drum gehn wir Schwarzen noch rum un’ jammern von ›soul‹. Wir ha’m SoulEss’n un Soul-Musik un’ all das vermengt. Wir haun noch auf de falsche Trommel.« »Und die roten Leute? Was hatten die für ein Bewußtsein?« »Hab ich dir gesagt, de roten Leute sin’ eher weggegang’n. Se war’n was Besondres, se hatt’n ne geheime Art, alles zu mach’n. Weißte, wie se de Pyramiden gebaut ha’m? Alle de schwer’n Steine gehob’n? Mit Schall! Redst mal mit Magdelaine drüber, ihre Leute war’n alles rote Leute.« »Dann läuft es also darauf hinaus, daß die Weißen vor schwarzem Sex Angst hatten.« »Un’ wie! Da is de große Ausgrabung im Boden, drüb’n in England heißt se ›Der Riese von Cerne Abbas‹. Zeigt den Kerl mit ’ner Keule in der Hand, un er steht mit sein’m aufgerichteten Ding da. Hu! De weiß’n Leute war’n bange! Aber im dritt’n Akt is’ Iliyu nich’ mehr bange, nachdem er lernt, daß er mit jeder Frau verheiratet is’, un’ jede Frau is verheirat’ mit jed’n Mann.« »Klingt wie eine große Familie.« »Keine Familjen nich’ mehr, Baby, das is’ die ganze Idee. Vielleich’ gehn wer jetzt gleich das Ganze noch mal durch. Fast keiner heirat’ nich’ mehr, wenigstens bleib’n se nich’ verheirat’. Stier sagt, ganz bald wer’n de Leute Kinder mach’n könn’, ohne zusamm’ ins Bett zu gehn un’ ohne daß de Frau in andre Umstände kommt. Kinder wer’n außen geborn. Da müss’n de 111
Leute lern’n schöpferisch zu sein, wenn se miteinander schlafen, un’ nich’ mehr mit ’n schlecht’n Gewiss’n, daß se keine Kinder machen dabei. Das is’ in’n dritt’n Akt, Baby, ’ne richtige Seelenvermischun’ von all’n Leuten mit verschiedner Farbe. Glaub mir, Baby, ’s wird passier’n … Winnie bestand darauf, daß sie morgens den Western Airlines Kommuterflug 741 nähmen. Auf dem Weg zum Flugplatz sagte sie kaum etwas, und gleich nach dem Start schlief sie ein. In der Tasche hinter dem Sitz vor ihm fand Paul zwischen einer Karte mit den Sicherheitsregeln und dem papiernen Speibeutel eine Ausgabe von Time. Auf dem Titelblatt war ein Foto des Gouverneurs zu sehen, und das Magazin war hauptsächlich den Prognosen für die Präsidentenwahl 1980 gewidmet. In dem als »Modernes Leben« bezeichneten Teil stand ein Artikel über Stiermusik. STIERMUSIK – DAS ECHO VON MORGEN Zuerst war es Elvis, der zu einer elektrischen Gitarre mit Stahlsaiten die Hüften schwang. Dann kamen die Beatles, und »Sergeant Pepper’s Lonely Hearts Club Band« gab der Bezeichnung »langes Haar« eine neue Bedeutung. Ganz Amerika hatte Flausen im Kopf mit elektronischem Schall, aufblitzenden Lichtern und den bizarren Riten der psychedelischen Ära. Aber all das waren nur die ersten Lüftchen des Sturmes, der vom Norden herunterblasen sollte. Es hat keinen Monat gedauert, bis Stiermusik eine nationale Einrichtung wurde und für Teenager fast eine Religion. Der Rock’n Roll ist tot. Es lebe Stier! Wie dauerhaft ist diese Revolution in Tönen? Die Zyniker der älteren Generation meinen, sie sei kurzle112
big und werde bald ebenso in Vergessenheit geraten wie Boogie-Woogie, wie der Twist, die Folk-Welle und der Rock’n Roll. Sie warnen vor ihrem Einfluß auf Jugendliche, ja manche bezeichnen Stiermusik sogar als ein Narkotikum. Tatsächlich ist an der Westküste berichtet worden, daß Teenager angefangen haben, sich mit Drogen »anzutörnen«, die so mysteriös sind wie diese Musik. Doch solche Stimmen verlieren sich in den Tönen und der Raserei, die der »Wundermann des Nordens« hervorgerufen hat. Amerika schwingt sich im Stiertanz, und die meisten Eltern wetteifern mit ihren Kindern, um auf der Tanzfläche Platz zu finden. Vor einigen Jahren erklärte uns ein anderer Kanadier, Marshall McLuhan, unsere Gesellschaft befinde sich mitten in einer Revolution des Fühlens. Wegen des Fernsehens und anderer elektronischer Medien, sagte er, wiesen wir lineare Formen der Erfahrung zurück zugunsten einer unmittelbaren, totalen Erfahrung. Doch wenn wir gestern gefühlt haben – heute hören wir. Und, Mr. Stier, wo Sie auch sein mögen, wir schenken nur Ihnen Gehör. »Hätten Sie gern einen Kaffee?« Paul sah zu der Stewardeß auf. »Fast hätte ich Sie beide hier hinten übersehen«, sagte sie. »Sicherster Platz bei einem Absturz.« »Ich glaube, darum brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.« Sie lächelte und steckte eine Strähne silberblonden Haars unter ihre Kappe. »Schläft sie?« »Ja.« »Winnie macht das immer so …« Paul klappte die Zeitschrift zu. »Sie kennen sich?« »Ja. Ich heiße Terhikki. Und Sie sind Paul Odeon?« 113
»Bingo!« »Wie?« »Sie tanzen im vierten Akt von Iliyu.« »Ja, hat Winnie Ihnen das nicht gesagt?« Sie wandte sich nach vorn, als ein Summton von der Deckentäfelung im vorderen Teil des Flugzeugs ertönte. »Entschuldigen Sie, ich komme gleich wieder. Dann können wir miteinander reden.« Paul sah ihr nach, als sie den Mittelgang hinunterging. Deshalb also wollte Winnie den Flug 741 nehmen, aber warum rückte sie nicht damit heraus und sagte ihm den Grund? Winnie bewegte die Beine ein wenig, doch ihre Augen blieben geschlossen. Paul überlegte, ob er sie wecken sollte, wies den Gedanken aber zurück, als er Terhikki wieder in den hinteren Teil des Flugzeugs kommen sah. Er versuchte, sie sich vorzustellen, wie sie ohne ihre Stewardessen-Uniform aussehen würde, das blonde Haar nicht mehr hochgesteckt, sondern über ihre Schultern herabfallend, die schlanken Arme erhoben, für den Stiertanz bereit. Selbst ohne die anderen, dachte er, würde sie dem vierten Akt einen ungeheuer erregenden Höhepunkt verleihen. »Ich kann ein paar Minuten hierbleiben«, sagte sie und sah auf ihre Uhr. »Wir werden sehr bald in San Francisco landen.« »Ich nehme an, daß Sie nicht rauchen dürfen«, sagte Paul und schüttelte sich eine Zigarette aus der Packung. »Ich bin Nichtraucher.« »Weißer Lehm?« »Meistens.« »Die Frage scheint vielleicht dumm«, sagte Paul und brannte ein Streichholz an, »aber wie paßt eine Stewardeß namens Terhikki von den Western Airlines in den vierten Akt von Iliyu?« 114
»Manchmal wundere ich mich selbst.« Wenn sie lachte, schienen ihre Augen die Farbe zu wechseln und wirkten allmählich nicht mehr tiefblau, sondern violett. »Früher habe ich nie getanzt, bis ich in der Stratforder Aufführung von Iliyu tanzte. Es kommt nur daher, daß ich Stier kennenlernte, und er hat mich dazu ausgesucht.« »Wo haben Sie ihn kennengelernt?« »In Kanada, in einem Flugzeug. Er war Passagier. Ich bin in Finnland zu Hause, und damals habe ich als Stewardeß bei SAS gearbeitet. Er richtete es ein, daß ich hierher versetzt wurde, damit ich in der Lage war, weiter für Iliyu zu proben.« »Waren Sie an jenem Abend mit den anderen in Los Angeles? Sie wissen doch, die Polizisten und die Blumen.« »Ja. Aber es war reiner Zufall, daß ich dort war. Ich hatte zwei Tage in der Sternwarte am Griffith Park verbracht.« »Und was taten Sie da?« »Ich studierte den Himmel und was man vom Himmel aus sehen kann.« Paul sah aus dem Fenster. »Es wäre wirklich eine Freude, wenn der Smog sich einmal heben sollte.« »Viele sonderbare Dinge kann man nur aus der Luft sehen. Wie die Berge in den Anden, die die Formen von Gesichtern haben. Und die geometrischen Muster auf den Ebenen von Nazca. Oder die gepflasterte Landstraße, die von Kanada nach Peru führt.« »Klingt nach Straße 101.« »Nein, diese ist großenteils von Gras und Bäumen überwachsen. Aber nach der Kohlenstoff-Analyse ist sie schon gebaut worden, ehe man das Rad erfunden hatte.« »Mmm.« Paul sog an seiner Zigarette. 115
»Sie haben doch sicher schon etwas über die Landkarten von Piri Reis gehört …« »Peewee Reese?« »Piri Reis. Das war ein türkischer Marineoffizier. Er hat im neunzehnten Jahrhundert der Kongreßbücherei eine Sammlung von Landkarten übergeben, die er entdeckt hat. Manche davon stammen noch aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Diese Landkarten enthalten genaue Zeichnungen aller Länder der Erde, sogar die Umrisse der Antarktis, die von der Marine der Vereinigten Staaten erst vor ein paar Jahren ausgemessen wurde. Die Beobachtungen, die diese altertümlichen Landkarten enthalten, können nur aus der Luft gemacht worden sein.« Paul nickte und sah aus dem Fenster, auf den Klumpen grauen Dunstes über Salinas. »Stier hat mir von den Eskimos erzählt.« Terhikki schaute rasch den Gang hinunter und wandte dann ihre Aufmerksamkeit den Falten zu, die sich auf Pauls Stirn bildeten. »Sie haben eine Sage, daß ihre Vorfahren früher im Orient gelebt haben und daß einige von ihnen durch riesige metallene Vögel zum Norden gebracht wurden. Und die Archäologen haben im Norden Gegenstände aus Knochen und Steinen gefunden, die genau den Funden gleichen, wie sie in der Mongolei und auf Ceylon gemacht wurden.« »Was beweist das alles?« »Nichts. Aber es wird zum Verständnis der Himmelsleute beitragen als derer, die vordem hier gelebt haben.« Paul verschluckte einen Mund voll Rauch. »Wenn Sie ›Himmelsleute‹ sagen, beziehen Sie sich auf die Oper, nehme ich an.« »Es hat Weiße gegeben, die vom Himmel her kamen. Die Indianer von Mexiko wissen das; sie hielten die spanischen Forschungsreisenden für die wiederkeh116
renden weißen Himmelsleute. Ihr mächtigster Gott war Quetzalcoatl. Wußten Sie schon, daß er weiß war? Und daß er einen roten Bart hatte?« »Kommt das alles im vierten Akt vor?« »Ich kann jetzt nicht den vierten Akt für Sie tanzen.« Sie fuhr sich rasch mit der Hand über den Körper, als ob sie sich auszöge. »Das wäre absolut gegen die Bestimmungen der Fluggesellschaft. Aber … irgendwann werden wir zusammen sein, bald, und Sie werden Ihren vierten Adventus haben.« »Es gibt nur ein oder zwei –« »Entschuldigen Sie, wir bereiten uns auf die Landung vor. Bitte haken Sie Ihren Sicherheitsgurt ein und machen Sie alle Zigaretten aus.« Sie sah im Fortgehen über ihre Schulter zurück und winkte ihm einen kleinen Gruß zu. »Ich hoffe, daß Sie noch einmal mit uns fliegen. Bald.« Sie landeten auf dem ›San Francisco International‹ gerade rechtzeitig für den dritten Weltkrieg. Beinahe den dritten Weltkrieg. Er war schon seit langer Zeit im Entstehen begriffen. Es hatte in den sechziger Jahren angefangen, als man amerikanische Truppen zu einer Blitzoffensive nach Vietnam geschickt hatte, damit sie das Land vom drohenden Kommunismus befreiten, der durch nordvietnamesische Teenager in schwarzen Pyjamas verkörpert wurde. Jahre danach konzentrierte Amerika seine kriegerischen Bemühungen – um starke Truppenverluste zu rechtfertigen und um den wirtschaftlichen Aufstieg nicht zu gefährden – auf Laos, Kambodscha, Thailand und ein unbekanntes Gebiet an der chinesischen Grenze, das nicht einmal der Funkdienst richtig buchstabieren konnte. 117
Es wurde einfach »der Krieg« genannt. Die Drohung einer direkten nuklearen Konfrontation mit China war das, was 1972 bei der Präsidentenwahl den Ausschlag gab, und da neue Wahlen – kaum mehr als ein Jahr später – bevorstanden, verging kaum eine Woche, in der die Verwaltung nicht einen feindlichen Anschlag zur Zerstörung der Demokratie aufdeckte. Diesmal schien es Ernst zu werden. Man hatte in San Bernardino vier Orientalen erwischt, die dort versuchten, die Saint-Andreas-Verwerfung loszusprengen und so einen Erdrutsch in Gang zu bringen, der San Francisco, Los Angeles, ja alles, was westlich der Verwerfungslinie lag, ins Meer stürzen würde. Offensichtlich war dies die Einleitung eines Angriffs im großen Maßstab. Der Flugplatz war auf den Krieg vorbereitet. Männer von der Nationalgarde standen am Gepäckschalter Wache und hielten die Gewehre bereit. Zwei mittelschwere Panzer, hastig mit Netzen getarnt, standen der Taxi-Reihe am Eingang gegenüber. Eine Reihe behelmter Polizisten lehnte sich gegen eine anwachsende Schar von Passagieren, die wegen plötzlich abgesagter Flüge wieder abgesetzt worden waren. »Glaubste, diesmal werfen sie wirklich was ab?« fragte Winnie und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Ich bin nicht davon überzeugt. Sehen wir mal, ob wir ein Taxi kriegen können.« »Ulkig, wenn sie’s diesmal wirklich stoppen.« »Hysterisch. Fährst du nach Sausalito?« »Ich soll bei Magdelaine in Stiers Haus sein, da könn’ wir die Proben anfang’n. Herrje, bin ich verschlafen …« Jedes Taxi wurde von einem Soldaten in Kampfausrüstung bewacht. Paul sah auf, als ein dichtes Dreieck von Düsenjägern über den Flugplatz kreischte, dann 118
griff er nach seiner Reisetasche. Er würde zum zweiten Male innerhalb vierundzwanzig Stunden einen Passierschein extra bezahlen müssen. Um neunzehn Uhr und fünf Minuten verstummte an diesem Abend der Rundfunk nach einer knappen Ankündigung, daß nur noch offizielle Mitteilungen der Regierung gesendet würden. Auch mit dem Fernsehen war es vorbei – sämtliche Sender zeigten lediglich – ohne Ton – ein Bild des Präsidenten und die amerikanische Flagge. Paul stand in der Dunkelheit und sah hinaus zu dem dämmerigen Abhang. Nach sieben Gläsern Weißwein wurde er schläfrig und ging zu Bett. Er träumte nicht. Ja, er wußte, daß es jetzt Morgen war, und er wußte auch, daß er wach war. Er wußte, daß er die Augen nicht auf tun wollte. Er bewegte sein Gesicht von dem Flecken kalten Schweißes zurück, der sein Kopfkissen kühl machte, und zog den Rand der Decke hoch, um sein Ohr zuzudecken. Im Rundfunk war hin und wieder die atmosphärische Elektrizität als Knattern zu hören, und von irgendwo in weiter Ferne kam das hohle Dröhnen von Düsenjägern, die zum Meer hin flogen. Sonst war alles still: kein Verkehrslärm, kein Vogelgezwitscher, kein Flüstern des Windes in den Bäumen. Er dachte an Beebee. Ob sie Angst hatte? Das unvernünftige Kind wußte wahrscheinlich nicht einmal, was eigentlich vor sich ging. Vielleicht war sie zu den Wäldern von Tahoe hinaufgegangen. Oder sie war im Keller von irgend jemandem, wie einmal, als sie zwei Jungen aus dem College diese Lamelle mit einem Tonband um ihre Stirn wickeln und Fernsehbilder direkt in ihr Gehirn übertragen ließ und dann la119
chend von der Hundefutterreklame erzählte, die sie sah. »BÜRGER DER VEREINIGTEN STAATEN …« Paul stürzte aus dem Bett, rannte zum Radio und drehte es auf größere Lautstärke. »EINE ANKÜNDIGUNG DES VERTEIDIGUNGSMINISTERS.« Paul wischte sich die Handflächen an seinem TShirt ab. »UNSERE NATION STEHT WEITERHIN IN HÖCHSTER ALARMBEREITSCHAFT. BIS JETZT IST KEINE FEINDLICHE AKTION GEMELDET WORDEN, DOCH ES WERDEN ALLE SCHRITTE UNTERNOMMEN, UM DIE SICHERHEIT UNSERER REPUBLIK ZU GEWÄHRLEISTEN. WIR SIND VORBEREITET. SÄMTLICHEN ANGRIFFEN WERDEN WIR MIT DEN VOLLEN UND FURCHTBAREN VERGELTUNGSAKTEN BEGEGNEN, ÜBER DIE WIR VERFÜGEN. UND UNTER DER FÜHRUNG GOTTES UND UNSERES PRÄSIDENTEN WERDEN WIR SIEGEN!« Paul kroch zum Fenster hin, zog den Vorhang zurück und sah vorsichtig hinaus. »UM DEN ENTSCHEIDENDEN TRANSPORT VON SOLDATEN UND VERSORGUNGSGÜTERN zu ERLEICHTERN, HABEN SIE FOLGENDE ANORDNUNGEN ZU BEFOLGEN: ERSTENS. GEHEN SIE NICHT ZU IHRER ARBEITSSTELLE, WENN SIE NICHT IN EINEM FÜR DIE VERTEIDIGUNG WESENTLICHEN GEWERBE BESCHÄFTIGT SIND. ZWEITENS. FÜR ZIVILISTEN IST KEIN FAHRZEUGVERKEHR ERLAUBT. FALLS SIE JETZT IN IHREM WAGEN SITZEN, FAHREN SIE DIREKT ZU IHRER WOHNUNG ODER ZUM NÄCHSTLIEGENDEN OFFIZIELL BEZEICHNETEN SCHUTZGEBIET. DRITTENS. BLEIBEN SIE IM HAUSE. HALTEN SIE SICH VON FENSTERN UND ANDEREN ZERBRECHLICHEN GEGENSTÄNDEN FERN. VERMEIDEN SIE JEDEN UNNÖTI-
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GEN VERBRAUCH VON WASSER UND VON ELEKTRISCHEM STROM. VIERTENS. SEIEN SIE WACHSAM. MELDEN SIE JEDE VERDÄCHTIGE TÄTIGKEIT SOFORT DEM DIVISIONSKOMMANDEUR IHRES GEBIETES. FÜNFTENS. LASSEN SIE IHR RUNDFUNKGERÄT FÜR WEITERE ANSAGEN AUF DIESER FREQUENZ EINGESTELLT. MEINE DAMEN UND HERREN, DAS STERNENBANNER …«
Paul dachte daran, sich anzukleiden, zog aber stattdessen rasch sein T-Shirt aus und ging nackt zum Kühlschrank. Der Weinkrug war leer. Er holte eine Rolle Salami und zwei Scheiben Roggenbrot aus dem Kühlschrank, ging wieder an seinen Schreibtisch und setzte sich hin. Er knabberte an der Salami. Vielleicht würden sie diesmal wirklich was abwerfen. Was für ein Idiot war er doch! Ein Dutzend Gelegenheiten, sich etwas weißen Lehm in die Tasche zu stecken, und er landete bei einem Salami-Sandwich. Winnie war jetzt wohl mit Magdelaine auf dem Bergrücken, vielleicht war Mrs. Chen auch dabei. Und Terhikki, wo war die? Paul hörte Ginger an der Tür kratzen; er machte sie gerade so weit auf, daß der alte Hund hereinwatscheln konnte. »Wenn ich jemals eine ›verdächtige Tätigkeit‹ gesehen habe, dann bist du eine«, sagte er und brach ihm ein dickes Stück Salami ab. »Wenn du wieder mit deinen Blähungen anfängst, werde ich dich sofort nach draußen zurückschicken, in die Schußzone.« Ginger versuchte, das Wurststück in der Luft zu schnappen, fand es nicht und ließ es zwischen ihre Läufe fallen. »He, das nenne ich Eifer, Ginger! Ich wette, du warst früher mal ein Zirkushund, oder?« 121
Ginger blinzelte, ging dann unter Schmerzen im Kreis herum, ehe sie sich hinlegte, die Nase nicht weiter von dem Stück Salami entfernt, als daß sie es mit der Zunge erreichen konnte. Paul dachte daran, in der Agentur anzurufen, doch dann überlegte er sich, daß niemand da sein würde. Höchstens Gerner vielleicht, bei einem Versuch, seine verdammte Münzensammlung zu retten. Er biß ein Stück Brot ab und streifte sich langsam seine Armbanduhr über. Neun Minuten vor zwölf Uhr mittags. »HIER IST DER SENDER KANADA. CBC SENDET JETZT EINE NACHRICHT VON MR. RICHARD STIER …« Paul starrte das Radio an und hörte auf zu kauen. »GUTEN TAG ALLEN FRAUEN UND MÄNNERN DER VEREINIGTEN STAATEN. DA DIE MEISTEN VON IHNEN JETZT FURCHTSAM UND VERBORGEN SIND, MÖCHTE ICH IHNEN BERICHTEN, DASS HEUTE SEHR WAHRSCHEINLICH EIN GUTER TAG IST. DER HIMMEL ÜBER KANADA, DER JA AUCH IHR HIMMEL IST, ERSCHEINT KLAR. KEINE FLUGZEUGE, KEINE RAKETEN, NICHT EINMAL EIN UNGLÜCKLICHER VOGEL BERÜHRT DIE UNENDLICHEN MENGEN SÜSSER UND REINER LUFT. BEDENKEN SIE DAS! DIE ERDE KANADAS, DIE AUCH IHRE ERDE IST, ATMET LEBENSKRAFT AUS. KRISTALLE FRISCHEN WASSERS GLITZERN AUF DEN BAUMWURZELN, SAFTGESCHWOLLENE GRASHALME DRINGEN DURCH DEN SIE BESTÄUBENDEN FRÜHLINGSSCHNEE, UM SICH DER SONNE ZU ZEIGEN. TIERE BERÜHREN EINANDER LIEBEVOLL UND ZEICHNEN TANZENDE MUSTER AUF DEN WALDBODEN. BEDENKEN SIE DAS! KONZENTRIEREN SIE SICH NICHT LÄNGER AUF TOD, VERBRENNUNG UND ASCHE, DIE NACH FURCHT KLINGEN! DENN DAS, WORÜBER SIE NACHDENKEN, SOLLEN SIE HÖCHSTWAHRSCHEINLICH EINMAL WERDEN. SO 122
WERDEN SIE DENN WIE SCHNEEKINDER! TUN SIE IHRE AUGEN UND HÄUSER AUF! RÜSTEN SIE IHRE BEINE ZUM TANZ! FEIERN SIE JETZT DAS FEST DIESES TAGES!«
Die sanfte Stimme hörte auf zu sprechen. Einige Pulsschläge Stille. Dann einzelne Laute von Tenortrommeln, gleich den ersten dicken Tropfen in einem Frühjahrsregen, darauf das Losbrechen der Trompeten, das in einen Sturm von Hörnern und Pfeifen überging, kräftig einsetzend, schmetternd, umwerfend und ineinanderklingend, ein einziger durchdringender Laut! Die feuchte Lava der Töne floß den Abhang von Sausalito hinunter bis ans Meer, als tausend Rundfunkgeräte das feurige Delirium von Stier ausspien. Paul, der nackt in den sich ergießenden Schallwellen stand, riß die Vorhänge vom Fenster weg und begann, durch das Zimmer zu tanzen. »Er hat recht, Ginger, er hat recht! Es ist Zeit, daß wir Schneekinder werden!« Tatsächlich war das der Tag, an dem die Bombe fiel. New York ertönte im Tempo der Stiermusik, in einer riesigen Konzerthalle aus Beton drängten sich frohe Schneekinder, die einander umarmten, lachten, sich küßten, auf den Straßen und in den Unterführungen tanzten. Rasende festliche Scharen beherrschten Baltimore, Des Moines, San Diego und alle Städte, in denen man die Stiermusik hörte. Der Festzug, der sich in Sausalito bildete, tanzte zur Golden Gate Bridge, traf den Festzug aus San Francisco und vermischte sich mit ihm, sie tanzten den Bridgeway entlang, sangen wortlose Lieder, wateten und tobten im niedrigen Gewässer des Pazifischen Ozeans. Paul verbrachte den Nachmittag zusammen mit Ra123
chel, Furbish, Kate, Harvey, Lazio und Crimp auf den Höhen oberhalb der Stadt; sie pflückten wilde Blumen, hauptsächlich Löwenzahn, dazu ein paar weiße und ein paar purpurrote Blumen, die sie alle zusammenbanden, um Kränze und Girlanden zu winden. Daneben hatten sie auch Zeit, Wolken zu betrachten, Gedichte über Birken zu verfassen, das Zirpen der Vögel mit Gezirp zu beantworten, sich zu küssen und im Sonnenschein dieses frühen Frühlings zu kichern. Als Paul spät am Abend wieder heimkam, fand er Ginger am Fuße der Treppe – tot. Ihr Leib war durch den Abdruck eines schweren Reifens zerteilt, der wahrscheinlich zu einem lebenswichtigen Militärfahrzeug gehörte. Er weinte. Und um Mitternacht begrub er das Opfer des dritten Weltkrieges. Stoßwellen hallten durch den Sommer, jede Freigabe einer neuen Stierplatte verstärkte sie. Die heimliche Durchsage aus Kanada machte Stiermusik zu einer politischen Frage, und der darauf folgende Streit wurde durch die Massenmedien geschürt; er verwies Berichte über »den Krieg« und Geschichten über die Präsidentenwahl auf die letzten Seiten. Es war buchstäblich eine Frage von Schwarz oder Weiß. Weiß. Wenn man es zunächst für eine neue Laune der Teenager gehalten hatte, daß sie sich ganz in Weiß kleideten, so wurde doch diese Mode bald von allen übernommen, die noch nicht dreißig Jahre alt waren. Als direktes Ergebnis entfalteten die Schneekinder, wie man die Jüngeren nannte, eine fanatische Hingabe an die Sauberkeit. Zur Bestürzung ihrer Eltern pflegten sie sich an den Ufern eines Flusses oder Sees zu treffen, sich gänzlich auszuziehen und ihre Kleidungsstücke 124
wie auch sich selbst zu waschen, wobei sie eigene Verse zur Stiermusik improvisierten. Und zur Verwirrung der Polizei erschienen sie oft in Gruppen zu hundert oder mehr auf den Straßen der City, hoben jeden kleinen Fetzen auf und beendeten ihre Arbeit damit, daß sie das Pflaster tüchtig schrubbten. Wenn ein Geschäfts- oder Apartmenthaus, ja auch ein Privathaus sich in schlechtem baulichen Zustand befand, wurde es von den Schneekindern »getüncht«, innen und außen gesäubert, die Fenster wurden geputzt, daß sie wie glänzendes Kristall wirkten, und außen wurden die Hauswände mit mehreren Schichten weißer Farbe aufgefrischt. Obwohl die Schneekinder zunächst nur durch die gemeinsame Begeisterung für Stiermusik miteinander verbunden waren, schlossen sie sich doch bald zu ihren eigenen, einzigartigen Gesellschaftsgruppen zusammen, deren Struktur Paul unabsichtlich geschaffen hatte. Da er weder die Zeit noch die Möglichkeit besaß, die Tausende von Briefen zu beantworten, die er täglich von Schneekindern aus dem ganzen Land erhielt, löste er das Problem, ihnen etwas mitzuteilen, dadurch, daß er die Rückseite der Stierplatten-Hüllen gewissermaßen als »schwarzes Brett« benutzte, auf dem er die Stierphilosophie erklären konnte. Die vier ersten Ausgaben waren kurzen Erläuterungen zu Iliyu gewidmet; auf späteren Plattenhüllen standen Essays, in Wirklichkeit Auszüge aus seiner fast vollendeten »Vergöttlichung der Null«. Die übliche Einheit bestand aus neun Schneekindern, fünf Jungen und vier Mädchen. Dem Mädchen, das rote Perlen am Halse trug, war die Verantwortung übergeben, weißen Lehm zu besorgen und an die anderen Mitglieder der Gruppe auszuteilen. Das Mädchen mit den gelben Perlen leitete Diskus125
sionen über die Wiedergeburt und einfache Meditationsübungen. Schwarze Perlen trug das Mädchen, das in der Kunst des Liebe-Machens erfahren war. Und während jedes Mitglied ihrer Gruppe vollkommene Freiheit hatte, mit jedem anderen Mitglied Liebe zu machen, spezialisierte sie sich auf gewisse Feinheiten, die sie im Umgang mit Mitgliedern anderer Gruppen lernte und vervollkommnete. Alles sexuelle Tun, ob privat oder in der Gruppe, wurde nur bei hellem Tageslicht und gewöhnlich im Freien vollzogen. Astronomie, Astrologie und das Studium der besonderen Einzelheiten von »Unidentifizierten Fliegenden Objekten« waren die Hauptbeschäftigung des Schneekindes mit weißen Perlen. Es arbeitete oft eng mit dem Schneekind zusammen, das rote Perlen trug, wenn die Gruppe in der Nacht zusammenkam, um mit Augen, die durch den weißen Lehm klar geworden waren, den Himmel zu betrachten. Zu jedem der vier Mädchen gehörte ein Junge; wenn er von seiner Maitresse so viel gelernt hatte, wie er nur konnte, bekam er eine Perle aus ihrem Halsband. Er verließ sodann die Gruppe, um in einer anderen Einheit von Schneekindern zu lehren und zu lernen. Der fünfte Junge, gewöhnlich das älteste Gruppenmitglied, blieb da als Verwahrer der Schallplatten; sein Titel lautete allerdings »Beschützer der Stiermusik«. Sauberkeit? Meditation? Freie Liebe? Betrachtung der Sterne? Nichts konnte gefährlicher sein, nichts zerstörerischer für das Establishment. Die Menschen über vierzig sahen voller Schrecken zu, wie die Bewegung sich ausbreitete, wie fröhliche Schneekinder sich mit gekreuzten Handgelenken und offenen Handflächen grüßten – mit einer Geste, die das gegenseitige Sich-Erkennen durch den Hauch des weißen Lehms symbolisierte. 126
Von den schwarzen Kräften kamen düstere Voraussagen und finstere Warnungen. Geistliche erhoben Anklagen wegen Blasphemie. Polizisten in dunklen Uniformen agierten für eine Gesetzgebung, die häufigere Verhaftungen zuließ. Richter in schwarzen Talaren stimmten ihnen zu. Und in Washington wurden Männer in dunklen Geschäftsanzügen zum »Speziellen Untersuchungskomitee« des Senats ernannt. Paul verbrachte den ganzen Sommer in seinem Apartment und arbeitete dort an der »Vergöttlichung der Null«. Seine einzigen Verbindungen zur Außenwelt waren Telefongespräche mit Jerry Miller über die Buchführung für das Konto der AhornblattSchallplatten und ein paar Besuche mit Magdelaine, Mrs. Chen, Terhikki und Winnie in Stiers Haus auf dem Wolfback Ridge, um den Fortschritt der Proben für Iliyu nachzuprüfen. Der versprochene vierte Adventus mit Terhikki kam nicht zustande, teils weil sie nie allein zusammen waren – das Stierhaus war zum Klassenraum für Schneekinder geworden –, aber hauptsächlich, weil Paul seine Schreibmaschine nur verließ, wenn er seinen Vorrat an Salami, Roggenbrot oder Weißwein ergänzen wollte. Wenige Tage vor der Aufführung von Iliyu vollendete er »Die Vergöttlichung der Null« und bezahlte den Privatdruck von zweitausend Exemplaren. Das Buch war in drei Teile gegliedert. Der erste erläuterte die vier Akte von Iliyu im einzelnen. Der zweite war eine Abhandlung über Logik, der dritte eine Sammlung von Essays, die unter anderem die Göttlichkeit Christi, die Mutterschaft, »den Krieg« und die Autos angriffen. Letzteres war eine gekürzte Fassung seines Essays über die Autos, das auf der Rückseite von Stier Nr. 12 erschienen war. 127
Wißt ihr, daß die Füße eurer Eltern noch nie den Boden berührt haben? Buchstäblich, Sie frühstücken in Hausschuhen, bedecken ihre Zehen mit Socken und mit Leder, erheben ihre Beine, um in ein Auto zu steigen, das sie über Teer und Beton fortbewegt, sehr häufig in den Tod. Wißt ihr, daß die meisten von uns noch nie reine Luft eingeatmet haben? Unsere Lungen sind nichts anderes mehr als Vergaser für General Motors. Wir sind in der Tat die einzige Einrichtung zur Rauchkontrolle. Wißt ihr, warum eine Asphaltkruste das Gras bedeckt? Warum Eicheln auf den Boden aufprallen und verfaulen? Warum hungrige Eichhörnchen vergessen haben, wie man gräbt? Künftige Generationen werden sich über unsere heiligen Kühe wundern – über das Automobil. Euer Herz wiegt weniger als ein halbes Pfund, und es bewegt euch. Braucht ihr wirklich zwei Tonnen Chrom und Gummi? Wir bauen heute Städte nicht für Menschen, sondern für Kraftwagen. Es ist nicht so, daß ihr einen Wagen braucht, um dahin zu kommen, wohin ihr gehen müßt; ihr müßt einfach dort hingehen, weil ihr einen Wagen habt. Sicherheitsprogramme? Es gibt nicht eines, das ihr nicht mit den Fingernägeln zerpflücken könntet. Machen wir doch diesem Wahnsinn ein Ende. Rettet einen Chevrolet für die Smithsonian Institution, laßt Petroleum darin, um die Achse zu schmieren, zieht eure Schuhe aus und tanzt! Im April werden wir Blumen auf die Straßen pflanzen.
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Trotz der Tabak- und Alkohol-Lobby hatte der Kongreß den weißen Lehm noch nicht zu einem gefährlichen Narkotikum erklärt. Trotz der Berichte über Orgien an den Ufern amerikanischer Flüsse hatte die Polizei nur wenige Verhaftungen vorgenommen. Die Vorstellung einer Wiedergeburt und die okkulte Faszination der Schneekinder durch den Himmel wurden als sonderbare, aber harmlose Zeichen ihrer Jugendlichkeit betrachtet. Angriffe auf das Automobil jedoch konnten nicht geduldet werden. So geschah es, daß ein makellos gekleideter Agent der C.I.A. an Pauls Tür anklopfte. »Ja?« Paul zog den Gürtel seines Bademantels enger und machte die Tür weit auf. »Hallo, da sind Sie ja! Sie müssen Paul Odeon sein.« »Muß ich.« »Macht es Ihnen was aus, wenn ich zu einem kleinen Schwatz reinkomme?« Der Mann wölbte eine Hand anmutig auf seinem Hinterkopf und tätschelte das dünne braune Haar, das eine kahle Stelle bedeckte. »Wer Sind Sie?« »Hier an der Westküste werde ich Walter genannt …« Er ging ins Wohnzimmer, warf einen verstohlenen Blick in die Küche und setzte sich dann in den Schreibtischstuhl, sofort die Beine übereinanderschlagend. »Ich könnte Ihnen meine übliche dumme Geschichte erzählen, daß ich ein Versicherungsvertreter wäre; aber wissen Sie, das bin ich in Wirklichkeit gar nicht. Ich bin das, was Leute wie Sie als ›Bundesdetektiv‹ bezeichnen würden.« »F.B.I.?« »C.I.A.« »Oh je!« »Wette, das überrascht Sie.« 129
»Ja, Sir.« »Nennen Sie mich Walter.« Er zog einen kleinen silbernen Nagelknipser aus der Tasche seiner Sportjacke und fing an, einen Daumennagel zu bearbeiten. »Die Menschen sehen nicht immer so aus wie man es erwarten würde – ihrer Beschäftigung nach zu schließen. Wir werden deshalb ausgesucht, weil wir durchschnittlich aussehen. Meinen Sie nicht, daß ich aussehe wie – na, Sie wissen schon – Durchschnitt?« »Sehr durchschnittlich.« Paul saß auf dem Stuhl am Fenster und zündete sich eine Zigarette an. »Und Sie … Sie sehen viel besser aus, als ich es von einem Schallplattenvertreter erwarten würde.« Er unterstrich das Gesagte mit einem hörbaren Knipsen, das ein Daumennagel-Schrapnell über den Schreibtisch jagte. »Darf ich dich Paul nennen? Ich habe einen Haufen Fragen zu stellen, und es ist so viel einfacher, wenn wir in einer lässigen Beziehung zueinander stehen.« Paul wand sich auf seinem Stuhl und zog seinen Bademantel über die Knie herunter. »Sicher, nenne mich Paul.« »Wunderbar! Fangen wir doch damit an, daß du mir sagst, wo Stier sich aufhält.« »Wenn ich das nur wüßte!« »Du weißt es nicht?« »Nein.« »Aber bist du nicht sein Angestellter?« »Ja. Aber ich habe ihn bis jetzt noch nicht kennengelernt. Ich bekomme all meine Anweisungen durch die Post. Aus Kanada.« »Wie merkwürdig! Und du leitest die Vertretung für Stier-Schallplatten von diesem –« er schwenkte die Finger über dem Kopf »– von diesem reizenden Apartment aus?« 130
»Das macht die Werbeagentur. Ich stehe telefonisch mit dem Kontoführer in Verbindung.« »Also mit Jerry Miller? Bei Gerner, Foss und Meyer?« »Ja.« Paul spürte einen schwachen Duft nach Flieder und kam zu dem Schluß, daß der von Walters rundem, rosigem, frischrasiertem Gesicht ausging. Diese hellblauen Augen waren nicht die Augen eines Meuchelmörders, dachte er, und die langen rosa Finger waren nicht an Judotechniken gewöhnt. Nein, Walter war der Typ, der Fingerabdrücke einheften würde oder eine Liste von Denunzianten aus Pfadfindergruppen aufstellen oder sonst etwas Mildes. »Einen Groschen für deine Gedanken«, sagte Walter. »Jesus Christus, ihr Burschen habt sonst mehr gezahlt.« »Oh, wir zahlen nicht mehr viel Geld. Nur wenn’s nicht anders geht. Herrje, wir haben haufenweise Informationen, mit denen wir nicht mal was anzufangen wissen, du liebe Güte! Du solltest nur mal die Akten sehen, die wir über dich haben …« »Würde ich gern mal sehn.« Walter stellte seine Fingerspitzen gegeneinander und starrte zur Zimmerdecke hoch, als wären die Angaben, die er rezitierte, dort niedergeschrieben. »Paul Odeon. Einunddreißig Jahre alt. Geboren in Pittsfield, Massachusetts. Studium an der Universität von Massachusetts, an der Universität London, Senior in Logik … heiratete drüben eine Ausländerin, ist Vater eines ausländischen Kindes, erreichte amerikanische Scheidung, hatte verschiedene Anstellungen in mehreren Städten der Vereinigten Staaten, ehe er Texter bei Gerner, Foss und Meyer in San Francisco wurde. Zur Zeit bei einem Kanadier, Richard Stier, angestellt … »Ich habe meistens Tenor gesungen«, sagte Paul, 131
»im Chor der ersten Methodistenkirche zu Pittsfield.« … häufiger Besucher im Haus von Stier in Sausalito, wo er angeblich Geschlechtsverkehr mit einer im Ausland geborenen Stewardeß, einer Chinesin, einer Negerin und einer Indianerin hatte, organisierte eine Front-Organisation, die sich über das ganze Land erstreckt – Deckname: ›Schneekinder‹ – Verfasser aufrührerischer Pamphlete …« »Ich habe keine Pamphlete geschrieben.« »Wir betrachteten das Material, das auf den Rückseiten der Stier-Plattenhüllen erscheint, als Pamphlete, mein lieber Junge. Unsere IBM-Karten haben nicht genug Platz für alle Lochzeichen, verstehst du! Wir haben ein Lochzeichen für Pamphlet, aber für Schallplattenhüllen haben wir keins.« »Selbst wenn das alles stimmte, und das tut es nicht, sehe ich nicht ein, warum der C. I. A …« »Schscht! Ich bin noch nicht fertig: … hat heimliche Rundfunksendung von Richard Stier unterstützt und angestiftet, dadurch die völlige Zersetzung eines angekündigten Hochalarms verursacht und so die nationale Sicherheit unterminiert, auf diese Art dem Feind Hilfe und Beistand geleistet. Da hast du’s!« »Mit dieser Rundfunksendung hatte ich nichts zu tun.« »Sei doch nicht so gereizt! Ich habe nur die Akte zitiert.« »So …« Paul blies Rauch gegen die Decke. »Welche Folgen hat das für mich?« »Du könntest in Tule Lake, Kalifornien, landen, in Florence, Arizona, in El Reno, Oklahoma, in Allenwood, Pennsylvanien oder in Avon Park, Florida.« »In einem Konzentrationslager?« »Das ist ein ziemlich scheußliches Wort. Ich glaube, 132
im Internal Security Act von 1950 hat ein anderer Ausdruck gestanden … Jedenfalls bin ich überzeugt, daß es nicht soweit kommt. Ich glaube sicher, daß du und ich etwas ausarbeiten können.« »Das glaube ich auch.« Paul kalkulierte die möglichen Strafen dafür, daß man einem homosexuellen Geheimagenten einen Schlag auf den Kopf versetzte. »Oh, fein! Das wird alles so freundlich machen!« Walter spreizte die Finger seiner rechten Hand und betrachtete sie in dem Licht, das vom Fenster her kam. »Weißt du, mein Boß möchte deinen Boß kennenlernen, und er möchte, daß du es mit mir in Ordnung bringst.« »Ich habe Stier selbst noch nicht mal kennengelernt …« »Das sagtest du. Und ich hatte so einen schönen Plan ausgearbeitet …« Walter fing an, mit einem Bein zu wackeln. »Was für einen Plan denn, Walter?« »Du hast die Absicht, mitzumachen?« »Ich habe kein Verlangen danach, El Reno in Oklahoma zu sehen.« »Du Teufel, du!« Walter kicherte und räusperte sich dann vernehmlich. »Was wir vorhaben, ist folgendes: Ich möchte, daß du mich augenblicklich anrufst, sobald Stier in Sausalito ankommt. Ich gebe dir eine Nummer, über die du mich immer erreichen kannst. Die Oper ist übermorgen, das heißt, daß er höchstwahrscheinlich irgendwann morgen ankommen wird …« Paul richtete seinen Blick auf Walters dünnes Fußgelenk, das jetzt sachte herauf und herunter wackelte. Seine blauen Socken waren faltenlos, sie lagen der spitz zulaufenden Knochenwölbung glatt an. Ein geschlechtsloser Knochen war das, weder männlich noch weiblich. 133
»Wir haben das Haus natürlich unter Bewachung, aber es kann sein, daß er gleich zum Mount Tamalpais geht. Auf jeden Fall setzt er sich bestimmt mit dir in Verbindung.« »Ihr werdet ihn doch nicht umbringen, oder?« »Du meine Güte, nein! Wir wollen ihn bloß nach Washington zurückbringen. Um Himmels willen, begreifst du gar nicht, wie wertvoll er ist? Bei der Art, wie die jungen Leute hierzulande ihn geradezu verehren? Na, ein einziges Wort von ihm könnte die Wahl garantieren.« »Für welchen Kandidaten?« »Tschüs …« Walter drohte ihm mit dem Finger. »Mußt mich nicht auffordern, aus der Schule zu plaudern. Also, hier ist meine Nummer. Ich erwarte deinen Anruf.« Paul nahm die Karte und starrte auf die Nummer. »Was springt für mich bei der ganzen Sache heraus?« »Deine Freiheit, guter Junge.« Walters rundes Gesicht glühte mit einem Lächeln auf. »Und das befriedigende Gefühl, daß du weißt, du hast deinem Lande einen guten Dienst getan.« Um das Telefon nachzuprüfen, wählte er den Wetterbericht; es gab ein deutliches Klicken von sich, und die durchgesagte Nachricht erklang mit einem Echo. Er legte sorgfältig den Hörer wieder auf und riß das Telefonkabel aus der Wand. Länger als eine Stunde ging er auf und ab; dabei trank er aus einem Krug frischen Weißwein. Als er sich an Walters verweichlichtes Fußgelenk erinnerte, machte er sich endlich seinen Plan. Er warf sich aufs Bett und lachte unbändig. Am nächsten Tage ging Paul auf den Gipfel des Mount Tamalpais. Dort herrschte einige Aufregung, aber 134
durchaus keine Verwirrung, als die indianischen Arbeiter (zwanzig waren auf einer rechtmäßigen Fluglinie aus Kanada gekommen) die Bühnenfläche fertigstellten. Drei große, flache Felsblöcke bildeten eine natürliche Bühne, und Girlanden aus weißen Blumen, die mit den Zweigen einer Reihe verkümmerter Kiefern verflochten wurden, bildeten einen Vorhang als Hintergrund. Am Fuße eines natürlichen Abhangs stimmten die Musiker, die in einem großen Halbkreis saßen, ihre Instrumente; sie schwatzten aufgeregt miteinander, als sie ihre dicken Partituren von Iliyu durchblätterten. Aus Batterien gespeiste Lampen mit kreisenden roten, gelben und blauen Kapseln waren auf beiden Seiten der Bühne unsichtbar angebracht; und weiter links, in einem Büschel hohen Grases, waren Kameraleute vom Fernsehen eifrig dabei, ihre Geräte aufzubauen. Um die Töne auf den Abhang herunter zu übertragen, auf dem die Zuschauer sitzen würden, war ein ausgezeichnetes Verstärkersystem eingerichtet worden. Einzelne Lautsprecher waren in regelmäßigen Abständen vom Gipfel bis zur Basis des Berges in Bäumen installiert worden – die Töne der Stiermusik, die durch den Wald erklangen, würden die Pilgernden hinaufführen. Paul redete kurz mit einem Mann von Newsweek, der einen Bericht über »Die Untergrundpublikation ›Die Vergöttlichung der Null‹« bringen wollte; dann verbrachte er fast zwei Stunden mit dem Stab zur Förderung des Unternehmens; dabei prüfte er wieder und wieder die Einzelheiten der Zulassung, der Sitzordnung, der Sicht und der Verbreitung durch die Presse. Von Sir Alex Kirsten, der auch bei der Uraufführung von Iliyu in Stratford das Orchester geleitet hatte, erfuhr Paul, daß Stier irgendwann während der Aufführung herkommen würde und sich am Schluß des vierten Aktes auf der Bühne zeigen wollte. 135
Paul ging nach Sausalito zurück und am Abend zum Pier Fünf, um mit Crimp zu sprechen. Am Morgen des neunten Tages im neunten Monat wachte Paul früh auf, duschte schnell und zog sich mit der Sorgfalt und kühlen Präzision eines Revolverhelden an; weißes Hemd, weißer Schlips, weißer Anzug, weiße Schuhe, die er zunächst in den Händen hielt, um ihr Gleichgewicht nachzuprüfen, ehe er sie über seine weißen Socken zog. Das Taxi kam planmäßig an, aber er hatte den starken Verkehr auf der Golden Gate Bridge nicht vorausgesehen; es war fast Mittag, als sie schließlich das Büro von Gerner, Foss und Meyer erreicht hatten. Er fand Jerry Miller an seinem Schreibtisch, schlafend, den Kopf in den auf dem Tisch verschränkten Armen ruhend. »Wach auf!« sagte Paul. »Einbrecher!« schrie Jerry und fiel in seinem Stuhl nach hinten. »Einbrecher ist schon richtig. Habt ihr Lehm geschnuppert?« Jerry schüttelte den Kopf. Paul nahm die Vase mit den künstlichen Blumen in die Hand und roch Gin. »Ein Glück«, sagte er, »du bist betrunken!« »Ich bin betrunken«, wiederholte Jerry. »Dann können wir miteinander reden …« Paul gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den Kopf und setzte sich auf eine Schreibtischecke. »Wie spät ist es?« Jerry rieb sich die Augen. »Drei Minuten nach zwölf.« »Erstaunlich.« »Ganz bestimmt.« 136
»Erstaunlich, wie Gin auf einen wirkt, wenn man eine Zeitlang keinen mehr getrunken hat.« Paul zog eine Augenbraue hoch. »Gehst du so mit meinem Konto um? Und würdest du um Gottes willen vielleicht die Augen aufmachen?« »Das kann ich nicht.« »Warum nicht?« »Dein Anzug glänzt dermaßen, daß mir die Augen weh tun.« Paul zog augenblicklich seine Sonnenbrille heraus. »Hier!« »Dankeschön.« Beim zweiten Versuch gelang es Jerry, die Brillenbügel über die Ohren zu schieben. »Du gehst nicht zum Tamalpais rüber, oder doch?« »Ich war gestern dort.« »Gut. Bleib hier. Geh nicht nochmal hin!« »Wieso nicht?« »Weil … es wird da eine Polizeirazzia geben.« »Was meinst du, eine Polizeirazzia? Wovon redest du überhaupt?« »Heute abend.« Jerry brachte es fertig, eine paar Sekunden aufrecht zu sitzen, ehe er in seinem Stuhl wieder zurückplumpste. »Die kalifornische Highwaypatrouille … direkt nach der Oper, wenn alle oben auf dem Berg sind, wird sie unten sein. Mit anderen Worten, die Hitze wird die Schneekinder schmelzen.« »Das glaubst du doch selbst nicht!« »Oh ja, oh ja, oh ja, bestimmt! Ich weiß es aus bester Quelle. Ein Polizist in Zivil aus North Beach, der zum Frühstück keine Gin-Martinis gewöhnt ist.« »Aber warum? Weshalb heute abend?« »Weiß ich nicht, ’s ist wohl politisch, denke ich. Du weißt, wo doch jetzt bald die Wahlen sind und der Gouverneur durch deinen und meinen Freund aus dem 137
Norden von den Titelseiten verdrängt wird.« Er nahm die Brille ab und schüttelte den Kopf. »Scheiße. Ich werde wieder nüchtern.« »Bist du dir dessen völlig sicher, Jerry?« »Ich hab dir doch gesagt, dieser Polizist außer Dienst –« »Ja, das hast du gesagt.« Paul fing an, auf und ab zu gehen. »Das macht die Sache komplizierter.« »Mach dir keine Gedanken drum. Was kann schon passieren? Die Bullen werden eben ein paar Schneekinder einsperren, um zu zeigen, daß sie noch stark und mächtig sind. Sie werden sie vor dem nächsten Morgen wieder rauslassen. Weißt du noch, was in San Rafael passiert ist, als sie diese Gören nicht freigeben wollten? Und die Schneekinder die Polizeistation weiß angestrichen haben?« »Es ist Stier, um den ich mir Sorgen mache …« »Gestern abend hab ich am Telefon mit ihm geredet. Zu dumm, daß ich –« »Er ist hier?« rief Paul. »Du hast mit ihm gesprochen?« »Nun, mal langsam! Er war noch in Kanada. Er wollte wissen, ob seine Bilder rechtzeitig für das neue Album hier angekommen sind. Er sagte, er könnte dich telefonisch nicht erreichen. Ich konnte es auch nicht. Was hast du gemacht, die Verbindung unterbrechen lassen?« »Allerdings. Bei Gott, hab ich jemals …« Paul strich sich mit den Fingern durchs Haar und setzte sich wieder auf die Schreibtischecke. »Du hast nicht zufällig eins bei dir, ja? Ein Bild von Stier?« Jerry zog eine Schublade auf, holte ein Hochglanzfoto heraus und übergab es Paul; der faßte mit beiden Händen danach. Er war weiß gekleidet. Das Foto war offenbar im hellen Sonnenlicht gemacht, es war äußerst kontrast138
reich – sehr dunkle und kleine Augen, das Haar silbrig weiß und schimmernd, wirr und mit ein paar über die große Stirn fallenden Locken. Die breite Nase, das stumpfe Kinn, die massigen Schultern, das alles ließ ihn wie einen nachdenklichen Bullen wirken. »So, das ist Stier«, sagte Paul ruhig. »Der Moby Dick des Musikgeschäftes«, ergänzte Jerry. »Was ist das für ein Ding aus weißem Pelz, das er anhat?« »So eine Art Parka, denke ich mir.« »Sag mal …« Paul sah noch immer das Foto an. »Was hat er sonst am Telefon gesagt?« »Er hat gesagt, am neunten Oktober würde Iliyu als Album rauskommen, und sein Foto sollte auf die Rückseite, mit der Zusammenfassung, die du geschrieben hast. Und er wollte dir danken, daß du dein Buch ihm gewidmet hast. Übrigens, weißt du, daß wir noch zweihundert Exemplare von der ›Vergöttlichung der Null‹ hier im Büro haben?« »Was hat er sonst noch gesagt?« »Das ist alles. Er sagte, er würde heute mit dem Flugzeug herkommen und sich am Schluß der Oper zeigen.« »Auf der Bühne?« »Ich glaub wohl, hab nicht danach gefragt. Von mir aus kann er mit einem Schlitten und einem Rentier erscheinen.« »Du kommst mir so vor, als hättest du gründlich die Nase voll …« »Hab ich auch.« Jerry holte aus einer anderen Schublade eine volle Flasche Gin heraus. »Mir ist so schlecht von dem Weiß, ich könnte kotzen!« »Was war dir denn lieber, Schatz, alles von Grund auf schwarz?« 139
»Das ist es nicht grade …« Jerry goß sich die Vase voll Gin und gab die Flasche Paul. »Zuerst war es wirklich großartig, diese wilde neue Musik, und wie uns jede neue Schallplatte vom Stuhl gehauen hat. Und der weiße Lehm. Und die Art, wie er in uns die Angst vor dem Krieg zerstörte, in der uns Washington gehalten hat .« Er nahm zwei Schluck Gin, dann pfiff er und fächelte sich Luft zu. »Rede weiter, ich hör' zu.« »Und die Schneekinder. So’n Ding! Man dachte, es würde wirklich fabelhaft sein, mit jedem Mädchen, das man traf, ins Bett gehen zu können. Aber in Wirklichkeit ist es nicht so, weißt du, diese Mädchen suchen sich was aus. Sie machen Liebe mit einem, und sogar dabei reden sie noch über Energielehre oder vom Schwarzen Atlantis oder über die umgekehrte Polarität des vierten Mondes. Soll ich dir mal sagen was ich glaube?« Die Tür ging auf, und Miss Cook glitt herein. Sie trug einen engen weißen Pullover, vorn mit tiefem Ausschnitt, einen kurzen weißen Rock und weiße Schuhe mit niedrigen Absätzen. Um ein Handgelenk trug sie ein Armband aus schwarzen Keramik-Perlen. »Oh, da ist Paul!« sagte sie. »Wie schön, daß ich dich hier treffe.« »Hallo, Miss Cook!« »Janice! Alle nennen mich Janice. Du siehst aber gut aus in dem Anzug.« »Siehst du, was ich meine?« sagte Jerry. »Liebster Jerry«, hauchte sie, »ich bin gekommen, um dich daran zu erinnern, daß wir für die Iliyu-Alben neue Drucke der Stierphilosophie brauchen werden.« Sie wandte sich Paul zu und küßte ihn leicht auf die Wange. »Du schreibst so wunderschön.« »Jan, Baby, nimm mit deinem schönen Hinterteil 140
Kurs auf die Tür zu und laß Paul und mich im Stillen ausarten.« »Miss … Janice, das Armband, das Sie tragen, ist das –« »Ja! Ich bin schließlich auf die schwarzen gekommen. Ich hatte erst sehr lange an gelbe Perlen gedacht, aber dafür war ich nicht geschaffen, nicht so richtig …« Sie hielt beide Hände an die Nase, schloß die Augen und inhalierte tief. »Und heute abend werden wir ihn sehen …« Paul sah nervös zu Jerry hinüber, als Miss Cook hinausging. »Wie lange ist sie schon so?« fragte Paul und hob die Flasche hoch. »Um Himmels willen, sie sind alle so! Wenn du dich nicht den ganzen Sommer über draußen in Sausalito versteckt hättest, dann wüßtest du, was los ist.« »Ich mußte das Buch fertigkriegen.« »Aber sicher. Für Papa Stier.« Paul machte eine Geste mit dem Mittelfinger und trank aus der Flasche. »Weißt du auch«, sagte Jerry, »daß du und ich vielleicht die beiden letzten Menschen auf der Erde sind, die an Leberzirrhose sterben können? Weißt du, daß sogar der alte Gerner seine Münzen in weißen Lehm steckt und den ganzen Tag damit zubringt, dran zu riechen?« »Jerry, ehe wir zu blau werden, muß ich dir ein Geständnis machen. Ich habe mit einem perversen Angestellten der Central Intelligence Agency einen Handel abgeschlossen, ihm keine geringere Persönlichkeit als den Besieger der Rock-Musik, den Mirakelmann aus dem Norden, Seine unfaßbare Majestät R. Stier, in die Hände zu spielen.« »Hurra, hurra!« Jerry fing an, in die Hände zu klatschen. »Warum will der CIA Stier haben?« 141
»Ich weiß nicht. Der Schwule, der mich besucht hat, sagte, die Regierung wolle Stier als Waffe im Wahlkampf benutzen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in unserem Lande ist unter fünfundzwanzig Jahre alt und würde jeden wählen, den Stier ihnen nennt. Aber wenn es das ist, woran ihnen liegt, wie kommt es dann, daß die Polizei plant, zu –«, Paul trank wieder aus der Flasche und stellte sie vorsichtig auf den Schreibtisch zurück. »Außer …« »Außer was?« »Außer der CIA arbeitet in Wirklichkeit gar nicht für die Regierung. Vielleicht unterstützen die den Gouverneur. Sie wollen Stier in die Hand bekommen, und wenn er nicht mitarbeitet, werden sie ihn zum Schweigen bringen. Vielleicht sogar ihn umbringen und die ganze Angelegenheit auf die Regierung schieben.« Jerry stieß auf. »Ich bin überzeugt, daß sie sein Haus drüben in Sausalito überwachen und das Telefon dort angezapft haben. Vielleicht könnte ich dort raufgehn und Magdelaine warnen …« Paul rutschte gemächlich vom Schreibtisch herunter und ergriff das Foto von Stier. »Kann ich das Bild behalten?« »Klar. Wenn du bis zum neunten Oktober wartest, kannst du sogar dreiundzwanzig Millionen davon haben.« »Besten Dank für den Gin.« »Was wirst du mit dem CIA anfangen?« »Ihn so in Trab setzen, daß keiner mehr durchblickt.« »Ich werde dir Zigaretten schicken. Und eine Feile mit etwas weißem Lehm drin.« »Morgen besuche ich dich.« Am Aufzug traf Paul Ned Collier und Clayton Kickard. Beide lächelten ihm unter ihren Handflächen zu, sagten aber nichts. Während sie nach unten fuhren, 142
holte Paul die Karte aus seiner Reisetasche, und im Telefonhäuschen der Eingangshalle wählte er die Nummer, die Walter ihm gegeben hatte. Auf der Golden Gate Bridge floß der Verkehr nur langsam, und an der Seite zum Marin County hin kam er zum völligen Stillstand. Paul wartete fast eine halbe Stunde, ehe er sich entschloß, den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen; er gab Tony drei Zehn-DollarScheine und begann, über ein Feld zu gehen, hoffend, daß es die Richtung auf den Wolfback Ridge hin sei. Er blieb in regelmäßigen Abständen stehen, um die Kletten von seinen Hosenaufschlägen zu zupfen, und sah gleichzeitig verstohlen zur Landstraße hin, halb in der Erwartung, Männer in Trenchcoats in den Bäumen lauern zu sehen. Wie viele Agenten würden Stiers Haus beobachten? Was würden sie sagen, wenn sie einen weißgekleideten Kerl aus dem Wald stürmen sahen? Sie konnten denken, er sei Stier! Seine Wangen prickelten bei der Vorstellung, daß Kugeln seine Brust zerfetzen könnten. Schwitzend und stolpernd stieg er höher und verfluchte sich selbst, weil er seine Sonnenbrille in Jerrys Büro gelassen hatte. Eine leichte Brise vom Meer her zeigte ihm an, daß er der Höhe des Bergrückens nahe sein mußte; er faßte neuen Mut und beschleunigte seine Schritte. Die Rückkehr des Jägers. Paul Odeon, der schlachtenmüde indianische Kundschafter aus Pittsfield (Massachusetts) auf der Rückkehr zu seiner Blockhütte im Wald. Er duckte sich im Gehen, hob die Füße sorgfältig, leise, damit nicht ein abgebrochener Zweig seinen Aufenthalt verriete. Er ließ die Sonne im Rücken, San Francisco zu seiner Rechten, und verbesserte seine Richtung nach gelegentlich flüchtigen Blicken auf die weit unten liegende Landstraße. 143
Als er endlich die Straße erreicht hatte, war er mehr als eine halbe Meile von Stiers Haus entfernt. Die Leute hatten schon den langen Pilgerzug zum Mount Tamalpais begonnen, und selbst diese abgelegene Straße war voller Schneekinder, älterer Paare, ja ganzer Familien, größtenteils in Weiß gekleidet. Paul betrachtete vorsichtig jeden einzelnen, aber niemand sah eigentlich so aus, als sei er ein CIA-Agent. Erst als er nur noch einen Häuserblock von Stiers Haus entfernt war, merkte er, daß die meisten Leute von dort kamen. Er hielt eines der Schneekinder an, ein Mädchen mit roten Perlen, und fragte sie, was geschehen war. »Die Perlenschwestern sind losgegangen, zu dem Berg.« »Perlenschwestern? Du meinst die Frauen, die dort –« »Ja! Alle vier! Wir haben sie gesehen, und sie waren schön!« »Habt ihr Stier gesehen? War er bei ihnen?« »Nein. Man hat uns gesagt, er würde heute abend kommen. Auf den Berg.« Paul machte kehrt und hielt automatisch mit der Schar Schritt. Wenigstens hatte der CIA noch nichts gegen Stier unternommen. Das würde heute abend geschehen, wie es Walter gesagt hatte. Das bedeutete, daß Walter und jeder andere Agent Paul beobachten würde. Das bedeutete – was? Nur heute STIERDOSENSPEISE Auch Sie müssen eine Dose während der Oper haben! Eine köstliche und nährende Mahlzeit in einer reinweißen Dose verpackt. 1.95 Dollar 144
Das primitive Plakat war an das farbige Fenster des ›Cat and Fiddle‹ geklebt. Drinnen hatte man die Barhocker vom Tresen weggeschoben; die Bar war mit weißen Pappschachteln beladen. Sorkin, mit einer weißen Schürze und einer weißen Küchenhaube zerkleinerte gerade eine Rolle Salami. Rachel war dabei, mit heiterem Gesicht ein gewaltiges Stück Pökelfleisch in Scheiben zu schneiden. Paul sah zur Uhr über der Bar auf. Vier Uhr siebenunddreißig. »Wo ist Crimp?« fragte Paul. »Sie sollte sich hier mit mir treffen.« »Da hinten«, gab Rachel zur Antwort und zeigte mit einem Messer in die Richtung. Crimp saß am Ende der Bar auf dem Fußboden, bis zum Hals in einen großen schwarzen Tuchbeutel gehüllt. Ihr Haar, kurz geschnitten und weiß gebleicht, war in graden Strähnen nach vorn gekämmt, als hätte jemand Kreidestriche auf ihrer Kopfhaut gezogen. »Und so wird Fiens-teer-nies mich umgeben!« wehklagte Crimp, »… von den drei Wohnsitzen, von den dreißig heiligen Orten, von den vierundzwanzig Pilgerstätten, Helden, Heldinnen, himmlischen Streitern und den Glauben schützenden Gottheiten, männlich und weiblich, Schädeltrommeln, Bannern aus Menschenhaut …« Paul nahm eine Scheibe Pökelfleisch von Rachel an und lehnte sich über die Bar, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Was ist mit Crimp los?« »Sie sagt, heute abend wird sie sterben«, sagte Rachel und wischte die Messerklinge an ihrem Ärmel ab. »Sie rezitiert das tibetanische Totenbuch.« »Oh.« »… Dünste von Weihrauch aus Menschenfett und unzählige Arten von Musikinstrumenten, die alle Weltsysteme erfüllen und sie vibrieren, erbeben und erzittern 145
lassen, mit Lauten, die so gewaltig sind, daß sie einem das Gehirn betäuben, und nach verschiedenen Takten tanzend, werden sie kommen, um die Treuen in Empfang zu nehmen und die Untreuen zu bestrafen …« »Wer hatte denn diese Idee?« Paul öffnete eine Pappschachtel und sah hinein. »Sorkin. Der arme Kerl versucht die Miete zu bezahlen, er macht einfach alles. Die Bar ist kein Geschäft, niemand trinkt mehr.« »Ein paar von uns sind noch übrig. Wo hast du den Gin?« »Du willst mir doch nicht erzählen, du wärst vom Lehm abgekommen!« »Sagen wir halt, mir tut vom Reiben die Nase weh. Wo ist die Flasche …« Rachel langte über einen Berg Weißbrot und legte die Finger um den nächsten Flaschenhals. »Siehst du, was ich meine? Bei dieser ist noch nicht mal das Siegel aufgebrochen.« Paul brach das Siegel auf. »... In diesen Strahlen wird der natürliche Klang der Wahrheit widerhallen wie tausend Donner. Der Klang wird mit einem rollenden Widerhall zurückkommen! Fürchte dich nicht. Fliehe nicht. Sei nicht entsetzt. Wisse, daß diese Töne aus den geistigen Gaben deines eigenen inneren Lichtes stammen …« »Wie lange ist sie schon so?« fragte Paul und trank. »Den ganzen Tag. Deshalb setzt sich niemand hin; sie kommen hier herein, kaufen eine Schachtel, werfen einen Blick auf sie und laufen weg. Übrigens, vor ungefähr einer halben Stunde hat irgendeine MietwagenAgentur angerufen. Sie sagte, du wolltest einen RollsRoyce mieten.« »Ja. Einen weißen. Er wird um fünf Uhr hier sein.« »Nein, das wird er nicht. Deswegen haben sie ange146
rufen, um dir zu sagen, daß sie nicht über die Brücke können. Zuviel Verkehr.« »Ach nicht doch …« »Was wolltest du denn mit einem weißen RollsRoyce?« Paul stützte den Kopf auf die Hände, als Greek-O mahnend zur Tür hereinkam; die Riemen seines Motorrad-Helms baumelten herum wie die Ohren eines Cocker-Spaniels. »Du müßtest mal all das verdammte Volk draußen sehen! He, wo sind Kate, Furbish und die anderen?« »Die sind unterwegs den Berg rauf«, sagte Rachel. »Wie steht’s denn so, altes Ekel? He, der weiße Anzug, den du anhast, ist ja Klasse! Soll ich euch beide mit raufnehmen?« »Kein Auto zugelassen auf dem Berg«, sagte Paul langsam. »Außerdem kommst du mit dem Wagen gar nicht durch all die Leute durch.« »Richtig, verdammte Scheiße! Da fahren wir halt die hintere Straße rauf. Ich bin mit meinem Motorrad hier.« »Es gibt noch eine hintere Straße?« Pauls Gesicht erhellte sich. »Klar. Die alte Straße vom verdammten Mill Valley hoch. Du, ich und Rachel können auf dem Motorrad sitzen, und Crimp können wir in den Beiwagen werfen. Brauchen sie nicht mal aus ihrem verdammten Beutel rauszunehmen.« »Heureka!« Paul, jetzt frohlockend, steckte sich die Flasche Gin unter die Jacke und klatschte in die Hände. »… Unzählige werden durch diese Erkenntnis befreit werden; doch wenn auch viele auf solche Art zur Befreiung kommen, wird das Rad der Unwissenheit und Täuschung weder erschöpft noch beschleunigt 147
werden, da die Zahl der Empfindenden groß ist, das böse Karma mächtig, das Dunkel stark …« »Ihr beiden Kerle nehmt Crimp und bringt sie in den Beiwagen«, sagte Rachel. »Ich komme raus, sobald ich diese letzten beiden Schachteln zurechtgemacht habe.« Als sie Crimp zum Beiwagen halb trugen und halb schleiften, fiel die Flasche aus Pauls Jacke und zerbrach. Greek-O begriff nicht, wieso Paul das so lustig fand und auf dem ganzen Weg zum Mill Valley nicht aufhörte, darüber zu lachen. Gegen 18 Uhr war Sausalito durch einen grauen Nebelstreifen, der sich über die Bucht bis nach San Francisco hinzog, vollkommen ausgelöscht. Die meisten Leute ließen ihren Wagen an der Golden Gate Bridge stehen und schlossen sich entweder den Fußgängern an, die zum Mount Tamalpais strebten, oder gingen in die Stadt zurück, um Iliyu im Fernsehen anzuschauen. Für etwa siebzig behelmte Männer der California Highway Patrol war der Nebel entschieden ein taktischer Vorteil; sie öffneten die ledernen Hüllen ihrer Schlagstöcke und machten sich Schulter an Schulter auf den langen Marsch durch die Wälder am Fuße des Berges. Weniger als hundert Yards davon entfernt prüften Walter und eine Gruppe von fünf Mann, alle in blaue Regenmäntel gekleidet, die Batterien ihrer infraroten Taschenlampen und begannen eine systematische Suchaktion, die sie auf einem spiralenförmigen Gang rings um den Berg und nach oben führen sollte. Auf der Straße des Old Mill Valley war der Nebel so dicht, daß Greek-O und Rachel beschlossen, zu Fuß weiterzugehen. Paul bestand darauf, bei Crimp zu bleiben, inmitten einer Gruppe von über hundert Schneekindern, die unter dem auf einer Baumspitze ange148
brachten Lautsprecher hockten. Paul schleifte Crimp zu einem Gebüsch neben einer Pyramide von Granitfelsen; dann setzte er sich zu den Schneekindern, um sich die ersten durchdringenden Töne der Ouvertüre von Iliyu anzuhören. Crimp rezitierte weiterhin das vertraute Wissen des Gnadenvollen. Nach dem Schluß des ersten Aktes begann Paul seinen Aufstieg. Er hielt es für sicherer, die Straße zu meiden, und nahm seinen Weg den Abhang gerade aufwärts; die Lautsprecher dienten ihm dabei als Verkehrszeichen. Die Musik setzte von neuem ein. Er war sich seines eigenen Körpers kaum bewußt, während er zwischen den Bäumen herging und die Töne fluoreszierende Visionen in seinem Geist schufen, die den Weg vor ihm zu erhellen schienen. Plötzlich war er oberhalb des Nebels. Sterne stürzten durch den Himmel wie blitzende Kristallwürfel, seine Füße konnten das Pulsieren der Baumwurzeln spüren, die in der schwarzen Erde anschwollen. Die Töne zogen ihn näher dem Gipfel zu. Jede Wahrnehmung klang in ihm wider, alle Gegenstände erschienen ihm gleich nahe. Wenn er den Arm ausstreckte, konnte er Berkeley berühren, ein einziger Schritt brachte ihn ans Meer. Eine einzige Sekunde lang leuchtete die gesamte Schöpfung im Auge eines Delphins, der sich hoch aufwölbte, um dann in die Wellen hineinzustürzen. Sogar das Fallen dauerte ein Jahrhundert, und ein Regen winziger weißer Samen schlug auf die Erde, übergoß tausend Düfte, brach aus in kühle, süße Früchte. Er tauchte kopfüber in einen Teich elfenbeinerner Schatten, als ein plötzlicher schmerzhafter Stoß ihn die Augen schließen ließ. Die kleinen weißen Samen tanzten noch am Himmel, während er langgestreckt auf dem Rücken lag und blinzelnd in ein umgekehrtes Gesicht sah. 149
»Alles in Ordnung mit dir?« fragte das Gesicht. Die Samen setzten sich langsam in seine Augenwinkel. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« wiederholte das Gesicht. Komisch, Nase, und Mund waren noch immer oberhalb der Augen. »Was ist passiert?« Paul erkannte seine eigene Stimme. »Du hast einen Trip genommen.« Paul setzte sich auf und suchte seine Stirn nach Blutspuren ab. Der Junge neben ihm lächelte mitfühlend und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder der Bühne zu. Der Schmerz in seinem Kopf forderte eine sehr rasche Deutung. Er saß an einem Feldrain, und fünf oder sechs Morgen mit Schneekindern betrachteten staunend das Schauspiel auf der Bühne vor ihnen. Es mußte nun kurz vor dem Ende des dritten Aktes sein; Paul erkannte Mrs. Chen, deren nackter Körper in dem gelben Stroboskoplicht schimmerte, während sie sich zu den heftigen Synkopen des »Tanzes der Wiederkehr« bewegte. Selbst der Erdboden schien im Tumult der Laute zu vibrieren, doch Paul blieb unbewegt davon; der Schlag auf den Kopf hatte ihn immun gemacht. Als er seinen Fuß aus dem Gewirr der Weinreben befreite, das ihn hatte stürzen lassen, bemerkte er noch eine andere Erscheinung – sechs Kugeln rosa Lichtes, die über den Köpfen der Schneekinder anmutige Arabesken zeichneten. Gleich Bienen, die zu ihrem Stock zurückkehren, kamen sie bald zusammen, schwärmten dann wieder aus, verstreuten sich, wurden größer und intensiver, wenn sie näherkamen. Als er aufstand, um besser sehen zu können, versammelten sich die Lichtkugeln und flogen auf ihn zu; sie kamen bis auf zwanzig Yards heran, ehe Paul merkte, 150
daß es Blitzlichter in den Händen von sechs Männern waren, die blaue Regenmäntel trugen. Es gab eine Pause in der Musik, die haarscharf lang genug war, ihn Walters näselnden Zuruf hören zu lassen: »Bleib stehen, wo du bist, Odeon, wir haben dich eingekreist!« Paul ließ einen unwillkürlichen Ausruf hören; dann sprang er breitbeinig über den Kopf des Jungen neben sich hinweg, mit einem Satz in die Wälder, und begann den Berg seitlich hinunterzurennen. Zweimal fiel er dabei hin, einmal trat er jemandem auf die ausgestreckte Hand, aber die Bestürzung und die Schwerkraft waren auf seiner Seite, daß Zweige, Felsblöcke, Bäume, Gras, ja die Erde selbst vor ihm zurückwichen. Paul Odeon beim Abstieg. Er erreichte die Pyramide von Granitfelsen in eben dem Augenblick, als der Wald durch die betäubenden Kadenzen des vierten Aktes geradezu explodierte. Er fand Crimp, die noch genau da saß, wo er sie gelassen hatte, und zerrte wie wahnsinnig an der Schnur, die den oberen Rand des schwarzen Beutels dicht um ihren Hals herum festhielt. »Komm raus aus dem Beutel, Crimp!« brüllte er. Die erschreckten Schneekinder, denen die Stiermusik in den Ohren klang, sprangen erregt auf und fingen an, um die Felsenpyramide herumzutanzen. »Crimp! Komm aus dem Beutel raus!« »Mögen die Banden der Mütter meine Nachhut sein«, stimmte Crimp an, »mögen sie mich vor den furchtbaren Hinterhalten des Bardo retten und mich in den reinen paradiesischen Reichen unterbringen …« Paul riß ihr den Beutel bis auf die Füße herunter, dann trat er entsetzt zurück. »Weiß, Crimp! Du trägst ja kein Weiß! Du hattest mir versprochen, daß du einen weißen Anzug tragen würdest!« 151
»O Edelgeborener, höre unverwirrt. Am dreizehnten Tage, vom östlichen Teil deines Gehirnes ab, werden die acht Kerimas ausströmen und kommen, um auf dich herab zu scheinen. Fürchte das nicht …« Die Schneekinder waren jetzt dem Wahnsinn nahe, durch die wilden Laute von Stier zur Raserei getrieben. Paul sah flüchtig rosa Licht durch die Bäume leuchten; in einem blitzartigen Entschluß stieß er seine Schuhe fort und zog sich bis auf die Unterkleidung aus. »O Edelgeborener, am vierzehnten Tage werden die vier weiblichen Türhüter, die gleichfalls aus deinem eigenen Gehirn hervorgehen, kommen, um dich zu bescheinen …« Sie stand unbewegt da, als Paul sie auszog. »… aus dem östlichen Teil deines Gehirns wird die weiße Göttin mit dem Tigerhaupt, die eine Ziege hält und eine mit Blut gefüllte Schädelschale in ihrer linken Hand trägt …« Der Anblick von Paul und Crimp, die beide fast nackt waren, erregte die Schneekinder unerträglich. Sie fingen an, sich ihre eigenen Kleider vom Körper zu reißen, zu Boden zu stürzen, mit Armen und Beinen um sich zu schlagen, als sie im Rhythmus der krachenden Schallwellen übereinander und ineinander krochen. Paul half Crimp, seine weiße Hose, sein Hemd und seine Jacke anzuziehen; es gelang ihm, die Krawatte zu einem stümperhaften Windsorknoten zu binden. Das Stöhnen der Jungen und das schwache Hauchen der entzückten Mädchen wurde zu einem OrgasmusChor. Paul hob Crimp, die jetzt in Weiß erstrahlte, oben auf die Felsenpyramide hinauf, sprang wieder herunter und legte sich platt ins Gras, als Walter und die fünf CIA-Leute auf die Lichtung gestolpert kamen. 152
»… die achtundzwanzig mächtigen Göttinnen mit ihren verschiedenen Häuptern, die verschiedene Waffen tragen und aus deinem eigenen Gehirn hervorgehen, werden kommen, um auf dich herabzuscheinen. Rufe dir die Lehren des Guru ins Gedächtnis zurück …« »Stier!« schrie Paul, noch platt auf dem Boden liegend, »seht unseren Guru, Stier!« Die Schneekinder nahmen den Lobgesang auf und fielen aufeinander, um sich erneut zu lieben, als Walter auf die Felsenpyramide hinaufstieg. … die rote Amrita-Göttin mit dem Skorpionhaupt, in der Hand eine Lotosblüte, und die weiße Mondgöttin mit dem Katzenhaupt, die dunkelgrüne Schlagstock-Göttin mit dem Fuchshaupt, eine Keule in der Hand schwingend … Walter fesselte ihre Hände vor ihrem Körper mit Handschellen und warf sie nach vorn in die Arme der unterhalb stehenden Männer. »Ich fürchte, wir müssen uns euren Richard Stier ausleihen«, sagte er, in sich hineinlachend, und sprang selbst auch herunter. Sogar der Nebel löste sich auf, als der Berg eine pulsierende, stampfende Masse von Tönen wurde. Hörner, Pfeifen und Trommeln kündigten den vierten Adventus von Iliyu an; krampfhafte Schreie der Schneekinder hallten zwischen den Bäumen wider, als die CIA-Männer ihre fügsame Gefangene in den Wald stießen. Dann plötzlich der schrille Diskant von Polizeipfeifen, als schwarzgekleidete Gestalten in die Lichtung eindrangen. Im Licht der Sterne blitzten Schlagstöcke auf; man hörte Angstschreie und die Geräusche von Holz, das auf Knochen aufschlug. Ein Junge, dessen Hüften sich fiebernd in das Mädchen unter ihm hineinarbeiteten, stürzte bewußtlos zu Boden, als ein Stock quer über 153
sein Rückgrat niederschlug. Ein anderer erhob sich auf die Knie und fing mit beiden Händen das erbrochene Blut auf, als ein Stoß ihn der Länge nach zurückfallen ließ. Handschellen kratzten über die Brust eines jungen Mädchens, daß es hustete bis zur Bewußtlosigkeit und dann regungslos liegenblieb. Als Paul sich auf die Hände und Knie erhob, schlug ihn ein wahrer Schauer von Fäusten auf den Boden zurück. Der wunde Fleck auf seinem Kopf fing an zu brummen, das Klagen und Schluchzen wurde zu leisem Flüstern, bis alles in Stille überging. Es dauerte Minuten oder Stunden, er wußte nicht wie lange, ehe er die Augen öffnete. Er brachte es fertig, aufzustehen und sich umzugucken, und konnte kaum seinen Augen trauen. Die Lichtung war ein Teppich nackter Leiber, alle in verschiedenen Stellungen; Mädchen, auf denen Männer lagen, Männer von Mädchen bedeckt, einige knieten, andere standen, wieder andere lagen halb über-, halb untereinander, die rechte Seite nach oben oder umgekehrt aufeinander. Paul sah, daß die Männer Stiefel trugen und ihre schwarzen Hosen dicht um die Fußgelenke gerollt hatten; er erkannte, daß es die Polizisten waren. Kein Schmerzensschrei war zu hören, kein ablehnendes Stöhnen, nur leises, tierhaftes Murmeln, Atemgeräusche, sanftes Brummen und Laute von Schlafenden. Er wandte sich davon ab und fing an, zwischen den Bäumen herzugehen. Nach wenigen Minuten kam er zu einer anderen Lichtung, auf der sich das gleiche abspielte, obschon er weniger Polizisten sah. Vorsichtig ging er über das Feld nackter Leiber und blieb sofort stehen, als eine kleine Hand nach seinem Fußgelenk faßte. »Paul? Bist du das?« 154
Er sah nach unten. Das kleine Mädchen war fast ganz unter dem breiten Rücken und den schrägen Hüften des Jungen verborgen, der auf ihr lag. »Bist du das, Paul?« »Beebee!« »Hallo!« »Was machst du da, Beebee?« »Nichts. Er schläft jetzt.« Sie wand sich, erhob ein Bein, der Junge rollte sacht von ihr herunter und lag still. »Du bist dran.« Paul starrte auf sie herunter. »War das nicht eine wunderbare Show?« Paul nickte. »Vor allem der letzte Teil, mit all den Hörnern und Pfeifen und dem Zeug, der ist mir eingegangen. He, komm doch runter, wo ich mit dir reden kann …« Paul setzte sich neben sie. »Bist du da oben gewesen? Auf dem Gipfel?« Er strich ihr das Haar aus den Augen und ließ seine Hand auf ihrer Schulter ruhen. »Ja. Einfach toll!« »Hast du Stier gesehen?« »Stier!« Selbst in der Dunkelheit schienen ihre Augen zu leuchten. »Gleich nach dem vierten Adventus von Iliyu wurde alles schwarz. Und dann weiß, so weiß, wie ich noch nie was gesehen habe. Und dann waren überall Polizisten, das war schrecklich. Einer von ihnen hat mich geschlagen … hier!« »Haben sie irgendwen verhaftet? Ich meine, Stier?« »Wir haben alle versucht, sie zu lieben. Und sie schlugen uns noch immer. Und dann kamen noch mehr Töne.« »Stiermusik?« »Ja. Die Musik hat sogar die Polizisten gepackt, und alle fingen an, wie die Verrückten Liebe zu machen. Es war wie weißer Lehm, weist du? Nur stärker.« 155
Paul nahm seine Hand von ihrer Schulter weg. »Was ist los, noch böse auf mich?« »Nein, Beebee, ich bin nicht böse auf dich.« Der Himmel, der bis jetzt grau gewesen war, hellte sich im Osten auf. Bald würden noch mehr Polizisten ankommen, vielleicht sogar die Nationalgarde. Und die Prügelei würde wieder losgehen. Diesmal keine Musik, um ihre wachsamen Leute zu überwältigen. Und der CIA würde merken, daß ihr Gefangener ein buddhistischer Transvestit war. Sie würden in Sausalito warten. »Dann sag doch was«, meinte Beebee. »Du gehst besser nach Hause, Beebee. Es werden bald noch mehr Polizisten hier sein.« »Die sollen ruhig kommen.« Sie patschte auf ihre Oberschenkel. »Immer noch Platz für einen. He, wie kommt’s, daß du deine Unterhose noch anhast?« »Mir ist kalt.« Er stand da und massierte sich die schmerzende Stelle hinten am Hals. »Wenn du mitkommen willst, kann ich dich bis unten an den Berg bringen.« »Hu, bloß nicht. Nein, besten Dank.« Er machte eine nichtssagende Handbewegung, drehte sich um und ging zurück, auf die Bäume zu. Die Luft war feucht von süßem Sex-Schweiß. Feuchte Grasspitzen kitzelten seine Beine, nasse Blätter streiften ihm über die Schultern. Er bestimmte seinen Standort nach der aufgehenden Sonne und hielt wachsam Ausschau nach der dunkelgrünen Schlagstock-Göttin mit dem Fuchshaupt, die vielleicht eine Keule in der Hand schwang. San Francisco Chronicle, 10. September 1979 : STIER-SEX-SHOW EINE GRÄSSLICHE SENSATION! POLIZEI ZERSCHMETTERT ANTI-AMERIKANISCHE VERSCHWÖRUNG! 156
Auf Anraten des Central Intelligence Service hin unternahmen die Staats- und die örtliche Polizei gestern abend eine Razzia hei der polemischen Aufführung der Oper Iliyu auf dem Mount Tamalpais in Marin County. Es wurden eine ganze Anzahl von Verhaftungen vorgenommen, Verletzte soll es aber nicht gegeben haben. Captain J. Arthur Hardy, der die Polizei bei einem zweiten Angriff auf den Tamalpais leitete, berichtet, daß im Anschluß an die unzüchtige Darbietung Tausende von Schneekindern sich in unerlaubten sexuellen Handlungen ergingen. »Wir sind vernunftgemäß davon überzeugt, daß diese Kinder unter Drogen standen«, sagte Captain Hardy. »Viele beteiligten sich an unmoralischen, obszönen Handlungen.« Aus Gründen der nationalen Sicherheit hat der CIA keine genauen Einzelheiten über die angebliche antiamerikanische Verschwörung bekanntgegeben. Zunächst hatte man berichtet, der kanadische Komponist Richard Stier sei verhaftet worden. Der Verdächtige erwies sich jedoch als geschickt getarnter Betrüger. Im ganzen Staat ist eine Nachforschung angeordnet worden, um Paul Odeon, einunddreißig Jahre alt, zuletzt in Sausalito ansässig, ausfindig zu machen; er war Stiers Public-Relations-Mann und stand nach Ansicht der Polizei mit den Verschwörern in Verbindung. In Odeons kleinem Apartment zu Sausalito, wurden Blankoschecks gefunden, die sämtlich die Unterschrift von Richard Stier trugen, sowie verschiedene Exemplare eines Underground-Buches mit dem Titel »Die Vergöttlichung der Null«, das von Odeon verfaßt wurde. Der Verdächtige wird als Kaukasier geschildert, etwa 1,90 groß und einhundertachtzig Pfund schwer, 157
mit schwarzem Haar und braunen Augen. Die Polizei überprüft z. Z. die Mitteilung einer Hausfrau aus San Rafaelo, daß ein Mann, der dieser Beschreibung entspricht, etwa gegen 9.27 Uhr auf dem Hof hinter ihrem Haus gesehen worden sei. Sie erklärte, der Mann sei nur mit einer Unterhose bekleidet gewesen und sei fortgelaufen, als sie ihr Haustier, einen belgischen Schäferhund, losgekoppelt habe. Jeder, der irgendwelche Kenntnis über den Aufenthalt des Verdächtigen besitzt, sollt sich mit dem nächstgelegenen CIA-Büro oder mit der Polizeibehörde seines Wohnortes in Verbindung setzen.
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2. TEIL: Stratford (Kanada)
1979
In diesem Jahr begrub Stratford Shakespeare endgültig. Die Festspiele in Stratford waren ausschließlich den Werken Richard Stiers gewidmet, und das Festtheater wurde weiß angestrichen. Stratfords Fluß, der Avon, bekam den neuen Namen »Stier-river«, der Viktoriasee wurde umbenannt in »The Lake of Iliyu«. Das ursprüngliche Symbol der Festspiele, ein Schwanenhals in der Form eines »S«, verlor jede Gedankenverbindung mit Shakespeare; es stand jetzt für »Stier«. Über ein Jahrhundert lang hatten die Kanadier nach ihrer eigenen nationalen Identität gesucht. Sie waren nicht durch eine Sprache geeint; sogar die Behälter für Frühstücks-Mehlspeisen trugen einen englischen und einen französischen Aufdruck. Durch die Tradition war Kanada an den starren Commonwealth-Konservativismus von Mutter England gebunden, und es war gezwungen, die überkommene Kultur der Vereinigten Staaten anzunehmen. Und wenn es stimmte, daß die Amerikaner Kanada nicht beachteten (ihre Kenntnis beschränkte sich auf einige Marken kanadischen Whiskys und auf Farbfotos der Royal Canadian Mounted Police), so waren auch die Kanadier über ihr Erbe in Verlegenheit. Selbst die Nationalflagge, in den Wäldern verloren, zeigte nur ein einziges Ahornblatt. Die Stiermusik lieferte Kanada seinen ersten wirklichen Adventus, den Adventus des Stolzes. Und die Razzia der amerikanischen Polizei bei der Aufführung von Iliyu auf dem Mount Tamalpais diente nur dazu, diesen Stolz zu einer Leidenschaft zu entfachen. Stratford wurde zum Mekka für Schneekinder aus der ganzen Welt. Von Amsterdam kamen die Provos, für die Weiß schon immer ein Symbol, wenn nicht gar eine Rechtssache gewesen war. Weitere Tausende ka159
men aus Skandinavien, Südeuropa, Afrika, Südamerika und dem Orient, eingeschlossen Chinesen von Formosa und vom Festland her. Sie kamen nicht einfach, um nur zu sehen und zuzuhören, sondern auch um zu arbeiten. Was sie zum Essen brauchten, zogen sie sich selbst in Gärten am Stadtrand, sie bildeten eigene Gruppen in den Parks. Indianer von diesseits und jenseits der Grenze brachten Verfeinerungen des weißen Lehms mit, und bis zum Herbst war Stratford das Modell für die SchneekinderGemeinschaften in der ganzen Welt geworden. Die ersten Schneeflocken fielen im November. Für die Einwohner von Stratford war das eine festliche Zeit; sie gingen Arm in Arm durch die Straßen und hoben die Gesichter zum Himmel empor, um die ersten prickelnden Küsse des Winters zu empfangen. In dem langen Menschenzug auf der Ontario Street gingen auch zwei Indianer mit. Der eine schritt mit gesenktem Kopf, die Arme auf der Brust gekreuzt, die Schritte nicht mit denen des anderen Indianers, der neben ihm ging, übereinstimmend, so daß sie immer wieder mit den Schultern aneinanderstießen. Er hatte die Beine mit Leder umwickelt, trug eine Jacke aus Hirschleder und um den Kopf ein türkisfarbenes, langes Tuch. Sein Haar war schwarz, lang und glatt, seine Gesichtsfarbe rosig-weiß. In regelmäßigen Abständen blieb er stehen, stampfte mit einem Fuß auf und spuckte aus. »Scheiße!« sagte er. »Ich kriege das Zeug nicht mehr aus meinen Zähnen heraus.« »Bald du warm bei Lagerfeuer«, sagte der andere. »Das höre ich nun schon seit einem Monat.« »Sa-du-ma-ha-sawi …« »Auf jeden Fall …« Paul räusperte sich und spuckte wieder auf den Gehweg. 160
Auf der anderen Straßenseite fing eine Schar junger Chinesen an, Beifall zu klatschen und sich vor einem Negermädchen zu verbeugen, das eben aus einem Warenhaus gekommen war. Es war in eine Pelzparka eingehüllt, und Paul erkannte es erst, als es die Kapuze abnahm. Er drehte sich blitzschnell zu dem Indianer neben ihm und packte ihn mit beiden Händen. »Ich habe gerade mein eigenes Lagerfeuer gefunden!« rief er. Der Indianer zog bei diesem Rätsel sein Gesicht in Falten. »Jetzt ist alles in Ordnung, Running Grass, ich habe eine von ihnen gefunden. Das Mädchen drüben, verstehst du? Nun ist mit mir alles in Ordnung.« »Du willst mit dunklem Gesicht gehen?« »Wenn es dir nichts ausmacht. Vielen Dank, daß du mich hierher gebracht hast, Running Grass, und richte deinem Häuptling meinen Dank aus, wenn du dorthin zurückkommst. Ich möchte gern, daß du es weißt: Eure Kocherei ist abscheulich, und ich liebe dich.« Der Indianer grunzte. »Leb wohl, Running Grass …« Er ging zwei Schritte zurück, machte ein Zeichen mit der rechten Hand, drehte sich um und rannte über die Straße. »Winnie! Winnie! Ich bin es, Paul!« »Paul?« Sie bahnte sich mit den Ellenbogen ihren Weg durch die überraschten Chinesen. »Welcher Paul?« »Odeon. Paul Odeon. Weißt du nicht mehr?« »Was haste gemacht, daß du so aussiehst?« »Ich bin ein Indianer.« Paul zeigte auf ihre Schneehosen und ihre Skistiefel. »Was ist deine Entschuldigung?« Winnie kicherte. »Winnie, hör mal zu: Ich muß unbedingt mit Stier sprechen …« 161
»Kann ich nich mach’n, Baby.« »Warum nicht?« »Weil er nich hier is.« »Und Magdelaine?« »Die is in Montreal.« »Mrs. Chen?« »Ottawa. Bloß Terhikki is noch hier.« »Ich muß aber mit Stier sprechen!« Winnie zuckte die Achseln. »Weißt du, wo ich ihn anrufen könnte? Oder wohin ihm schreiben, oder irgendwas?« »Arbeitest du noch für ihn?« Sie sah auf seine ledernen Gamaschen herunter. »Das will ich ja gerade rauskriegen, und noch einiges andere …« »Weißte was? Ich nehm dich mit rüber zu Terhikki, v’leicht hat die ’ne Idee. Baby, du hättst mich in der Ausrüstung da bestimmt angeführt. Komm mit, ’s Adventuary is da drüben.« Der Schnee fiel jetzt dichter, und Winnies lederne Skistiefel verursachten auf dem gefrorenen Gehsteig quietschende Laute. Als sie an einem Schallplattengeschäft vorbeikamen, sah Paul Langspielplatten mit Stiermusik ganz offen im Schaufenster liegen, jede mit dem Schwarzweißfoto von Stier. Er erinnerte sich an das Foto, das er in Jerrys Büro gesehen hatte, und machte sich Gedanken, ob die Agentur wohl die Plattencovers entworfen hatte. Winnie erzählte die Geschichte ihrer Flucht vom Mount Tamalpais zu Ende »… Magdelaine hat uns gesagt, was wir mach’n sollt’n, wir sind so etwa den Indianern durch die Wälder nachgegang’n. Kleider hatt’n wir an, aber nich weiß, drum hat keiner gewußt wer wir war’n.« »Und Stier, ist der mit euch gegangen?« 162
»Bis die Sonne oben war, war’n wir alle drüb’n aufm Flugplatz in Oakland, und da hat ’n besondres Flugzeug auf uns gewartet. Baby, wärste doch mit uns gekomm’n … mit den Sach’n da an, hättste genau zu ’n Indianern gepaßt!« Sie kamen in einen kleinen Park, in dem eine Gruppe von etwa zwanzig Schneekindern Nüsse in brennenden Kohlen röstete. Die Luft war süß von dem fleischartigen Duft, und Paul wurde hungrig davon. »Ich könnte ein Steak brauchen«, sagte er, »oder einen Hamburger.« »Mit ’n Schok’ladenshake un Toastbrot, hmm, Baby?« Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Wer’n wir hier in der Gegend nich krieg’n, keiner ißt Fleisch.« »Alle überzeugte Vegetarier?« »Stier hat ’s nich gern, wenn Leute was totmach’n. Ha’m die Indianer, bei den’n du warst, dir nichts zu Ess’n gegeb’n?« »Reden wir lieber nicht davon. Sie finden nichts dabei, was totzumachen.« An der nächsten Ecke stand das Gebäude der öffentlichen Versorgungskommission, dessen Fassade man in eine Kunstgalerie verwandelt hatte. Es waren dort verschiedene Skulpturen zu sehen; einige davon ähnelten den Indianerstatuen, an denen Magdelaine damals in Sausalito gearbeitet hatte. An den Wänden entlang waren riesige weiße Leinwandrahmen angebracht, die abstrakte Muster aus gläsernem Röhrenwerk umgaben. »Von wem sind die?« fragte Paul. »Was meinste, wenn ich das wüßte!« sagte Winnie, »’s scheint, als ob jeder, der hier in die Stadt kommt, sich früher oder später als ’n Künstler zeigt. Aber mir gefall’n die Eismalereien.« »Eismalereien?« 163
»Die mit ’n Glasröhr’n drauf. Da is Wasser drin, un’ wenn ’s richtig kaltes Wetter gibt, denn frier’n sie un mach’n schöne Muster.« Sie wischte sich mit einem Fausthandschuh die Schneeflocken aus dem Haar, »’s Adventuary is gleich hier um de Ecke.« »Das Adventuary hat sicher etwas mit einem StierAdenventus zu tun …« »Irgend sowas. Wir wohn’n hier alle. Magdelaine, Mrs. Chen, Terhikki un ich.« »Und die Schneekinder, wo wohnen die?« »In Zelt’n meist’ns. Man kannse vonne Sternwarte aus sehn.« »Muß ein bißchen kalt sein.« »Liebling, sie ha’m ’ne Art, wie sie warm bleib’n …« Als Paul um die Ecke herumging, sah er das Adventuary. Er schätzte, daß es drei Stockwerke hoch war, etwa fünfundzwanzig Meter breit, doch er konnte nicht sehen, wie weit es sich nach hinten erstreckte. Mit einer ovalen Kuppel, die eckige, symmetrische Mauern überwölbte, war es aus den Elementen zweier getrennter Gebäude errichtet, die für die kanadische Weltausstellung gebaut worden waren, und die Bevölkerung von Montreal hatte es Stratford zum Geschenk gemacht. Der Eingang war ein umgekehrter Bogen, oben breit, unten mit einer schmalen Biegung, so daß jeweils nur eine Person hinein- oder herausgehen konnte. Paul erinnerte sich daran, daß Stier dieses Bauprinzip in einem Brief erwähnt hatte, als ein Mittel, in der Architektur den menschlichen Maßstab zu gewinnen. In dem Gebäude waren die Räume nicht durch Wände voneinander getrennt, sondern durch Luftströmungen, die durch Öffnungen im Fußboden und in der Decke fluteten. Außer dem normalen Tageslicht, das durch kreisförmige, dünne Glasscheiben im Dach hereindrang, war keine Lichtquelle zu sehen. 164
»Schneekinder mit rote Perl’n«, sagte Winnie und zeigte nach links, »arbeiten da drüb’n mit Magdelaine.« Auf einer Reihe roher Holztische lagen Instrumente aus Metall, Glas und Porzellan verstreut. Einige sahen aus wie übliche Retorten und Gefäße, aber die meisten hatten eine sonderbare Gestalt und Größe, sie enthielten Substanzen, die Paul bisher noch nie gesehen hatte. Eine sorgfältige Konstruktion von Spiegeln vereinigte das Tageslicht genau in einem Kelch aus Bergkristall, der bis zum Rand mit einer bläulich-schwarzen Flüssigkeit angefüllt war. Am hinteren Ende schürten drei Schneekinder geduldig das Feuer in einem gedrungenen Schmelztiegel aus Messing. »Wenn Mrs. Chen hier is, arbeitetse mitte Schneekinder, die gelbe Perlen ha’m, drüb’n auffe andere Seite …« Die Fläche, auf die sie zeigte, war dunkel, aber als sie näher herangingen, sah Paul Schneekinder im Kreis sitzend und schweigend meditieren. Auf ein unhörbares Signal hin hoben sie alle ihre Handflächen an die Nase und inhalierten, ohne dabei die Augen zu öffnen. »Riechen sie Lehm?« »Kannste annehmen, mein Lieber. Bloß der Lehm, den die haben, is was Besondres.« »Ich kann es kaum abwarten, bis ich sehe, wo du deine Sache machst, Winnie. Es muß eine Orgie sein, bei der alle anderen Orgien enden. Oder bei der alle Orgien anfangen.« »’s is überhaupt nich sowas. Komm, das kannste bald sehn, wenn wer de Treppe da halb rauf sin.« Paul stocherte mit den Fingern durch den Vorhang aus der Luft, die an beiden Seiten der Treppe aufschoß. Es kitzelte. »Nich viele da drin heute, die meist’n sin draußen, den Schnee zu fühl’n.« 165
Dicke Dunstschichten hatten bis jetzt seinen Blick nach links abgeschirmt, doch als er hinter Winnie die Treppe hinaufging, konnte er das riesige überdachte Schwimmbecken sehen. Das Wasser bedeckte mehr als einen Morgen Fläche. In jeder der vier Ecken wuchsen Bäume und Gras, und in der Mitte war eine große, durch einen schmalen Kanal geteilte Insel. Als er genauer hinsah, stiegen zwei nackte Mädchen auf die Felsen und fingen an, sich gegenseitig zu bespritzen. Es war eine Miniaturwelt, vollständig mit kleinen Wolken, die sich gerade unter dem Kuppeldach durch die Dünste bildeten, die von den Wänden aufstiegen. »Erkennste ’s?« sagte Winnie stolz. »Erwartest du das von mir?« »’s is Atlantis, Baby Siehste da drüb’n? Die Ecke is Kusmin, die da hint’n is Lyonesse. Tipraolti is gleich unter uns, un das da is Chebrexi. Un die Insel inner Mitte –« »Das muß Ruta sein«, unterbrach Paul. »Hinter ’m Kanal, ja. Davor heißt ’s Daitya.« »Ich bin sehr beeindruckt.« »Du müßtest ’s mal sehn, wenn ’ne ganze Menge Schneekinder hier sin.« »Woher kommt all der Dampf?« »’s Becken is von unt’n geheizt. Magdelaine kontrolliert die Mischung.« »Was für eine Mischung?« »Weiß nich, was es heute is. Wenn du siehst, wie die zwei weiß’n Kük’n auf’nander losgehn, danach muß es ne sehr gute sein.« Paul schaute wieder in die Richtung von Daitya und sah die beiden nackten Mädchen kopfüber und einander prügelnd. Die Szene erinnerte ihn an jene Nacht auf dem Tamalpais, und er wandte sich ab. »Wo ist Terhikki?« 166
»Hier die Treppe rauf, ob’n in der Sternwarte. Da wird dir ’s gefall’n, da kannste beinah alles ringsrum seh’n.« Paul warf einen Blick auf die Insel zurück, auf der die beiden erschöpften Mädchen sich gegenseitig wegstießen und wieder in das Wasser rollten. »Ja«, sagte er, »ich wette, du hast recht.« »Ich muß versuchen, es Ihnen zu erklären, Sie als Logiker werden es verstehen …« Terhikki ergriff eine Metallkugel und stieß sie in den Händen vor und zurück wie einen Basketball. »Nein, ich kann es Ihnen besser so erklären …« Sie ging zur Tafel und zeichnete mit einem kurzen Kreidestück ein Diagramm. »Ich weiß, daß es nicht genau gezeichnet ist, aber ich will versuchen, Ihnen zu sagen, was es bedeutet.« Sie besprenkelte eine Kante der Tafel mit Kreidetupfen, eine sinnlose Übung, die offenbar dazu dienen sollte, ihren Geist in Bewegung zu bringen. »Im vierten Akt von Iliyu, erinnern Sie sich? Als er den Kreislauf von Anziehung und Abstoßung entdeckt? Ich glaube, das könnte die Antriebskraft bei den sogenannten fliegenden Untertassen sein.«
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Paul sah zu Winnie hinüber, die schon auf ihrem Stuhl eingeschlafen war. »Hören Sie zu, Paul?« »Ich höre zu. Fliegende Untertassen, haben Sie gesagt …« »Oder eine andere Vorrichtung gegen die Schwerkraft. Sie wissen, jede Methode, die wir bis jetzt angewendet haben, benutzte eine vertikale Kraft, einen direkten Stoß entgegen der Richtung der Anziehung. In einem kreisförmigen Gegenstand, wie in dem, den ich eben gezeichnet habe, ist die Wirkung horizontal, die richtunggebende Kraft wird um den Rand herum verteilt. Wenn sich um den Umfang eines solchen Fahrzeugs ein ausreichendes Gewicht beschleunigen würde, dann wäre damit die Schwerkraft aufgehoben.« »Ein ausreichendes, das scheint das Schlüsselwort zu sein.« »Ja, aber nun sehen Sie mal: Ein röhrenförmiges Gewicht, wenn es positiv geladen wäre, würde durch einen negativen Sendeimpuls bis zur unendlichen Beschleunigung angezogen; und ein entsprechendes negativ geladenes Gewicht würde durch einen darauf abgestimmten positiven Impuls ebenfalls bis zur unendlichen Beschleunigung angezogen bis die Gewichte selbst jedes für das andere anziehend und abstoßend wären.« »Wie drollig!« »Das ist die einzige kreisförmig wirkende Kraft, die mit der Stier-Astrologie vereinbar ist.« Paul sprang von seinem Stuhl auf. »Meine liebste, beste Terhikki …« Er begann, auf und ab zu gehen. »Es reizt mich über alle Begriffe, zu lernen, warum die fliegenden Untertassen fliegen; aber ich bitte Sie, daß Sie versuchen, etwas zu verstehen. In der Nacht, als Sie und die ande168
ren Mädchen Iliyu getanzt hatten, waren ich und meine Unterhose die beiden Einzelheiten, hinter denen die Central Intelligence Agency der Vereinigten Staaten von Amerika am meisten her war. Ich bin zwischen San Francisco und hier von einem Indianerreservat zum anderen geschmuggelt worden, und ich bin dreitausend Meilen weit hierher gekommen, um mit einem Mann zu reden, den ich noch nie gesehen habe. Was geschieht nun?« Er stieß sein langes Haar über die Schultern zurück. »Ich will Ihnen sagen, was nun geschieht! Winnie behandelt mich wie eine Tante auf Besuch, führt mich in fünf Minuten durch Stiers besonderes Disneyland und bringt mich dann hier zu Ihnen herauf in eine Sternwarte, die weder ein Fernrohr noch ein Fenster besitzt, und Sie wollen von mir, daß ich ausrechne, ob Sie die Antriebskraft der fliegenden Untertassen richtig bestimmt haben.« »Es gibt hier Fenster, Paul, aber sie werden nur in der Nacht geöffnet.« »Also gut!« schrie Paul. »Dann gibt es hier eben Fenster!« Winnie wachte erschrocken auf und blinzelte schlaftrunken durch den Raum. »Wir sollten ihn lieber mit ins Schwimmbecken nehmen«, sagte Terhikki. »Ja, glaub ich auch. Warum is ’n das Gebüll?« Paul sank auf seinem Stuhl in sich zusammen und schloß die Augen. »Paul?« Terhikki legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich sage nichts.« »Warum?« »Ich grolle.« »So is er ja verrückt«, sagte Winnie aus eigenem Antrieb. 169
»Paul, es tut uns leid, daß wir Ihnen nicht zugehört haben. Aber was konnten wir denn machen? Es gibt keine Möglichkeit, Ihnen zu helfen, ehe Magdelaine morgen wiederkommt.« Paul machte die Augen auf. »Sie kommt morgen wieder?« »Ja … Sie können heute nacht hier bei uns bleiben, und morgen können Sie mit ihr sprechen; sie wird wohl wissen, was zu tun ist.« »O.K.« Pauls Gesicht belebte sich. »Der Handel gilt. Alle ins Schwimmbecken! Wer Chebrexi zuletzt erreicht, ist ein faules Ei!« Winnie und Terhikki waren schon im Wasser, als Paul sich noch seinen Weg durch die Büsche bis zur Grenze von Tipraolti bahnte, den Körper feucht von den warmen Dünsten, die um ihn herumwirbelten. »He, Pauli« rief Terhikki laut, »mir scheint, es ist dem CIA endlich doch gelungen, Ihre Unterwäsche zu bekommen!« Er hörte nicht auf sie. Er versuchte mit all seinen Sinnen festzustellen, was das war, das seine Füße vom Boden hochhob. Er starrte die anderen ungläubig an und sah, daß sie noch fest dastanden. An seinen Fußgelenken waren dünne rote Streifen, von den Ledergamaschen, die er eilig abgerissen hatte. »Was ist in dem Dampf drin?« Seine eigene Stimme klang hohl. Das war, so entschied er, eine normale Wirkung der gewölbten Kuppeldecke. »Magdelaine hat ihn gemacht …« Terhikkis Stimme kam von allen Seiten zu ihm. »Sie gibt eine LehmMischung zu dem Wasser im Generator unten – unten – unten – unten – unten.« »Was ist das für ein Lehm – ein Lehm – ein Lehm – ein Lehm – ein Lehm …« Er fand die flüchtigen Berührungen der nahenden 170
Unbewußtheit so erfreulich, daß sie nicht mehr zu ertragen waren, und mit einem einzigen Schritt glitt er ins Wasser. Er hatte nicht vorgehabt, völlig auf den Grund zu sinken. Da er sich aber dort befand, drehte er sich auf den Rücken herum und schaute vergnügt auf die sanften weißen Halbkreise, die Terhikkis Brüste auf der Wasseroberfläche bildeten. Die Wogen bewegten sie auf und ab, im Synkopen-Rhythmus zu ihren Beinbewegungen, und sandten winzige, bebend nasse Wellen aus, die von Winnies blauschwarzen Oberschenkeln abprallten. Durch eine einfache Schulterbewegung schoß er hoch über sie hinauf, so daß seine Fersen die Decke streiften; er starrte auf die zwei Köpfe herunter, die im Wasser schwammen; der eine war eine silbrig metallene Kugel, der andere ein zusammengewundenes Knäuel schwarzen Garns, das sich in seinen Händen auflöste. Er wurde ein Schaft aus Stahl, eine Nadel, die sich selbst eine Garnsträhne einfädelte und bis zu dem wogenden Gewebe des Lachens unter ihm herunterglitt. Spitze Finger kniffen ihn in die Fersen, Hände langten zwischen seine Beine, um das zu tun – zu tun – zu tun – zu tun. Er öffnete den Mund, rief eine flache Blase und wirbelte fort von ihnen, drehte seine Hüften nach rechts und links, flog an der Garnschnur entlang bis zu der Ausbauchung des Lichts am Boden. Jetzt konnte er es sehen, die Beine, den Schwanz, den Kopf mit stumpfen weißen Hörnern, ein gallertartiges, schimmerndes Tier, einen Bullen, der kopfüber durch das schwarze, duftende Wasser stürmte. Paul packte die schwarze Garnsträhne fester und zog sich selbst, mit den Händen immer weiter fassend, auf die pulsierende Helligkeit zu, bis das Tier genau unter ihm war. Wolken von glühroten Blasen prickelten und stachen seine Brust, klopfende Hufschläge pochten in seinen 171
Ohren. Es war Zeit zum Sprunge, und er ließ los, auf einen Punkt zwischen den massiven weißen, schäumenden Schultern zielend. Hurry – hurry – hurry – hurry – ahdne – ahdne – ahdne – ahdne … HURRY! HURRY! HURRY! HURRY! AHDNE! AHDNE! AHDNE! AHDNE! Die Knie berührten es zuerst, dann seine Brust, die Arme dicht um den breiten weißen Hals, heißer Schweiß spritzte ihm in die Augen … »Wach? Wach? Wach? Wach?« »Bin ich – bin ich – bin ich – bin ich.« Seine eigene Stimme redete. »Wartet. Wartet. Wartet. Wartet.« »Sind Sie wach?« Er zog sich das Kopfkissen vom Gesicht und hustete. »Er ist jetzt wach, Magdelaine.« Paul starrte eine volle Minute lang gegen die Zimmerdecke. Als er sich im Bett hochsetzte, sah er zuerst zu Magdelaine, dann zu dem großen, dünnen Mann, der neben ihr stand. Er hatte kurzes rotes Haar, leblose Augen, die sich hinter einer Brille mit Bernsteinfassung bewegten, und einen schmalen Mund, den er mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand noch schmaler zusammenkniff. Er war vollständig in Weiß gekleidet. »Ist das hier ein Krankenhaus?« fragte Paul und war erleichtert, daß seine Worte nicht als Echo nachhallten. »Sie sind im Adventuary«, sagte Magdelaine ruhig. »Winnie und Terhikki haben Sie in mein Zimmer gebracht.« »Wer ist das, ein Arzt?« »Das ist Mr. Fenton Knowles. Mr. Knowles, dies ist der Amerikaner, von dem ich Ihnen erzählt habe, Paul Odeon.« »Sehr erfreut, wirklich«, sagte Knowles. »Entschuldigen Sie, daß ich nicht aufstehe.« Paul 172
zog sich die langen Haare vor den Augen weg und schlug das Bettuch um seine nackte Hüfte. »Wir Indianer reisen mit wenig Gepäck.« »Er war im Atlantis-Schwimmbecken«, erklärte Magdelaine und sah dann wieder Paul an. »Da Sie wochenlang keinen Alkohol getrunken haben, kann ich mir denken, daß es für Sie ein Erlebnis war. Sie haben fast vierundzwanzig Stunden geschlafen.« Paul verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich in das Kissen zurück. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erzählen – als Indianerin mit einem Indianer redend –, wie Sie das anfangen?« »Der Mischung von Dämpfen wird ein verfeinerter Lehm beigefügt. Die Schneekinder hier sind daran gewöhnt … Aber er wirkt intensiver als der Lehm, den Sie in den Reservaten bekommen konnten.« »Woher wissen Sie, daß ich in Reservaten gewesen bin?« »Es ist mein Volk …« Sie faltete die Hände unter dem Kinn. »Vom Mount Tamalpais sind Sie zum Round-Valley-Reservat gegangen, von da zum HoopaValley-Reservat, für eine Woche nach Warm Springs, dann weiter zu den Yakimas am Lost-Horse-Plateau und dann östlich nach –« »O. K., O. K. Jetzt wissen Sie, daß ich weiß, daß Sie’s wissen.« »Magdelaine«, sagte Knowles und sah auf seine Uhr, »ich finde wirklich, es wäre besser, wenn wir jetzt keine Zeit mehr verschwendeten.« »Na schön«, meinte Magdelaine. »Vielleicht ist die Zeit jetzt günstig für Sie, die Sache zu erklären.« »Ich werde mich bemühen, es kurz zu machen und mich auf das Wesentliche zu beschränken.« Knowles feuchtete seine Lippen an und heftete den Blick auf das Kissen unter Pauls Kopf. »Der Vorfall auf dem Mount 173
Tamalpais, der Ihnen vollkommen bekannt ist, war ein vorsätzlicher Versuch der US-Regierung, Richard Stier und seine Musik in Mißkredit zu bringen. Wir haben Grund genug zu der Annahme, daß die Regierung ihr Bemühen noch verstärken wird, selbst bis zur offenen Beschlagnahmung der Stier-Schallplatten. Nun, Sie werden höchstwahrscheinlich fragen, warum …?« »Warum?« »Im November des nächsten Jahres findet die Wahl des US-Präsidenten statt. Es würde für beide politischen Parteien keine geringe Verlegenheit bedeuten, wenn vor diesem Zeitpunkt ein Friedenskandidat zum Premierminister von Kanada gewählt würde. Wir haben einen solchen Kandidaten, und er wird gewählt werden.« »Sie meinen –?« »Richard Stier. Seine neue Oper wird hier in Stratford zu jener Zeit angekündigt und aufgeführt werden. Bis dahin können Sie uns einen großen Dienst erweisen.« »Wodurch?« »Die neue Oper wird eine philosophische Deutung fordern, wie Sie sie für Iliyu geliefert haben. Wir haben auch schon Teile Ihres Buches ›Die Vergöttlichung der Null‹ dazu benutzt, Ansprachen zu schaffen, die Stier auf Tonbändern und in den Werbespots seines Wahlkampfes verlesen wird.« »Tonbänder und Werbespots, was wollen Sie damit sagen?« fragte Paul. »Wird Stier nicht persönlich erscheinen?« »Auf keinen Fall«, antwortete Knowles. »Wir können die Möglichkeit eines politischen Mordes nicht riskieren.« »Zum Kuckuck noch mal, wieso erwarten Sie, daß er gewählt wird, wenn ihn nie jemand sieht?« 174
»Bitte, Mr. Odeon, wann haben Sie Ihren Präsidenten zuletzt gesehen? Persönlich gesehen, meine ich. Stier wird im Fernsehen erscheinen, im Rundfunk gehört werden …« »Sie wollen das jetzt also alles mit Filmen und Tonbändern machen?« sagte Paul und legte sich flach aufs Bett zurück. »Und mit dem Text soll ich Sie versorgen?« »So ist es.« »Wenn ich Ihnen mal was sagen darf … als ich mich das letzte Mal auf so einen Handel eingelassen habe, verlor ich alles außer meiner Unterwäsche, wurde fast von einem belgischen Schäferhund aufgefressen, und jeder Polizist in Kalifornien machte Jagd auf mich.« Er sah direkt zu Magdelaine hinüber. »Das war von uns nicht so beabsichtigt«, sagte Magdelaine. »Ich war in jedem Indianer-Reservat von Sausalito bis hier bekannt als ›der-der-Nachts-alleine-sitzt-undzittert‹.« »Das ist bedauerlich«, sagte Knowles. »Dieses Mal fordere ich einen höheren Preis.« »Stier wird jeden vernünftigen Preis bezahlen, das kann ich Ihnen versichern.« »Ich werde sofort anfangen –« »Ausgezeichnet!« »– sobald ich ihn kennengelernt habe.« »Stier?« Knowles warf Magdelaine einen Blick zu. »Jawohl, Stier. Und zwar nicht nur auf einem Werbefilm.« »Er ist … jetzt nicht hier«, sagte Magdelaine. »Schön«, sagte Paul und schlug die Arme übereinander. »Dann werde ich warten.« Finsteres Schweigen. »Wenn Sie darauf bestehen, ihn kennenzulernen –«, 175
Magdelaine drehte sich um und ging ans Fenster, »– es würde nochmals eine lange Reise für Sie bedeuten.« »Diesmal kann ich mir eine Fahrkarte leisten.« »Magdelaine, vielleicht könnten wir etwas ausmachen …« Knowles sah wieder auf seine Uhr. »Wir müssen irgendeine Entscheidung treffen.« »Also gut.« Magdelaine sah wieder zu Paul hinüber. »Sie können morgen ein Flugzeug nach Vancouver nehmen. Ich werde mich heute abend mit Stier in Verbindung setzen und ihm sagen, daß Sie kommen.« »Ist die Sache damit im Reinen, Mr. Odeon? Nehmen Sie den Vorschlag an?« »Ich lerne Stier morgen kennen?« »Ja«, sagte Magdelaine. »Persönlich?« »Ja.« »Abgemacht!« Paul klatschte in die Hände und sprang aus dem Bett. »Wer zuletzt in Chebrexi ankommt, ist ein faules Ei!« Als das gewaltige silberne Düsenflugzeug bis an die Kante der Rollbahn wackelte, erlosch das Licht, die Motoren setzten aus, und Paul biß sich auf die Zunge. Wenn schon nicht mehr genug Energie da ist, um eine Zwölf-Watt-Birne in Betrieb zu halten, wie können die zum Teufel noch mal erwarten, daß das Ding vom Boden hochgeht? Ein Jaulen aus dem Triebwerk ließ die Flügelspitzen leicht auf und ab springen. Harmonische Erschütterung. Starke Beanspruchung. Zerfall auf der Flugstrecke. Er ließ sich in seinen Sitz zurücksinken, als das Düsenflugzeug mit einem furchtbaren Zischen die Rollbahn herunterstreifte und sich bemühte, die Nase zum Himmel zu heben. Über dem Lake Huron tat Paul die Augen auf und 176
sah auf die schwarze Rauchwolke zurück, die Toronto bedeutete. Er fühlte sich in seinem neuen Anzug unbehaglich, und trotz des Haarschnitts und der Haarwäsche juckte ihm der Kopf noch immer; er steckte sich eine Zigarette an und langte nach der Zeitung. Unter dem Titel »Achthundert Menschen in Los Angeles ums Leben gekommen« wurde der Erstickungstod von Einwohnern der Stadt Los Angeles beschrieben; sie waren durch eine große gelbe Wolke erstickt, die sich zwischen der Vierundzwanzigsten Straße in Santa Monica und dem Beverly Drive in Beverly Hills niedergelassen hatte. Die Beamten der Luftverschmutzungskontrolle gaben ihrer Bestürzung Ausdruck, daß so viele Menschen es versäumten, die Warnungen vor Rauch und Nebel zu beachten; und ein Sprecher der Standard-Oil-Gesellschaft erklärte, daß »die Chancen einer gleichzeitigen Vermehrung der exakten Menge von Autoabgasen, Industriequalm und anderen Verschmutzungsfaktoren, die mit einem Temperaturumschlag zusammentreffen, eins zu fünftausend betragen.« Eine Aufrechnung nannte die Anzahl der getöteten feindlichen Soldaten und die Verlustzahl für amerikanische Soldaten, dazu eine Mitteilung aus Washington, daß die »Kosten pro Tötung« in »dem Krieg« jetzt auf 425 000 Dollar gestiegen waren. Paul las gerade den Bericht eines kanadischen Analytikers über die bevorstehende Wahl des USPräsidenten, als die Stewardeß sich zu ihm beugte: »Kann ich Ihnen irgend etwas bringen, mein Herr?« »Ja«, sagte Paul und sah lächelnd zu ihr auf, »ich hätte gern eine von diesen kleinen Flaschen Gin.« »Gin?« »Wenn Sie schon dabei sind, können Sie mir nicht gleich zwei bringen? Es ist eine lange Strecke bis Vancouver.« 177
»Aber … benutzen Sie keinen Lehm?« Sie war ganz verwirrt und sah schnell in beiden Richtungen den Gang entlang, als ob jemand horchen könnte. »Nur bei Parties.« »Ich weiß nicht, ob wir noch welchen haben. Wir bekommen fast gar keine Bestellungen mehr für Alkohol.« »Na ja, meine Liebe, sehen Sie mal zu, was Sie finden. Gucken Sie auch ins Handschuhfach.« »Ich werde es versuchen«, sagte sie und ging zum vorderen Teil des Flugzeugs; dabei wölbte sie zur Beruhigung eine Hand um ihre Nase. Paul faltete die Zeitung zusammen und fing an, innerlich eine Liste der Punkte aufzustellen, über die er heute abend mit Stier sprechen wollte. Es müßten mehr Fotos gemacht werden, mehr Tonbänder, mehr Filme. Und die neue Oper? Der Mann auf dem Platz hinter ihm schnupperte geräuschvoll an seinen Handflächen. Paul schnallte seinen Sicherheitsgurt auf, lehnte sich seitlich in den Gang vor und lächelte zufrieden, als er die Stewardeß auf sich zukommen sah, ein grau gewordenes Glas und zwei winzige Ginflaschen vorsichtig auf ihrem Tablett balancierend. Wenn es auch auf dem Flugplatz Vancouver International eine Routinelandung gegeben hatte, so verließ doch Paul das Flugzeug mit dem schwindelerregenden Gefühl, er habe wieder einmal dem Tode ein Schnippchen geschlagen. Die Sonne des Pazifiks war warm, die Luft jedoch kühl, und ihm prickelten alle Sinne bei dem vertrauten Salzgeruch des Ozeans. Als er das Flughafengebäude betrat, kam ein junges Mädchen, das einen kurzen weißen Rock und ein weißes Perlenarmband trug, von der Seite her auf ihn zu. 178
Ohne ein Wort zu sagen, streckte sie den Arm hoch und fing an, ihm mit einem kühlen, nach Pfefferminz duftenden Tuch den Schweiß von der Stirn zu wischen. »Vielen Dank«, sagte Paul. »Ich hoffe, daß Sie sich jetzt wohler fühlen«, sagte das Mädchen. »Aber sicher. Sind Sie ein Schneekind?« »Ja. Wir möchten, daß Sie unsere Stadt gern betreten.« Paul lächelte und sah sich in der Vorhalle um. Andere Schneekinder, Jungen und Mädchen, erwiesen den neuankommenden Reisenden ähnliche Dienste. Überraschten Geschäftsleuten wurde das Gepäck aus der Hand genommen, ältere Damen wurden durch den Fußgängerverkehr geleitet. Paul blickte zurück und auf das Mädchen herab: »Sie tragen weiße Perlen … da, an Ihrem Handgelenk.« »Unser Bereich ist der Himmel. Wo haben Sie Ihr Reisegepäck? Ich werde es für Sie tragen …« »Ich habe es bei mir.« Er klopfte mit der Hand auf die Ausbauchung, die seine Brieftasche in seiner Jacke machte. »Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir sagen könnten, wo ich ein Taxi bekomme.« »Dort. Wenn Sie durch die Glastür gehen.« »Herzlichen Dank!« Er ergriff ihre Hand, berührte rasch ihre Fingerspitzen mit einem flüchtigen Kuß und ging weiter. – War es das schimmernd goldblonde Haar des kleinen Jungen, waren es die leicht schräggestellten großen, runden Augen, oder war es die Art, wie er dastand, Hüften und Schultern nach verschiedenen Richtungen gedreht – was es auch sein mochte, irgend etwas ließ Paul daran denken, wie sein eigener Sohn vielleicht aussehen könnte. 179
»Hallo, Kleiner!« sagte Paul. Der Junge starrte ihn an. »Guter Platz zum Leute-Begucken, was?« Der Junge starrte ihn an. »Ich wette, du kannst nicht dreimal wirklich schnell mit den Augen zwinkern …« »Auch nicht einmal.« »Was hältst du da hinter deinem Rücken, einen Frosch? Nein? Moment mal, jetzt weiß ich’s du bist eine Parkuhr! Wenn ich dir ein Zehncentstück in die Nase stecke, fängst du an zu ticken!« Paul wollte in seine Tasche fassen, streckte dann aber statt dessen den Arm vor und berührte das Gesicht des Jungen; fast erwartete er, Stein zu fühlen. »Soll ich dir mal was sagen, Kleiner? Ich glaube, du bist aus deinem verflixten Schädel raus …« Er zog ihn an einem dünnen Arm, und schon fiel ein kleiner Klumpen bläulichen Lehms auf den Boden. Paul hob ihn auf und roch daran. »Alle Wetter!« sagte er. »Das gleiche Zeug, das sie im Adventuary benutzen!« Er wickelte den Lehm in sein Taschentuch ein, steckte es sich in die Tasche und putzte sich die Hände seitlich an der Hose ab. »O. K., Kleiner, es war wirklich nett, sich mit dir zu unterhalten.« Er schnippte mit den Fingern vor den bewegungslosen Augen des Jungen. »Siehst du, was du kriegst, wenn du mit Indianern spielst?« Der Junge stand da und rührte sich nicht. Paul zog sich von ihm zurück, wandte sich um und winkte einem herankommenden Taxi zu. Die Gebäude in Vancouver waren einzigartige Schöpfungen: englische Architektur, aber verschönert durch den Geschmack und Geist des östlichen Los Angeles. Steinerne gotische Spitztürme waren von massi180
ven Neon-Drehscheiben gekrönt, die für Benzin oder für Hustentropfen warben. An den Vorderseiten der Hotels sah man künstlichen Marmor und orangefarbene Sonnendächer aus Plastik. Die Schaufenster in den Nebenstraßen waren dunkel, staubig und oft mit breiten Streifen Klebeband befestigt. Aber auch hier gab es Anzeichen einer Veränderung. In jedem Häuserblock war mindestens ein Gebäude frisch weiß angestrichen, der Gehsteig davor sauber geschrubbt, die Fenster strahlend sauber und mit Blumen geschmückt. Paul war aufgeregt. Er hatte einen trockenen Mund und merkte, daß er an einer Zigarette zog, die gar nicht angezündet war. Sein sorgfältig geprobtes Programm war zerfetzt und flog ihm nur als Konfetti durch den Sinn. Er dachte daran, einen Augenblick an dem Lehm zu schnuppern, den er in der Tasche hatte; aber die lebhafte Erinnerung an seine Erfahrung im Adventuary klang noch in seinem Gehirn nach, und er beschloß, es bleiben zu lassen. Als das Taxi vor einem großen Apartmenthaus aus weißen Ziegeln hielt, zahlte er, wartete nicht auf das Wechselgeld und stieg die Treppe hinauf, mit jedem Schritt drei Stufen nehmend. Er gab sich nicht damit ab, die Namenschilder auf den Briefkästchen im Vorraum zu vergleichen, er ging direkt zum Aufzug und drückte auf den Knopf für das fünfte Stockwerk. Die Wohnung Nr. 9 war am Ende des Korridors; er wischte sich die Hände trocken und drückte heftig auf den Klingelknopf. Keine Antwort. Er zwang sich, bis hundert zu zählen, dann drückte er wieder auf den Knopf. Auch diesmal keine Antwort. Als er sein Ohr an die Tür hielt, konnte er schwach 181
die Stiermusik hören. Aus seiner Erregung wurde Ungeduld, er faßte an den Türknauf. Auf diese Berührung hin öffnete die Tür sich lautlos. Ein weißer Teppich, weiße Wände, der Spiegel in weißes Metall gefaßt; die Adresse war jedenfalls richtig. »Entschuldigen Sie bitte«, redete Paul den leeren Vorraum an. »Entschuldigen Sie, aber Ihre Tür war offen.« Aus einem anderen Raum schlugen gedämpfte Trommeln die Stiermusik. Er ging in die Richtung, aus der dieser Klang ertönte, blieb am Ende des Flurs stehen und sah in ein großes, weißes Wohnzimmer. Auf einem Stuhl in der hintersten Ecke, überrascht grinsend, saß Jerry Miller. »Jerry!« Jerry stand nicht auf. In der rechten Hand hielt er ein großes Glas, aus der linken baumelte der Hals einer zerbrochenen Whiskyflasche herunter. »Du alter Mistkerl!« sagte Paul und stürmte durch den Raum. »Was machst du denn hier?« Jerrys Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Seine Augen waren wie die des kleinen Jungen vorhin am Flugplatz, glasig und unbewegt. »Jerry? Du bist betrunken, nicht wahr? Ich meine, ist sonst alles in Ordnung mit dir?« Paul blieb etwa einen Meter vor ihm stehen. Das kleine Loch in Jerrys Nacken, purpurrot und von verkrustetem Blut umgeben, war unglaublich. »Jerry, ist das … stammt das Loch in deinem Nacken von einer Kugel?« Wie als Antwort auf seine Frage sah er jetzt die feuchten Blutspuren, die über Jerrys grüne Jacke verteilt waren. »Wie!« Paul trat zwei Schritte zurück. »Das ist ja entsetzlich, Jerry … wirklich!« 182
Die Musik verstummte. Paul hielt den Atem an und sah sich wild im Raum um. Links war ein kleiner Durchgang, die Musik war von daher gekommen. »Ist da jemand?« Er lehnte sich gegen die Wand. »Stier? Sind Sie das?« Als die Gestalt im Durchgang erschien, sah Paul zuerst die weißen Schuhe, dann die weiße weite Hose, dann den blauen wollenen Sportmantel – und schließlich den vernickelten Revolver, den Walter in der Hand hielt. »Du!« Paul streckte den Arm vor, als ob er eine Kugel aufhalten wollte. »Ich wette, daß du überrascht bist …« Walters Wangen waren blutbeschmiert; er tupfte mit den Fingerrüden daran herum. »Du liebe Güte, ich hatte auch nicht gedacht, du würdest hier sein.« »Walter!« »Die Welt ist klein …« »Wirst du mich auch töten?« Paul ließ den Arm sinken. »Himmel, nein! Es ist einfach schrecklich, was ihm passiert ist.« Er wedelte mit seinem Revolver zu dem noch immer lächelnden Jerry hin. »Und was ist ihm passiert, Walter?« »Er hat mich mit der Flasche da geschlagen, der Dummkopf!« Walter zeigte seine blutigen Wangen als Beweis vor. »So – peng! – Und da war’s passiert. Und wo ich doch den ganzen Weg hinter ihm hergegangen bin.« »Was ist mit Stier, hast du den auch – ›peng‹ –?« »Ich würde mit Sicherheit sagen: Nein. Hör mal, das war wirklich eine tolle Sache, was du damals in Sausalito gemacht hast … uns auf den Gedanken zu bringen, das Mädchen wäre Stier!« 183
»Ich hatte gemeint, das würde dir gefallen.« »Und dann – ssst – hast du dich absolut in Luft aufgelöst! Deshalb mußten wir uns auf diesen armen Kerl konzentrieren. Oh, und er war noch dazu dein Freund … das tut mir aber leid.« »Was wollte denn Jerry hier in Kanada?« »Ist das nicht ganz klar?« Walter nahm seine Hand gerade so lange von seiner Wange weg, daß er auf das Schwarzweißfoto von Stier auf dem Kaminsims zeigen konnte. »Er ist hierher gekommen, weil er ihn sehen wollte.« »Aber wieso wußte er denn, wo er ist?« »Das kannst du besser mir erzählen.« »Du hast ihn nicht gesehen? Du hast Stier nicht gesehen?« »Wahrscheinlich ist er bei seiner Frau …« »Seiner Frau? Wovon redest du denn?« »Von seiner Frau in Whitehorse, oben im YukonTerritorium. Du meine Güte, erzähl mir ja nicht, du hättest nichts von ihr gewußt!« »Nein.« Paul sah auf den toten Jerry zurück. »Hab ich nicht.« »Es ist aber wirklich schwierig, von dir etwas zu erfahren. Ich hoffe, sie haben mehr Glück mit dir, wenn du wieder in Washington bist.« »Walter, du wirst mich doch nicht wirklich dorthin zurückbringen, wie?« »Aber das muß ich doch! Besser, als dich zu erschießen, nicht wahr?« Ein Blutgerinnsel bildete dicke Tropfen an der Spitze seines Kinns. »Mein Gesicht ist ein Greuel!« Paul besann sich auf den blauen Lehm in seinem Taschentuch und preßte die Hand fest gegen seine Hosentasche. »Du solltest da einen Verband drum haben, Walter.« 184
»Es will einfach nicht aufhören zu bluten!« »Ich werde dir mein Taschentuch geben …« »Würdest du das tun? Ich bespritze mich selbst über und über.« Er senkte den Revolver in Richtung auf Pauls Magen. »Wirf es einfach vor mir auf den Fußboden, bitte. Bei Gott, soweit Ich weiß, könnte ein großer, kräftiger Kerl wie du versuchen, seinen Vorteil gegen mich auszunützen!« Paul zog sein Taschentuch heraus und ließ es vor Walter auf den Boden fallen. »Vielen Dank …« Walter hob es auf und hielt es sich ans Kinn. Paul verschränkte die Arme auf seiner Brust. »Na, Walter, ich glaube, so hört es auf.« »Hmm? Was hört so auf?« »Alles. Stier ist mit seiner Frau oben im YukonTerritorium. Jerry wird hiergelassen und sitzt da mit lächelndem Gericht …« »Mit welch einem Krach die Flasche mich getroffen hat, als er das gemacht hat!« »Kann ich mir denken.« Walter ließ den Revolver auf den Boden fallen und hielt sich das Taschentuch mit beiden Händen an die Nase. »Ein fabelhaftes Zeug, nicht, Walter? Versuch dir’s mal in die Nasenlöcher zu stecken.« Paul bückte sich und hob den Revolver auf. »… war Zeit zu kommen mit mir und rausgehn und runter …« Paul putzte nachdenklich den Griff ab und steckte den Revolver in Walters Jackentasche. Dann ging er ans Fenster, machte es auf und sah gerade hinunter auf die Felsen und Mülltonnen. »Walter, kannst du mich hören?« »… im Gehn – im Gehn – im Gehn – im Gehn …« 185
»Das ist richtig. Ich gehe jetzt, aber ich muß dir noch was sagen. Wenn ich zur Tür hinausgegangen bin, werde ich sie hinter mir zumachen, verstehst du? Das heißt, du kannst nicht hinter mir hergehen …« Walter nickte. »Wenn du hinter mir hergehen willst, mußt du durch das Fenster da hinausgehen; siehst du’s?« Walter nickte. »Die Entscheidung liegt bei dir …« Walter ging zwei Schritte auf das Fenster zu, doch Paul hielt ihn zurück. »Jetzt noch nicht, Walter. Erst wenn ich die Tür zugemacht habe.« Walter nickte, drückte das Taschentuch fester gegen seine Nase und lächelte. Paul ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. RICHARD STIER WHITEHORSE YUKON-TERRITORIUM ANKOMME MORGEN FRÜH SECHS UHR FÜNFZEHN KANANDA-PAZIFIK FLUGLINIE VIERHUNDERTDREIUNDSECHZIG – STOP MUSS SIE SPRECHEN – STOP – FRAGE VON LEBEN ODER TOD – STOP – FÜR MICH ODER SIE ODER BEIDE – STOP PAUL ODEON Der harmlose Flug von Vancouver nach Whitehorse war die nördliche Entsprechung zu einer Party in Neuengland oder dem gemeinschaftlichen Maispalen in Iova. Jeder kannte jeden; auf jedem Flugplatz drängten sich rundliche Ehefrauen heran, um die Schürfer, die ihre Ehemänner waren, zu küssen; Ingenieure und Geologen boten sich gegenseitig aus silbrigen Umhängeflaschen Schlucke von scharfen Getränken an, Indianer186
kinder tanzten rechts und links von der Rollbahn und warteten auf den Abflug, bei dem die Propeller ihnen Schnee ins Gesicht wirbelten. In Prince Rupert wurden einige Sitze ausgebaut, um einer Tragbahre Platz zu machen. Ein sich in der Ausbildung befindlicher Mountie hatte sich selbst in den Fuß geschossen – die Kugel sollte in Whitehorse herausoperiert werden. In Watson Lake stieg nur ein einziger Fahrgast zu, ein Pelzjäger, der etwas Ähnlichkeit mit dem Nikolaus hatte. Er trug einen Ballen frischabgezogener Fuchsfelle mit sich; an dem glänzenden Pelz klebten noch dünne Blättchen gefrorenen Blutes wie ein brauner Schorf. Er warf die Felle mitten auf den Gang, legte sich selbst darauf, stieß seine Stiefel von sich und schlief ein. Paul wurde langsam zu Eis. Das Flugzeug war geheizt, wenigstens glaubte er es, aber sein Mantel, der ihm in Toronto gute Dienste geleistet hatte, war kein Schutz gegen die Windstöße frostiger Luft, die jedesmal durch den Gang pfiffen, wenn die Luke geöffnet wurde. Es war dunkel. Es war Nacht. Oder es war Morgen, Das hatte nichts zu sagen. Es war kalt. Er versuchte, an etwas Warmes zu denken. An einen Ofen. An die Sonne. An die Oberschenkel einer dicken Frau. Dadurch wurde ihm aber noch kälter. Er erinnerte sich daran, daß erfrierende Menschen sich, kurz ehe sie sterben, wärmer fühlen. Das war das einzige Tröstliche, was er erwartete. Die arktische Nacht wirkte sogar noch dunkler, als das Flugzeug um sieben Uhr fünfzehn in Whitehorse landete, dem Fahrplan nach mit einer Stunde Verspätung. Paul sprang über den schlafenden Pelzjäger auf einen Hügel von Fellen, stieg als erster aus dem Flugzeug aus, überquerte den eisigen Landeplatz, kam als erster in den fast siedend heißen Warteraum. 187
Als er sich über den Ofen voll glühender Kohle beugte, der in einer Ecke des Warteraums stand, hätte er beinahe aus reinem Vergnügen geschrien. Er drehte sich um, damit auch seine Rückseite warm würde, und beobachtete, wie die anderen Passagiere zur Tür hereingestampft kamen. In der entgegengesetzten Ecke standen Leute, die Fluggäste erwarteten oder auf dem Rückflug nach Vancouver fliegen wollten; keiner von ihnen erinnerte auch nur im geringsten an das Foto von Stier. Die Wärme, die von den Knien aus bis in die Schultern hochstieg, war höchst angenehm – darum merkte Paul zuerst gar nicht, daß der junge Mann, der auf ihn zuging, seinen Namen rief. »Paulo Dehon? Paulo Dehon?« Er trug Lederstiefel und eine pelzgeschmückte Parka. Seine Gesichtszüge waren anders als die aller Indianer, die Paul bisher kennengelernt hatte; seine Nase und sein Mund lagen in einer Vertiefung wie in einer Untertasse, wodurch die viereckige Stirn und das Kinn betont wurden; seine Zähne waren klein und ungleichmäßig, seine Hautfarbe erinnerte an überreife Bananen. Ein Eskimo, entschied Paul. »Paulo Dehon? Kommen. Wir fahren.« »Wohin? Wohin fahren wir?« Paul wich nicht von dem Ofen. »Stier-Haus. Du kommen, jetzt.« »Ist der Wagen geheizt?« Statt einer Antwort zog sich der junge Mann seine Fausthandschuhe aus Pelz an. »Warm im Wagen?« beharrte Paul. »Stier-Haus. Du kommen.« Paul stampfte mit beiden Füßen auf, ohne sie zu spüren, vergrub die Hände in den Taschen seines Mantels und folgte dem jungen Eskimo durch eine Tür, die zu einem primitiven Parkplatz führte. Der Eskimo 188
zeigte auf einen Jeep, der am äußersten Ende geparkt war. Paul war sich nicht ganz sicher, aber er meinte, als er durch den knirschenden Schnee stapfte, daß er spürte, wie ihm wärmer wurde. Er saß in gefrorenem Schweigen da, als der Jeep langsam hinter einer Reihe von Wagen her fuhr, denen ein voranfahrender großer, gelber Schneepflug etwas Hilfe leistete. Als der Eskimo die Bremsen anzog und auf ein zweigeschossiges Haus am Straßenrand zeigte, nickte Paul nur. »Da drin. Du gehen. Stier-Haus«, sagte der Eskimo. Paul trat vorsichtig durch den Schnee, als ob er unter ihm nachgeben könnte. Er fand besseren Halt auf dem Gehsteig, von dem der Schnee weggeschippt und auf den eine Mischung von Sand und Salz aufgestreut worden war; er ging durch die offenstehende Haustür, ohne seine Zeit damit zu vertrödeln, die Schuhe abzustreifen. Er machte die Tür hinter sich zu und knöpfte den Kragen seines Mantels auf. »Naasook?« Die weibliche Stimme kam irgendwoher aus dem Obergeschoß. »Mach es Mr. Odeon im vorderen Zimmer bequem. Ich komme bald herunter.« Paul sah über seine Schulter zurück, um sich zu vergewissern, daß kein Naasook hinter ihm war. Er dachte an die Schußwunde in Jerrys Nacken, an das Blut, das Walter von der Wange heruntergetropft war; er hatte nicht die Absicht, den Platz, auf dem er stand, zu verlassen. Etwas stimmte nicht. Genau gesagt, alles stimmte nicht. Die Treppe, die Wände, der Fußboden – nichts war weiß. Warum stand die Tür offen? Warum kam Naasook nicht herein? War das oben wirklich Stiers Frau? Und sprach sie mit einem leichten französischen Akzent, war das möglich? Sie erschien oben auf der Treppe, in einer Hand eine 189
dampfende Kaffeekanne, in der anderen eine Zigarette. Ihr Haar war, einem Turban gleich, mit einem grünen Handtuch umschlungen, die Augen waren hinter den Schlitzen einer großen arktischen Schneebrille verborgen. Der hochgestellte Kragen ihres gesteppten Morgenrocks bedeckte Hals und, Kinn, an den Füßen trug sie flaumige rote Hausschuhe. Als sie die Treppe heruntergekommen war, stellte Paul fest, daß er ihre Nasenspitze anredete. »Guten Morgen! Ich bin Paul Odeon. Naasook – oder wie er heißt – ist in dem Jeep weggefahren. Ich dachte, es sei am besten, wenn ich hier warte.« »Ich bin Adrianne de l’Isle Stier.« »Mrs. Stier …« Paul machte eine leichte Verbeugung. Sie lachte. »Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich so früh komme«, sagte Paul kalt, »und Ihnen nicht die Zeit lasse, sich anzuziehen.« »Entschuldigen Sie bitte mein Aussehen.« Sie trank langsam und bedächtig einen Schluck Kaffee. »Die Brille trage ich, weil ich einen Kater habe. Zu viel Whisky gestern abend, und ich trinke ihn zu schnell.« »Mein Beileid!« »Möchten Sie einen Kaffee haben?« »Wirklich, Mrs. Stier, ich bin wegen einer geschäftlichen Angelegenheit gekommen.« »Aber natürlich.« »Ich bin hier, um mit Ihrem Gatten zu sprechen.« »Ich weiß.« »Ist er nicht hier?« Sie zog an ihrer Zigarette. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns hinsetzen? Es ist noch sehr früh für mich.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und schlurfte durch die Diele. 190
Paul folgte ihr in das Wohnzimmer. Auch dort war nichts weiß. Die Wände und der Fußboden waren aus rohem, nicht bearbeitetem Holz, die Möbel aus dunklem Mahagoni mit üppigen roten Samtpolstern. An der Decke hing ein tropfenförmiger Krönleuchter, und vor dem, aus roten Ziegeln gemauerten Kamin, stand im Mittelpunkt eines kleinen Perserteppichs ein s-förmiger »Liebesstuhl« für zwei Personen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der einzige Schmuck, den es überhaupt in dem Raum gab, war ein antikes Kreuzstich-Mustertuch, das einen rotwangigen Jungen mit seinem Hund darstellte. »Ihren Mantel, bitte …« Er zog ihn aus und übergab ihn ihr. »Dies ist ein interessantes Zimmer … hier scheint nichts weiß zu sein.« »Bringt Sie das aus der Fassung?« »Nur weil ich fürchte, es könnte bedeuten, daß Richard Stier nicht da ist.« »Er wohnt schon seit zwei Jahren nicht mehr hier. Was Sie sehen, ist alles mein Eigentum.« »Zwei Jahre?« Paul sank in einen Stuhl. »Ihr Telegramm habe ich bekommen, aber ich hatte keine Möglichkeit, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen um Ihnen mitzuteilen, daß es zwecklos ist, hierher zu kommen.« »Ist er … wissen Sie, wo er ist?« »Nein.« »In Stratford sagte man mir, er sei in Vancouver …« »Ich glaube, dort hat er ein Apartment, aber ich bin nicht sicher.« »Es scheint Ihnen gleichgültig zu sein.« »Das ist es.« Paul langte nach einer Zigarette. »Vielleicht interessiert es Sie, daß in dem Apartment ein Freund von mir 191
ermordet wurde, und daß der Mann, der den Mord begangen hat, möglicherweise die Absicht hatte, Ihren Gatten zu ermorden!« »Es tut mir leid um Ihren Freund.« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Das ist alles?« »Ja.« Paul zündete langsam seine Zigarette an, schlenkerte das Streichholz, bis es erlosch, und warf es in den Kamin. »Recht vielen Dank.« »Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann …« »Sie können.« Er stand auf. »Geben Sie mir meinen Mantel wieder.« »Ihren Mantel? Warum das?« »Ich bin hierher gekommen, um mit Stier zu sprechen. Er ist nicht hier, folglich gehe ich jetzt. Ich denke mir, daß irgend jemand in dieser Stadt weiß, wo er sich aufhält.« »Aber … da draußen friert es!« »Auch hier drinnen ist es ziemlich frostig, Mrs. Stier.« »Warten Sie, bitte. Ich habe töricht gehandelt, ich weiß …« Sie ließ ihre Zigarette in die Kaffeetasse fallen, als ob sie ein Opfer bringen wollte, streckte die Arme hoch und band das Handtuch von ihrem Kopf ab. Wilde Locken schwarzen Haares flossen über ihre Schultern herab. Sie zog den Kragen ihres Morgenrocks nach unten und nahm sorgfältig die Schneebrille ab. Es war, als würde die Gußform einer vollkommen gebildeten Statue aufgebrochen; ihre Nase, ihr Kinn, ihre Wangenknochen waren auserlesen modelliert, ihre Lippen voll, aber in klaren Umrissen gezeichnet. Das Orange der Flammen im Kamin spiegelte sich zart in ihren dunklen Augen. Paul war völlig gelähmt. Er starrte sie nur an und 192
stellte insgeheim fest, daß sie die allerschönste Frau war –, eine schönere Frau, als er sie sich je hatte vorstellen können. »Das Alleinsein macht dumm«, sagte sie. »Ich kann Ihnen viel über Richard erzählen, vieles, das Sie gern wissen möchten. Wollen wir miteinander ein Glas Brandy trinken und gute Freunde sein?« Paul nickte. Seine Handflächen waren sehr warm, was bedeutete, daß die Erfrierungsgefahr vorbei war. »Damals war ich neunzehn Jahre alt. Es war 1970, in dem Jahr, als mein Vater starb. Er war Holzhändler in – wie nennen Sie es noch, Bauholz? – und oft von unserem Zuhause in Montreal fort, um in Quebec herumzureisen. Aber zu der Zeit mußte er zum YukonTerritorium fahren. Er sprach nur Französisch, nicht Englisch, er nahm mich mit, weil ich für ihn übersetzte.« »Sind Sie dann hierher gekommen? Nach Whitehorse?« »Zuerst ja. Aber dann waren wir weiter nördlich, in Dawson. Es war Sommer. Die Sonne schien sogar um Mitternacht, und ich ging immer am Yukon River spazieren. Einmal sah ich nachts einen Mann allein an einem Baum stehen. Er sang ihn an, sang den Baum an! Ich habe seine Worte nicht verstanden, aber der Gesang war sehr schon. Ich habe den Mann in vielen Nächten gesehen, er war immer weiß gekleidet.« »Haben Sie mit ihm gesprochen?« »Ja. Es war alles wie ein Traum. Oh, er war viel älter als ich, aber in vielem war er wie ein Kind. Wenn wir uns liebten, war das … sehr sonderbar. Soll ich Ihnen noch Brandy einschenken?« »Danke, ich habe noch.« »Als der Sommer vorbei war, meinte ich, daß ich 193
ein Kind von ihm bekommen würde, und ich sagte es meinem Vater.« »Wie hat er es aufgenommen?« »Sehr übel. Er hat sich erschossen. Richard bestand darauf, daß wir am Tage seiner Beerdigung heirateten.« »Haben Sie das getan?« »Ja. Am Abend des gleichen Tages.« »Sie haben Ihre Mutter gar nicht erwähnt.« »Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ganz klein war.« »Lebten die Eltern von Stier, von Ihrem Gatten, denn noch?« »Er hat nie von ihnen gesprochen. Aber ich glaube, sein Vater war ein Deutscher, der sich im YukonTerritorium aufhielt, um nach Gold und wertvollen Metallen zu suchen. Richards Mutter war Indianerin, ich glaube aber nicht, daß sein Vater sie jemals geheiratet hat. Ich weiß es nicht genau. Doch dies hier – all die Möbel, sehen Sie? – das gehörte meinem Vater. Richard mochte es nicht leiden, er war der Meinung, daß alles weiß sein müßte.« »Warum?« »Ich weiß es nicht. Er sagte, daß er die ganze Welt weiß machen würde. Und jetzt ist er dabei, das zu tun. Aber hier nicht, hier nicht mehr …« Paul sah auf seine Uhr. Weniger als eine Stunde bis zum Mittag, aber der Himmel draußen war noch dunkel. »Ich hätte gern einen kleinen Schwips, damit ich Ihnen alles erzählen kann.« »Das ist ein guter Brandy.« »Ich habe Ihre Botschaften an die Schneekinder gelesen, wissen Sie das?« »Dann kaufen Sie wenigstens die Schallplatten Ihres Gatten …« 194
»Nein. Ich lese nur die Rückseiten der Plattenhüllen. Ich höre lieber Mozart. Oder Grieg, ich habe Grieg sehr gern. Aber in Wien wollte ich Mozart hören.« »Wann sind Sie denn nach Wien gegangen?« »Das war 1971, wir hatten noch kein Jahr hier gelebt. Es war etwas Geld da von Vaters Testament, und Richard wollte Musik studieren. Ach, war das schön, wir beide in einem kleinen Apartment mit dem Ausblick auf die Donau … Richard schrieb vom frühen Morgen bis nach Mitternacht seine Musik. Aber als die Männer sich mit ihm in Verbindung setzten, war alles vorbei … »Welche Männer?« »Richard sagte, es wären neun. Er hat nie ihre Namen genannt oder gesagt, wo sie herkamen, er nannte sie nur Die Neun. Ich bin überzeugt, daß sie jetzt in Kanada sind. Zuerst habe ich sogar gedacht, Sie seien vielleicht einer von ihnen. Jetzt sind Sie dran, Brandy einzuschenken, wollen Sie?« »Sehr gern …« »… damals hat Richard aufgehört, mich zu lieben. Die Neun haben seine Seele gefangengenommen. Er schrieb noch seine Musik, aber er begann an anderen Sachen zu arbeiten, die ich nicht verstehen konnte.« »Was für Sachen denn?« »Einmal ist er abends mit kleinen Flaschen voller Chemikalien nach Hause gekommen, die Die Neun ihm gegeben hatten. Richard wartete, bis das Mondlicht zum Küchenfenster hereinleuchtete, und dann hat er mir gesagt, wie ich die Chemikalien in einer steinernen Schale mischen sollte … während er durch eine Kristall-Linse Mondlicht auf sie fallen ließ. Klingt es unsinnig?« »Ja, aber vertraut.« »Richard hat gesagt, im Himmelsraum wären Men195
schen, und er würde mit ihnen reden können, wenn er nur den rechten Laut dafür schaffen könnte. Sehen Sie diesen Ring? Richard hat ihn mir gegeben, etwa zu der Zeit, als wir geheiratet haben …« »So einen weißen Edelstein wie diesen habe ich noch nie gesehen.« »Er stammt aus dem Norden. Einmal in Wien wachte ich nachts vom Schlaf auf und hörte einen sehr seltsamen Laut. Ich dachte, noch zu träumen! Als ich in die Küche ging, sah ich den Ring in der Luft schweben! Richard packte mich. ›Siehst du?‹ rief er aus, ›ich habe dir doch gesagt, daß ich das Vibrieren deiner Hände brauche!‹ So ist es fünf Jahre lang weitergegangen. Oft habe ich ihn wochenlang nicht gesehen, und wenn ich ihn dann wirklich sah, war er wie ein anderer Mann. Nein, nicht wie ein Mann – wie ein Geist.« »Wie meinen Sie das?« »Er fing an, das zu durchleben, was er früher schon einmal durchlebt hatte, so sagte er. Oder was er später einmal durchleben würde. Er sagte, er könnte sich daran erinnern, daß er einmal auf einem Planeten gelebt habe, der zwölf Monde hatte. Ein anderes Mal hat er gesagt, er lebte auf einer Insel südlich von Griechenland. Nicht als Mensch, sondern als ein Tier, ein Tier, das geopfert werden würde. Einmal sagte er, er wäre Wagner, und seine Musik würde zu einer Revolution auf der Erde führen.« »Mindestens damit hatte er recht.« »Und dann hat er gesagt, Die Neun hätten ihm erklärt, daß er sich reinigen müsse. Er hörte auf zu rauchen, trank keinen Alkohol mehr, wollte kein Fleisch und keinen Fisch mehr essen. Er sagte, eines Tages würde er überhaupt keine Nahrung mehr benötigen, sondern seine Gesundheit aus dem weißen Licht der Sonne schöpfen … Seit der Zeit hat er mich nie mehr 196
körperlich berührt. Er sagte, der größte Liebesakt würde in unserem Geist stattfinden …« »Aber in dem, was er schreibt … der ganze Iliyu ist eine Verherrlichung der körperlichen Liebe. Hat er nicht –« »Er hat gesagt, in tausend Jahren werden die Männer Frauen sein und die Frauen Männer. Nein, nicht direkt, es wäre so, daß sie zu einem Menschen würden und Vollkommenheit erlangten. Aber Richard wollte nicht tausend Jahre lang warten … ich habe das damals nicht verstanden. Ich war verletzt, weil er mich nie liebte. Einmal habe ich ihn nachts angeschrien und ihm gesagt, ich glaube, daß er mit den neun Männern schliefe.« »Was tat er da?« »Nichts.« »Und Sie?« »Ich trank sehr viel Brandy. Können Sie das verstehen? Ich tue es noch immer. Mein Körper ist verletzt, weil er nicht geliebt wird. In dem Apartmenthaus auf der anderen Straßenseite wohnten Studenten. Ich zog mich abends immer am offenen Fenster aus, damit ich fühlen konnte, wie die Blicke der Männer meinen Körper berührten. Ich fing an, sehr enge Kleider anzuziehen, und machte lange Spaziergänge durch die Innenstadt; dabei bildete ich mir ein, die Blicke der Männer zu fühlen. Sehen Sie nur, wie ich jetzt dasitze, mit dem offenen Morgenrock. Ich tue es noch jetzt …« Paul nippte an seinem Glas. Aus den Bäumen draußen ertönte das Schnattern ärgerlicher Krähen, als die arktische Sonne über die Berge schien und das eisige Schwarz in Weiß verwandelte. »Dann ist das also abgemacht … ich werde dich Paul nennen und du mich Adrianne.« »Einverstanden!« 197
»Ich bin so froh, daß du trinkst. Ich dachte, du würdest Lehm benutzen, wie die meisten Menschen draußen.« »Wo draußen?« »Hier im Yukon-Territorium nennen wir alle anderen Gebiete ›Draußen‹. Soll ich eine Platte auflegen?« »Jetzt noch nicht, ich möchte das Ende deiner Geschichte hören …« »Die Geschichte! Natürlich. Die Geschichte … Wir sind ins Yukon-Territorium zurückgekommen, hier in dieses Haus. Ich habe Richard nur noch zweimal gesehen, das letzte Mal, als er seine Sachen holte.« »Wo ist er hingegangen?« »Er ging nach Norden, um bei den Eskimos zu leben, und dann nach Vancouver, dann nach Stratford, dann in die Vereinigten Staaten. Ich habe etwas über ihn gelesen, das ist alles.« »Warum bleibst du dann hier?« »Es ist das einzige Zuhause, das ich habe. Ich habe meinen Brandy, meinen Mozart, und ich habe Naasook, der dafür sorgt, daß ich nicht erfriere … ach, Paul, mach’ doch nicht so ein Gesicht! Er ist nicht mein Liebhaber … Er versorgt den Ofen, und er kauft für mich ein. Und manchmal bringt er mir Neuigkeiten über Richard mit.« »Vielleicht weiß er, wo Stier jetzt ist …« »Nein. Das weiß er nicht. Er sagt, daß einer von Den Neun vor einem Jahr seinen Vater geholt hat.« »Seinen Vater?« »Ja. Habe ich dir das nicht erzählt? Ehe wir heirateten, hat Richard mit einer Eskimofrau in Aklavik zusammengelebt. Naasook ist ihr Sohn.« »Zwischen zwanzig schneebedeckten Bergen war das einzige, was sich bewegte, das Auge einer Amsel.« 198
»Das ist sehr schön«, sagte Adrianne. »Hast du das jetzt eben gemacht?« »Nein … eine Freundin von mir, sie hieß Beebee, schrieb sich oft Gedichte auf, die sie auf der HighSchool gelernt hatte. Sie hat auch selbst welche gemacht, die recht gut waren.« Adrianne hatte den Mozart durch eine zerkratzte Schallplatte von Peer Gynt ersetzt, und gedämpfte Saiteninstrumente begannen das heimliche Crescendo von Im Saal des Bergkönigs zu zupfen. »Ich habe Anitras Tanz übersprungen«, sagte sie. »Er ist so traurig …« Paul sah weiterhin aus dem Fenster. »Ich möchte nicht wie ein unwissender Tourist wirken«, sagte er, »aber über dem Berg da draußen gehen zwei Sonnen auf.« »Ein Sonnenhund! Laß sehen!« »Dort …« »Das bedeutet, daß es bald sehr kalt wird. Die Sonne wird durch die Eiskristalle im Himmelsraum reflektiert. Ähnlich wie der Regenbogen, den ihr draußen habt, aber hier oben gefriert die Feuchtigkeit.« »Welches ist die wirkliche Sonne?« »Ich glaube, die linke. Sie ist etwas heller. Aber das hat nichts zu sagen; egal, welche wir auch aussuchen, es ist in jedem Fall die richtige.« »Berichtigung: Keine, die wir aussuchen, ist die wirkliche Sonne. Alles, was wir sehen können, ist der Lichtreflex der Sonne, von der Stelle, wo sie vor acht Minuten stand.« Er erhob sein Glas. »Soviel über die Wirklichkeit.« Adrianne dachte ein paar Minuten darüber nach. Schließlich sagte Sie: »Logik verwirrt mich. Ich kann an Dinge glauben, auch wenn ich sie nicht sehe.« 199
»An Stier zum Beispiel?« Adrianne blickte in ihr Glas. »Du mußt auch gerade von Richard Stier sprechen … du schreibst für ihn, du arbeitest für ihn, und dabei hast du ihn noch nie gesehen.« »Nenne mich doch einfach Paul Odeon, den Sonnenhund-Boy.« »Aber warum tust du das eigentlich?« »Sonnenhunde haben keine Gründe, sie sitzen eben da und reflektieren.« »Du machst dich über mich lustig …« Sie begann, sich von ihm abzuwenden. »Verzeihung«, sagte Paul und berührte leicht ihre Schulter. »Vielleicht bin ich mir selbst nicht sicher. Ich weiß nur, wie das Leben vorher war … ›der Krieg‹ und die Luftalarme und der Stumpfsinn und der Dreck, und jeder zog am selben blutigen dicken Stück Fleisch. Und das starre Gefühl, daß nichts von irgendwelcher Bedeutung ist. Man mußte innerlich absterben, nur um einfach am Leben zu bleiben, man durfte sich gar keine Gedanken um die Dinge machen, sonst wäre man verrückt geworden … ich habe dir erzählt, daß ein Freund von mir ermordet wurde. Das macht mir etwas aus, natürlich, aber weißt du, was mir durch den Kopf geht? Ich hasse ihn, weil er so dumm war, sich ermorden zu lassen …« Er wollte einen Schluck nehmen, aber er sah, daß sein Glas leer war. »Stier ist im Begriff, all das zu verändern. Nicht einfach durch seine Musik, sondern durch sich selbst. Die Schneekinder sind nur ein Anfang; nach der Wahl wird das ganze Land von einer einfachen, schönen Idee beherrscht sein – von der, daß die Menschen sich selbst erschaffen können.« »Ist das wirklich wahr mit der Wahl? Im Radio hat man solche Gerüchte gehört.« 200
»Ja. Es ist wahr.« »Richard wird niemals Premierminister werden.« »Warum nicht?« »Er ist Musiker, über Politik weiß er nicht Bescheid. Er würde niemals gegen einen erfahrenen Politiker wie Fenton Knowles gewinnen.« »Fenton Knowles? Ist das der … Ist er groß, ziemlich dünn und rothaarig?« »Ja, er ist der Vorsitzende der konservativen Partei. Der Premierminister hat schon –« Paul brach in lautes Gelächter aus. »Was ist daran so komisch?« »Den habe ich kennengelernt! Als ich noch in Stratford war! Er war es, der mich gebeten hat, mich für die Wahl von Stier einzusetzen!« Paul stellte sein Brandyglas auf den Tisch und fing an, auf und ab zu gehen. »Fantastisch! Und du meinst, Stier wäre kein Politiker …« »Das verstehe ich nicht.« »Es ist genau das gleiche, was in den Vereinigten Staaten 1964 bei der Präsidentenwahl passiert ist. Die Republikaner suchten sich als Gegenkandidaten des Präsidenten einen vom ultrarechten Flügel aus, weil sie wußten, daß er verlieren würde. Der Vorteil war der, daß der Präsident auch zum rechten Flügel gehörte und nicht Farbe bekannte, ehe die Wahl nicht vorbei war. Verstehst du nicht? Knowles unterstützt eigentlich Stier, aber er läuft Sturm gegen ihn, damit er verlieren kann, ganz nach seiner Absicht. Aber … außer es ist …« »Was außer?« »Außer wenn es andersherum ist. Hast du das Foto von Stier auf der Kassettenausgabe von Iliyu gesehen?« »Ja, ich –« »Ist er das? Bist du sicher, daß er es ist?« 201
»Natürlich bin ich sicher. Es ist ein altes Foto. Er trägt darauf seine Silberfuchs-Parka, ich habe sie noch.« »Wo?« »Nebenan. Weshalb?« »Zeig sie mir, Adrianne, bitte …« »Du kannst sie ruhig sehen.« Paul folgte ihr in ein kleines Zimmer, das von der Diele aus zugänglich war. Sie machte die Tür eines Wandschranks auf, verschwand darin und kam mit der Parka in der Hand wieder heraus. »Das ist sie?« fragte Paul. »Ja.« »Hast du was dagegen, wenn ich sie anziehe?« »Du kannst sie tragen, aber warum?« »Nur um mich warmzuhalten.« Paul lächelte ihr zu. »Wir haben einen Sonnenhund, erinnerst du dich? Das bedeutet, daß es sehr kalt sein wird, wenn wir nach Dawson kommen.« Der Flug nach Dawson dauerte zwei Stunden und zwanzig Minuten. Außer ihnen waren nur sieben andere Passagiere in dem Flugzeug, einer klapprigen DC-3, die sich hustend und zitternd anstrengte, in der dünnen arktischen Luft ihre Höhe beizubehalten. Die Sonnen versanken beide hinter dem Horizont und ließen die schneebedeckten Täler unten in grünem und purpurnem Schatten, die Baumwipfel auf den Bergen in flammendem Scharlachrot, als die letzten Strahlen ihre eisverkrusteten Zweige entzündeten. Über Mayo ging das Flugzeug im Sturzflug hinunter, um den Passagieren einen besseren Blick auf einen Elch zu ermöglichen, der am Rande einer kleinen Lichtung äste. Niedrig über Gravel Lake wurden zwei simulierte Angriffsflüge ausgeführt, um einen großen 202
schwarzen Bären taumelnd einen Abhang hinunterkullern zu lassen. Das Flugzeug war unbeheizt und die Luft dünn. Eine junge Stewardeß, deren Proportionen durch zwei Wollpullover ergänzt wurden, scherzte mit den Passagieren und versorgte sie mit heißem Rum oder weißem Lehm oder auch mit beidem, als Schutz gegen Erkältungen und Nasenbluten. Paul und Adrianne tranken Rum. Er erzählte ihr von Sausalito, von der Nacht auf dem Mount Tamalpais, von den Wochen, die er in Indianerreservaten verlebt hatte, vom »Adventuary« in Stratford und von dem Zwischenfall in Stiers Apartment in Vancouver. Er versuchte, sich an alle Einzelheiten, an jeden Gesprächsfetzen zu erinnern und horchte die ganze Zeit kritisch dem Klang seiner Stimme, in einem Versuch aus gültigen Urteilen Schlußfolgerungen abzuleiten. Aber nach seinem dritten Glas Rum wurde ihm die schöne Frau, die neben ihm saß, wichtiger als die Logik. Die Verbindung von Brandy am Morgen und Rum am Nachmittag hatte ihren französischen Akzent verstärkt und sie aufgeschlossen gemacht; bis das Flugzeug in Dawson landete, hatte sie Paul schmeichelnd zu einem »So-tun-als-ob-Spiel« überredet. »Spielen wir Naasook aus dem Norden«, sagte Paul. »Oder heißt er Nanook?« »Die Geschichte kenne ich nicht«, lachte sie. »Der arme Naasook, er wird überrascht sein, daß wir nicht mehr da sind. Ich habe eine Notiz für ihn hinterlassen; ich hoffe, daß er sie findet.« »Wie war’s denn mit einem Mountie und einem Gefangenen?« schlug Paul vor. »Ich bin Sergeant Preston, und du kannst ein geriebener, dreckiger, bärtiger Französisch-Kanadier sein.« 203
»Aber ich bin ja eine Französisch-Kanadierin!« »Dann bist eben du der Mountie ...« Er hob ihr Handgelenk hoch und schloß es mit imaginären Handschellen an sein eigenes an. »Mein Gott, du würst sahn, du kommst nie merr lebendiesch aus diesär Wildnis herrous!« Er hob sein Glas mit der freien Hand und verschüttete Rum, als das Flugzeug auf den Boden prallte und bis zum Halteplatz rollte. Paul war enttäuscht, als er statt eines von bellenden Eskimohunden gezogenen hölzernen Schlittens den langen gelben Limousinenbus sah, der sie in die Stadt fahren sollte. Er setzte sich nach hinten, hielt sein Handgelenk dicht an das von Adrianne und hatte sein mageres Vokabular französischer Flüche bald erschöpft. Die anderen Passagiere waren tolerant und taten so, als ob sie nicht hörten, wie sein französischer Akzent zuerst in einen deutschen Dialekt und dann ins Ungarische überging, als er mit blutigen Einzelheiten schilderte, wie er seine verkrüppelte Stiefmutter zuerst mit einem zerbrochenen Axtstiel ermordet und sie dann vergewaltigt hatte. Als sie aus dem Bus ausstiegen, waren Geräusche zu hören, die Gewehrschüssen ähnelten. »Was ist das?« fragte Paul. »Gesetz des Nordens«, antwortete Adrianne. »Bei uns werden die Verurteilten zur Zeit des Sonnenuntergangs hingerichtet.« »Nein, wirklich … was war das?« »Die Feuchtigkeit in den Bäumen – wie nennt ihr sie? – der Saft. Wenn es so kalt wie jetzt ist, gefriert der Saft und explodiert.« Was sie sagte, wurde durch zwei weitere »Gewehrschüsse« unterbrochen. Paul blickte angestrengt in die Dunkelheit, sah aber nur die Umrisse kleiner Holzhäuser zu beiden Seiten der Straße, alle durch die treibende, gefrorene Tundra winklig geneigt. 204
Sie folgten den anderen Passagieren in das Hotel, wo ihre Gesichter in der heißen Luft und im Zigarettenrauch brannten. Im grellen Licht einer Reihe unverhüllter elektrischer Birnen, die über einer altmodischen Bar aus geschnitztem Eichenholz hingen, sah Paul an kleinen Tischen der Wand entlang bärtige Männer Karten spielen. Zwei dicke Frauen tanzten zusammen vor einer Musikbox. An der Wand hingen gekreuzte Gewehre, Hirsch- und Elchgeweihe, neben der Bar waren zerbrochene Stoßzähne und fossile Elefantenzähne aufgestapelt. »Die Bewohner von Dawson benutzen keinen Lehm«, sagte Adrianne und fächelte sich den Rauch aus dem Gesicht. »Sie gehen nie nach draußen.« »Dem Geruch nach«, sagte Paul, »glaube ich, daß du recht hast.« Das Abendessen wurde von einer Siwash-Indianerin aufgetragen, deren Gesicht nicht das kleinste Lächeln zeigte. Die Passagiere saßen an einem langen Holztisch, aßen Maisbrot und schnitten sich selbst Scheiben von einem frischgebackenen, etwa 1,20 Meter langen Königslachs ab. »Die Indianer fangen den Lachs mit Fischrädern«, sagte Adrianne. »Das ist interessant zu sehen. Das Rad hat Ruderschaufeln, durch die es sich im Fluß dreht. Die Ruderschaufeln heben die Fische heraus und lassen sie über eine hölzerne Rinne auf den Strand gleiten. Vielleicht möchtest du morgen gern so ein Fischrad sehen?« Paul gab keine Antwort. Er beobachtete einen der Passagiere, der dasaß und das Essen auf seinem Teller anstarrte, lächelte, und ab und zu die Hände erhob, um über seinen Handflächen tief einzuatmen. Nach dem Abendessen tranken sie noch mehr Rum, tanzten und saßen zwischendurch an einem Tisch in 205
der Ecke, von dem aus sie schläfrig den Kartenspielern zusahen. Es war kurz nach Mitternacht, als sie die schmale Treppe hinaufstiegen. Oben stand der Mann, der ihnen auch an der Bar die Getränke eingeschenkt hatte. Paul hatte bisher noch gar nicht gemerkt, wie stattlich er war. Seine Nackenmuskeln wölbten sich, daß sein Kopf würfelförmig wirkte. Er hatte so breite Schultern, daß seine Hemdsärmel eben über die Ellbogen reichten, und er hielt die dünne Liste in den Händen, als ob er sie fressen wollte. »Sie müssen unterschreiben, damit Sie ein Zimmer kriegen«, sagte er gähnend. »Aber sicher«, meinte Paul. »Möchten Sie, daß ich es gleich bezahle?« »Wenn Sie wieder gehen. Ein Zimmer oder zwei?« »Ähm – zwei.« Paul spürte, daß Adrianne ihn beobachtete. »Ist nur ein Zimmer frei. Das kann dann die Dame nehmen, Sie können noch mit in das Zimmer unten am Ende des Vorraums.« Er wartete, bis Paul seine Unterschrift hingekritzelt hatte, klappte die Liste zu und stapfte schwerfällig die Treppe hinunter. »Ich nehme an, daß dein Schlüssel in der Tür steckt«, sagte Paul. Adrianne nickte. »Na«, meinte er und sah von einem Ende des Vorraums bis zum anderen, »ich glaube, es ist besser, wenn wir etwas Schlaf kriegen.« »Hoffentlich gefällt dir dein Zimmergenosse«, sagte Adrianne. »Hoffen wir’s.« »Wenn nicht, dann könntest du ja in mein Zimmer kommen. Und wir könnten ›So-tun-als-ob‹ spielen.« Sie berührte den Ärmel seiner Parka. 206
»Gute Nacht, Mrs. Stier«, sagte Paul und zwang sich zu einem Lächeln. »Gute Nacht!« Sie wandte sich rasch ab von ihm, öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und schloß sie hinter sich. »Ich bin doch ein Vollidiot!« sagte Paul zu sich selbst, als er auf die Tür am Ende des Vorraums zuging. Der verletzte Blick ihrer Augen hatte ihn tief verwundet, und sein Körper spannte sich vor Reue. Zur Strafe stellte er sich vor, was er hinter der Tür seines Zimmers finden würde: einen alten Kerl, hundertfünfzig Jahre alt, zahnlos und mit Tabakflecken im Bart, der nach Sirup roch und sich dauernd die knotigen Beine durch seine rotwollene Unterwäsche hindurch kratzte. Er hatte recht, außer daß die Unterwäsche des alten Mannes gelb war. »Der Geschäftsführer hat gesagt, ich könnte hier schlafen«, erklärte Paul. »Tut mir leid, daß ich Sie störe.« »Das macht mir nix aus. Nimm das Bett am Fenster.« Der alte Mann klopfte seine Pfeife an der Kante seines Bettes aus und langte nach seiner Hose, die auf dem Fußboden lag. »Ich rauch jetzt meine letzte Pfeife, willst du sie auch mal?« »Danke, nein.« Paul fing an, sich auszuziehen. »Nettes Jäckchen, das du da anhast. Ist nicht leicht, ’n Silberfuchs zu schnappen.« »Es gehört einem Freund von mir.« »Neu hier, was?« »Ja.« »Von der Regierung?« »Nein. Ich bin Masochist.« »Wahaftich? Wie lange bist du schon hier?« Er holte sich aus dem Durcheinander seiner Kleidungsstücke 207
auf dem Fußboden einen Lederbeutel heraus und stopfte eine reichliche Prise Tabak in den gedrungenen Pfeifenkopf. »Weiß ich nicht.« Paul beschloß, sich morgens zu waschen, und schlüpfte zwischen seine Bettdecken. »Ich arbeite an einem Projekt.« »Regierungsprojekt?« »Nein. Man könnte es Festival nennen.« »Ach du Schreck! Wollen Sie das wirklich noch mal versuchen?« Der alte Mann brannte sich ein Streichholz an und kicherte. »Was noch mal versuchen?« »Da is mal ’n Vogel, so um 61 nun von draußen hergekommen und hat versucht, ’n ›Festival‹ zu machen. Dawson-City-Goldrausch-Festival ham sie’s genannt, mieteten den alten Palace Grande, hatten Tänzerinnen und alles, was dazugehört.« »Ist das wahr …« »Das war’s erste, letzte und einzige ›Festival‹, was wir hatten. Die Regierung hat es abgelehnt, und wir standen rum wie Pik Sieben und bohrten in der Nase.« »Das Festival, das ich vorbereite, wird … draußen sein. Ich bin nur hier, um mich ein bißchen umzusehn.« Der Alte grunzte und sog an seiner Pfeife, »’s gibt nix zu sehn hier. Fast alles abgebrannt. Das alte Blockhaus, in dem Robert Service gewohnt haben soll? Zum Henker, er hat nie drin gewohnt. Da waren nur Hühner drin.« »Wer ist Robert Service?« »Noch nie von Robert Service gehört? Der den ›Knochenharten Kuno‹ und all die anderen Gedichte über den Goldrausch geschrieben haben soll?« »Anscheinend wissen Sie eine Menge über diese Stadt …« Paul stützte sich auf einen Ellenbogen. 208
»Scheint so. Hab mich mein ganzes Leben lang hier rumgetrieben. Wissen Sie, wie Bombay-Peggy zu ihrem Namen gekommen ist? Die Leute sagen, weil sie ’n Puff in Bombay, In-di-en, gehabt hätte. Nein, das war’s nicht. Sie hatte bis vor dem Zweiten Weltkrieg ’n Puff in China, und die Amerikaner haben sie evakuiert, und sie war so fett, daß sie nicht durch die Tür vom Flugzeug kam; da haben die Amis sie durch die bomb bay, ’n Bombenschacht, reingehoben.« Paul lachte. »Schon mal vom Schwarzen Mike gehört?« »Lassen Sie mich mal was fragen.« Paul langte nach einer Zigarette. »Haben sie mal einen gekannt, der Stier hieß? Schreibt sich S-T-I-E-R …« »Stier, Stier. Ich glaub, da war mal ’n Deutscher hier, der so hieß, ziemlich lange vor dem Ersten Weltkrieg. Hatte ’ne Indianerfrau.« »Kannten Sie die?« »Nö. Versuche immer, mich bloß um meine eig’nen Angelegenheiten zu kümmern.« »Wissen Sie, was aus denen geworden ist?« »Gestorben.« »Ist das alles?« »Is das nich genuch?« »Sie hatten einen Sohn. Richard hieß er.« »Kann schon sein. Danach müßten Sie Flossie fragen. Sie hat zu der Zeit in der Schule unterrichtet, vielleicht weiß sie was. Ich denk mal nach …« »Wo wohnt Flossie?« »’n kleines Haus unten in der Front Street, gleich nebenan, wo das Flora Dora früher war. Ich weiß noch, wie sie das Haus für die olle Flossie gebaut haben. Sie hatten alles Bauholz vonner alten Keno; das is mal’n verdammt stolzer Kahn gewesen, kann ich dir sagen.« 209
Paul hörte nicht zu. Er erinnerte sich an Adriannes Lachen im Flugzeug. Adriannes warme Berührung, als sie zwischen den Tischen tanzten. Adriannes Augen. Vielleicht war sie noch wach. Oder sie schlief. Vielleicht stand sie nackt am Fenster. Allein. So tuend, als ob … Paul zündete ein Streichholz an und sah auf seine Uhr, um sich zu vergewissern, daß es Morgen war. Sieben Uhr. Er scherzte ein wenig mit sich selbst, daß er vor der Sonne aufstände, als er sich im Dunkeln anzog und die Treppe hinuntereilte. In der Bar saßen kaffeetrinkende und kartenspielende Männer, und irgendwoher kamen der süße Rauch und die zischenden Geräusche bratenden Specks; er schluckte seinen Hunger hinunter und trat hinaus in die schwarze Stille der Straße. Er war noch keine fünfzig Meter weit getrottet, da mußte er schon anhalten und die dünne Eisschicht abschälen, die sich durch den gefrorenen Schweiß auf seiner Haut gebildet hatte. Er hatte gehört, daß Speichel gefriert, ehe er den Erdboden erreicht. Er räusperte sich, zielte auf seine Stiefelspitzen und zerstörte eine Sage. Von einem Mann in einer grauen Pelz-Parka ließ er sich den Weg zur Front Street beschreiben und war froh, als er hörte, daß es bis zu Flossies Haus keinen Häuserblock weit war, in der Richtung auf die Ufer des Yukon River zu. Als er vor ihrer Tür stand und anklopfte – der Laut wurde durch seine dicken Pelzfäustlinge gedämpft –, konnte er fließendes Wasser rauschen hören. »Guten Morgen, guten Morgen …« Als sie die Tür öffnete, war ihre Stimme kaum ein Piepsen. »Guten Morgen. Ich heiße Paul Odeon. Ich habe –« »Kommen Sie rein, um Gottes willen, es ist kalt!« 210
Paul machte einen Riesenschritt nach vorn. »Und ziehen Sie den Mantel aus. Schon gefrühstückt?« Die alte Dame nahm eine schwarze Zigarette aus dem Mundwinkel und lächelte; dabei zeigte sie ein Mosaik von Goldzähnen in einer unregelmäßigen Reihe. »Sie sind Mrs … . Flossie?« »Wenn ich’s nicht bin, lassen Sie das Wasser auf den Fußboden eines anderen tropfen.« Paul sah auf seine Stiefel hinunter. »Wirf sie in die Ecke neben die Tür.« Sie klemmte sich die Zigarette wieder zwischen die Lippen und ging in die Küche. Paul zog seine Parka aus und bückte sich, um die Schnürsenkel zu lösen. »Ein Ei oder zwei?« Die piepsende Stimme klang ungeduldig. »Es sind kleine, nimm lieber zwei.« »Zwei«, sagte Paul, um sich aus der Affäre zu ziehen. »Wie heißt du überhaupt?« »Paul Odeon. Ich wollte nur –« »Ich heiße Flossie. Dotter nach oben oder andersrum?« »Andersrum …« Wenigstens war er seine Stiefel los. »Hab keine Brötchen gebacken. Tut’s Brot auch?« »Brot ist ausgezeichnet«, sagte Paul und ging in die Küche. »Da ist Kaffee. Nimm dir Zucker.« Während Paul ärgerlich die Eier in der Pfanne wendete, studierte er ihr Gesicht. Sie hatte harte Züge, wie Risse in Porzellan. Auch ihre Hände waren unglaublich runzlig, aber sie bewegte sie mit der Schnelligkeit und Genauigkeit eines Menschen, der beim Pokerspiel selten verliert. »Du bist neu in der Gegend, was?« sagte sie und 211
ließ die Eier auf einen Teller gleiten. »Arbeit für die Regierung?« »Nein, ich bin Autor. Dies ist eine Art Urlaub für mich.« »Und was schreibst du?« »Artikel. Sie würden sie, schätze ich, Klatschgeschichten nennen. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin. Ich habe zufällig –« »Iß deine Eier, eh’ sie kalt werden.« »Oh, Verzeihung.« »Du bist hier – weswegen?« »Ich bin an einem Mann namens Richard Stier interessiert.« Paul bemerkte keine sichtbare Reaktion und nahm einen Happen Ei. »Da Sie in der Schule hier in Dawson unterrichtet haben, dachte ich, Sie –« »Richard. Ja. Er macht’s gut draußen, ich kann ihm nur das beste wünschen.« »Sie haben ihn also gekannt?« »Klar! Hab ihm mehr als einmal das Leben gerettet.« Paul blies auf seinen Kaffee und wartete. »Wie diese Kinder immer über Richard hergefallen sind … schrecklich! Er war auch man bloß ein kleiner Grünschnabel.« »Warum sind sie … über ihn hergefallen?« »Richard war anders als sie. Er ist ein uneheliches Kind, weißt du, seine Mutter und sein Vater haben nie geheiratet. Und seine Mutter zog ihn immer so komisch an. War nicht ihre Schuld, die arme Frau, sie hatte nie Geld für ordentliche Kleidung …« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah finster zur Decke hoch. »Sie nähte immer Kleider aus Bettlaken, der arme Kerl war gewöhnlich vom Kopf bis zu den Füßen weiß angezogen, wenn er zur Schule kam. Daß seine Mutter Indianerin war machte ihn bei den anderen Kindern nicht gerade beliebter.« 212
»Weiße Bettlaken … Kannten Sie die Eltern?« »Sein Vater hat sich in Alaska das Leben genommen, seine Mutter ist an der Grippe oder so etwas gestorben.« »Wer hat denn für ihn gesorgt?« »Leute von der Kirche wollten ihn holen, Anglikaner und auch Katholiken. Sie bekamen eine Prämie von der Regierung, wenn sie die Indianerkinder aufnahmen. Die Prämie ging natürlich in ’n Bach, als sie ihn nicht finden konnten.« »Wo war er?« »Weiß nicht genau. Hatte immer so einen heimlichen Verdacht, daß die Buschindianer ihn sich geholt haben. Aber andererseits … einer von den Trappern hat gesagt, er wäre bei den Eskimos in Aklavik. Kein Wunder, daß er so verrückte Musik schreibt.« »Ich bin erstaunt, daß Sie die hier oben gehört haben.« »Hier oben hab ich sie nicht gehört.« Sie wischte sich den Mund mit dem Schürzenzipfel’ab. »Hab sie unten in Vancouver gehört, als ich mal nach draußen ging, meinen Bruder zu begraben.« »Aber er hat hier oben geheiratet, eine FrankoKanadierin … Und er hat ein Haus in Whitehorse.« »Ist mir neu. Noch Kaffee?« »Nein, danke. Haben Sie etwa zufällig ein altes Bild von ihm? Ein Klassenfoto oder irgend sowas?« »Richard ist der einzige, von dem ich kein Bild habe. Die übrige Klasse habe ich, die kleinen Schlingel … Wissen Sie, was die gemacht haben? Timmy Casey, Johnnie Henderson, die haben die Gruppe angeführt. Sie haben Richard an einen Baum gebunden und ihn alleingelassen, damit er nicht mit den anderen fotografiert werden konnte. Ich hab ihn bis zum Sonnenuntergang nicht mal gefunden. Weil er diese lumpigen wei213
ßen Sachen anhatte, schien er einfach in der Umgebung aufzugehen. Wahrscheinlich bin ich fünf- oder sechsmal an ihm vorbeigegangen, ohne ihn überhaupt zu sehen; können Sie sich das vorstellen?« »Ja«, sagte Paul und stieß sich vom Tisch ab, »ich kann es mir ganz genau vorstellen.« Als Paul zum Hotel zurückkehrte, fand er Adrianne allein an der Bar sitzend und strickend. Sie schien von der Taille ab nackt, bis er näher kam und ihre elfenbeinfarbene Stretch-Hose sah. Im Gegensatz dazu war ihre schwarzseidene Bluse am Hals offen und fiel über ihre großen weißen Brüste. Es war eine bestürzende Studie in Schwarz und Weiß, die das Tempo der Kartenspiele verlangsamte und den Barkellner wie gelähmt vor ihr stehen ließ, das gleiche Glas wieder und wieder putzend. »Das ist eine gewagte Uniform für einen Mountie«, sagte Paul und setzte sich auf den Hocker neben sie. »Guten Tag, Mr. Odeon. Haben Sie einen schönen Spaziergang gemacht?« »Es war kalt. Ich hätte an deine Tür geklopft, aber –« »Ich weiß. Du wolltest mich nicht stören.« Paul beobachtete die gleichmäßige, mechanische Bewegung der Stricknadeln. »Was strickst du da?« »Babysachen.« »Oh.« Er zog die Kapuze seiner Parka herunter und rieb sich die Hände. »Bis jetzt habe ich noch nie schwarze Babysachen gesehen.« »Es ist eine hübsche Abwechslung zu weiß.« Paul trommelte mit den Fingern auf die Bar. »Möchtest du etwas trinken?« »Heute trinke ich nicht.« »Adrianne,.. bist du mir vielleicht böse?« »Warum sollte ich böse sein?« 214
»Sieh mal. Ich möchte ehrlich sein. Ich bin aus einem bestimmten Grund hierhergekommen. Aus einem sehr wichtigen Grund.« »Um Richard zu sehen.« »Ja. Etwas, das für mich real war, beginnt sich in Nichts aufzulösen, und ich möchte herausbekommen, weshalb. Ich möchte herausbekommen, was mit deinem Mann passiert ist. Und während ich mich darum bemühe, möchte ich dich nicht verletzen. Möchtest du wissen, wo ich heute morgen gewesen bin?« »Wenn du es mir gern erzählen willst.« »Ich habe Stiers alte Lehrerin besucht. Sie wohnt ganz in der Nähe, unten am Fluß.« »War Richard ein guter Schüler?« »Ich habe herausbekommen, warum er immer weiß trägt. Seine Mutter machte ihm die Kleidung aus Bettlaken, und die anderen Kinder in der Schule haben sich dauernd über ihn lustig gemacht, ihn sogar geschlagen. Deshalb wurde weiß so wichtig für ihn, verstehst du? Wenn man wirklich für etwas leidet, dann wird es einem sehr wichtig.« Adrianne ließ ihre Strickerei in den Schoß sinken. »Du redest genau so wie du schreibst. Für dich ist alles so logisch.« »Nicht alles.« »Ich besinne mich darauf, was du für die Schneekinder geschrieben hast … Die beste Prüfung für eine Ehe ist die Fähigkeit, dem Schmerz zu entsagen. Denn wenn zwei Menschen sich nicht lieben, werden sie einander ungewollt verletzen; lieben sie sich, so wird die Verletzung beabsichtigt sein … Das glaubst du wirklich?« »Ich glaube, was ich schreibe.« »Dann bist du ein Sadist …« »Ich glaube nicht, daß man das daraus folgern kann.« 215
»Und einmal hast du über einen jungen Kubaner geschrieben, der beim Preisboxen getötet wurde. Du hast geschrieben, Frauen sollten auch boxen, nicht nur Männer. Sie sollten nackt sein und keine Boxhandschuhe tragen. Und sie sollten boxen bis zum Tode. Bist du kein Sadist?« »Wie würdest du das nennen, was wir jetzt haben? Ich habe nur darauf hingewiesen, daß ein Preisboxen nicht für die Boxer da ist, es ist für die Zuschauer da. Wenn jemand den überwältigenden Drang hat, zu töten, dann ist es besser, ihn dafür zu bezahlen und ihn jemanden angreifen zu lassen, der die gleiche Neigung hat. Und wenn man den Zuschauern die stärkste Gewalttätigkeit zeigte, so hätte man damit ein stellvertretendes Ventil für Aggressionen. Keine Vergewaltigungen mehr, keine Raubüberfälle mehr – in Rom hat es jedenfalls gewirkt.« »Du bringst es mal wieder fertig, die Dinge rein von der Logik her zu interpretieren.« »Wie meinst du das?« »Deine Logik besorgt das für dich. Wenn du etwas empfindest, es wirklich empfindest, dann bringst du es fertig, eine Idee daraus zu machen. Dann kannst du’s durch deinen Computer laufen lassen.« »Ist es denn besser, gefühlsmäßig zu reagieren?« »Du nennst es gefühlsmäßig!« Ihre Augen wurden feucht. »Ich wünsche mir ein Kind. Das ist das Gefühl. Ich habe mir einen Ehemann gewünscht. Das ist ebenfalls Gefühl!« »So habe ich es nicht gemeint.« »Nicht? Hat Richard dich nicht deshalb ausgesucht, damit du aus seinen Empfindungen Ideen machen könntest? Und warum möchtest du, daß er Premierminister wird? Du sagst, du wärst besorgt, weil du denkst, daß sein Leben in Gefahr ist. Das ist aber nicht deshalb 216
so, weil du dir was aus ihm machst, sondern weil du fürchtest, etwas könnte die logische Welt zerstören, die du zu schaffen versuchst.« »Vielleicht reicht es, zehn- oder zwanzigtausend Jahre lang in einer unlogischen Welt gelebt zu haben.« »Du bist ganz wie Richard. Du suchst Vollkommenheit, und du meinst, du könntest sie dadurch erreichen, daß du die Liebe zerstörst …« Sie nahm ihre Stricknadeln auf und fing an, das Garn um die Enden zu wickeln. »Du bist ein Sadist …« Paul sah zum Barkellner hin und hob vier Finger. »Könnte ich bitte ungefähr soviel Rum haben?« Er wandte sich Adrianne zu? »Willst du wirklich nichts haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann, wenn du erlaubst, werde ich mich jetzt betrinken. Aber vorher gehe ich auf die Toilette. Was beweist, daß ich nicht in allem logisch bin …« Er schwang sich vom Hocker herunter und durchquerte die Bar. Im Hintergrund, zwischen einem Zeichen, auf dem »Herren« und einem anderen, auf dem »Damen« stand, hielt er inne, um auf einen ledernen Gegenstand zu schauen, der an der Wand befestigt war. In der Mitte hatte er einen Lederknoten und vier geflochtene Schnüre, die in spiralförmigen Schlingen endeten. Jede Schlinge war mit grünem Kupferdraht umwunden. Das war wirklich ein teuflischer Einfall. Paul machte den Barkeeper am Ende der Bar ausfindig, er klopfte gerade einen Zapfhahn in ein Bierfaßchen. »Was ist das?« rief Paul und klapste an die Wand. »Geißeln«, sagte der Baikeeper. »Die Indianer haben sie benutzt, damit ihnen die Herden nicht wegliefen.« »Was für Herden?« Der Barkeeper gab keine Antwort. 217
Paul öffnete die mit »Herren« bezeichnete Tür. Als er zu seinem Hocker zurückgekehrt war, erhob er sein Glas, ohne ein Wort zu sagen und trank einen tüchtigen Schluck Rum. Das brannte, und er roch ein Aroma, das ihm merkwürdig vertraut war. Die Seife aus dem Waschraum an seinen Händen? Das Parfüm, das Adrianne benutzte. Das Klappern von Adriannes Stricknadeln wurde lauter. Er trank wieder. Und wieder das Aroma, diesmal noch stärker. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er in Wirklichkeit keinen Sauerstoff zum Atmen brauchte; der köstliche Duft, der in seine Nase drang, würde direkt in sein Gehirn fließen und ihn für alle Zeit stärken. Aber er wunderte sich, daß seine Knie in seine Brust eingebettet waren. Die Reihen nackter Birnen lösten sich über seinem Kopf von der Decke und schwebten sanft dem Fußboden entgegen. »Nach oben? Nach oben? Nach oben? Nach oben?« »Glaub wohl – glaub wohl – glaub wohl – glaub wohl …« Der Kragen seiner herabwallenden Kapuze rieb hinten gegen seinen Hals. Er wurde ungeduldig. Er hielt die lederne Geißel an dem mittleren Knoten in der Hand und schlug sie ärgerlich in die Luft. »Ich bin zu geduldig mit Euch umgegangen, mein hübsches kleines Ungeziefer. Es ist Zeit, daß Eure Unverschämtheit bestraft wird.« »Marquis, ich wollte Euch nicht kränken!« »Genug! Habt Ihr vielleicht gedacht, daß die List Eures einfachen Garnknäuels mich verwirren würde? He? Und wie viele Köpfe sind im Rhythmus Eurer klappernden Nadeln von ihren Körpern herunterge218
rollt? Die Treppe hier hinauf, Madame, augenblicklich!« »Aber mein Ehemann … Richard!« »Was ich Euch lehren werde, wird ihn dazu bringen, vor Freude zu weinen …« »Habt Ihr kein Mitleid? Seht Ihr nicht, wie ich zittere?« »Ich werde Eure Tugend besser untersuchen!« Er riß ihr die Kleider vom Leib, warf sie auf den Fußboden und kniete nieder, seine Knie zu beiden Seiten ihres Kopfes. »Ich bitte Euch, was wollt Ihr, das ich tun soll?« »Eure Lippen sind rot und hübsch, Madame, und einer edleren Beschäftigung wert! Seht Ihr? Ja? Seht Ihr? Fangt an!« Er drängte sich in sie hinein und lachte. Sie lag starr unter ihm, ihren Kopf zwischen seinen Knien eingezwängt, ihr Mund bebend und gehorsam. »Bald sollt Ihr Euren Lohn empfangen!« schrie er. »Bald! Bald! Oh! Bald!« Sie wand sich, um freizukommen; er setzte sich auf ihre Brüste und drosch mit seiner Peitsche auf ihre Oberschenkel und ihren Bauch ein. »Da, meine Hübsche! Da!« Er lehnte sich nach vorn, schauderte, fiel von ihr herunter. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, schluchzend, daß ihr die Tränen feucht zwischen den Fingern hervordrangen. »Ihr weint? Wollt Ihr noch mehr Vergnügen haben?« Er ließ die Peitsche hart auf ihre steifen Brüste hinunterzucken. Die Metallspitzen zerrissen ihr das Fleisch, Blut drang in kleinen Perlen hervor, die zerbarsten und über ihre Brustwarzen spritzten. Mit dem Fuß drehte er sie herum auf den Bauch, brachte dann seine Hände wieder hinunter und zog die ledernen Riemen über die Rückseite ihrer Oberschenkel. »Mehr? Ihr wollt mehr?« 219
»Bitte, Herr, hört auf! Ich werde sterben an dieser Verzückung, die Ihr mir schenkt!« Er stand auf und fing an, die Silberschnalle seines Gürtels zu lösen. »Ich habe Durst. Ich möchte noch mehr Kognak haben.« »Sogleich, Marquis!« Sie biß unter Tränen die Lippen zusammen, und es gelang ihr, auf die Füße zu kommen. »Ruht euch auf den kühlen Laken meines Bettes aus, und ich werde euch die Erfrischung reichen …« »Nein! Ich werde mich statt dessen einem angenehmeren Zeitvertreib hingeben!« Er zielte mit seinem Stiefel zwischen ihre Beine, die Stiefelspitze traf sie genau in den Bauch, und sie stürzte auf das Bett. »Es ist Zeit, daß ich an diese geheiligten Pforten klopfe …« Sie lag schlaff da, als er ihre Handgelenke mit den Drahtschlingen der Geißeln an ihren Fußgelenken festband. »Werdet Ihr ohnmächtig? He? Dann laßt mich hinein … ohne Gegenwehr!« Sie gab keinen Laut von sich, als seine Hände sich in das Fleisch ihres Bauches eingruben und sie gegen die durchtrainierten Muskeln seiner Oberschenkel zurückzog. Er warf den Kopf zurück und lachte. »Hier also ist Ihr Instrument, Madame de l’Isle Stier! Lernt es zu spielen, mit Präzision – zision – zision – zision …« Das riesige weiße Tier galoppierte schweigend vor ihm her. Er zwängte seine Finger in den Wirbel feuchten schwarzen Garnes. Summen. Ein Schrei. Stille. 220
Paul erwachte mit Adrianne in seinen Annen. Das Empfinden kehrte in seine Finger zurück, und er merkte, daß seine Hände sich über ihre Brüste wölbten. Seine Wangen prickelten vor Bestürzung, als er den Kopf hob und, ein hörbares Stöhnen der Erleichterung ausstoßend, keine Spuren auf ihrem weichen, weißen Körper sah. Als es an die Tür klopfte, erstarrte er. Adrianne fuhr ein wenig auf, ohne aber die Augen zu öffnen. Es klopfte wieder, jetzt lauter. Paul sprang aus dem Bett, sah sich nach seinen Kleidern um. Er hörte Papier rascheln und blickte nach unten, wo er einen gelben Umschlag unter der Tür durchrutschen sah. »Paul?« Adrianne hob den Kopf und lächelte. »Guten Morgen!« »Ist da jemand an der Tür?« »Ein Telegramm, glaube ich.« Er stand und starrte sie an. »Es muß schon spät sein … die Sonne geht bald auf.« »Wie geht’s dir heute morgen?« »Besser als gestern abend.« »Hat dir der gestrige Abend keine Freude gemacht?« »Natürlich hat er das! Aber … ich muß ziemlich betrunken gewesen sein.« »Das warst du.« »Ich hoffe, daß ich nicht irgend etwas getan habe, was –« »Mich beunruhigte? Du hast mich ganz schön beunruhigt, dankeschön.« Sie hob die Arme über den Kopf und streckte sich. »Würdest du mich gern noch einmal beunruhigen?« Er kam herüber und setzte sich auf die Bettkante. 221
»Ich hatte in der letzten Nacht einen furchtbaren Traum … Übrigens, wieviel habe ich getrunken?« »Kannst du dich nicht mehr daran erinnern?« »Nur an den ersten.« »Es waren so viele, ich erinnere mich an den ersten nicht mehr.« »Und der Traum … der war fast wie etwas, das ich damals in Stratford erlebt habe – im Adventuary. Sie benutzen dort die Dünste von blauem Lehm …« »Willst du mir jetzt erzählen, daß du betrunken sein mußt, damit du mich lieben kannst?« »Nein, ich sage nur, daß ich es war.« Er stand auf und ging ans Fenster. »Es war doch Nachmittag, ja? Du saßest an der Bar –« »Und das Telegramm?« »Das Telegramm …« Er ging zur Tür, bückte sich und hob es auf. »Von wem ist es?« Adrianne kratzte sich den Kopf und faltete den oberen Teil der Decke säuberlich über ihre Brust. »Es kommt aus Stratford. Es heißt ›Dringende Zusammenkunft im Adventuary neunten Dezember mittags. Ihre Teilnahme notwendig‹. Und es ist unterzeichnet ›Richard Stier‹.« »Richard!« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« »Wie meinst du das?« Paul fing an auf und ab zu gehen. »Woher weiß er, daß ich in Dawson bin? Woher könnte das irgend jemand in Stratford wissen?« »Hast du es ihnen nicht erzählt?« »Nein.« Er las das Telegramm noch einmal. »Sagtest du nicht, du hättest in Whitehorse eine Notiz für Naasook zurückgelassen?« »Ja.« 222
»Was stand darauf?« »Daß du nach Dawson wolltest, und daß ich mit dir hingehn würde.« »Dann ist es das! Naasook muß es ihnen erzählt haben. Er weiß, wo Stier ist, er hat es wahrscheinlich die ganze Zeit gewußt.« »Aber … Naasook hätte es mir gesagt.« »Es gibt nur eine Möglichkeit, es festzustellen. Geht heute nachmittag ein Flugzeug nach Whitehorse ab?« »Das gleiche Flugzeug, mit dem wir gekommen sind. Es kehrt heute abend zurück.« »Dann fliegen wir lieber zurück.« »Paul?« »Ja?« »Wir haben Zeit …« Sie sank in das Kopfkissen zurück und lächelte. »Mehrere Stunden …« Paul ging wieder an das Bett. »Weißt du, was Geißeln sind?« »Geißeln?« »Sie werden benutzt, um Tieren die Füße zusammenzubinden, damit sie nicht fortlaufen …« Er faltete das Telegramm zusammen und ließ es zu Boden fallen. Adrianne hob einen Zipfel der Bettdecke hoch. »Warum soll ich über solche Sachen Bescheid wissen?« »Ich weiß nicht«, sagte Paul und legte sich neben sie. »Ich dachte nur gerade.« »Es ist so schwierig für mich, dich zu verstehen«, sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus. Sie kamen kurz vor zehn Uhr in Whitehorse an. Vor dem Haus fanden sie Naasook, in sitzender Stellung in den Schnee gestützt, erfroren. An der linken Hand trug er keinen Handschuh; Paul bog die steifen Finger auseinander und fand einen kleinen Klumpen blauen Lehms. 223
Am Morgen des neunten Dezembers meldeten sich Paul und Adrianne im Recurrence Hotel zu Stratford an. Der Raum war klein und enthielt nur ein Einzelbett, einen Tisch und einen Stuhl; aber es gehörten ein Bad und ein enges WC dazu. Für dreiunddreißig Dollar täglich war das sehr günstig; in Stratford waren die Zimmer seit Wochen vorbestellt. Und während Tausende neuankommender Schneekinder in dem sich ausbreitenden Zeltlager am Stadtrande Unterkunft und Verpflegung fanden, hatten die Fernsehteams, Reporter und nichtoffizielle Würdenträger aus der ganzen Welt in den altmodischen Hotels von Stratford Zuflucht gesucht. »Ich kann mich noch daran erinnern«, sagte Paul und zwängte einen Drahtkleiderbügel in die Schultern der Silberfuchsparka, »daß ich mich einmal in Boston zusammen mit meiner eigenen Schwester in einem Hotel angemeldet habe. Kannst du dir vorstellen, daß ich nicht den Mut hatte, dem Hoteldiener zu sagen, sie sei meine Schwester? Ich habe gesagt, sie wäre meine Frau.« »Ich wußte gar nicht, daß du eine Schwester hast«, sagte Adrianne. »Die Sache war die, daß der Hoteldiener sich nur sicher fühlen würde, wenn ich ihm die richtige Lüge erzählte. Die Wahrheit galt nicht.« »Aber uns hast du nicht als Mann und Frau angemeldet …« »Stimmt. Die Hotels und ich sind also quitt.« »Es ist bald Mittag.« »Ich weiß«, sagte Paul und sah auf seine Uhr. »Ziehst du dich nicht um?« »Nein. Ich habe diesen Mantel aus einem bestimmten Grund angezogen. Er hat eine Kapuze, und ich möchte nicht gern erkannt werden, wenn wir zum Adventuary gehen.« 224
»Wie dir’s beliebt. Was trägst du darunter?« »Nichts.« Sie zwinkerte. »Würdest du’s gern sehen?« »Dann kämen wir bestimmt nicht rechtzeitig zu der Zusammenkunft …« Adrianne ging ans Fenster. »Paul, ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn wir dorthin gehen. Aber wenn du Richard siehst, wenn wir ihn treffen –« »Hast du mich nicht genug erprobt? Sieh mal: Ich weiß, was ich tue. Und du auch. Also warten wir doch einfach ab, was geschieht.« Adrianne sah weiter aus dem Fenster, als Paul eine khakifarbene Hose aus seinem Koffer zog, sich eine Zigarette aus seiner schwarzen Jacke nahm und ins Badezimmer ging. Der kurze Weg vom Hotel bis. zum Adventuary dauerte fast eine halbe Stunde. Die Gehsteige und Straßen waren von durcheinanderwirbelnden Schneekindern erfüllt, die sich gegenseitig vergnügt über vereiste Pfützen stießen und schoben, die im Schnee saßen und einander umarmten oder um die Schneemänner herumtanzten, die an jeder Ecke aufgebaut waren. Paul faßte Adrianne fest am Ellbogen; er war ein wenig traurig, weil wegen ihres langen Mantels und ihrer Kapuze nicht jeder sehen konnte, welch außerordentlich hübsche Frau an seiner Seite ging. Was an der Tür des Adventuary Wache stand und zunächst ein gewaltiger Mann zu sein schien, erwies sich als eine gewaltige Frau. Sie war barfuß und trüg keine Kopfbedeckung; ihr weißes Wollkleid war ärmellos, so daß man ihre langen und muskulösen Arme sehen konnte. Als Paul und Adrianne auf sie zukamen, kreuzte sie ihre Handgelenke über dem Kopf und machte damit das Freudenzeichen der Schneekinder. »Wie seid ihr gekommen?« fragte sie mit leiser Stimme. 225
»Canadian Pacific Airlines«, antwortete Paul. »Wie seid ihr gekommen?« wiederholte sie. »Im Stiergeiste«, sagte Adrianne rasch. Die Frau senkte die Arme und gab den Eingang frei. »Woher wußtest du, was sie hören wollte?« fragte Paul. Adrianne gab keine Antwort. Im Adventuary war die Luft warm. Paul stellte fest, daß der Meditationsraum leer war und zählte nur drei Schneekinder, die schweigend an dem glühenden Schmelztiegel auf der entgegengesetzten Seite arbeiteten. Alle Tätigkeit vollzog sich am Ende der Halle, wo Schneekinder ihre Schuhe und Kleider auszogen und einander mit dem Freudenzeichen grüßten, als sie durch den Luftvorhang zum Atlantis-Becken gingen. Als sie die Treppe zur Sternwarte erreicht hatten, drückte Paul Adriannes Ellbogen ein wenig fester und flüsterte ihr ins Ohr: »Warte hier einen Augenblick, ich möchte mal schnell nachsehen, ehe wir hineingehen …« Sie nickte. »Hab’ keine Angst«, sagte er und ging die Treppe hinauf. Diesmal trübten ihm keine Dämpfe die Sicht; er konnte die ganze Ausdehnung der Inseln, Seen und Kanäle überblicken und war erstaunt, sie doppelt so groß zu finden, als er sie in Erinnerung hatte. Nackte Schneekinder schwammen zu den verschiedenen Inseln; ihre Körper schillerten in den roten, gelben, blauen und grünen Lichtern, die unter der Oberfläche des Wassers glühten. Genau unter ihm, auf Tipraolti, sah er Jungen und Mädchen im Halbkreis um eine Frau sitzen, die ein kurzes gelbes Kleid trug. Als sie sich niederbeugte, um einem kleinen Jungen aus dem Wasser herauszuhelfen, sah Paul, daß es Mrs. Chen war. 226
Im entferntesten Winkel, auf Lyonesse, entdeckte er Terhikki, weiß gekleidet und von einer ähnlichen Gruppe Schneekinder umgeben. Winnie, schwarz angezogen, stand wie ein üppiger Schatten hinter den glitzernden Leibern, die sich auf Kusmin zusammendrängten. Kein Schwimmer näherte sich Ruta, wo Magdelaine allein stand; ihr anmutiger Körper war mit einem durchsichtigen Faltenkleid geschmückt. Einige Anwesende, noch in voller Kleidung, standen in der Nähe des Eingangs, auf Chebrexi. Paul entschied, das würde eine günstigere Stellung bieten, und eilte wieder die Treppe hinab zu Adrianne. Sie schritten durch den Luftvorhang, gingen bis zum Rand von Chebrexi und warteten. Als der letzte Schwimmer angekommen war und seine Stellung auf Lyonesse bezogen hatte, hob Magdelaine die Arme über den Kopf, kreuzte ihre Handgelenke und rief über das kaleidoskopähnliche bunte Gewässer: »Wie seid ihr gekommen?« »Im Stiergeiste!« schrien die Schneekinder ihr als Antwort zu; ihr Rufen wurde von der gewaltigen Kuppel zurückgeworfen, verzerrt. Ein einziger Akkord von Stiermusik rief Schweigen hervor. Magdelaine hob wieder die Arme. »Was sagen die Schneekinder des Ostens?« Auf Tipraolti wies Mrs. Chen auf ein kleines, dünnes Orientalenmädchen hin, das dastand und mit beiden Händen den doppelten Strang gelber Perlen um seinen Hals ergriff. »Ich spreche für die Stimme der Schwester im Geiste Chen«, sagte sie. »Stier ist die Einheit. Und die Menschen dieses Landes sollen zusammenfinden. Wie alle Farben zusammen Weiß ergeben, so sollen alle 227
Rassen im weißen Land zusammenkommen. In den Völkern der Welt haben meine Schwestern der gelben Perlen, unter denen, welche die Macht ausüben, weißen Lehm verteilt. Und dies ist unser Bericht …« Sie löste den Griff ihrer Hände von den Perlen, atmete tief aus ihren Handflächen und begann vorzutragen. Ihre Stimme war eintönig, als sie berichtete, daß ein Land nach dem anderen der Regierung Stier Unterstützung zugesagt hatte, die bald in Kanada gewählt werden sollte. In der Überzeugung, daß Mrs. Chen zur Ministerin für Einwanderung ernannt würde, hatten Führer im Ausland – besonders in Afrika und Asien – eifrig eine Politik gutgeheißen, die für ihre anwachsende Bevölkerung Wohnraum in Kanada in Aussicht stellen würde. Dafür erwarteten sie jedoch, daß sie mit einer angemessenen Menge weißen und blauen Lehms versorgt würden, um den Bedürfnissen des eigenen Volkes entgegenzukommen. Das Mädchen beendete seinen Bericht dadurch, daß es die Handgelenke zum Zeichen der Freude kreuzte, und nahm dann wieder seine Stellung zu Mrs. Chens Füßen ein. Paul wandte sich um, um auf die Gesichter der hinter ihm Stehenden zu schauen, und fing an, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie seien. »Was sagen die Schneekinder des Nordens?« Als Magdelaine die Arme erhob, glitt ihr scharlachfarbenes Gewand herunter. Ihre Brüste waren mit Symbolen bemalt, und Paul kniff die Augen zusammen in dem Bemühen, das Hieroglyphenmuster zu entziffern, das bläulich-weiß auf ihrer braunen Haut leuchtete. »Ich spreche für die Stimme der Schwester im Geiste Terhikki«, ertönte eine Stimme über dem Wasser. »Stier ist über allem. Und die Menschen dieses Landes sollen aufsehen. Denn Fragen im Gebet werden dem 228
Himmel gestellt, und vom Himmel werden alle Antworten kommen …« Sie machte eine Pause, und obwohl Paul es nicht sehen konnte, wußte er: Das Mädchen hatte die weißen Perlen losgelassen und atmete jetzt tief aus seinen Handflächen. »Schwestern der weißen Perlen haben an die dunklen Gottespriester weißen Lehm ausgeteilt, und dies ist mein Bericht. Die, die einst unsere Feinde waren, sind nun unsere Freunde. Das Kreuz ist weiß geworden. Stier ist in Gott und Gott ist in Stier. Jeder Priester soll jetzt ein Adventuary verwalten, jede Kirche soll ein Adventuary werden. Weißer Lehm wird die Vereinigung mit dem Alten Testament verleihen, blauer Lehm wird den Adventus des Neuen Testaments in sich bergen. Tod in Christus, Wiedergeburt in Stier vereinigen ihre Stimmen, um die Stierhymne zu singen. Christliche Gemeinden berühren jetzt in Kanada, und bald in aller Welt die Hände der Schneekinder zur göttlichen Übertragung, atmen durch den Lehm heilige Offenbarungen des Adventus im Himmel. Gesegnet sei der Name Stier, und wir, die wir ihn bald sehen werden!« Die Luft barst fast von Rufen wie: »Er ist gekommen!« und »Wir werden ihn sehen!« Erst die durchdringenden Laute der Stiermusik brachten wieder Ruhe. Wie durch unsichtbare Fäden gezogen gingen Magdelaines Arme in die Höhe und kreuzten sich über ihrem Kopf, als sie sich Kusmin zuwandte. »Was sagen die Schneekinder des Südens?« In dem roten Licht, das aus dem Wasser nach oben widerstrahlte, konnte Paul sehen, wie Winnie einem schwarzen Schneekind zu ihren Füßen half. »Ich spreche durch die Stimme des Geistes von Winnie«, sagte das Mädchen, die feuchten schwarzen 229
Perlen um seinen Hals mit festem Griff packend. »Stier ist Mann und Stier ist Frau. Die Menschen dieses Landes sollen beides werden, Mann und Frau zugleich. Und wir, die wir Frauen sind, sollen mit unserem Körper die Gabe des Mann-Seins denen verleihen, deren Lenden mit der Schwingung der Frau gebildet sind …« Als Paul sich umwandte, um etwas zu Adrianne zu sagen, war sie nicht mehr da. Er hob sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die bestürzten Gesichter der Menschen, die hinter ihm versammelt waren, hinüberzuschauen. Er sah wieder nach Kusmin und machte ein finsteres Gesicht. »Denen, die für die Vollkommenheit eintreten, haben wir schwarze Perlen gegeben, damit sie als Väter erkannt werden. An die aber, deren Geist und Körper schwach sind, haben wir blauen Lehm ausgeteilt, wie es die Frau-Mutter Stier verordnet hat. Und dies ist mein Bericht …« Was hatte sie da gesagt von der »Frau-Mutter«? Paul brannte sich eine Zigarette an und hörte kaum zu, als die einförmige Stimme erklärte, wie die Schneekinder mit den schwarzen Perlen Badestrände, Schwimmbecken, Gesundheitsvereine, ja selbst Schul-Turnhallen dazu benutzt hatten, vollendete Orgien zu inszenieren, bei denen sie feststellen wollten, welche von den männlichen Stierkindern die physischen und psychischen Eigenschaften besaßen, die in der ersten Generation von Stierkindern wünschenswert waren. Sie endete mit einer versteckten Anspielung auf die neue StierOper und mit der Bitte um mehr blauen Lehm zur Neutralisierung der körperlichen Beharrlichkeit männlicher Mitglieder, die keinen Adventus erlebt hatten. Magdelaine wandte sich nun den Menschen zu, die zusammengedrängt am Rande von Chebrexi standen. »Die Schneekinder des Westens haben jetzt das Wort«, 230
sagte sie. »Sie sind meine Schwestern im Geiste, und sie warten auf die Ankunft der Frau-Mutter Stier. Auf Chebrexi sind die versammelt, die nicht aus diesem Lande sind, und ich möchte sie bitten, jetzt zu sprechen.« Ehe Paul den Mund auftun konnte, kreuzte ein Mann, der keine fünf Fuß von ihm entfernt stand, seine Handgelenke über dem Kopf. »Ich komme im Stiergeiste!« rief der Mann. »Wo bist du hergekommen?« fragte Magdelaine. »Aus den Vereinigten Staaten.« »Man wird dich anhören …« »Ich möchte dieser Versammlung etwas vorlesen«, sagte der Mann und zog etwas aus der Tasche seines mit Nadelstreifen versehenen Geschäftsanzuges, das ein halb zerrissenes Zeitungsblatt zu sein schien. »Dies stand in der ›New York Times‹ vom letzten Mittwoch, und ich zitiere: ›RÜSTUNGSFIRMEN SPÜREN FROST DER SCHNEEKINDER‹, … und weiter heißt es: ›Die Teenager Amerikas, die zur Wirtschaft unseres Landes jährlich etwa fünfzehn Milliarden Dollar beitragen, haben die Industrie des Heißen Krieges in Südostasien mit Frost geschlagen. Am härtesten betroffen durch den Boykott im ganzen Lande sind die Napalm-Hersteller Dow Chemical, Nopco Chemical Company, Wirco Chemical Company und McGeon Chemical Company. Die Schneekinder weigern sich, Saran-Schals zu kaufen, die von Dow Chemical hergestellt wurden; sie weigern sich auch, Flugzeuge der United Air Lines zu benutzen, deren Tochtergesellschaft, das United Technology Center, ebenfalls Napalm herstellt. Diese Aktion ist die erste ihrer Art, und die Wortführer im Weißen Haus geben ihrer Bestürzung Ausdruck, da immer mehr Firmen Verträge mit der Regie231
rung ablehnen; denn sie fühlen, wie die Schneekinder ihre Geldbörsen verschlossen halten und mit frostigen Fingern auf sie zeigen. Während vieles am Stierphänomen heimlich erzwungen wurde, weisen zuverlässige Quellen darauf hin, daß der Boykott das Ergebnis der Einflüsterungen einer Essay-Sammlung von Paul Odeon ist, dem Flügelmann des kanadischen Komponisten. Regierungsbehörden suchen nun zu erforschen …‹ und so weiter und so fort!« Der Mann hustete. »Nun, ich maße mir nicht an, eure heutige Zeremonie hier oder sonst etwas, das ihr in Kanada tut, zu verstehen. Aber ich möchte alle Anwesenden daran erinnern, daß ich und mein Stab gemäß den Anordnungen, die wir von Richard Stier erhalten haben, uns für die Wahl des Kandidaten der Kriegspartei in den Vereinigten Staaten einsetzen. Nur die Intensivierung des Krieges wird zu der nötigen Massenopposition führen, damit die amerikanischen Bürger gezwungen werden, ihre Führung im Norden zu suchen … Wenn die Schneekinder weiterhin durch die Schriften von Paul Odeon beeinflußt werden, dann kann der Krieg vor den Wahlen friedlich geschlichtet werden. Es ist an der Zeit, daß diese aufrührerischen Schriften öffentlich verworfen werden!« Als abschließende betonende Pointe zerknitterte der Mann das Zeitungsblatt in seiner Hand und warf es ins Wasser. Die auf Chebrexi stehenden Leute klatschten vereinzelt Beifall, aber die Schneekinder auf den Inseln blieben still. »Ich möchte auch sprechen!« Paul blickte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah über den ausdruckslosen Gesichtern der Menge zwei dünne Arme, zum Freudenzeichen gekreuzt. 232
Magdelaine erwiderte die Geste. »Wie bist du gekommen?« »Jm Stiergeiste!« »Wo bist du hergekommen?« »Aus Peru …« »Man wird dich anhören.« »Wir in Peru haben nicht den Adventus des blauen Lehms empfangen. Unseren Schneekindern wird weißer Lehm ausgeteilt; aber viele erörtern und diskutieren weiterhin die Schriften, die in dem Buche ›Die Vergöttlichung der Null‹ zusammengefaßt sind. Sie sind von Ungewißheit und Zweifel erfüllt. Viele unserer Schneekinder glauben nicht, sie stellen sogar das Wissen der Perlenschwestern in Frage!« Diesmal ließen die Schneekinder auf den Inseln ärgerliche Rufe hören. »Ich fordere, daß mit den logischen Büchern ein Ende gemacht wird! Logik verwirrt nur den Verstand! ›Die Vergöttlichung der Null‹ ist die Stimme der alten Welt, und sie muß zum Schweigen gebracht werden!« Heisere Schreie der Zustimmung ließen sich hören. Paul schleuderte seine Zigarette ins Wasser und hob die Arme über den Kopf, die Hände zu Fäusten geballt. Magdelaine gab ein Zeichen, daß Ruhe herrschen solle. »Paul Odeon möchte sprechen. Macht euch bereit, ihn zu hören …« »Vielen Dank, Frau Vorsitzende!« Seine Stimme überschlug sich, als er ihr das zurief, und er wartete, um seinen Ärger zu bewältigen. »Als ich heute nachmittag zu diesem gepriesenen Kinderteich kam, habe ich mich gewundert, wo all die Dämpfe, all die Dünste geblieben sind. Jetzt weiß ich es. Sie sind in euren Köpfen!« Er streckte seine gekreuzten Handgelenke vor sich aus. »Seht ihr dieses Zeichen? Es war einmal das Sym233
bol der Freude. Es war einmal der Ausdruck der Freiheit. Jetzt ist es einfach ein Bekenntnis, daß ihr alle zu Gefangenen gemacht worden seid. Ihr könnt nichts anderes mehr tun als euch mit den Rosenkränzen, die ihr um den Hals tragt, zu erhängen! Der heutige Tag bezeichnet einen Adventus, den ihr selbst zustande gebracht habt, meine kleinen nackten Freunde, es ist das Sakrament der Dummheit. Ihr habt zwanzig Jahrhunderte christlicher Verwirrung über den Haufen geworfen, nur um selbst das Kreuz auf euch zu nehmen. Eure Sexverehrung und eure Sexfeiern sind jetzt zu einem Super-Züchtungs-Dienst geworden … Ihr habt alle Rassen zur Bruderschaft erhoben, nur um ihre Gemüter wieder kindisch zu machen. Alles im Namen Stiers! Eins will ich euch sagen: Wenn Stier gewählt wird, werdet ihr in diesem Lande die erste Narrenherrschaft der Welt geschaffen haben. Oder … irre ich mich? Ist es noch Zeit? Ist es noch Zeit, sich daran zu erinnern, was die Idee von Stier euch gegeben hat? Könnt ihr euch noch einmal die erste Seite des Buches vorstellen, das ihr alle zusammen schreiben werdet? Es ist eine saubere Seite, leer und weiß, gereinigt von jeder Spur dessen, was vorher darauf stand, bereit für eure eigenen kühnen Drucke. Nur rationales Denken kann dieses Kapitel beginnen – blauer Lehm liefert bloß einen Durchschlag wie mit Kohlepapier von dem, was vorher geschrieben war … Die alten Götter haben Glauben gefordert. Ihr habt sie umgestoßen. Ihr müßt weiterhin alle Dinge umstoßen, die nicht in Frage gestellt werden können. Ihr müßt weiterhin zweifeln, denn nur Fragen und Zweifeln kann die Gewißheit bringen, die ihr alle sucht.« Er steckte sich langsam eine Zigarette an und blies den Rauch gegen die Decke. »O. K., meine Klasse, das 234
ist alles für heute … außer einem Letzten. Ich möchte euch allen zur Kenntnis geben, daß ich ernstlich daran zweifle, ob Richard Stier existiert …« Die Luft explodierte geradezu von gellenden Schreien. Rasendes Geheul brandete von Insel zu Insel, als wahnsinnige Schneekinder die Faust schüttelten, ins Wasser sprangen und anfingen, wütend zu Paul hin zu schwimmen. Die Besucher auf Chebrexi zogen sich zurück und rannten zum Ausgang; Paul sah sich nach einer Waffe um, fand keine, duckte sich und nahm alle Kraft zusammen, um den ersten Angreifer zurückzustoßen. Da gab es einen blendenden Blitz weißen Lichtes. Das Kreischen hörte auf. Die Schwimmenden beruhigten sich, sie glitten so still dahin wie ihre Nachbilder in Pauls Augen. Stiermusik ertönte von der gewölbten Decke; als seine Sehkraft allmählich wiederkehrte, sah Paul eine Frau allein am Ufer stehen, mit erhobenen und über dem Kopf gekreuzten Armen. Sie trug ein weißes Gewand, der dreifache Perlenstrang um ihren Hals und das Diadem auf ihrem Haupt funkelten prächtig blau. Die Stimme eines kleinen Mädchens stimmte den Gesang an, der bald zum Chor wurde: »Frau-Mutter Stier! Frau-Mutter Stier! Sie ist gekommen! FrauMutter Stier!« »Ihr sollt diesem Mann keinen Schaden antun«, sagte Adrianne streng. »Denn ich habe ihn erwählt …« Paul und Adrianne sprachen nicht eher, als bis sie die Treppe hinuntergegangen und in die geschützten Räume unterhalb des Adventuary eingetreten waren. »Wirst du nicht einmal dankeschön sagen?« fragte sie. »Hör zu, Adrianne, oder Stier Frau-Mutter, oder wie auch immer dein verdammter Name ist –« 235
»Warum ärgerst du dich über mich? Du warst da oben wirklich in Gefahr.« Sie lächelte ihm zu und nahm das blaue Perlendiadem aus ihrem Haar. »Ich habe mein Gewand auf links an, ich mußte mich hinter ein paar Büschen auf Chebrexi anziehen.« »Woher kam das Licht?« »In der Kuppeldecke sind Blitzlichter. Vor einer Woche hat man sie für die neue Oper dort installiert. Jetzt wird man sie ersetzen müssen. Übrigens, deine Rede hat mir gefallen.« »Wohin führst du mich?« »Dahin, wo du Stier siehst …« Sie winkte einer weißgekleideten Wächterin, die ihnen daraufhin die Tür öffnete. »Wo du sechs oder sieben Richard Stiers siehst …« In dem Raum herrschte rege Betriebsamkeit. An einer Seite befand sich eine Reihe von Spiegeln, die mit grellen elektrischen Birnen umrandet waren. Davor standen drei Männer, die sich die Gesichter puderten, die Perücken zurechtsetzten und mit Schminkstiften geschickte Linien zogen. Sie sahen alle aus wie Stier. Andere Männer trugen Eimer voll künstlichen Schnees, entwirrten dicke Spulen mit Elektrodrähten, riefen einander Anweisungen zu und schirmten dabei ihre Augen gegen den ständigen hellen Schein der Deckenlichter ab. »Ein Filmstudio?« fragte Paul. »Ja. Genauer gesagt ein Fernsehstudio. Wir haben mehrere Spots in Arbeit … Sogar Außenaufnahmen machen wir hier, siehst du? Da drüben ist auch ein Richard Stier, der Mann, der das weiße Ren füttert. Du scheinst nicht beeindruckt zu sein …« Paul sagte nichts. »Der kleine Eingang dort drüben führt zu dem Generator unter dem Atlantis-Schwimmbecken. Dort 236
können Magdelaine und ihre Leute die Menge des Lehms im Ventilations-System regulieren, je nachdem … was gerade nötig ist.« »Damals in Dawson, in der Bar, da hast du blauen Lehm in meinen Drink getan.« »Ein bißchen auf den Glasrand. Ich wollte dich entspannen …« »Naasook hast du tatsächlich entspannt!« »Was Naasook passiert ist, war ein Unfall.« »Und alles, was du mir da oben erzählt hast, war Lüge.« »Nein, das meiste stimmte. Besonders das über Die Neun.« »Du arbeitest für sie?« »Nach dem, was mit Richard passiert ist, mußte ich das tun.« »Und was ist mit Richard passiert?« »Sie werden entscheiden, ob du es wissen darfst …« Im Hintergrund des Studios führte ein schmaler Durchgang zu einer eisernen Tür, die von zwei ernsten Männern bewacht wurde. Nach einer kurzen Diskussion mit Adrianne schlossen sie die Tür auf. Der Raum war fast eine genaue Kopie des Wohnraums von Stiers Apartment in Vancouver; Wände und Decke weiß, der weiße Teppich, weiße Möbel, eine Wand in ihrer ganzen Länge mit einem schweren weißen Vorhang versehen. An einem großen runden Tisch in der Mitte des Raumes saßen vier Männer; derjenige, der stand und lächelte, war Fenton Knowles. »Adrianne, das war eine glänzende Show! Wir haben die ganze Sache auf der Rufanlage mitgehört. Mr. Odeon? Nach Ihren erregenden Worten bin ich sehr froh, Sie mit heilen Knochen zu sehen.« »Meine Herren, das ist der junge Mann, von dem wir gesprochen haben … Mr. Odeon, darf ich Sie mit 237
Bischof Clandeau von der Diözese Montreal bekanntmachen, mit General Wheeler und mit Mark Hudson. Mr. Hudson ist Programmdirektor der Canadian Broadcasting Corporation. Also, Adrianne, wenn Sie darauf achten würden, daß Mr. Odeon gut versorgt ist, können wir zum Geschäftlichen kommen.« »Gehören nicht noch fünf andere zu Ihnen?« »Fünf andere?« »Damit Die Neun vollständig sind?« Knowles faßte sich an die Brillenränder und lachte; der Bischof, der General und der CBC-Mann schienen wirklich verwirrt. »Adrianne, ich fürchte, Sie haben aus der Schule geplaudert …« Knowles hob eine Augenbraue hoch. Adrianne berührte Paul am Arm und, mit einem bittenden Blick, lud ihn durch eine Bewegung zum Sitzen ein. »Wir wollen da fortfahren, wo wir aufgehört haben«, sagte Knowles mit Entschiedenheit. »Herr General, ich bitte, die Unterbrechung zu entschuldigen.« Der General zog an seinem Schnauzbart und räusperte sich. »Bis morgen vierzehn Uhr sind an alle Truppen, die unter meinem Kommando stehen, weiße Uniformen ausgegeben, gleich der, die ich jetzt trage. Gemäß Vorschrift sieben werden die Truppen weder Gewehre noch Bajonette haben. Gemäß Vorschrift zwölf werden alle Einheiten der Zivilpolizei Ontarios in der sechsten Division zusammengefaßt.« »Und die anderen Provinzen, Herr General?« »Stimmen zu. Am Freitag werde ich mit General Proctor in Verbindung treten. Er wird die Einheiten neu aufteilen, die zur Zeit unter dem Kommando der NATO stehen.« »Ausgezeichnet!« Knowles sah über seine Brille hinweg zu Paul hinüber. »Interessant, nicht wahr? Bis 238
Freitag nachmittag wird Kanada die größte unbewaffnete Armee der Welt haben und keinen einzigen Polizisten. Ist Stärke schon jemals so zuversichtlich zum Ausdruck gebracht worden?« Paul sah zu Adrianne hinüber, die den Kopf schüttelte und zwei Finger auf ihre Lippen legte. »Herr Bischof Clandeau«, sagte Knowles dann, »ich sehe, daß Sie dreihundertachtzig Pfund blauen Lehms angefordert haben. So viel hatten Sie ursprünglich nicht veranschlagt.« »Es ist für den Kommunionsgottesdienst.« »In der Bestimmung für Sie war weißer Lehm genannt.« »Sicherlich! Aber da ist noch die Frage nach einem Reservevorrat …« »Ich hatte gehofft, Herr Bischof, die römische Theologie werde genügen, um die Überzeugungen Ihrer Gemeinden zu lenken. Das Ausmaß Ihrer Anforderung scheint einen gewissen Mangel an Beherrschung im Klerus anzuzeigen. Nun, wir werden sehen. Haben die anderen Bischöfe der Messefeier am Samstag zugestimmt?« Der Bischof nickte. »Ich werde ihren Wunsch weiterleiten …« Knowles sah wieder zu Paul hinüber. »Der stärkste Antrieb im Menschen ist das Bedürfnis, etwas zu verehren; ich schätze, daß Sie oben ein ganz schönes Beispiel dafür erlebt haben. Aber ich versichere Ihnen, wenn es uns nicht um die Wahl ginge, würden wir uns nicht mit diesen kirchlichen Amateuren plagen … Mr. Hudson, ich glaube, Sie sollten versuchen, im Samstagsprogramm ein besseres Gleichgewicht herzustellen.« »Sie wollten Sättigung des Programms haben, Mr. Knowles, und die werden Sie bekommen.« »Schon gut, mein Lieber. Aber ich meine wirklich, 239
Sie sollten des öfteren mein häßliches Gesicht zeigen, um zu beweisen, daß es eine Oppositionspartei gibt. Ich schlage Ihnen vor, lassen Sie meinen Bildstreifen in den Städten des Nordens laufen und konzentrieren Sie die Stier-Bildstreifen an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Darum geht es uns doch schließlich, oder?« »Kein Problem. Aber was ist mit der Oper? Es sind ein Dutzend Fernsehteams vom Süden hier, und sie werden langsam nervös.« »Erlauben Sie ihnen, weiterhin nervös zu sein. Die Bekanntmachung kommt nicht vor Samstagmorgen. Wir haben also noch zwei Tage. – Etwas anderes: Der Stier auf dem Bildstreifen für die Konzerthalle hat ein scheußliches Make-up. Benutzen Sie den nicht fürs Fernsehnetz.« »Gut.« »Sehr schön, meine Herren, Sie können gehen. Ich würde gern noch mit Mr. Odeon und Adrianne allein sprechen.« Wortlos standen die drei auf und gingen zur Tür. Paul bemerkte, daß der Bischof heimlich an seiner linken Handfläche roch, als die Tür hinter ihm geschlossen wurde. »Ich glaube nicht, daß schon einmal jemand so sehr für seine eigene Wahlniederlage gearbeitet hat«, sagte Knowles lächelnd. »In Wirklichkeit erwarten Sie doch wohl nicht, daß ich jetzt in Tränen ausbreche, nicht wahr?« meinte Paul. »Selbst wenn Sie tatsächlich erreichen, daß ein Bildstreifen zum Premierminister von Kanada gewählt wird, werden ja doch Sie derjenige sein, für den die Treffer zählen.« »Zum Teil haben Sie recht.« »Warum dann also dieser Zirkus? Warum diese 240
Maskerade? Ich meine nicht gerade die Wahl, ich meine … Warum all der religiöse Unsinn, mit dem Sie die Schneekinder gefüttert haben? Wozu die Mühe, mich auf eine vergebliche Jagd zu schicken? Und all die Anstrengungen, die Sie für Adrianne auf sich genommen haben müssen, um mir weiszumachen, ich hätte es mit Stiers Frau zu tun! Fantastisch! Das muß ich doch wohl Ihnen zuschreiben, ich bin genau nach dem Zeitplan ins Bett geholt worden …« »Paul!« Adrianne verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich muß sagen, Mr. Odeon, Sie haben eine merkwürdige Art, der Frau, die Ihnen das Leben gerettet hat, Anerkennung zu zollen. Vielleicht wären Sie glücklicher, wenn Sie noch als versoffener Texter in San Francisco lebten. Wirklich, es übersteigt mein Verständnis. Magdelaine, Mrs. Chen, Winnie, Terhikki … und jetzt Adrianne. Ich werde niemals begreifen, was sie an Ihnen gefunden haben …« »Sagen wir’s mal so: Was finden Sie an mir?« »Etwas, das wir brauchen können.« »Wir? Heißt das Die Neun?« »Ich habe nicht die Absicht, über Die Neun zu diskutieren. Ich will Ihnen einfach die Tatsachen berichten, und dann mögen Sie selbst entscheiden, was Sie zu tun gedenken. Wir können Sie brauchen. So einfach ist das. Nicht nur bei den Wahlen hier in Kanada, sondern auch für unseren größeren Zweck.« »Und der wäre?« »Die Annexion der Vereinigten Staaten.« Knowles hob die Augenbrauen. »Endlich! Zum ersten Male erlebe ich es, daß Sie sprachlos sind …« Paul nickte. »Gut. Vielleicht kann ich jetzt ohne Unterbrechung sprechen.« Knowles nahm seine Brille ab und fing an, mit dem Taschentuch ihre Gläser zu putzen. »Ich 241
möchte Sie nur auffordern, sich die Lage anzusehen, in der wir uns zur Zeit befinden. Wer auch die Präsidentenwahl der Vereinigten Staaten gewinnen mag, ›der Krieg‹ wird weitergehen. Wenn nicht irgend etwas unternommen wird, kann er nur zum Atomkrieg führen.« Er ging zum Kamin hinüber und blieb dort stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Es hängt nicht nur die Zukunft der Vereinigten Staaten in der Schwebe, sondern das Schicksal der ganzen Welt. Und jetzt, schon während wir hier sprechen, taucht eine neue Nation auf mit einer Macht, die noch größer ist als selbst die der Atomwaffen. Die Nation heißt Kanada, und die Macht ist die Musik von Richard Stier. Unsere Aufgabe besteht darin, diese Macht zu lenken. Wir haben dazu gewisse Werkzeuge, beispielsweise weißen und blauen Lehm. Wir benutzen sie nur dazu, die neue Lebensweise voranzutreiben. Wenn unsere Arbeit getan ist, werden die Werkzeuge verschwinden. Aber jetzt noch nicht. Die Gemüter der Menschen sind noch nicht für die Wahrheit bereit. Das ist der Grund, weshalb wir Sie bitten, die Logik beiseite zu lassen und Ihren Verstand der Schaffung einer bedeutenderen Wirklichkeit zu widmen. Ein Land – Amerikanada – in der Musik von Stier vereinigt, ein Katalysator für die ganze Welt.« »Das klingt sehr schön«, sagte Paul langsam, »aber sind Sie ehrlich davon überzeugt, daß Sie ein Land auf Lehm bauen können?« »Wir bringen mehr als das zustande, Sie haben es selbst gesehen. Es wird in unserem Lande keine Waffen irgendwelcher Art mehr geben, es werden auch keine nötig sein. Lehm sichert eine friedliche Bevölkerung. Und wer sind unsere Feinde? Gewiß nicht China oder Rußland oder irgendein Land in Afrika … Wir beweisen ihnen unsere Freundschaft, indem wir unser 242
Land ihren Bewohnern öffnen. Es ist vor allem eine Frage der Kommunikation …« Knowles setzte seine Brille wieder auf, ging zum Tisch zurück und nahm ein gebundenes Buch zerfetzter Papiere zur Hand. »Dies ist die Partitur von Stiers neuer Oper. Wir haben sie jetzt Amerikanada genannt. Zu dieser Partitur gibt es keinen Text, es ist reine Klangenergie. Wir möchten gern, daß Sie für diese Oper das gleiche tun, was Sie für Iliyu getan haben, aber mit einem bedeutenden Unterschied: Sie müssen über die Begrenzungen der Logik hinausgehen und die Schneekinder in die geeignete Richtung führen.« Paul stand von seinem Stuhl auf. »Und die Wahrheit kann zum Teufel gehen!« »Mr. Odeon, wir geben Ihnen eine Möglichkeit, die Wahrheit schaffen zu helfen …« »Nein. Sie wollen, daß ich eine Lüge verewige. Stier ist eine Lüge, eine totale Fiktion.« »Stier ist keine Fiktion.« »Das werden Sie erst beweisen müssen.« Knowles starrte eine volle Minute auf den Boden, ehe er darauf etwas sagte. »Also gut. Adrianne, möchten Sie lieber hinausgehen?« Adrianne schüttelte den Kopf und fing an, etwas zwischen ihren Handflächen zu reiben. Knowles drückte auf einen Knopf an der Tischkante, und die weißen Vorhänge an der Wand glitten langsam beiseite; sie enthüllten eine dicke Glasscheibe, die die Wand eines kleineren Raumes darstellte. »Kommen Sie näher, Mr. Odeon«, sagte Knowles, »und sehen Sie …« Der Raum hinter der Glasscheibe war matt erleuchtet. Paul konnte die Umrisse eines Klaviers erkennen, irgendwelche Überreste auf dem Fußboden und etwas das in einer Ecke kauerte. 243
»Wie sagte Beethoven: Mehr Licht …« Knowles drückte auf einen anderen Knopf, und die Lampen in dem Raum wurden hell. Die Gestalt in der Ecke schirmte die Augen ab, hob einen kleinen schwarzen Stock auf und begann, an seinem Ende zu lutschen. »Das Licht signalisiert seine Essenszeit … Heute morgen hätten Sie ihn mit seinen Hörnern und Pfeifen sehen können.« »Das ist … das ist Stier?« Paul schluckte einen sauren Klumpen, der ihm aus dem Magen aufgestiegen war, wieder hinunter. »Richard Stier … was von ihm noch übrig ist.« »Wie?« Paul wandte sich von der Glaswand ab. »Warum?« »Was Sie da sehen, ist das Nächstmögliche eines Geistes ohne Körper. Mag sein, daß er mehr weiß, als irgendein Mensch jemals gewußt hat. Vielleicht ist er auch einfach unheilbar geistesgestört. Wir nehmen jeden Ton von ihm auf. So grotesk es auch ist, dieses armselige Häuflein aus Fleisch und Knochen schafft die Stiermusik. Ich weiß nicht recht, ob Sie sehen möchten, was jetzt geschieht … Wie ich schon sagte, das Andrehen des Lichtes löst seinen EssensMechanismus aus …« An einem Ende des kleinen Raumes öffnete sich die Tür zu einem Abteil, und ein kleines Kaninchen hüpfte auf das Klavier zu. Es saß und schnüffelte an einem Klavierfuß herum, als die kriechende, spinnenähnliche Gestalt Stiers hinter ihm herankroch und ihre bleistiftdünnen Arme zum Schlag erhob. »Um Gottes willen, schließen Sie die Vorhänge!« Paul wirbelte herum und stand Adrianne genau gegenüber. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Gesicht zu einem Ausdruck intensiven sinnlichen Vergnügens verzogen. Sie gab gurgelnde Laute von sich, während sie beide Handflächen dicht um ihre Nase wölbte. 244
Paul ging allein ins Hotel zurück, holte die Flasche Brandy aus seinem Koffer und setzte sich an den kleinen Tisch. Fast eine Stunde lang saß er und trank, bis er sich entschlossen hatte. In der Tischschublade fand er einen Notizblock des Hotels und fing an zu schreiben. Es war nach Mitternacht, als Adrianne wiederkam. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und ihre Augen funkelten in dem glücklichen Glanz, der durch weißen Lehm entsteht. »Was hast du gemacht?« fragte sie träumerisch. »Geschrieben.« »Das ist wunderbar, Liebling!« Sie zog die Nase kraus und setzte sich auf die Bettkante. »Was hast du denn geschrieben?« »Ein Märchen, glaube ich.« Paul sah nicht zu ihr auf. »Es endet damit, daß ein Mann ein Kaninchen frißt.« »Versteh’ ich nicht.« Adrianne blinzelte. »Warum hast du das geschrieben?« »Ich werde es jeder Zeitung im ganzen Land geben. Es ist die einzige Hoffnung, die Stier oder irgend jemand von uns noch hat.« »Nein!« Adrianne sprang auf. »Das darfst du nicht tun! Es würde alles verderben!« »Was schon verfault ist, das kann man nicht mehr verderben«, sagte Paul ruhig. »Aber du verstehst nicht! Richard wird Gott werden!« Paul sah zu ihr auf, schüttelte den Kopf und brach dann in lautes Lachen aus. »Aber er ist es!« Adrianne drückte auf ihre Mantelknöpfe. »Das wird am Schluß der Oper sein! Am Samstagabend, es ist alles geplant!« Paul trank den letzten Rest Brandy aus seiner Flasche und legte den Kopf auf die Arme. 245
»Sogar Die Neun wissen nichts davon, Paul … aber ich habe mit den Perlenschwestern gesprochen, und es ist alles vorbereitet. Du darfst niemandem von Richard erzählen, davon, wie er wirklich ist. Das würde ihn zerstören.« »Ihn zerstören!« Paul legte mit einem Ruck den Kopf zurück und sah zur Decke auf. »Ihr habt aus ihm etwas gemacht, das weniger als ein Tier ist, ihr habt den Plan, ihn in einem Märchenschloß einer unsinnigen Oper zum Gott zu machen, und da meinst du, ich könnte ihn zerstören?« »Was kann ich dir nur sagen, damit du das verstehst …« Adrianne ließ den Mantel von ihren Schultern gleiten. »An diesem Punkte, Adrianne, würde ich dir nicht einmal den Versuch raten, noch irgend etwas zu erfinden.« »Ich habe dir die Wahrheit gesagt.« »Wo es dir in den Kram gepaßt hat, ja?« »Wenn ich gelogen habe, war es wegen Der Neun. Und wegen Richard, um ihn zu retten.« »Wovor zu retten, vor einem Riesenkaninchen?« »Die Neun haben Richard zu dem gemacht, was du heute gesehen hast, nicht ich. Ich habe ihn geliebt, und ich wollte ihn als einen Mann lieben. Aber Die Neun nicht. Die wollten ihm das Gemüt aus dem Körper saugen und die leere Hülle wegwerfen. Sie haben es schon fast getan. Ich will nichts anderes, als Richard befreien. Und wenn du dich nicht einmischst, wird das am Samstagabend geschehen.« Paul kratzte sich bedächtig am Kinn. »Wie lange halten sie ihn schon gefangen?« »Er ist kein Gefangener. Wenigstens fühlt sich Richard nicht als solcher. Ich weiß, wie Die Neun am Anfang, als Richard mich verlassen hatte, ihn über246
zeugt haben, seine Schöpferkraft könnte nur dann zur Vollendung kommen, wenn er alle anderen Sinne seines Körpers zerstört. Ich meine, daß Richard tatsächlich glaubt, von reiner Energie zu leben. Er ist sich innerlich nur dann bewußt, daß er lebt, wenn er Musik schafft. Aber ganz gleich, wofür wir ihn halten, Millionen Menschen in aller Welt lieben ihn. Das sollst du nicht zerstören.« »Doch es ist ja Lüge, Adrianne, es ist Lüge! Seine Musik lieben – ja –, und die Ideen lieben, die er durch seine Musik geschaffen hat. Aber du kannst nicht Millionen Menschen durch einen Filmstreifen von etwas lenken lassen, das gar nicht existiert!« »Warum denn nicht?« Adrianne feuchtete ihre Lippen an. »Wenn das Bild schön ist … wenn das Bild Gott ist …« »Ich glaube«, unterbrach Paul, »was im Adventuary geschehen ist, beantwortet deine Frage. Denk mal, wie es den Schneekindern gegangen ist. Und das ist erst der Anfang. Über Knowles und seine Freunde brauche ich dir doch wohl nichts mehr zu sagen? Und sieh auf dich selbst, die Weiße Hexe des Nordens … Ist es alles das, was du dir eigentlich wünschst?« »Der Teufel soll dich holen!« Adrianne schlug auf den seitlichen Rand des Betts. »Und du, Paul Odeon, was hast du denn, das so viel besser ist? Möchtest du, daß alles wieder so wird, wie es vor der Stiermusik war? War das Leben so schön?« »Nein. Nein, das war es nicht. Vielleicht weiß ich selbst nicht, was ich möchte. Oder vielleicht erinnere ich mich an Fragen, die ein vierzehnjähriges Mädchen mir einmal gestellt hat, oder an den Gin in einer Blumenvase. Zum Kuckuck noch mal, ich weiß nicht, an was ich mich erinnere; aber heute früh hatte ich einen ganz guten Einblick in das, was morgen kommen soll, 247
und der gefällt mir nicht. Und wenn diese Sache in die Zeitungen kommt, vielleicht gefällt er dann auch ein paar anderen Leuten nicht.« »Du wirst deine Absicht nicht ändern?« Adrianne stand auf und ging auf Pauls Stuhl zu. »Ich kann es nicht.« »Dann«, sagte Adrianne, »muß ich dir deine lang ersehnte letzte Wahrheit zeigen …« Sie zog mit beiden Händen an dem Mieder ihres Kleides, riß den Stoff auf, bis sie mit nacktem Oberkörper dastand. Beide Brüste waren mit bläulich-weißen Zeichen bemalt. »Was tust du?« schrie Paul auf und zuckte zurück. »Siehst du das?« Sie kam näher auf ihn zu. »Besinnst du dich? Am Atlantis-Schwimmbecken? Hast du die Markierungen auf Magdelaines Brust gesehen?« »Geh weg, Adrianne!« »Siehst du dies?« Mit einer Hand hob sie ihre Brust hoch, mit der anderen zog sie Paul dicht heran. »Es ist … es ist Lehm! Blauer Lehm!« »Siehst du, was hier geschrieben steht? Begreifst du es jetzt?« Sie zog seinen Kopf mit Gewalt zwischen ihre Brüste. »Sieh es! Rieche es! Atme es ein! Paul Odeon, du wirst in Stier vollkommen werden!« Paul stieß sie weg und fiel vom Stuhl, sein Kopf schlug auf den eisernen Heizungskörper unter dem Fenster. Er versuchte, sich hochzuziehen, als zwei warme Fleischkugeln sich gegen seine Augen preßten; seine Lungen füllten sich mit Schrecken, als der Fußboden ihm entgegenkam und ihn festhielt. Es wurde ihm gezeigt. Ein weiter Raum, der sich hinter zitronengelbem Tuch verbarg, verwelkt schwer ausatmend, gesponnen in dem Datum neun elf. Seine Augen fingen an, sich auszuziehen; an der ersten Ecke konnte er den heißen Rand entziffern, der die Dimensionen 248
des Hauses und die offene Tür verbarg. Angefeuchtete Spitzen der Gegenwart von gläsernen Flügeltüren. Dunkel. Regen. Tapete. Auf der breiten Straße der helle Sonnenhals aus Silber schräg laufend nackt zu der Nässe, die ich bin. Wandteppiche zu sicher zu schnellfüßig zurückweichend vor dem heißen Atem der drei Buchstaben V, E, R, zu dem schmalen Schieferportal. Ein bellender Hund, das Summen einer Schwester, die tausend Zigaretten raucht. An der Wand heruntersteigend, nicht einmal beim Anstarren der Männer, die zwischen Fenster und Sonne eingeklemmt sind; die silbernen Sterne befühlend; ein einziges Automobil fährt in den Schaum des dicken Glases, die Tür zu der gewaltigen Sekunde öffnend. Der Fehler, den sie begangen hat, er sieht sie zuerst als bekleidende Dame (eine Maske!), aber schirmte ab und wartete, eilt die Stufen hinter der verschlossenen und verriegelten Tür hinauf, die graue Perücke von Rauch und Brandy Rachel. Nackter Laut von Karten, die feste junge Augen schlagen, zungenfeuchtes Cello innen, kratzend. Sich bewegende Purpurlippen in Lederjacken, grob gewebte Augenbrauen aus schwarzem Bier. Schlüpfrige Reflexionen gestützt und stoßender Laut. Nein! Sich biegender Gummitisch, zurück heben stoßender Stuhl, Pflasterstein Papiere in hart geschluckte Liebkosungen fallend. Dezember dunkel. Adrianne-drianne-drianne-drianne. Sonne Augen verbrannt Umfang. Kopf. Licht. Auf seinen Händen und Knien ruhend, schüttelte Paul den Kopf im Schauer pfefferminzgrünen Lichtes. Das Fenster war nächtlich dunkel. Seine Lippen 249
fühlten sich pelzig an. Er berührte den Stoppelbart auf seinem Gesicht. Wie lange war er hier gewesen? Welcher Tag war heute? Er zog sich hoch, ging unsicher schwankend zum Waschbecken im Badezimmer und hielt seine Handgelenke in das strömende, eiskalte Wasser. Welcher Tag war heute? Er schüttelte das Wasser von den Händen ab und ging zum Tisch zurück. Die Papiere waren verschwunden. An ihrer Stelle lag ein kleiner Notizblock, die ersten drei Seiten waren in Adriannes Handschrift bekritzelt … »Am Anfang war Stier, und Stier war der Anfang. Aller Ruhm gehöre Stier! Sein Leib soll hoch erhoben werden, und sein Name soll im höchsten Maße heilig sein!« Als Paul im Vorraum Schritte hörte, ließ er den Block zu Boden fallen. Er sauste zur Tür und öffnete sie. »Welcher Tag ist heute?« schrie er. Der Mann lächelte, gab aber keine Antwort und ging weiter auf die Treppe am Ende des Vorraums zu. Dabei erhob er gelegentlich beide Hände an seine Nase. »Welcher Tag ist heute, verdammter Kerl!« schrie Paul hinter ihm her. »Welcher Tag ist heute!« Hinter einer geschlossenen Tür am Ende des Vorraums rief eine ärgerliche Stimme: »Halt den Mund, du verfluchter Saufbold!« »Welcher Tag ist heute!« schrie Paul der Stimme zu. »Samstag, du Arschloch …« Paul stolperte in sein Zimmer zurück. Samstag. Es ist Samstagabend. Die Oper! Er schnappte sich die Silberfuchsparka aus dem Wandschrank, rannte in die Halle und die Treppe hinunter. 250
Die Frau am Schalter lächelte. »Ich muß einmal Ihr Telefon benutzen«, sagte Paul. Die Frau grinste und roch an ihren Fingern. »Ihr Telefon! Ich muß jemanden anrufen!« Die Frau fing an, leise vor sich hin zu summen. Paul fluchte auf sie und eilte auf die Straße hinaus. Als er zum Adventuary lief, kam er an schweigenden Menschengruppen vorbei; sie waren magnetisch angezogen durch die Töne der Stiermusik aus den Lautsprechern, die man an der Spitze von Telegraphenmasten angebracht hatte. Er sah nur einen Polizisten, einen hochgewachsenen jungen Mann in weißer Uniform, mit lächelndem Gesicht, die rechte Hand, an der er keinen Handschuh trug, dicht an die Nase haltend. Als Paul sich dem Adventuary näherte, verlangsamte er sein Tempo bis zum Gehschritt. Die gleiche muskulöse Frau, der er vor zwei Tagen gegenübergestanden hatte, bewachte den Eingang. Rasch kreuzte er seine Handgelenke zum Zeichen der Freude. »Wie bist du gekommen?« »Im Stiergeiste. Ich bin Paul Odeon. Adrianne, die Frau-Mutter Stier mit den blauen Perlen, hat mich angewiesen, hier hineinzugehen.« Nach einem kurzen Zögern trat die Frau zurück. Paul ging schnell hinein. Das Laboratorium und die Meditations-Abteilung waren beide leer. Während die donnernden Laute von Stier seinen ganzen Körper vibrieren ließen, bedeckte Paul seine Ohren und stieg die Treppe zur Sternwarte hinauf. Als er halb oben war, hielt er an und sah hinunter zu dem erregenden Schauspiel, das sich auf den Atlantis-Inseln darbot. Terhikki, Winnie und Mrs. Chen, umgeben von nackten Schneekindern, waren auf Ruta versammelt. Sie hatten die Arme erhoben und wiesen damit auf 251
Magdelaine hin; sie tanzte oberhalb der Gruppe auf einer Eisfläche, die man auf Chebrexi konstruiert hatte. Die ganze Hinterwand des Adventuarys war entfernt worden und die Seitenwände durch glänzende Eisblöcke verlängert, so daß ein Amphitheater für Tausende von weißgekleideten Schneekindern entstanden war. Als Paul zu der gewölbten Decke emporblickte, sah er nur schwache Spuren von Dunstwolken. Bis jetzt waren also die Lehmdünste noch nicht freigelassen worden, dachte er und stieg die Stufen wieder hinab. Zu seiner Überraschung fand er die Tür des Fernsehstudios offen und unbewacht. Schnell schloß er sie hinter sich und preßte sich gegen die Wand. Er versuchte, die rasselnden Laute seines Atems herunterzuschlucken. Er sah sich nach einer Waffe um und entschied sich für eine große isolierte Zange, die er in die Tasche seiner Parka steckte, ehe er zu der rückwärtigen Tür kroch. Auch sie war unbewacht; er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie, drehte am Türknauf und sprang in den dahinterliegenden Raum. Der Raum war verlassen. Die weißen Vorhänge, die die Glaswand von Stiers Käfig bedeckten, waren nur teilweise zugezogen. Paul preßte seine Hände gegeneinander, damit sie nicht zitterten; dann ging er langsam zu der Öffnung am Ende der Vorhänge und blickte angestrengt hinein. »Sind Sie … da?« Paul flüsterte die Worte gegen das kalte Glas des Fensters und sah dabei einmal nervös über seine Schulter zurück. »Richard! Ich bin Paul Odeon. Können Sie … mich hören?« Paul drückte sein Gesicht gegen das Glas und warf einen forschenden Blick in den Raum, als sich unter dem Klavier eine dunkle Gestalt regte. 252
»Können Sie mich hören? Bitte, können Sie mich hören?« Der Käfig ist wahrscheinlich schalldicht, dachte sich Paul und überlegte, ob er den Mut haben würde, die Tür auszuprobieren. »Ich kann Sie nicht sehen«, murmelte er entschuldigend. Aus dem Käfig kam ein einzelner Klavierton. »Heißt das, daß Sie mich hören können?« Wieder der gleiche einzelne Ton. »Wenn ein Ton ›ja‹ bedeutet«, sagte Paul und hielt inne, um sich den Mund mit dem Handrücken abzuwischen, »dann nehmen Sie zwei Töne für ›nein‹.« Stille. »Spielen Sie ein ›nein‹, verdammt noch mal!« Zwei Töne. »Ich habe lange nach Ihnen gesucht.« Paul merkte, daß er beinahe laut rief, und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich heiße Paul Odeon, wissen Sie, wer ich bin?« Ein einzelner Ton. »Haben Sie … keine Angst!« Zwei Töne. »Ich muß Ihnen sagen, was geschehen wird. Über uns, im Adventuary, sind Tausende von Menschen, die Sie lieben. Aber es sind auch Leute da, die diese Menschen täuschen wollen und die auch Sie täuschen wollen. Ihre Oper wird jetzt gerade gespielt, und wenn sie zu Ende ist, erwarten die Schneekinder, erwartet die ganze Welt, den Schöpfer der Oper zu sehen. Dieser Schöpfer sind Sie, Richard.« Ein einzelner Ton, diesmal lauter. »Es gibt einen Durchgang, der von diesen Räumen zur Bühne im Adventuary führt. Ich werde Sie dorthin bringen. Ich mache jetzt die Tür auf, und Sie müssen mit mir kommen. Wir müssen Ihren Leuten die Wahrheit zeigen, Richard, Sie müssen Die Neun verneinen.« 253
Als Antwort erklangen zwei heftige Töne, von einem scharrenden Geräusch begleitet. »Die Welt wird Stier sehen!« Paul eilte vom Fenster weg, lief an die Tür des Käfigs – und erstarrte. »Paul!« Adriannes Stimme zitterte, und sie packte den weiß-uniformierten Wächter neben ihr am Arm. »Wie hast du – warum?« »Es ist Samstag«, sagte Paul, ohne zu wissen weshalb. Seine Hand fuhr blitzschnell an seine Tasche, als der Wächter mit einem drohenden Schritt auf ihn zuging. »Was hast du denn erwartet, fertigzubringen?« Adrianne gebot dem Wächter mit einer einfachen Handbewegung stehenzubleiben. »Ich habe mich im Hotel gelangweilt«, sagte Paul und sah nach dem Türschloß von Stiers Käfig zurück. »Geh wieder ins Hotel, Paul. Du kannst nicht aufhalten, was vorbestimmt ist.« »Zum Teufel noch mal, sicher kann ich das …« »Dieses Mal kann ich es nicht erlauben.« Adrianne nickte dem Wächter zu, einem gewaltig großen Mann mit flammend blondem Haar und vom Lehm völlig glasigen Augen. »Glaub mir dies eine Mal, geh wieder zurück, und wenn es vorbei ist, werde ich dir eine neue Welt zeigen.« »Also gut, Adrianne«, sagte Paul und packte dabei die Zange in seiner Tasche fester. »Würdest du dann wenigstens diesen großen Tölpel mich hinausbegleiten lassen?« Sie nickte dem Wächter zu. Paul wartete, bis der Wächter sich umgedreht hatte und vor ihm stand, zog mit einem Ruck die Zange heraus und schlug ihn auf den Hinterkopf. Der Wächter fiel auf ein Knie, streckte sich dann nach vom aus, als ein zweiter Schlag gegen sein Ohr krachte. Adrianne 254
grub ihre Fingernägel in Pauls Wangen ein und riß seinen Kopf zurück. Er schlug wie wild mit der Zange um sich, dann hörte er ein krachendes Geräusch und einen lauten Schrei. Ihre Hände fielen von seinem Gesicht herunter, als er sich umdrehte und sah, wie ein beinah genau quadratischer Blutfleck sich auf ihrem Gewand ausbreitete, gerade über ihrem Knie. »Laß ihn sterben!« Adriannes Augen waren fast ganz weiß. »Jesus Christus! Mein Gott! Laß ihn sterben!« Sie schlug mit beiden Fäusten auf Paul ein. Paul packte ihre Arme und zerrte sie halb bis zur Tür von Stiers Käfig. »Es ist Essenszeit!« Er riß die Tür auf, stieß Adrianne hinein und knallte die Tür wieder zu. Die blutige Zange steckte er in seine Tasche und stolperte in das Studio hinaus. Adriannes Nägel hatten vier Kratzer in sein Gesicht gegraben, aus denen nun Blut troff. Er betrachtete sich eingehend in der Spiegelreihe am Make-up-Tisch. Er bürstete sich das lange Haar aus der Stirn zurück und blickte auf das Standardfoto von Stier, das auf dem Tisch aufgebaut war. Dann schob er die Ärmel seiner Parka bis an die Ellbogen zurück und tauchte beide Hände in das Gefäß mit Cold Cream. Niemand hat es deutlich gesehen. Weder die Fernsehteams, deren Kameralinsen durch das plötzliche Aufwallen blauer Dämpfe am Schluß der Oper beschlugen, noch die Zeitungsreporter, die durch die schreiend herbeiströmenden Schneekinder buchstäblich zertrampelt wurden. Und nur jene Zuhörer, die mehrere hundert Meter vom Atlantis-Becken entfernt draußen im Schnee standen, wurden selbst nicht in den Wahnsinn hineingerissen. 255
Aber alle wissen, daß es geschehen ist. Und es geschah auf Chebrexi. Der letzte Ton der Stiermusik klang noch als Echo über die dampfenden Gewässer, als Magdelaine, Schwester im Geiste derer mit den Roten Perlen, den tobenden Schneekindern zurief: »Ich bitte euch jetzt, zu opfern, was euch am heiligsten ist.« Ein funkelnder Blitz weißen Lichtes explodierte von der Deckenwölbung herab, und da, allein auf der Eisfläche hoch über Chebrexi, stand Richard Stier, prächtig in seiner Silberfuchsparka. Einige sagen, er hätte versucht, ein Zeichen zu geben, daß Stille herrschen solle. Andere meinen, er habe die Arme geschwungen, um den endgültigen Adventus zu segnen. Die nackten Schneekinder von Ruta waren als erste bei ihm und rissen ihm, als er niederfiel, den Fuchspelz vom Leibe. Dann kamen die anderen, schreiend und durch das lauwarme Wasser paddelnd, um ein Stück Fleisch von ihrem Gott abzureißen. Die schrillen Rufe »Stier! Stier! Stier!« waren so laut, daß sie auf dem über eine Meile entfernten Bahnhof deutlich gehört worden sind. Am nächsten Morgen war nichts mehr übriggeblieben als ein paar blutgetränkte Büschel Fuchspelz, die von Gruppen andächtiger Schneekinder sorgfältig aufgesammelt wurden. Und die einzige noch vorhandene Reliquie – eine blutbespritzte Zange – wurde eingesegnet und zur künftigen Verehrung im Adventuary eingeschlossen.
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3. TEIL: Sausalito, Amerikanada Ein wolkenloser, windiger Samstag, der für die wöchentliche Meditation bestimmte Tag, in Sausalito. Kate, Greek-O und Lazio waren Crimp und einer Gruppe von fast fünfzig Schneekindern auf einem Schweigemarsch zum Stierschrein auf dem Gipfel des Tamalpais gefolgt; die anderen waren, nachdem sie die Schwestern-Avenue überquert hatten, zum Hausboot zurückgekehrt. Stiermusik plätscherte sanft vom Plattenspieler her, als Furbish, Rachel, Harvey und Beebee wortlos in der Stellung zur Stierverehrung um den Tisch herum auf dem Boden knieten; alle hielten den Blick auf die kleine weiße Porzellanschale mit blauem Lehm gerichtet, die in der Mitte stand. »Meint ihr, wir könnten ohne Gefahr andere Kleider anziehen?« fragte Beebee, ohne den Kopf zu bewegen. »Diesmal würde ich so gern die orangefarbene Bluse tragen, und vielleicht das lange braune Kleid …« »Nein, Schatz«, sagte Furbish ruhig. »Es ist viel sicherer, wenn wir alle dabei bleiben, unsere weißen Sachen zu tragen, einfach für den Fall, daß einer von den Perlenbrüdern beschließt, uns zu besuchen.« Er hatte den Kopf lauschend auf eine Seite geneigt und wandte sich dann Harvey zu. »Hast du den Stoff mitgebracht?« Harvey faßte in sein Hemd und zog ein kleines braunes Päckchen heraus. »Ausgezeichnet! Gib es Rachel, in der Küche ist noch kochendes Wasser …« Es war der Anfang eines Rituals, das sie bisher schon oft praktiziert hatten – nicht ohne Gefahr. Sobald Rachel in der Küche war, stand Harvey auf, beide Hände an die Nase gepreßt, und brachte es mit einem vorgetäuschten Stolpern fertig, die elektrische Verbin257
dung zu trennen. Es würde eine Stunde und vierzehn oder fünfzehn Minuten dauern, ehe die Stromunterbrechung gemeldet und behoben war. Furbish sprang auf, knallte auf den Plattenspieler und schlug dabei den Tonarm von der strahlend weißen Schallplatte herunter. Er nahm den weißen Lederband Das Stierbuch vom Altar am Fenster, öffnete ihn irgendwo und nickte Beebee zu. Sie wölbte ebenfalls eine Hand über ihre Nase, ging wie in Trance ans Fenster, um die Vorhänge zu schließen und dann zu versiegeln, darauf an die Tür, die sie geräuschlos fest verriegelte. »Ich wünsche noch immer, wir könnten uns umziehen«, sagte sie leise. »Hier nicht, Liebling.« Furbish blätterte das Buch durch und blinzelte ihr zu. »Soll ich euch vorlesen, solange wir warten?« »Nein, Mann«, sagte Harvey, »noch einen Orgasmus könnte ich einfach nicht ertragen.« »Probiert mal dies als reine verdammte, verfluchte Poesie …« Furbish räusperte sich. »Im Anfang war Stier, und Stier war der Anfang. Aller Ruhm gehöre Stier …« »Scheiße und noch mal Scheiße!« meinte Beebee und kaute an einem Fingernagel. Rachel kam aus der Küche zurück und hielt die Tasse dampfenden Kaffees in beiden Händen. Sie bot sie zuerst Furbish an. »Du zuerst, Schatz …« Rachel nahm zwei Schlucke und gab die Tasse Harvey. »Auf unseren geliebten Präsidenten Knowles«, sagte Harvey und hob die Tasse hoch. »Mögen seine Kinder alle Ohren haben.« »Wißt ihr, was ich gehört habe?« sagte Beebee und 258
blinzelte. »Ich habe gehört, Präsident Knowles und zwei andere Kerle vom Amerikanada-Parlament hätten Sitzungen mit der Stier Frau-Mutter.« »Was für Sitzungen?« fragte Harvey und gab ihr die Tasse. »Na du weißt schon, ’ne menge Nummern schieben.« »Um Gottes willen!« sagte Harvey. »Das bedeutet, daß wir nächstens eine neue Hymne lernen müssen.« Beebee seufzte kurz und gab Furbish die Tasse. »Willst du uns jetzt bitte vorlesen?« Furbish nickte, ließ Das Stierbuch auf den Boden fallen und nahm sich einen großen, geräuschvollen Schluck Kaffee. »Nun mach schon«, sagte Rachel, »wir haben nur siebenundfünfzig Minuten, dann ist der Strom wieder da. Und Stier mag wissen, wann der ganze Haufen, Crimp und die anderen, hier reinkommt.« Durch ihr Gefühl der Dringlichkeit angetrieben, langte Rachel unter den Tisch, zog eilig das Band von dem abgenutzten Exemplar des Buches ›Die Vergöttlichung der Null‹ ab und gab das Buch rasch Furbish. Dann lehnte sie sich auf ihre Ellbogen zurück und schloß die Augen. »Ich möchte mal wissen«, sagte sie, »was Paul wirklich passiert ist.« »Er gammelt wahrscheinlich irgendwo ’rum«, meinte Harvey. »Eins ist sicher: er hat nie diesen Scheißdreck im ›Stierbuch‹ geschrieben … das verlogene Zeug konnte er nicht schreiben, nicht mal unter noch so viel Lehm.« »Aber weshalb«, fragte Rachel, »heißt es dann auf dem Titelblatt des Stierbuchs nach Paul?« Harvey schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Du Küken, weil die Schneekinder gewohnt waren, Pauls Bücher zu lesen und alles von ihm, was auf den Schallplattenhüllen stand.« 259
»Wo ist er dann hingegangen?« Rachel fing an, sich auf die Lippen zu beißen. »Wohin geht man denn, wenn man noch alle Tassen im Schrank hat?« meinte Harvey. »Raus. Raus. Raus aus Amerikanada, da geht man hin.« »Nein«, sagte Beebee. »Paul ist noch irgendwo hier in der Nähe. Ich –« Furbish bat um Ruhe und trank den letzten Rest Kaffee. »Ich fange auf Seite siebenunddreißig an«, sagte er und begann zu lesen. »Man kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß eins von zwei Ereignissen eintreten wird: 1. Die Sonne wird abkühlen und die Erde wird kälter werden als der ihr-wißt-schon-was eines Messing-Affen, oder 2. die Anziehungskräfte der Sonne werden unseren Planeten in ihr Feuer hineinziehen, daß er darin versengen wird wie die Flügel eines Nachtfalters. Jedes dieser Ereignisse würde mehrere Millionen, ja Milliarden Jahre brauchen. Und doch mache ich mir Gedanken darüber; woran man erkennt, wie bekloppt manche Leute sein können.« Es wurde noch mehr Kaffee gekocht, und Furbish las noch zwanzig Minuten, ehe sie anfingen, logische Argumente für das Thema »Gott kommt einem verdorbenen Magen gleich« zu finden.
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