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Horst Eberhard Richter beschreibt die moderne westliche Zivilisation als psychosoziale Störung. E...
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E.Hic
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Howohlt
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Horst Eberhard Richter beschreibt die moderne westliche Zivilisation als psychosoziale Störung. Er analysiert die Flucht aus mittelalterlicher Ohnmacht in den Anspruch auf egozentrische gottgleiche Allmacht. An Hand der Geschichte der neueren Philosophie und zahlreicher soziokultureller Phänomene verfolgt er den Weg des angstgetriebenen Machtwillens und der Krankheit, nicht mehr leiden zu können. Die überwindung des Gotteskomplexes wird zur überlebensfrage der Gesellschaft.
Horst Eberhard Richter, 1923 in Berlin geboren, ist Professor für Psychosomatik und Psychotherapie in Gießen. Als Psychoanalytiker, Familien- und Sozialtherapeut widmet er sich seit längerem verstärkt gesellschaftskritisch angelegten sozialpsychologischen und sozialphilosophischen Analysen.
Von Horst Eberhard Richter liegen ferner vor: Engagierte Analysen über den Umgang des Menschen mit dem Menschen Reden, Aufsätze , Essays Flüchten oder Standhalten Lernziel Solidarität Die Gruppe Hoffnung auf einen neuen Weg , sich selbst und andere zu befreien . Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen Patient Familie Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie Eltern, Kind und Neurose Psychoanalyse der kindlichen Rolle Rowohlt
DieGeburt . und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen
Horst Eberhard Richter
Der Gotteskomplex Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen
Rowohlt
Schutzumschlag- und Einbandentwurf von Werner Rebhuhn (Autorenfoto: Ernst-Joachim Chybych)
1.-20. Tausend Februar 1979 21.-40. Tausend März 1979 41.-60. Tausend April 1979 Copyright ,© 1979 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 49 8 °5 68 7 5
Inhalt
Einleitung
9
Erster Teil Die Geschichte der Illusion von der menschlichen Allmacht. Der Gotteskomplex 17 I. Kapitel Der Ausbruch aus dem Mittelalter: Gott geht verloren, der Mensch will selbst Gott sein 19
2. Kapitel Die Geschichte des Egozentrismus und seiner Verkleidungen von Leibniz bis Nietzsche
32
3. Kapitel Utopische Heilshoffnungen des beschädigten Individuums. Marx, Freud, Marcuse
61
4. Kapitel Rettung der Allmacht-Illusion durch Preisgabe der Innenwelt: der Behaviorismus
75
5. Kapitel Die Logik des Herzens (Pascal) unterliegt der Logik des Kopfes (Descartes, Spinoza)
80
6. Kapitel Abspaltung des Gefühls - Entmündigung der Frau Unterdrückung der Menschlichkeit. Die Wechselbeziehung zwischen psychischer und sozialer Verdrängung. Rousseau, Romantiker, 98 Schopenhauer, Nietzsche, Psychoanalyse
Zweiter Teil Die Krankheit, nicht leiden zu können
127
7. Kapitel Verwandlung des Leidens in projektiven Haß. Mittelalterliche und moderne Phänomene magischer Austreibung von Hexen, Rassenfeinden, «erblich Minderwertigen», Extremisten, Parasiten, «Risikofaktoren» 129 8. Kapitel Leidensverleugnung durch hysterisches überspielen. Party-Kultur. Kompensationsfunktion von 155 Therapie und Selbsthilfe-Zirkeln
9. Kapitel Leidensvermeidung durch Abspaltung
163
10. Kapitel Beschwichtigung durch Ersatzbefriedigung. Schelers Theorie von der Entschädigung durch Surrogate. Vom Sexualtabu zum Sexkult
166
11. Kapitel Verschleierung des Leidens durch Sozialtechnik. Versachlichung als Leidensabwehr in der Sozialbürokratie, in der Medizin und in der Psychologie. Die Strategie der semantischen Tarnung
172
12. Kapitel Leidensverachtung - Todesverachtung. Stoizismus, Heroismus. Die W echselb~ziehung zwischen Risikodrang und Sterbeangst
181
Dritter Teil Die Aufgabe: Oberwindung der psychischen und der sozialen Selbstspaltung des Menschen 189
13. Kapitel Die Absetzbewegung der Jugend als Aufruf zur Selbstkritik der Angepaßten
191
14. Kapitel Das Problem, die korrumpierte Liebe zu befreien
217
15. Kapitel Der Lebenskreis . Die Bejahung des Sterbens als Bedingung für den Untergang des Gotteskomplexes und die Gewinnung eines menschlichen Maßes zwischen Ohnmacht und Allmacht 228 16. Kapitel Das Urphänomen Sympathie als Disposition für Solidarität und Gerechtigkeit
239
17. Kapitel Sympathie und Vertrauen
254
18. Kapitel Machen und Macht
265
Vierter Teil Eine Psychoanalyse als Lehrstück
273
Vorbemerkung
275
Martin erzählt seine Geschichte
278
Verlauf der Behandlung: Die Wechselbeziehung von Leiden und Macht
289
Folgerung
330
Literatur
335
Einleitung
Dieses Buch ist der Versuch, ein Problem zu bearbeiten, dem ich vor 30 Jahren schon einmal ein Buch gewidmet habe, das aber - zum Glück - nicht erschienen ist. Die Druckfahnen und der Umbruch waren bereits korrigiert, als der Verlag über N acht pleite ging. Ich habe das Manuskript dann keinem anderen mehr angeboten. Das Buch sollte heißen «über den Schmerz». Erst nachträglich wurde mir klar, daß ich in dem Manuskript für mich selbst herausfinden wollte, wie man mit Leiden umgehen kann. Ich befand mich damals in der Situation vieler junger Leute, die nach Krieg und Gefangenschaft innerlich kaputt waren, aber wieder unverzüglich zupackten und ihr Dasein neu organisierten. Ich gründete, das heißt, ich suchte mir eigentlich eine Familie als Ersatz für diejenige, die ich durch den Krieg verloren hatte. Ich lernte einen Beruf wie ein alt gewordener Schüler. Ich war, wie die meisten meiner Generation, durch den Krieg geübt, Hunger, Armut, Anstrengungen zu ertragen, Krisen zu handhaben, zu improvisieren und Verantwortung zu übernehmen. Ich konnte, wie man zu sagen pflegt, mit dem Leben «fertig werden». Bezeichnenderweise reagierte ich, als ich in meine zerbombte Heimatstadt zurückkehrte und feststellte, daß meine Angehörigen und fast alle früheren Freunde tot waren, mit einer psychosomatischen Krankheit. Ich fühlte - und niemals bin ich dieses Gefühl vollständig losgeworden -, daß ich hätte mit zugrunde gehen müssen. Natürlich waren an dieser Phantasie auch neurotische Kindheitskonflikte beteiligt, die ich später in 9
zwei Psychoanalysen einigermaßen zu durchschauen lernte. Aber dahinter steckte mehr. Ich konnte mich damit nicht abfinden, daß wir alle auf diesem Weg der gemeinsamen Selbstzerstörung mitgegangen und fähig gewesen waren, unsere eigentlichen menschlichen Ziele zu verraten. Und so, wie ich schon dabei war, mein Leben einfach wie ein von einer N aturkatastrophe demoliertes Haus wieder aufzubauen, eifrig, brav und tüchtig, schien es mir, daß ich im Grunde nichts gelernt hatte. Es war leicht, sich nach dem langjährigen Gefängnisklima an die freiere Luft der Demokratie zu gewöhnen. Ich nahm die neuen Lebensumstände schlicht so hin, funktionierte wieder und riß mich zusammen, wie ich trainiert war. Aber ich kam mir dabei vor wie ein erstarrter alter Mann und zugleich noch wie das unfertige Kind, als das ich einst als Soldat in den Krieg gezogen war. Ich war absolut unfähig, mich im Zusammenhang der Erfahrungen der letzten Jahre zu begreifen und so etwas wie eine alters gemäße Identität zu finden. Die vier, fünf Jahre jüngeren Leute, denen ich begegnete, erschienen mir wie eine völlig neue Generation von unbekümmerten Naivlingen. Nicht viel anfangen konnte ich jedoch auch mit den nach allen Enttäuschungen abgebrühten «älteren Hasen», die auf ihre Weise die Antimoral des Krieges verinnerlicht hatten und sich glatt und konfliktfrei in die korrupte Schwarzmarkt-Szene der Nachkriegsjahre integrierten. Nur ganz wenige fand ich, mit denen ich überhaupt darüber reden konnte, was ich so nötig hatte zu verstehen, aber nicht fassen konnte. Dann suchte ich die Psychoanalyse zweifellos deshalb, weil ich einmal als Patient im Kriege das Glück gehabt hatte, von WERNER HOLLMANN, einem Schüler VIKTOR VON WEIZSÄCKERS, zu erfahren, daß ich auf diese Weise Aussicht hatte, an mich selbst besser heranzukommen. Es ging mir allmählich auf, daß es nicht nur meine individuellen Ängste waren, die mich durch Verdrängung von vielen intensiven Verwurzelungen in der untergegangenen Welt trennten. Ich war im Begriff, an einem falschen Leitbild von Normalität und Vollwertigkeit zu scheitern, das ich mit meiner 10
Umwelt teilte. Ich wollte stabil und stark sem, aber nicht vergessen, was kaputtgegangen war beziehungsweise was wir alle um uns und in uns aktiv kaputtgemacht hatten. Aber beides konnte ich nicht miteinander vereinbaren. Ich fürchtete mich davor, mich aufzulösen oder zumindest völlig wehrlos zu werden, wenn ich mich rückhaltlos für meine Ratlosigkeit öffnete. Das war aber nötig, um meiner eigenen Vergangenheit und den Gestorbenen treu zu bleiben und in der inneren Kontinuität meines Lebens weiterexistieren zu können. Ich mußte mich unserer Vergangenheit schämen. Wenn ich aber die mir nahestehenden Toten in diese Scham einbezog, kam mir das wie ein Verrat an ihnen vor. Ich hätte die Getöteten gebraucht, um mit ihnen gemeinsam und nicht gegen sie die Erinnerung zu bewältigen. Aber das war eben unmöglich. Und so verfiel ich prompt auf den Versuch, in einer Weise weiterzuleben, die im Grunde genau die Bedingungen in sich enthielt, die unser gemeinsames Elend verursacht hatten. Diese Lebensweise paßte indessen fatalerweise zu den übrigen Verhaltensvorschriften, nach denen ich mich zu richten gelernt hatte, um mich angeblich als Mann in Ordnung fühlen zu dürfen. Meine vieljährigen Bemühungen, das Leiden zu lernen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, haben sich seitdem bewußt, aber auch unbewußt in mancherlei wissenschaftlichen Bemühungen niedergeschlagen. In meinem ersten gedruckten, aber unveröffentlichten Buch (es war aus meiner philosophischen Doktorarbeit entstanden) studierte ich die Entwicklung der Anschauungen über das Leiden und den Schmerz in der Geschichte der abendländischen Philosophie. Später habe ich mich jahrelang als psychosomatischer Arzt mit der Herzneurose beschäftigt. Gemeinsam mit den Kollegen unserer Klinik habe ich bei den Herzneurotikern die Zusammenhänge von innerer Brüchigkeit, Isolationsfurcht und Sterbeangst untersucht. Auch die Herzneurotiker können nicht leiden. Sie schaffen sich entweder mit äußerster Anstrengung ein Leben in totaler äußerer Harmonie, oder sie brechen völlig zusammen. Aber sie vermögen nicht, mit einem Teil ihrer Innenwelt oder mit ihrer Umwelt in Zwiespalt zu leben, sie können keine 11
Negativität wirklich verarbeiten und keine Schuld tragen. Ich habe viele Herzneurotiker behandelt, als ich mich in einem Stadium befand, daß ich mit ihnen zusammen das lernen wollte, wozu auch ich nur mangelhaft fähig war. Mir fiel es überaus schwer, auf übereinstimmung mit meiner aktuellen Umwelt zu verzichten, bis ich - spät genug - zu durchschauen lernte, daß ich mein Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit eigentlich erst dann freier ausleben konnte, als ich mich denjenigen «Solidarisierungs»-Forderungen zu widersetzen lernte, die nichts anderes als eine Anpassung an hierarchische Strukturen und eine Unterwerfung unter das Machtprinzip bedeuten. Mir ging auf, wie auf Schritt und Tritt menschlicher Gemeinschaftssinn dadurch korrumpiert wird, daß er als Pflicht zur «Solidarität» in einem durch Rivalität bestimmten System des gesellschaftlichen Zusammenlebens ausgebeutet wird. Während in dem Urphänomen der Sympathie eine sympathische, eine mitfühlende und mitleidende Verbundenheit mit allem menschlichen Leben von gleich zu gleich begründet ist, wird uns überall eingeredet, es gebe nur ein Zusammenhalten mit den einen gegen die anderen. So wird das Sympathieprinzip vom Machtprinzip quasi aufgesogen: «Solidarität» wird zum Instrument im Machtkampf. Sie soll die Kampfstärke derjenigen Gruppen erhöhen, in die man überall eingeordnet ist und die allesamt ihre Macht stärken oder zumindest gegen andere verteidigen wollen. Dabei liegt in dem ursprünglich unteilbaren Prinzip der Solidarität gerade umgekehrt die Aufforderung zur wechselseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit und zum Abbau von machtbedingten Spaltungen in der Gesellschaft. Also kann man sein Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit erst wirklich befriedigend entfalten, wenn man es über die Grenzen hinwegträgt, die durch das Machtprinzip fixiert sind. Man fühlt sich dann wohler und mit seiner menschlichen Natur eher im reinen, wenn man sich innerlich und im praktischen Verhalten gerade mit solchen Individuen oder Gruppen verbündet, die durch Unterdrükkungs- oder Aussonderungsprozesse als fremd, minderwertig oder böse an den Rand der Gesellschaft oder aus ihr heraus ge12
drängt worden sind. Denn gerade diese repräsentieren dasjenige Leiden, dem sich die Gesellschaft zu öffnen hätte, um sich künftig vor ähnlichen Ausstoßungs- und Diskriminierungsstrategien bewahren zu können. Aber das in der Gesellschaft dominierende Machtprinzip befindet sich im Einklang mit den traditionellen patriarchalischen Erziehungsleitbildern, welche den Jungen zur unmittelbaren Verwirklichung, den Mädchen zur passiven Huldigung vorgehalten werden. Der Junge lernt, das Leiden als Attribut von Ohnmacht an das Mädchen abzutreten und sich planmäßig an den reihenweise angebotenen Märchenhelden oder den historischen Supermännern auszurichten, die insgesamt Größe, Stärke, Siegen, Willen zur Macht repräsentieren. Er unterliegt einem Trommelfeuer von Werbung für ein permanentes Streben nach oben und vorn, nach überlegenheit und Herrschaftund somit zugleich, weil er damit überfordert ist, einer riesigen Verführung zu Neid, Racheimpulsen und Ressentiment. So oder so bewirkt diese Abrichtung am Ende eine hochgradige Verführbarkeit durch politische Konzepte, von denen der Faschismus lediglich die archaischste und barbarischste Variante darstellt. Mit anderen Worten: die ganz normale bürgerliche Erziehung fördert bereits durch den Primat des Machtprinzips diejenige Selbstentfremdung, die es jederzeit Obrigkeiten möglich macht, einzelne oder Massen im Widerspruch zu ihrer auf Sympathie und Zusammengehörigkeit angelegten Natur gegeneinander zu hetzen. Man wird systematisch darauf trainiert, sich als Junge oder Mann dann gut und wertvoll zu fühlen, wenn man in sich diejenige Sensibilität unterdrückt hat, die allein die Kraft für eine kompromißlose Verteidigung der Werte der Humanität spenden könnte. Es geht also um eine Anerkennung und Reintegration derjenigen Aspekte von Zerbrechlichkeit, Schwäche und Leiden, die in unserer patriarchalischen Gesellschaft von den Männern zugleich psychisch wie sozial unterdrückt werden; oder genauer: die von ihnen mit Hilfe von sozialer Unterdrückung psychisch verdrängt werden. Das heißt, ein entsprechender Bewußtseinswandel kann nur mit einer gleichzeitigen praktischen
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Veränderung des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern und allgemein zwischen sozial Mächtigen und sozial Ohnmächtigen vonstatten gehen. Umdenken ist nötig, um die Notwendigkeit eines Abbaues künstlicher Abhängigkeitsbeziehungen zu durchschauen. Aber ohne die unmittelbare Bewährung des Umdenkens in parallelem politischem Handeln könnte sich jenes wieder allzu leicht in einem unverbindlichen narzißtischen Phantasieren erschöpfen. Weil ich für diesen Zusammenhang im Moment keine treffendere Formel finde, wiederhole ich diejenige aus «Engagierte Analysen» : Wenn man im Machen nicht das anwendet, was man erkannt hat, kann man schließlich auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist. Wenn man sich mit theoretischer Kritik dort begnügt, wo eine praktische Veränderung in persönlicher Reichweite gewesen wäre, korrumpiert die Unterlassung schließlich auch das kritische Denken. Die äußere Unterwerfung macht emotional stumpf und kognitiv blind. Die Schilderungen mancherlei sozialen Machens, die in früheren meiner Arbeiten nichts weiter als die Versuche von anderen und mir selbst beschreiben sollten, diese Verknüpfung von sozialem Handeln und Reflektieren vor allem auch als sozial bezogenen Selbsthilfeprozeß zu betreiben, sind immer wieder in einer bestimmten Richtung mißverstanden worden. Nämlich so, daß man die geschilderten Aktivitäten etwa von ElternKinder-Gruppen, Obdachlosen-Initiativen oder von Psychosozialen Arbeitsgemeinschaften losgelöst als angebliche Patentrezepte zur Heilung der Gesellschaft interpretierte. Speziell orthodoxe marxistische Materialisten, die gewöhnt sind, psychische Veränderungen einseitig von materiellen Veränderungen herzuleiten, verkannten geflissentlich den bescheideneren Anspruch der von mir vorgelegten Erfahrungen mit spontanen Gruppeninitiativen. So wichtig mir auch kritische Basisinitiativen um der durch sie direkt erreichbaren beschränkten politischen Ziele willen sind, so sehe ich ihren Wert gerade auch in sehr hohem Maße darin, daß die darin zu gewinnenden Erfahrungen wesentliche Maßstäbe und Stimulierungen für die theoretische Orientierung vermitteln. Gemeint ist Orientie14
rung nicht allein über die soziale, sondern auch über die eigene innere Wirklichkeit. Denn es kann leicht passieren, daß eine Diskrepanz zwischen dem äußeren Machen und den theoretischen Vorstellungen einen Mangel an Glaubwürdigkeit bloßlegt - der zum Beispiel sicherlich bei vielen tausend Anhängern der studentischen Protestbewegung die nachträgliche totale Resignation bewirkt hat. Das vorliegende Buch konzentriert sich indessen mehr als die Mehrzahl der früheren auf das analysierende Nachdenken. Von der am Ende berichteten Krankengeschichte abgesehen, enthält es keine Berichte über irgendwelche praktischen Projekte. Ich habe jene überlegungen wieder aufzunehmen versucht, mit denen ich vor 30 Jahren steckengeblieben war. Ich knüpfe wiederum bei jenen Philosophen an, bei denen ich seinerzeit Hilfe gesucht hatte, um ein unverarbeitetes, sprachloses Leiden integrieren zu können. Diesmal kommen nun noch die Fragen des Psychoanalytikers hinzu, der sich anmaßt, auch über den unbewußten Hintergrund philosophischen Denkens zu reflektieren, und zwar weniger über die individuellen Motive als über so etwas wie das Unbewußte des Zeitgeistes, der sich in diesen Philosophien ausdrückte. Es wird sich der Versuch anschließen, aus diesem Rückblick heraus einige allgemeine Punkte der augenblicklichen geistigen Situation zu erfassen. Im Zentrum wird dabei jenes Konfliktthema stehen, das ich anhand meiner eigenen biographischen Problematik ansatzweise umschrieben habe. - Abschließend möchte ich diejenige meiner psychoanalytischen Erfahrungen darstellen, die mich zur Kernidee dieses Buches hingeführt hat.
Erster Teil Die Geschichte der Illusion von der menschlichen Allmacht. Der Gotteskomplex
I.
Kapitel
Der Ausbruch aus dem Mittelalter: Gott geht verloren, der Mensch will selbst Gott sein
Wenn kleine Kinder ihren Eltern mißtrauen und eine gewisse intellektuelle Wachheit erreicht haben, reagieren sie oftmals in einer konsequenten, aber der Umwelt schwer verständlichen Weise. Objektiv abhängig vom Schutz der Eltern, versetzt es sie in Panik, daß sie sich dieses Schutzes nicht mehr sicher fühlen. Ihr erwachtes Ich begreift, was der Mangel an Schutz bedeutet. In ihrer Angst versuchen sie selbst die totale Kontrolle der Situation zu übernehmen. Sie lassen nichts mehr passiv mit sich oder in sich geschehen, sondern bemühen sich, alle Vorgänge in der Umwelt - und im eigenen Körper - genauestens zu überwachen und zu beherrschen. Abends schlafen sie nicht mehr ein oder höchstens bei Licht und offener Tür. Denn es darf nichts ohne ihre bewußte Anteilnahme vonstatten gehen. Sie müssen alles wissen. Was hinter ihrem Rücken passiert, ist für ihr Empfinden stets bedrohlich und unheilverheißend. Und niemand darf mit ihnen etwas machen, was sie nicht wollen. Nicht einmal der Zufall darf sich einmischen. Sie wollen alles im voraus berechnen und bestimmen. Sie sagen oft, wenn die Eltern etwas von ihnen verlangen, nur deshalb «Nein!», um die eigene Autonomie zu verteidigen. Und vielfach essen sie nicht dann, wenn sie sollen. Sie wollen es selbst in der Hand haben, wann, wie oft und was sie essen oder was sie überhaupt tun. Lassen sich die Eltern mit solchen Kindern auf einen Machtkampf ein, verlieren sie meist. Die Kinder werden um so widerspenstiger, je mehr man sie nötigt, sich zu fügen. Als drohe ihnen eine Katastrophe, wenn sie nachgeben würden, verteidigen sie sich gegen jede als Vergewaltigungsversuch
empfundene Nötigung. Sicher fühlen sie sich nur, wenn sie überall und zu jeder Zeit ihr Verhalten nach eigenen Erkenntnissen und eigenem Entschluß steuern. Der Umgebung erscheint dieses Verhalten komisch, rätselhaft, lästig. Die unmittelbar hineinverwickelten Eltern haben meist eine von vornherein zwiespältige Einstellung zu einem solchen Kinde gehabt. Ablehnende Gefühle werden von ihnen durch skrupulöse überbesorgtheit in Schach gehalten. Aber gerade diese profunde Zwiespältigkeit begründet und verstärkt laufend das kindliche Mißtrauen. Wenn ich nicht auf alles aufpasse, denkt das Kind, lassen sie mich fallen oder machen sie mich kaputt. Aus dieser fortgesetzten inneren Anspannung und überwachen Konzentriertheit folgt immer eine rasche und intensive Entwicklung der Auffassungsfähigkeit. Solche Kinder merken sich sehr bald auch kompliziertere kausale Zusammenhänge. Ihre Angst zwingt sie dazu, stets rechtzeitig wissen zu müssen, was sich anbahnt. Denn nur dann können sie sich durch berechnetes Eingreifen vor dem ständig erwarteten Ungemach schützen. Deshalb können sie auch nicht mehr einschlafen, weil Bewußtlosigkeit für sie komplette Verteidigungsunfähigkeit bedeutet und die absolute übermacht jener bösen Welt, die sie nur mit ihrem wachen Ich in Schach halten zu können glauben. Freilich sind die hintergründige Eltern-Kind-Beziehungund die Flucht des Kindes aus phantasierter tödlicher Ohnmacht in eine narzißtische Allmacht allen Beteiligten unbewußt. Das kindliche Benehmen erscheint unverständlich, ja widersinnig. Die gesamte Umwelt registriert das Mißverhältnis zwischen der tatsächlichen kindlichen Abhängigkeit und Unreife einerseits und seinen Herrschaftsansprüchen andererseits als töricht. Man erkennt genau, daß das Kind nicht richtig funktioniert und sich durch den Drang, alles übersehen und dirigieren zu wollen, selbstschädigend überfordert. Aber meist wird nicht verstanden, daß das scheinbar unlogische Verhalten des Kindes einem hintergründigen, emotional fundierten Plan folgt. In dieser Logik muß das Kind verstanden werden, wenn man es hilfreich therapeutisch ansprechen will. Es nützt dem 20
Kinde nichts, wenn man ihm beweist, daß sein Nicht-einschlafen-Wollen und seine Widerspenstigkeit bei der Nahrungsaufnahme für sein körperliches Funktionieren von Nachteil sind. Denn dies ist der geradezu tragische Widerspruch in dem kindlichen Konzept: Das Ich will sich durch Berechnung und Kontrolle der vergegenständlichten Welt versichern. Aber das unbewußte emotionale Motiv ist seinerseits durch die rationale Beweisführung unerreichbar. Hier entscheidet die emotionale Logik, daß vernichtende Ohnmacht nur durch überkompensatorische Allmacht und Allwissenheit abgewendet werden könne. Und nur ein anderes emotionales Grundverhältnis zur Welt könnte eine hilfreiche Wendung bringen. Es läßt sich vermuten, daß sich in den Europäern beim übergang vom Mittelalter in die Neuzeit Prozesse abgespielt haben, die dem hier erläuterten kindlichen Reaktionsmuster verwandt sind, und daß wir immer noch von den Konsequenzen dieser Prozesse betroffen sind. Lange Zeit hatten sich die mittelalterlichen Menschen in ihrer Gotteskindschaft sicher gefühlt. Sie hatten darauf verzichten können, die Welt genau zu erforschen und ihr Leben zu berechnen. Ausdruck dieser ergebenen Lebenseinstellung war die Prädestinationslehre des Kirchenvaters AUGUSTINUS gewesen. AUGUSTIN hatte erklärt, daß jedes menschliche Schicksal durch göttlichen Ratschluß vollständig vorherbestimmt sei. Es sei nicht Sache des Menschen, sich die göttliche Wahrheit durch Einsicht anzueignen, sondern diese Aneignung müsse durch den Glauben geschehen. Gott werde die Wahrheit nur denjenigen offenbaren, die sich durch sittliches Verhalten als dafür würdig erwiesen. Also kam es auf absoluten Gehorsam an. Zweifel und eigene Erkenntnis führten zu nichts. Aber schon AUGUSTIN selbst hatte gewissermaßen die Schwachstelle bezeichnet, die den allmählich in den folgenden Jahrhunderten einsetzenden Vertrauensschwund begründete. Niemand dürfe gewiß sein, so lehrte er, ob er nach Gottes unerforschlichem Ratschluß zu denen zähle, die der Erlösung teilhaftig werden würden oder zu denen, die für die Erbsünde 21
büßen müßten. Es war eine schwer erträgliche Forderung, absolute Abhängigkeit anzuerkennen, ohne sich der göttlichen Gnade sicher fühlen zu dürfen. Wie konnte man sich Gott blindlings anvertrauen, wenn man so wenig abschätzen konnte, ob man durch ihn Erlösung oder schreckliche Bestrafung finden würde? War es angesichts dieses Umstandes nicht gerechtfertigt, wenn sich der Mensch stärker auf die Hilfe seines Intellektes verließ, um seine Position aus eigenen Erkenntnissen heraus besser zu sichern? AUGUSTIN spürte offenbar ein wachsendes Spannungsverhältnis zwischen einem Bedürfnis nach eigenständiger intellektueller Orientierung und der Bereitschaft, sich nach wie vor blindlings der Offenbarung zu unterwerfen. Und so warnte er vor dem Erkenntnistrieb: «Denn außer dieser bösen Lust des Fleisches, die in aller Sinnenlust und aller Gier nach Freude wohnt, und die zugrunde richtet, wer ihr fern von Deinem Angesichte dient, lebt in der Seele eine andere Begierde, die ... zwar nicht im Fleische sich ergötzen, aber wohl durch das Fleisch in eitlem Vorwitz Nichtiges erfahren will, was dann geschminkt wird mit dem Namen der Erkenntnis und der Wissenschaft. » Um der Neugier willen «geht man daran, all das Geheimnisvolle der Natur, das doch für unsere Sinne nicht geschaffen, auszuforschen, und sucht nach Dingen, die zu wissen uns nichts nützt, und doch ist's nur der eine Wunsch bei allen Menschen: zu erkennen».4 Andererseits verlieh AUGUSrIN der Vernunfteinsicht und dem Prinzip der Willensfreiheit in seiner Abhandlung «Vom Gottesstaat» eine gewisse Bedeutung. Aber in den wichtigsten Fragen sollte eben doch der Glaube an die Offenbarung und an deren Walten in der kirchlichen Tradition der intellektuellen Erkenntnis vorangehen. Und die Willensfreiheit sei ja der Menschheit in Adam zuteil geworden. Nur habe dieser sie mißbraucht und damit für seine Nachfolger ausgelöscht.5 Offensichtlich hat sich während des Mittelalters das Gefühl kindlichen Beschütztseins zunehmend vermindert, wie umgekehrt das Bedürfnis angewachsen ist, sich eigene Machtmittel anzueignen, um die Stimmung der Unheimlichkeit zu bannen. Das Mißtrauen gegenüber Gott wuchs nicht allein aus Angst, 22
von ihm nicht genügend gehalten zu werden, sondern auch aus Sorge vor dem bösen, dem strafenden Gott. Durch Aufkündigung des blinden Gehorsams in Form erhöhten Anspruches auf Wissen und Selbstbestimmung geriet man verstärkt in das Dilemma, sich um so mehr den göttlichen Zorn zuzuziehen, der unter anderem das Mißtrauen begründete. So entstand zwangsläufig eine sich verstärkende kreisförmige Eigendynamik: Anwachsende Geborgenheitsunsicherheit im Verhältnis zu Gott erzwang einen Ausgleich durch narzißtische Selbstsicherung. Jede Erweiterung eigener Macht mußte indessen die Gefahr göttlicher Rache erhöhen, wodurch neue Ängste freigesetzt und wiederum zusätzlich überkompensatorische Abwehrrnaßnahmen erforderlich wurden. Das heißt, der einmal eingeleitete Prozeß der Ablösung aus der vollständigen Unmündigkeit und Passivität enthielt von vornherein die Tendenz zu einem rasanten Umschlag ins Gegenteil, in die Identifizierung mit der göttlichen Allwissenheit und Allmacht. Und tatsächlich trägt die folgende Entwicklung viele Züge des vonder Psychoanalyse beschriebenen Reaktionsmusters der Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die narzißtische Omnipotenz. Die Radikalität dieses Umschlags wird nur dadurch verschleiert, daß man alle Versuche, sich durch Identifizierung die göttliche Omnipotenz einzuverleiben, mit immer neuen rationalisierenden Theorien leugnete. Je mehr man Gott entmachtete, um so heftiger und kunstfertiger redete man sich ein, daß gerade dies nicht geschehe, daß man vielmehr Gottes in der Natur wirksamen Kräfte nur deshalb habhaft werden wolle, um seiner um so mehr inne zu werden. Daß es von Anfang an aber in Wirklichkeit darum ging, Gottes unermeßliche Größe und Kraft für sich selbst einzufangen, enthüllte bereits die frühe Suche der Alchimisten nach dem «Stein der Weisen», der alle Krankheiten heilen, alle Stoffe in Gold verwandeln, alle Geister in die Gewalt seines Besitzers bannen sollte. Allzu deutlich verriet sich darin der Anspruch, sämtliche göttlichen Wunderkräfte in Form eines Stoffes in Besitz nehmen zu können, den man selbst produzieren wollte. Die großen Ängste, die sich mit den ersten Ansätzen zu plan23
voller Naturforschung verknüpften, schlugen sich in der Durchmischung intellektueller überlegung mit infantil archaischem Aberglauben nieder. Indem das Ich sich durch intellektuelle Distanzierung von der vergegenständlichten Natur eine neue Position des Analysierens und Kontrollierens verschaffen wollte, verstrickte es sich sogleich in vermehrte magische Befürchtungen. Die Natur belebte sich mit Scharen von Dämonen, die man durch Zauber entkräften zu können hoffte. Vorstellungen der Neuplatoniker und vor allem Elemente der jüdischen Kabbala flossen in dieses Denken ein, das sich intensiv mit Traum- und Zeichendeutung, mit Wahrsagekunst und Zahlenmystik beschäftigte. Es tauchte ein ganzer Komplex von geheimnisvollen Geisterkräften auf, die Einfluß auf das menschliche Leben haben sollten. Auch jede einfache Zahl, die zur mathematischen Naturerforschung verwendet wurde, entpuppte sich obendrein als Träger außersinnlicher Bezüge und Kräfte. AGRIPPA VON NETTESHEIM, neben JOHANNES REUCHLIN der bekannteste theosophisch-magische Schriftsteller zu Beginn des 16. Jahrhunderts, widmete in seinen berühmten «Magischen Werken» allein etwa hundert Seiten der Analyse der okkulten Macht und Kraft der Zahlen. 2 Es gab zu dieser Zeit eine umfassende Dämonenkunde und ausgedehnte Kataloge mit Rezepten für Zauberkünste, Weissagung, Wundertränke und sonstige magisch wirksame Stoffe und Zeremonielle. Kleine Handbücher orientierten über die Möglichkeiten der Geomantie (Punktierkunst, Weissagung aus Figuren, die aus Punktieren entstanden), der Pyromantie (Weissagung aus dem Feuer), der Hydromantie (Weissagung aus dem Wasser), der N ekromantie (Weissagung aus Leichen), der Ichthyomantie (Weissagung aus Fischen) und über viele andere magische Künste. Es war eine überaus aufgeregte Zeit. Die Ansätze zur kritischen überprüfung des Bildes von der Weh, das vorher unbefragt aus der kirchlichen Lehre entnommen worden war, erbrachten neben kleinen Fortschritten an intellektueller Sicherheit viele neue Unsicherheiten und demzufolge den Zwang zur Vervielfältigung der Anstrengungen, die verlorene ergebene Gotteskindschaft durch grandiose Steigerung der Kräf-
te des eIgenen Ich wettzumachen. Der «Stein der Weisen» mit seiner unbegrenzten Wundermacht drückte in zeittypischer Form den Wunsch des Menschen aus, selbst omnipotent werden zu müssen, wenn man Gott nicht mehr haben konnte. Die Welt des mittelalterlichen Lebensgefühls kann als kreisförmig beschrieben werden. In dem geozentrischen Weltbild kreisten die Gestirne um die Erde. Aber der Mensch war unten, und Gottes Auge überwachte ihn von oben. Die Welt war in sich geschlossen wie auch der menschliche Lebenszyklus, der in Gott anfing und endete. Dieses kreisförmige System wurde in dem Augenblick aufgebrochen, als das mißtrauische Ich über die Grenze der Offenbarungslehre hinaus fragte. Mit den ersten Ansätzen des naturwissenschaftlichen Kausaldenkens eröffnete sich die Perspektive einer linearen Unendlichkeit der Kausalkette. Die menschliche Position der Randständigkeitim grenzenlosen All bestätigte sich durch die Feststellungen von KOPERN1KUS. Aber schon lange vor diesem, nämlich im 13. Jahrhundert, hatte die Erfindung der mechanischen Uhr darauf hingewiesen, daß sich die europäischen Menschen anschickten, das Bewußtsein der Endlichkeit im geschlossenen Lebenskreis aufzugeben und sich auf eine ins Unendliche fortschreitende zeitliche Linie zu begeben. Tatsächlich kann man mit MUMFORD 59 die mechanische Uhr als die Maschine ansehen, mit der der Mensch sein Verhältnis zur Ewigkeit entscheidend verändert hat. Immer wieder bedienten sich künftig Philosophen der Uhr zur gleichnishaften Definition aller Lebensprozesse (s. 2. Kap.). Die mechanische Uhr folgt nicht, wie die alte Sonnenuhr, dem Kreisprozeß des Tages, der aus der Nacht kommt und wieder in die Nacht mündet. Sie tickt permanent gewissermaßen geradlinig weiter. Sie markiert mit ihrem Takt, daß die Zeit unendlich wie die Zahlenreihe voranschreitet und sowenig Anfang und Ende hat wie die naturwissenschaftliche Kausalkette bzw. das sich diesem Prinzip verschreibende menschliche Denken. Im Lebensgefühl des frommen mittelalterlichen Christen gab es die Ewigkeit des sich in Gott kreisförmig vollendenden Lebens. Der nachmittelalterliche Mensch gelangte mehr und
mehr zu dem Bewußtsein, auf unendlicher Straße unterwegs zu sem. Bemühungen um eine Klärung des Begriffs der Unendlichkeit waren erstmalig bei den spätscholastischen Naturphilosophen aufgetaucht. 'Aber die statische Position des mittelalterlichen Menschen in der Welt verhinderte damals bezeichnenderweise noch ein genaues physikalisches Verständnis der Bewegung. Man konnte Geschwindigkeit noch nicht als Quotienten von Weg durch Zeit fassen. Man war auch unfähig, wechselnde Geschwindigkeiten durch Definition der MomentanGeschwindigkeit zu begreifen. 50 Den Differentialquotienten, nämlich den Quotienten aus einer unendlich kleinen Strecke und einer unendlich kleinen Zeit, konnte man noch nicht denken. Nach dem Herausfallen - oder Heraustreten - aus der Endlichkeit des christlichen Lebenszyklus mußte der Mensch nun einen Sinn darin suchen, sich auf einer nach vorn unabgegrenzten Linie zu bewegen. Diesen Sinn hat er schließlich darin zu finden gesucht, das bloße Weitergehen in der Zeit mit Fortschritt, mit permanenter Höherentwicklung gleichzusetzen. Das Mittel, diesen Glauben zu nähren, wurden die niemals mehr stillstehenden Entwicklungen der Naturforschung und der Technik. Da Rückschritte der Naturwissenschaft und Technik wie ein Widerspruch in sich selbst wirken, konnte sich bislang die Illusion halten, die Situation des Menschen im Prozeß der Zeit werde immer großartiger und glücklicher. Dabei ist dieses Fortschrittsbewußtsein natürlich nichts weniger als ein kritisches Erfahrungsresultat, vielmehr der aus Verzweiflung geborene Strohhalm, an den man sich aus Angst vor der absoluten Ziellosigkeit klammert. Latent steckt hinter der Fortschrittsideologie immer noch der Traum vom «Stein der Weisen)), der sich nur inzwischen dahin gewandelt hat, daß irgend eine Super-Medizintechnologie permanente Jugendlichkeit und eine Nahezu-Unsterblichkeit garantieren soll. Es war dann im 17. Jahrhundert die Philosophie des DEsCARTES, die am prägnantesten den wegweisenden Entschluß des Menschen ausdrückte, sich das absolute Wissen und die Kraft des Allmächtigen anzueignen," um nach dem Verlust des
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mittelalterlichen Gotteskindschaftsverhältnisses ein neu es Gleichgewicht zu finden. Nach Wegfall des göttlichen Schutzes wird das Selbstbewußtsein des individuellen Ich zum Garanten eines modernen Sicherheitsgefühls. In psychoanalytischer Betrachtungsweise kann man von einer narzißtischen Identifizierung sprechen. Die grandiose Selbstgewißheit des Ich ist an die Stelle der Geborgenheit in der großen idealisierten Elternfigur getreten. Deren gewaltige Macht taucht nun als maßlose überschätzung der eigenen Bedeutung und Möglichkeiten auf. Das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes. Die höchste und zentrale Wahrheit steckt infolgedessen in dem berühm ten Satz: Cogito ergo sum; ich denke, also bin ich.r 4 Was wie ein logischer Schluß aussieht, ist im Grunde eine intuitive Entscheidung. Das Ich setzt seine Selbstgewißheit obenan. Freilich kann man von Entscheidung hier nur in dem Sinne sprechen, daß das Ich letztlich auch für den unbewußten Abwehrvorgang verantwortlich ist, der zu diesem Resultat geführt hat. Dies folgt jedenfalls aus der Annahme, daß im Hintergrund eine ähnliche Dynamik wirksam war, wie sie an dem Beispiel des narzißtisch überkompensierenden Kindes erläutert worden ist. Noch immer hat man freilich im 17. Jahrhundert mit der großen Angst zu kämpfen, die willkürliche Entmachtung Gottes als solche einzugestehen und dessen vernichtende Rache heraufzubeschwören. Also mußte sich DESCARTES mit allen Mitteln bemühen, die ungeheure Anmaßung des individuellen Ich nicht nur als gottgewollt, sondern geradezu als von Gott her bestimmt zu interpretieren. Er erfand eine scheinbare Begründung, die man im Sinne der Psychoanalyse als klassische Rationalisierung bezeichnen könnte. Die Idee, von der individuellen Selbstgewißheit alle weiteren Erkenntnisse ableiten zu können, führte er ursächlich auf Gott zurück: Die höchste Klarheit und Deutlichkeit, mit der das individuelle Ich seiner selbst bewußt sei, könne nur von Gott dem Menschen eingegeben worden sein. Und da Gott gut sei, müsse auch alles wahr sein, was an ähnlich klaren und deutlichen Vorstellungen im Ich vorhanden sei. Denn der gute Gott könne uns ja nicht täuschen wollen. ~ Auch der berühmte Gottesbeweis des DEs-
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CARTES bedeutete im Grunde nur eine rationalisierende Verleugnung der tatsächlichen Entmachtung Gottes: Die Idee eines vollkommenen Wesens müsse eine Ursache haben. Da der Mensch indessen unvollkommen sei, könne seine Vorstellung des vollkommenen Wesens nur von Gott als Ursache herkommen. Wie könnten wir ein vollkommenes Wesen denken, wenn dieses nicht real existierte und diese Idee nicht in uns hervorgebracht hätte? «Wir werden in dieser Idee (gemeint ist die Idee Gottes, der Verf.) eine solche Unermeßlichkeitfinden, daß wir uns davon überzeugen, daß sie uns nur von einem Gegenstande eingeflößt sein kann, welcher wirklich alle Vollkommenheiten in sich vereinigt, das heißt nur von dem wirklich daseienden Gott. Denn es ist nach dem natürlichen Licht offenbar, daß aus Nichts nicht Etwas werden kann, und daß das Vollkommene nicht von einem Unvollkommeneren als wirkender und vollständiger Ursache hervorgebracht werden kann, und daß in uns keine Idee oder kein Bild einer Sache sein kann, von dem nicht irgendwo in uns selbst oder außer uns ein Urbild existiert, das alle seine Vollkommenheiten wirklich enthält. »14 In Wirklichkeit vertraut dieser Beweis nicht auf Gott, sondern auf die Unfehlbarkeit des eigenen Intellekts: Würde der intellektuelle Schluß zu einem anderen Resultat führen, wäre Gott gewissermaßen widerlegt. Das logisch denkende Ich bestimmt, daß Gott ist - bzw. sein darf. Aber natürlich durfte seinerzeit niemand diese Anmaßung eingestehen, und von der Renaissance bis zur Aufklärung mühten sich Generationen von Philosophen mit immer neuen Argumenten darum, sich um das Bekenntnis herumzudrücken, daß man sich eben nicht mehr auf Gott, sondern darauf verließ, durch Identifizierung selbst göttlich und omnipotent sein zu wollen, um alle Gefahren selbständig voraus berechnen und abwenden zu können. Jedenfalls stellt sich in der Philosophie des DESCARTES besonders deutlich der Umschlag aus passiver Ergebenheit in eine Haltung wachsamer Dominanz dar. Das individuelle Ich setzt sich an die Stelle Gottes. Gerade in dem Augenblick, als GALILEI endgültig das klassische geozentrische Weltbild als Illusion entlarvt und damit der Verlorenheitsangst neue Nahrung gibt,
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vollzieht sich diese Flucht nach vorn in einen großartigen Allmachtsglauben. Das Ich erträgt auch nicht länger, in die Geister- und Dämonenwelt der mystisch-magischen Periode verwickelt zu sein. Es saugt gewissermaßen das ganze Potential an Magie in sich selbst auf, indem es alle Wirklichkeit leugnet, die es nicht selbst intellektuell in Besitz genommen hat. Die mit DESCARTES, GAULEI und LEIBNIZ einsetzende stürmische, auf die Mathematik gestützte Naturerforschung steht von Anfang an unter dem Druck der Angst, alle Ursachen erkennen zu müssen, um nicht doch am Ende von unbekannten Mächten überwältigt zu werden. Man muß die Umwelt restlos erkunden und sich ihrer bemächtigen, da kein elterlicher Beschützer mehr da ist, der Geborgenheit vermittelt. Die Furcht, von Gott verlassen zu werden, verwandelt sich in die Sorge vor dem Verlust der absoluten Selbstgewißheit und der intellektuellen Beherrschung der Umwelt. Die mit der Renaissance einsetzende und sich bis heute fortsetzende großartige Bewegung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Eroberungen entstammt jedenfalls psychologisch sehr ähnlichen Wurzeln wie die gehetzte, mißtrauische Neugierhaltung und die tyrannische Herrschsucht jener unbeschützten Kinder, die nicht mehr schlafen und nicht mehr passiv sein können. Die nur noch einer Welt trauen, die sie selbst durch Berechnen und Machen in der Hand haben - oder zumindest in der Hand zu haben glauben. Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn. Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär selbst in eine allmächtige Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals zahlreiche Merkmale einer krampfhaften Selbstüberforderung. Der verunsicherten Beziehung zu Gott, die einen langen Prozeß
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schmerzhafter Auseinandersetzung erfordert hätte, hat man sich durch Identifizierung entzogen. Aber das durch diese Gleichsetzung erzeugte großartige Selbstbewußtsein ist stets trügerisch geblieben, und das auf die technische N aturbeherrschung fll;ndierte Machtgefühl verleugnet seit je die tatsächliche infantile Abhängigkeit von eben dieser Natur, ohne deren Ressourcen ein überleben der Menschheit undenkbar ist. Dies ist eben der Pferdefuß der neurotischen überkompensation: Da die Ohnmachtsangst nur durch unkritische Selbstüberschätzung, die passive Auslieferung nur durch gewaltsame überaktivität in Schach gehalten wird, hat sich eine verhängnisvolle Unfähigkeit fixiert, noch diejenigen natürlichen Abhängigkeiten zu registrieren und zu akzeptieren, welche die menschliche Existenz begrenzen. Aber es liegt eben im Wesen dieses unbewußten Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, daß die Brüchigkeit des größenwahnsinnigen Selbstbildes so schwer durchschaut werden kann. Nachdem die Gewißheit der Geborgenheit in Gott entfallen ist und das Ich nur noch in seiner Selbstgewißheit und in der egozentrischen Naturbeherrschung Halt sucht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das illusionäre Moment dieser Selbstvergötterung zu verleugnen. Die spektakulären Entdeckungen der naturwissenschaftlichen Ursachenforschung stützen von Anfang an das Verleugnungssystem, weil sie ja, anders als die Rezepte der mittelalterlichen Magie, tatsächlich viele unheimliche Naturprozesse durchschaubar machen. Begeistert von der Tragfähigkeit der mathematischen Methode vermag man sich - mit DEscARTEs - fortan zu suggerieren, die intellektuelle Gewißheit mache eine Selbsttäuschung unmöglich. Die mathematische Logik trüge nie. Wenn man der «raison», der Vernunfterkenntnis folge, so erklärt MALEBRANCHE, einer der bedeutendsten französischen Philosophen in der ,unmittelbaren Nachfolge des DEscARTEs, verfüge man über das unendliche und unabhängige Prinzip, an welches auch Gott gebunden sei: «Car Dieu ne peut agir que selon cette raison, il depend d'elle dans un sens; il faut qu'illa consulte et qu'illa suive.»5I Die Verfügung über die «raison» garantiert dem Menschen, das ist 3°
die heimliche triumphale Folgerung, gottgleiche Unabhängigkeit und Macht. Der seit dem Mittelalter versteckt erhalten gebliebene Aberglaube bedingt die Illusion, durch praktische Ausnutzung der mathematischen Naturgesetze die eigene Endlichkeit überwinden zu können. Damit hat sich die überschätzung der kabbalistischen Zauber- und Beschwörungsformeln aus der Zeit des AGRIPPA VON NETTESHEIM nur auf die moderne Mathematik verschoben. Das kontinuierliche Vordringen der mathematischen Naturerkenntnis und die damit verbundene Erweiterung technischer Macht werden immerfort gleichgesetzt mit einer allmählichen Annäherung an das Ziel, der Unendlichkeit habhaft zu werden und die Grenzen der menschlichen Existenz definitiv aufzuheben. Das undurchschaute magische Moment dieser phantastischen Illusion wird gegenwärtig eklatant durch die Tatsache deutlich, daß nur die allerwenigsten vernünftig auf die Tatsache reagieren können, daß derzeit gerade die exakte naturwissenschaftliche Forschung die Zwangsläufigkeit eines kollektiven Selbstzerstörungsprozesses prognostiziert, die mit einer automatischen Fortsetzung der bisherigen expansionistischen Naturbeherrschungsstrategie verbunden wäre. Die Menschen sind unfähig zu akzeptieren, daß eben die Mittel, die bislang unumstritten zur unaufhörlichen Erweiterung unserer Selbstsicherheit tauglich sein sollten, nun auf einmal ganz anders bewertet werden müssen. Es ist eine mit der hintergründigen neurotischen Dynamik verbundene Paradoxie, daß den so lange idealisierten quantitativen Methoden in dem Augenblick nicht mehr vertraut werden kann, in dem diese beweisen, daß der Anspruch einer immer vollständigeren naturwissenschaftlich-technischen Inbesitznahme der Natur gleichbedeutend mit Selbstvernichtung ist. Die Angst, sich die seit dem Mittelalter nur verdrängte infantile Abhängigkeitsposition einzugestehen, ist fatalerweise momentan immer noch viel größer als die Angst, mit einem objektiv selbstmörderischen Größenwahn unterzugehen. Das ist der Fluch dieses kollektiven Komplexes, des Ohnmacht-Allmacht-Komplexes, den man auch zusammenfassend als «Gotteskomplex» bezeichnen kann. 31
2.
Kapitel
Die Geschichte des Egozentrismus und seiner Verkleidungen von Leibniz bis Nietzsche
Ein wesentliches Merkmal, das den narzißtischen OhnmachtAllmacht-Komplex kennzeichnet und sich durch die neuere Zivilisation hindurchzieht, ist der radikale Egozentrismus. Wiederum sei an den Reaktionstypus des kleinen Kindes erinnert, das aus der Verlassenheitsangst in eine unumschränkte Dominanzhaltung flüchtet. Solche Kinder bleiben in aller Regel hartnäckige Egozentriker. Weil sie nichts mehr für vertrauenswürdig halten, was von außen kommt, können sie keinem anderen zugestehen, über sie zu bestimmen. Beziehungen zu Mitmenschen sind ihnen nur dann erträglich, wenn sie darin eine herrschende Rolle einnehmen. Es würde ihre ursprüngliche, unerträglich gewordene Abhängigkeitsangst reproduzieren, würden sie sich auch nur partiell von anderen lenken lassen. Ihr ganzes Trachten geht also dahin, ihre Umwelt so zu manipulieren, daß sie sich zumindest beständig einbilden können, ihr Leben vollständig aus dem eigenen Willen zu bestimmen. In Analogie zu diesem Schema kann man die Fixierung jenes starren Egozentrismus begreifen, die als Folge mit der Identifizierung mit Gott verbunden war, die der Renaissance-Europäer vollzogen und die sich in unserer neueren Zivilisation fortgeerbt hat. Dieser Egozentrismus ist das Produkt der Einverleibung des einen großartigen Gottes, wie ihn die lange monotheistische Glaubenstradition geprägt hatte. Der Mensch verwandelt sich selbst in ein Abbild dieser Gestalt und sieht sich fortan als eine in sich und von allen anderen vollständig abgeschlossene Einheit. 32
Die Philosophie hat sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert um metaphysische Konstruktionen bemüht, die den einzelnen in dem Bewußtsein bestätigen, daß er quasi mit dem Universum identisch sei, daß er in der eigenen Person die Vollständigkeit des Weltalls enthalte. In der Naturphilosophie der Renaissance kam es zur Gleichsetzung des Wesens von Gott und Welt. Man könne nur erkennen, lehrte VALENTIN WEIGEL, was man selbst sei. Der Mensch erfasse das All, weil er es selbst sei. WEIGEL und JAKOB BÖHME sahen im Menschen einerseits die leibliche Verdichtung aller materiellen Dinge. Daher sei ihm die gesamte materielle Welt einsichtig. Genauso nehme er an der geistigen Welt in ihrer Ganzheit teil und könne sich als «göttlicher Funke» als Ebenbild des göttlichen Wesens erfassen. GIORDANO BRUNO hat in einem Lehrgedicht den Begriff der Monade entwickelt. Jedes Einzelwesen, jede Monade sei eine individuelle Daseinsform des göttlichen Seins, eine endliche Existenzform der unendlichen Essenz. 19,1 I Hundert Jahre später nahm LEIBNIZ die Monadenlehre BRUNOS wieder auf und modifizierte sie:~8 Auch er ging von der These aus, daß jedes Einzelwesen, jede Monade, das ganze Universum in sich repräsentiere. Aber jede Monade sei auch ein Individuum, das heißt etwas Besonderes, von allen anderen Monaden Verschiedenes. Den scheinbaren Widerspruch, daß die Verschiedenheit eine qualitative Unvollkommenheit der einzelnen Monaden voraussetze, löste er auf, indem er die Differenzen zwischen den Monaden lediglich auf den Grad der Deutlichkeit bezog, in dem jede Monade das Universum darstelle. Keine Monade sei also qualitativ anders als alle anderen. Jede bilde das Universum nur in einer jeweilig spezifischen Deutlichkeit oder Undeutlichkeit ab. Gott sei die Zentralmonade eines großen Monadensystems. Während jede Monade sich selbst auslebe, stimme sie wegen der Gleichheit ihres Inhaltes mit allen anderen überein. Zwischen sämtlichen Monaden herrsche eine «prästabilierte Harmonie». Im Unterschied zu anderen Lebewesen sei der Mensch nicht nur ein Abbild des Universums der Geschöpfe, sondern durch den Geist Abbild der Gottheit selbst, «fähig, das 33
System des Universums zu erkennen und es durch architektonische Proben wenigstens in etwas nachzuahmen, da jeder Geist innerhalb seines Bereiches wie eine kleine Gottheit ist. »4 8 Zur Erläuterung der prästabilierten Harmonie bedienten sich die Philosophen jener Zeit des berühmten Uhrengleichnisses, das wohl ursprünglich auf GEULINCX zurückgeht: Alle psychischen und physischen Vorgänge im All seien absolut gleichgeschaltet wie Uhren, die vollkommen miteinander übereinstimmen 48 . Der geheime Impuls, Gott zu entmachten, ist in diesem Uhrengleichnis deutlich zu erkennen. Deshalb löste das Uhrengleichnis auch manche Kontroversen aus. So hielt z. B. CLARKE LEIBNIZ in einem berühmt gewordenen Streit vor: «Wenn man sich die Welt als eine große Maschine vorstellt, die - wie eine Uhr ohne Hilfe des Uhrmachers, ohne den Eingriff Gottes weiter geht, so führt das ... unter dem Vorwand, Gott zu einem überweltlichen Verstandeswesen zu machen, dahin, die göttliche Vorsehung und Leitung tatsächlich aus der Welt zu verbannen.» «Gegen alle die, die behaupten, daß in einer irdischen Regierung die Dinge ohne Einmischung des Königs vollkommen ihren Gang gehen könnten, ist der Verdacht gerechtfertigt, daß sie am liebsten den König ganz beiseite schieben möchten. »47 Man braucht Gott nicht mehr. Er hat durch die Schöpfung die Uhren einmal gestellt. Jetztlaufen alle Monaden, alle Lebewesen unabhängig von seinem Einfluß für sich weiter. Aber das Uhrengleichnis ist noch in einer anderen Hinsicht belangvoll. Es stellt eine Welt dar, in der die Einzelwesen einander nicht berühren. Jede Monade istfür sich. Ihr Einklang mit dem Universum und untereinander setzt keine wechselseitigen Beziehungen voraus. Die Individuen geben sich gegenseitig nichts, und sie nehmen auch nichts voneinander. Jeder einzelne trägt die Vollständigkeit von vornherein latent in sich. Die Aufgabe der einzelnen Monade ist deshalb nach LEIBNIZ, ihre eigene zunächst nur beschränkt deutliche Abbildung des Universums durch Selbsterkenntnis weiter aufzuhellen. Das Individuum hat demnach also die Möglichkeit, sich aus dem 34
eigenen Inneren heraus zu vervollkommnen. Es braucht dazu nicht die Mitwirkung der anderen. Der Soziologe NORBERT ELIAS 16 hat zu Recht festgestellt, daß in den europäischen Gesellschaften seit der Renaissance die Idee des Menschen von seiner Vereinzelung, von der Abschließung des eigenen Inneren gegenüber allem, was draußen ist, bestimmt worden ist. In der philosophisch-soziologischen Tradition gibt es, wie ELIAS darlegt, kaum einen Denkansatz, bei dem man grundsätzlich von einer Vielzahl aufeinander angewiesener Menschen ausgeht. «Im Mittelpunkt des menschlichen Universums, so erschien es von nun an, steht jeder einzelne Mensch für sich als ein von allen anderen letzten Endes völlig unabhängiges Individuum.» Die Gesellschaft stellt sich von diesem Ausgangspunkt aus als ein Haufen total vereinzelter Menschen dar, «deren eigentliches Wesen in ihrem Inneren verschlossen ist und die daher allenfalls äußerlich und von der Oberfläche her miteinander kommunizieren». Daher komme der Begriff des Individuums, das außerhalbder Gesellschaft, und der Begriff der Gesellschaft, die außerhalb des Individuums existiere. 16 Das Bewußtsein der totalen Abkapselung des individuellen Ich im eigenen Inneren, verbunden mit der Idee, das Innere berge repräsentativ das gesamte All in sich, kann man letztlich eben nur durch den historischen Prozeß der narzißtischen Identifizierung mit Gott verstehen. Aus der drohenden kompletten Hilflosigkeit und Verlorenheit hatte sich das Ich dadurch gerettet, daß es sich durch einen unbewußten Gleichsetzungsprozeß illusionär die göttliche Vollkommenheit und Allmacht selbst aneignete. So wurde jeder gewissermaßen sein eigener Gott. Die monotheistische Glaubenstradition setzte sich in der Selbstvergottung des einzelnen Ich fort. Es stand ja keine Göttergemeinschaft zur Verfügung, die sich in einem entsprechenden Konzept kollektiver Beziehungen hätte abspiegeln können. Die monotheistische Vorstellung ließ sich nur als individuelles Größen-Selbstbild übernehmen. Der einzelne wurde zur in sich abgeschlossenen Monade. Seine individuelle Identifizierung mit Gott machte ihn zu einem Ich, das
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allen anderen Menschen und Dingen ohne inneren Bezug gegenüberstand, nicht als Glied einer auf Kommunikation untereinander angewiesenen Gemeinschaft. NORBERT ELIAS spricht hier von dem «homo clausus», von dem individuellen «Selbst im Gehäuse», als dem tragenden Konzept der seit der Renaissance entfalteten europäischen Denktradition. Und er verweist auf die Weiterwirkung dieser Grundvorstellung etwa in dem Begriff des Erkenntnissubjekts bei KANT, das nie ganz zu dem «Ding an sich» vorzudringen vermöge, und schließlich auch auf die individualistischen Züge der modernen Existenzphilosophie. So gewagt es erscheint, Perspektiven der modernen psychoanalytischen N arzißmusforschung mit diesen geistesgeschichtlichen Prozessen in Verbindung zu bringen, so regen doch gewichtige Hinweise dazu an, auf die sozialpsychologischen Hintergründe derartige Interpretationskategorien anzuwenden. Auf jeden Fall erscheint es notwendig, die irrationalen emotionalen Komponenten besser zu verstehen, die zu dem starren Egozentrismus geführt haben, der fortan das Selbstverständnis der Europäer bestimmt und unaufhaltsam zur Entwicklung einer Rivalitätsgesellschaft führt, die für die Lösung der kollidierenden Interessenkonflikte nur offene oder strukturell verschleierte Gewalt übrigläßt. Die infantile Idealisierung des einen einzigen göttlichen Wesens erscheint als die begreifliche Wurzel der großartigen überhöhung des individuellen Ich, die sich als eine Art von Besessenheit fixiert hat. In der mittelalterlichen Gemeinde war der einzelne doch nur Kind in einer Herde gewesen, primär ausgerichtet auf Gott als allmächtige Elterngestalt. Die Gemeinschaft miteinander war nicht zu einem eigentlich tragenden Konzept geworden. Auch die hierarchische Organisationsform der Kirche hatte letztlich zur Fixierung der Vereinzelung der Gemeindemitglieder beigetragen, wobei sich das Hierarchieprinzip ja durchgängig bis in die Familien hinein fortsetzte. Die Normierung des Unterordnungsverhältnisses der Frauen unter die Männer und der Kinder unter die Eltern hatte durch Tabuisierung jede Chance einer sich in Gruppen vollziehenden Emanzipierung unmög-
lich gemacht. Nicht die horizontale Eingliederung in eine Gruppe von Gleichgestellten, sondern allein die Einordnung in ein Unten-Oben-Verhältnis prägte das Selbstverständnis. Letztlich war jeder total ausgeliefert an das einzige mit Willensfreiheit ausgestattete Wesen, dessen Bereitschaft zur Gnade oder zur Bestrafung für die Erbsünde man nicht einmal vorhersehen, geschweige denn durch eigenes Tun beeinflussen konnte. Es entspricht den psychoanalytischen Regeln, daß die narzißtische Identifizierung genau das Entwicklungsniveau festhält, von dem sie ausgegangen ist. Das heißt: Je weiter im ursprünglichen Erleben des die Identifizierung vollziehenden Ich die eigene Kleinheit von der Größe des idealisierten Elternbildes entfernt war, um so größer muß sich nach Ablauf des Abwehrprozesses das Ich aufbauen. Denn es muß sich zwangsläufig zur Kopie der Autorität machen, in die es sich durch die Identifikation selbst verwandeln wollte. Es kann sich aus unbewußtem Zwang eben nur in der Dimension verwirklichen, die es zuvor im Blick von unten her wahrgenommen hatte. Das macht es plausibel, daß das Mittelalter nicht ein zu echtem Gemeinschaftssinn befähigtes Menschengeschlecht in die Zukunft ausschickte, sondern letztlich ein Gewimmel von insgeheim größenwahnsinnigen Egozentrikern, die in den folgenden Jahrhunderten darauf angewiesen waren, das zerstörerische Potential dieses Egozentrismus jeweils so zu kanalisieren bzw. notdürftig zu bändigen, daß wenigstens die totale kollektive Selbstzerstörung immer wieder aufgehalten wurde. Die zu diesem Zweck erfundenen und benutzten Konzepte sollen im weiteren näher betrachtet werden. Obwohl die Flucht aus der hilflosen Ohnmacht in die großartige Allmacht ihrem Wesen nach einen radikalen Umschlag und nicht einen allmählichen Entwicklungsprozeß bedeutet, haben sich die entsprechenden geistesgeschichtlichen Vorgänge doch nur schrittweise durchgesetzt. Der triumphierende Vorstoß des DESCARTES zur individuellen Selbstgewißheit als dem Maß aller Dinge zeichnete zwar den weiteren Weg vor, aber es dauerte noch lange, ehe dieser revolutionäre Schritt in der Breite nachvollzogen wurde. Und DESCARTES selbst wie 37
seine philosophischen Nachfolger bemühten sich, wie schon angedeutet, eifrig darum, die gedanklich vollendete göttliche Selbsterhöhung des Individuums zu kaschieren. Obwohl der Gedanke, daß man sich vom individuellen Selbstbewußtsein aus hinreichend in der Welt orientieren und sichern könne, Gott eigentlich überflüssig machte, versicherte DESCARTES Gott immer wieder in beschwichtigender Weise, daß man ihn auf Schritt und Tritt brauche. Denn eigentlich sei es ja Gott- so suchte er diesen und die Kirche zu versöhnen -, der die Selbstgewißheit des Ich begründe. Auch alle übrigen Ideen, deren Evidenz derjenigen des Selbstbewußtseins entsprächen, seien natürlich dem Menschen durch Gott eingeboren. Schließlich nahm DESCARTES in seiner Theorie Gott sogar in Anspruch als Helfer für jeden übergang zwischen materieller und ideeller Wirklichkeit beim Erkennen und Handeln. Wie sonst sollte es dem Menschen möglich sein, aus dem Geist in die raumzeitliche Dimension und umgekehrt zu gelangen? Auch für SPINOZA, der DESCARTES unmittelbar folgte, stand fest, daß sich in jeglicher echten Erkenntnis Gott selbst offenbare. Die intellektuelle Verselbständigung des Individuums beginnt also mit einer Verleugnung eben dieser Verselbständigung. Zwar verweigert das Individuum künftig Gott die absolute und unkontrollierte Verfügungs gewalt. Man will alles selbst kontrollieren, was in der psychischen Innenwelt und in der materiellen Außenwelt abläuft. Und zweifellos ist dadurch der erste Schritt getan, diese Abläufe vom eigenen Ich her beherrschen zu wollen. Man will Gott gewissermaßen die Naturgesetze aus der Hand nehmen, die vorher dessen Alleinbesitz waren. Aber gleichzeitig suggeriert man sich, daß man sich überhaupt nicht aus der göttlichen Bevormundung entferne, sondern nur die Wahrheit Gottes zur vollen Entfaltung bringen wolle. Die mathematisch-naturwissenschaftliche Welterkenntnis, zu der man aufbrach, erfolge einzig in Liebe zu Gott, lehrte SPINOZA. Und er pries sein geometrisch konstruiertes metaphysisches System als indirekte Abbildung der Wahrheit Gottes. Indem das individuelle Ich sich zur Eroberung der absoluten Souverä-
nität aufmachte, redete es sich noch ein, Gottes Willen mehr denn je gehorsam zu folgen. Aber auf die Dauer zeigte sich die Schwierigkeit, durch den fortschreitenden narzißtischen Identifizierungsprozeß immer mehr göttliche Macht zu beanspruchen und sich zugleich einzubilden, von Gott gehalten zu werden. Erfindungen und Entdeckungen in vielen Bereichen kündeten von dem heftigen Begehren, von dem Planeten Besitz zu ergreifen. Rapide wuchs das Selbstgefühl durch die Kunde von immer neuen überseeischen Entdeckungen. Die Erfindungen des Kompasses, des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst vermittelten ein völlig neues Bewußtsein von der Macht menschlicher Möglichkeiten. Das Fernrohr erschloß die Geheimnisse des Himmels. Die Erkenntnis der Welt sei nötig, so lehrte der britische Philosoph FRANCIS BACON, um den Menschen die Herrschaft über die Welt zu verschaffen. Wissen sei Macht, und es sei die einzige dauernde Macht. Die Natur müsse endlich dem menschlichen Geiste unterworfen werden. Ihren Gehorsam zu erzwingen, sei die Aufgabe der Wissenschaften. BACONS großes Werk «Erneuerung der Wissenschaften» trägt auch den Titel «De regno hominis», von der Herrschaft des Menschen. Allerdings pries auch BACON noch zugleich eifrig die Bedeutung der Religion. Aber was war das für eine Religion? Sie ließ dem egoistischen Nützlichkeitsdenken bereits weiten Spielraum. Gott wird zum Partner individuellen Erfolgs- und GlÜcksstrebens. Ein erhebliches Stück weit ging der gelernte Advokat BACON mit MACHIAVELLI einig in der betonten Zweckmäßigkeit eines begrenzt unmoralischen Handelns. Verschwunden ist hier bereits das Konzept der vollkommenen Welt. Die Welt ist ziemlich schlecht, und so kommt man nicht ohne krumme Wege aus, wenn man erfolgreich sein will. In seinem Essay «über das Glück» formulierte BACON sein egoistisches Prinzip überaus deutlich. Glück sei häufig das Resultat der Torheit anderer oder sogar des Todes anderer. Dabei zitierte er das griechische Sprichwort: «Aus keiner Schlange kann ein Drache werden, die nicht andere Schlangen auffrißt. »6 Auch in der praktischen Philosophie seines Landsmannes 39
THOMAS HOBBES trat dieses neue durch Egoismus gekennzeichnete Menschenbild hervor. Der Naturzustand, so lehrte HOBBEs, sei ein Kampf aller gegen alle. Diese These steckt in dem berühmten Satz im «Leviathan»: «Daraus ergibt sich klar, daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gege'n jeden.»3 8Die vertragliche Gründung des Staates diene lediglich zum Ausgleich der egoistischen Interessen der einzelnen. Ein ursprüngliches Gemeinschaftsbedürfnis der Menschen existiere nicht. Dieses sei lediglich sekundärer Art, gewissermaßen ein taktisches Arrangement, um die miteinander konkurrierenden selbstsüchtigen Tendenzen der Individuen miteinander auszugleichen. Der Staat wurde bei HOBBES zu einer nützlichen Erfindung, um den Egoismus aller hinreichend zu befriedigen und zugleich zu disziplinieren. Der Staat sei von der Wissenschaft her ähnlich zu begründen wie die Konstruktion einer Maschine. Entschieden trat HOBBES für individuelle Gedankenfreiheit in religiösen Fragen und gegen politische Machtansprüche der Kirchen ein. Zur Bändigung der Konkurrenz der individuellen Egoismen vertrat HOBBES ein Prinzip, das als sozialpsychologischer Hintergrund in allen autoritären wie totalitären Gesellschaftsformen wirksam werden konnte. In der absolutistischen Staatstheorie von HOBBES sollte die Staatsgewalt in einer Persönlichkeit und der Wille des Volkes in dem Einzelwillen des Herrschers vereinigt werden,38 Dies wurde zum theoretischen Fundament des monarchischen Absolutismus. Sozialpsychologisch geht es dabei darum, daß die Individuen einen Teil ihrer egoistischen Ambitionen an das absolutistische Oberhaupt abtreten, aber sich für diesen Verlust dadurch entschädigen, daß sie nach wie vor durch etwas, was die Psychoanalyse projektive Identifizierung nennt, mit dem Herrscher verbunden bleiben. Indem das Oberhaupt aber auch alle verbindlichen Normen setzt, übernimmt es für die Untertanen zugleich die Funktion eines veräußerlichten über-Ichs. Alle werden jedenfalls für eine gewisse Beschränkung im Ausleben ihres Narzißmus da-
durch belohnt, daß sie an der tatsächlich gottähnlichen Omnipotenz des absolutistischen Herrschers teilhaben. Aber diese Omnipotenz kann sich nur durch äußere Ausdehnung der Herrschaft manifestieren. Stets ist in diesem Modell die imperialistische Expansion vorprogrammiert. Die Schlange, die zum großen Drachen werden will, muß immer wieder neue Schlangen fressen. Die egoistische Omnipotenzbesessenheit als Triebkraft dieses Gesellschaftsmodells kann sich auf allen Stufen nur immer wieder selbst reproduzieren. So kann der Frieden innerhalb der HOBBEsschen Staatskonstruktion immer nur ein begrenzter sein. Niemals können die narzißtischen Größenerwartungen der einzelnen allein innerhalb des Systems durch bloße Umverteilung zugunsten des Führers aufgefangen werden. Dieser muß nach außen auf unbeschränkte Machterweiterung hinstreben, um sein Gefolge zu beschwichtigen. Die praktische Philosophie von HOBBEs, die sich ganz auf das Prinzip des Egoismus gründete, regte nicht nur seine Zeitgenossen auf, sondern erzielte noch bis weit in das 18. Jahrhundert hinein eine bedeutende Ausstrahlung. Die Aufsaugung der göttlichen Allmacht durch die egoistischen Größenideen des Individuums warf in der Tat immer größere Probleme für das soziale Zusammenleben auf. Wie war eine Verknüpfung des Ziels der allgemeinen Wohlfahrt mit dem neuen Selbstkonzept des individuellen Egoismus denkbar? SHAFTESBURY verwahrte sich gegen die pessimistische Ansicht von HOBBEs, daß es von Natur aus nur ein Rivalisieren aller gegen alle geben müsse. Er stellte die These auf, es gebe keinen natürlichen Widerspruch zwischen Eigenwillen und Sittlichkeit. Unter Rückgriff auf antike Vorstellungen verteidigte er die These, daß der Mensch, wenn er seine natürliche Anlage voll entfalte, automatisch das Gemeinwohl fördere. Denn nur in den niederen sozialen Schichten, die noch in ihrer Entwicklung rückständig seien, gebe es einen echten Widerstreit zwischen selbstsüchtigen Wünschen und Altruismus. Auf einer höheren Stufe der menschlichen Entwicklung komme es zu einem Einklang egoistischer und al truistischer Stre-
bungen. Denn auch der Altruismus gehöre zu den ursprünglichen Merkmalen des menschlichen Wesens. So sei der in seiner Natur voll endaltete auch der sittliche Mensch schlechthin. Das Individuum werde nicht dadurch moralisch, daß es seine eigenen ursprünglichen Bedürfnisse irgendwelchen allgemeinen Normen anpasse oder gar opfere, sondern dadurch, daß es die in ihm schlummernden Tendenzen gänzlich auslebe. Man brauche also nur so zu sein, wie man eigentlich sein wolle, um zur höchsten sittlichen Vervollkommnung zu gelangen. 97 ' 1°4 Aber nicht zufällig scheidet diese Philosophie höher und nieder entwickelte Menschen und läßt die virtuose Vereinigung individueller Wunschbefriedigung und sittlicher Vollkommenheit als Privileg einer exklusiven Gruppe erscheinen. Diese exklusive Gruppe wird durch den Typ des «Virtuoso» charakterisiert. Der «Virtuoso» erinnert an den uomo universale, den Universalmenschen der Renaissance. 97 Es ist der umfassend gebildete, wissenschaftliche, politische, ästhetische Mensch von edelstem moralischem Charakter. Fiktiv formuliert SHAFTESBURY das Ziel, daß alle dazu gelangen könnten, ihre natürlich angelegten Möglichkeiten in dieser Weise auszuschöpfen. In Wirklichkeit verewigt er hiermit ein spaltendes Elite-Ideal. Es ist das Selbstverständnis des optimistischen Aristokraten, Sproß einer führenden Familie des Landes, das diese Philosophie prägt. Der «Optimismus)) von SHAFTESBURY beruht im Grunde auf der Verleugnung der U nerreichbarkeit dieses Grandiositäts-Ideals für den durchschnittlichen Menschen. Und es ist bezeichnend, daß er in seiner Staatsphilosophie letztlich dem Gemeinsinn der Masse der Bürger wenig traut. Er ist ein Gegner der Volkssouveränität, weil das Volk zu unberechenbar sei und seine Freiheit mißbrauchen würde. Es sei Sache der Staatsmänner, das Volk in vernünftiger Weise zu überreden. - Hier wird die Inkonsequenz der optimistischen Moralphilosophie sichtbar, die sittliche Vollkommenheit mit der Natürlichkeit gleichsetzt. Warum muß die Freiheit des Volkes derart eingeschränkt werden, wenn alle natürlicherweise von einem ursprünglichen Gemeinschaftssinn beseelt wären? Immerhin war SHAFTESBURY einer der wenigen Denker jener
Zeit, die überhaupt den Versuch machten, HOBBES darin zu widersprechen, daß die Gesellschaft aus Individualisten bestehe, die von Natur aus alle nur miteinander rivalisieren wollten. Aber SHAFTESBURY blieb ein Außenseiter mit seiner Feststellung, daß der Mensch natürlicherweise ein Gemeinschaftswesen sei und sich auf seine ihm eingeborenen Gemeinschaftsgefühle ( für die Moral einzutreten. Und ähnlich ist es zweifellos den vielen ergangen, die sich ohne Bedenken mit der Massensterilisierung von «Minderwertigen» identifizierten oder sich sogar aktiv daran beteiligten. Alle Kampagnen gegen Ketzer, Hexen, Radikale, «Sozialparasiten» verstehen sich als Kreuzzüge gegen das Böse. Auch wer für verschärfte politische überwachung Andersdenkender, für härteren Strafvollzug und Wiedereinführung der Todesstrafe eintritt, ist stets bewußt von der Absicht durchdrungen, die Menschheit vor Elend und Verfall zu retten. Er sieht das moralische Versagen nur auf der Gegenseite bei denen, die durch «pseudo-humanitäre» Nachsicht der Kriminalität, der Dekadenz, der Verwilderung der Sitten und am Ende dem Terrorismus Tor und Tür zu öffnen scheinen. Das heißt: So wichtig es ist, das Unmoralische jener Perspektive festzuhalten, die um noch so wohlklingender «höherer» Ziele der «Zucht», der «rassischen Aufartung», der «Ordnung» willen dazu auffordert, Mitmenschen nicht mehr als unseresgleichen zu respektieren, sondern wie «Krebszellen» zu bekämpfen oder gar zu opfern, so wichtig ist es, die Diskussion auch noch auf einer anderen Ebene zu führen. Auf einer Ebene nämlich, in der eher als im Streit um Schuldzuteilung eine Auflockerung versteifter Abwehrhaltungen erreichbar erscheint. Damit ist diejenige Ebene gemeint, in der es um Angst und Mut, um Leiden und Mitleiden geht. Wer sich vor Leiden immer nur dadurch schützen zu können glaubt, daß er beständig nach äußeren unschädlich zu machenden Leidensverursachern fahndet, der handelt ja primär aus Angst, nicht ursprünglich aus Lust an der Hexenjäger-Rolle. Not, Hunger und Seuchen waren es, die man am Ausgang des 15. Jahrhunderts durch die Hexenjagd bannen wollte, als man Gott nicht mehr eine hinreichende Beschützerfunktion zutraute. Und zugleich war es die Angst vor dem Ertragen von Schuld, auf der man gewissermaßen sitzenblieb, als die Hoffnung schwand, man könne 145
sie Gott gegenüber abtragen oder durch ihn Vergebung erlangen. Im Prinzip die gleichen Ängste sind noch immer die Urheber der projektiven Erschaffung und Verfolgung von Dämonen. Und es ließe sich auch näher erläutern, daß diese allgemeine Reaktionstendenz in Deutschland zu Beginn der Nazizeit durch Vereinigung bestimmter einschlägiger Bedingungen besonders aktualisiert wurde: Da bestanden Arbeitslosigkeit, Hunger, politische Ohnmacht sowie moralische Entwertung (die «häßlichen Deutschen» mit dem Stempel der Kriegsschuld). Die Verarmung, Unterdrückung und moralische Demütigung kontrastierten so schroff mit den aus der Tradition verinnerlichten nationalistischen Ideen von Größe, Macht und missionarischem Welterlösungsauftrag, daß die Flucht in die Projektion nahe lag und nur einer entsprechenden Zündung bedurfte. HITLER hat exakt diese Lösung angeboten, nämlich den Ausbruch aus der Schwäche in den Entschluß zur tausendjährigen Weltherrschaft und die Abwälzung der eigenen Minderwertigkeitsideen und Schuld gefühle auf die zu bekämpfenden Repräsentanzen des Bösen, das «Weltjudentum», den «Weltbolschewismus» und die «Träger minderwertigen Erbgutes». Es ist letztlich das Nicht-ertragen-Können von Leiden, das immer wieder dazu zwingt, andere leiden zu' machen. In vergrößertem Maßstab wiederholt sich fortwährend, was FREUD als kleinkindliche archaische Reaktion beschrieben hat: Das Kind verwandelt seinen Schmerz, nachdem es sich an einem Gegenstand gestoßen hat, in Wut auf diesen Gegenstand, um auf diese Weise seine innere Stabilität wiederzugewinnen. Das Grundmuster dieser Reaktion bleibt erhalten, auch wenn die Projektion sich ausweitet und nicht mehr nur körperlichen Schmerz oder materielle Not, sondern obendrein oder gar vorrangig das Gefühl des Unwertes betrifft. Wenn es aber nicht mehr um die Kollision mit toten Gegenständen, sondern mit anderen Menschen und Gruppen geht, stiftet die projektive Abwälzung immer neues menschliches Unglück, indem fortlaufend darum gekämpft werden muß, wer wem gerade wieder das Elend zuschiebt, das niemand in die eigene Verantwortung zu nehmen wagt.
Aber dieser Sinn von «Wagen», der hier anklingt, ist dem allgemeinen Bewußtsein wenig geläufig. Von Mut und Wagen wird nahezu immer nur in unserer zivilisationsspezifischen Tat-Perspektive gesprochen. Als mutig gilt, wer äußere Gegner herausfordert, auf den Drachen losgeht oder mit überlegenen äußeren Naturkräften, mit Kälte, Sturm, Wellen, Felswänden kämpft. In Wirklichkeit ist es nie reiner Mut, wenn der äußere Kampf zum Zwang wird, um den Kämpfer innerlich stabil zu halten. Dieser Mut ist stets zugleich Flucht aus Verzweiflung, die nicht ausgestanden werden kann. Die gefürchtete Verzweiflung wiederum rührt aus einem. unerträglichen Mißverhältnis zwischen Ideal und realer Situation. Wenn die Deutschen seinerzeit nicht von ihrem maßlosen Ideal von Größe, Macht und moralischer überlegenheit besessen gewesen wären, hätten sie eine bessere Chance gehabt, sich partnerschaftlich in die Völkerfamilie zu integrieren. Aber es fehlte der Mut, dieses überhöhte Ideal zu revidieren. Es hätte gewagt werden müssen, sich selbst narzißtisch zu kränken und mit einem bescheideneren Selbstbild weiterzuleben. Immer wieder taucht also die Frage auf, wie die psychischen Kräfte gestärkt werden können, die das Ertragen eigener Schwäche, Kleinheit und Unvollkommenheit erleichtern. Denn der Hauptgrund, der den erläuterten Projektionsmechanismus permanent in Gang hält, ist jene Vision von Omnipotenz und narzißtischer Perfektion, die vorstehend zwar am Extremfall des Nazi-Revanchismus exemplarisch veranschaulicht wurde, die indessen eine generelle Hypothek unserer westlichen Zivilisation darstellt. Alle sind wir als Erben von jener historischen Flucht in die gottähnliche Größe betroffen, von der zuvor die Rede war; die Männer, die Jungen und Starken in der übernommenen Rolle, die Vision direkt zu verwirklichen, die Frauen, die Alten und Schwachen in der Rolle, jenen die Verwirklichung als Erfüllungsgehilfen zu sichern und indirekt daran zu partizipieren. Und so ist es eine gemeinsame Aufgabe, die notwendige Kapitulation nicht als Zerstörung, sondern als Chance zur Neuentwicklung einer sinnvolleren gemeinsamen Identität zu begreifen. Eine Umer147
ziehung zu einer neuen Art von Mut ist geboten. Das ist der Mut, auch zurückgehen zu können, sich als unvollkommen zu akzeptieren, sich mit der eigenen Schwäche auszusöhnen, anstatt sie als «inneren Schweinehund» zu bekämpfen. Die Aufgabe dieser Umerziehung wird später noch ausführlicher zu erörtern sein. Es ist aber noch einer besonderen Spielart der leidensabwehrenden Projektion zu gedenken, die zwar im Prinzip mit den vorstehenden Phänomenen identisch ist, sich aber darin unterscheidet, daß sie nichts mehr von triebhaftem Agieren unmittelbar erkennen läßt. Das affektive Moment des Fanatischen und Aggressiven scheint auf den ersten Blick ganz zu fehlen. Der Prozeß spielt sich nicht mehr zwischen Inquisitoren und Hexen, zwischen «Ordnungshütern» und «Sozialparasiten», zwischen «höheren Menschen» und «Untermenschen» ab. Es erscheinen überhaupt keine menschlichen Individuen, Gruppen oder Ideologien mehr als Repräsentanzen des Bösen. Vielmehr kommt es zu einer Verschiebung der Projektion auf ein Feindsubstitut, das allerdings gar nicht mehr in der Kraßheit der Feindbedeutung direkt erkennbar wird. Das Böse verwandelt sich in irgendwelche materiellen Umweltfaktoren. Diese scheinen sich der Sozialpsychologie zu entziehen und nur noch in die Kompetenz der Naturwissenschaft zu fallen. Aus den Hexen werden Bakterien, Viren, als gefährlich angesehene Nahrungs- oder Genußmittel oder sonstige belebte oder unbelebte äußere Noxen. Der Verschiebungsmechanismus erinnert an eine Eigenart bei der zwangsneurotischen Symptombildung, bei welcher die Auseinandersetzung ja auch häufig auf die kleinsten und unscheinbarsten Gegner bezogen wird, auf Schmutz, Bazillen oder dergleichen. Die Naturwissenschaft bestätigt, daß bestimmte Mikroorganismen Krankheiten erregen, daß künstlich gedüngte Gemüse Schadstoffe enthalten können, daß einseitige Ernährung unzweckmäßig ist und bestimmte Genußmittel medizinisch von Nachteil sind. Aber alle diese oder ähnliche Faktoren können zum Anlaß einer einseitigen und übertriebenen Bekämpfungs-
strategie werden. Bazillen, Viren, Umweltgifte werden zum Weltfeind Nummer eins, um den sich alles Denken dreht. Da handelt es sich nicht mehr um jenes wichtige und überaus begrüßenswerte U mwel tbewuß tsein im Sinne der vernünftigen Sorge, daß Luft, Wasser, Nahrungsmittel nicht weiterhin bedenkenlos verunreinigt werden dürfen. Sondern Schmutz, Bazillen, künstliche Düngestoffe, chemische Nahrungszusätze oder andere Umweltgifte werden einzeln oder alle miteinander zum Thema von massivsten Ver/olgungsvorstellungen. Dieses übel zu tilgen, werde uns nicht nur vor vorzeitigem Sterben bewahren, sondern das Leben überhaupt erst wieder rein und anständig machen. Deutlich wahrzunehmen ist wiederum die moralistische Komponente bei vielen Hygiene-Fanatikern, Vegetariern, Makrobiotikern und ähnlichen Gruppen dieser Kategorie. Es gibt eine Vegetarierideologie, die Fleischessen als Vorform von Kannibalismus verunglimpft und als eine Hauptursache von Roheit und Gewalt überhaupt verdächtigt. Auch für viele sektiererische Makrobiotiker steht die Verbindung von reiner Ernährung und psychisch geistiger"Reinigung außer Frage. Und seit einigen Jahren müssen sich Raucher - unter Nichtrauchern - oft wie minder zivilisierte Parasiten fühlen, deren aktive Luftverpestung an Asozialität grenzt. Seit dem 19. Jahrhundert ist eine laufende Intensivierung der Suche nach schädlichen Agenzien zu erkennen, die von außen her Leben, Gesundheit und vielfach auch Sittlichkeit bedrohen und deren Austilgung oder zumindest Eindämmung zu einer vorrangigen Zivilisationsaufgabe bestimmt wurde. Die Entdeckung der großen Mikrobiologen PASTEUR und KOCH leiteten eine neue Phase der Medizin ein. "Ihre Erfolge gegen die Infektionskrankheiten weckten die übertriebene Hoffnung, die immer noch weit verbreitet ist, endlich die zentrale Krankheitsursache schlechthin gefunden zu haben. Es gab kaum eine Krankheit, bei der man nicht nach Erregern fahndete. Und viele glauben auch noch heute, eines Tages die meisten ursächlich noch ungeklärten Erkrankungen auf Viren oder andere Mikroorganismen zurückführen zu können. In der Tat vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht neue Viren ent149
deckt, neue Impfmöglichkeiten entwickelt werden. Andererseits ist in vielen Fällen die jahrzehntelange Suche nach äußeren Erregern ergebnislos geblieben. Und im Kampf gegen die Keime hat man, was in der öffentlichkeit vielfach übersehen wird, ungeahnte neue Gefahren hervorgerufen und auch Schäden angerichtet. Viele Erreger werden «resistent», also immun gegen die entwickelten Substanzen, die ihrer Bekämpfung dienen. Bestimmte Viren trotzen den herkömmlichen Sterilisationsmethoden. So kam es, daß Ärzte und Schwestern durch Injektionen viele Tausende künstlich mit einem Leberentzündungsvirus infiziert haben. So wurden die Kliniken, Hauptarenen der Infektionsbekämpfung, gleichzeitig zu einer der wichtigsten Ansteckungsquellen überhaupt. Der Hygieniker DASCHNER hat kürzlich auf der 5. Düsseldorfer Hygienetagung von jährlich ca. 500000 Patienten in der Bundesrepublik gesprochen, «die durch eine krankenhauserworbene Infektion zusätzlich gefährdet werden».13 Und er nannte die Zahl von etwa 2 5 000 jährlichen Todesfällen durch eine in Krankenhäusern erzeugte Ansteckung. Dabei spielt eben auch der Umstand eine gravierende Rolle, daß viele Ansteckungskrankheiten nicht mehr genügend wirksam bekämpft werden können, weil inzwischen unbeabsichtigt Erregerstämme gezüchtet worden sind, denen die antibiotischen Gegenmittel nichts mehr anhaben. In großem Maße geschieht die Züchtung wiederstandsfähiger Keime dadurch, daß Unmengen von Antibiotika an Schlachtvieh in aller Welt verfüttert werden, bei dem man auf diese Weise Infektionen vorbeugen will. Durch den Genuß dieses Fleisches dringen laufend kleine Mengen antibiotischer Substanzen in den menschlichen Organismus ein. An diese können sich die Bakterien in Form von Resistenzbildung gewöhnen, so daß im Ernstfalle eine Therapie mit den entsprechenden antibiotischen Präparaten nichts mehr nützt. Daß man mit den Insektenvernichtungs-Substanzen, die auf die Felder versprüht werden, zahlreiche pflanzliche Nahrungsmittel chemisch verunreinigt, ist inzwischen weithin als beunruhigende Tatsache erkannt worden. Der Feldzug gegen die Malariamücke mit dem DDT mußte gestoppt werden, als man
erkannte, daß dieses hochwirksame Gift auch für den Menschen schädlich ist. Seitdem breitet sich die Malaria wieder aus. Die gigantische Fahndung nach und Verfolgung von Umweltschädlingen erweist sich also in mannigfacher Hinsicht als vergeblich oder sogar gefährlich. Vergeblich ist die Erregersuche bei zahlreichen Krankheiten. So wird zum Beispiel beim Karzinom seit Jahrzehnten eine völlig unbewiesene Erregertheorie unter Aufwendung von Unsummen ohne jeden echten Fortschritt in immer neuen Forschungsprojekten verfolgt. Bei anderen Krankheiten sind zwar Bakterien oder Viren mit im Spiel, aber nichts spricht dafür, diesen Erregern die Hauptschuld an der Verbreitung dieser Krankheiten zuzuweisen. An der menschlichen Körperoberfläche und auf manchen Schleimhäuten wimmelt es normalerweise von Keimen, die von sich aus keinerlei Schaden stiften und erst dann gefährlich werden, wenn die innere Abwehrkraft des Organismus verlorengeht, also etwa durch Erschöpfung oder durch unbewältigte psychosoziale Konflikte. Man hätte also viel mehr auf die Erhaltung oder Stärkung der Abwehrkräfte zu achten, anstatt die Bekämpfung dieser Krankheiten ausschließlich auf den «Außenfeind» abzustellen. Geradezu verhängnisvoll erscheint indessen die Bemühung um eine präventive Vernichtung aller Mensch, Tier und Pflanze «bedrohenden» pathogenen Insekten und Mikroorganismen. Damit werden vielfach neue Schäden erzeugt, und der Kampf verkehrt sich unmittelbar in das übel, das er eliminieren will. Man wird die Dämonen, die man rief, nicht mehr los. Sofern man sich erst einmal, wie unbewußt auch immer, dazu entschlossen hat, sich aus der Verantwortung für Leiden durch die Aufstellung einer Verfolgungs theorie herauszuziehen, bleibt man Gefangener dieses Konzeptes. Hinter dem einen Feind, den man anfangs gesehen hat, tauchen stets neue auf. Erst dachte man, mit der Verbrennung einiger weniger Hexen auszukommen, dann wurden es immer mehr. Die Verfolger blieben immer zugleich die Verfolgten, wie sehr man auch die Fahndung intensivierte und etwa die Hexenverbrennungen vervielfachte. Dementsprechend findet man heute immer neue Ip
schädliche Viren, Pilze, Carcinogene oder sonstige Gifte. Kaum hat man über einzelne Bakterien oder Virus arten durch Impfung, chemische oder antibiotische Therapie die Oberhand gewonnen, tauchen neue, vorläufig unangreifbare Erreger auf. Und indem man Menschen, Tiere und Pflanzen immer systematischer von sämtlichen äußeren Schädlingen befreien will, findet man nicht nur, sondern erzeugt man auch unversehens selbst neue übel. Man vernichtet das eine Gift mit Hilfe eines anderen, das sich am Ende gefährlicher als jenes erweist. Man bringt natürliche Lebenszusammenhänge durcheinander, weil man sich voreilig wieder einmal nach irgendeiner naturwissenschaftlichen Entdeckung die überragende Weisheit zutraute, künstlich besser lenken zu können, was die Natur falsch zu machen scheint. Und dann entdeckt man zum tausendsten Male, daß man wieder nur etwas kaputtgemacht hat, was man zuvor in seinem natürlichen Sinn nur nicht begriffen hatte. Nichts anderes als der von uns tief verinnerlichte Machtwille und unsere Flucht vor dem Leiden sind die eigentliche undurchschaute Triebkraft, die uns zwingt, den sisyphusartigen Kampf fortzusetzen, der in der hier erörterten Variante davon ausgeht, Tod und Krankheit irgendwann endgültig durch Vernichtung des letzten schädlichen Außenfeindes besiegen zu können. Wir verlangen von den Ärzten und Pathologen, daß sie jedes einzelne Sterben durch eine konkrete organische Ursache erklären. Selbst bei degenerativen Erkrankungen, bei denen unmittelbare äußere Schädlichkeiten nicht im Spiel zu sein scheinen, ist stets die indirekte Mitwirkung von Umweltfeinden zu konstruieren. Die Arbeitsumstände, die Ernährungsweise, Alkohol und Tabak sind nur die häufigsten konkreten äußeren Einflüsse, die als Schuldige zur Auswahl stehen. Und je weniger man noch von vielen Krankheiten versteht, um so eher kann man sie verdächtigen, irgendwie von außen gemacht zu sein. Unerträglich wäre die Auskunft des Pathologen: Hier ist ein Mensch einfach nur so gestorben, weil er eben sterben mußte. Gerade weil alles mit rechten Dingen zugegangen ist, ist er gestorben. Er ist allen vermeidbaren Schädigungen ausgewichen. Er hat sich allen möglichen Impfungen zur rechten Zeit
unterzogen. Er hat hygienisch gelebt. Jetzt hat er sein Leben ordnungsgemäß beschlossen, wie es sich gehört.Man könnte dem Pathologen nun vorhalten, daß niemals alle Organe gleichzeitig verbraucht sind. Bei jedem Verstorbenen kann man Organe finden, die für sich selbst noch weiter lebensfähig gewesen wären und nur deshalb «mitgestorben» sind, weil es an einer anderen Stelle des Organismus einen verhängnisvollen Ausfall gegeben hat. Schon könnte man also wieder dieses eigentlich versagende Organ zum Ausgangspunkt einer Schuldigensuche machen. Aber wer sagt denn, daß bei einem natürlichen Tod alle Organfunktionen gleichzeitig erlöschen müßten? Auch Hundertjährige sterben häufig an Infektionen, vorrangig an Lungenentzündungen. Und das nährt die Illusion, daß sie so wenig wie sonst irgend jemand hätten sterben müssen. Dabei ist es nur natürlich, wenn sich bei Erschöpfung der Abwehrkräfte Krankheitserreger an irgendeinem Ort ausbreiten, der gerade der schwächste ist, und damit das Ende einleiten. - Im allgemeinen Bewußtsein gibt es diesen «normalen» Tod jedoch nur als Ausnahmefall, das durchschnittliche Sterben bleibt eine Niederlage gegen Feinde, gegen welche die fortschreitende Medizin immer mehr an Boden zu gewinnen verpflichtet ist. Der Arzt befindet sich in der fatalen Position, daß ihm ein Hauptteil der unserer Kultur noch verbliebenen magischen Omnipotenzerwartungen zugeteilt wird. Täglich findet er sich mit einer überschätzung seiner Fähigkeiten belastet, an der er die verzweifelte Abwehr der verbreiteten Ohnmachts- und Sterbeängste ablesen kann. Er ist quasi von Berufs wegen zur Drachentötung verpflichtet - und kann mit seiner Rolle paradoxerweise dann noch am besten auskommen, wenn er sich zum Schauspieler des ihm aufgenötigten unerfüllbaren Ideals macht und obendrein die Tatsache seines Schauspielerns verdrängt. Nicht zu verkennen ist der erhebliche Unterschied zwischen der Mehrheit, die den äußeren Gesundheitsfeinden mit N aturwissenschaft und Technik offensiv den Garaus machen will, und der Minderheit derjenigen, die den äußeren Schädlingen durch Rückzug in ein «naturgemäßes» Leben entgehen zu
können hoffen. Aber oft stützt sich auch diese Defensive in fanatischer Weise auf den Kontrast zwischen einem Ideal von Reinheit und Natürlichkeit gegenüber einer universalen Dämonisierung jeglicher konventionellen N ahrungs- und Genußmittel. Sektierer dieser Art verbleiben im Bannkreis der gleichen Projektion, indem sie oft beständig auf äußere Schädlichkeiten starren müssen, von deren Vermeidung sie allein ihre Rettung erhoffen. Die Minderheitsgruppe der Sektierer zieht sich überwiegend von der Wissenschaft zurück und tendiert eher zu alten magischen Vorstellungen und zu östlicher Mystik. Religiöse Motive spielen hier anscheinend eine wachsende Rolle. Dagegen bedient sich die Projektion der angepaßten Mehrheit vornehmlich verflachter, technisierter Leidvorstellungen, wobei das Heil nicht weit von der Intaktheit der «Maschine Organismus» entfernt liegt. Das Unheil, das mehr als alles andere gefürchtet wird, schrumpft zum bloßen Korrelat ungünstiger Meßwerte bei Blut-, Urin-, Gewichts- und Blutdruckkontrollen. Die Maschine Organismus fit zu halten, erscheint als die vorrangige Aufgabe des Medizinsystems und der individuellen Hygiene. Dabei wird die Bedeutungsverengung des Begriffes Hygiene geradezu zu einem semantischen Beleg für das Vordringen des hier beschriebenen Projektionsmechanismus. Ursprünglich bedeutet das griechische Wort Hygiene Gesundheitspflege schlechthin. Aber inzwischen deckt der Begriff als Fachbezeichnung nur noch die Lehre von den äußeren Schädlichkeiten und deren Bekämpfung. Krankenhaushygiene meint zum Beispiel nicht etwa auch die Sorge für eine menschliche Atmosphäre, sondern allein die Sterilhaltung von Klimaanlagen, die Desinfektion von Flächen und Instrumenten, sorgfältiges Händewaschen usw. Bei dieser Variante der leidensabwehrenden Projektion wird also die Moral zur Hygiene und die Hygiene zur Moral. Alles wird gut werden, wenn Bakterien, Viren, Schmutz, Gifte und Ungeziefer besiegt sein werden.
8. Kapitel
Leidensverleugnung durch hysterisches überspielen. Party-Kultur. Kompensationsfunktion von Therapie und Selbsthilfe-Zirkeln
Das Konzept der projektiven «Leidensvernichtung» lautet: Leiden ist grundsätzlich etwas von außen Zugefügtes. Es wird von Hexen, Asozialen, Extremisten, minderwertigen Rassen, Parasiten oder Giften gemacht. Mit der Ausschaltung der äußeren Verursacher wird das Leiden verschwinden. Bei der «Leidensflucht» spielt die Projektion keine oder nur eine geringere Rolle. Hier geht es im einzelnen um folgende Phänomene: a) Verleugnung durch überspielen, b) Verleugnung durch Abspaltung, c) Beschwichtigung durch Ersatzbefriedigung, d) Verschleierung durch Sozialtechnik Wer in unserer Zivilisation als sozial angepaßt gelten will, übt sich darin, Leiden zu verstecken. Es gehört sich, sich als okay darzustellen. Weit verbreitet, am ausgeprägtesten in den USA, ist die Technik, die Zeichen des Verfalls, des Siechtums, selbst des Todes, wegzuschminken. Die Sitte oder Unsitte, Bestattungsinstitute Verstorbene durch Make-up wie schlummernde blühende Jugendliche herrichten zu lassen, ist die extremste Variante dieser Bemühung. Man verlangt selbst von den Toten noch, daß sie den Hinterbliebenen die Machbarkeit der ewigen Fitness beweisen. Zugrunde liegt die Phantasie, das Leiden in Schach haI ten zu können, wenn man es sich und den anderen nicht mehr zeigt. So etwas kann nur funktionieren in einer hysterisierten Gesellschaft, in der vorwiegend das gilt, was äußerlich zu sehen ist.
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Man einigt sich gemeinsam darauf, welches Spiel zu spielen ist. Man spielt mit und reagiert bei anderen auch nur darauf, was diese spielen. Die Vorschrift lautet, Munterkeit und Zuversicht zu mimen. Man soll zum Ausdruck bringen, daß man in Ordnung ist, und andere darin bestätigen, daß sie in Ordnung seien. Man erscheint nur mit lächelndem Gesicht und sieht um sich herum auch lediglich strahlende Mitspieler. Die Menschen richten sich so her, wie die Wirtschaft ihre Waren ausstattet: gefällig, attraktiv, zum Gebrauch ermunternd. Die übereinstimmung mit den Prinzipien der Warenwerbung ist dabei alles andere als ein Zufall. Das rücksichtslose System der Wettbewerbswirtschaft fragt nicht mehr danach, wie es in den Menschen innen aussieht. Wichtig ist nur, ob sie brauchbar sind, was man mit ihnen machen kann. Gut verwertbar ist aber nur, wer fit ist. Also muß man immerfort fit sein oder sich zumindest so geben, als wenn man es wäre. Es verliert an Bedeutung, wie man wirklich ist. Entscheidend ist, wie man ankommt, wie man sich verkauft, was einem «abgenommen» wird. Wer erfolgreich sein will, darf nicht leiden. Oder er muß das Leiden so verstecken, daß es seinem Image nicht schadet. Denn wer kaputt ist, mit dem kann man nichts mehr anfangen. Der ist out, erledigt. - Somit erweist sich das hysterische überspielen von Leiden als eine bittere Notwendigkeit. Es ist kein willkürlich erfundener «Stil», sondern eine erzwungene Anpassung zum überleben. Erst sekundär kommt es zu einer Automatisierung der Verhaltensmuster. Verinnerlichungsprozesse bewirken, daß man am Ende so sein will, wie man sein soll. Man geht freiwillig in seinem Image auf und suggeriert sich, daß das, was dahinter ist, nicht wichtig sei. Die Umwandlung des Menschen zu einem Wesen, das sich selbst von einer «Menschenware» nicht mehr unterscheiden kann, hat niemand so prägnant wie MARX beschrieben. Man stützt sich gegenseitig in dem Bemühen, Leiden zu verleugnen, indem man bestimmte vorgeschriebene soziale Hilfen leistet, welche die Empfänger zum Demonstrieren von Wohlbefinden nötigen. Eheberater und Kommunikationstrainer helfen neuerdings, den Austausch der richtigen «Signale»
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einzuüben, woraus automatisch Zufriedenheit und Harmonie in der Partnerschaft folgen sollen. Wenn man mit dem anderen vorschriftsmäßig umgeht, ist dieser moralisch verpflichtet, Wohlgemutheit auszustrahlen. Das ist also alles einfach machbar. In der Zweierbeziehung soll der Ehemann die neuen Kleider der Frau und das Essen loben. Sie soll ihm aufmerksam zuhören, wenn er von seinen beruflichen Sorgen spricht, und sich geduldig verhalten, wenn er müde und mürrisch nach Hause kommt. Das Spiel wird etwas komplizierter, wenn sie ebenfalls berufstätig ist. Aber die Regeln lassen sich genauso klar bestimmen und eintrainieren. - «Das ist alles aber nichts anderes», stellt E. FROMM zu Recht fest, «als das gut geölte Verhältnis zwischen zwei Menschen, die sich ihr Leben lang fremd bleiben, die nie ein zentrales Verhältnis erreichen, sondern sich gegenseitig mit Höflichkeit behandeln und alles tun, damit der andere sich wohl fühlt. In diesem Begriff von Liebe und Ehe liegt die Betonung darauf, Schutz vor einem sonst unerträglichen Gefühl von Einsamkeit zu finden. »33 - Vorsichtiger sollte man vielleicht sagen, daß man sich auf diese Weise nicht gegenseitig das Sich-Wohlfühlen selbst, sondern lediglich die fassadäre Demonstration von Sich-Wohlfühlen erleichtert. Ein typisches Beispiel für die systematische überspielung des Leidens bietet die amerikanische Party-Kultur. Man wirbelt von Party zu Party, und keiner erwartet, daß das «how do you do?» je ernsthaft negativ beantwortet wird. Das freundliche, wohlgemute Aneinander-Anteilnehmen wird zum puren, aber sehr wichtigen Theater. Denn man muß sich fortlaufend wechselseitig oberflächlich narzißtisch bestätigen, um sich gemeinsam über das Elend hinwegzuspielen, das sonst aufbrechen könnte. So stiftet es bereits Beunruhigung, wenn einem einzelnen dieser Cocktailparty-Ringelreihen zu dumm wird und er ausschert. Das wird übelgenommen, weil es Angst macht. Wer sich aus dem Party-Rummel zurückzieht und sich mehr in sich selbst vertieft, hat Mühe, nicht in schlechten Ruf zu geraten. Die Flucht in den geselligen Betrieb ist das sozial 157
Erwünschte. Die introvertierte Beschäftigung mit den eigenen Problemen wird als die eigentliche Flucht umgedeutet und mißbilligt. Denn sie verunsichert die anderen, welche ihr Verleugnungssystem attackiert sehen. Die Verweigerung des Mitspielens wird nur dann verziehen, wenn man hört, daß der Betreffende zum Psychiater geht. Dieser wird ihn, so erwartet man, schon wieder zum angepaßten Mitspielen herrichten. Wer Geld hat, für den ist es selbstverständliche Pflicht, sich im Falle von Unbehagen, Kontaktunlust oder gar ernsterer Mißstimmung einen Therapeuten zu engagieren, der ihn wieder zum munteren Mitmacher aufbaut. Dabei erhalten Psychiatrie und Psychotherapie eine· bestimmte Funktion zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Verleugnungssystems. In vielen Fällen geht es für sie nur darum, die Psyche wieder gefällig und brauchbar zu machen. Freilich geschieht in den Therapien meistens noch etwas anderes. Die Menschen leben hier das aus, was draußen nicht gefragt ist. Der Therapeut wird zum Partner für eine Form der Kommunikation, in der man sein Inneres öffnen kann. Hier entfaltet sich dann oft ein Stück echtes psychisches Leben, befreit von den Spielregeln des immerzu fit und Attraktiv-sein-Müssens. Was als Krankenbehandlung etikettiert wird, mag in Wirklichkeit eine Kommunikation sein, in der sich mehr von eigentlicher psychischer Gesundheit verwirklicht als in jenem äußeren Betrieb, wo die normgemäße Fitness vielfach eher als Symptom einer Verdrängungsstrategie einzuordnen wäre. Auch das Leiden, das in den Therapien durchbricht, ist häufig genug «gesundes Leiden», auch wenn es als solches nicht verstanden wird oder nicht verstanden werden darf. Das ist der innere Widerspruch der Fassadenkultur, daß alles, was nicht im Werbewettbewerb gefragt, attraktiv, verwertbar ist, in die Therapie abgedrängt wird. Und der entscheidende Konflikt in den Therapien ist der, daß manche sich in der Rolle als Therapiepatienten lebendiger, sinnvoller, erfüllter fühlen als draußen in der Rolle des funktionierenden Mitmachers. So entwickelt sich ja auch nicht selten jenes Splitting, daß Menschen, die es bezahlen können, die Psychotherapie zu einer Dauereinrichtung ma-
chen. Was die eigentliche Realität sein sollte, wird für sie zu ihrer uneigentlichen Daseinsform. Als wirklicher Mensch empfinden sie sich in der Patientenposition gegenüber einem Therapeuten, der das an ihnen ernst nimmt, was ihnen auch selbst an sich das Wichtigste scheint. Es ist richtig, daß die Gefühle des Patienten zum Therapeuten in der Therapie vielfältig gefärbt sind durch die Beziehungsmuster und Beziehungskonflikte aus der Kindheit. Aber dieser Rückgriff auf die Kindheit erklärt sich nicht nur daraus, was damals unerledigt geblieben ist. Sondern auch daraus, daß mit der Integration in die Erwachsenengesellschaft die emotionale Welt unterdrückt und sprachlos gemacht wurde. Vieles von späteren Gefühlsbedürfnissen konnte nicht mehr gestaltet und artikuliert werden. So sind eine sekundäre emotionale Desorientierung und ein emotionaler Analphabetismus entstanden. Und der regressive Rückgriff auf die kindliche Ebene versteht sich somit auch als notwendige Wiederbelebung von früheren Strukturen und ausdrucksgrammatischen Hilfen, um mit dem durch die Verdrängung entstandenen sprachlosen Chaos fertig zu werden. Wenn die Patienten sich psychisch gewissermaßen aus ihrer Kindheit heraus zu regenerieren versuchen, rechtfertigt das jedenfalls nicht die populäre Meinung, die Psychotherapie sei ein Sammelplatz von kindlich unreifen Menschen. Die Integration wichtiger abgespaltener Bereiche der Innerlichkeit kann überhaupt nur durch Wiederaufgreifen von entwicklungspsychologisch frühen Bildern und Verhaltensvorlagen geschehen, die nach der Kindheit verschüttet worden sind. Inzwischen wächst bekanntlich die Zahl der Kritiker, die den laufend anschwellenden Psychotherapiebedarf als zunehmende Bequemlichkeitshaltung mißbilligen und verlangen, die Menschen sollten wieder selbständiger werden und weniger Betreuung und Versorgung verlangen. Diese Kritiker, zu deren Wortführer in Deutschland sich SCHELSKY 83 gemacht hat, sehen das Problem zu oberflächlich. Sie nehmen ihrerseits unkritisch für jene Norm der leidensverdrängenden Fitness Partei und verkennen vorurteilshaft jegliche Nichtanpassung an diese
Norm als Bequemlichkeitshaltung.:~ Das zu einer Massenbewegung angewachsene Verlangen nach psychischen Hilfen ist in der Tat alarmierend. Und es ist sinnvoll, davor zu warnen, dieses Problem nur durch eine immense Vermehrung von Therapieangeboten auffangen zu wollen. Aber es ist unkorrekt und unberechtigt, die Motive der Hilfesuchenden zu diffamieren. Wenn Psychiatrie und Psychotherapie zum letzten gesellschaftlichen Zufluchtsort werden, wo Menschen mit einer reicheren Innerlichkeit noch die Möglichkeit finden, ihre tieferen psychischen Bedürfnisse zu artikulieren, dann ist es höchste Zeit, die Richtung der Kritik umzukehren: Die Gesellschaft muß dafür sorgen, daß sich in ihr selbst das seelische Leben verwirklichen kann, das mehr und mehr in die Bereiche von Beratung und Therapie und allenfalls von therapeutisch orientierten Selbsthilfe-Gruppen abgedrängt worden ist. In Wirklichkeit ist es die verleugnende Bequemlichkeitshaltung der Fitness-Gesellschaft, die einer Umerziehung bedürfte, um die eigene Pathologie zu erkennen. Hier aber taucht das alte Dilemma wieder auf: Gerade die durch lange Verinnerlichung und massive selbst geschaffene äußere Zwänge fixierte Entschlossenheit, die eigene Pathologie und das eigene Leiden nicht erkennen zu wollen, nötigt immer wieder zur Diffamierung derjenigen, die nicht mitspielen. Die Mikrogesellschaft der Parties und Clubs ist dasjenige Feld, in dem sich die übergreifenden soziodynamischen Zusammenhänge so verdichten, daß sie dem einzelnen fühlbar werden. Viele emigrierte Europäer berichteten nach ihrer Ansiedlung in den USA, sie hätten dort eine unendliche Fülle von netten Menschen, aber kaum je einen Freund gefunden. Sie seien nur selten dazu gekommen, sich innerlich ganz aufzuschließen, und auch die anderen hätten sich ihnen gegenüber nie wirklich geöffnet. Diese sich längst auch hierzulande ausbreitende Gewohnheit, durch vielfältige Oberflächenkontakte die Tatsache innerer Isoliertheit zu überdecken, gehört zu den "C Vgl. hierzu vom Ved.: «Freiheit oder Sozialismus?» In: Worte machen keine Politik. Hg. I. Fetscher u. H. E. Richter, 197673
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geläufigsten modernen Techniken der Leidensverleugnung im Freizeitbereich. Die Menschen beweisen einander durchhektische Geselligkeit, wie wenig isoliert sie sind - und sie sind es eben deshalb. Eine ähnliche Funktion haben viele der modernen gruppendynamischen Spiele und Trainings, insbesondere auch die Encounter Groups. Hier durchbricht man scheinbar die Oberflächlichkeit, indem man in diesen Arrangements alles an Emotionen herbeiorganisiert, was immer davon in den Menschen schlummert. Es hagelt nur so von Angst-, Traurigkeits- und Liebeseruptionen. Die Betreffenden sind ganz hingerissen davon, wie leidenschaftlich es dabei hergeht. Aber es funktioniert nur bei diesen Inszenierungen. Der Trick provoziert das N atürliche. Aber das Natürliche wird zum Gemachten. Die Spontaneität wird trainiert - und verliert sich dadurch. Die existentielle Isolation bleibt, wenn eine tiefere Kommunikation nicht in dauerhaften Beziehungen entwickelt, sondern nur punktuell in «Sitzungen» unter den Bedingungen einer entsprechend deklarierten Gruppennorm ausgelöst und anschließend wieder abgestoppt wird. Gewiß ist es prinzipiell von großem Nutzen, die Arrangements und die Regeln besser kennenzulernen, unter denen verschüttete Emotionalität wiederbelebt und in sozialen Kontakten gestaltet werden kann. Entscheidend aber ist, diese Regeln und Arrangements nicht nur als «Techniken» auszunützen, um gewissermaßen außerhalb der Gesellschaft jenes Quantum von emotionalem überdruck zu kanalisieren, das den Betrieb stört. Auch die neue Massenbewegung der «Selbsthilfegruppen» 57 entgeht nicht dem Dilemma, daß hier - jedenfalls überwiegend - in abgespaltener Privatheit unterdrückte Anteile des psychischen Lebens herausgelassen werden, die im Grunde als kritische Energien gesellschaftlich wirksam werden sollten. Dieses Bedenken trifft freilich nicht diejenigen Selbsthilfe-Initiativen, die über eine therapeutische Eigenhilfe hinaus ausdrücklich anstreben, ihre in den Gruppen gewonnenen Erfahrungen in die Gesellschaft hineinzutragen. Es ist für das allgemeine Ber61
wußtsein von erheblicher Bedeutung, wenn sich die Träger irgendeines üblicherweise gesellschaftlich verdrängten oder diskriminierten Merkmals - alte Menschen, Krebskranke, Behinderte, Obdachlose, «fahrendes Volk)) USW. - zusammentun und auf ihre Probleme aufmerksam machen. Wichtig ist, daß zumal diejenigen offensiv für ihre Interessen eintreten, die dazu erzogen worden sind, sich für ihr Elend und ihre «Minderwertigkeih zu schämen und sich damit demütig im Hintergrund zu verkriechen. Indem sie für die öffentliche Beachtung und praktische Lösung ihrer Probleme kämpfen, üben sie zugleich einen wichtigen therapeutischen Stimulus auf viele andere aus, die durch die ihnen aufgenötigte Anteilnahme ihre eigenen verdrängten Schwächen akzeptieren lernen könnten. ~~
':- Als Vorbild einer aktiv in die Gesellschaft hineinwirkenden Selbsthilfe-Bewegung können die Gray Panthers angesehen werden. Das ist eine Selbsthilfe-Organisation alter Menschen in den USA, die sowohl stimulierende G uppenarbeit für die Betroffenen leistet als auch mit wirkungsvollen Initiativen Einfluß auf sozialpolitische Planungen nimmt. Darüber hinaus verbreiten die «Gray Panthers» die Erkenntnis, daß die Vernachlässigung der Alten kein Versehen, sondern die notwendige Folge falscher gesellschaftlicher Leitbilder und der diesen entsprechenden politischen Strategien sei. 98 •
9. Kapitel
Leidensvermeidung durch Abspaltung
Die wesentliche Absicht bei der Verschleierung von Leiden besteht darin, sich wechselseitig in der Verleugnung der eigenen Anfälligkeit zu unterstützen. Daraus folgt, daß vornehmlich solches Elend verdeckt werden muß, das allen oder zumindest vielen droht. Je ferner und exotischer eine Not erscheint, um so eher kann man ihr ins Auge schauen. - Am meisten Gefahr droht der Verleugnung verständlicherweise durch die Konfrontation mit dem Sterben. Die Tendenz vieler jüngerer Leute, alte, gebrechliche Familienmitglieder auszusondern und in Heime zu schicken, rührt nicht nur, wie häufig gesagt wird, von unbewältigten Konflikten zwischen den Generation,en her. Oft spielt die Angst der Jüngeren hinein, durch das unmittelbare Mitverfolgen des Kräfteschwundes der Alten den eigenen drohenden Verfall akzeptieren zu müssen. Man erträgt es nicht, daran erinnert zu werden, was einem selber mit Sicherheit bevorsteht. Da schämen sich jüngere Eltern ihrer Angst und benützen den Vorwand, ihre kleinen Kinder müßten vor dem peinlichen Anblick der Altershilfsbedürftigkeit bewahrt werden. Dagegen haben Kinder in der Regel überhaupt keine Schwierigkeiten damit, auch mit kränkelnden alten Leuten umzugehen. Sie sind vielfach auch als einzige imstande, mit diesen über deren Gebrechen und das Sterben frei zu sprechen. Ihre emotionale Offenheit macht kleinen Kindern die Verdrängung des Todes meist weniger möglich noch nötig. Dem entspricht eine Erfahrung der Kinderärzte, daß Kinder auch mit dem Problem einer eigenen unheilbaren Krankheit vielfach besser umgehen können als Erwachsene.
Unverhülltes fremdes Leiden mit anzusehen, ist für die Masse der um Verleugnung Bemühten deshalb so gefährlich, weil jedermann mit der Disposition zu einem unmittelbaren Mitfühlen ausgestattet ist. Jeder wird spontan emotional mitergriffen, wenn ihm der Ausdruck der Not begegnet. Der Zwang zum Mitleiden, zur Sympathie ist unentrinnbar infolge einer psychophysiologischen Verankerung in der menschlichen Natur. Dieses Phänomen wird nachfolgend noch in anderem Zusammenhang zu erörtern sein. Aber das M iteinander- Fühlen kann sich unter gewissen Umständen in ein GegeneinanderFühlen verwandeln. Unabhängig von oder im Zusammenhang mit einer sexuellen Perversion können sich Beziehungsmuster entwickeln, in denen der eine am Leiden des anderen mit Genugtuung Anteil nimmt. Das geschieht bei der Schadenfreude wie bei den vielen bewußt oder unbewußt ablaufenden Varianten sado-masochistischer Beziehungen. Ein Element von Sado-Masochismus enthält auch das traditionelle Rollenverhältnis der Geschlechter, das ja zuvor ausführlich behandelt wurde. Unbewußt hat der Mann die Frau genötigt, das Leiden auf sich zu nehmen, damit er es bei sich unterdrücken konnte. Während unter Führung der Frauen eine Gegenbewegung entstanden ist, spielt dieses generelle Muster nach wie vor eine große Rolle weit über das Geschlechterverhältnis hinaus. Grundsätzlich kann man sagen: Je gewaltsamer und fanatischer Menschen ihr gefürchtetes Elend durch Omnipotenzdrang überkompensieren, um so dringender benötigen sie den Kontrast von Hilflosigkeit und Impotenz, um sich durch die Genugtuung über die Polarität stabilisieren zu können. So paradox es klingt, ist auch diese Strategie indirekt auf eine Unsichtbarmachungvon Leiden aus. Man braucht das fremde Elend, um das eigene ausblenden zu können. Aber die Voraussetzung für das Funktionieren dieser speziellen Strategie ist eine Komponente von narzißtischer Größenwahnhaltung. Diese bildet die Barriere, die den Sadisten schützt, das dem Masochisten aufoktroyierte Leiden mit diesem mitleidend teilen zu müssen. Eine Spur von solchen narzißtisch-sadistischen Bedürfnis164
sen findet man bei manchen Angehörigen helfender Berufe. Die Betreffenden haben einen Beruf erwählt, bei dem sie das Leiden, das sie in sich selbst unterdrücken, fortwährend um sich oder besser gesagt: unter sich haben. Die augenfällige Krankheit und Hilflosigkeit der anderen ist das Fundament, das ihnen Halt gibt. Sie müssen ihre hohe Selbsteinschätzung fortwährend durch die Organisation entsprechender Beziehungs- und Gruppenstrukturen bestätigen. So wie der sensitiv Mißtrauische immerfort potentielle Verfolger sucht, um seine unbewußt fundierte mißtrauische Abwehrhaltung zu stabilisieren, muß der Träger narzißtischer Größenideen fortgesetzt armselige Kleine um sich versammeln, die ihm recht geben, sich so zu fühlen, wie er es braucht. Seine narzißtische Grundhaltung macht ihn dagegen gefeit, sich mit dem Leiden der anderen zu infizieren. Es liegt auf der Hand, daß diese Disposition in helfenden Berufen insofern von Nachteil ist, als sie die Betreffenden daran hindert, sich im Team und auch gegenüber ihren Klienten mit einer ebenbürtigen partnerschaftlichen Rolle zu begnügen. Das sichtbare Leiden der anderen spendet ihnen immer wieder den Aufwind, um sich so grandios fühlen zu können, wie sie es zu benötigen meinen, um der totalen Vernichtung zu entgehen. Daß Menschen mit einer solchen Struktur bis hin zur Selbstauflösung gefährdet werden können, wenn ihnen plötzlich der wichtigste Partner verlorengeht, durch dessen Leiden sie sich bislang stabil gehalten hatten, wird an der später folgenden Krankengeschichte zu demonstrieren sem.
10.
Kapitel
Beschwichtigung durch Ersatzbefriedigung. Schelers Theorie von der Entschädigung durch Surrogate. Vom Sexualtabu zum Sexkult
Der Philosoph MAX SCHELER hat in seiner Ethik von einem «Gesetz der Tendenz nach Surrogaten bei negativer Bestimmtheit der emotionalen I eh-Bestimmtheit» gesprochen. 82 Damit ist, einfacher ausgedrückt, gemeint, daß Menschen, die in der Tiefe unglücklich sind, sich regelmäßig dadurch zu entschädigen versuchen, daß sie sich so viele Befriedigungen wie möglich in dem oberflächlichen Bereich verschaffen, in dem man allein Befriedigung willkürlich herstellen kann. Wo überall man es selbst in der Hand hat, sich durch Machen irgendeinen Genuß zu arrangieren, nützt man diese Gelegenheiten zwanghaft aus, um einen leidlichen Ausgleich dafür zu finden, daß man im Kern seiner Person verzweifelt ist. Man flüchtet aus diesem personalen Leiden, dem man sich wehrlos ausgeliefert fühlt, indem man sich hektisch eine äußere Betäubung arrangiert. Tatsächlich ist Betäubung das Wesentliche des Vorganges. Diese Methode, unerträgliches Leiden durch oberflächlich machbare Befriedigungen kompensatorisch abzuwehren, ist zweifellos eine der zu höchster Virtuosität gediehenen Beschwichtigungsstrategien unserer Zivilisation. Sie ist durch das kapitalistische Wirtschaftssystem zu einer festen Norm institutionalisiert, die sich ewig reproduziert. Die Wirtschaft erhält durch die Werbung permanent ein Mangelbewußtsein aufrecht, das sie durch ihre auf dem Markt angebotenen Produkte zu sättigen verspricht. Für die Leidensflucht der Menschen gibt es eine derartige Unmenge an Surrogatbefriedigungen durch die raffiniertesten Konsumvarianten, daß wir dadurch inneres 166
Leiden - in der Sprache SCHELERS: negative Bestimmtheit der tieferen emotionalen Ich-Bestimmtheit - jederzeit überdecken können. «Jugendliche Frische», «Freiheit», «unbeschwerte Lebensfreude», «Selbstsicherheit», «seelische Harmonie», «ungeahnte Spannkraft» werden durch «Traumreisen», «Traumautos», Seife, Sprays, Getränke, Zigaretten, Dragees, Versicherungen am Ende gar durch bestimmte Unterwäschemarken geliefert. Die Zuflucht zum käuflichen Wohlbefinden ist jedenfalls perfekt organisiert. Dabei spielen, wie man sieht, auch wieder semantische Tricks eine erhebliche Rolle. Der gesamte Wortbestand, der mit Leiden und Aufhebung von Leiden verknüpft ist, wird uns laufend von der Werbung im Zusammenhang mit Waren vorgeführt. Die dadurch angerichtete Verwirrung ist nicht so harmlos, wie es auf den ersten Blick aussieht. Die Werbung zielt darauf ab, uns den wesentlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Schichten des emotionalen Erlebens vergessen zu lassen. Wir sollen glauben, daß auch ein tief innerliches Gefühl von Unfreiheit und Verzweiflung nichts anderes sei als oberflächliche Beklommenheit oder Mißmutigkeit, die man durch irgendeinen Konsum beheben kann. Wir sollen uns einbilden, die oberflächlichen Surrogatbefriedigungen, die uns davon ablenken sollen, wenn wir uns im Kern sinnlos und unglücklich fühlen, höben dieses zentrale Leiden auf und überdeckten es nicht nur. Und der inflationäre Mißbrauch bestimmter Worte erscheint durchaus geeignet, diese Verwechslung zu fördern. Denn es bedarf der Sprache, um Emotionales auszudrücken und zwischen verschiedenen Ebenen des Befindens zu differenzieren. SCHELER unterscheidet zwischen sinnlichen, seelischen und geistigen Gefühlen. Die sinnlichen Gefühle sind die oberflächlichsten, und sie sind am leichtesten willkürlich zu beeinflussen. Die geistigen Gefühle sind die tiefsten, unmittelbar mit dem Ich verbundenen. Sie sind nicht mehr direkt manipulierbar. So geht SCHELER von der «Tatsache» aus, «daß Gefühle zu haben und nicht zu haben, um so mehr dem Wollen und Nichtwollen unterworfen ist (zugleich auch der praktischen 167
Herstellbarkeit), je mehr sie sich der Stufe des sinnlichen Gefühlszustandes annähern. Schon die Lebensgefühle sind erheblich weniger praktisch-willkürlich veränderlich, und noch weniger sind es die seelischen und in gar keiner Weise die geistigen Person-Gefühle.» «Völlig jeglicher Willensherrschaft entzogen sind diejenigen Gefühle, die aus der Tiefe unserer Person selbst spontan herausquellen, und die eben damit die am wenigsten Gefühle sind: das Seligsein, das Verzweifeltsein der Person selbst. »82 Mit den geistigen Gefühlen meint SCHELER nicht etwa an intellektuelle Inhalte geknüpfte Gemütszustände, sondern Gefühle, die «gleichsam vom Kern der Person her das Ganze unserer Existenz und unserer <Welt>>> erfüllen. «Es gehört ... zum Wesen dieser Gefühle, daß sie entweder gar nicht erlebt werden oder vom Ganzen unseres Seins Besitz ergreifen.» In diesen Gefühlen sind «wir selbst selber». SCHELER beschreibt die Gefühlswelt in dieser tiefsten Ebene in der Polarisierung von Seligkeit und Verzweiflung. Es sind «Sein und Selbstwert der Person selbst, welche das von Seligkeit und Verzweiflung bilden». Letztlich seien Seligkeit und Verzweiflung nicht mehr Gefühle im Sinne passagerer Emotionen. Das meint er, wenn er sagt: Wir «können ... nur selig oder verzweifelt <sein>, und nicht Seligkeit und Verzweiflung im strengen Sinne fühlen . .. »82 Solche subtilen Differenzierungen sind wichtig, um das Verständnis dafür offenzuhalten, daß es hinter der Oberfläche derjenigen emotionalen Regungen, die durch Machen, etwa durch Konsum, manipuliert werden können, eine persönliche Befindlichkeit gibt, die sich diesen Befriedigungstechniken entzieht. Und es läßt sich erkennen, daß die Sprache, wenn man sensibel genug mit ihr umgeht, sehr wohl geeignet ist, diese Unterschiede sorgfältig zu bezeichnen. Es wäre hilfreich, die Begriffe vor den modischen Bedeutungsausweitungen und Sinnverschiebungen zu bewahren, die immer mehr um sich greifen. Aber dieser Appell kann so lange nicht viel ausrichten, als - was anzunehmen ist - die sprachlichen Verunklarungen einer bestimmten weitverbreiteten Motivation folgen, die von der Wirtschaftswerbung nur ausgenutzt wird. 168
Vieles spricht dafür, daß unsere Gesellschaft in hohem Maße genau von dem Mechanismus betroffen ist, den SCHELER mit seinem Gesetz von der Surrogatbildung beschrieben hat. Das heißt: Wir sind überwiegend in einem so hohen Maße tief innerlich verzweifelt, daß wir darauf angewiesen sind, uns in oberflächliche Surrogatbefriedigungen zu flüchten. Es macht uns dann gar nichts aus, wenn uns die Ausdrucksmöglichkeiten für das tiefe Gefühl von Sinnlosigkeit und Unseligkeit verlorengehen, das wir ja krampfhaft durch die Befriedigungen überdecken wollen, die als die Güter eines sogenannten «höheren Lebensstandards» käuflich sind. Man will nicht mehr wissen, wie es dahinter aussieht, wenn es dahinter fürchterlich ist. Also leistet uns jene Wirtschaftswerbung sogar einen erwünschten Dienst, wenn sie Leiden schlechthin gleichsetzt mit dem Nicht-Haben von Waren, wenn sie den Begriff Freiheit in der Verfügung über ein Eigenheim und Luxusgüter aufgehen läßt. Und wenn sie automatisches Wohlbefinden durch maschinelle Lebenserleichterung oder durch Potenzsubstitute wie hohe PS-Zahlen garantiert. Was uns die Wirtschaft suggeriert, entspricht nur unserem eigenen Angewiesen-Sein auf beschwichtigende periphere Surrogatbefriedigungen. Da wir unsere Sehnsucht nach innerer Erfüllung nicht sättigen können, bedienen wir uns nur zu willig der massenhaften Konsumangebote, die vorzugsweise in der oralen Triebebene liegen. «Das Glück des Menschen besteht heute darin», schreibt FROMM, «sich zu vergnügen. Vergnügen liegt in der Befriedigung des Konsumierens und Einverleibens : von Waren, Bildern, Essen, Trinken, Zigaretten, Menschen, Zeitschriften, Büchern und Filmen. Alles wird konsumiert, wird geschluckt. Die Weh ist nur für unseren Hunger da, ein riesiger Apfel, eine riesige Flasche, eine riesige Brust ... »33 In gewisser Weise bedeutet die Surrogatbildungstheorie von SCHELER eine Umkehrung des ursprünglichen Verdrängungskonzeptes der Psychoanalyse. Das Bürgertum der viktorianischen Epoche bot FREUD die Verdrängung der Sexualität als Zentrahhema psychischer Entwicklungsstörungen und Krankheiten dar. Im öffentlichen Bewußtsein erschien die Be-
freiung des Sexualtriebes als das revolutionäre Rezept der Psychoanalyse zur Heilung des Menschen schlechthin. Es spricht für einen Anstieg latenten Leidens in den tiefsten emotionalen Schichten, daß wir neuerdings eher auf den umgekehrten Zusammenhang stoßen, nämlich auf einen ausufernden Sex- und Porno kult zur Verdrängung einer unerträglichen Verzweiflung. Aus dem soziokulturellen Sexualtabu als Krankheitsursache ist neuerdings als gesellschaftliches Krankheitssymptom ersten Ranges der Sexkult entstanden. Aus dem Problem der pathogenen Triebunterdrückung ist das Problem des pathologischen triebhaften Ausagierens geworden, das deutlich auf den von SCHELER beschriebenen Mechanismus der Surrogatbildung verweist. Die industriell ausgebeutete Sexualhektik ist somit einer der Gradmesser, an denen sich ablesen läßt, welches Maß an untergründigem Leiden nach kompensatorischer Beschwichtigung durch «machbare» Surrogatbefriedigung verlangt. Die Frauenproteste gegen den männlichen Sex- und Pornokult machen dieses Problem genau sichtbar. Die Chance der Männer wäre, diese Proteste als Hilfe zu verstehen, die eigene Krankheit zu durchschauen, deren symptomatischer Ausdruck dieser Kult tatsächlich ist. Denn nur krampfhafte Verleugnung der inneren Verfassung ist es, wenn sich männliche Eitelkeit einreden möchte, es gehe hier vorrangig um das Problem der Erniedrigung der Frau. Die primäre Erniedrigung betrifft jene Männer, die wegen ihrer inneren Kaputtheit zu - keiner tieferen Kommunikation mehr fähig sind und die Frau nur noch als Instrument zur Befriedigung der Gefühle und Wünsche der oberflächlichsten emotionalen Schicht sehen und gebrauchen können. Die- sich gegen die Entwürdigung wehrenden Frauen sind zwar in der Rolle der Ohnmächtigen, aber sie sind eigentlich die Gesünderen und die innerlich Stärkeren, die nicht die resignative Einengung auf das bloße oberflächliche Z.usammenspiel im Triebfunktionieren mitmachen wollen. Allerdings ist an die früheren Ausführungen (Kapitel 6) zu erinnern, die dafür sprechen, daß sich zumindest gewisse Tendenzen zu einer Neustrukturierung des Geschlechterverhältnisses 17°
und speziell auch zu einer kritischen Umorientierungder Männer regen. SCHELERS Theorie von der Surrogatbildung erweist sich jedenfalls als ein hilfreicher Ansatz, die Brüchigkeit des modernen Hedonismus::' zu durchschauen. Sie erleichtert die argumentative Widerlegung jenes uns unablässig eingehämmerten Konzeptes, daß Wohlbefinden der Inbegriff aller arrangierbaren Orgasmen und Triebsättigungen schlechthin und schließlich technischer Macht sei. An sich böte die fortschreitende Automatisierung durch technischen Fortschritt eine Entlastung, die dazu genützt werden könnte, sich mehr jenen tieferen emotionalen Bezirken zuzuwenden, von denen SCHELER sagt, daß wir dort «wir selbst selber sind». Wir könnten, miteinander kommunizierend, uns wechselseitig helfen, uns aus der Tiefe, aus unserem eigentlichen Wesen, unserem PersonSein heraus zu regenerieren. Aber weit verbreitet ist die Unfähigkeit zur Muße, zur Besinnung, zur Vertiefung. Die «negative Ich-Bestimmtheit» der tieferen Schichten stimuliert die fortwährende Flucht in die Äußerlichkeit. Indessen gibt es, wie gesagt, Anzeichen dafür, daß sich die Erkenntnis des Fluchtcharakters und der Sinnlosigkeit dieser hektischen Veräußerlichung allmählich zu verstärken scheint.
:~ Nach der Lehre des Hedonismus ist Lust das höchste sittliche Ziel. Es wird vorausgesetzt, daß der Mensch nur nach möglichst starker Lust strebt. Als Begründer der «Lustlehre» gilt ARISTIPP, ein Schüler des SOKRATES.
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I I.
Kapitel
Verschleierung des Leidens durch Sozialtechnik. Versachlichung als Leidensabwehr in der Sozialbürokratie, in der Medizin und in der Psychologie. Die Strategie der semantischen Tarnung
Jede Notsituation hat ein materielles Substrat, das man messen, zählen und verrechnen kann. Dieser Anteil der Not kann in Fragebögen, Lochkarten, Diagnosemaschinen und Computer eingehen und schließlich seinen Niederschlag in Zahlen, Kurven und ausgedruckten verbalen Formeln finden, die sich wiederum nur auf die Not als ein Datenbündel beziehen. Je intensiver man sich mit dem materiellen Vordergrund des Leidens befaßt, um so eher kann man ausblenden, daß dahinter überhaupt noch etwas anderes ist. So kommt es zum Beispiel, daß in Sozialämtern soziales Elend fast ausschließlich noch als Sachproblem verwaltet, aber immer weniger als menschliche Sorge aufgenommen und betreut wird. Die Versorgung und Unterstützung, die den «Versorgungsempfängern» und den «Unterstützungsempfängern» verabreicht wird, ist nahezu gleichbedeutend mit geldlichen bzw. materiellen Zuwendungen. Versorgungsleistungmeintim üblichen Sprachgebrauch nicht mehr etwas, was Menschen für andere Menschen oder an anderen Menschen sorgend tun, also keine menschliche Leistung, sondern nur noch eine vom Computer bestimmte Zahlung. Man kann sich bereits ein Stadium vorstellen, in dem die Sozialbürokratie überhaupt nicht mehr unmittelbar mit der Angst, dem Leiden und den Hoffnungen von Menschen in Kontakt kommt, sondern alles, was an Informationen einzuholen und an Maßnahmen zu verabreichen ist, vollautomatisch ohne jede persönliche Kommunikation regeln kann. Hier geht die Verdrängung des Leidens nicht von den Hilfe-
suchenden, sondern von den Sozialbürokraten aus, die ihrerseits zunehmend den Eigengesetzlichkeiten der technischen Erledigungsmuster unterliegen. Aber viele Klienten suchen auf einem Sozialamt nicht nur ein Angebot, um eine finanzielle Krise, eine körperliche Gebrechlichkeit, eine persönliche Isolation wegorganisieren oder irgendwie ökonomisch-technisch ausgleichen zu lassen. Sondern sie wünschen sich auch, daß man ihnen zuhört, ihnen Verständnis bekundet. Und es ist ihnen sehr recht, wenn man ihnen nicht nur etwas gibt, was ihnen zusteht, sondern sie auch zu aktiver Selbsthilfe ermutigt. Indessen wollen sie sich auf den Äm tern nicht nur als anonyme Datenbündel, sondern als Menschen darstellen, deren Selbstachtung es beansprucht, daß sich ihnen die Partner auf der Behörde ebenfalls als Menschen zeigen. Ohne persönliche Zuwendung wird soziale Unterstützung zur bloßen Sozialtechnik. Am meisten profitieren die Hilfsbedürftigen von solchen sozialtherapeutisch engagierten Sozialarbeitern, die sich dem Gesamt ihrer sozialen und psychischen Schwierigkeiten in einer ganzheitlichen Weise widmen und sich auf gründliche Gespräche einlassen. Aber obwohl dies die bei weitem wirksamste und vor allem die einzig menschliche Form der Kooperation ist, fällt sie mehr und mehr den bürokratisch-technischen Bewältigungsstrategien zum Opfer. Der engagierte, sich auf menschliche Nähe einlassende Sozialarbeiter hat es unter dem Druck der sich verändernden institutionellen Rituale immer schwerer, seinen Arbeitsstil durchzuhalten. Eine parallele Entwicklung kann man im Krankenhaus verfolgen. Ausstattung und Betrieb der Kliniken erinnern kaum mehr daran, daß hier menschliche Ängste und menschliche Schmerzen in brennpunktartiger Konzentration zu versorgen sind. Das Klinikleben wird durch Prozesse bestimmt, die vorrangig dafür sorgen, daß die Patienten für die Verarbeitung und Auswertung durch eine Fülle von Geräten zubereitet und diesen fließbandartig überstellt werden. Richtig integriert sind die Kranken vielfach erst, wenn sie sich nach Tagen oder Wochen gleichsam in eine Ansammlung von abstrakten chemischen, elektrophysiologischen und nuklearmedizinischen Zahlen173
werten verwandelt haben. Es ist die Ausnahme, so zeigen medizinsoziologische Untersuchungen, daß ein Klinikinsasse pro Tag fünf Minuten Zeit bekommt, um mit Arzt und Schwestern zu sprechen. Aber wozu soll auch noch gesprochen werden, wenn Autoanalyzer viel genauer herausbringen, wo, was, wie genau vorliegt, woher es kommt und was zu tun ist? Darüber soll sich der Kranke auch selbst gar nicht mehr lange den Kopf zerbrechen, und er lernt eine neue Generation von Ärzten kennen, die gleichfalls schon mehr und mehr vor der teilweise überlegenen Intelligenz der Maschinen kapituliert und diesen das Kopfzerbrechen überläßt. Natürlich ist den Menschen in den Krankenhausbetten auch irgendwie zumute. Sie grübeln, was aus ihnen, ihrer Arbeit, ihren Familien wird. Sie leiden an ungelösten Konflikten, die vielfach daran schuld sind, daß ihre Organfunktionen durcheinandergekommen sind. Sie sehnen sich nach Ermutigung, um ihren Willen zum Gesundwerden und zur eigenständigen Lösung ihrer Pro bleme zu stärken. Aber zunächst geht es ihnen einfach darum, daß sie überhaupt in der Armseligkeit ihres Krankseins menschliche Nähe und Teilnahme spüren können. Sie möchten merken, daß sie hier auch eine Person sind, für die man sich interessiert und die man achtet. Bei aller Müheaufwendung, die ihrem Organismus zuteil wird, möchten sie sich nicht dessen schämen müssen, daß sie obendrein noch mit einem verwirrten, besorgten, neugierigen Ich behaftet sind, das die Krankheit innerlich zu verarbeiten hat. Es ist für sie kränkend, nur in einer möglichst handlichen und reibungslosen Weise mitfunktionieren zu sollen. Aber in der Regel wird ihnen die Einsicht nicht erspart, daß im Klinikbetrieb nur ihre «Maschine Organismus» wichtig ist. Und daß dieser «Maschine Organismus» immer mehr und immer kompliziertere und teurere Apparate zugewendet werden, die überall hineinleuchten, Säfte prüfen und elektrische Aktionsströme messen, soll als die vordringlich notwendige Form der Fürsorge begriffen werden. Denn sie allein gilt als wissenschaftlich begründet und erforderlich. Das psychische Drum und Dran reduziert sich scheinbar zu einer wissenschaftlich überflüssigen Privatsache, zu einem Betäti174
gungsfeld für Seelsorger, Angehörige und - im Extremfall Psychotherapeuten. 72 Daher ist es auch verständlich, daß Psychotherapeuten vielfach nicht deshalb zur konsiliarischen Hilfe in eine Klinik geholt werden, weil man bei einem Kranken seelische Ursachen für sein Kranksein und sein Krankbleiben annimmt, sondern weil irgendein Patient dadurch zu einem Ärgernis geworden ist, daß er immer noch über Beschwerden klagt, obwohl alle apparativ erhobenen Befunde ihm eigentlich vorschreiben, sich als beschwerdefrei zu präsentieren. Das heißt also, das Seelische wird nicht eigentlich zur bevorzugten Fürsorge angeboten, sondern der Psychotherapeut soll diesen Faktor quasi wegschaffen. Es soll den Kranken disziplinierend dazu bringen, daß dessen Psyche sich nicht länger störend in den Organbetrieb einmischt, den man für sich einwandfrei repariert zu haben scheint. In der Sichtweise der reinen Organmedizin ist das Psychische, das sich bei psychosomatischem Kranksein vordrängt, eher etwas Schuldhaftes, etwas primär Unvernünftiges. So gilt das im Grunde widersinnige Prinzip : Wenn man Menschen gesund machen wolle, dürfe man sich nicht durch die Tatsache ihres Leidens davon abhalten lassen, sich ganz auf das Körpergeschehen zu konzentrieren. Die Zuwendung zum Leiden störe nur das wissenschaftliche Tun. Für dieses seien lediglich die gegenständlichen Befunde, das heißt die von den Instrumenten ermittelten objektiven Zahlenwerte wichtig. Diese allein liefern im Sinne von DESCARTES diejenigen klaren und deutlichen Erkenntnisse, die zur Wahrheitführen. Und da jedes Jahr immer neue Maschinen erfunden werden, welche die Zahl der aus dem Körper zu extrahierenden Meßdaten laufend erhöhen, wird das Gesichtsfeld ohnehin immer vollständiger von denjenigen Abstraktionen ausgefüllt, mit denen es die wissenschaftliche Medizin angeblich allein zu tun haben sollte. Die eigentliche Bedeutung der Psychoanalyse besteht, wie früher ausgeführt, darin, dem ursprünglich sprachlosen Protest der unterdrückten Emotionalität zur Artikulation verholfen zu 175
haben. Sie hat dort eine Wissenschaft begründet, wo es eigentlich - nach dem naturwissenschaftlichen Prinzip - gar keine Wissenschaft geben dürfte. Und sie beweist täglich die Unsinnigkeit eines einseitigen Denkens, welches die «Maschine Organismus» von psychischen Einflüssen getrennt sehen will, die sich laufend in ihr auswirken und sogar auch den Verlauf von Krebskrankheiten wie die Entstehung des Herzinfarktes beeinflussen. Aber es konnte nicht ausbleiben, daß sich neben der Psychoanalyse, die um die Rehabilitation des Emotionalen in der Wissenschaft kämpft, eine ganz andere Psychologie und Psychotherapie entwickelte, die das Psychische nur mit den gleichen mathematischen und technischen Modellvorstellungen zu erfassen sucht, mit denen man sich der materiellen Welt bemächtigen kann. Diese Psychologie kümmert sich nicht mehr um die höchstpersönliche Erlebensweise, in der das Ich sich nicht von seinem Gegenstand trennen läßt. Und viele tausend Studenten, die das Psychologiestudium gewählt hatten, weil sie sich für ihr Inneres und das Innere anderer Menschen interessierten, erfuhren zu ihrer Verwunderung, daß Psychologie angeblich mit diesem Inneren nichts zu tun habe. Diese sich als eigentlich wissenschaftlich verstehende Psychologie identifiziert das Psychische mit dem, was sich daran zählen und messen läßt. Es handelt sich im Wesentlichen um die aus der bereits kurz beschriebe'nen Philosophie des Behaviorismus abgeleitete Lernpsychologie. Man fragt nicht mehr, welche Gefühle ein Verhalten verursachen und hält dies für einen großen Fortschritt. Man registriert nur das Verhalten selbst, seine Entwicklung und seine Beeinflussung durch die Umwelt. Neurosen und psychosomatische Krankheiten sind identisch mit ihren äußerlich faßbaren Symptomen. Es gibt keine «innere» Verursachung. Diese Störungen sind einfach falsches Verhalten, das durch Umlernen geändert werden muß. Nach inneren Konflikten wird nicht gefragt. Die Frage danach, wann und wie Verhalten falsch gelernt worden ist, kann durchaus zu praktisch wirksamen Programmen führen, nachträglich «gesundes» Verhalten zu erlernen.
Darauf fußt die Verhaltenstherapie. Die Kommunikationstheorie, die zwischenmenschliche Beziehungen nach dem Modell von Sender-Empfänger-Systemen beschreibt, hat sich insofern anregend auf die Psychiatrie ausgewirkt, als sie gewisse formale Kommunikationsdefekte in den Familien psychisch Kranker besser zu erfassen erlaubt. Daraus lassen sich neue therapeutische Ansatzpunkte gewinnen. Aber eine gewisse Kategorie von Verhaltens- und Kommunikationstherapeuten neigt dazu, die Isolierung äußerer Verhaltens daten nicht nur für eine begrenzte therapeutische AufgabensteIlungvorzunehmen, sondern diese Perspektive zu generalisieren. Sie versagen sich eine mitfühlende Anteilnahme an ihren Klienten oder Patienten und erstreben die versachlichende Haltung von Laborwissenschaftlern. Ihr Mitbetroffensein verdrängen sie, weil es sich wissenschaftlich nicht gehört. Natürlich paßt diese Haltung genau zu der technischen Vergegenständlichung der menschlichen Probleme, wie sie zuvor als typisch für das Klima in vielen Institutionen der sozialen und medizinischen Versorgung beschrieben wurde. Und es ist ebenso leicht verständlich, daß nach allen Erfahrungen Psychoanalytiker und Verhaltenstherapeuten nur schwer zusammenarbeiten können. Nicht die Frage, wer die wirksamere Therapie macht, pflegt sie zu entzweien. Eher ist es der Grundkonflikt, daß Psychoanalytiker hinter dem äußeren Verhalten die motivierende Innenwelt suchen, welche die Verhaltenstherapeuten gerade auszublenden trachten. Psychoanalytiker bemühen sich, sich in das Leiden ihrer Patienten einzufühlen und es zu verstehen. Für konsequente Behavioristen ist Leiden nur ein hinführendes Indiz im Vorfeld der eigentlich wichtigen Untersuchung der äußeren Verhaltenszusammenhänge. Ohnehin ist Leiden für sie lediglich identisch mit einem mystifizierenden Begriff. Nach ihrer Auffassung kann man von Leiden immer nur genau wissen, was daran äußerlich beobachtbares und meßbares Verhalten ist. Die innerliche Seite bleibt dunkel und unverläßlich. Das Leiden als solches verschwindet im Ungreifbaren. Und dies entspringt der hintergründigen Absicht: Das Leiden soll unsichtbar gemacht werden! 177
Nicht unerwähnt bleiben sollte noch eine spezielle Variante, Leiden durch technische Manipulation unkenntlich zu machen. Oberflächlich gesehen geht es dabei nur um semantische Prozesse. Aber in Wirklichkeit verbinden sich mit dieser semantischen Tarnung tiefreichende gesellschaftliche Anpassungszwänge, deren entsprechende Wirkungen sich nachweisen lassen: Man tilgt Wörter, die Elend als Elend bezeichnen. Die, denen es gut geht, bieten denen, die mit irgendeiner Not geplagt sind, eine gefälligere Benennung an. Damit nötigen sie diejenigen, die in bedrückenden Schwierigkeiten leben, sichohne daß sich an ihrer faktischen Lage etwas verändert hätte sozial bestätigt zu fühlen und sich möglichst mit dieser symbolischen Genugtuung zufriedenzugeben. Solche kosmetischen Umetikettierungen finden laufend statt. Vor zehn Jahren galten Obdachlose in der Bundesrepublik noch als Obdachlose und akzeptierten diese Bezeichnung. Und sie fanden es auch korrekt, ihre meist von der übrigen Kommune streng abgegrenzten Siedlungsblocks als Gettos benennen zu lassen. Neuerdings heißt man Obdachlosensiedlungen vielerorts «soziale Brennpunkte», obwohl es eigentlich soziale Totpunkte sind. Ein Brennpunkt wäre so etwas wie ein Zentrum einer Gemeinde, in welchem sich das kommunale Leben strahlenförmig verdichtet. Aber gerade mit einer Obdachlosensiedlung kommuniziert die übrige Bürgerschaft einer Gemeinde in der Regel am wenigsten. An diesem Punkt läuft das öffentliche Leben vorbei. Die neue Wortschöpfung könnte wie ein Programm klingen, wenn nicht alles dafür spräche, daß es bei der Umetikettierung bleiben wird. Nahezu verschwunden ist das Wort Getto. In den sozialpolitischen Diskussionen findet man ein weiteres Wort immer seltener, nämlich die Bezeichnung Unterschicht. Und es gibt Politiker, die es sich hoch anrechnen, dieses Wort nicht mehr in den Mund zu nehmen, als wäre das bereits eine sozialpolitische Leistung. Man könnte meinen, es gäbe kaum noch Arme, Verkrüppelte und eben auch keine Obdachlosen mehr. Denn die Umgangssprache ist dabei, diese Vokabeln allmählich auszusondern. So hilfreich es durchaus für die Selbstachtung vieler 17 8
Betroffener ist, diskriminierende Etiketts abstreifen zu können, so bedenklich ist es, wenn dadurch nur eine soziale Anhebung und Integration vorgetäuscht wird, die in Wirklichkeit nicht geschieht. Und tatsächlich stellen manche Umbenennungen lediglich kosmetische Korrekturen dar, die vornehmlich den Nicht-Betroffenen erleichtern sollen, sich mit Hilfe schöner Worte das Erschrecken darüber zu ersparen, daß es tatsächlich noch verzweifelte Arme und nicht bloß Unterstützungsempfänger , Obdachlose und nicht nur Bewohner sozialer Brennpunkte, gebrechliche Alte und nicht nur attraktive Senioren, diskriminierte Randgruppen und keine eigentlich solidarische Gesellschaft gibt. . Um die Unsichtbarmachung von Leiden geht es zumindest auch bei manchen Bemühungen, Stätten, wo Leiden aufbewahrt wird, fassadär zu modernisieren und zu verschönern. Die Alten- und Pflegeheime werden äußerlich ansehnlicher, die neuen Obdachlosenwohnungen sind durch eingebaute Heizungen und Duschen «vollwertig» gemacht worden. Geschlossene psychiatrische Abteilungen sehen nicht mehr so trostlos aus, nachdem man Gitter durch Spezialglas ersetzt hat. Genau besehen, werden viele dieser Stätten durch die Umbauten und die neuen Innenausstattungen nicht wirklich menschlicher, freundlicher, wohnlicher. Aber sie sind besser vorzeigbar. Sie passen sich unauffälliger in das Gesicht der Kommunen ein. Und sie nehmen sozusagen am technischen Fortschritt teil. Längst haben die Obdachlosensiedlungen auch asphaltierte Straßen mit normaler Beleuchtung und Telefonzellen. Sie sind also an das technische Kommunikationssystem der Gemeinden angeschlossen. Alle diese Neuerungen sind nützlich. Aber wenn es bei der bloßen äußerlichen Angleichung an die Umwelt bleibt, wenn nur der Anschluß an das technische Kommunikationssystem erfolgt, ohne daß die Kommunikation mit den Menschen in den Gettos, in den Anstalten, in den Randsiedlungen selbst auflebt, dann ist die Modernisierung nicht mehr als eine neue Variante von sozialtechnischer Verschleierung. Nach wie vor berichten Erhebungen Schlimmes darüber, wie mit den Alten in vielen Alters- und Pflegeheimen umge179
sprungen wird. Die Personalausstattung in den meisten psychiatrischen Anstalten ist weiterhin extrem dürftig, demnach das Angebot von Gesprächen und Resozialisierungshilfen für die Kranken völlig ungenügend. Und nach einer vorübergehenden Besserung sind auch die sozialtherapeutischen Bemühungen um die Population von benachteiligten Randsiedlungen vielerorts wieder zurückgegangen. Aber die kosmetischen Verbesserungen bewirken eines: Viele der Notleidenden honorieren die Bemühungen, sie gefälliger unterzubringen und sie gegebenenfalls auch taktvoller zu benennen, eilfertig mit einem verstärkten Unterwerfungsverhalten, das mitunter bis zur Selbstschädigung reicht. So warnten die Bürger einer Obdachlosensiedlung einander vor einer politischen Wahl: Man solle ja keine lauten Forderungen nach Verbesserungen in derartigen Randsiedlungen stellen, da sonst die den sozial Schwächeren nahestehende Volkspartei zu viele Stimmen einbüßen könnte. Denn man wisse ja, daß man zu denen gehöre, denen die Mehrheit der Gesellschaft nicht noch mehr Vergünstigungen durch Steuergelder gönne. Solche Prozesse zu erkennen, erscheint überaus wichtig. Es gibt eine Sozialpolitik, die zu einer kunstvollen Elends-Verpackungs-Politik wird. Und die die Leidenden dazu nötigt, die gesellschaftlichen Tarnungsprozesse aktiv mitzuvollziehen. Die Leidenden schreien nicht mehr ihre Not heraus und wissen am Ende selbst kaum noch, daß ihre kosmetisch verdeckte Not überhaupt noch Not ist.
12.
Kapitel
Leidensverach tung - Todesverach tung. Stoizismus, Heroismus. Die Wechselbeziehung zwischen Risikodrang und Sterbeangst
Die Formen der Leidensverachtung reichen von der Haltung der ruhigen Unerschütterlichkeit, wie sie die klassische Lehre der Stoa~~ propagiert hat, bis hin zu der kämpferischen «heroischen» Niederhaltung des Leidens. Die Epikuräer und die Stoiker in der hellenistisch-römischen Periode bauten jenes alte, zunächst von den Eleaten, später von SOKRATES und PLATON dargestellte Konzept von einer Welt des unerschütterlich in sich ruhenden Seins zu jener Psychologie aus, in der ein in sich selbst ruhendes Leben in der Vernunft von einem Leben im Leiden und den «affectus» streng abgegrenzt wurde. Jenes wurde diesem ethisch übergeordnet. Die zu einem populären Begriff gewordene «stoische Haltung» geht von der Fähigkeit des Menschen aus, Leiden durch aktive Anstrengung vom Ich fernzuhalten und zu einem äußerlichen objektiven Tatbestand zu machen. Bei SENECA heißt es: «Mag die Natur unsere Körper, ihr Eigentum, gebrauchen wie sie will. Wir, freudig und mutig, wollen denken: Was wir verlieren, war nicht von dem Unsrigen.» «Verachtet den Schmerz, entweder wird er aufgelöst werden, oder sich auflösen.» «Auch bei den eigenen Unfällen mußt Du es dahin zu bringen suchen, daß Du dem Schmerz nicht mehr nachgibst, als die Vernunft, nicht als die Gewohnheit es haben will. »9 Wer 1
,~ Der Stoizismus ist die Philosophie einer etwa von 300 v. Chr. bis 200 n. Chr. reichenden griechisch-römischen philosophischen Schule. Ihr Ideal ist der Weise, der die Affekte beherrscht und mit der Tugend als einziger Quelle der Glückseligkeit zufrieden ist. 181
eine gute Gemütsverfassung habe, dem könne auch der Schmerz nichts anhaben, lehrte EPIKTET. «Unverständige befreit die Zeit von ihrem Schmerz, Verständige aber die überlegung.»18 Und entsprechend äußerte sich MARCUS AURELIUS: «Der Schmerz ist entweder für den Leib ein übel - so mag sich denn dieser darüber beschweren - oder für die Seele: Dieser aber ist es ja vergönnt, ihre Heiterkeit und Ruhe zu behaupten und jenen für kein übel zu halten.» «Durch Sammlung in sich selbst bewahrt ... die denkende Seele ihre Heiterkeit, und die in uns herrschende Vernunft leidet keinen Schaden. »52 Im Sinne SCHELERS würde dies' heißen, daß im innersten emotionalen Bereich eine so stark positive Gestimmtheit vorausgesetzt wird, daß alle potentiell deprimierenden Eindrücke auf eine relativ oberflächliche Wirkung begrenzt werden können. Wenn von Heiterkeit, Freude und Ruhe der Seele die Rede ist, so ist offensichtlich ähnliches wie die SCHELERsche Seligkeit als die innere Kraft gemeint, die nicht nur periphere Surrogatbefriedigungen entbehrlich macht, sondern eine Bagatellisierung aller Plagen und Schmerzen ermöglicht. Daß das heute vorherrschende Lebensgefühl einer solchen stoischen Leidensbewältigung wenig Chancen einräumt, liegt auf der Hand. So kommt es zu dem massenweisen Versuch, die fehlende innere Heiterkeit und Ruhe durch Psychopharmaka zu ersetzen. Bekanntlich stehen einige dieser Präparate in den westlichen Ländern an der Spitze des Medikamentumsatzes überhaupt. Sie sind zu Lebensbegleitern für Millionen geworden, die mit ihrer Hilfe eine permanente Distanz gegenüber beunruhigenden, schmerzenden, deprimierenden Eindrücken zu finden hoffen. Was angestrebt wird, ist eine der stoischen Haltung entfernt verwandte innere Entspanntheit und Unerschütterlichkeit. Nur muß man sich eben die Energien dafür, die man im eigenen Innern vermißt, von außen borgen. Neben dieser weltweiten Methode, sich durch Pharmaka passiv Leidensfreiheit zu verschaffen, lebt freilich auch das Ideal der kämpferischen Selbstbeherrschung fort. Die Vermei182
dung von Wehleidigkeit gehört nach wie vor zum Männlichkeitsstereotyp, welches für die Erziehung der Jungen zumal hierzulande noch eine große Rolle spielt. Nicht klagsam sein zu dürfen, den Kopf hochzuhalten, sich zusammenzureißen, sich Schmerz zu verbeißen, sind die bekannten klassischen Vorschriften für ein sogenanntes «männliches» Verhalten. Es ist noch nicht lange her, daß das Zähne-Zusammenbeißen zu einer der wichtigsten Tugenden hochgelobt worden ist. SAUERBRUCH und WENKE sahen darin die höchste Bewältigungsform des Schmerzes, die sie die heroische nannten. Ihrer Laudatio auf diese heroische Haltung, 1936 in ihrem Buch «Wesen und Bedeutung des Schmerzes» formuliert, merkt man deutlich an, daß diese propagierte Einstellung besonders zu dem Geist jener Zeit paßte: Die heroische Haltung gehöre «zu dem aktiven Lebensgefühl junger unverbrauchter Völker». Hier begegne der einzelne dem Schmerz, «um vor sich selbst seine Kraft zu messen und der Welt den Beweis seiner Stärke zu geben». Hier macht sich sehr klar die überkompensatorische Form der Leidensabwehr bemerkbar. Das Leiden wird besiegt, niedergekämpft wie ein Gegner. Aber es bleibt ein innerer Gegner. Es findet nicht die Projektion statt wie bei den Teufels austreibungs-Strategien, bei welchen die innere Auseinandersetzung auf einen vermeintlichen äußeren Leidensverursacher verschoben wird. Auf der Linie der Versuche, Leiden durch aktive Anstrengung niederzuhalten, liegt letztlich auch die Mode der vielfältigen neuen Gesundheits trainings , die mit der Ideologie verbunden ist, daß Aktivität das beste Mittel zur Krankheitsvorbeugung und zur Lebensverlängerung sei. Nachdem bei der Infarktforschung entdeckt worden ist, daß diese als Todesursache neben dem Krebs am meisten gefürchtete Krankheit unter anderem auch durch Bewegungsmangel gefördert werden kann, ist in vielen Ländern ein starkes Interesse an allen möglichen Formen von körperlichen Aktivitäten aufgelebt, die. systematisch als Gesundheitsschutz praktiziert werden. Die Trimm-Dich18 3
Bewegung ist Ausdruck dieser Strömung. Darin kommt so etwas wie eine Gegenbewegung zu dem traditionellen Hedonismus zum Ausdruck, der zuvor als die Flucht in rein passive Surrogatbefriedigungen gekennzeichnet wurde. Der TrimmDich-Kult ist ja auch deutlich mit einem Trend zum Asketismus verknüpft. Mit der Mode der zahlreichen Formen körperlicher Trainings läuft bekanntlich ein Feldzug gegen das übergewicht, aber auch gegen Genußgifte, zum Beispiel gegen den Tabak, einher. Das Gemeinsame dieser Bemühungen liegt darin, sich auf aktive Weise eine Fitness anzutrainieren, die möglichst alle wissenschaftlich ermittelten Risikofaktoren ausschließt. Man orientiert sich dabei an den epidemiologischen Statistiken und kontrolliert, wo möglich, mit Hilfe der zum Eigengebrauch entwickelten diagnostischen Geräte, wie weit man sich schon an das erreichbare Optimum von Risikofaktoren-Freiheit angenähert hat. Man kann, wenn man will, in diesem allgemeinen Sich-Aufraffen einen Fortschritt gegenüber den eher resignativ erscheinenden passiven Beschwichtigungs- und Betäubungsstrategien erkennen. Aber in den übertreibungen und kultischen Verherrlichungen der Trimm-DichBewegung kommt doch sehr deutlich zum Ausdruck, daß es sich zu einem erheblichen Teil wiederum nur um eine angstgetriebene Leidensabwehr handelt. Man möchte sich einreden, das Leiden perfekt wegtrainieren zu können und befindet sich damit natürlich im Einklang mit dem traditionellen kulturellen Grundkonzept von der manipulierbaren Unvergänglichkeit und Omnipotenz. Das Laufen als den wahren Heilsweg preist eine Flut von neuen Veröffentlichungen an. Die amerikanischen SachbuchBestsellerlisten führte lange Zeit «Das große Buch vom Laufen» von JAMES Fncx an. In einer Rezension dieses Buches von H. TILTON heißt es: «Den Versprechungen des Autors nach zu urteilen, scheint Jogging (Laufen) besser als Fausts magischer Verjüngungs trank. Herzanfälle sollen vermieden, der Altersprozeß verzögert, Depressionen kuriert, das Sexleben verbessert und die Religion wieder bedeutungsvoll gemacht werden. Ganz nebenher soll Jogging das Rauchen und Trinken abge-
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wöhnen, zu besseren Eßgewohnheiten erziehen und einen erquickenderen Schlaf garantieren.»9 8 Die riesenhaften überkompensatorischen Erwartungen, die sich an die aktive Leidensverhütung bzw. -bemächtigung knüpfen, lassen immer wieder nach Beispielen für eine heroische Bezwingung des Todes suchen. Daher rührt die enorme Faszination jener «Sieger», die sich - scheinbar der Natur zum Trotz - wunderbarerweise aus einem hoffnungslosen Elend gewissermaßen am eigenen Schopf herausgezogen haben. Keine Not, so scheinen diese Helden zu beweisen, ist schlimm genug, um nicht doch die Rückkehr zu Größe, Potenz und Fitness demjenigen zu ermöglichen, der sich nicht unterkriegen läßt. Das beweisen etwa der ewig strahlende Senator HuBERT HUMPHREY, dem der Blasenkrebs scheinbar über viele Jahre nichts anhaben konnte, und ebenso der unverwüstliche J10HN WAYNE, der als Greis mit halber Lunge noch immer die potentesten Western-Helden mimen kann. Auch der junge herzkranke Engländer J1M HATF1ELD, der nach mehreren Herzoperationen heil über den Atlantik segelte, bekräftigte die Theorie vom Willen, dem nichts unmöglich sei: «Vielleicht werden Menschen, die krank sind, auf das schauen, was ich getan habe» (Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 164 vom 2.8. 1978). Bedeutend ist die Zahl der Weltrekordler und Olympiasieger, die zur überwindung schwerer Krankheiten und Behinderungen zum Leistungssport gelangt sind. Beinamputierte Alpinisten und blinde Marathonläufer sind nur einige weitere unter vielen erstaunlichen Beispielen des Bezwingens von Schwäche und Elend. Diese scheinbaren Wundertaten im Sinne einer selbstgemachten Wiederauferstehung gehören letztlich in eine Reihe mit den alltäglichen Kr4ft- und Mutproben, die Millionen Menschen dazu dienen, die Phantasie ihrer Unzerstörbarkeit zu erhalten. Unendlich ist die Zahl der kleinen Abenteuer und der sportlichen Kunststücke, deren Nervenkitzel nichts anderes ist als eine versteckte Herausforderung des Todes. Indem man sich wieder und wieder beweist, daß man unversehrt aus
den selbstinszenierten riskanten Situationen herauskommt, kann man weiterhin wähnen, nie und nirgends untergehen zu müssen. Aber hinter all diesen kleinen halsbrecherischen Taten verbleibt die Angst, die man durch immer neue überkompensatorische Waghalsigkeiten beschwichtigen muß. Insofern ist die' «Selbstüberwindung», deren die kleinen Helden sich selbst rühmen und die man an ihnen bewundert, eigentlich gerade keine überwindung dessen, was sie im Innersten ihres Selbst bedroht. Denn weil sie ihre eigentliche innere Angst vor Schwäche und Endlichkeit nicht überwinden können, stürzen sie sich auf Wüsten, Meere oder Berge oder auf andere große oder kleinere äußere Angstobjekte. Die Demonstration von Todesverachtung ist mithin in aller Regel nur eine Oberkompensation des Gegenteils, nämlich einer ganz besonders schlimmen Sterbeangst. Dies trifft insbesondere für diejenigen zu, die ihre Tollkühnheiten aus innerem Zwang laufend steigern müssen und in Panik geraten, wenn sie aus irgendwelchen äußeren Gründen eine Zeitlang zu Inaktivität gezwungen werden. Es bleibt natürlich für jeden eine beachtliche Leistung der Selbsthilfe, wenn er es mittels riskanter Abenteuer schafft, sich aus einer sonst drohenden Verzagtheit zu befreien. Und verständlich ist der Stolz, sich dieser Methode immer wieder erfolgreich zur Selbststabilisierung bedienen zu können. Indessen ist nie zu vergessen, daß zwischen der Angst vor dem Leiden und dem Zwang zur Risikosuche eine feste Verbindung besteht. Und in selbstkritischen Autobiographien mancher glorifizierter Todesverächter finden sich überzeugende Belege für die Wechselbeziehung von geheimer Verzagtheit und Risikodrang. So beschreibt etwa W ALTER BONATTI, wohl der berühmteste Alpinist der fünfziger Jahre, die Phase nach einem mißglückten Ersteigungsversuch des Südwestpfeilers der Drus, dem eine gescheiterte Bemühung am K2, dem zweithöchsten Berg der Weh, vorausgegangen war: «Vor diesem Angriff auf die Drus dachte ich, daß der Sieg mir wenig bedeuten würde. In Wirklichkeit stürzte mich die Niederlage in eine tiefe moralische Verzweiflung. Dies ist wirklich der letzte Tropfen, der den Becher der Bitterkeit zum 186
überlaufen bringt, den Enttäuschungen bei der Eroberung des K2 gefüllt hatten. Zu lange zieht sich die Krise hin. Seit einem Jahr glaube ich an nichts und an niemanden mehr. Ich bin nervös, leicht erregt, angewidert, unausgeglichen, ohne ein Ziel und manchmal grundlos verzweifelt. Ich kenne mich nicht wieder.» «Eines Tages aber kommt die Erlösung. Die Depression bringt mich auf einen tollen Einfall. Plötzlich springt in mir der Gedanke auf, zum Südwestpfeiler zurückzukehren und ihn allein zu besiegen. Es ist nicht wahr! Ich bin noch nicht am Ende! Ein Tag nachdem anderen vergeht, mein ungewöhnlicher Plan wird zum Hoffnungsstrahl, der mir Frieden bringt.» Am Abend vor der eigentlichen Besteigung, bereits an der Felswand, denkt er: « Ich beneide alle Menschen, die nicht wie ich eine solche Aufgabe bewältigen müssen, um wieder zu sich selbst zu finden.» «Es folgt eine schreckliche Nacht. In meinem Herzen ist eine Verwirrung wie bei einem zum Tode Verurteilten.))Io Der Autorennfahrer NIKI LAUDA, der trotz eines überaus schweren Unfalls unbeirrt weiter Rennen fährt, verriet in einem Interview: «Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst davor, daß mich einer anspringt, wenn es finster ist. Da bekomme ich richtig Herzklopfen. Aber ich habe keine Angst in meinem Auto, weil ich das beherrsche)) (Die Zeit Nr. 34 vom 18. 8. 197 8).
Dritter Teil Die Aufgabe: Oberwindung der psychischen und der sozialen Selbstspaltung des Menschen
I3. Kapitel
Die Absetzbewegung der Jugend als Aufruf zur Selbstkritik der Angepaßten
Es wurde zu zeigen versucht, daß sich wesentliche sozialpsychologische Merkmale der neueren westlichen Zivilisation als Symptome eines fundamentalen strukturierenden Komplexes verstehen lassen. Sie erscheinen als die Spuren einer bestimmten Form der Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Bild des einen und einzigen strengen allmächtigen Gottes. Diese Spuren erlauben eine hypothetische Rekonstruktion folgenden Prozesses: Eine hilflose Abhängigkeitsbeziehung im Verhältnis zu diesem übermächtigen Gott konnte nicht länger ertragen werden. Es resultierte der Versuch, gleichsam mit einem Sprunge durch Identifizierung selbst die göttliche Omnipotenz zu erringen, um aus einer eigenen absolut dominierenden Position eine neue Sicherheit beziehen zu können, welche die verlorene passive Geborgenheit nicht mehr bot. Man floh aus infantiler Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht und lernte, diese Illusion mit Hilfe einer fortschreitenden naturwissenschaftlich-technischen Weltbeherrschung zu befestigen. Man schien in der Lage zu sein, die vordem absolut ungewisse und ausschließlich in der Hand Gottes stehende Zukunft durch die Kausalforschung selbst berechnen und technisch lenken zu können. Jedes Weltgeheimnis ließ sich anscheinend mit den Mitteln der Mathematik lösen. Also verfügte man offenbar über den Beweis, die Potenz zu besitzen, das Erbe Gottes in der Funktion der Weltbeherrschung antreten zu können. Aber die infantile Abhängigkeit und Ohnmacht, aus welcher der Sprung in die Allmachtsphantasie für alle Zeit hinausführen
sollte, blieb innerlich erhalten. Sie ist bis heute die verdrängte Kehrseite, die unterdrückte negative Identität unserer Zivilisation. Ihre Fixierung ist der Preis für die abrupte Anmaßung der gottähnlichen Selbstgewißheit und des Omnipotenzanspruches, der unser Bewußtsein in den letzten Jahrhunderten geleitet hat. Dies ist das Charakteristikum des hier unterstellten Ohnmacht-Allmacht-Komplexes oder «Gotteskomplexes », daß die mittelalterliche kindliche Abhängigkeit und Schwäche noch im unbewußtell Untergrund weiterbesteht und daß es die Aufgabe der Zukunft sein muß, sie bewußt zu machen und mit dem überkompensatorischen, von Größenphantasien bestimmten Selbstbild zu versöhnen, das die Entwicklung unserer Zivilisation bislang einseitig bestimmt hat. Ohne diese Versöhnung ist nicht denkbar, wie unsere Zivilisation aus den bislang unüberbrückbaren absoluten Gegensätzen herausfinden könnte, die im vorigen behandelt wurden: Es bliebe für alle Zeit bei der unaufgehobenen Polarisierung zwischen Aktivität und Passivität, zwischen leidlosem Machen und machtlosem Leiden, letztlich zwischen der Unendlichkeit und dem Nichts. Wir befinden uns offensichtlich in einer Phase, in der die Abstützung der seit dreihundert Jahren dominierenden Omnipotenzphantasie immer schwieriger wird. Die Fortschritte der Naturwissenschaft und der Technik, die diese Phantasie lange Zeit stabilisierten, haben sich zwar sogar beschleunigt. Der Mensch kann eigene Satelliten aussenden, Retortenbabies züchten, genetische Manipulationen vorbereiten, die «Maschine Organismus» durch Implantation künstlicher Organe länger als je zuvor in Gang halten. Aber eben diese wie viele andere imposante Fortschritte erscheinen plötzlich fragwürdig. Die Eigendynamik der expansionistischen Supertechnik droht der Kontrolle durch den Menschen zu entwachsen. 89>9 0 Die Technik ist dabei, sich in einer Weise zu verselbständigen, daß sie mehr und mehr autonom die Organisation des menschlichen Zusammenlebens bestimmt und das Denken leitet. Seitdem die Kernspaltung beherrscht wird, droht der Weg in den Atom-
staat, wie ihn ROBERT JUNGK überzeugend prognostiziert hatY Die Computertechnik eröffnet die Chance zur totalen überwachung des Menschen im Sinne ORWELLS. 101 , 46 Die Biotechnik rückt die Möglichkeiten einer Beeinflussung des menschlichen Erbguts immer näher. Die Interdependenz zwischen ökonomisch-technischer Expansion und einer wachsenden ökologischen Gefährdung ist nicht mehr zu verkennen. Zwar mehren sich von Jahr zu Jahr die Beweise dafür, daß die Instrumente, die zur Eroberung immer größerer menschlicher Macht und Unabhängigkeit dienen sollten, ihrerseits eine fatale Macht über den Menschen gewinnen, ihn zunehmend von sich selbst entfremden und obendrein unmittelbar sein überleben bedrohen. Aber noch sind wir in einer Zwickmühle durch unseren Gotteskomplex gefangen. Unsere kollektive Neurose hindert uns daran, uns anstelle der Fortsetzung des megalomanen Expansionismus eine andere Möglichkeit vorzustellen als einen Absturz in jene mittelalterliche Kleinheit, Ohnmacht und furchtbare Verlorenheit, die uns seit über dreihundert Jahren als unsere verdrängte negative Identität begleitet. Wenn die hier gelieferte sozialpsychologische Interpretation in etwa zutrifft, dann ist es gut verständlich, warum die Beunruhigung durch die errechneten katastrophalen Folgen einer auf die Supertechnik gestützten Wachstumsideologie nicht so ausfällt, wie es diesen Befunden eigentlich entsprechen würde. Als Opfer unseres historischen Komplexes können wir anstelle des Fortschritts zu immer noch grandioserer Macht und Größe nur das totale Nichts denken. Das hektische Streben nach einer vollständigen technischen Bemächtigung der Welt ist ja eben nicht die Folge einer besonnenen Abwägung des Nutzens dieser Strategie. Sondern es leitet sich - im Sinne dieser Interpretation - aus einem überwiegend unbewußten Zwang ab. Der Sturm auf den visionierten Gipfel göttlicher Potenz ist in Wirklichkeit die Flucht aus panischer Verzweiflung. Er geschieht letztlich aus der Gesetzlichkeit einer ähnlichen Dynamik heraus, wie sie der zitierte berühmte Bergsteiger autobiographisch formuliert hat, den es zu seinen Rekordtouren treibt, weil er sich sonst in seiner Identität aufzulösen fürchtet. Und wie 193
dieser - aus der Perspektive eines distanzierten, innerlich ausbalancierten Betrachters gesehen - ein durchaus lösbar erscheinendes inneres Problem scheinbar freiwillig in ein ungleich größeres und gefährlicheres Problem eintauscht, so bewegt sich die in den dranghaften technischen Expansionismus verlegte Gipfelstürmerei unserer Zivilisation längst auch unmittelbar am Rande einer - unbewußt - selbstgewählten vitalen Gefährdung. Also stellt sich die Frage, wie dieses Dilemma zu beheben ist. In der hier entwickelten sozialpsychologischen Perspektive bedeutet dies: Wie ist es denkbar, das Motiv zu der ewigen Flucht nach vorn bzw. nach oben in die Fiktion göttlicher Allmacht zu überwinden? Wie läßt sich die Angst vor dem Nichts, vor der totalen Selbstauflösung zügeln, die bislang jeden Schritt hemmt, der von dem durch das narzißtische Omnipotenz-Ideal bestimmten Weg abführt? Oder umgekehrt, wie läßt sich das Selbstvertrauen stärken, das nötig ist, um die verdrängte Kehrseite unseres überkompensatorisch überhöhten Selbstbildes anzuschauen und in unser Selbstverständnis zu integrieren? Daß diese Fragestellung überhaupt hochkommt, ist hoffentlich ein Zeichen dafür, daß sich erste untergründige kollektive Selbstheilungstendenzen bemerkbar machen, die nach Verdeutlichung drängen. Eine in diesem Sinne sehr wichtige Bemühung ist zweifellos die schon zuvor erläuterte breite Strömung in Richtung einer Veränderung der traditionellen Rollenspaltung von Mann und Frau. Die Frau als die soziokulturell erwählte Trägerin der verdrängten Negativmerkmale von Kleinheit, Schwäche und Leiden, rebelliert gegen die Fortsetzung ihrer Versklavung. Und auf der männlichen Seite regt sich, wie die erwähnten psychologischen Repräsentativerhebungen erkennen lassen, ein erstes vorsichtiges Entgegenkommen. Das heißt, die Männer orientieren sich behutsam, aber bereits durchaus in statistisch gesichertem Ausmaß in Richtung auf üblicherweise als «weiblich» etikettierte Merkmale um. Diese Annäherung ist jedenfalls andeutungsweise vorhanden, auch wenn die ober194
flächliche Szenerie dazu noch im Widerspruch zu stehen scheint. Manche militant feministischen Bücher und Zeitschriften sowie zahlreiche kleine kämpferische Frauengruppen könnten zu der Fehleinschätzung verführen, als sei ein aggressives Rivalisieren der Frauen mit den Männern und damit verbunden eher eine Vertiefung der Kluft zwischen beiden das Thema der Zeit. Tatsächlich ist aber die gegenläufige Strömung das durchschlagendere Phänomen. Unsere Erhebungen bestätigen unbezweifelbar einen gemeinsamen Trend, der auf mehr Weichheit, Gefühlsbetonung, Bejahung von tieferen Kontaktwünschen und emotionaler Offenheit hinzielt. - Jenseits des Feminismus der kämpferischen Frauenproteste wird übrigens leicht jener andere latente «männliche Feminismus)) übersehen, der zum Beispiel in einigen Romanen von MORAVIA, GRASS, BÖLL, aber auch in den Filmen von INGMAR BERGMAN erkennbar wird. Unter dem Aspekt der vorliegenden Fragestellungen liegt das Modellhafte des Vorganges darin, daß zwei Gruppen, wie zaghaft und behutsam auch immer, sich einander annähern, die in der kulturellen Tradition durch das zwischen ihnen bestehende Unterdrückungsverhältnis den Ohnmacht-AllmachtKomplex in repräsentativer Weise abgebildet haben. Dieses Auf-einander-Zugehen ist symptomatisch für ein sich zumindest stärker andeutendes Bedürfnis nach einer Neustrukturierung des bisher unüberwindlich scheinenden polaren Verhältnisses von Macht und Ohnmacht, von überkompensatorischer Verleugnung und Leiden. Und diese Annäherung zeigt zugleich einen, vielleicht den entscheidenden praktischen Weg auf, den Komplex aktiv abzubauen: Die den klassischen Gegensatz repräsentierenden polarisierten Gruppen könnten in der verstärkt gesuchten Kommunikation lernen, gemeinsam auf eine Position hinzuarbeiten, die zwischen den bisher unausgesöhnten Gegenpolen liegt. Aber während die Frauen die Kraft aufzubringen scheinen, ihren faktischen Randgruppenstatus - als Vertreterinnen des Verdrängten, des Minderwertigen - aktiv aufzubrechen und 195
die Männer in diese Bewegung allmählich mit hineinzuziehen, ist nicht zu übersehen, daß noch oder zum Teil erst neuerdings andere gesellschaftliche Spaltungen und Desintegrationsprozesse vorliegen, die eine zu optimistische Einschätzung der allgemeinen Bewußtseinslage verbieten. Eine sehr naheliegende und zunächst weniger auffällige Kluft, die tief in die Mikrostrukturen unseres Gesellschaftsgefüges eingreift, erscheint im vorliegenden Zusammenhang einer besonderen Betrachtung wert. Das ist der Konflikt, der sich zwischen den sich aus der Gesellschaft zurückziehenden Teilen der Jugend und der angepaßten Mehrheit entwickelt. Indem die Frauen sich anschicken, sich gewissermaßen nach vorn in die Gesellschaft hineinzuemanzipieren und die Männer dazu drängen, sich ihrerseits entsprechend zu verändern, kreuzt sich diese Strömung mit der Rückwärtsbewegung beträchtlicher Gruppen von Jugendlichen, die aus dem gesellschaftlichen Betrieb ausscheren und sich außerhalb in alternativen Jugendkulturen ansiedeln. Längere Zeit bestand die Neigung, dieses Phänomen zu bagatellisieren und nach herkömmlichen Klischees lediglich als neue Modevariante in der Austragung des normalen Generationskonfliktes zu begreifen. Nach der Welle der lauten und dramatischen Studentenrebellion mochte man sich über die vergleichsweise unauffällige, ja heimliche Absetzbewegung innerhalb der nachfolgenden Generation zunächst nicht aufregen. Man versuchte, einfach darüber hinwegzugehen und der Selbstisolation der sich lossagenden Jugendlichen durch eine eigene aktive Abschirmungsstrategie zu begegnen. Inzwischen indessen führt dieser Trend wegen seines Ausmaßes und seiner befremdlichen Erscheinungsformen doch zu einer verbreiteten Beunruhigung, von der die vielen Familien ohnehin längst unmittelbar betroffen sind, in denen sich solche Abspaltungsprozesse ereignen. Das Phänomen der Selbstisolation eines Teils der Jugend bedeutet in der hiesigen Betrachtungsweise eine Symptomverschiebung in der gesellschaftlichen Konfliktdynamik. Man könnte sagen, an die Stelle des bearbeitungsfähig gewordenen 19 6
Konfliktes des Geschlechterverhältnisses, an dem kollektive Selbstheilungskräfte ansetzen, stellt sich das gesellschaftlich Verdrängte nunmehr in neuer Symptomkonfiguration dar. Die
resignierende Jugend übernimmt anstelle der aktiv gewordenen Frauen den Part des gesellschaftlich Verdrängten. Also wird die Front zwischen den Angepaßten und den jugendlichen Aussteigern zu dem neuen wichtigen Schauplatz, auf dem die aktuelle gesellschaftliche Konfliktlage sich darstellt und auf dem zu überprüfen ist, welche Chancen bestehen, daß die verdrängende und die verdrängte Seite sich, statt sich weiter voneinander zu isolieren, miteinander auseinandersetzen und zu einer gemeinsamen Bearbeitung ihrer gemeinsamen Probleme zurückfinden. Im Lichte dieser Analyse wird der Absetztrend innerhalb der jungen Generation jedenfalls nicht als ein isoliertes Sonderproblem bestimmter Individuen oder Gruppen verstanden, die sich so verhalten. Sondern als ein Problem, an dem alle miteinander zusammenlebenden Altersgruppen beteiligt sind. Die neuen alternativen Jugendkulturen bringen nur augenfälligoder eben kaum mehr augenfällig - zum Ausdruck, wie tief die Gesellschaft noch im Ganzen gestört ist. Sie artikulieren im
Augenblick dasjenige Leiden, das zu den Angepaßten als die von diesen aktuell unterdrückte und verleugnete Kehrseite gehört. Sie repräsentieren das, was die gesellschaftliche Mehrheit gewaltsam von sich ausschließt, um ihre eigene Identität bewahren zu können. Aber wie brüchig und bedroht diese Identität ist, das eben wird durch die Prozesse signalisiert, die sich innerhalb der Jugend abspielen. Insofern ist es wichtig und hilfreich, sich näher anzusehen, welche Ideen, welche Impulse die jugendlichen Aussteiger in ihren esoterischen Gruppen artikulieren. Denn wie verwirrt, abseitig, unvernünftig, krankhaft, asozial die Erscheinungsformen der Jugendkulturen sich auch immer in den Augen der Angepaßten ausnehmen - es ist zugleich die verdeckte Verwirrung, die Abnormität, die Unvernunft, die Krankheit und die Asozialität aller . Und die «Symptomträger» entlarven nur den gemeinsamen Problemstand und fordern durch ihr alarmierendes Benehmen indirekt 197
alle dazu auf, sich mit dem übergreifenden Konflikt auseinanderzusetzen. Die Auseinandersetzung kann nur damit beginnen, daß diejenigen, die das Leiden von sich ausschließen, es dort anschauen, wohin sie es abgeschoben haben. Also sollte das Phänomen auch hier wenigstens in Kürze skizziert werden, um in der Behandlung des Themas die aufzuarbeitende Verdrängung nicht indirekt zu reproduzieren. Die Absetzbewegung, um die es hier geht, vollzieht sich in verschiedenen Varianten, die indessen in der Motivation miteinander zusammenhängen. Diese Jugendlichen fühlen sich außerstande, sich in eine gesellschaftliche Ordnung hineinzusozialisieren, die ihnen fremdartig und sinnlos erscheint. Sie empfinden sich in dem Betrieb, in dem sie funktionieren sollen, leer und ratlos. Häufig entsteht eine kreisförmig sich selbst verstärkende Wechselbeziehung zwischen innerem Rückzug und sozialen Frustrationen. Schwierigkeiten zu Hause, in der Schule, in der Lehre, Arbeitslosigkeit, gelegentlich auch Konflikte mit der Polizei verwickeln sich mit der psychischen Verwirrung. Diese läßt sich von außen als «Labilität», «Frustrationsintoleranz», «pathologische Passivität», «Soziopathie» etikettieren. Aber das Ausbleiben des - Und wenn die Eltern ihren Kindern vorhalten, daß diese durch das Sektenleben viel an persönlicher Kultur, differenzierter Intelligenz, musischen Interessen usw. eingebüßt hätten und psychisch schrecklich verarmt erschienen, so antworten diese, daß sie in anderer Hinsicht, die die Eltern eben nicht verstünden, viel reicher, klarer und wissender geworden seien. Und sie bedauern die Eltern, daß diese keinen Zugang zu der Wahrheit hätten, die sich ihnen selbst aufgetan habe. Die Außenstehenden haben es freilich schwer, ihr eigenes Problem in der Subkultur der Jugendreligionen wiederzufinden. Denn man erkennt auf Anhieb keine überbrückende Beziehung zwischen dem eigenen und jenem Leben. Die verschrobene Mystik der Neureligionen erscheint nur abstrus. Die kollektivistischen Lebensformen in manchen Sekten sind archaisch und primitiv. Und die Persönlichkeitsveränderungen, die durch das Sektenleben oft hervorgerufen werden, wirken durch die hervorstechenden Züge des Abbaus und der Einengung eher erschreckend. In den Augen der Außenstehenden ist dies also eine ganz ferne Welt und scheinbar alles andere als eine nur fremdartig verkleidete Artikulation gemeinsamer Probleme. Und doch läßt sich ohne weiteres ein Sinnzusammenhang sehen. Die Flucht in die totale Glaubensgewißheit läßt sich als Ausbruch aus totaler geistiger Haltlosigkeitverstehen. Und die vollständige Hingabe im Sektenleben kann einen tiefverwurzelten Protest gegen den abstoßenden Egozentrismus der Ellbogengesellschaft bedeuten. Die Einengung der Interessen und die scheinbare intellektuelle Abstumpfung mögen die Absage 2°3
sein gegen den Zwang des Oberall-im-Bilde-sein-Müssens, um mitzureden und ein biß ehen Macht zu haben. Kurz: Wohin sich die aussteigenden Jugendlichen wenden, hängt davon ab, woher sie kommen. Sie nehmen mit ihrer Reaktion antwortend Bezug auf die Situation, in der sie aufgewachsen sind und auf die soziokulturelle Szene, die sie umgibt. Die Antwort würde also besagen: «In eurer Gesellschaft ist nur absolute Anpassung oder ein Neuanfang genau am entgegengesetzten Ende möglich. Der weite Abstand, den wir zu euch suchen, ist lediglich die Konsequenz des ungeheuren Gleichschaltungsdrucks, der uns ein Leben in eurer Nähe nicht erlaubt. Wir benötigen eine konträre Existenzform, um nicht wieder von euch geschluckt zu werden. Euer Gott ist längst von eurem Größenwahn und kirchlicher Machtpolitik vereinnahmt und korrumpiert. Den können wir nicht mehr befreien. Wir müssen uns also einen neuen Gott suchen. Und gegen eure unbeirrbare überzeugung, euer Leben und eure Zukunft allein nach ökonomischem Prinzip mathematisch zu errechnen und technisch programmieren zu können und zu müssen, sehen wir nur die Chance der Zuflucht zu einem Lebensprinzip, das aus einer ganz anderen Kultur, aus einer magisch-mystischen Geisteswelt stammt. Wir brauchen die absolute Stille, um uns meditierend von innen heraus regenerieren zu können, während eure Lebenstechnik ja gerade darauf aus ist, diese psychischen Bezirke beständig durch lautes übertönen, durch äußerliche Beschwichtigung, durch pragmatische Hektik zu überdecken.» So gesehen, paßt also beides zueinander. Und es sind ja auch die gleichen jungen Menschen, die durch die Kontinuität ihrer Biographie beide Kulturen miteinander verbinden. Und wenn die zurückbleibenden Angehörigen und Freunde im nachhinein erklären: «Wir kennen euch nicht mehr wieder, ihr seid ganz andere Menschen geworden», so wirkt zusammen, daß die Abgewanderten nicht mehr wiedererkannt werden wollen, daß aber auch die Verlassenen vielfach Angst haben, mit der Bezeugung des Wiedererkennens Brücken zu jenem Anders-
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Sein zu schlagen, welches das gesamte geistige Fundament ihres eigenen Seins gefährdet. Die nach links abtauchenden «anpolitisierten» Alternativgruppen ersparen der Umgebung das Entsetzen über religiösen Fanatismus, exotische Rituale und einen mitunter makaber anmutenden totalitären Kollektivismus. Ihre Verhaltensmuster muten vertrauter an, aber eben durch ihre größere Nähe zum üblichen wird der Protest gegen die etablierte Gesellschaft fühlbarer und für diese bedrohlicher. Die Protesthaltung dieser Gruppen wird als ein brisantes Potential empfunden, das sich irgendwann einmal wieder in gefährlichem oppositionellem Aktionismus entladen könnte. Aber auch ohne diese Zukunftsperspektive fühlt sich die Mehrheit der Angepaßten von der Alternativkultur der Stadtindianer, der linken Spontis und der Antiautoritären dadurch aktuell herausgefordert, weil diese eine Stimmung verdeutlichen, von der inzwischen viele beeinflußt sind, freilich ohne zu riskieren, ihr offen Ausdruck zu geben. Dies ist eine untergründige Stimmung der Verdrossenheit und des Unbehagens über das Verwertetwerden und Verwaltetwerden durch etablierte Mächte, die unfähig scheinen, die zunehmende Dehumanisierung in vielen Lebensbereichen abzustoppen. Es wächst der Eindruck, daß die großen Parteien sich immer mehr einander angleichen, nur noch Parolen, aber keine Ideen mehr hervorbringen. Und es scheint so, daß sie persönliche Affären, Skandale oder andere halbwegs interessante Reizthemen künstlich dramatisieren müssen, um sich überhaupt noch gegeneinander profilieren zu können. Weithin scheinen die Parteien, die Verwaltungen und die großen Organisationen nur noch mit sich selbst, dem technischen Funktionieren ihrer Bürokratien und mit einer attraktiven Selbstdarstellung, immer weniger indessen damit beschäftigt zu sein, was die Bürger wünschen und denken. Diese fühlen sich stetig mehr von einer Politik abgehängt und enttäuscht, von der die verantwortlichen Gruppen zum Teil in unverhüllter Schamlosigkeit zugestehen, daß sie vieles nur täten, um die Macht zu bekommen oder zu verteidigen. Dagegen regt sich ein dumpfer Unwille, der sich in der steigenden Zahl von Protestinitiativen,
aber auch - in der Bundesrepublik deutlich zu registrieren - in einem neuartigen Wählerverhalten kundgibt. Viele können sich mit den großen Parteien nicht mehr hinlänglich identifizieren. Sie empfinden vielfach eine dumpfe generelle Negation des Etablierten. Aber diese Negation breitet sich aus. Für die Unbestimmtheit des Unwillens ist charakteristisch, daß plötzlich solche Leute und Gruppen zunehmend Anklang finden, die ohne klares Programm nur dagegen sind und versprechen, die Bürgerwünsche unmittelbar vertreten zu wollen. Es genügt, daß sie sagen, sie wollten die Menschen gegen Gift und Lärm, gegen verbaute Städte und Radioaktivität, gegen Verunstaltung der Natur und Selbstherrlichkeit der Verwaltungen schützen. Sie brauchen zunächst gar nicht genau anzugeben, wie sie das machen wollen und was sie außer dem Verhindern an positiven Projekten im Auge haben. Entscheidend ist, daß sie sich als Wortführer des Unwillens profilieren und dafür eintreten wollen, daß das, was ärgert oder angst macht, abgeschafft wird. Dieser Trend berührt sich mit Interessen, die sich in der Szene der linken Spontis und Alternativgruppen längst artikulieren. Das führt zu den gelegen dich für alle Teile verwirrenden Begegnungen bei Basis-Protestaktionen, in denen sich ein Sammelsurium von Leuten der unterschiedlichsten Provenienz zusammenfindet, punktuell in der gleichen Intention vereint. Dagegen rüstet sich natürlich nicht nur das herausgeforderte Establishment zum Widerstand, sondern auch die große Mehrheit derer, die infolge einer längst verinnerlichten und fest verwurzelten Anpassungshaltung nur die Möglichkeit haben, mit stärkerem Verdrängungsdruck niederzuhalten, was an irritierenden Zweifeln in ihnen aufkeimt. Je mehr Mühe es sie kostet, in sich selbst Gefühle der Verdrossenheit und Impulse des Aufbegehrens zu unterdrücken, um so schwieriger ist es für sie, speziell dieser linksgetönten Alternativbewegung gegenüber nicht feindselig zu reagieren. Anders als an der Front des Geschlechterrollen-Problems regt sich im Konflikt zwischen den alternativen Jugendkulturen und der übrigen Gesellschaft noch kaum etwas, was als ge206
meinsamer Selbsthilfetrend zu deuten wäre. Man kann im Augenblick überhaupt schwerlich abschätzen, ob die Absetzbewegung noch zunehmen, ob sich der Graben zwischen den Abgewanderten und der angepaßten Mehrheit vertiefen, ob es vermehrte Spannung, Stagnation oder irgendwann eine spontane Reintegrationsbewegung geben wird. Vorläufig ist die Situation eher durch pathologische Züge gekennzeichnet. Abgesehen von den unmittelbar betroffenen Angehörigen verharrt die kleinbürgerliche Mehrheit überwiegend in einer defensiven Strategie. Noch immer wehren sich viele, auf diese Phänomene überhaupt genauer hinzusehen. Obwohl die Zahl der Heroin-Toten bedenklich angestiegen ist und die Altersschwelle der jugendlichen Trinker sich deutlich vorverlegt hat, sind die Sucht-Beratungshilfen in vielen Städten noch völlig ungenügend. Ein Zeichen für eine noch immer wirksame Bagatellisierungstendenz. Wenn in den Medien häufig von «alarmierenden» Zahlen die Rede ist, so nimmt das dramatisierende Adjektiv eine Wirkung vorweg, die nur selten erzeugt wird. Jedenfalls entsprechen die präventiven und die therapeutischen Angebote weder quantitativ noch qualitativ der Tatsache, daß es sich hier - was oft bekanntgemacht worden ist - nicht um einen mit polizeilichen Mitteln (so nötig diese auch sind) zu bändigenden Mißstand, sondern in vielen Fällen um allerschwerste psychische Krankheiten handelt. Deren Heilung erfordert den Aufwand einer höchst intensiven und langdauernden Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Aber diese Zusammenarbeit kann nur offeriert werden, wenn sich die Gesellschaft positivanteilnehmend verantwortlich fühlt. Wenn sie es aushält, die zuvor geschilderte Verwandtschaft mit den eigenen Beschwichtigungs- und Betäubungsgewohnheiten nicht nur wahrzunehmen, sondern als Grund zu nutzen, um sich aus Solidaritätsbewußtsein aktiv zu engagzeren. Statt dessen überwiegen immer noch weitgehend Antipathie und latente Bestrafungswünsche. Die Angst vor der eigenen Gefährdung fördert unbewußte Bedürfnisse, das Problem auszugrenzen, eben um weiterhin verdrängen zu können, wie
bedroht man sich selbst fühlt. ::- Die am Schluß folgende Krankengeschichte wird genau diese Dynamik prägnant zu veranschaulichen erlauben: nämlich die Abspaltung der Sucht als vorläufigen Schutz gegen den eigenen Zusammenbruch dessen, der sein Problem einem anderen aufnötigt. Zweifellos findet sich auch in den Jugendsekten oft ein suchtähnliches Verhalten. Manche Sekten verlangen die totale psychische Unterwerfung ihrer Mitglieder. Aber wenn diese, was oft der Fall ist, zustande kommt, dann waren die Jugendlichen auch dafür anfällig und haben den Prozeß aktiv mitvollzogen. Sie sind eingeschworen worden, aber sie haben sich selbst mitverschworen. Und dies wollen die Zurückbleibenden nicht gern sehen. Sie meinen, von sich aus hätten die meisten Jugendlichen da nicht mitgemacht, wenn in den Sekten nicht mit teuflischen Tricks, Erpressung, Hypnose, Gehirnwäsche, sexueller Gefügigmachung gearbeitet würde. Allerdings sprechen verläßliche Anzeichen dafür, daß manche Sekten ungeheuren Druck ausüben, um sich die Eingefangenen hörig zu machen.:~:~ Und es gibt offensichtlich auch Oberhäupter, die ein handfestes Interesse an dem Geld haben, das sie mit Hilfe ihres Gefolges durch fromme Bettelei anhäufen lassen. Aber es ist eine illusionäre Angstabwehr, wenn man das Sektenphänomen nur als Schuld böser Verführer abzutun versucht und wenn man diesen nichts anderes als die üblichen Motive von ;< Daß seitens der Gesellschaft nicht nur eine verdrängungs bedingte Nicht-Beachtung und Vernachlässigung des Drogenelends vorliegt, sondern daß sogar bei Kindern Sucht z. T. planmäßig gefördert wird, um den stillschweigend geduldeten Markt der Kinderprostitution mit genügend «Menschenware» zu versorgen, enthüllt der einzigartige dokumentarische Bericht der I5jährigen CHRISTIANE F.: «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo», soeben als STERN-Buch herausgegeben von KAI HERMANN und HORST
RIECK.
,~,~ Ohne Zweifel werden dabei teilweise auch Hypnose-Techniken angewandt, deren Wirksamkeit indessen auf seiten der Jugendlichen eine disponierende Gefügigkeits-Bereitschaft voraussetzt, die oft geradezu als Gefügigkeits-Sehnsucht anmutet. Zu welchen schauerlichen Folgen derartige destruktive Suggestionen führen können, ist durch das kürzliche Drama von Guayana auf tragischste Weise bewiesen worden.
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Machtwillen und Habgier unterstellt. Dann hätte zwar alles seine Ordnung, und unsere traditionellen Normen würden indirekt von den Sekten zumindest halbwegs bestätigt. Als virtuos verschleierte Profitunternehmen in der Hand einer religiös getarnten Mafia wären die Sekten zwar immer noch schlimm genug, aber man könnte sich dagegen leicht abgrenzen. Und diejenigen, die aus der persönlichen Nachbarschaft an die Sekten verlorengehen, könnte man unschwer als ahnungslose passive Opfer eines auf Psychoterror spezialisierten kriminellen Syndikats bedauern. Man wäre selbst unbelastet auf der Seite der unschuldig Fassungslosen, vielleicht - als betroffene Angehörige - verzweifelt, aber niemals über sich selbst. Mit dieser einseitigen Haltung können die Außenstehenden zwar die eigene Identität verteidigen, aber nicht ihr Unverständnis abbauen. Viele präventive Bemühungen und Rückholversuche scheitern daran, daß Eltern, Pädagogen, Ärzte, Pfarrer immer nur mit den positiven Werten und den sozialen Sicherungen argumentieren, die von den Jugendlichen preisgegeben würden. Aber gerade diese Werte werden ja eben von den jungen Leuten oft nicht mehr als Werte und die sozialen Sicherungen eher als soziale Fesselungen empfunden.Man stützt die Beratung und die Therapie auf eine Weibung, die in den Ohren der Angesprochenen eher als zusätzliche Abschrekkung wirkt. Die Aussteigenden empfinden den Betrieb, in den sie sich wieder integrieren sollen, eben keineswegs als bergend und sinngebend. So absurd es klingt: Viele Jugendliche, die sich davonstehlen, würden dableiben, wenn ihre Eltern und ihre sonstigen Bezugspersonen in ihrem Angepaßtsein so erfüllt und glücklich wären, wie sie es zu sein vorgeben. Die Aggressionen, denen die Abtrünnigen oft seitens ihrer alten Umgebung begegnen, verraten ihnen die Spannungen, denen die, die sie verlassen, infolge ihrer eigenen tiefen Unerfülltheit ausgesetzt sind. Diese Dynamik ist noch viel stärker und weitestverbreitet in der Reaktion der Außenwelt auf die verschiedenen linksgefärbten Alternativgruppen. Nicht daß eine abstrakte «Ordnung» von diesen Gruppen kritisch in Frage gestellt wird, sondern
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daß sich die Angepaßten persönlich in ihrem eigenen Verdrängungssystem gefährdet sehen, bringt diese gegen die Linksabweichler vor allem auf. Dies wurde ja bereits im Zusammenhang des Phänomens der projektiven Leidensabwehr genauer beschrieben. Hier geht es nun vorrangig um die Frage einer konstruktiven Lösung des zunächst absurd scheinenden gesellschaftlichen Widerspruchs: Eine große Mehrheit sehnt sich nach natürlichem Leben, weniger Disziplinierungsdruck, ungezwungeneren Umgangsformen, tieferer Kommunikation, nach mehr verantwortlicher Mitsprache zumindest im kommunalen Bereich. Aber nachdem man lange darin geübt worden ist, sich so zu verhalten, wie man es eigentlich nicht will, kämpft man am Ende die Bedürfnisse nieder, die laufend mit den von außen aufgezwungenen Normen kollidieren. Und schließlich unterstützt man offen oder insgeheim die Diskriminierung und Verfolgung derjenigen, die exakt die unterdrückten eigenen Wünsche vertreten. Dies stellt sich übrigens unter anderem deshalb auch als ein Generationenkonflikt dar, weil das Ausmaß der inneren Kapitulation selbstverständlich mit der Dauer der Anpassungszwänge und mit dem Grad der Fixierung der Anpassung durch endgültige Etablierung in konventionellen sozialen Rollen korreliert. Der im Durchschnitt in den höheren Altersgruppen anwachsende Widerstand gegen die linksgefärbten Alternativen hat also nicht unmittelbar mit natürlichen Alterungsvorgängen zu tun, sondern ist meist als Folge einer sozial bedingten Verfestigung von Verdrängungen und projektiven Entlastungsbedürfnissen zu erklären.
Wenn man davon ausgeht, daß die sich absondernden Jugendkulturen zugleich abgesondert werden, daß die sich abgewiesen fühlende Mehrheit zugleich selbst aktiv abweist und daß im Grunde ein innerlich zusammenhängendes Problem ist, was sich hier gegeneinander polarisiert, dann muß es im Sinne einer konstruktiven Lösung darauf ankommen, sich die Verbundenheit miteinander sichtbar zu machen. Das ist-vor jeder moralischen Wertung - ein simpler logischer Schluß. Man sollte, wenn man die eine Seite anschaut, sie stets zugleich in Verbin210
dung mit der anderen sehen. Publizisten, Wissenschaftler, Politiker, Pfarrer, Therapeuten sollten, wenn sie das Thema aufgreifen, es allemal in seiner Bipolarität darstellen. Jede Analyse, jede Beschreibung, jede politisch-therapeutische Strategie, die - wie leider üblich - lediglich die Menschen oder allenfalls die gesamte Subkultur einer alternativen Szene isoliert ins Auge faßt, vertieft - wie unbeabsichtigt auch immer - den Konflikt, statt seiner Bearbeitung zu dienen. Denn sie trägt aktiv zu dem gesellschaftlichen Verdrängungsvorgang bei, dessen schrittweise Auflösung nötig wäre. Die meisten Forschungsprojekte, die auf die Alternativ-Kulturen angesetzt werden, fügen sich zum Beispiel genau in diese unheilvolle Verdrängungsstrategie ein. Sie analysieren die jeweiligen Aussteiger-Gruppen, als bildeten diese einen eigenen Menschenstamm. Oder als wären die diese Gruppen verbindenden Leitvorstellungen so etwas wie ein Erreger, der nur diese Exemplare der Gattung Mensch infiziert und die Mitwelt ausgespart hätte. Allenfalls bezieht man neuerdings noch die Familienverhältnisse und die Kindheitsgeschichte in das Studium der untersuchten Gruppen ein, was allerdings schon ein Fortschritt ist. - Freilich kann man sich in der Forschung immer mit methodologischen Argumenten rechdertigen: Will man zuviel auf einmal untersuchen, kann man die Daten nicht mehr bewältigen. Die Fragen werden zu komplex, das Untersuchungsfeld zu unübersichtlich. Man muß also, so scheint es, eine künstliche Einengung um der wissenschaftlichen Sauberkeit willen vornehmen. Denn diese Sauberkeit ist die Hauptforderung der wissenschaftlichen Moral. Und man beruhigt sich mit der Vorstellung, daß man sich ja gleichzeitig oder nacheinander von vielen unterschiedlichen Aspekten und Disziplinen aus mit einem verzweigten Problemkomplex beschäftigen könne. Also würde es doch, so scheint es, möglich sein, am Ende die verschiedenen Ergebnisse mosaikartig zusammenzufügen. Und dann wüßte man, wie alles zusammenpaßt. Aber es handelt sich ja hier eben nicht um natürlicherweise isolierbare Elemente, die nur additiv miteinander verbunden sind. Wenn man nicht von vornherein ins Auge faßt, daß sich 2II
gesellschaftliche Aufspaltungen ursprünglich aus einem wechselseitigen Frage-Antwort-Prozeß heraus entwickeln und wenn man diesen dialogischen Sinn nicht von Anfang an verfolgt, gewinnt man ihn im nachhinein nie wieder. Das sollte ohne weiteres einsichtig sein. Man macht ja auch laufend die Erfahrung, daß irgendwelche isolierten Erhebungen an Aussteiger-Gruppen nur sehr dürftige Resultate erbringen. Man mag bei den Anhängern der Neureligionen oder unter den Stadtindianern und Spontis überdurchschnittlich viele neurotische Symptome, Sexualstörungen, Introvertiertheit, Scheidungen der Eltern, frühen Tod eines Elternteils, Heim- oder Internatsaufenthalte registrieren. Aber alle solche Merkmale finden sich einzeln oder vereint auch bei vielen anderen, die nicht in Alternativ-Kulturen abwandern. Und selbst wenn man durch Faktorenanalysen bestimmte «Risikotypen» herausrechnen könnte, also besonders disponierende Merkmalskombinationen - was könnte man damit anfangen? Sollte man dann die Träger solcher Risikomerkmale bevorzugt präventiv überwachen, sie bestimmten Umlern-Trainings unterziehen, sie in einer Art von prophylaktischer Quarantäne halten? Man gewinnt also durch eine einseitig auf die alternativen Gruppen bezogene Diagnostik gar keine Anhaltspunkte für die praktische Handhabung des Problems. Die Befunde würden nach allen Erfahrungen nicht davor schützen, daß irgendeine Verfolgungsstrategie angesetzt wird, die das Problem verschärft, statt es abzubauen. Im übrigen stellt sich bei biographischen Erkundigungen häufig heraus, daß spätere Aussteiger vorher ganz «normal» waren, familiengebunden, penibel, sanft, oft sogar eher überangepaßt. Selbst in den Anamnesen prominenter Terroristen fehlt es bekanntlich nicht an solchen Befunden. Dennoch wird immer noch eifrig in jener Richtung weitergeforscht, als wäre eines Tages doch an den einzelnen oder in ihrem engsten Umfeld so etwas wie ein spezifisches Sekten-Virus oder Terroristen-Virus zu entdecken. Man sieht: Wissenschaftler machen sich vielfach garade dadurch zum Handlanger einer gesellschaftlichen Verdrängungs2I2
strategie, indem sie der wissenschaftlichen Moral folgen. Sie schaffen sich «saubere» Untersuchungs bedingungen, indem sie das Problemfeld von den übergreifenden komplexen Faktoren «säubern», ohne deren Einbeziehung indessen kein ganzheitliches Verstehen möglich ist. Aber dieses ganzheitliche Verstehen setzt ja eben auch ein solches Verstehen-Wollen voraus, das heißt im vorliegenden Falle den Entschluß zu einer Einbeziehung der gesellschaftlichen Umwelt in den Erklärungszusammenhang. Man muß nicht nur fragen wollen: Was ist euer Problem, das euch aus der Gesellschaft heraustreibt? Sondern im gleichen Zusammenhang: Welches ist unser Problem, daß wir euch daran hindern, mit uns zusammenzuleben? Was können wir tun, um euch das Verweilen in der Gesellschaft attraktiver zu machen ? Welches sind unsere Mißstände, auf die ihr durch euer Ausscheren aufmerksam macht? Sind es wirklich unsere Grundwerte, die ihr nicht mehr wollt, oder ist es etwa so, daß wir selber unsere Werte verraten haben und daß ihr sie in eurem Anders-Sein wiederzubeleben versucht? Gilt hier vielleicht auch in Abwandlung die Formel, die auf das traditionelle Geschlechterverhältnis angewandt wurde, daß nämlich die einen nur in hilfloser, pathologischer, verschrobener, aggressiver Weise das austragen, was in Wahrheit die unterdrückte Krankheit der anderen ist? Mit dieser Fragestellung wäre indessen bereits die zentrale Einsicht verbunden, daß die scheinbar von außen studierenden und beschreibenden Forscher wie Publizisten und mit ihnen das gesamte gesellschaftliche Umfeld von Anfang an in das Problem mitverwickelt sind. Und nicht nur im Sinne von Schuldigen, sondern als ursprünglich echt Mitbetroffene. Diese Einsicht könnte unendlich entlastend wirken. Das geheime Wissen der Angepaßten, längst nicht so intakt, fit, souverän und selbstsicher zu sein, wie man es sich im gesellschaftlichen Betrieb täglich hundertmal wechselseitig vorspielt, schließt die Ahnung von der enormen Befreiungswirkung des offenen Zugeständnisses der eigenen Brüchigkeit und Schwäche ein. So könnte man die sich seit etwa zwölf Jahren in variierenden Formen artikulierenden Jugendproteste indirekt auch als einen 21 3
therapeutisch relevanten Appell an die Adresse der Gesellschaft verstehen, sich daran der eigenen verleugneten Kaputtheit bewußt zu werden. ::In Familien von Ausgeflippten und jugendlichen Sektierern, die sich ja zum Teil in Selbsthilfe-Initiativen vereinigen, kann man solche selbstkritischen Reaktionen der Betroffenheit beo bachten. Da trifft man neuerdings immer wieder Eltern an, die sich innerlich nicht selbstgerecht von denen abgrenzen, die ihnen und ihrer Welt entwichen sind, sondern ihre Verzweif1ung und Ratlosigkeit offen kundgeben. Sie wissen, daß sie genauso Hilfe brauchen, wie sie den Abgewanderten helfen möchten. Aber es geht hier bei dieser übergreifenden Betrachtung nicht um die Lösung im Einzelfall, vielmehr um die allgemeine Soziodynamik. Da drängt sich der Eindruck auf: Viele der sich loslösenden Jugendlichen würden künftig in dieser Gesellschaft bleiben, böte ihnen diese mehr von dem, was sie selbst notgedrungen außerhalb suchen: Kommunikation, Sensibilität, Solidarität, Konzentration auf wesentliche menschliche Fragen, Glauben und Sinn. Und würde vor allem der Gesellschaft selbst entscheidend nützen, sich dieser
es
,~ Die kürzlich von R. GROSSHARTH-MATICEK mitgeteilten interessanten Befunde über radikale Studenten bieten einen sehr wertvollen Einblick in die dialogische Beziehung zwischen studentischem Radikalismus und Umgebungsfaktoren. Der Autor resümiert: «Allgemein ist zu sagen, daß der linke Radikalismus ein multifaktorielles Problem ist und daß er aufgrund der Interaktion von familiärer Sozialisation, Psychopathologie, Sexualstörung, Persönlichkeitsmerkmalen und des repressiven Verhaltens durch Hochschullehrer und Staatsrepräsentanten zustande kommt. Würde ein Faktor aus dieser Kette fehlen, wäre die Motivation für den linken Radikalismus nicht gegeben.»3 6 In der öffentlichen Diskussion dieser Befunde ist die Bedeutung der sozialen Mitursachen indessen rasch untergegangen. Unverkennbar überwiegt die Neigung, sich allein mit den sexuellen Auffälligkeiten der Radikalen zu beschäftigen. Die noch stark verbreitete Angst der Mehrheit, eine Mitverantwortung am Extremismusproblem zu akzeptieren, bewirkt eine einengende und damit verfälschende Verarbeitung der Befunde: Politischer Radikalismus erscheint plötzlich wie beruhigend! - hauptsächlich als Produkt von Orgasmusstörungen, sadistischen Sexualphantasien und homosexuellen Tendenzen seiner Repräsentanten. 21
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Bedürfnisse anzunehmen, die sie zum eigenen Schaden beständig verdrängt. Denn diese Gesellschaft hat es selbst dringend nötig, sich mit Hilfe derjenigen Impulse der sensibilisierten Jugend zu regenerieren, die sie bislang noch törichterweise von sich nach außen ablenkt. Diese Impulse gehören nämlich zu ihr. Und wenn sich vieles davon in den Alternativ-Kulturen noch so verstiegen, befremdlich extrem oder verrückt ausnimmt - dies sind die unvermeidlichen Auswüchse jeder nach außen verbannten Gettokultur. Aber wenn es für die meisten so schwierig ist, diese selbstkritische Diagnose und eine entsprechend angelegte Selbsthilfetherapie ins Auge zu fassen, obwohl dies dringend geboten scheint - was ist der eigentliche Grund dafür? Warum überwiegt immer noch weithin eine Stratgie einer defensiven und anscheinend unversöhnlichen Abgrenzung gegenüber denen, die resignieren, die sich zurückziehen, ausflippen, alternative Lebensformen entwickeln oder offen protestieren? Warum muß man immer noch vorrangig darauf bestehen, diesen anderen gegenüber auf jeden Fall die Oberhand zu behalten und sie zu entwerten? Das ängstliche Zögern signalisiert die Ahnung, daß es hierbei eben nicht nur um eine kleine Umstellung geht, sondern daß die Einschlagung dieses Weges zu Erschütterungen von kulturrevolutionärem Ausmaß führen muß. Die Aufgabe wäre, ein völlig neues Grundverhältnis von Macht und Leiden zu erarbeiten und die dreihundert Jahre gültige Norm der Verdrängung von Ohnmacht und Endlichkeit fallenzulassen. An dieser Norm hängt aber eben nicht nur ein komplexes System von individuellen Verhaltensmustern, sondern die gesamte hierarchische Konstruktion unseres Zusammenlebens in der Arbeitswelt und in der Familie, das System unserer Wirtschaft und das Grundkonzept unserer technischen N aturbeherrschung. All dies sind die miteinander zusammenhängenden Komponenten unserer gesellschaftlichen Identität, die auf die Formel der Selbstsicherung durch die verinnerlichte Gleichsetzung mit Gott gebracht wurde. Ob man weiterleben kann, wenn man dieses Fundament der überkompensatorischen nar21 5
zißtischen Selbstsicherung aufgibt? Ob man dann nicht in ein hilfloses Nichts zurücksinkt, nachdem man den schützenden Gott, den man ersetzen wollte, zerstört hat? Und ob es überhaupt möglich wäre, alle inzwischen verfestigten Strukturen allmählich zu reformieren, die nach dem bisher gültigen Prinzip etabliert worden sind?
14. Kapitel
Das Problem, die korrumpierte Liebe zu befreien
Das kleine Kind, das sich aus einer unverläßlichen Elternbeziehung in eine narzißtische Allmachtshaltung flüchtet, bewahrt sich, so wurde gesagt, fortan in verdrängter Form genau die kleinkindliche Ohnmacht, der es fassadär entwichen ist. Innerpsychisch erhält sich die Alternative zwischen wehrloser Schwäche und unendlicher Größe in Proportionen, wie sie das kleine Kind erfahren hat. Nach diesem Modell, das auf die Entwicklung des nachmittelalterlichen Mensch-Gott-Verhältnisses übertragen wurde, würde sich erklären, warum sich in unserer Phantasie nicht nur das archaische, monumentale, mittelalterliche Gottesbild, sondern auch das Gegenbild kleinkindlicher Dürftigkeit und Verlorenheit erhalten hat. Und warum wir das Bild einer aus gleichwertigen Partnern zusammengesetzten solidarischen Gemeinschaft in unserem Selbstverständnis nicht recht unterbringen können. Die klassische Konstellation ist eben das schwache, mit der Erbsünde beladene kindliche Wesen und ihm gegenüber bzw. hoch über ihm der thronende, strenge Allmächtige. Durch die Identifizierung mit dieser omnipotenten Gestalt ist das Selbstbild eines maßlos vergrößerten, dominanten Individuums entstanden, das stets wie einen geschrumpften siamesischen Zwilling das unreife mittelalterliche Ich als seine verdrängte kindliche Kehrseite mit sich herumträgt. Und dieses vertikale, asymmetrische Verhältnis zwischen der überelternfigur und dem kleinen Schwächling ist das psychisch verinnerlichte Modell, das sich auch in allen Konzepten von zwischenmenschlichen Beziehungen wiederholt. So konnte nie ein Modell zustande kommen, das von 21 7
einer sozialen Gemeinschaft emanzipierter erwachsener M enschen ausgeht. Der verinnerlichte Gotteskomplex hat zwischen der Stufe der kindlichen Abhängigkeit und der Stufe des narzißtischen übermaßes ein Vakuum gelassen. So haben sich die Menschen entweder weiterhin immer nur ganz klein gesehen, was sie zu verdrängen versuchten, oder nur ganz groß, was sie sich eben mit Hilfe der Verdrängung einzubilden verstanden. Dazwischen konnte sich nicht das Selbstbild entfalten, das für ein eigentlich gedeihliches Zusammenleben, wie wir es jetzt erkennen müssen, das einzig Sinnvolle wäre: nämlich das Bild von Menschen mittlerer Größe, die sich in einer Gemeinschaft miteinander auf gleicher Stufe befinden, die ihre Freiheit in dieser Gemeinschaft und nicht gegen sie verwirklichen wollen und die ihre Abhängigkeit untereinander nicht als einseitige Unterdrückungsverhältnisse hassen oder fürchten müssen, sondern als sinnvolles symmetrisches Aufeinanderangewiesensein bejahen können. Die komplexhafte Fixierung auf die Alternative Supermensch oder Zwerg kennzeichnet alle bislang vergeblichen Versuche, ein Gesellschaftsbild zu entwerfen, das zwanglos von einem unmittelbaren Zusammengehörigkeits-Bewuß tsein der Menschen ausgeht. Statt dessen ziehen sich zwei Linien durch die neuere Bewußtseinsentwicklung. Die eine geht von der Selbstvergottung des individuellen Ich aus. Es ist das DEscARTEssche Ich, das seine Selbstgewißheit obenan setzt. So entstanden auch das Individuum als die das Universum abbildende Monade bei LEIBNIZ, das großartige Vernunftwesen der Idealisten, aber auch der selbstsüchtige menschliche Wolf des THoMAs HOBBEs, der rasende übermensch NIETZSCHES und letztlich der befreite Narzißt in der Utopie MARCUSES. überall ist es nicht der primär auf die Gemeinschaft bezogene, sondern der für sich abgegrenzte Einzelmensch, der im Zentrum dieses Denkens steht. Es ist - in den Worten von ELIAS - der «homo clausus» oder das «Selbst im Gehäuse». Die Gleichheit aller, die ROUSSEAU als Traum der französischen Revolution hinterließ, stellt sich bei genauerem Hinsehen als eine utopische anarchistische Gleichheit unter radikalen Individualisten her218
aus. Als das Gegenbild zu den narzißtischen Größenideen und mit diesen unausgesöhnt, taucht auf der anderen Linie das kleine ohnmächtige Wesen auf, das ergebene Kind inder Hand Gottes, wie bei PASCAL, oder die Sklaven- und Herdenmenschen NIETZSCHES. üder die unmündige, dumme, passive Kindfrau wie bei SCHOPENHAUER. Das innerlich fixierte Muster der Unten-üben-Beziehung prägt auch ganz und gar unsere soziokulturellen Patterns von Liebesverhältnissen. Abgesehen von der narzißtischen Selbstliebe wird Liebe immer nur als Liebe von unten nach oben oder von oben nach unten gedacht. Von gleich zu gleich, sagt PASCAL, kann man einander nicht lieben. Entweder man liebt sich selbst oder man liebt Gott bzw. wird von diesem geliebt. Eine verkleinerte Kopie der Liebe zwischen dem mächtigen Gott und den Menschenkindern ist die Liebe zwischen Eltern und Kindern und - in der Tradition - die Liebe zwischen dem männlichen Herrscher und Beschützer einerseits und der kindlich submissiven Frau andererseits. Auch das klassische Modell der Samariterliebe folgt diesem Prinzip: Der Starke beugt sich zu dem Schwachen, dem Armen und Verletzten nieder. Bei «Menschenliebe», «Caritas» assoziiert man automatisch die gleiche Bewegung der barmherzigen Herabneigung. Und es scheint sich von selbst zu verstehen, daß Mitgefühl und Mitleid nicht minder eindeutig ein Gefälle zwischen Groß und Klein, zwischen Macht und Leiden enthalten. Dabei spräche an sich nichts dagegen, daß sich «Menschenliebe» zwischen Gleichgestellten entfaltet und daß Menschen im Mitleid aneinander wechselseitig Anteil nehmen, ohne daß ein üben - Unten automatisch fixiert wird. Die Koppelung der Liebe an ein eindeutig festgelegtes Machtgefälle erscheint weithin so selbstverständlich, daß die darin enthaltene Paradoxie kaum Erstaunen weckt. Man sollte doch eher denken, daß Liebe am reinsten zwischen Menschen gedeihen könnte, die miteinander völlig unbelastet durch ein hierarchisches Ungleichgewicht kommunizieren können. So entspricht es ja doch auch dem modernen Ideal für die emanzi21 9
pierte Zweierbeziehung, daß Mann und Frau einander in einer völlig symmetrischen Partnerschaft lieben. Und es läge nahe anzunehmen, daß sich die Liebe zwischen Eltern und ihren heranwachsenden Kindern dann am offensten und reichsten entfalten würde, wenn diese zu selbständigen und ebenbürtigen Gefährten der Eltern herangereift wären und ein ausgewogenes Verhältnis von Geben und Nehmen erreicht wäre. Der darin enthaltene logische Gedanke besagt, daß Rivalitätskonflikte ein Feind der Liebe sein sollten und der Anreiz zum rivalisierenden Verhalten um so größer sein müßte, je mehr der eine Teil einseitig vom anderen abhängig wäre. Die letzte Annahme trifft in dieser Verallgemeinerung tatsächlich gerade nicht zu. Viele Eltern haben es leicht, ihre Kinder zu lieben, solange diese klein und abhängig sind. Aber ihre Zuneigung läßt in dem Maße nach, in dem sich die Kinder neben ihnen zu gleich starken, mündigen Wesen erheben. Die Rivalitätsgefühle der Eltern verstärken sich also gerade dadurch, daß ihre ursprüngliche überlegenheit abgebaut wird. Im Umgang mit Vertretern helfender Berufe ergibt sich eine alltägliche Erfahrung: Manche empfinden ihre Klienten als liebenswert, solange diese ihnen in einer schwachen Position ausgeliefert sind. Aber die gleichen Klienten werden ihnen oft zunehmend unsympathisch, sobald diese stärker, größer und gesünder werden und mehr mitbestimmen wollen. Das ist sehr deutlich bei manchen Ärzten, Psychologen und Krankenschwestern zu beobachten. Sie mögen ihre Schützlinge, sofern diese sich ihnen im Status von ängstlichen, lenksamen und dankbaren Patienten in die Hand geben. Aber sobald aus den kläglichen Schützlingen selbstbewußte, kritische Rekonvaleszenten werden, schwinden bei ihren Helfern die vordem ungetrübten Zuneigungsgefühle. An anderer Stelle habe ich bereits Beobachtungen darüber mitgeteilt, daß in vielen Mann-Frau-Beziehungen gerade dann verschärfte emotionale Spannungen auftreten, wenn beide Seiten sich in progressiver Weise um einen Abbau männlicher Vorrechte bzw. um eine völlige Gleichstellung der Frau bemühen.74 Der für die Betreffenden zunächst unverständliche Wi220
derspruch besteht darin, daß die Liebe zwischen ihnen anscheinend in dem Maße nachläßt, in dem sie das Konzeptverwirklichen, das beide aus überzeugung bejahen. Der Mann will eine starke und selbstsichere Frau haben und hilft ihr, sich in dieser Richtung zu entwickeln. Und sie will, daß er ihren Widerstand aushält, um ihre Selbstbehauptung in der Zweierbeziehung erproben zu können. Aber allmählich bemerkt der Mann bei sich Ängste, die er nicht in Schach halten kann. Er wird unsicher oder sogar impotent. Und es drängen sich ihm Phantasien von sanfteren, passiven Frauen als Kontrastbilder zu der Partnerin auf, die er aus ihm unbewußten Gründen inzwischen als zu bedrohlich erlebt. Das heißt, auf dem Wege, die Macht abzugeben, um das Rivalitätsthema unwichtig zu machen, wird der Mann gerade von diesem Thema wieder hinterrücks überfallen. Diese Rivalitätsspannungen können auch die Frau in ihrer emotionalen und sexuellen Zuwendung erheblich beeinträchtigen. So ist es vielen kritischen jungen Leuten ergangen, die sich intensiv um die Verwirklichung ihres Ideals von einer völlig dominanzfreien Partnerschaft bemüht hatten, aber gefühlsmäßig außerstande waren, diesen Weg innerlich durchzuhalten. Für manche bedeutet das eine tiefe Kränkung ihrer Selbstachtung. Sie empfinden sich als Versager und können sich kaum verzeihen, nicht einmal in dem kleinen Raum der Zweierbeziehung eine Form von emanzipierter Solidarität glaubwürdig verwirklichen zu können, die ihnen als Prinzip zur Gestaltung der Gesellschaft so wichtig ist. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint sich aus diesen Beispielen zu ergeben, daß es bei eindeutig geklärtem Führungsverhältnis automatisch leichter sei zu lieben, als wenn die Machdrage offen ist. Als bedeute die Gleichstellung eher eine so große Aufforderung zum Rivalisieren, daß dadurch eine liebevolle Gefühlsbeziehung automatisch beeinträchtigt oder gar verhindert werde. Richtig ist die Folgerung, daß ein Machtgleichgewicht offensichtlich eine bedeutende Versuchung zu rivalisierendem Ver221
halten schafft. Aber es ist nicht die objektive Situation, die dieses Verhalten erzwingt. Die Auslöserwirkung der Situation besagt nur, wie stark Menschen innerlich am Machtprinzip hängen und wie leicht sich dieses Prinzip in ihnen dann durchsetzt, wenn sie durch das Fehlen eines klaren einseitigen Führungsverhältnisses verunsichert werden. Den Eltern, die ihre Kinder nur lieben können, solange diese unterlegen sind, geht es eben im Konflikdall mehr um Beherrschen als um Liehen. Und die Ärzte, die Patienten in einer ebenbürtigen Rolle schwer ertragen können, fürchten den Machtverlust so sehr, daß sie ihre Zuneigungsgefühle nicht festhalten können, wenn sie ihre überlegenheit bedroht sehen. Wie ist es aber bei den Paaren, bei denen jeder Teil mit dem anderen in der Absicht einig ist, ein komplettes Gleichgewicht ohne einseitige Führerschaft herzustellen, und denen schließlich dennoch die Liebe verlorengeh t? Relativ häufig melden sich solche Paare für eine Paartherapie an. Dabei läßt sich dann ein gründlicher Einblick in die Motive gewinnen. Regelmäßig findet sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Mann und Frau vertreten zwar theoretisch das Prinzip absoluter Ebenbürtigkeit und des Verzichts auf einseitige Dominanz. Und dieses Ideal mag in ihnen auch als Norm fest verwurzelt sein. Sie kämpfen darum, diesem Prinzip treu bleiben zu wollen. Aber beiden fehlt die innere Kraft, sich einander voll anzuvertrauen. Sie wollen ihre Emotionalität gewissermaßen gewaltsam überreden, mitzuspielen. Sie wollen sich trainieren, auf einer Basis zu lieben, die sie für vernünftig halten. Aber dann müssen sie zu ihrem Schrecken erkennen, daß weltanschauliche überzeugung eine Sache und emotionale Fähigkeit eine andere Sache ist. Kein theoretisches Prinzip ist stark genug, eine tiefsitzende Angst bezwingen zu können. Und bei den erwähnten Paaren zeigt sich eben vielfach, daß die innere emotionale Verfassung der Partner dem widerspricht, was sie sich im Kopf vorgenommen haben. Der Mann hält die zur Ebenbürtigkeit erstarkende Frau innerlich nicht aus. Seine in ihm anschwellende Furcht zeigt ihm, daß er sich mit seinem Konzept überfordert hat. Es 222
ergreift ihn Panik. Er sorgt sich, sich innerlich aufzulösen, seine Identität zu verlieren, wenn er seine Partnerin nicht doch letzten Endes in Schach hält. Er phantasiert, sie könnte sonst mit ihm anstellen, was sie wolle. Sie werde ihn ganz klein machen oder ihn verlassen, wenn er sich ihr völlig öffne. Also macht er im letzten Augenblick einen Rückzieher. Und dies kann sich seiner Bewußtseinskontrolle weitgehend entziehen. Anstatt seine Fluchtreaktion zu bemerken, wird er - das ist häufig der Fall - an der Frau plötzlich Züge entdecken, die seinen Rückzug rechtfertigen. Er wird sie bei irgendwelchen Manövern «ertappen», die für ihn einen Scheingrund liefern, sich reaktiv gekränkt zu fühlen und eine Verteidigungsposition zu beziehen. In Wirklichkeit benötigt er diese Anhaltspunkte, die er möglicherweise völlig falsch interpretiert, um seine Angst zu rationalisieren. Seine Selbstachtung erträgt es nicht, die Konfrontation mit der Tatsache auszuhalten, daß bei ihm doch wieder die Macht-Ohnmacht-Perspektive durchschlägt. Aber auch die Frau ist an der Verschärfung des Konfliktes vielfach aktiv beteiligt. Sie hat es ja ebenfalls schwer, die neue Rolle zu finden, die sich aus dem Konzept einer auf voller Ebenbürtigkeit basierenden Partnerbeziehung ergibt. Es geht ja nicht darum, daß ihr der Mann einen neuen Spielraum schenkt, sondern darum, daß sie sich eine stärkere Position durch eigene Aktivität und Durchsetzung erarbeiten muß. Und sehr viele junge Frauen sind aus ihrer Mädchenzeit noch angefüllt mit tausenden von unverarbeiteten Einschüchterungs- und Demütigungserfahrungen. Ihr Aufbruch zu einer stärkeren Eigenentfaltung kann sich daher gar nicht ohne Konflikte, ohne Schwankungen zwischen Reizbarkeit und Depressionen, zwischen Schadenfreude und Selbstvorwürfen vollziehen. Auf dem Weg nach vorn erträgt die Frau es dann nicht, wenn sie erlebt, daß der Mann - wie es zu den traditionellen männlichen Abwehrmustern gehört - sich im Konfliktfall abwendet und seine Emotionalität absperrt. Sie läßt sich das nicht mehr ohne weiteres gefallen und verlangt, daß er sich öffnet und stellt. Aber sie nimmt nicht wahr, daß es vielleicht bei ihm echte panische Angst ist, die ihn zum Rückzug nötigt. Und daß 223
sie ihn nur noch mehr erschreckt, wenn sie hinter ihm herjagt. Sie mißdeutet nämlich seine Einmauerung als Äußerung purer Herrschlust, so wie er umgekehrt ihre Penetranz als Entschlossenheit mißversteht, ihn kleinkriegen zu wollen. ~urzum: Beide versagen sich aus unbewußten gefühlsmäßigen Gründen die Lösung, die sie bewußt anstreben. Sie selber provozieren aus ihrem Inneren heraus einen Machtkonflikt im Widerspruch zu ihrem progressiven Ehekonzept. Und ihre Liebe scheitert nicht an dem Konzept und auch nicht an dem Fortschritt in der praktizierten symmetrischen Verteilung der Verantwortlichkeiten und Lasten in der Kooperation. Sondern sie scheitert daran, daß beide innerlich noch in hohem Maße von eben dem Machtmotiv bestimmt sind, gegen dessen äußere Manifestationen sie so erbittert ankämpfen. Dies ist übrigens eine ganz typische Konstellation, daß gerade diejenigen, die sich am vehementesten für das Gleichheitsprinzip einsetzen, oft innerlich besonders Mühe haben, es zu verwirklichen. Sie kämpfen für die Schwachen gegen die Vorrechte der Starken und verhalten sich, wenn sie erst den nötigen Spielraum gewinnen, genauso dominant, wie sie es immer verurteilt hatten. Aber um so mehr beweisen die Beispiele, wie tief das hierarchische Beziehungsmuster psychisch verwurzelt ist. Es besteht eine fast zwanghafte Anfälligkeit dafür, sich das Zusammenleben miteinander primär als eine offene oder versteckte einseitige Abhängigkeit vorzustellen. Eine Seite ist immer die kindliche und schwache, die andere die erwachsene und dominante. Und ist diese Struktur nicht klar erkennbar, dannistman unter Umständen sogar unbewußt genötigt, sie durch provokative Manöver hervorzulocken. Es regen sich Gefühle des Mißtrauens, die es stets zuwege bringen können, das Machtproblem zu produzieren, das man vermeiden zu wollen sich einredet. Dabei ist das Machtproblem bereits in dem Mißtrauen mitgegeben. Dieses legt selbst die Brände, die dann fälschlich als Bestätigung einer hellsichtigen Prognose uminterpretiert werden. Kurzum: die pauschale Formel, der stärkste Feind der Macht sei die Liebe, erscheint eher als eine beschwichtigende Verleugnung der alltäglichen gegenteiligen Erfahrung. Wir begegnen 224
viel seltener der Macht der Liebe als der Macht über die Liebe. Wo die Liebe das Machtprinzip außer Kraft zu setzen scheint, enthüllt sich oft genug im nachhinein, daß sich im Konfliktfall dennoch dieses gegen jene durchsetzt, daß also die Liebe an die Voraussetzung eines im Hintergrund wirksamen Dominanzverhältnisses gebunden bleibt. Wird dieses in Frage gestellt, schwindet die Liebe. Oder sie wird selbst zu einem Unterdrükkungsinstrument im Machtkampf umfunktioniert. Dem Abhängigen wird Liebe als Liebespflicht oder als Liebesschuld abgefordert. Und der Dominierende behält sich vor, den Liebesentzug als Erpressungsmittel einzusetzen. Gegenüber den traditionellen asymmetrisch-hierarchischen Urbildern von Liebesyerhältnissen zwischen Gott und Geschöpf, Eltern und Kind, herrschendem Mann und beherrschter Frau, gebendem Samariter und nehmendem Leidenden ist das Gegenmodell einer Liebe von gleich zu gleich noch nicht tiefer leitbild haft verankert. Unter anderem deshalb zweifeln manche gesellschaftskritische Gruppen grundsätzlich daran, daß zum Beispiel ausgeprägte emotionale Bedürfnisse nach Verbindung mit unterprivilegierten Gruppen ein taugliches Motiv für Mittelschichtangehörige seien, für eine gesellschaftliche Emanzipierung dieser Gruppe zu kämpfen. Man fürchtet, diese Gefühle enthielten bereits unbewußt jenes geschilderte Helfer-Machtbedürfnis, welches am Ende die politische Absicht durchkreuzen werde. In zahlreichen sozialpolitischen und sozialtherapeutischen Randgruppen-Projekten diskutierte man in den vergangenen Jahren endlos über die Gefährlichkeit «karitativer Ansätze». Und solche Mitarbeiter, die von sich zugaben, daß sie vor allem durch eine starke gefühlsmäßige Anteilnahme zu der Arbeit mit Randgruppen-Angehörigen veranlaßt worden seien, mußten sich oft eine zumindest skeptische Bewertung, wenn nicht eine krasse Verurteilung ihrer Beweggründe gefallen lassen. Man sagte ihnen: Karitative Gefühle könnten lediglich eine bevormundende Fürsorgehaltung zur Folge haben. Wenn man indessen Randg.ruppen aus ihrem Elend wirklich befreien wolle, dürfe man sich nicht derart samariterhaft zu ihnen herabnei225
gen, sondern müsse mit ihnen eine rein sachliche, theoretisch begründete Kooperation anstreben. Karitative Neigungen und ein politisch emanzipatorischer Ansatz schlössen einander aus, weil jene diesen immer blockieren würden. Nun erscheint es zwar sinnvoll, daß politisch engagierte Initiativgruppen sich nicht von irgendwelchen naiven Eiferern in einen blinden emotionalen Pragmatismus stürzen lassen wollen. Aber die radikale Verdächtigung «karitativer Neigungen» schlechthin macht deutlich, wie wenig man in gewissen Kreisen noch daran glaubt, daß Liebe überhaupt etwas anderes als eine Bestätigung etablierter Abhängigkeitsverhältnisse bewirken könne. Hier hat sich also die Hoffnung auf die Liebe als Waffe gegen die Macht inzwischen ins Gegenteil verkehrt, nämlich in die überzeugung von der längst durch die Macht definitiv korrumpierten Liebe: Wer aus einer höheren Sozialschicht «nach unten» liebe, benötige die Unterlegenheit des Partners als Bedingung seiner Zuwendung. Eine andere Interpretation der karitativen Helferhaltung wird gar nicht mehr erwogen. Das zwingt natürlich zu folgern, daß diese radikalen Skeptiker ihrerseits innerlich so total vom Machtprinzip besessen sind, daß sie anderen gewissermaßen gar nicht mehr erlauben können, zu einer nicht unterdrückenden Form der Zuneigung fähig zu sein. In Wirklichkeit können sich karitative Impulse durchaus mit einer emanzipatorischen Kooperation nicht nur vertragen, sondern für diese ein besonders tragfähiges Fundament liefern. So richtig es auch ist, daß sehr viele durch das in den gesellschaftlichen Strukturen verfestigte Machtprinzip innerlich bereits so weit korrumpiert sind, daß sie nur noch in der Oben-Unten-Richtung - oder von unten nach obenlieben können, so richtig ist es aber auch, daß andere gerade umgekehrt die emotionale Kommunikation als Weg zum Abbau von Unterdrückung wie von Selbstunterdrückung suchen. Das materialistische Vorurteil, daß die emotionalen Wünsche letztlich ausschließlich vom Interesse an der Verteidigung oder an der Verbesserung der eigenen ökonomischen Vorteile gelenkt seien, trifft glücklicherweise nicht, noch nicht in dieser Generalisierung zu. Es beschreibt eine häufige, aber nicht eine 226
durchgängige Haltung. Es erklärt die resignative Kapitulation vor dem komplexhaft verwurzelten Machtprinzip fälschlich als objektive Wahrheit. Es gibt auch eine Kontrast-Haltung, die emotionale Beziehungen stiftet, in denen voneinander abgespaltene und fragmentierte Gruppen ihren Gegensatz aufzuheben versuchen. In denen die Angst vor dem Isolationsmoment des Machtgefälles größer ist als die Angst vor der Aufhebung dieses Gefälles. Aber was kann diese Umkehr der Angst fördern?
15. Kapitel
Der Lebenskreis. Die Bejahung des Sterbens als Bedingung für den Untergang des Gotteskomplexes und die Gewinnung eines menschlichen Maßes zwischen Ohnmacht und AIImacht
«Der Tod aber ist nicht ein Ereignis. Er ist umfassende Ordnung, und sein Abglanz ruht auf jedem Wandel, jedem Untergang, jedem Schlaf und jedem Abschied. Er, als Gesetz, bestimmt auch die Farbe des Erlebens des Lebenden - es ist die Farbe des Leidens.» V. v. WEIZSÄCKER I03
Unsere traditionelle geistige Grundhaltung läuft auf die Paradoxie hinaus, daß wir um vermeintlicher Größe und Macht willen unbewußt darauf verzichten, das Gesamt unseres Lebens zu bejahen. Gemessen am kulturell verinnerlichten Ideal individueller Großartigkeit muß der einzelne nicht nur deshalb fortwährend Minderwertigkeitsgefühle niederhalten, weil seine soziale Bedeutung innerhalb der technisierten und überorganisierten Massengesellschaft immer mehr schrumpft, sondern vor allem auch deshalb, weil er durchschnittlicherweise nur während eines sehr begrenzten Ausschnittes seines Lebens so potent und fit sein kann, wie es sein Ideal ihm vorschreibt. Als Kind und Jugendlicher ist er hilfsbedürftig und unmündig. Und in einen vergleichbaren Zustand von Schwäche und Abhängigkeit gerät er im Alter. Dazwischen liegt eine mittlere Phase, die sogenannte «Höhe des Lebens». In dieser Phase allein kann er, wenn er Glück hat, eine Position erklimmen, die dem erlernten Maßstab für eine positive Selbstachtung einigermaßen entspricht. Er kann sich aus eigener Kraft ernähren wenn er dafür nicht zu krank, behindert oder arbeitslos ist. Er mag sich ein Häuschen bauen, sich zwischen Kindern und Eltern - an der Seite eines Ehepartners - auf dem Gipfel inner228
familiärer Macht fühlen. Jetzt ist er so kräftig, wie er als Kind immer sein wollte und als Alternder bald nicht mehr sein wird. Er kann sich auf dem Gipfel seiner flacheren oder steileren Karrierekurve, inmitten der für die Wirtschaft interessantesten Altersgruppe, als Konsument besonders geachtet und umworben fühlen. Aber bald ist der Höhepunkt überschritten. Die Kräfte lassen nach. Die kreativen Impulse der Selbsterneuerung werden schwächer. Die Attraktivität schwindet. Man braucht ihn nicht mehr. Die Inhalte des Rentenalters werden zur bloßen Selbsthilfe-Beschäftigungstherapie. Er wird zur «Randgruppe», wie immer dieser Status auch von der übrigen Gesellschaft schönfärbend verschleiert wird, damit diese sich vor dieser Phase nicht allzu sehr fürchten muß. Je mehr sich der einzelne jedenfalls den klassischen Werten des Machtprinzips verschrieben hat, um so mehr muß ihn die Erfahrung quälen, daß er über lange Strecken seines Lebens noch nicht oder nicht mehr in diesem Sinne vollwertig ist, wenn er es überhaupt jemals einigermaßen sein kann. Er nötigt sich geradezu freiwillig dazu, sich lange Zeit minderwertig zu fühlen, indem er in gewissen Lebensphasen glaubt, etwas sein zu müssen, was er nicht sein kann. Allerdings ist das, was nach Freiwilligkeit aussieht, in Wirklichkeit soziokultureller Zwang. Das Kind möchte seine Kindheit beileibe nicht vorrangig unter dem Aspekt eines reinen Trainings für den «Lebenskampf» der Mittelphase verstehen. Es möchte sich als Kind wohl fühlen und sich dagegen wehren, daß man ihm ein Leben aufnötigt, das immer mehr zu einer bloßen vorwegnehmenden Simulation des Erwachsenenbetriebs mißrät. Und die Alten würden ihre Lebensspanne gern nach eigenen Bedürfnissen und Begabungen interessant machen und ausfüllen, anstatt als Komparsen auf der Bühne des Fitness- und Potenztheaters zu schauspielern, daß ihnen das Immer-größer-, kräftiger-, toller-Werden das Höchste bedeute - während sie sich in Wirklichkeit damit abzufinden haben, sich auf das Immer-kleiner-und-gebrechlicher-Werden und auf das Sterben vorzubereiten. Und selbst in der Mittelphase, auf dem Gipfel der Fitness-Kurve, würde es der Mensch - vor 229
die freie Wahl gestellt - gewiß vorziehen, den momentanen Vorsprung an Macht und Potenz nicht so wichtig zu nehmen, um nicht bereits jetzt die baldige Entmachtung und Schwächung als drohende Katastrophe fürchten und verdrängen zu müssen. So ergibt sich das Paradoxon, daß im Grunde jede Altersphase um die Chance gebracht wird, sich in einem ihr gemäßen Sinn zu erfüllen. Wenn das Leben nicht als Zyklus begriffen wird, sondern als eine Linie, die nach Möglichkeit immer höher und letztlich in die Unendlichkeit führen sollte, kann der Mensch niemals auch nur einigermaßen spannungsfrei mit dem Widerspruch fertig werden, daß die Kurve nur eine Weile ansteigt und dann bis zum Schlußpunkt abfällt. Die Herrschaft über das Kausalgesetz, die auch die berechenbare Vermeidung des Sterbens einschließen sollte, funktioniert hier nicht. Die Kausalkette läuft in die Unendlichkeit weiter. Aber die «Maschine Organismus», die wie eine Uhr ebenfalls - durch technischen Fortschritt - zu unendlichem Weiterlaufen gebracht werden sollte, fügt sich nicht in diese Perspektive. Das Bild also, nach dem der einzelne sein Leben entwerfen zu müssen lernt, paßt nicht zu dem, was das Leben mit ihm macht. Er tritt an auf einer Bahn, die ganz anders verläuft, als er sich eingerichtet hat. Seine Vision von der irgendwann endgültig zu kontrollierenden und zu beherrschenden Zukunft hindert ihn, sich jemals voll auf das Jetzt und Hier innerhalb einer Lebenskurve einzulassen, die er - selbstschädigend - als ein Noch-Nicht eines Anstiegs und ein Nicht-Mehr eines Abstiegs interpretiert. Würde er begreifen, daß er sich in jedem Augenblick inmitten eines Lebenskreises befindet, dann gäbe es nicht die ewigen Frustrationen des Noch-Nicht und des Nicht-Mehr. Dann wäre jeder Punkt in diesem Kreise gleich sinnvoll. Und das Sterben wäre die Vollendung des Kreises, zu jeder Zeit mitbedacht. Ein Abschluß, den sinnvoll vorzubereiten eine wesentliche Aufgabe wäre - während das Machtprinzip ein Leben lang nur die Vermeidung oder zumindest die unendliche Hinauszögerung eines sinnlos erscheinenden Absturzes zu bewerkstelligen fordert. 23°
Nun steckt in. dem traditionellen Fortschrittsglauben das Angebot einer fiktiven Tröstung für die Erfahrung der absteigenden Fitness-Kurve und des Sterbens. Der einzelne könnte sich sagen: Ich selbst, meine Generation und die vorhergehenden sind zwar noch nicht zu einer endlosen Streckung der Lebenszeit und zur dauerhaften Erhaltung einer großartigen Potenz in der Lage bzw. in der Lage gewesen. Aber jede Generation trägt dazu bei, dieses Ziel näher zu rücken. Und irgendwann in der Zukunft werden es unsere Enkel erreicht haben. Das hieße: Jetzt gibt es noch den Abfall der individuellen Lebenskurve, weil wir noch nicht ganz soweit sind, die Ursachen der Arterienverkalkung und der Organermüdung zu beseitigen. Aber gewissermaßen auf den Schultern unserer Generation wird die nächste oder die übernächste die Früchte der Forschung aller vorhergehenden Generationen ernten. Es gäbe dann doch, auf das Ganze der Zivilisation bezogen, jene Entwicklungslinie eines permanenten Höher-Hinauf in die Unendlichkeit. Und der einzelne könnte sich zum Trost dafür, daß er selbst im Widerspruch zum Omnipotenzideal kaputtgehen muß, sagen, daß er wenigstens indirekt auch an jener permanent aufsteigenden Kurve der Menschheit teilnimmt, die sein individuelles Leben überformt. Aber eben dieser Fortschrittsglauben trägt nicht mehr. Die Prognosen der Futurologen machen deutlich, daß bereits für ein befristetes überleben der Menschheit ökologische und ökonomische Probleme bewältigt werden müssen, deren Lösung höchst ungewiß ist. Das kontinuierliche Höher-Hinauf im Sinne der klassischen Wachstumsideologie ist auf jeden Fall nich t mehr denkbar. Also kann man sich nicht mehr sagen: Die narzißtischen Allmachtshoffnungen stehen zwar in keinem sinnvollen Bezug zum individuellen Lebensverlauf, sie rechtfertigen sich jedoch gewissermaßen als die kollektiv gebündelte gewaltige Schubkraft, um schließlich die Menschheit im Ganzen in die großartige Höhe zu treiben, die das Ideal fordert. Dieser Traum ist im Begriff zu zerrinnen. Damit entfällt das entscheidende Argument für die derzeit Lebenden, die Sinnentleerung ihrer Gegenwart gegen das Ziel einer herrlich fort23 1
geschrittenen Zukunft aufzurechnen, indem diese sich nämlich als Fata Morgana erweist. Es kommt nicht mehr darauf an, vorausschauend mit größtem Aufwand das Arsenal an technischen Möglichkeiten für die nächsten Generationen zu erweitern, damit diese sich im Sinne eines modernen Steins der Weisen schließlich gegen Krankheiten und Altern definitiv feien, das Erbgut positiv manipulieren und sich einen paradiesischen Lebenskomfort sichern können. Diese Zielvorstellungen sind eine irreale Ausgeburt unseres neurotischen Ohnmacht-Allmacht-Komplexes. Die jetzt Lebenden müssen ihren Sinn für sich selbst finden und es der nächsten Generation überlassen, sich neu zu entscheiden. Das heißt jedenfalls, den Gedanken des kreisfärmigen Abschlusses des eigenen Lebens ernst zu nehmen. Das bedeutet eine größere Rücksichtnahme auf die Nachfolgenden, als sie mit der bisherigen Einstellung verbunden war. Bisher hat jede Generation die nächste mit dem Auftrag überlastet, die eigenen nur mangelhaft realisierten Fortschrittshoffnungen besser erfüllen zu müssen. Um diesen «Fortschritt» weiterhin produzieren zu müssen, erbt bislang jede Generation von ihrer Vorgängerin eine immer gigantischere und kompliziertere, mit dem gesellschaftlichen Betrieb verkoppelte Supertechnik, die von der jeweils nachfolgenden mit großer Mühe in Gang gehalten werden muß, um ein totales Chaos zu vermeiden. Insofern ist der Abbau dieser Form von stafettenartiger Vorprogrammierung der Zukunft eine weit verantwortungsvollere Strategie als die bisherige Praxis, die darauf beruhte, daß die einen die nächsten immer wieder mit dem Druck eines narzißtischen Allmachtsideals belastet hatten, mit dessen Hilfe sie ihre Unfähigkeit verdeckt hatten, sich im Zyklus ihres eigenen Lebens innerlich zurechtzufinden. Der Gedanke des Lebenskreises enthält die Vorstellung, daß es nicht immer weiter nach vorn, sondern in der letzten Lebenshälfte wieder zurückgeht. Diese Vorstellung macht Angst, weil eben die Vorwärts-Perspektive uns als die allein wertvolle anerzogen worden ist. Das Wort Rückschritt ist kaum anders 23 2
denn als Vorwurf oder Selbstvorwurf geläufig. Alles was gut ist, weist nach vorn, ist «progressiv». Nach vorn blickt, wer Mut hat, zuversichtlich und stark ist. Wenn sich die Linie aber zu einem Kreis schließt, dann führt sie automatisch wieder zurück. Dann bedeutet Nach-vorn-Gehen schließlich ohnehin eine Rückkehr zum Anfang. Aber Rückkehr ist in diesem Fall keine Kapitulation, sondern umgekehrt eine aktive Vollendung des Lebenszyklus. Daß in der Lebensbewegung eine Rückkehr enthalten sei, ist ein uralter Gedanke der abendländischen Philosophie. Er tauchte bereits in PLATONS «Gastmahl» auf. Dort ließ PLATON Aristophanes den berühmten Mythos erzählen, daß die Sexualität die beiden Menschenhälften wieder zusammenführe, die in einer vorgeburtlichen Urzeit einmal vereint gewesen seien. 69 S. FREUD hat den Gedanken an eine dem Organismus innewohnende Tendenz, zu einem früheren Zustand zurückzugehen, in seine Theorie vom Todestrieb eingearbeitet. Er knüpfte dabei an die Erfahrung des sogenannten «Wiederholungszwanges» an. In «Jenseits des Lustprinzips» schrieb er, daß alle organischen Triebe «konservativ», auf «Wiederherstellung von Früherem» gerichtet seien 27 : «Der konservativen Natur der Triebe widerspräche es, wenn das Leben ein noch nie zuvor erreichter Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Er~ fahrung annehmen dürfen, daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: das Leblose war früher da als das Lebende.)) Todestrieb und Eros wurden von FREUD einander gegenübergestellt 27 : «Aufgrund theoretischer, durch die Biologie gestützter überlegungen supponierten wir einen Todestrieb, dem die Aufgabe gestellt ist, das organisch Lebende in den leblosen Zustand zurückzuführen, während der Eros das Ziel verfolgt, das Leben durch immer weitergreifende Zusammenfassung der in Partikel zersprengten lebenden Substanz zu 233
komplizieren, natürlich es dabei zu erhalten. Beide Triebe benehmen sich dabei im strengsten Sinne konservativ, indem sie die Wiederherstellung eines durch die Entstehung des Lebens gestörten Zustandes anstreben. Die Entstehung des Lebens wäre also die Ursache des Weiterlebens und gleichzeitig auch des Strebens nach dem Tode, das Leben selbst ein Kampf und Komprorniß zwischen diesen beiden Strebungen.» Aus der Annahme des Todestriebes folgt, daß es auch ein natürliches psychisches Korrelat dieses Triebes, ein Bedürfnis zum Sterben geben muß. Ein solches Bedürfnis glaubte FREUD in der «herrschenden Tendenz des Seelenlebens» nach «Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung der inneren Reizspannung» zu erkennen. Dieses Streben benannte er nach einem Ausdruck von B. Low als Nirwana-Prinzip.2 7 Mit der Begründung der Todestrieb-Theorie verknüpfte FREUD eine neue Erklärung der Aggression. Sadismus und Destruktion erschienen ihm nunmehr als äußere Ableitungen des Todestriebes unter Vermittlung des Eros. Der Eros wolle die Selbstzerstörung durch den Todestrieb aufhalten und lenke deshalb die destruktive Energie nach außen ab. Der Haß wurde zur veräußerlichten Manifestation des Todestriebes. Die Mehrzahl der Psychoanalytiker hat sich inzwischen darauf geeinigt, die FREuDsche Todestrieblehre ausdrücklich oder stillschweigend fallenzulassen. Und ERIKSON, der versucht hat, die FREuDsche Entwicklungspsychologie zu ergänzen, spricht im Zusammenhang der Vorbereitung auf das Sterben nicht mehr von einem Trieb oder einem natürlichen Bedürfnis, sondern nur noch von einer mit der Ich-Integration verbundenen Aufgabe, auf der dritten Stufe des «reifen Erwachsenenalters» den einen und einzigen Lebenszyklus zu bejahen. Sonst stelle sich Verzweiflung darüber ein, daß die Zeit zu kurz für den V ersuch sei, ein neues Leben zu beginnen und andere Wege der Integration einzuschlagen. 2o Auch FREUD selbst hat die Bedeutung seiner metapsychologisehen Todestrieblehre dadurch relativiert, daß er sie nicht in die Behandlungstheorie eingebaut hat. Sie blieb gewissermaßen als spekulativer Hintergrund von den Konzepten abgespalten, 234
die sich unmittelbar auf die Therapie richten. Ziel der Therapie blieb die Aufarbeitung der kindlichen Verdrängungen. Deshalb riet FREUD auch, die psychoanalytische Methode nur Interessenten bis zu einem mittleren Lebensalter zu empfehlen, weil er die psychische Plastizität in höheren Altersphasen nicht mehr als hinreichend ansah, um durch eine Nachbearbeitung unbewältigter Kindheitsprobleme noch strukturelle Veränderungen zu ermöglichen. Dies allein besagt schon, daß er darauf verzichtete, die Psychoanalyse als Hilfe zur Bewältigung der neuen und speziellen Fragestellungen der zweiten Lebenshälfte anzubieten. Wenn man indessen mit FREUD davon ausgeht, daß es ein natürliches psychisches Bedürfnis zu einem kreisförmigen Abschluß des Lebens gibt, und wenn man der Verabsolutierung der traditionellen Omnipotenz-Ideologie zu widerstehen vermag, dann ergeben sich neue Perspektiven hinsichtlich der Maßstäbe einer sinnvolleren Lebensgestaltung. Es entfällt der Zwang, sich immerfort nach den Kriteriennarzißtischer Großartigkeit bewerten zu müssen. Das Kind müßte sich nicht immer in eine Zukunft versetzt träumen, in der es endlich groß und mächtig genug ist, und der Alternde müßte sich nicht immer nur neidvoll und bedrückt die früher innegehabte und jetzt entschwundene Stärke und Macht zurückwünschen. Der Mensch könnte sich jeweils als das bejahen, was er ist, und nicht immer nur als das, was er hofft zu werden, oder als das, was ervielleicht - einmal war. Und das Ziel der Aufarbeitung kindlicher Verdrängungen bestünde für einen Erwachsenen nicht nur darin, sich nachträglich verschüttete Energien für die Stärkung der gegenwärtigen Potenz zuzuführen, sondern es ginge auch darum, sich mit der Kindheit als Kindheit auszusöhnen und sie nachträglich voll zu bejahen. Aber gleichlaufend mit der Aussöhnung mit den unbewältigten Resten der Vergangenheit wäre die Aufgabe zu erfüllen, sich positiv auf die bis ins hohe Alter zu leistenden neuen Entwicklungsschritte vorzubereiten. Es käme darauf an, die mit der zweiten Lebenshälfte verbundenen neuen spezifischen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszuleben, anstatt sich nur defensiv auf die Behauptung 235
einer ewigen Jugendlichkeit, Fitness und Attraktivität einzurichten - und sich dabei einer wachsenden Depressivität auszuliefern. Eine solche Umorientierung würde aber auch die Beziehung zwischen den Altersgruppen erheblich verändern können. Die Eltern würden nicht immer nur ungeduldig und sorgenvoll darauf achten, was aus ihren Kindern werden muß oder nicht werden darf. Denn sie hätten es nicht mehr nötig, ihre eigene Altersphase als die einzige «Höhe des Lebens» anzusehen, der gegenüber die Kindheit eine bloße Vorbereitungsphase wäre. Jetzt könnten sie davon ausgehen, daß die Kindheit gleichermaßen eine «Höhe des Lebens» darstellt. Also wären die Kinder darin zu unterstützen, sich in einer kindgemäßen Umwelt einzurichten und ihre Beschäftigungen und Kommunikationen nach den Phantasien und Regeln zu gestalten, die ihnen gemäß und für ihr Sich-wohl-Fühlen maßgeblich sind. Die vom Machtprinzip entlasteten Eltern wären auch weniger darauf angewiesen, sich ihrer überlegenheit über die Kinder zu versichern und solche Anpassungsforderungen zu erheben, die lediglich ihrer eigenen inneren Selbstbestätigung dienen. Sie würden in den Abweichungen des kindlichen Denkens und Verhaltens von ihren eigenen Normen nicht immer gleich eine Gefährdung ihrer Dominanz erblicken, die sie jedenfalls nicht um einer genügend hohen Selbstachtung willen praktizieren müßten. Und die jungen Leute hätten es leichter, sich quälende Rivalitätsspannungen mit ihrer Elterngeneration zu ersparen. Ihre alternden Eltern würden sich wiederum auf einer anderen «Höhe des Lebens» sehen, sie müßten sich nicht im Blick zurück zäh an alte Machtpositionen klammern. Und die jungen Leute würden in ihren Eltern ihrerseits nicht mehr den Anblick eines eigenen negativen Zukunftsaspektes fürchten oder gar hassen müssen. Sie könnten umgekehrt durch unbefangenen Kontakt mit den Eltern lernen, sich auf eine Zukunft zu freuen, die diese als positiv und sinnvoll vorführen. Wer sein Leben als Kreis begreifen und darin alle Phasen gleichermaßen bejahen kann, gewinnt damit ein neues Verhältnis zu dem Gegensatz von Größe und Kleinheit, von Macht 23 6
und Leiden. Er akzeptiert sich sowohl als stark wie als gebrechlich, als fit wie als hilfsbedürftig. Und deshalb kann er sich auch auf offene Kommunikation mit Menschen und Gruppen einlassen, die das repräsentieren, was er gerade nicht ist. Und er muß nicht infolge eigener Leidensunfähigkeit nach teuflischen Leidensurhebern fahnden oder das Leiden an Schwache delegieren, es durch Surrogatbefriedigungen betäuben oder überkompensatorisch bekämpfen. Er benötigt auch nicht mehr den Wirbel und die aufgesetzte Munterkeit einer Party-Kultur, um untergründige Depressivität niederhalten zu können. Aber diese Umorientierung kann der einzelne nicht allein zustande bringen. Man kann sich die allmähliche überwindung des Gotteskomplexes nur als einen gemeinsamen Prozeß vorstellen, bei welchem man einander hilft, die Angst vor der Ohnmacht und dem Leiden und die Idealisierung der Omnipotenz abzubauen. Vom einzelnen aus gesehen ist an eine kontinuierliche Wechselbeziehung zu denken: Er kann durch offene Anteilnahme an fremder Schwäche lernen, seine eigene Schwäche zu tragen. Aber das Akzeptieren der eigenen Schwäche stärkt wiederum als Voraussetzung die Möglichkeit, sich fremder Schwäche zuzuwenden. Die öffnung zum eigenen Innern hin und die öffnung in sozialer Kommunikation gehören zusammen. Der traditionelle Ansatz der älteren Psychoanalyse lautete, erst müsse das Individuum lernen, mit seinem eigenen Innern freier umzugehen. Dann werde es sich auch für den sozialen Kontakt freier öffnen können. Aber dann hat man bemerkt, daß ja die psychoanalytische Therapie selbst bereits ein solcher Kontakt ist und daß die dialogische Beziehung die intraindividuelle Introspektion vermittelt. Inzwischen hat die Bewegung der psychosozialen Therapieformen und der Selbsthilfegruppen die allgemeine Erwartung verdeutlicht, daß der einzelne die soziale Beziehung benötigt, um in ihr zu lernen, sich einschließlich seiner bislang verdrängten und abgespaltenen Selbst-Aspekte zu verstehen und einzubringen. Der einzelne kann letztlich seinen Lebenszyklus als Zyklus nur innerhalb eines sozialen Zyklus begreifen. Wenn er sich einläßt auf den 237
offenen Umgang mit den Repräsentanten von all dem, was er war oder sein wird, was er werden möchte oder gerade um keinen Preis sein zu dürfen glaubt, erst dann wird er seine Geschichte, seine Zukunft und seinen derzeitigen Standpunkt richtig einschätzen können. Diejenigen, die ihn ängstigen oder erschrecken, zeigen ihm, was ihn an seiner eigenen Vergangenheit erschreckt und zugleich an seiner Zukunft ängstigt. Er würde, wenn er sich mit dem erschreckenden Aspekt nicht auseinanderzusetzen imstande wäre, seinen zyklischen Weg nicht vollenden können. Denn diese Vollendung bedeutet, daß man zu seinem Anfang zurückzugehen vermag. Der Kreis kann sich aber nur schließen, wenn man das Ganze seines zurückgelegten Weges bejahend im Auge behalten und als sinnvollen Teil akzeptieren kann, dessen kontinuierliche Vollendung ansteht. Sonst sucht man immer wieder neue Ansätze neben sich oder außer sich, will Teile des gelebten Lebens eliminieren, will das eine oder andere oder alles noch einmal von vorn anfangen. Man glaubt, den unaufhaltsamen Lebensprozeß anhalten, sich einem Schicksal verweigern zu können, das unausweichlich ist, das man aber mit dem trotzig behaupteten Selbstbild nicht vereinbaren zu können glaubt. Man wird indessen immer wieder andere in der Nähe finden, die einem helfen können, die verdrängten Stücke des inneren Schicksals, die Gespensterwelt des negativen Selbst anzuschauen und in die Zukunft bewußt zu integrieren. Aber die anderen können diese Hilfe nur bieten, wenn man sie selbst nicht nur offen anschaut, sondern auch ihnen hilft.
16. Kapitel
Das Urphänomen Sympathie als Disposition für Solidarität und Gerechtigkeit
«Letzter Grund der Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens ist die Liebe und nicht die Moral.» C. F. v. WEIZSÄCKER 102
Die natürliche Bedingung für die Wechselbeziehung zwischen Selbsthilfe und sozialer Hilfe ist die alles menschliche Leben verbindende Anlage zur Sympathie. Das ist nicht nur die Fähigkeit, sich wechselseitig einzufühlen. Sondern auch die spontane Bereitschaft, eher der als Notwendigkeit erlebbare Hang zu einem spontanen Mitfühlen. Der einzelne findet sich, wenn er sich nicht gewaltsam egozentrisch selbst isoliert, ursprünglich und spontan in die Gemeinschaft eingebunden. Unter den Zwängen des Machtprinzips und des egozentrischen Rivalisierens wird die als Sympathie ursprünglich und natürlicherweise gegebene emotionale Beziehung unter allen Einzelwesen kaum mehr wahrgenommen. Nach den magischen Denkern der Renaissance waren es erst wieder SHAFTESBURY, dann später SCHOPENHAUER, VON HARTMANN, BERGSON und schließlich SCHELER, welche die Sympathie als ein soziales Urphänomen und als die eigentliche Chance zur Begründung eines Zusammenlebens in Solidarität herausgestellt haben. Es erscheint wichtig, den ursprünglichen und eigentlichen Sinn von Sympathie wiederzubeleben, nachdem das Phänomen hinter den oberflächlichen Tatbeständen zu verschwinden droht, die neuerdings nur noch mit dem Wort bedacht werden. Da geht es ja lediglich noch darum, Sympathie als Etikett für Nett-Finden bzw. Nett-gefunden-Werden zu benutzen. 239
Für die magischen Denker der Renaissance wie etwa für PARACELSUS bedeutete Sympathie den geistigen Zusammenhang aller Dinge des Universums. In ähnlicher Weise hat SCHOPENHAUER 400 Jahre später den Begriff wieder aufgenommen und darin alle Erscheinungen zusammengefaßt, in denen der einheitliche Weltgrund erfahrbar werde. Dieser Weltgrund, das Ding an sich, von SCHOPENHAUER als Weltwille verstanden, beweise seine Einheitlichkeit in der Vielheit der Dinge durch die Verbindung, welche die Sympathie unter ihnen herstelle. Die Sympathie wird bei SCHOPENHAUER zum Oberbegriff für drei Phänomene: «I. Das Mitleid, welches, wie ich dargetan habe, die Basis der Gerechtigkeit und Menschenliebe, caritas, ist; 2. die Geschlechtsliebe mit eigensinniger Auswahl, amor, welche das Leben der Gattung ist, das seinen Vorrang vor dem der Individuen geltend macht; 3. die Magie, zu welcher auch der animalische Magnetismus und die sympathetischen Kuren gehören. Demnach ist die Sympathie zu definieren: das empirische Hervortreten der metaphysischen Identität des Willens durch die physische Vielheit seiner Erscheinungen hindurch, wodurch sich ein Zusammenhang kundgibt, der gänzlich verschieden ist von dem durch die Formen der Erscheinung vermittelten, den wir unter dem Satze vom Grunde begreifen.»8 7 Die Sympathie liefert also SCHOPENHAUER außerhalb der intellektuellen Logik, gewissermaßen durch die «logique du creur», den Beweis für den metaphysischen Weltzusammenhang. Nahe bei SCHOPENHAUER befindet sich SCHELER, wenn er 1913 in seiner der Sympathie gewidmeten Monographie schreibt: « ••• neige ich in der Tat zu der Meinung, daß die Einsfühlung sowohl ein subjektiver Bewußtseinsindex ist für den metaphysischen Bestand der Einheit alles Lebendigen als auch ein Innewerden ihrer (im Falle gegenseitiger Einsfühlung), als endlich die ontische Voraussetzung für die reale Möglichkeit dieses Phänomens. »81 Das Kernphänomen der Sympathie ist das Mitfühlen. Und
dieses Phänomen ist - unabhängig von allen darauf aufbauenden metaphysischen Theorien - insofern ein Mysterium, als es nicht weiter ableitbar und erklärbar ist. Alle unsere Forschungen, die sich mit «Projektion», «Delegation», «übertragung», «Suggestion» usw. beschäftigen, erweisen zwar, daß sich in die emotionalen Beziehungen zwischen den Individuen alle möglichen Prozesse einmischen, die man aus der Psychologie des Individuums ableiten kann. Man kann, wie hier vielfältig geschehen, das Entlastungsbedürfnis als Triebkraft für die projektive Abspaltung eigener seelischer Anteile herausarbeiten. Und man kann nachweisen, daß in jede Einfühlung auch inhaltliche Elemente aus der Psyche des sich Einfühlenden eingehen. Aber ein Urphänomen bleibt die Tatsache eines unmittelbaren instinktartigen Mitempfindens, Sich-Mitfreuens und Mitleidens überhaupt. Diese instinktartige Anteilnahme, in der die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich aufgehoben wird, ist durch den Begriff der Identifizierung nur fachlich benannt, aber nicht erklärt. Im Midühlen greift das einzelne Ich über sich selbst hinaus. Umgekehrt kann man aber genauso gut sagen: Das Ich wird ergriffen, es wird über sich selbst hinausgeführt. Freilich ist ein frühes Innehalten in diesem Vorgang möglich, der an sich dazu drängt, reale Verbindung zwischen Menschen herzustellen. Es gibt die narzißtische Form einer Gefühlsbeziehung, die SCHELER als bloßes Nachfühlen vom Mitfühlen abgrenzt. «Das Nachfühlen», so definiert SCHELER, «... gibt nur die Qualität des fremden Zustandes - nicht seine Realität. Darum können wir wohl die Freuden und Leiden von Romanpersonen, von fiktiven Gestalten des Dramas, die der Schauspieler darstellt, nachfühlen ... »81 Dieses Nachfühlen geschieht indessen vielfach nicht nur in bezug auf fiktive Figuren, sondern auch in bezug auf wirkliche Personen oder Gruppen. Aber die Art, wie diese anderen erlebt werden, bzw. wie das Erlebnis verarbeitet wird, unterscheidet sich nicht von der Identifizierung mit den Gestalten eines Theaterstückes. Folgendes Beispiel erscheint zur Illustration von narziJ~tischem Nachfühlen tauglich:
In meinem Buch «Flüchten oder Standhalten» schilderte ich den Fall einer obdachlosen Mutter von sieben Kindern, der das kränklichste ihrer Kinder in einem unbeheizbaren Verschlag auf einem Wohnwagen-Abstellplatz bei 4 Grad Kälte erfroren war. Man hatte nicht den Behörden, sondern der Mutter den Prozeß gemacht, 0 bwohl diese analphabetische Frau ein Jahr lang bei den Ämtern darum gekämpft hatte, eine beheizbare Wohnung zugewiesen zu bekommen. Das Schicksal der Frau war im Fernsehen dargestellt worden. «Bild» hatte mit großen Schlagzeilen berichtet. Millionen bekamen den Verlauf der Gerichtsverhandlung vorgeführt. Allen mußte aus der Berichterstattung deutlich werden, daß die Frau nach wie vor in großer akuter Armut und Bedrängnis lebte. Und man hätte erwarten können, daß zumindest ein gewisser Anteil der vielen, die sich über das Schicksal der Familie so sehr erregten, sich aufgerafft hätte, dieser Mutter ein freundliches Wort zu schreiben oder ihr oder den Kindern ein kleines Geschenk zu schicken. Aber nur eine Handvoll Menschen brachte es fertig, zu der Frau Verbindung aufzunehmen bzw. irgend etwas Hilfreiches zu tun. Die Masse der übrigen reagierte wie auch sonst bei solchen Tragödien: Man begnügt sich mit dem gefühlten Erschauern. Vielleicht stimmt man sich noch mit Angehörigen und Freunden darin ab, miteinander ähnlich zu fühlen. Man redet sich ein, echtes Mitleid zu empfinden. Aber wirkliches Midühlen und Mitleiden hieße, mit Betroffenen zu kommunizieren, mit ihnen als realen Personen umzugehen. Das Massenpublikum hatte sich im vorliegenden Fall jedoch ausschließlich mit dem publizistisch aufbereiteten Bild der Frau und ihrer Familie beschäftigt, so wie man sich auch alltäglich von erfundenen Rührgeschichten im Fernsehen ansprechen läßt, bei denen man weiß, daß die Schauspieler lediglich Erdachtes vorführen. Diese Reaktionsweise bedeutet also ein bloße·s Nachfühlen. Wird ein authentischer aktueller Vorgang nachgefühlt, wird dessen Realität ausgeklammert. Das nachfühlende Publikum nimmt keinen echten Anteil an den betroffenen Personen. Es fühlt also nicht wirklich mit, nämlich zusammen mit diesen anderen Menschen. Es kommt kein Miteinander zustande. Das Publikum benutzt die Begebenheit lediglich als Anlaß, bereitliegende narzißtische Rührungsempfindungen zu kanalisieren. Und bei dieser Kanalisierung findet sogar eine Pervertierung der ursprünglichen Sympathieregung statt. Man rückt die Betroffenen, denen sich zuzuwenden der Sympathieimpuls eigentlich verlangt, von sich fort. Man läßt sie zu irrealen Phantompartnern verschwimmen und lügt die bloß narzißtisch verarbeiteten Gefühle womöglich noch als Zeichen von sozialer Sensibilität um.
Es ist nicht zu verkennen, daß die Produktion und die entsprechende Verarbeitung von Auslöser-Stories für ein solches narzißtisches Nachfühlen in unserer Zivilisation längst zu einer industriell ausgebeuteten Tradition geworden sind. Fernsehen, Illustrierte und Boulevard-Zeitungen leben weitgehend von der Sättigung des Bedarfs, diese Reaktion fortwährend zu reproduzieren. Die Isoliertheit der Menschen innerhalb der egozentrischen Rivalitätsgesellschaft ist nur dadurch halbwegs erträglich, daß eine laufende emotional rührende Scheinkommunikation mit Phantompartnern inszeniert wird. Diese Art der «psychohygienischen» Kanalisierung von passiven Empfindungen, von Schein-Mitgefühl und Schein-Mitleid war bislang nötig im Zusammenhang mit der Angst, sich echt sympathisierend einzulassen und dad urch Machtvorteile einzubüßen. Nebenbei erscheint bemerkenswert, daß viele der berühmtesten Stories, die Nachfühlen auslösen, bereits in sich ein so starkes narzißtisches Element enthalten, daß die geweckten sozialen Gefühle durch gleichzeitig geschürte egozentrische Regungen aufgefangen werden. Dies ließe sich an vielen Beispielen vom Typ der Michael-Kohlhaas-Geschichte erweisen. Natürlicherweise drängt der Sympathie-Impuls über das bloße Nachfühlen hinaus zum echten Mitfühlen. In diesem erst wird eigentlich An-teil genommen. Entsprechend dem Wortsinn teilen die aufeinanderbezogenen Partner miteinander. Geht es um Leid, so nimmt der Mitfühlende das Leid des ursprünglich Betroffenen mit auf sich. Er trägt es mit diesem und entlastet den anderen damit. Das besagt ja auch das weise Sprichwort von dem geteilten Leid, das dadurch nur noch halbes Leid sei. Im echten Mitfühlen wird auch die hierarchische Struktur einer Beziehung aufgehoben. An die Stelle des Oben-Unten-Verhältnisses tritt eine Gleichsetzung, ein volles solidarisches Teilen miteinander. Damit erfüllt sich das Prinzip, das ursprünglich in dem steckt, was man Sympathie-Instinkt nennen könnte. Dies ist das Prinzip der mitfühlenden Gleichsetzung. Aber es bedarf einer sozialen Entscheidung, den Sympathie-Impuls bis zu diesem Ziel durchzuhalten. Das Ziel ist die Anerkennung des Gleich-Seins im Anders-Sein. Und zwar 243
eines unmittelbaren und nicht eines indirekten über die Gattung oder Gott vermittelten Gleich-Seins. Reicht die emotionale Identifizierung nur bis zur Gleichsetzung in der Gattung Mensch, verbleibt sie unter der Herrschaft des Machtprinzips. Sie läßt dann Tor und Tür offen für die Möglichkeiten einer heuchlerischen Verschleierung von U nterdrückungsverhältnIssen. Anekdotisch zugespitzt kommt die Scheinheiligkeit eines nur mittelbaren Pseudo-Mitgefühls etwa in einem Eheberatungsbuch von O. FUNCKE von 1908 zum Vorschein. Keineswegs, so heißt es da, sollte man den Forderungen der weiblichen Dienstboten nach mehr Freiheit, Lohn, Wohnung außerhalb des Hauses der «Herrschaft» nachgeben. Dennoch gebühre der Dienstmagd jegliche Teilnahme und Liebe. «Halte Dir nur vor Augen, daß auch eine neue Magd an demselben Kreuz auf Golgatha und durch dasselbe Blut J esu Christi und zu demselben Heil und derselben Herrlichkeit erlöst ist wie Du. Schreibe Dir irgendwo, wenn Du ein schlechtes Gedächtnis hast, mit leuchtenden Buchstaben auf die Wand, meinetwegen in Englisch oder Französisch: und mache Ernst damit!»35
Das Urphänomen der Sympathie ist erst voll verwirklicht in der mitfühlenden Gleichsetzung von Mensch zu Mensch. Es beruht letztlich auf dem Mysterium einer ursprünglichen Gefühlsverbindung zwischen eigenem und fremdem psychischen Leben. Jeder wird, wenn er sich offen hält, spontan von den emotionalen Prozessen in seinem Umfeld ergriffen. Er spürt, was sich in anderen abspielt. Er wird mit davon betroffen, was andere fühlen. Ein elementares Teilphänomen ist die «Gefühlsansteckung», die in der Massenpsychologie eine große Rolle spielt. Auf der Gefühlsansteckung basiert das eigentliche Mitfühlen, aber sie ist mit diesem noch ebensowenig wie mit dem Nachfühlen identisch. Wer der Gefühlsansteckung unterliegt, wird automatisch in eine emotionale Regung anderer hineingerissen, ohne daß er damit zu diesen schon in eine eigentliche Beziehung tritt. Er nimmt dabei die anderen unter Umständen gar nicht einmal als Personen wahr. Und die stimmungsmäßige
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Gleichschaltung kann sich in ihm vollziehen, ohne daß er es sofort bemerkt. Denn sein Ich ist an diesem Vorgang, der durch suggestive bzw. unkontrollierte autosuggestive Momente bestimmt ist, nicht bewußt beteiligt. Im Nachfühlen hingegen hebt sich das Ich bewußt von dem anderen ab, dessen innere Verfassung es wahrnimm t und innerlich nachvollzieht. Aber diese Abhebung kann, wie ausgeführt, so weit gehen, daß der Partner als reale Person verschwindet. Das narzißtische Nachfühlen richtet sich dann nur noch auf den Partner als Bild, als Phantom. Dieser kann ebenso eine dichterische Erfindung wie ursprünglich eine reale Figur sein. Der Nachfühlende beschäftigt sich oft jedenfalls nur noch mit einer Repräsentanz auf seiner innerpsychischen Bühne. Erst im Mitfühlen gestaltet sich eine persönliche Beziehung, die schließlich auf eine volle emotionale Gleichsetzung abzielt. Die anerzogenen Barrieren des Egozentrismus machen es allerdings schwierig, dieses Ziel zu erreichen. Und deshalb bedarf es einer entschiedenen Anstrengung, einen Prozeß zu vollenden, der indessen bis zu diesem Ende bereits durch den instinktartigen Impuls vorgezeichnet ist. Die Willenskraft ist also nur nötig, um das natürliche Urphänomen in Gänze zu verwirklichen. Auf dieses eigentliche natürliche Mitfühlen, in welchem sich der eine mit dem anderen gleichsetzt, gründet sich solidarisches Verhalten im engeren Sinne. Bereits SHAFTESBURY hatte diese überzeugung vertreten, daß es eine ursprüngliche emotionale Verbundenheit unter den Menschen gebe, welche die höchste Lebensnorm vermittle. Er hatte für diese Verbundenheit den Begriff «Gemeinschaftsgefühle» gebraucht (sensus communis, social feeling), und er hatte darauf bestanden, daß diese Gemeinschaftsgefühle einen Sinn für die gemeinsamen Menschenrechte (sense of the common rights of mankind) und für die Gleichheit (equality) der einzelnen enthielten. 97 Das ursprüngliche Mitfühlen enthält bereits in sich den Impuls, anderen zu helfen, wenn diese in Schwierigkeiten sind. Es bewirkt den von SCHOPENHAUER als Mysterium bezeichneten Vorgang: «Er tritt täglich ein vor unseren Augen im Einzelnen, 245
im Kleinen, überall, wo auf unmittelbaren Antrieb, ohne viel überlegung, ein Mensch dem anderen hilft und beispringt, ja, bisweilen selbst sein Leben für einen, den er zum ersten Mal sieht, in die augenscheinigste Gefahr setzt, ohne mehr dabei zu denken, als eben, daß er die große Not und Gefahr des anderen sieht.»85 SCHOPENHAUER hat, was SCHELER zu Recht an ihm kritisiert, das Mitfühlen fälschlich im Mitleiden aufgehen lassen. I!)as Mitfühlen reicht aber über das Mitleiden hinaus und schließt notwendigerweise den Austausch positiver Gefühlsaspekte ein. Zum Mitfühlen gehört auch die Mitfreude. Und selbst die Mitleidsbeziehung wird, was SCHOPENHAUER verkannte, auch durch Genugtuung und nicht nur durch das Leidensmoment bestimmt. Befriedigung erlebt der Mitleidende dadurch, daß er sein eigenes Ich durch unmittelbare Teilnahme an fremdem Leben erweitert. Und derjenige, auf den das Mitleid zielt, stabilisiert sich durch die Entlastung, die ihm durch die Hilfe zuteil wird. Darüber hinaus spielt sich in dem Vorgang, wenn man ihn zweiseitig betrachtet, unter Umständen die Aufhebung einer dissoziativen Fragmentierung ab: Durch Partizipierung an fremdem Leid lernt der Mitleidende, das verdrängte eigene zu sehen und zu integrieren. Und der ursprünglich allein leidende Partner kann nun auch mit dem Helfer die Stärke teilen, die er sich selbst bislang versagt hatte. Das entspräche dem Model! der gemeinsamen Geschlechteremanzipation. Der Austauschvorgang beinhaltet also sowohl eine Halbierung des Leidens wie eine Halbierung der Stärke. Man kann ihn allein von der Leidensseite her, aber auch mit der gleichen Berechtigung von der Stärkeseite her beschreiben. Man verfälscht das sozialpsychologische Grundphänomen im Sinne des Machtprinzips, wenn man den Vorgang nur durch das Geben des Mitleidenden kennzeichnet. Im vollendeten Austausch der Mitfühlenden, der miteinander fühlenden Identifizierung verteilen sich Geben und Nehmen symmetrisch auf beide Teile. Die anfängliche Asymmetrie durch die vorhergehende Aufspaltung von Macht und Ohnmacht verwandelt sich 24 6
in ein neues Gleichgewicht. Der eine gibt einen Teil seines Leidens ab und nimmt von dem anderen einen Teil von dessen Stärke. Das Umgekehrte vollzieht sich beim Partner. Alle einengenden Darstellungen des Mitleidsphänomens in dem Sinne, daß es bei dem Bilde des sich einseitig Herabneigenden und des darniederliegenden Elenden bleibt, wobei schließlich der großherzige Helfer nach oben davongeht und den Getrösteten unter sich in abhängiger Dankbarkeit zurückläßt, verfälschen das Grundphänomen bereits wieder in der Richtung der klassischen Machtperspektive. Dementsprechend ist ja auch die SCHOPENHAuERsche Mitleids-Ethik seiner Metaphysik des Willens nachgeordnet. Andererseits ist es eben eine lange durch den Ohnmacht-Allmacht-Komplexfixierte Denkgewohnheit, die es uns in der Tat immer noch erschwert, das Sympathie-Prinzip in seiner überragenden Bedeutung als Gegenkraft gegen das Machtprinzip zu durchschauen. So beherrscht uns noch immer die vorurteilshafte Vorstellung, daß Mitfühlen und Mitleiden lediglich im Rahmen unveränderlicher hierarchischer Rollenverhältnisse stattfinden müßten, während es sich dabei in Wahrheit wesensmäßig um Austauschvorgänge handelt, die auf symmetrische Solidaritäts beziehungen hinzielen. Die jahrhundertelange Diskriminierung der Emotionalität hat den Blick dafür radikal getrübt, daß die einzige ursprüngliche menschliche Antriebskraft überhaupt, die einen Abbau von inhumanen Unterdrückungsverhältnissen motivieren kann, in dem Urphänomen der Sympathie steckt. Die mit dem Potential der Sympathie verbundenen Chancen konnten nie hinreichend begriffen werden, solange der übliche individualistische Denkansatz verhinderte, von einem primären Miteinander der Menschen auszugehen. Es reduzierten sich Mitfühlen, Mitleiden stets automatisch zu Gefühls- oder Verhaltensmerkmalen des einzelnen Menschen. Und der Partner der Beziehung verblieb in der Rolle des passiven Empfängers. Erst ein bipolares bzw. multipolares Denken ermöglicht, Sympathie im sozialen Sinne als ein Beziehungsphänomen zu begreifen. Als etwas, was Menschen miteinander erleben und was ihnen eine bestimmte Richtung des Sich-miteinander-Ver-
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haltens aufdrängt - sofern sie nicht durch gegenläufige Impulse des Gotteskomplexes blockiert werden. Das Urphänomen der Sympathie ist die in der Logik der Emotionalität, in der «logique du cceur», vorfindbare natürliche Disposition zum Streben nach einem sozialen Zusammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit. Diese Disposition kann indessen erst dann voll genutzt werden, wenn in der Bearbeitung des Ohnmacht-:-Allmacht-Komplexes weitere Fortschritte gemacht werden. Die immer noch nicht erloschene Faszination NIETZSCHES besagt, daß weiterhin tiefliegende Ängste den Abbau des überkompensatorischen Machtdenkens hindern. Diese überkompensation unterhält die alte Sorge, durch Mitfühlen wieder herabgezogen zu werden zu derjenigen kindlichen mittelalterlichen Ohnmacht und Schwäche, die man durch die egozentrische Omnipotenzperspektive - wie notdürftig auch immer - jahrhundertelang verdeckt hatte. Also läßt man sich noch immer einreden, man müsse nur gesellschaftliche Feinde besiegen, Fitness trainieren, die Technik vervollkommnen, um nach ganz oben zu kommen - und dem Absturz in die Kaputtheit zu entgehen. Aus dieser ängstlichen überkompensation heraus praktiziert man dann eben kompromißhaft Sympathie nur bruchstückhaft als egozentrisches Nachfühlen oder als unterdrückende Helfer-Liebe, welche die Abhängigkeit von Kindern, Kranken und sozial Schwachen fixiert. Die Widerlegung NIETZSCHES kann nur vollziehen, wer sich nicht mehr insgeheim von der hilflosen infantilen Dürftigkeit betroffen fühlt, gegen welche die narzißtischen Größenillusionen eine - obzwar fragwürdige - Abschirmung bieten. Solidarische Sympathie kann sich hingegen leisten, wer sich als vollständigen Menschen in einer Welt begreifen kann, in der er mit anderen gleichrangigen Menschen zusammen lebt. Eine solche Selbst-Achtung tilgt die Angst, durch engagiertes Mitfühlen das Gleichgewicht zu verlieren und in einen elenden, minderwertigen Status hinab gezogen zu werden. Die mitfühlende Gleichsetzung mit den anderen enthält für den, der sein Selbstverständnis auf mittlerer Höhe zwischen kläglicher Insuffizienz und überkompensatorischer narzißtischer Großar24 8
tigkeit stabilisiert hat, nichts Bedrohliches mehr. Er kann sich offen dem Bedürfnis nach sympathisierender Verbundenheit überlassen und erfährt auf diese Weise innere Bereicherung durch die anderen, die in gleicher Weise an ihm Anteil nehmen. So fördert das Sympathieprinzip die Chancen einer gemeinsamen Emanzipation. Identifikatorisches Mitfühlen ist also mitnichten jene Tugend der Schwäche, als die sie immer wieder hingestellt wurde. Denn zu ihr ist nur fähig, wer stark genug ist, selbst leiden zu können und deshalb fremdes Leiden mittragen zu können. Die emotionale Offenheit, welches das sym-pathein, das sympathische Anteilnehmen an den anderen fundiert, ist gerade nicht Ausdruck von Ressentiment oder von Sklavenmoral. Genau umgekehrt ist Ressentiment die motivierende Verfassung desjenigen, der etwas diffamieren muß, was er sich aus ~igener Brüchigkeit heraus nicht zutrauen kann. Allerdings trifft sich diese Version NIETZSCHES mit einer traditionellen kirchlichen Handhabung der Lehre Christi, die den Sachverhalt ebenfalls auf den Kopf stellt. Christus preist in der Bergpredigt die Barmherzigen selig und verheißt ihnen, daß sie zurückbekommen würden, was sie geben. Aber die Kirche hat etwas, was selig mache, in eine Pflicht und Schuldigkeit pervertiert. Das Urphänomen der Sympathie wird von einem natürlichen Bedürfnis zu einer Sache des Gehorsams. Mitfühlen, Mitleiden, Caritas werden gefordert, als geschehe in ihnen nicht eine befreiende gemeinsame Selbsterweiterung, vielmehr primär eine notwendige Selbstüberwindung. Und die Kirche hat sich zu der Instanz gemacht, welche die Erfüllung dieser Pflicht verlangt und kontrolliert. Sie hat damit das Sympathieprinzip einem Machtverhältnis untergeordnet, das sie selbst etabliert hat. Dadurch ist die fatale Gleichsetzung von mitfühlender Solidarität und «Sklavenmoral» entscheidend gefördert worden. Sympathisierendes Mitfühlen, Caritas, Gehorchen und Ohnmächtig-Sein wurden eines. Und als es dann schließlich am Ausgang des Mittelalters zum großen Aufstand gegen das Ohnmächtig-Sein kam, wurde unmittelbar mit entwertet, was anscheinend automatisch zur Ohnmacht gehörte. 249
Die sozialen Gefühle wurden in einen Topf mit allen «passions de l'ame» als herabziehende Impulse verbannt, um «raison» und «volonte» nicht auf dem Weg der Machtergreifung zu stören. Wie die Geschichte lehrt, sind letztlich alle Bemühungen vergeblich, ein gesellschaftliches Zusammenleben in Solidarität durch moralische oder rechtliche Vorschriften zu erzwingen, solange es nicht gelingt, diejenigen natürlichen Motive zu fördern, die ein entsprechendes soziales Verhalten hervorrufen. Anders ausgedrückt: solange der Gotteskomplex das Vorwiegen egozentrischer Macht- und Größenansprüche bewirkt, können die daraus resultierenden Rivalitätsspannungen durch ideologische und gesetzliche Normen niemals wirklich bewältigt werden. Bestenfalls erhält man eine nach dem Muster der Zwangsneurose gewaltsam disziplinierte Gesellschaft, in der KANTsche freudlose Skrupulosität herrscht. Aber so wird man nie verhindern können, daß die das Recht durchsetzenden Obrigkeiten immer wieder Gruppen gegen sich aufbringen, die sich ihnen gegenüber als die unterdrückten Ohnmächtigen fühlen. Und je mehr das Machtprinzip noch das soziale Klima im Ganzen bestimmt, werden sogar paradoxerweise stets die Minderheiten mit Mißtrauen und Sanktionen verfolgt, die aus diesem Prinzip auszubrechen versuchen. Die diversen Hippiekulturen, die Spontis und Stadtindianer und viele sonstige AIternativgruppen und Basis-Initiativen müssen sich außerhalb der Gesellschaft als Außenseiter-Kulturen ansiedeln, obschon die Motive, die sich hier artikulieren, der Gesellschaft wichtige Regenerationsimpulse vermitteln könnten. Die Autoritäten handhaben Gesetz und Verfassung, auf deren Boden jeder angeblich zu stehen habe, ahnungslos als Waffen gegen viele, denen die Werte, die diese Verfassung begründen, wichtiger sind als den meisten von denen, die sich als «Verfassungsschützer» aufspielen. Es ist eine typische von der Zwangsneurose her bekannte Perversion, daß schließlich Formeln, Vorschriften und Rituale verabsolutiert und geheiligt werden und deren pedantisch korrekte Befolgung automatisch mit der Mensch-
lichkeit gleichgesetzt wird, die man angeblich verteidigen will. Zu Recht hat SCHOPENHAUER betont, daß Grundsätze und abstrakte Erkenntnisse weder die Urquelle noch die erste Grundlage der Moralität seien. 85 Die Kardinaltugend der Gerechtigkeit wurzele in dem natürlichen Mitleid. «Die Ethik», so lehrte er, «ist in Wahrheit die leichteste aller Wissenschaften; wie es auch nicht anders zu erwarten steht, da jeder die Obliegenheit hat, sich selbst zu konstruieren, selbst aus dem obersten Grundsatz, der in seinem Herzen wurzelt.»85 Aber es wurde bereits oben ausgeführt, daß SCHOPENHAUER diese Ethik, die man im weiteren Sinne als eine Sympathieethik bezeichnen könnte, nicht durchgehalten hat. Er scheiterte an dem Widerspruch, daß er die emotionale Verwurzelung des Gerechtigkeitssinnes bejahte, aber an dem Vorurteil des psychischen Geschlechtsunterschiedes festhielt. Er übernahm die traditionelle Vorstellung von der natürlichen Bindung der Emotionalität an das weibliche Geschlecht, dem er ebenso traditionsgemäß die Fähigkeit zu sozialer Verantwortung absprach. Demnach schienen die Frauen außerstande, die gesellschaftliche Gerechtigkeit zu hüten, zu der sie andererseits den eigentlichen Schlüssel in Gestalt der fundierenden Triebfeder in der Hand hielten. Die Lösung der SCHOPENHAuERschen Schwierigkeiten kann nur so aussehen, daß mit einer fundamentalen Anderung des Geschlechterverhältnisses die traditionelle Abspaltung der Emotionalität überwunden und daß die «weibliche» Sympathie als allgemein menschliches emotionales Motiv zur Fundierung eines solidarischen Zusammenlebens gekräftigt wird. Jede nur defensiv konzipierte moralische Ordnung oder Verfassung, die gegen die übergriffe egozentrischer Machtimpulse schützen will, gerät - wie die Geschichte lehrt - am Ende stets zu einem Bevormundungssystem. Denn sie ist eingeengt durch die Befangenheit in der «männlichen» Machtperspektive. Und das Schützen, Abwehren, Vermeiden, Sichern gegen antisoziale Impulse verleiht dieser Ordnung und schließlich ihrer Handhabung ein überwiegendes Klima von Mißtrauen. Es waltet die Skepsis vor, daß die Menschen bei größerer Freizügigkeit eher
unmenschlich als menschlich sein wollten und daß man ihnen primär mehr Selbstbeherrschung beizubringen statt mehr Selbstbefreiung zu gestatten habe. Es fehlt das Zutrauen in die «weiblichen» Bedürfnisse nach sympathischer Identifizierung, nach solidarischem Ausgleich von Leiden und Macht. Jede solche traditionelle Ordnung des Mißtrauens fixiertunabsichtlich mit ihrer Kampfstellung gegen die antisozialen Impulse in der Gesellschaft stets zugleich die Schwächung der positiven emotionalen Gegenkräfte. Denn indem sie vorrangig auf das achtet, was gehemm t oder verhindert werden soll, nimm t sie im Zweifelsfall regelmäßig eher in Kauf, solche Bedürfnisse mit zu behindern, die auf eine freiere Kommunikation in der Gesellschaft hinzielen. Es erscheint notwendig, daß wesentliche Strömungen zum Abbau des traditionell vorherrschenden egozentrischen Machtdenkens vorwiegend vom Gefühl ausgehen. Denn die «logique du creur», der «ordo amoris» ist es, die sich nach jahrhundertelanger Unterdrückung durch die Logik des Kopfes und des Machtwillens stärker durchsetzen muß. Es ist leicht möglich, diese Strömungen von vornherein deshalb als vermeintlich antisozial zu verleumden und zu disziplinieren, als sie sich natürlicherweise gegen die Verabsolutierung der Scheinwerte von pedantischer Erfüllung von Formalien, von skrupulösem Mitfunktionieren und Vorschrifts gläubigkeit wenden. Die immer noch in den Zentren der Macht verherrlichte - und zum Zwecke der Selbstsicherung mißbrauchte Ideologie des Pflichtformalismus ist eine Ausgeburt jener Machtperspektive, die allmählich überwunden werden muß. Und es fehlt noch weithin die Sensibilität zu differenzieren, ob Menschen und Gruppen sich diesem Formalismus im einen Fall um einer Befreiung ihrer emotionalen Menschlichkeitwillen oder im anderen Fall um destruktiver Ziele willen widersetzen. Man nimmt den Unterschied zwischen beiden Motiven vielfach gar nicht wahr und verdächtigt häufig törichterweise das erste, Vorläufer des letzteren zu sein, um es in eine pauschale Disziplinierungsstrategie einbeziehen zu können. Auch hier erweist sich eine semantische Fehlleistung wie-
derum als ein entlarvendes Symptom für eine Haltung, die das zu schützen vorgibt, was sie praktisch schädigt. Die in der Bundesrepublik weithin übliche Gleichsetzung von Linken mit Sympathisanten, das heißt mit Leuten, diemitden Terroristen sympathisieren, bewirkt eine versteckte Diffamierung derjenigen menschlichen Grundhaltung, die in diesem Kapitel als die wesentliche natürliche Triebfeder eines positiven Sozialverhaltens überhaupt herausgestellt wurde. Sympathie als sympathein ist der Name für jenes Mysterium des spontanen Mitfühlens und Mitleidens, das den emotionalen Hintergrund von Caritas und letztlich auch von Gerechtigkeit darstellt. Also besteht ein Urgegensatz zwischen sym-pathein und Terror. Aber der Sinn dieser Begriffsfälschung mag der sein, gezielt den großen Kreis derjenigen zu treffen, die sich ausdrücklich zu einer sympathisierenden Verbundenheit mit den Unterprivilegierten und den diskriminierten Randgruppen der Gesellschaft überhaupt bekennen. Das Prinzip der Sympathie zielt auf die Reintegration der Repräsentanten des von der Gesellschaft verdrängten Leidens, während gerade diejenigen, die diese Verdrängung aufrechterhalten zu müssen glauben - wie unbewußt auch immer -, die Hexen und Teufel produzieren, zu deren inquisitorischer Verfolgung sie permanent aufrufen.
17. Kapitel Sympathie und Vertrauen
Die erste Komponente der gesunden Persönlichkeit nennt ERIKSON das Gefühl des Urvertrauens. Die Einstellung in der Dimension Urvertrauen-Urmißtrauen sei die früheste Errungenschaft in der kindlichen Entwicklung. «Vertrauen als Allgemeinzustand besagt nicht nur, daß man gelernt hat, sich auf die Versorger aus der Umwelt zu verlassen, ihre Gleichheit und Beständigkeit, sondern auch, daß man sich selber und der Fähigkeit der eigenen Organe, mit den Triebimpulsenfertigzu werden, vertrauen kann; daß man sich als genügend vertrauenswürdig betrachten darf, so daß die Versorger nicht auf ihrer Hut zu sein brauchen oder einen verlassen müssen.»20 Aber ehe sich dieses Vertrauen als Resultat einer verläßlichen oralen Versorgungs beziehung herausbilden kann, ist als eine noch frühere Komponente im Verhältnis des Kindes zu seiner Umwelt das Urphänomen der Sympathie anzusetzen. Natürlicherweise erlebt sich die Mutter mit dem Kind bereits gefühlsmäßig verbunden, wenn sie seine Bewegungen im eigenen Leib während der Schwangerschaft verspürt. Vollends verwirklicht sich das unmittelbare Midühlen mit der Geburt. Die Mutter freut sich und leidet mit dem Säugling, wenn er wohlgemut strampelt oder wenn er sich quält. Sie fühlt sich wohl, wenn sie merkt, daß er zufrieden ist. Und nichts verschafft ihr natürlicherweise mehr Genugtuung, als ihm ein Lächeln oder eine Geste abzulocken, die sie als Behagen oder als positive Zuwendung deuten kann. Und der Säugling erwacht eingebettet in dieses positive Miteinander-Fühlen, das nicht erst durch die gut funktionierende orale Versorgungsverbindung sekundär 254
hergestellt wird. Das Füttern ist nur ein Teilaspekt der mütterlichen Zuwendung, die sich ebenso durch Hochnehmen, Wiegen, Singen und Lächeln und durch liebevolle Körperpflege kundtut. Der Säugling bestätigt die Mutter seinerseits, indem er ihr durch seine Motorik und später auch durch Lächeln demonstriert, wie gern er es hat, wenn sie liebevoll mit ihm umgeht. Die unmittelbare stimmungsmäßige Verbundenheit ist also das früheste Charakteristikum der Mutter-Kind-Beziehung. Die Mutter nimmt offen auf, wie dem Kind zumute ist, und schwingt emotional mit, so wie das Kleinkind seinerseits in einem kontinuierlichen emotionalen Austausch mit der Mutter überhaupt erst allmählich zu sich selbst kommt. Die sympathische Bindung bildet das Fundament, auf dem sich die Beziehung des Kindes zur Mutter wie zur Umwelt bis zu dem Stadium weiterentwickelt, das durch das Gegensatzpaar von Vertrauen und Mißtrauen zu kennzeichnen ist. Die Sympathie ist also von vornherein da. Die Mutter erfährt deren Vorhandensein primär ohne eigenes Zutun. Es ist nichts, was sie herstellen und was das Kind im eigentlichen Sinne von ihr lernen müßte. Dagegen ist die Voraussetzung dafür, daß sich entweder ein festes Vertrauens- oder ein Mißtrauensverhältnis herausbildet, ein Erfahrungsprozeß. Bei diesem ist ausschlaggebend, wie die versorgenden Personen mit dem Kind umgehen, also etwa, ob sie die von ERIKSON genannten Merkmale von Gleichheit und Beständigkeit in der Versorgung erfüllen. Während die Sympathie als Urphänomen von vornherein gegeben ist, muß Vertrauen erst verdient werden. Die Mutter bzw. die Eltern müssen dafür etwas leisten, damit das Kind ihnen definitiv vertraut. Und das Kind erfährt, daß es den Eltern in bestimmter Weise entgegenkommen muß, damit diese ihm ihr Zutrauen schenken. - Insofern ist es also problematisch, von Ur- Vertrauen und von Ur- Miß trauen zu sprechen. Denn diese Einstellungskategorie kennzeichnet ganz offensichtlich ein durch Vorerfahrungen vermitteltes, also ein sekundäres Entwicklungsstadium. Es ist mithin kein « Ur-Stadium». Kommt diese Vertrauens bindung schließlich zustande, so bedeutet das eigentlich nur die mit der kindlichen Reifung 255
verbundene geradlinige Fortsetzung derjenigen Beziehungsstruktur, die durch die natürliche Sympathie vorgeprägt worden ist. Das Mitfühlen schließt den Hilfeimpuls mit ein. Wenn sich die Mutter also konstant von Sympathie leiten läßt, wird sie ganz von selbst zu einer verläßlichen Versorgerin des Kindes. Und das Kind wird seinerseits darin fortfahren, die Mutter zu bestätigen. Indem es automatisch mitleidet, wenn es der Mutter erkennbar Ungemach bereitet, wird es sich spontan anstrengen, solche unerwünschten Störungen des Verhältnisses zu vermeiden. Die Mutter in negativer Stimmungsverfassung zu sehen, tut dem Kind ja ursprünglich mit weh. Sein Impuls, diesen Zustand zu ändern, folgt also nicht erst der taktischen überlegung, die Mutter versöhnen zu müssen, um von ihr weiterhin zuverlässig gefüttert und beschützt zu werden. Dieser Kalkül wäre indessen bereits durch Mißtrauen fundiert: man muß die Mutter belohnen, weil sie spontan nicht hinreichend motiviert ist, gut zu sein. - Natürlich könnte auch eine solche Nützlichkeitserwägung eine reibungslos funktionierende wechselseitige Beziehung herstellen. Aber die Basis wäre ähnlich wie die zwischen zwei sehr vernünftigen Geschäftspartnern: zum eigenen Vorteil versucht jeder, den anderen zu erfreuen und verläßlich zu bedienen. Jedem ist dabei bewußt, daß er vom anderen nichts mehr bekommen würde, sobald er diesen vernachlässigen oder kränken würde. Insofern beschreibt übrigens ERIKSON die Kategorie des Vertrauens keineswegs überzeugend, wenn er als Wesensmerkmal die «Vertrauenswürdigkeit» aufführt, «so daß die Versorger nicht auf ihrer Hut zu sein brauchen oder einen verlassen müssen». Wenn man, wie ERIKSON, das sogenannte Urvertrauen als eine zweiseitige emotionale Beziehung definiert, dann kann diese eben nicht darauf fundiert sein, daß jeder den anderen nur deshalb nicht verläßt, weil er gerade von diesem nicht enttäuscht wird. Sondern im eigentlichen Vertrauen steckt die überzeugung, daß das fremde wie das eigene Handeln durch Sympathie in tieferem Sinne bestimmt sind. Man traut dem anderen also gar nicht ernstlich zu, daß dieser abspringen würde, wenn man ihn nicht für seine Hilfe laufend «entschädigen»
würde. Was ERIKSON definiert, ist somit nicht nur im zeitlichen Sinne, sondern auch im kausalen Sinne von «Ur» kein Urvertrauen. Es ist bereits ein Verarbeitungsprodukt von Mißtrauen: man bestätigt einander in einer gleichmäßigen hilfreichen Zuwendung, damit keiner abspringt. Man erweist sich verläßlich, damit man nicht verlassen wird. Gerade weil man mißtrauisch ist, bewahrt man sich durch Verläßlichkeit vor dem Im-Stichgelassen-Werden. Man befolgt ein präventives Arrangement. Aber man bedenkt «im Hinterkopf» die Gefahr, die man auf diese Weise in Schach hält. Der Ohnmacht-Allmacht-Komplex hat für das kleine Kind zunächst kaum eine Bedeutung. Wenn die sympathische Beziehung zu seiner Umwelt anhalten sollte und -- unter optimalen Umständen - in eine echte stabile Vertrauens beziehung übergeht, spielt der Unterschied klein-groß im kindlichen Bewußtsein längere Zeit eine erstaunlich geringe Rolle. Ein solches vertrauendes Kind läuft furchtlos auf fremde Erwachsene zu. Es nähert sich voller Zuversicht großen Tieren wie Hunden oder Pferden. Es spricht völlig unbefangen ihm unbekannte Menschen an. Es benimmt sich also so, als wäre es mit den Erwachsenen etwa gleich groß oder als wären diese mit ihm gleich klein. Es geht in seiner «Vertrauensseligkeit» davon aus, daß der physische Größenunterschied die Gleichrangigkeit in der emotionalen Beziehung nicht außer Kraft setzt. Entsprechend dem Prinzip der solidarischen Sympathie wird es von dem Empfinden geleitet, daß seine Bedürfnisse genauso wichtig sind wie die der anderen, wie alt, stattlich oder reich diese anderen auch sein mögen. Und es findet es selbstverständlich, daß seine Fragen genauso wertvoll und beantwortungswürdig sind wie jene, die seine großen Partner an es richten. Wenn solche ungebrochenen Kinder von unten nach oben schauen, dann ist dies eben noch kein Unten im Sinne von ohnmächtig, unterdrückt, gefährdet, minderwertig und kein Oben im Sinne von mächtig, beherrschend, höherwertig. Im sympathischen Miteinander-Fühlen, in welchem ein solches Kind noch verwurzelt ist, erscheint es selbstverständlich, daß man mit allen anderen «menschlich» auf gleicher Höhe ist. Man fühlt sich 257
vollwertig, weil man auf der Sympathie-Ebene die anderen genauso erfreuen und traurig machen kann, wie man durch sie froh oder traurig gestimmt wird. Und man erwartet, daß sie einem genauso zuhören, wie man ihnen zuhört. Man ist dankbar, daß sie einem vieles sagen können, was man selbst nicht weiß. Aber es fällt einem nicht ein, sich wegen der Differenz an Kenntnissen als minderwertig oder ohnmächtig zu fühlen. Denn man spürt, daß die Erwachsenen sich auch ernsthaft dafür interessieren, wie man sich als kleines Kind fühlt, was man denkt und phantasiert. Entscheidend ist die Symmetrie des wechselseitigen Interesses und der wechselseitigen Respektierung. Die Erfahrung von Zuwendung im Zustand des Leidens bedeutet für ein solches Kind keineswegs eine großmütige Herablassung der Eltern von oben nach unten, sondern es erlebt darin auch die eigene Größe in der Bedeutung, die es durch das Ausmaß der elterlichen Besorgnis gewinnt. Und das kleine Kind erfährt die «Großen» seinerseits häufig genug auch in kläglicher Verzagtheit oder Bedrücktheit. Bereits Zweijährige wissen oft sehr genau, daß sie unter Umständen eine wichtige therapeutische Funktion ausüben können, um ihren Eltern oder Großeltern aus einem Stimmungstief herauszuhelfen. Sie spüren, daß ihre streichelnde Hand, ihr freundlicher Blick oder ein aufmunternder Vorschlag von ihrer Seite zu einem gemeinsamen Spiel auf die bedrückte Mutter aufmunternd wirken kann. Und jeder Kindertherapeut kennt Familien, in denen einer der Eltern oder beide ein Kind mindestens so dringend zur eigenen emotionalen Stabilisierung nötig haben, wie andererseits das Kind auf diese Beziehung angewiesen ist. Wie viele konfliktbelastete Ehen zehren von der spannungsdämpfenden vermittelnden Funktion kleiner Kinder! Kurzum: In der Ebene der sympathischen Beziehung gelten besondere Proportionen, die dem physischen und dem ökonomischen Verhältnis nicht ohne weiteres entsprechen, ja diesem möglicherweise sogar widersprechen. Gerade am Eltern-KindVerhältnis läßt sich also anschaulich demonstrieren, daß die gemeinsame Orientierungs basis der «logique du creur», des «ordo amoris», nicht ein hierarchisches, sondern ein prinzipiell
auf Gleichwertigkeit beruhendes Verhältnis, unabhängig von Alter, Geschlecht, Besitz usw., begründet. Das Sympathieprinzip, das durch diese emotionale Logik fundiert wird, kennt von vornherein nur ein Miteinander, bei welchem die Unterschiede zwischen den einzelnen nicht aufgehoben sind, aber nur eine relative Bedeutung haben. Denn was der eine besser kann als der andere, beutet er nicht als Machtvorteil aus, sondern er läßt auch den anderen daran Anteil nehmen. Die individuellen Unterschiede bedeuten ein Ergänzungsverhältnis in einer Gemeinschaft, in welcher sich jeder erst zusammen mit den anderen vollständig fühlt. Für das Selbstverständnis der Eltern geht es in diesem Sinne nicht darum, was sie mehr sind als ihre Kinder, sondern daß sie ohne die Kinder viel weniger wären. Die Kinder sind ein Teil ihrer selbst, und sie sehen sich umgekehrt als eine Ergänzung für ihre Kinder. Der messende Vergleich wird erst wirklich belangvoll, wenn die Machtfrage gestellt wird. Wenn die Ur-Sympathie und das davon abgeleitete Vertrauen durch Mißtrauen gebrochen werden. Das Machtprinzip isoliert die Mitglieder der Gemeinschaft voneinander. Es schleicht sich die Angst ein, daß man mit den anderen nicht in sympathisch begründeter Solidarität zusammenlebt, sondern daß es überall ein Oben oder Unten gibt und einen permanenten Kampf, nach oben zu kommen oder das Oben-Sein verteidigen zu müssen. Damit lernt man, sich und die anderen völlig neu zu sehen. Man hebt sich gegen die anderen ab und taxiert bei jeder Begegnung, wer über-, wer unterlegen ist und was die diversen unterscheidenden Merkmale jeweils an Machtvor- oder Machtnachteilen begründen. Nicht natürlicherweise, sondern unnatürlicherweise lernt jedes Kind die überragende Bedeutung des Machtprinzips in der Gesellschaft kennen. Denn natürlich erscheint dem Kind zunächst nur jenes offene, unbekümmerte, nahe Miteinanderleben, welches ein Gefühl von Freiheit und zugleich von Geborgenheit vermittelt. Aber bald erfährt das Kind in der Familie und außerhalb, daß diese Wirklichkeit der Sympathie und der Solidarität überlagert wird von einer ganz anderen Wirklichkeit, die das Zusammenleben im horizontalen Sozialzyklus 259
zugunsten einer vertikalen hierarchischen Struktur außer Kraft setzt. Je mehr Mühe Eltern zur sozialen Selbstbehauptung aufwenden müssen, desto eher wird sich ein Kind in diesen Kampf einbezogen fühlen. Und die Eltern werden es als ihre Pflicht ansehen, das Kind baldmöglichst auf die gnadenlose Konkurrenz der Arbeitswelt abhärtend vorzubereiten. Und häufig strengen sie sich auch nicht sonderlich an, die unbewältigten Mißstimmungen und Kränkungen, welche ihre sozialen Mißerfolge in ihnen hinterlassen haben, am Kinde nicht abzureagieren. So erfährt das Kind gleich die Regeln der Untertanenrolle, mit der es sich alsbald im außerfamiliären Bereich ohnehin auseinandersetzen muß. Aber vielleicht wächst das Kind in einer Familie auf, die sich bemüht, den destruktiven Rivalitätskampf aus ihrem Binnenleben herauszuhalten. Es ist dies ja ein moderner Trend, daß viele Familien für sich eine kleine häusliche Kontrastwelt zu etablieren versuchen, die auf Sympathie, Vertrauen, Zusammengehörigkeit gegründet sein soll. Indessen ist die einzelne Familie für sich kaum je in der Lage, eine den Strukturen der Makro gesellschaft widersprechende Binnenverfassung zu stabilisieren. Es gehört zu den gesicherten sozialpsychologischen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte, daß sich auch in den allermeisten «liberalen» bürgerlichen Familien, die ein Klima besonderer Sensibilität, Toleranz, wechselseitiger Fürsorglichkeit und emanzipatorischer Fortschrittlichkeit zu schaffen versuchen, unbewußt die dehumanisierenden Kräfte auswirken, die den Betrieb in der Makrogesellschaft charakterisieren. Es war bereits die Rede von den verschleierten ehelichen Rivalitätsproblemen hinter der Fassade formaler Gleichstellung der Ehepartner. Die Kinder spüren bei ihren Eltern das Mißverhältnis zwischen dem theoretischen Anspruch und dem emotionalen Hintergrund. Aber sie werden meist auch selbst von diesem Splitting betroffen: Die Ideologie repressionsfreier Kindererziehung macht die Eltern oft blind für ihre heimlichen Bemühungen, sich der Kinder dennoch zu ihrer eigenen inneren Stabilisierung zu bedienen. Je krasser sich die Eltern mit ihrer häuslichen Lebensform gegen die konventionellen konservati260
ven Normen und Verhaltensmuster abzusetzen versuchen, um so mehr zwingen sie häufig unbewußt ihre Kinder in eine Bundesgenossenrolle hinein. Die Kinder müssen das Spiel einer unkonventionellen lockeren, freien Familie mitspielen und geraten dadurch in ein besonderes Dilemma: in der üblichen relativ autoritären Familienstruktur befindet sich das verkündete Erziehungskonzept in vollem Einklang mit dem Erziehungsstil. Das Kind weiß, woran es ist. Die Eltern tun das, was sie sagen. Aber viele Eltern mit einem betont liberalen Konzept üben eben auf Umwegen und unbewußt einen ähnlichen Druck aus, weil ihr Spannungsverhältnis gegenüber der Gesellschaft auf ihre Beziehung zu den Kindern durchschlägt. In diesem Falle werden die Kinder aber konfus. Denn die Eltern sagen etwas anderes, als was sie tun. Und sie verlangen indirekt von den Kindern, daß diese nicht wahrnehmen oder zumindest nicht ausdrücken, was ihnen geschieht. Die Kinder müssen den verdrängten autoritären Aspekt der Eltern aushalten, dürfen ihn aber nicht als solchen identifizieren und benennen. Sie wissen dann nicht einmal genau, woran sie leiden, weil es das ja offiziell gar nicht in der Familie geben darf, was sie durcheinanderbringt. Die radikalen extremistischen Proteste mancher Jugendlicher, die in derartigen Familien aufgewachsen sind, bedeuten nichts anderes als die verspätete Explosion einer Opposition, die sich in der Kindheit nie gestalten und ausleben konnte. Der unnatürliche, aber der Durchschnittsnorm immer noch entsprechende Entwicklungsgang des Kindes und des Jugendlichen führt jedenfalls von der sympathischen Verbundenheit zur egozentrischen Wachsamkeit, vom Vertrauen zum Mißtrauen, von der Offenheit zur 'Taktik. Die Zerreißung der durch das Sympathieprinzip in horizontaler Ebene strukturierten Gemeinschaft zwingt das Kind, die entsprechenden Gefühle in den gesellschaftlich vorgeformten hierarchischen Verhältnissen unterzubringen. Es wird ihm aufgezwungen zu begreifen, daß die emotionale Logik, derzufolge Gefühle ursprünglich zu einem symmetrischen Miteinanderfühlen drängen, vom Machtprinzip außer Kraft gesetzt wird. Nähe und Vertraulich261
keit erscheinen nicht mehr als gemeinsame allgemein menschliche Bedürfnisse, in denen man sich von gleich zu gleich trifft. Sondern Nähe und Vertraulichkeit dürfen nur von oben nach unten hergestellt werden. Das gleiche Begehren, von unten nach oben artikuliert, muß sich gefallen lassen, als «Aufdringlichkeit», «Frechheit», «Distanzlosigkeit» mißbilligt zu werden. Das Bedürfnis, sein Inneres mitzuteilen, wird zu einem Vorrecht derer, die «das Sagen» haben. Die Mächtigen, die Vorgesetzten, die Eltern sind legitimiert, sich ihren inneren Druck vom Herzen zu reden. Die Schwächeren, die Untertanen und die Kinder mögen noch so angefüllt sein mit Spannungen, Ideen und Impulsen - sie müssen sich entweder in der Hierarchieskala nach unten gegenüber noch Schwächeren und Kleineren entlasten oder abwarten, ob und wann sie von oben her gefragt werden. Hingebende Liebe ist etwas, was der Obere dem Unteren abfordert, so wie es der traditionellen Geschlechterbeziehung entspricht. Die Liebe, die der Obere zur Verfügung stellt, ist herablassende Mildtätigkeit, Gnade, schenkende Großherzigkei t. Die emotionalen Elemente, die nach dem ursprünglichen und natürlichen «ordo amoris» in ein Beziehungssystem von Gleichwertigen hineingehören, die auf derselben menschlichen Ebene miteinander fühlen, die sich zu gleichen Teilen miteinander austauschen, werden unter der Herrschaft des Machtprinzips mit einer neuen Bedeutung ausgestattet. Und durch die Verinnerlichung dieser neuen, pervertierten Bedeutung ist es dann schließlich zu dem Riesenmißverständnis derjenigen gekommen, die immer noch glauben, Sympathie, Caritas, Mitleid seien die Feinde jeder politischen Erneuerungsbewegung, welche die Herrschaft des Menschen über den Menschen aufheben will. Die Betreffenden begreifen nicht, daß sie durch die Diffamierung dieser tiefen menschlichen Grundbedürfnisse bereits das Machtprinzip rehabilitieren, gegen das sie sich zur Wehr setzen wollen. Sie übernehmen nämlich unbemerkt die traditionelle Unterdrückung des Sympathieprinzips, obwohl dieses die stärkste Triebkraft enthält, die auf ein Zusammenleben in Solidarität und Gerechtigkeit hindrängt. Dieser ver262
hängnisvolle Irrtum entsteht dadurch, daß man die von den Machtverhältnissen versklavte und korrumpierte Sympathie gewissermaßen nur noch in dieser Kollaboration wahrnimmt und ihr kulturrevolutionäres Potential total übersieht. Echtes Mitfühlen und Mitleiden fundieren Caritas nicht im Sinne einer Almosen spendenden und tröstenden Oben-UntenBeziehung, sondern als Streben nach Aufhebung von Ungerechtigkeit und Diskriminierung. Das Sympathieprinzip fordert die Gleichsetzung, das echte Teilen von Stärke und Schwäche, die Symmetrie von Geben und Nehmen. Es verlangt die politische Befreiung der Unterdrückten, aber eben nicht die Umkehr eines Unterdrückungsverhältnisses nach einem Sieg der zuvor Diskriminierten. Es nötigt zur Solidarisierung mit den Abgespaltenen, den Randständigen, den abgewanderten Außenseiter- und Alternativgruppen auf der Basis, daß die Aussondernden sich in den Ausgesonderten wiedererkennen und von ihnen lernen, wie sie sich und die Gesellschaft verändern müssen, damit ein gedeihliches Zusammenleben für alle möglich wird. Und das Sympathieprinzip lehrt die Helfer in den helfenden Berufen, im Umgang mit Schwäche und Elend die eigene Schwäche und das eigene Elend zu akzeptieren. Denn die Perspektive des in sich selbst zurückkehrenden Lebenskreises bedeutet, daß man in anderen, die scheinbar ganz anders sind, immer auch sich selbst in einer vergangenen oder künftigen Existenzform begegnet. Der augenblicklich stärkere Helfer findet in dem schwächeren Kind, im gebrechlichen Alten oder im leidenden Kranken das vor, was er selbst war oder in irgendeiner Weise bald sein wird. Wo er im Augenblick mehr abgibt, wird er demnächst derjenige sein, der mehr Hilfe braucht. Und im offenen Aneinander-Anteil-Nehmen teilt jeder mit den anderen das, was er gerade aktuell nicht ist, als etwas, was doch zu seinem Lebenszyklus gehört. Und dieses sympathische Teilen erweitert sein gegenwärtiges punktuelles Selbst jederzeit zu dem ganzen Selbst seines Lebenszyklus. Und gleichzeitig dient er den anderen zu der gleichen SelbstVervollständigung. Die Alternativen Egozentrismus versus Altruismus, individuelle Freiheit versus Kollektivismus, Akti-
vität versus Passivität verlieren ihre Aktualität als zentrale Orientierungskategorien, wenn dem Sympathieprinzip ein entscheidender Vorrang vor dem Machtprinzip eingeräumt wird, das allein diese Polarisierungen fundiert.
18. Kapitel
Machen und Macht
Das Sympathieprinzip widerspricht dem Machtprinzip. Aber dieser Widerspruch wird dad urch kaum mehr sichtbar, weil die nach der Machtperspektive organisierte Gesellschaft die Befriedigung von Sympathiebedürfnissen in perverser Weise an ihre hierarchischen Strukturen gebunden hat. Mitfühlen, Caritas, Liebe gehen meist mit Machtverhältnissen parallel, wie erläutert wurde. Sie lösen Oben-Unten-Verhältnisse nicht auf, sondern sorgen sogar vielfach indirekt für ihre Stabilisierung. Und wo sich Menschen in Kollektiven tatsächlich unter Suspendierung künstlicher sozialer Gegensätze von gleich zu gleich zusammenschließen und somit ihre Gemeinschaftsbedürfnisse in elementarer Weise ausleben, geschieht das vielfach unter zwei Bedingungen, die wiederum die versteckte oder auch ganz offene Dominanz des Machtprinzips demonstrieren: I. Das Kollektiv kämpft gegen einen Außenfeind. Oder es schließt sich zumindest in defensiver Weise von einer als böse deklarierten Umwelt ab. 2. Die Solidarität untereinander wird von oben durch starken autoritären Druck durchgesetzt. In beiden Fällen stellt sich heraus, daß das Urbedürfnis nach sympathischer Solidarität manipulativ von Herrschenden ausgenutzt wird. Es wird zum Instrument für die Durchsetzung ihm selbst widersprechender Ziele pervertiert. Das krasseste Beispiel hierfür bietet der Krieg. ERICH FROMM schildert hier die Zusammenhänge sehr treffend: «Der Krieg bewirkt bis zu einem gewissen Grad eine Um-
wertung aller Werte. Er bewirkt, daß tiefeingewurzelte menschliche Impulse wie Altruismus und Solidaritätsgefühl zum Ausdruck kommen - Impulse, die durch den Egoismus und den Konkurrenzkampf des modernen Menschen in Friedenszeiten unterdrückt werden. Klassenunterschiede verschwinden ganz oder doch in beträchtlichem Maße. Im Krieg ist der Mensch wieder Mensch, und er hat die Chance, sich auszuzeichnen, ohne daß ihm sein sozialer Status als Bürger Vorrechte einräumt. Akzentuierter ausgedrückt: der Krieg ist eine indirekte Rebellion gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Langeweile, wie sie das gesellschaftliche Leben in Friedenszeiten beherrschen, und man sollte die Tatsache nicht unterschätzen, daß der Soldat, wenn er gegen den Feind um sein Leben kämpft - nicht gegen die Mitglieder seiner eigenen Gruppe um Nahrung, ärztliche Betreuung, Unterkunft und Kleidung zu kämpfen braucht. Für all dies sorgt ein perverses sozialisiertes System. Daß der Krieg diese positiven Züge aufweist, ist ein trauriger Kommentar zu unserer Zivilisation. Wenn das bürgerliche Leben für Abenteuer, Solidarität, Gleichheit und Idealismus Raum hätte, wie sie im Krieg zu finden sind, könnte man die Menschen vermutlich nur sehr schwer dazu bewegen, in den Krieg zu gehen. Der Regierung stellt sich im Krieg das Problem, sich die unterschwellige Rebellion zunutze zu machen, indem sie sie für ihre Kriegszwecke einspannt; gleichzeitig gilt es zu verhindern, daß sie für die Regierung zu einer Gefahr wird, was man durch strenge Disziplin und den Geist des Gehorsams gegen die Führer erreicht, die als selbstlose, weise und mutige Männer hingestellt werden, welche ihr Volk vor der Vernichtung bewahren. »34 Die befreiende Erfahrung von echter sympathischer Solidarität innerhalb kämpfender Verbände, in der Bewohnerschaft zerbombter Städte, innerhalb mancher Gefangenen- und Flüchtlingslager bedeutet in der Erinnerung vieler einen kostbaren Lebenshöhepunkt. Im nachhinein erscheint es zahlreichen Kriegsteilnehmern, als hätten sie sich niemals wieder so menschlich gefühlt wie damals. Sie schwärmen nachträglich von den Zeiten bedingungsloser kameradschaftlicher Verbun-
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denheit, des spontanen Eintretens und Opferns füreinander in Not und Gefahr - und sind dadurch verwirrt, daß diese als erlösend empfundene mitmenschliche Solidarität an die Umstände des Kriegsterrors gebunden war. Sie fragen sich, ob es nicht und'warum es nicht möglich ist, ein ähnliches Gemeinschaftsbewußtsein in friedlichen Zeiten zu beleben. Und das führt notwendigerweise zu der Feststellung, daß unsere «normale» gesellschaftliche Ordnung das Moment der Destruktion, das sich im Kriege ausschließlich gegen den Außenfeind wendet, in sich überall integriert hat. überall sind es trennende Grenzen, Bevormundungen, Besitzvorteile, gesetzlich oder vertraglich verbrieft, die Gruppen und Menschen gegeneinander schützen sollen und letztlich das Prinzip des egozentrischen und imperialistischen Machtdenkens verewigen. Wir sind in der Form unserer freiwillig etablierten gesellschaftlichen Strukturen das Opfer unserer jahrhundertelang in blinder Besessenheit verfolgten Machtperspektive und stehen jetzt vor der Erkenntnis, daß wir in unserer Ordnung weniger den Menschen als die Macht schützen. Wie alle Mißtrauischen sich letztlich unbewußt der Tyrannei ausliefern, die undurchschaut in ihnen selbst steckt und deshalb auch durch keinerlei Rechtsperfektionismus gebändigt werden kann, so ist die «Gerechtigkeit» unserer Gesellschaft eben nicht diejenige der Sympathie und der Caritas, sondern nur die scheinbare Gerechtigkeit einer faktischen Fixierung traditioneller Oben-Unten-VerhältnIsse. Die Sehnsucht, ohne Krieg diese Zwänge des Machtprinzips zu überwinden, treibt nunmehr also einen wachsenden Teil der Jugend in die neuen Alternativkulturen. Aber tragischerweise reproduzieren diese Gruppen und Sekten vielfach als Mittel zur Verwirklichung eines intimen kommunikativen Gemeinschaftslebens wiederum die Bedingungen, die indirekt doch wieder die Herrschaft des Machtprinzips besiegeln: die Kollektive nehmen oft eine fanatische Defensivhaltung gegen die zurückgelassene Umwelt ein. In den Sekten etablieren sich autoritäre Demagogen als «Väter», welche die Bindung innerhalb der Sektenkollektive mit äußerster Strenge und entspre-
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chenden Sanktionen fixieren. Man grenzt sich hermetisch nach außen ab und schürt eine Verschwörungsmoral als Schutz gegen Abspringen und «Verrat». Die gemeinsame paranoide Abschirmung gegen die verketzerte gesellschaftliche Außenwelt entfacht automatisch im Gruppen-Binnenraum enorme Tendenzen des Sichaneinander-Anklammerns und des Sich-aneinander-Auslieferns. Man fühlt sich auf Gedeih und Verderbmiteinander verkettet und wird dadurch zum Durchbrechen aller Schranken des antrainierten Egozentrismus gedrängt. Das regressive Niveau des Miteinander-Zusammenfließens zu einer herdenartigen Masse wird - zum Erschrecken der Umwelt aber eben nicht als Einbuße an persönlicher Identität, sondern als Heilung von einem nur als belastend und sinnlos empfundenen Individualismus erlebt. Viele vorher isolierte, ängstliche, schamhafte, mißtrauische Jugendliche sind hingerissen von ihrer ausschließlich als Beglückung und als positive Fähigkeit erfahrenen Möglichkeit, sich hemmungslos in das Kollektiv integrieren zu können. Ihre faktische Entmündigung übersehen sie im Rausch ihres vermeintlichen Befreiungserlebnisses. Jegliche besonnene Selbstkritik wird durch die suchtartige Befriedigung des Zusammengehörigkeitsbedürfnisses ausgeschaltet, das ihnen über alles geht. Daß diese nivellierende Kohäsion in den Sekten von den Meistern oder Oberhirten gefordert wird, ist aber eben ein wichtiger zusätzlicher Faktor zur Verfestigung dieser soziodynamischen Verfassung. Die Herrschaft der Machtperspektive in unseren gesellschaftlichen Strukturen bewirkt also bislang, daß sich das natürliche Ur-Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit am ehesten in schicksalshaften Katastrophen- und Notsituationen oder in solchen sektenartigen sozialen Gebilden auslebt, die sich in einen totalen Widerspruch zur Gesellschaft setzen und sich als eine Art von Gegengesellschaften etablieren. So paradox dies auch erscheint - es ist ungemein schwierig, innerhalb der Gesellschaft ein sympathisches Zusammenleben miteinander im Sinne des natürlichen Zusammengehörigkeits-Gefühls zu verwirklichen, zumal diese Gesellschaft ihre die Individuen, die
Geschlechter, die Generationen, die sozialen Schichten und die Völker voneinander trennenden Oben-Unten-Verhältnisse lückenlos durchorganisiert und obendrein längst durch Etikettenschwindel als optimale soziale Lebensform legitimiert hat. Wer seinen Lebenszyklus in einem sozialen Kreis des Miteinander-Verbundenseins verwirklichen will, sieht sich leicht entweder durch die Gefahr bedroht, sich in irgendeiner fanatisierten Gegenkultur zu verlieren, oder, wenn er inder Gesellschaft bleiben will, sich allmählich korrumpieren zu lassen und sich abgestumpft anzupassen. Es gibt kein Patentrezept für eine Strategie, zwischen Skylla und Charybdis davonzukommen: Immerhin sind trotz der erwähnten Schwierigkeiten und Rückschläge ansteigende Bemühungen zweifelsfrei nachweisbar, zumindest das Zusammenleben in der Zweierbeziehung und in der Familie mit neuem Sinn zu besetzen. Man ringt darum, sich in diesen Partnerschaften als sensibel, tragfähig und verläßlich zu bewähren. Man drängt vermehrt danach, in den vorhandenen relativen Freiräumen das Gefühl von Zusammengehörigkeit durch Nähe, Einfühlung und intensiven offenen Austausch zu pflegen. Und gewiß ist es ein hintergründiger Sinn der vielen neu entstandenen spontanen Gruppen, daß man über die konventionellen sozialen Beziehungsmuster hinaus ernsthafte und verbindliche Kontakte und Kommunikationsmöglichkeiten sucht. Allerdings geschieht das nicht mehr mit dem Enthusiasmus und den hochfliegenden Hoffnungen, die noch vor einigen Jahren solche Initiativen beflügelten. Heute geht man mehr in der Stille und behutsamer vor. Die meisten scheuen sich, jene Enttäuschungen zu reproduzieren, die sich seinerzeit einstellten, als man einander durch zu große Nähe und überzogene Solidaritätsnormen überforderte. Von der öffentlichkeit kaum bemerkt, wird in zahlreichen bemerkenswerten Modellen weiter experimentiert" in denen sich trotz oder wegen ihrer relativen Unauffälligkeit und Unaufdringlichkeit Wesentliches abspielt. Aber natürlich stellen diese Kreise - Frauengruppen, Männergruppen, Gruppen alleinerziehender Eltern oder von Eltern behinderter Kinder, Paar-Selbsthilfegruppen, therapeutische Selbsthilfegruppen, 269
Laienhelfergruppen in sozialen Projekten, politische Basisgruppen, religiöse Arbeitskreise usw. - keine Lösungen an sich dar. Sie können einen hilfreichen Rahmen bieten, in dem Menschen wenigstens ihren Gemeinschaftssinn lebendig zu erhalten, ihre soziale Sensibilität weiterzuentwickeln und vielleicht auch ihren Mut zu gemeinsamem Handeln zu stärken vermögen. Aber es kann auch schiefgehen. Unter dem Gegendruck der von außen und innen wirksamen Machtperspektive kann man sich wieder im Gegenteil von dem verfangen, was man eigentlich wollte. Selbsthilfegruppen können zu narzißtisch abgekapselten Minisekten, politisierte Initiativgruppen zu irrational eifernden Kampfbünden und Alternativ-Kommunen zu Zwischenstationen für Alkohol- und Drogenkarrieren entarten. - Viele der jüngeren Modelle halten sich indessen und stehen mancherlei Belastungen durch, ohne von ihren Zielen merklich abgetrieben zu werden. Hier und da zeigen sich sogar auch in der Arbeitswelt Ansätze zu neuen Beziehungsformen und Kooperationsinitiativen. Trotz der vermehrten Bedrohung der Arbeitsplätze und vieler dadurch geschürter Ängste scheint sich langsam, aber stetig die Zahl derer zu vermindern, die sich in ein dumpfes Midunktionieren schicken. Die Menschen wünschen, mehr zusammen zu machen, mehr zu erfahren, mehr mitzureden, in ihren Bedürfnissen mehr beachtet zu werden. Die drohenden Umwälzungen durch die fortschreitende Automatisation, die ökologischen Probleme und manche modernen Erkenntnisse der Arbeitswissenschaft erhöhen an der Basis die Wachsamkeit, das Bedürfnis nach Solidarität und die Entschlossenheit, sich engagierter um Planungen zu kümmern, um sich nicht von ungünstigen Entwicklungen überrumpeln zu lassen. Hier stellt sich sogleich wieder die Frage, was man mit welchen Strategien in welchem Rahmen tun kann, um mit solchen Absichten beziehungsweise mit den zuvor angedeuteten Modellen voranzukommen und negativen Erfahrungen vorzubeugen. Diese praktischen Probleme drängen sich üblicherweise rasch als die scheinbar allein wichtigen vor . Wenn man sie behandelt, wird man indessen allzu leicht mit denen
verwechselt, denen die Suche nach neuer Menschlichkeit heute vorrangig als eine Angelegenheit der Machbarkeit erscheint. Die vermeintlichen Rezepte sind es, die von allen vorgetragenen überlegungen mitunter als einzige Erinnerungen haftenbleiben. Gewiß kann sich, wie ich als meine Meinung bereits eingangs bekannt habe, ein kritisches soziales Bewußtsein nicht ohne kritisches soziales Machen entwickeln. Aber es gilt eben auch das Umgekehrte. Und allzu lange hat der Irrglaube an die Omnipotenz des Machens zu einer Mißachtung der Innenwelt der Motive geführt, aus der allein die Energien für eine Erneuerung unserer soziokulturellen Leitbilder zu gewinnen sind. Alle vorstehenden überlegungen laufen auf die Lehre hinaus, daß wir durch ausschließliche Konzentration auf das reine Machen unablässig der Frage nach dem Sinn ausweichen, dem das Machen zu dienen hätte. Traditionellerweise versuchen wir das menschliche Zusammenleben als eine Sache zu berechnen und zu handhaben - und haben uns nun einzugestehen, daß schon in diesem Anspruch ein einseitiger Bemächtigungsdrang steckt, der diejenigen Empfindungen und Gefühle zurückdrängt und verunsichert, die uns die Maßstäbe für Menschlichkeit im engen Kreis persönlicher Beziehungen wie letztlich auch im weiten Feld des gesellschaftlichen Planens vermitteln müßten. Täglich lassen wir uns noch einreden, es sei gut, unsere gemeinsamen Probleme zu «versachlichen» und zu «entemotionalisieren». Dabei haben wir das, was Menschlichkeit eigentlich bedeutet, erst wieder durch mehr Zutrauen zu unserer Sensibilität und umgekehrt durch mehr Mißtrauen in unseren einseitig idealisierten Versachlichungsdrang und die sogenannten Sachzwänge zu lernen. Der Versachlichungsdrang folgt ja eben - dies darzustellen war eine der Hauptaufgaben dieses Buches - seinerseits einem unbewußten emotionalen Motiv, nämlich jenem Komplex, der als «Gotteskomplex» benannt und beschrieben wurde.
Vierter Teil Eine Psychoanalyse als
~ehrstück
Vorbemerkung
Die nachfolgend skizzierte Psychoanalyse mag als Beispiel verdeutlichen, daß und warum unser traditionelles Kulturideal von Größe und Macht zu einer unabwendbaren Destruktion führt. In der menschlichen Existenz sind Größe und Kleinheit, Stärke und Schwäche natürlicherweise verbunden. Der vollständige Mensch ist derjenige, der beide Seiten in sich integrieren kann. Wer stärker sein will, als er eigentlich ist, belastet sich stets notwendigerweise mit der andauernden Angst, hinterrücks von der Schwäche überfallen zu werden, die er bei sich nicht sehen will. Sind erst einmal die Größe und die Kleinheit als gut und schlecht voneinander getrennt, verringert sich die Chance, sie je wieder innerhalb des Selbst zu versöhnen. Wer um jeden Preis höher hinauf will, verspürt die Gegenkräfte des Hinabgezogen-Werdens als tödliche Bedrohung. Und der schwache Teil des Selbst gerät durch das Unterdrückt-Sein in eine chaotische, archaische Verfassung. Die Spannung zwischen beiden Selbst-Aspekten nimmt durch kreisförmige Eskalation zu und verleitet - entsprechend der soziokulturell etablierten Werthaltung - zu der Flucht in die immer maßlosere überkompensation. Wegweisend ist die Phantasie, daß man an irgendeinem Punkt den gefährlichen Gegenaspekt von Zerbrechlichkeit, Kleinheit und Elend endgültig überwunden haben werde. Aber mit der Auseinandersetzung innerhalb des Selbst läuft stets eine entsprechende Polarisierung in den sozialen Beziehungen parallel. Wer sich in seinem natürlichen mittleren Maß zwischen kindlicher Schwäche, jugendlicher Kraft und Alters275
gebrechlichkeit zu begreifen vermag, kann mit den anderen von gleich zu gleich zusammenleben. Im kooperativen Partizipieren aneinander werden die Unterschiede zu einem positiven Ergänzungsverhältnis, wobei alle sich dessen bewußt sind, daß sie einander nur in verschiedenen Stadien eines Lebenskreises begegnen, innerhalb dessen jeder natürlicherweise in den anderen das sieht, was er selber schon war oder wohin er gelangen wird. Und die Ur-Disposition der Sympathie verhilft dazu, mit den anderen zu einer Gleichsetzung im jeweiligen Anderssein zu gelangen. Denn das Mysterium der Sympathie ermöglicht ja eben die fühlende Identifizierungmitfremdem Leben, als ob es das eigene wäre. - Aber wer in sich die Kleinheit entwertet und unterdrückt, um ein Ideal von Grandiosität zu verwirklichen, verändert damit auch automatisch zugleich seine soziale Position. Er kann nicht mehr von gleich zu gleich mit den anderen leben, sondern muß die Hierarchie, die er in seiner Innenwelt errichtet, auch zum Prinzip seines Sozialverhaltens machen. So wie er mit seinem psychischen Inneren umgeht, muß er auch in seinen Außenbeziehungen verfahren. Man kann sich nicht um Ausgleich zwischen sozial Mächtigen und sozial Ohnmächtigen bemühen, wenn man in sich selbst den Aspekt der Macht verherrlicht und den Aspekt der Ohnmacht verwünscht und versklavt. Man muß automatisch zum Herrscher über Knechte werden, um sich innerlich im Gleichgewicht zu halten, wenn dieses durch das Prinzip der überkompensation bestimmt ist. Und man muß obendrein fordern, daß die Repräsentanten der Schwäche das lieben, was sie nicht sind, und das hassen, was sie sind. Denn nur durch die masochistische Selbstverurteilung können sie den überkompensierenden in dessen gefährdetem Anspruch bestätigen, nicht nur materiell, sondern auch moralisch überlegen zu sein. Damit aber geraten die Unterdrückten an den Abgrund der Suizidalität. Rebellion und Mord erscheinen am Ende als die einzige Alternative zur masochistischen Selbstzerstörung. Diese fatale destruktive Eskalierung innerhalb des Beziehungssystems erscheint als die unausweichliche logische Konsequenz aus der Rebellion gegen die Forderung von PASCAL, daß der Mensch seinen Sinn nur darin finden
könne, als ein Etwas zwischen dem Nichts und dem Unendlichen zu leben. Wer seine Zerbrechlichkeit nicht erträgt und dem Sterben durch Identifizierung mit der Unendlichkeit davonlaufen will, wird von dem Tod als einem grauenhaften Nichts eingeholt. Vor über zwei Jahrzehnten habe ich diesen Zusammenhang in der folgenden Krankengeschichte anschaulich vorgeführt bekommen. Ich habe erst in dem Behandlungsprozeß die Wechselbeziehung zwischen dem inneren Konflikt und dem Beziehungsproblem voll begriffen. Dadurch wurde diese Analyse für mich zu einem Lehrstück und zum endgültigen Anstoß, künftig die Erkenntnisse und methodischen Möglichkeiten der Psychoanalyse verstärkt in den Behandlungsformen der Familientherapie und der Sozialtherapie anzuwenden. Aus dem Fall habe ich indessen nicht nur vieles über die Notwendigkeit psychosozialer Therapieansätze gelernt. Ich habe daraus zugleich Wichtiges für meine eigene innere Entwicklung gewonnen. Aber zugleich lieferte mir dieses Familiendrama in anschaulicher Konkretisierung die Grundideen, die in der vorstehenden Abhandlung entwickelt wurden. In der Schilderung des Behandlungsverlaufes werde ich schwerpunktmäßig die innere Geschichte des Patienten in Beziehung zur Vatergestalt herauszuarbeiten versuchen und andere Aspekte, unter anderem die Bearbeitung der übertragungs-Gegenübertragungs-Beziehung, zurücktreten lassen. Die Darstellung verfolgt das Ziel, die im theoretischen Teil dieses Buches untersuchte Wechselbeziehung zwischen leidlosem Machen und machtlosem Leiden in ihrer vollen destruktiven Bedeutung zu belegen. Manche andere Aspekte, die eher für therapeutische Fachleute interessant wären, müssen vernachlässigt werden. Es versteht sich von selbst, daß um der Diskretion willen einige Tatsachen verschlüsselt werden mußten.
Martin erzählt seine Geschichte
Bei einer Geselligkeit macht sich ein blasser junger Mann an mich heran. Er möchte mich einen Augenblick allein sprechen. Als sich dazu die Gelegenheit ergibt, bringt er verlegen und zögernd den Wunsch hervor, mich möglichst bald wegen einer Behandlung aufsuchen zu dürfen. Er wisse eigentlich nicht, ob er die Behandlung wirklich wolle. Aber er brauche sie. Und es sei sicher für ihn eine letzte Chance. Wenn er sich nicht zu einer Therapie zwinge, werde er bald am Ende sein. Aber das wolle er mir gern ausführlicher erzählen, sobald ich für ihn Zeit hätte. Wir treffen uns wenige Tage später in meiner kleinen Wohnung, in der ich neben meiner klinischen Tätigkeit begonnen habe, einzelne Patienten analytisch zu behandeln. Ich sitze einem großen, athletisch gebauten, schweren jungen Mann gegenüber. Er blickt mich aus einem noch etwas kindlich wirkenden Gesicht mit brennenden, depressiven Augen an. Wieder redet er zögernd, gelegentlich stammelnd. Es geht ihm erneut darum, mir verständlich zu machen, daß er sich zwar in einer katastrophalen Situation befinde, aber sich selbst nicht ohne weiteres zutraue, in einer Therapie verläßlichmitzuarbeiten. Er habe übrigens schon einmal eine viermonatige Analyse bei einer Therapeutin absolviert. Diese Psychoanalyse sei schließlich von ihm abgebrochen worden. Er druckst herum, als ich ihn nach den Gründen des Abbruchs frage. Er habe wohl seinem Vater zuviel aus der Analyse erzählt, meint er. Sein Vater habe dann irgendwie zuviel Einfluß gewonnen. - Später wird sich aber herausstellen, daß es in dieser ersten Analyse zu dramatischen, gegen den Vater gerichteten Tötungsimpulsen
gekommen ist. Martin hatte mit dem akuten Impuls zu kämpfen, den Vater umzubringen. Da flüchtete er aus der Analyse. Er sehe eigentlich keinen Weg, wie es mit ihm besser werden könne. Und es sei in ihm eine starke Trägheit, alles so zu lassen, wie es jetzt sei. Andererseits glaube er, daß mit ihm etwas geschehen müßte. Wenn er die Behandlung jetzt nicht durchstehen würde, wäre alles aus. Er sei einfach nicht mehr lebensfähig. Zu seiner aktuellen Situation erklärt er, daß er gelernter Schauspieler sei, aber nur ein paar ganz unbedeutende Rollen gespielt habe und gelegentlich als Synchronsprecher beschäftigt werde. Er lebe allein in einem möblierten Zimmer. Unterbrochen nur durch seine beruflichen Tätigkeiten liege er meistens im Bett. Er schlafe viel. Außer zum Essen und zu gelegentlichen Kinobesuchen könne er sich zu nichts aufraffen. Er interessiere sich für Filmerei, und es sei in ihm schon der Gedanke aufgetaucht, einmal Kameramann zu werden. Sonst sei er völlig lustlos. Er sei von jeher impotent. Eine Ehe sei vor drei Jahren mit Rücksicht auf seine Impotenz für ungültig erklärt worden: Es sei schlimm gewesen, wie seine Schwiegermutter ihn wegen seiner Impotenz heruntergemacht habe. Mit Geld könne er überhaupt nicht umgehen. Er habe erhebliche Schulden. Sobald ihm sein Gehalt ausgezahlt werde, vertrinke er es meist unmittelbar danach in verschiedenen Kneipen. Jedesmal habe er den Vorsatz, den Zahltag ohne Sauf tour zu überstehen. Aber wenn er das Geld erst in der Tasche habe, dann steige in ihm Angst hoch. Und dann müsse er eben «rumziehen» . Am ehesten könne er sich der Versuchung entziehen, wenn man am letzten Tag vor der Auszahlung besonders freundlich zu ihm sei. Sobald ihn aber irgend jemand schief angucke, sei es aus. Dann komme es wie ein Zwang über ihn. Sofern er es nicht schaffe, gleich nach Empfang des Gehaltes ein paar Schulden abzuzahlen, sei er dazu nicht mehr imstande, sobald er das erste Lokal betreten habe. Er sei voller Unruhe, solange er noch Scheine in der Tasche habe. Es müsse immer alles raus: «Das Geld ist immer viel früher zu Ende als 279
ich. Wäre noch mehr da, würde es mit dem Saufen gehen, bis ich umfalle.» Er lade in den Kneipen regelmäßig andere zum Mittrinken ein. Er spiele und würfele auch dabei, aber nie in heiterer Stimmung. Er werde unter Alkohol nie ausgelassen, sondern eher finster. Oft sitze er muffig in einer Ecke. Schließlich besorge er sich regelmäßig irgendeine Prostituierte. Die Prostituierten müsse er immer vorher bezahlen, obwohl diese das meist gar nicht wollten. Wenn er mit den Prostituierten einen regelrechten Sexualakt probiere, was selten vorkomme, werde sein Glied meist schnell wieder schlaff. Er komme nicht zum Erguß. So lasse er sich lieber manuell befriedigen. Am besten sei es aber, wenn er die Nutten dazu bringen könne, ihn zu schlagen. Das Geschlagenwerden sei für ihn die einzige Form von wirklicher Lust, nach der er sich sehne. Das «Herumziehen» dauere im Anschluß an die Gehaltsauszahlung manchmal zwei Tage an. Er habe auch schon zweimal eine Rolle verloren, weil er im Theater geschwänzt hatte. Aber er sei eben zu normalem Verhalten völlig unfähig, solange er noch Geld in der Tasche habe und auf Tour sei. Er komme erst leidlich zur Ruhe, wenn die Taschen leer seien . . Sonst habe er noch Schwierigkeiten mit der Stimme. Er sorge sich, plötzlich nicht mehr richtig sprechen zu können. Dazu komme chronisches Asthma. Er fühle sich zeitweise kurzatmig und fürchte, daß er nicht mehr richtig durchatmen könne. Er nehme laufend Asthmatabletten. «Ich bin einfach ein Klumpen Fleisch, der nicht lebensfähig ist.» Erst die Ergänzung des Erstgespräches durch Mitteilungen während der Behandlung vervollständigt allmählich das Bild der Familie und die Biographie von Martin. Ganz im Vordergrund steht die Person des Vaters. Dieser stammt aus einer schlesischen Lehrerfamilie. Er ist mit zehn Jahren in ein Internat geschickt worden und war dort offenbar ein hervorragender Schüler. Er hat dann eine Ingenieurfachschule besucht und sich in der Industrie rasch zu einer Abteilungsleiterposirion hochgearbeitet, bis er schließlich zum Direktor eines sehr re280
nommierten technischen Instituts bestellt wurde. Dort managt und forscht er mit großem Erfolg. Außerdem bekleidet er hohe Ehrenämter in verschiedenen Organisationen. Von seiner ersten Frau, von welcher der Patient wenig weiß, hat sich der Vater scheiden lassen und eine zwölf Jahre jüngere Finnin geheiratet. Aus dieser Ehe stammen der Patient und eine zweieinhalb Jahre jüngere Schwester. Einen Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters hat Martin nur wenige Male in seinem Leben gesehen. Der hat sich von der Familie völlig losgesagt. Martin weiß nur, daß er ein fanatischer Marxist geworden sein und sich mit dem Vater überworfen haben soll. Der Vater habe die Mutter vollständig beherrscht. Diese habe nicht einmal zulänglich Deutsch gelernt, um hierzulande einigermaßen selbständig zurechtzukommen. Offensichtlich sei es dem Vater aber ganz angenehm gewesen, daß sie sich nicht habe auf eigene Füße stellen können. Martin hat die Mutter stets als kühl erlebt. Er wisse aber nicht, ob dies eher eine Gehemmtheit gewesen sei. Jedenfalls könne er sich kaum an irgend welche Zärtlichkeiten von ihrer Seite erinnern. Aber das habe wohl auch damit zu tun gehabt, daß er schon sehr früh den Vater kopiert habe. Und so habe sie ihn wohl einiges von der Abneigung spüren lassen, die sie dem unterdrückenden Vater gegenüber empfunden, aber nicht auszudrücken gewagt habe. Mit seiner Schwester sei die Mutter stets herzlicher umgegangen, und sie habe peinlich darauf geachtet, daß er, Martin, die Schwester nirgends übervorteile oder drangsaliere. Es gehöre zu seinen schmerzlichsten Erinnerungen, daß die Mutter ihn mehrfach zu Unrecht verdächtigt habe, die Schwester Ellen tyrannisiert zu haben. - Eigentlich sei die Mutter stets sehr einsam gewesen. Sie habe sich an Ellen als den einzigen Mensch(:!n geklammert, der ihr Halt geben sollte. Der Vater habe so hoch über ihr geschwebt und sie so wenig in seine vielfältigen Außeninteressen einbezogen, daß - jedenfalls in Martins Augen - niemals so etwas wie eine seelische Ehegemeinschaft bestanden habe. Der Vater sei praktisch Junggeselle geblieben. Und die unmündige Mutter habe ihm zu Hause zu dienen gehabt. Aber diese Zusammenhänge werden Martin erst im 281
Verlauf der Behandlung deutlicher. Und es wird anderthalb Jahre dauern, ehe das anfänglich nur schattenhafte und eher negative Bild der Mutter deutlichere und freundlichere Konturen annehmen wird. Es ist eine regelmäßige psychoanalytische Erfahrung, daß die Beziehungsfiguren der kindlichen Vorgeschichte erst allmählich vollständiger wahrgenommen werden können, wenn die Bearbeitung von Verdrängungen fortgeschritten ist. Erst als sich Martin am Ende der Therapie ein wenig mehr von dem ihn total vereinnahmenden Vater lösen kann, vermag er sich schließlich auch dem Bilde seiner Mutter in einer Weise zu nähern, wie er es vordem nie vermocht hatte. - Anfangs sieht er nur die verhärmte und eher abweisende Mutter, die allmählich kränkelte und schließlich an Krebs starb, als Martin 16 Jahre alt war. Nach Martins Eindruck ist seine Schwester genausowenig wie er selbst ein erwachsener Mensch geworden. Obwohl von der Mutter bevorzugt, sei sie von dem alles beherrschenden Vater klein gehalten worden. Sie sei vorzeitig aus der Schule abgegangen. Der Vater habe es verhindert, daß sie eine abgeschlossene Ausbildung bekommen habe. Er habe sie nur Violine spielen lernen lassen. Sie könne gut spielen, aber immer nur dann, wenn der Vater nicht zu Hause sei. In dessen Anwesenheit spiele sie gehemmt, falsch und schlecht. Nach dem Tode der Mutter sei sie praktisch das Dienstmädchen des Vaters. In die Zeit zwischen dem dritten und dem vierten Jahr reichen die frühesten Erinnerungen Martins zurück. Da wollte der Vater für ihn Schuhe kaufen. Aus irgendeinem Grund sei Martin trotzig geworden. Dafür habe ihn der Vater auf offener Straße so verprügelt, daß er auf das Pflaster gestürzt sei. Das habe verschiedene Passanten aufgeregt, die den Vater beschimpft hätten. Ein anderes Mal habe er einem Jungen; der ihn in herrischer Weise kommandiert habe, mit einem Kinderspaten auf den Kopf geschlagen. Dafür sei er vom Vater zu Hause wiederum verhauen und aufs heftigste beschimpft worden. Weiterhin könne er sich erinnern, daß er dem Vater einmal habe eine Zigarette anzünden wollen. Dabei habe er das 282
Streichholz verkehrt abgezogen, so daß die Köpfe der anderen Streichhölzer in der Schachtel in Brand geraten seien. Der Vater habe daraufhin mit ihm einen Riesenkrawall veranstaltet. Etwa fünf Jahre alt sei er gewesen, als er dem Vater im Badezimmer einen Waschlappen im Scherz entwendet habe. Er habe das aber vor den Augen des Vaters in der Weise getan, daß er sicher gewesen sei, der Vater habe den Vorgang beobachtet. Er habe den Waschlappen auch so gehalten, daß der Vater diesen habe sehen müssen. Der Vater habe ihn irgendwie nach dem Waschlappen gefragt, und er selbst habe eine verneinende Antwort gegeben. Die habe der Vater so mißverstanden, als wolle er, Martin, den kleinen Diebstahl ernsthaft leugnen. Der Vater habe ihn dafür furchtbar verprügelt. Um die gleiche Zeit habe der Vater im Bekanntenkreis verschiedentlich ein Foto herumgezeigt, auf dem zu sehen gewesen sei, wie der Patient als kleines Kind, wohl etwa als Zweijähriger, angeblich einen Keks vom Tisch stibitzt habe.Das Diebstahlthema wird in der Behandlung noch eine hervorragende Rolle spielen. Etwa seit seinem 14. Jahr stiehlt Martin seinem Vater häufig Geld, ohne vom Vater jemals darauf angesprochen worden zu sein. Im Gegensatz zur Endphase der Behandlung, in welcher Martin das Bild seiner Mutter mit positiven Erinnerungen belebt, fallen ihm zunächst aus der Kindheit nur enttäuschende Erfahrungen mit ihr ein. Sie habe sich eigentlich nur dann intensiver um ihn gekümmert, wenn er die Schwester geärgert und der Mutter Anlaß gegeben habe, sich deshalb über ihn aufzuregen. Wenn die Eltern außer Hause gewesen seien, habe er die Schwester tatsächlich oft geärgert. Er habe ihr Gespenstergeschichten erzählt. Einmal habe er im Garten Krocket gespielt. Die Schwester habe eine hölzerne Krocketkugel genommen und ihm an den Kopf geworfen. Darauf sei er hinter ihr hergerannt. Die Schwester habe sich zur Mutter geflüchtet. Diese habe ihn ergriffen und in heftiger Wut geschlagen. Da habe er der Mutter seinen Kopf in den Leib gestoßen und sei wie rasend gewesen. Er habe der Mutter nicht verständlich
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machen können, daß die Schwester ihn zuvor mit der Kugel beworfen hatte. Seitdem er denken könne, sei er von seinem Vater ungeheuer fasziniert gewesen. Er habe alle Meinungen des Vaters automatisch übernommen. Der Vater sei für ihn wie ein Gott gewesen. Aber er sei gewiß, daß der Vater diese Wirkung auf ihn auch stets habe ausüben wollen. Der Vater glaube daran, besser als andere Menschen zu sein. Er habe von ihm nicht eine einzige Äußerung vernommen, daß der Vater je einen anderen Menschen als gleichwertig oder gar überlegen beurteilt habe. Schriftliche Äußerungen des Vaters aus Briefen und einem Manuskript bestätigen Martins Eindruck. Während der Psychoanalyse schreibt der Vater ein kritisches Manuskript über «Faust». In einer Einleitung zu diesem Manuskript porträtiert er sich als Verfasser zunächst in der dritten Person unter anderem mit der Bemerkung: «Man kann nicht entnehmen, daß der Verfasser stolz auf und erfreut über die Einsamkeit war, zu der ihn sein sogenanntes Besserwissen fast sein ganzes Leben hindurch mit wenigen Ausnahmen verurteilte.» - An einer späteren Stelle des Manuskriptes sagt der Vater von sich unmittelbar: «Ich habe noch eine ganze Menge von unseren lieben Deutschen gesehen und erlebt und bin zu der recht bitteren, aber sicheren Erkenntnis gekommen, daß durch unmittelbare Einwirkung von Leuten wie ich nichts zu helfen ist.» ... «Die Leute hören und sehen nicht. Sie wollen es auch gar nicht, was soll nun so ein armer Hund wie ich tun?» In einem Brief an Martin macht sich der Vater Gedanken über das Bild, das er seinem Sohn vermittelt: «Dein Vater übt auf Dich eine merkwürdige, faszinierende, teils anziehende, teils abstoßende Wirkung aus. Du siehst ihn zeitweise als den Mann mit der starken Wirkung auf andere; die Schicksale seiner Mitarbeiter hängen zum Teil von ihm ab, er hat Abteilungsleiter, Assistenten, Referenten; er hat Macht; er regiert; im Hause hat er ; er bringt das Geld, wovon wir alle leben; alles kommt von ihm, durch ihn; er kann alles; er donnert auf dem Klavier; er läuft Schlittschuh, geht auf Schi; hat in das Weltmeer getaucht; er kann hobeln und feilen; schießt mit
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dem Bogen; zieht sich den Frack an und geht zu großen Festen; er weiß alles; er kann und liebt Mathematik; er kennt Maschinen, weiß wie sie funktionieren; er kann auch selbst Apparate und Sachen machen, die <wie gekauft> aussehen .- .. etc., etc.» «Unter diesem Vater konnte ich nie potent werden!» wird Martin später in der Analyse erklären. Und: «Mein Vater gibt sich eine göttliche Stellung, so daß ich da nicht heran kann!» Aber der Vater ist nicht nur überwältigend großartig, sondern auch einsam bis zum Ersticken. In dem besagten Manuskript lautet eine Bemerkung des Vaters über sich selbst: «Ich muß gestehen, daß ich jede Woche mindestens siebenmal am Erstikken bin. Es ist manchmal, als ob mich etwas von innen her auffrißt.» In der Analyse wird sich zeigen, daß Martin diese Seite sehr genau spürt und sicher zu sein glaubt, daß der Vater gerade ihn braucht, um nicht im Alleinsein zu ersticken. Aber es wird sich das Dilemma herausstellen, daß der Vater einen kaputten, ihm in völliger Hilflosigkeit ausgelieferten Sohn braucht, um sich zu stabilisieren. An sich habe ihn der Vater wohl mehr geliebt als die Mutter, meint Martin. Aber der Vater habe ihn irgendwie erdrückt. Er habe vom Vater eine Spritze bekommen, so daß er sich nicht rühren könne. Er führe eigentlich gar nicht sein eigenes Leben. Wenn er beispielsweise zu Prostituierten gehe und sich schlagen lasse, so geniere er sich nicht seinetwegen, sondern darüber, daß der Sohn eines solchen Vaters so etwas tue. Wenn er als Junge mal etwas gebastelt habe, so sei der Vater gekommen und habe gesagt: «Das ist schon ganz schön, aber nun laß mich mal!» Und dann habe es der Vater immer so vollkommen gemacht, daß er selbst da nie hätte heran können. - Er habe sich eigentlich sehr danach gesehnt, seinem Vater nahezukommen. Er habe sich an ihn anklammern wollen. Aber der Vater habe ihn nie dicht an sich herangelassen. Er sei stets unerbittlich gewesen. Widerspruch habe nie sein dürfen. Er habe den Vater von Kindheit auf angebetet und alles kritiklos von ihm übernommen, aber er sei dabei nicht zu sich selbst gekommen. Er habe eher wie ein Schauspieler alles nachgebetet und imitiert, was er dem Vater
abgesehen habe. Vielleicht hänge auch seine Berufswahl damit zusammen. Von seiner sexuellen Entwicklung erzählt Martin, daß er etwa mit acht oder neun Jahren oft mit der Schwester zusammen im Bett gelegen habe. Sie hätten sexuelle Spielereien betrieben. Er habe die Schwester am Genital berührt. Mehrmals seien sie dabei von der Mutter überrascht worden. Es sei auch vorgekommen, daß beide sich die Hosen ausgezogen hätten. Dann habe er sich von der Schwester schlagen lassen und sie auch seinerseits geschlagen. Das habe ihn erregt. Dieses Spiel habe er später mit einem befreundeten Jungen wiederholt. Der einzige Mensch, mit dem er sich je richtig verstanden habe, sei sein Schulfreund Klaus gewesen. Mit dem sei er vom 8. bis 13. Jahr eng verbunden gewesen. Er habe sehr an diesem Klaus gehangen, der ihm intellektuell voraus und in der Schule erfolgreicher gewesen sei. Er habe indessen stets das Gefühl gehabt, mehr um Klaus zu werben, als dieser ihn seinerseits nötig gehabt habe. Als Klaus mit seiner Familie nach Amerika emigriert sei, habe er, Martin, die Trennung kaum überwinden können. Er habe damals lange geweint und sich völlig verlassen gefühlt. Bald danach habe er seinem Vater erstmalig Geld gestohlen. Um die gleiche Zeit habe er zwei Erlebnisse mit homosexuellen Männern gehabt. Die hätten ihn verführen wollen, aber es sei ihm ekelhaft gewesen. Die Abneigung gegen homosexuelle Betätigung habe sich in ihm erhalten. Aber psychisch habe er sich wiederholt von aktiv homosexuellen Männern angezogen gefühlt. Und solche Typen hätten sich auch häufiger für ihn interessiert. Als er sich später über seine Impotenz bei Frauen voll klargeworden sei, habe er sogar absichtlich eine Freundschaft mit einem Homosexuellen vom aktiven Typ forciert. Er habe gedacht, wenn es mit den Frauen nicht klappe, stecke in ihm vielleicht doch eine homosexuelle Veranlagung. Aber es sei ihm nicht möglich gewesen, sich zu homosexuellen Handlungen zu überwinden. Mit 14 Jahren habe ihn in den Ferien ein neunzehnjähriges Mädchen am Strand verführen wollen. Er habe nur eine ganz kurze Erektion gehabt. Das Mädchen sei böse geworden, habe
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ihn beschimpft und verächtlich behandelt. Es sei ihm furchtbar gewesen, mit seinem erschlafften Penis den Sand zu berühren. Er habe sich ganz elend gefühlt. Um diese Zeit herum habe er einmal bei seinem Vater mehrere Geldscheine auf dem Tisch liegen sehen. Er habe die Scheine ergriffen, sei aus der Wohnung gerannt und habe sich im Stadtzentrum eine Prostituierte geholt. Die habe ihn auf ihr Zimmer mitgenommen. Dort habe er dem Mädchen 50 Mark geschenkt und sei unmittelbar danach nach Hause gerannt. Das Mädchen habe geweint, als er ihr das Geld gegeben habe. In dieser Phase, in welche der Verlust des Freundes, das gescheiterte Sexualerlebnis mit dem Mädchen am Strand und der Beginn des Stehlens fielen, hätten sich seine Schulleistungen radikal verschlechtert. Er habe damals einen sehr strengen Lehrer gehabt, der sich über seine Trägheit und Interessenlosigkeit geärgert und ihn sogar auch mit dem Rohrstock verprügelt habe. Trotz schlechter SchulJeistungen sei er ohne Sitzenbleiben durch die Schule gerutscht und schließlich mit dem sogenannten Kriegs-Notabitur entlassen worden. Er sei noch kurze Zeit als Soldat im Kriege gewesen. Wiederholte Mädchenfreundschaften seien immer wieder auseinandergegangen, sobald er sich als impotent erwiesen habe. Onaniert habe er bereits heftig und mit starken Schuld gefühlen seit seinem zwölften Jahr. Manchmal müsse er mehrmals hintereinander onanieren, bis er völlig kaputt sei und sich dann leidlich entlastet fühle. - Vor vjer Jahren habe er seine inzwischen geschiedene Frau kennengelernt, die, genau wie seine Schwester, drei Jahre jünger gewesen sei. Auf andere habe dieses Mädchen sehr kühl gewirkt. Sie habe aber einen besonderen Schmelz von Jugendlichkeit gehabt, der ihn bezaubert habe. Vielleicht sei aber die Beziehung zur Schwiegermutter für ihn noch wichtiger gewesen. Diese sei eine noch relativ jugendliche, reizvolle Frau gewesen, die ihn im Grunde sexuell mehr gereizt habe als ihre Tochter. Die Schwiegermutter sei es dann aber gewesen, die wegen seiner Impotenz auf eine schnelle Lösung der Ehe gedrängt habe. In der Scheidungsverhandlung habe man ihm homosexuelle Tendenzen unterschoben.
Nach der Ehetrennung habe er immer wieder kürzere Freundschaften mit Mädchen gehabt. Aber durch seine Impotenz sei er mehr und mehr entmutigt worden. «Jetzt sage ich mir, wenn ich ein nettes "Mädchen sehe, es hat ja doch keinen Zweck. Es kommt immer wieder zu dem Punkt, und dann geht es nicht!»
Verlauf der Behandlung: Die Wechselbeziehung von Leiden und Macht
Die psychoanalytische Behandlung dauert drei Jahre. Es kommt, namentlich in den ersten beiden Jahren, immer wieder zu Unterbrechungen. Hin und wieder sagt Martin Stunden ab, manchmal bleibt er auch für mehrere Tage oder so gar für einige Wochen weg. Dann hat er wieder mal getrunken und ist einfach weggetaucht. Es komm t auch vor, daß er mitten in der Nacht betrunken anruft und fragt, ob er gleich zu mir kommen und mich sprechen könne. Er zahlt unregelmäßig. Er läßt eigentlich keine Art der Herausforderung aus, um mir indirekt nahezulegen, die Behandlung abzubrechen. Er glaubt, mich zu kränken, indem er immer wieder sein Geld vertrinkt, unentschuldigt fortbleibt und mir das Honorar vorenthält. In der Tat belasten mich insbesondere seine fortdauernden Exzesse und die unberechenbaren Stundenausfälle in hohem Maße. Immer wieder, wenn ich hoffe, in der Bearbeitung eines Problems mit ihm Fortschritte gemacht zu haben, kommt ein neuer schwerer Rückschlag. Und dadurch, daß Martinmeistgeradedannmehrere Stunden ausfallen läßt, wenn er wieder ganz abgesackt ist, kommt es wiederholt zu Stagnationen in dem analytischen Prozeß. Gerade deshalb überwinde ich mich auch, ihn selbst nachts um zwei oder drei kommen zu lassen, wenn er aus irgendeiner Kneipe betrunken anruft. In der Tat bringt er dann, wenn er sich halb betrunken von einer Taxe herbeifahren läßt, meist besonders wesentliche und tiefreichende Phantasien. Und ich spüre, daß die einzige Chance für eine leidlich erfolgreiche Fortführung der Therapie darin besteht, ihm in diesen verzweifelten Zuständen zu ermöglichen, mich für ihn unmit-
telbar bereit zu finden. Ich erlebe ihn für eine längere Zeit wie ein chaotisches Kleinkind, das unfähig ist, seine Triebwelt auch nur halbwegs zu zügeln. Seine Verzweiflung liefert ihn hemmungsloser oraler Gier, selbstzerstörerischen Impulsen der verschiedensten Art, aber auch Tendenzen zu feindseliger Gewalttätigkeit aus, von denen noch reichlich die Rede sein wird. Ich kann und will ihm nicht verbergen, wieviel Mühe es mich kostet, den Druck seines chaotischen Agierens auszuhalten. Ich habe Angst, ärgere mich und fühle mich durch die Behandlung oft übermäßig erschöpft. Insbesondere die nächtlichen Störungen sind schwer erträglich, zum al da sie auch meine Familie mitbelasten, mit der ich seinerzeit in sehr beengten Wohnverhältnissen lebte. Dennoch bedeutet das Aushalten dieser Schwierigkeiten für mich selbst nicht nur ein Opfer, sondern ich fühle mich mit dem Patienten so verbunden, daß ich mit ihm durch dick und dünn zu gehen entschlossen bin, nachdem ich mich einmal auf die Sache eingelassen habe. Ich will ihm zeigen, daß er sich auf mich verlassen kann. Und er entschädigt mich, indem er mich zum Zeugen eines inneren Entwicklungsprozesses macht, wie man ihn selbst als Psychoanalytiker nur selten in dieser Intensität und Dramatik erlebt. Die Kehrseite seiner Ichschwäche ist eine außergewöhnliche Durchlässigkeit für unbewußte Phantasien. Seine tiefsitzenden Ängste, Depressionen und Triebimpulse gestalten sich zu einem kontinuierlichen Fluß von Träumen, die Martin von Anfang an als Schlüssel für das Verständnis seiner inneren Situation zu verstehen bereit ist. Allmählich lernt er, sich von seinen Träumen regelrecht führen zu lassen und sie als die zentrale Orientierungshilfe zu benutzen, um in seinem inneren Chaos eine Art von emotionaler Ordnung herausfinden zu können. Er erfährt fasziniert, daß die Besprechung der Trauminhalte laufend neue Träume produziert, die jeweils in irgendeiner sinnvollen Weise zu den vorigen Stellung nehmen und gelegentlich auch Lösungen vorzeichnen, die schließlich Hoffnungen auf eine Aufhellung der lange Zeit unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten wecken. Dementsprechend soll auch im nachfolgenden Behand-
lungsbericht eine Auswahl der insgesamt über 100 besprochenen Träume im Vordergrund stehen, an denen einige Hauptlinien des psychischen Prozesses deutlich gemacht werden können. Protokolle
«Ich habe seit Jahren immer wieder einen Alptraum. Es ist wie eine Stimme, ein Rufen, das mich früher schon sehr geängstigt hat. Vor dem Einschlafen. So, als wenn ein Mann immer etwas sagt. Nein, nein, ja, ja. So bedrückend. Wie ein Hammer. Wie ein immer wiederholter Ruf. Es schaltet mein ganzes Denken aus ... Man hört immer innen eine Stimme, die einem sagt, was man tun soll. Keine äußere Stimme. Wenn ich mich auf etwas konzentrierte, war das da. Auch als Kind schon. Vor dem Einschlafen. Jetzt habe ich das Gefühl, daß ein großer Berg auf mir liegt ... Kann es nicht mehr aussprechen. Ich kann es nicht mehr sagen ... Ich mache mich selbst kaputt.»Es kommt ihm dazu sein Vater in den Sinn. Aber diese Stimme sei in seinem eigenen Innern da. Es sei eine unbegreifliche Macht, die ihn von innen heraus niederhalte. Es sei etwas, was er mit sich selber tue. In der übernächsten Sitzung hat erfolgenden Traum: «Es spielt sich auf einem Bahnhof ab. Da ist ein großer, schwerer Tisch, wo man Gepäck ablädt. Da waren viele Jungen oder Mädchen. Ein Mädchen. Ich weiß nicht, ob ich zuerst ihr Gesicht oder die Beine sah. Dann sah ich sie von einer anderen Seite. Ich hörte, daß sie ein Zwitter wäre. Unten die Beine und oben der Teil über dem Tisch waren verschieden. Das Gesicht oben hatte mehr männliche Züge. Das stieß mich sofort ab. Die Beine waren zuerst reizvoll. Ich verliebte mich etwas in das Mädchen. Schienen.» - «Bei dem Geschlechtslosen denke ich daran, daß ich mich ein bißchen in dieser Situation befinde. In einem dieser Bücher, die ich jetzt lese, taucht ein alter Mann auf, ein Zwitter. Dabei habe ich mich sehr erschrocken.» Er fragt mich anschließend, ob ich sicher wüßte, daß er ein
Mann und keine Frau sei. Er habe so dicke Brüste, das sei ihm unangenehm. Er überlege sich, in eine Boxschule zu gehen. Da wolle er nicht mit anderen kämpfen, sondern nur Gymnastik treiben und mit einem Punchingball trainieren. Sonst fühle er sich so fett und unbeweglich. Eigentlich habe er das schon eine ganze Weile vor, solch ein Training zu machen. Aber er habe sich doch nie aufraffen können. - Wir sprechen darüber, daß er eigentlich noch gar nicht genau wisse, wie sein Körper beschaffen sei. Er habe seinen Körper noch nicht richtig in Besitz genommen. Aber es gehe sicher auch darum, ob er sich auf eine Beziehung zu mir einlassen solle oder ob er es schaffen könne, sich selber erfolgreich gesund zu trainieren. Er habe wohl auch Ängste, sich von mir abhängig zu machen. Zwei Sitzungen später erzählt er zunächst einen kurzen Traum: «Es war hier bei Ihnen. Ich sagte, ichhättekrampfartige Schmerzen im Unterleib. Ich bat Sie, meinen Blinddarm zu untersuchen. » Es wird ihm klar, daß dieser Traum den Wunschenthält,mit mir eine Beziehung aufzunehmen. Wir sprechen darüber, daß es in dem Traum immer noch unentschieden zu sein scheint, was er für ein Geschlecht habe. Blinddarm könnte für Penis stehen. Es wäre dann die Frage, ob er ein gesundes Glied oder ein krankes habe, das eventuell operiert werden müßte. Gleich anschließend teilt Martin einen weiteren Traum mit: «Ich bin eingeladen bei meiner ehemaligen Frau und bei der Schwiegermutter. Mein Vater ist auch dabei. Es findet ein Festessen statt. Mehrere Leute sitzen da. Von meiner Frau und meiner Schwiegermutter geht eine feindliche Stimmung aus. Meine Frau stellte mir ihren neuen Mann vor, den ich als unsympathisch empfand. Ich fragte den neuen Mann etwas, es war ein Geschäftsmann. Er zeigte mir Schuldverschreibungen. Ich dachte von meiner Frau: Er sagte: - Plötzlich kletterten wir in Booten herum. Ich suchte nach meiner Frau. Es war am Strand. Sie segelte draußen auf dem See in einem Boot, ich konnte nicht hinterher. Dann ging ich mit
meinem Vater eine lange Straße nach Hause. Ich hatte das Gefühl, umkehren und noch einmal mit meiner Frau sprechen zu wollen. Ich wollte ihr erklären, daß es doch nicht nur an mir läge. Ich bin dann auch zurückgegangen. Ich wollte noch etwas essen. Da sagte mein Vater: Es war so, als ob ich festgehalten würde. - Ich versuche, Aufschläge zu machen. Da taucht ein älterer Mann auf, Regisseur L. Den empfinde ich als papahaft. Ich konnte keinen Ball über das Netz bringen. Dabei hatte ich die Bewegung mehrmals geübt. Aber es war vergeblich. Da kam Herr L. und sagte: Er schlägt, aber der Ball fliegt weit über das Spielfeld hinaus nach links.» «Ich dachte im Traum: sagte ich. - Der Vater versuchte sich herauszureden, daß er ja nie genau gewußt habe, wo das Geld geblieben sei. Er habe keine Beweise gehabt. Ich fuhr fort: >> . Der Vater habe hinauslaufen wollen, dann sei er aber wiedergekommen und habe gesagt: «Du bist unanständig, du bist ein Schwein!» «Da habe ich ihm gesagt: <Jetzt will ich dir sagen, was eine Schweinerei ist. Nämlich erstens die Art, wie du mich in der Sache mit der Klauerei behandelt hast. Und zweitens, daß du in all den Jahren noch nicht dafür gesorgt hast, daß die Urne mit der Asche der Mutter beigesetzt worden ist. Ich
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komme nicht, um zu beichten. Ich verlange, daß du jetzt einmal in den Prozeß miteinbezogen wirst.> Darauf hat der Vater gesagt: Ich habe ihm dann erklärt, daß ich in ein paar Monaten so weit sein würde, mit ihm auch nüchtern zu sprechen. >> Im Verlauf der Auseinandersetzung sei der Vater zuerst überlegen und großspurig gewesen. Später sei er in Erregung geraten und böse geworden. Er selbst sei zeitweise ins Hintertreffen geraten, aber er habe alles gesagt, was er habe sagen wollen. Zwei Tage später folgt ein Traum, der direkt an diese Auseinandersetzung mit dem Vater anknüpft. Dieser Traum stellt so etwas wie einen Wendepunkt in der Analyse dar. «Auf See soll ein jüdisches Baby in einem Korb ausgesetzt werden. Das will ein Kapitän auf See machen, der auf einem Schiff steht. Ich befinde mich auf einem anderen Schiff mit einer Frau zusammen, die wahnsinnig weint. Wir sind beide über das Verbrechen sehr entsetzt. Sie sagt: <Sie wollen uns ausrotten.> Ich tröste sie: Wir gucken da auf dieses Schiff mit dem Kapitän, der den Korb aussetzen will. Das Ganze ist ein paar hundert Meter weg. Wir sehen es nur von weitem. Plötzlich kommt mir der Gedanke: Ich bin auf der See in einem Motorboot mit noch jemand, in Bewegung. Ich überlege, was ich gegen den Kapitän tun kann. Ich schaue meinen Begleiter an und sage: Das ist ein wahnwitziger Entschluß. Ich kämpfe furchtbar mit mir. Dann rasen wir wahnsinnig schnell über das Wasser in dem Motorboot. Da kommt ein Mann vorbei, ein Chauffeur vom Theater mit schwarzen Haaren, den ich erkenne. Mein Bekannter ruft ihn an. Da wirft er uns eine Pistole zu, die er bei sich trägt. Merkwürdigerweise versinkt diese Pistole nicht im Wasser. Da bin ich plötzlich im Wasser und ergreife die Pistole. 3II
Ich ahne, daß jetzt ein fürchterlich gefährlicher Teil beginnt. Ich schwimme mit der Pistole auf das Schiff zu und sehe, wie der Kapitän mich erwartet. Das Schiff ist natürlich höher als ich. Ich ahne, daß dieser Mann überirdische Kräfte hat. Daß mir da etwas bevorsteht, was ich wahrscheinlich gar nicht überstehen werde. Ich wundere mich, daß die Pistole im Wasser nicht versagt. Wie ich auf ihn zuschwimme, sehe ich, daß er auf seinem Schiff ein scheinwerferartiges Ding hat, so rund. Wie ein Spiegel. Das wirft einen weißen Strahl Licht nach oben. Eigentlich nicht lichtartig. Der Strahl war spiegelweiß, aber gebündelt. Mit diesem Strahl machte er ein Flugzeug unschädlich. Ich war wahnsinnig vor Angst. Mir war klar, daß dieser Mann gegen Kugeln immun ist. Dieser Strahl war eine Verbindung nach oben, zu höheren Kräften. Er steht mit überirdischen Mächten in Verbindung. Ich bin voller Angst im Wasser mit meiner Pistole. Aber ich gebe meinen Plan nicht auf. Ich ahne, daß ich ihn treffen kann. Er sieht zu mir herunter. Es gelingt mir nicht, die Pistole unter Wasser zu verbergen. Er sieht sie und errät meinen Plan. Da greift er hinter sich und hat plötzlich einen kleinen Revolver in der Hand. Ich fürchte mich schrecklich. Trotzdem schwimme ich weiter auf ihn zu und halte die Pistole unter Wasser. Ich schwimme hin und her und rase über das Verbrechen. Ich sehe, daß er mich auslacht. Da ziele ich auf ihn. Ich erkenne, daß aus meiner Pistole ein Strahl komm t. Dieser Strahl trifft ihn, aber er geht durch ihn hindurch. Ich bin vor Entsetzen halbtot. Aber ich gebe nicht auf. Plötzlich merke ich: er scheint zwar unverletzlich, aber ich bin der Stärkere! Ich darf jetzt nicht nachgeben. Ich schieße weiter auf ihn. Da zuckt er zusammen. Ich treffe ihn. Ich schwimme im Wasser hin und her. In gewissen Stellungen sehe ich, wie meine Schüsse ihn verletzen. Er erschrickt. Ich sehe, daß ich ihn nicht töten werde, daß er es aber auch nicht überleben wird. Plötzlich ist meine Angst vollständig weg. Ich fühle mich ganz sicher. Da sehe ich, wie der Kapitän wahnsinnig wütend und ängstlich wird. Er muß sich gegen mich verteidigen. Aber ich bin, wie gesagt, ganz sicher. Er kommt auf mich zu. Ich schieße immer weiter. Jedesmal 3 12
treffe ich ihn nicht, aber ab und zu. Dann stürzt er sich auf mich und wirft mich trotz seiner Verletzung um und setzt sich auf mich. Meine Pistole fliegt ein Stück weg. Ich bin im Moment wehrlos. Aber ich gebe nicht auf und sage zu meinem Begleiter, der plötzlich wieder da ist: Ich kriege sie wieder in die Finger und schieße mit dem Mute der Verzweiflung. Ich treffe ihn weiter. Er ist schwer verwundet. Schließlich sagt er: Er erhebt sich von mir und geht nach oben weg.» Bei dem Theaterch~uffeur, der ihm die Pistole gebe, habe er gleich an mich gedacht. Ich sei auch mit dem Begleiter identisch, der ihm zum Schluß noch einmal die Pistole reiche, als sie ihm schon einmal entfallen war. Ein bißchen habe er noch das Gefühl des Unrechtmäßigen, als er anfangs über die See rase. Die ihm zugereichte Pistole gehe nicht unter, sondern liege zunächst auf der Oberfläche des Wassers. Er erinnere sich, daß ich ihm einmal gesagt hätte, das Wasser symbolisiere das Unbewußte. Das Gefühl, im Wasser zu sein, das sich bewege, das sei toll. Die Pistole laufe voll Wasser, so als ob sie dadurch erst geladen werde. «Sie geben mir die Pistole, da liegt sie- noch wertlos auf dem Wasser. Da nützt sie mir noch nichts. Erst, als ich sie ins Wasser hineinnehme, wird sie für mich wertvoll. Ich gab mal unter Wasser einen Schuß ab, der zischte. Hätte ich die Pistole noch länger im Wasser halten können, wäre er vermutlich gänzlich erledigt gewesen.» «Ich fühle mich jetzt ganz sicher. Als ich nach diesem Traum aufwachte, dachte ich: Ich hätte ihn gerne umgebracht. Aber eigentlich ist es schön, daß ich ihn nicht umgebracht habe.» Niemals habe er eine ähnliche Auseinandersetzung wie diese mit seinem Vater gehabt. Und wenn er sich je auf eine derartige Diskussion eingelassen hätte, wäre sie früher sicher sehr viel schlimmer geendet. - Die Frau in dem Traum sei vielleicht seine Mutter gewesen. Zu dem Scheinwerfer falle ihm die Höhensonne des Vaters ein. Deren Schein habe er morgens oft als kleiner Junge durch die Milchglasscheibe einer Flügeltür gesehen. Die Höhensonne sei ihm immer unheimlich gewesen. Damit habe sich der Vater bestrahlt. Wir besprechen, daß die
Höhensonne sicher ähnlich wie das Cremebüchschen zu den magischen Kraftspendern gehört habe, die Martin beim Vater vermutet habe. Was die Aussetzung des Kindes auf See anbetrifft, so erinnert sich Martin dunkel daran, mit elf, zwölf Jahren eine bebilderte Jugendbibel studiert zu haben. Darin sei wohl auch die Aussetzung von Moses auf dem Nil dargestellt gewesen. Er wundert sich, daß diese Szene jetzt wieder auftaucht. Denn daß sie ihm damals besonderen Eindruck gemacht habe, könne er nicht sagen. Tatsächlich stellt die Aussetzung eines Knaben auf dem Wasser, um mit ihm den letzten Nachfahren eines Volkes auszurotten, der dann aber auf wunderbare Weise überlebt und zum Rächer wird, ein in verschiedenen Variationen bekanntes mythologisches Urmotiv dar. In den Gesängen der finnischen Kalevala findet sich zum Beispiel nahezu die gleiche Darstellung wie im zweiten Buch Mose. Man kann sich dem Eindruck kaum entziehen, daß dieses Bild prägnant die Familiendynamik im Falle von Martin darstellt. Martin fühlt sich wie hilflos ausgesetzt. Seine psychische Verfassung entspricht ja zum Teil noch immer derjenigen eines Kindes, das ohnmächtig auf dem Wasser umhertreibt. Und er empfindet den Vater als denjenigen, der ihn in dieser lebensunfähigen Verfassung haben will. Zum Widerstand ist er jetzt fähig, nachdem er sich in den letzten Wochen seiner positiven Verbindung mit der Mutter versichert hat. Die Rekonstruktion der Erinnerung, von der Mutter liebevoll angenommen worden zu sein, verleiht ihm neue Kraft. Das archaische über-Ich verliert an Macht. Er muß sich nicht länger von chaotischen Schuld gefühlen lähmen lassen. Er kann die Gerichtsszene aus dem Traum mit dem amerikanischen General jetzt umkehren. Nun ist er sicher, daß beim Vater nicht Recht und Macht vereint sind. Der Vater verwandelt sich in das Bild des Tyrannen, den er für das der Mutter und ihm selbst angetane Unrecht zu bestrafen auszieht. Aber dabei geht es um Leben und Tod. Wie soll er den Kampf gegen den allmächtigen Magier bestehen, der über übersinnliche Kräfte und Todesstrahlen verfügt? Er vergewissert sich der 314
Unterstützung durch den Analytiker. Aber entscheidend ist für ihn, daß er die ihm gereichte Waffe erst selbst unter Wasser gewissermaßen scharf macht. Es muß sein eigener Kampf sein. Aber er ist nach wie vor dicht daran, sich im letzten Augenblick doch wieder dem Vater passiv auszuliefern, indem sich der Kapitän auf ihn setzt. Aber Martin erlebt mit großer Genugtuung das Ende des Traums, das ihm seine Durchhaltefähigkeit beweist. Erst durch diesen Traum wird die kämpferische Diskussion mit dem Vater, die sich unmittelbar vorher abgespielt hat, zu einer vollen psychischen Wirklichkeit. Martin versteht die Traumhandlung jedenfalls so, daß sie endgültig Auskunft gibt über das Stadium, das er erreicht hat. Wie berauscht ist er von der nunmehr als ganz sicher erlebten überzeugung, daß dieses Aufbegehren erst der Anfang sei und daß es ihm bald gelingen werde, mit dem Vaterproblem noch selbstsicherer und souveräner umzugehen. So hatte er ja auch bereits den Vater in dem Gespräch gewarnt, er werde ihm bald auch nüchtern und ohne Hilfe von Alkohol entgegentreten können. Martins Rebellion versetzt den scheinbar so selbstsicheren Vater in fürchterliche Panik. In der Woche nach dem Streit mit Martin schickt er diesem fünf Briefe mit insgesamt r8 engzeilig beschriebenen Schreibmaschinenseiten. In diesen Briefen enthüllt sich vollends die sado-masochistische Wechselbeziehung zwischen Vater und Sohn. In dem Augenblick, in dem Martin aus der Rolle des gefügigen Masochisten ausbricht, dekompensiert der Vater auf der Stelle. Seine erregten Briefe lesen sich wie eine einzige Beschwörung, die Martin wieder auf den Platz zurückzwingen soll, den dieser zu verlassen sich anschickt. Bezeichnend ist übrigens auch, daß sich der Vater in diesen Wochen in einer Korrespondenz mit C. G. JUNG Rat holt und sich von diesem mit Argumenten ausrüsten läßt, um meinen psychoanalytischen Einfluß unwirksam zu machen. Die Argumentationsstrategie des Vaters läuft darauf hinaus, daß er überhaupt nichts damit zu tun habe, was in Martin innerlich vorgehe. Dieser kämpfe mit einem Phantom, aber nicht mit seinem wirklichen Vater, der ganz anders sei. Aber nahezu mit jedem Satz widerlegt sich der Vater dadurch, daß er
ein wildes Trommelfeuer von direkten und indirekten Anklagen bis zu primitivsten Verwünschungen und Verhöhnungen losläßt. Nicht einen Zentimeter kommt er dem Sohn entgegen. Aber durch den Panzer seiner Selbstgerechtigkeit schimmert vielfältig die Angst durch, zusammenbrechen zu müssen, wenn er seine Position gegenüber Martin verlöre. Einige charakteristische Auszüge aus seinen Briefen mögen zeigen, wie es um ihn in Wahrheit steht: I. «Ein alter Vater und ein junger Sohn sind zwei ganz verschiedene Dinge, und es wäre sehr verkehrt, wenn man den prinzipiellen Unterschied vergessen wollte; dessen mußt Du Dir immer bewußt sein, mit allen Konsequenzen. Das äußert sich, wenn Du Deiner bewußt bist, also in nüchternem Zustand, ganz richtig und vernünftig und anständig, in einer gewissen Scheu und fast selbstverständlichen Zurückhaltung mir gegenüber. Du kannst und darfst tatsächlich nicht mit mir wie mit einem gleichaltrigen Zechkumpanen reden, auchnüchtern nicht, und es wäre ein schwerer Fehler von mir, wenn ich mich dazu hergeben würde; daß Dir diese Hemmungen, wie Du es nennst, im Zustand der leider bei Dir nicht sehr seligen Betrunkenheit verlorengehen, zeigt wieder einmal, daß die Wahrheit, die beim Weine herauskommt, wie jede Wahrheit mit Vernunft verstanden werden muß, wenn sie nicht Blödsinn werden soll. Und die Wahrheit, die bei Dir in dieser Beziehung durch das von Dir getrunkene Zeug herauskommt, ist ganz einfach die, daß Du in Deinem primitiven Bezirk - - - denn dieser kommt beim Weine an die Oberfläche - - - bezüglich Deines Verhältnisses zu Deinem Vater einen sehr wilden und verworrenen Knäuel, einen großen weitgehend unverdauten Klumpen, oder wie Du es nennen willst, besitzt. Versuche das, was bei Dir im besoffenen Zustand da alles herauskommt, einmal nüchtern aufzuschreiben und einem anderen Nüchternen in den Mund zu legen, schreibe Dir das einmal ehrlich und unbeschönigt auf, etwa in Form eines Dialoges, den Du von zwei anderen führen läßt, dann wirst Du selber sehen, wie wahnwitzig da der Blödsinn brodelt.»
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2. «Da ist etwas Unheimliches und Böses an Deinem Vater. Immerzu kommt er und stört einen und verlangt, daß gerade die anziehendsten Dinge nicht getan werden; er gebietet und verbietet, und das ist meistens sehr unangenehm. Also der Allgewaltige, Gute und Allesgebende, der allmächtige Zauberer, aber auch der Unheimliche, Hindernde, Böse. -Ein wahnsinniger Kerl, dazu noch ein alter, mir ähnlich und doch wieder so verschieden, auch in seinem Körper - - - mit dem muß ich mich auseinandersetzen, und vor allen Dingen muß ich ihm ordentlich die Wahrheit sagen, diesem Kerl, der so viel Böses und Schlechtes ebenfalls hat und getan hat; mit dem und mir muß mal etwas passieren! Und dann trinkt man sich ordentlich Mut an, und dann kommen alle jene Gefühle und Gedanken, und dann kommt auch der Mut. Also, auf ihn, Genossen! Und dann kommst Du, und dann fängst Du an, und dann geht es plötzlich nicht, jedenfalls nicht so, wie Du es gedacht und gewünscht hast. Immer wenn Du zugreifen willst, wenn Du denkst, Du hast ihn nun ganz genau und fest, dann ist es ganz anders, dann verschwindet er Dir aus der Hand, Du kannst ihn nicht fassen. Und da Du auch die große Wut auf ihn hast, sagst Du natürlich: Da sieht man es genau, was für ein Schuft er ist, jetzt hält er nicht mal still und entzieht sich mir! Und Du sitzt und wackelst mit dem Kopf und zwinkerst mit den Augen und visierst mit dem dramatischen Zeigefinger, aber es hilft alles nichts, und die ganze so schön antizipierte Szene kommt einfach nicht zustande, höchstens, wenn Du fragwürdige Monologe hältst mit gedehnten Vokalen und zitternden Stimmbändern, von denen Du selbst weißt, daß sie schlecht gespielter Kitsch sind.» 3. «Die Gewalten, die sich in Dir melden, sind Dein Gott, Dein Teufel, Dein Gewissen. Du fällst, besonders wenn Du betrunken bist, in jenes Mißverständnis und verwechselst das alles mit Deinem Papa. Dann gehst Du zu ihm und willst über ihn herfallen. Und dann stellt sich ganz natürlicherweise heraus, daß das, was Du suchtest, gar nicht da ist; da sitzt ein altes Männeken, und wenn Du zugreifen willst, findest Du nichts zum Greifen. Das ist vollkommen richtig, Dein Ausdruck in
Worten ist nur nicht ganz richtig. Er entzieht sich Dir nicht, nicht einmal <es> entzieht sich Dir; es ist gar nicht da, nämlich was Du suchst. Du kannst gar nichts greifen und in die Hand bekommen, weil da, wo Du hingreifst, nichts ist, jedenfalls nicht das, was Du suchst. Zu Dir spricht Dein Gott, Dein Teufel, Dein Gewissen, die stärksten ungeheueren Gewalten, und Du läufst zu Deinem Papa und überfällst ihn, einen alten, bereits schwachen Menschen. Das ist Blasphemie und Gotteslästerung!» 4. «Aha, grunzt das besoffene Riesenschwein, wie er sich verteidigt! Da haben wir es schwarz auf weiß! Hahaha! Auf diese Kitschballade ist zu antworten, daß von Verteidigung nur die Rede sein kann, wenn eine Instanz da ist, vor der, gegenüber der man sich überhaupt verteidigen kann. Ein besoffenes Riesenschwein ist keine solche Instanz; jene Ballade ist Quatsch. Aber da ist ein junger Mensch, der sich in Entwicklungskrämpfen quält und sich der Tragweite seiner Handlungen nicht bewußt ist und der ja auch wahrscheinlich und hoffentlich nicht immerzu von dem besoffenen Riesenschwein geritten wird, vielleicht hilft es ihm und seinen angeblichen Gesinnungsschweinen, wenn man ihm und ihnen diese selbstverständlichen Dinge einmal aufschreibt!» 5. «Mein lieber Herr Schwein, nicht ich mache Ihnen die Hölle heiß. Ich mache Sie nur deutlich darauf aufmerksam, daß Ihr eigener Gott und Ihr eigener Teufel und Ihr eigenes Gewissen Sie in der Zange hat. Daß die Existenz Ihrer Schweinehaftigkeit und von deren zerstörenden Folgen bereits eine Folge hiervon ist, daß derartige Schweinereien für denjenigen schwer und geradezu zermalmend und zerstörend sind, der sie begeht, dem sie passieren. Bekanntlich hat man mit der eigenen Sündenlast fertig zu werden, nicht mit derjenigen der anderen Leute. Also fügen Sie bitte nicht noch zu der Schweinerei die komplette Idiotie!» 6. «Salomo hatte viele Frauen, angeblich die 600 Stück. Die meisten davon werden Kinder bekommen haben; man schätzt nicht zu hoch, wenn man zum Beispiel annimmt, daß also Salomo mindestens 365 Söhne gehabt haben muß. Wenn nun 3 18
jeder davon die von Martin kreierte Sitte befolgt hätte, alle Jahre einen nächtlichen Vater tanz im Zustande herzlicher Betrunkenheit aufzuführen, dann wären Salomos Abende und Nächte das Jahr hindurch besetzt gewesen. Aber vielleicht besprachen sie sich auch untereinander und kamen in größeren Gruppen. Dann war auch das Risiko gegenüber dem alten Mann etwas geringer. Und da gibt es Schriftsteller, die den Salomo wegen seiner vielen Frauen bedauern, nämlich wegen der Anstrengung; dabei waren es doch wahrscheinlich die Söhne, die für seine Bewegung sorgten, einer pro Abend und Nacht, so im Durchschnitt. Armer Salomo.» So steht der Vater wieder turmhoch und ungreifbar über Martin. An dessen verzweifeltem Ausbruch nimmt er nichts anderes wahr als Phantasterei, Projektion, Besoffenheit, Schweinerei, Blödsinn. Da ist auch nicht das leiseste Angebot von Hilfe, von Anteilnahme. Der Vater will, er kann mit dem Sohn nicht teilen, woran dieser leidet. Martin soll allein leiden und den großmächtigen Salomo in Ruhe lassen. Aber hinter der abkanzelnden Polemik lauert grauenhafte Angst. Alle Beteuerungen, daß er unbetroffen und ungreifbar sei, können nicht verdecken, daß der Vater bis ins Mark getroffen ist. Und er fürchtet für sein Leben. So beschwört er Martin in einem der Briefe, ihn nicht umzubringen - freilich auch dies noch mit dem Anschein einer souveränen Zurechtweisung: «Ich möchte noch einer Sache mit Dir fest ins Auge sehen. Du warst jetzt bereits nahe daran, mit mir handgreiflich zu werden, für einen Riesen wie Du kein großes Kunststück. Du warst schwer betrunken. Ich glaube, die Folgerung ist eindeutig. Du weißt es wohl auch ebenso gut wie ich, daß das alles nichts N eues und Außergewöhnliches ist und daß es viele Fälle gegeben hat, in denen die Verwirrung zur letzten Konsequenz der Handgreiflichkeit führte. Soweit mir bekannt ist, war das Ergebnis stets sehr unbefriedigend für den überlebenden. Denn entweder merkte er sofort das Mißverständnis so stark, daß er das Kotzen vor sich selbst bekam und sich selbst das Leben nahm; was nützt aber ein toter Papa, wenn man selber 3 19
nicht mehr lebt? Oder aber er blieb leben, und dann kümmern sich meist andere Menschen um die Sache und machen mit dem Betreffenden irgendwelche Dinge, wie Einsperren oder Hinrichten, die ich für unangenehm und sinnlos halte und die man doch wohl vermeiden sollte. Oder schließlich blieb er leben und konnte auskneifen, nun dann mußte er sehen, daß er nichts geändert hatte, weil er an die falsche Adresse gekommen war; tatsächlich hätte er seinen Gott und seinen Teufel und sein Gewissen töten müssen, und das kann man nicht, und es war noch schlimmer geworden. Für mich sieht es ungefähr so aus: Ich hänge nicht mehr sehr am Leben, aber es wäre mir unangenehm, von meinem Sohn mißhandelt zu werden oder noch Schlimmeres (von einem anderen natürlich auch). Was ich tun würde, weiß ich nicht genau, weil ich in dieser Lage noch nicht gewesen bin. Ich vermute, ich würde nicht viel tun; ich bin immer dagegen, Dinge mit unzureichenden Mitteln zu versuchen, und gegen betrunkene oder auch nüchterne Riesenbestien wären alle meine körperlichen Mittel sehr unzureichend. Es kann sein, daß ich versuchen würde, fortzulaufen und mich in Sicherheit zu bringen, und nach Deiner kürzlichen Stimmung hättest Du dann die Möglichkeit, die zu schaffen und vorzutragen, so etwa mit dem Motto: Der feige Schuft! Er will sich nicht einmal von mir umbringen lassen! Hahahahaha! - Ich finde ja, man sollte so was eben nicht tun!» Martin holt seine restliche Habe aus der Wohnung des Vaters ab, und er besucht diesen nicht mehr. Die väterlichen Briefe machen ihm aber stark zu schaffen. Er erkrankt an einer Grippe. Als er nach seiner Genesung wieder erscheint, wirkt er traurig. Eigentlich möchte er sich an den Vater immer noch anlehnen. Auf der anderen Seite haßt er ihn. Es tauchen immer mehr zärtliche Gefühle zur Mutter, aber auch zur Schwester auf. Aber diese Empfindungen verbinden sich nun regelmäßig mit Wut auf den Vater. Er ist ganz sicher, daß der Vater der Mutter nie geholfen hat, sich in dem ihr fremden Land einzuwurzeln. Er habe die Mutter isoliert und verkümmern lassen. 320
Und auch die Schwester habe er planmäßig daran gehindert, sich ein selbständiges Leben aufzubauen. Diese habe genauso viel Angst vor dem Vater wie er selbst. Sobald der Vater auftauche, versage die Schwester beim Geigenspiel, das sie sonst wunderbar beherrsche. Martin erzählt einen Traum, über den er sich ärgert: «Der Bundeskanzler besucht eine Insel. Ich war so etwas wie sein Sekretär oder Volontär. Wir flogen im Flugzeug. Nach der Landung wurden wir auf der Insel großartig begrüßt. Der Bundeskanzler ist mir eigentlich ziemlich unsympathisch. Aber mir ist klar, was der Traum heißt: Die Pistole ist mir wieder aus der Hand gefallen. Der Vater sitzt auf mir. Es ist ja auch so, daß ich in meinem Leben nie selbständig sein konnte. Es war für mich immer leichter, wenn mich einer geführt hat, wenn ich Untergebener sein konnte, so wie es ja zu Hause auch immer war. Ich war ständig devot. Jetzt kommt mir aber wieder der aggressive Junge in den Sinn, der mich damals als Kind tyrannisieren wollte und dem ich mit dem Spaten auf den Kopf geschlagen habe. Es hat bei ihm richtig geblutet.» - Nun falle ihm noch ein Traum ein: «Da sind Klippen. Ich klammere mich oben am Rand fest. Ich bin raufgeklettert auf die Klippen und bin gerade beim letzten Hochziehen. Aber da ist oben jemand, der haut mir mit einer Hacke oder einem Spaten auf die Hand, daß ich loslassen muß.» Er erinnert sich, damals beschimpft und hart bestraft worden zu sein für die eigene kindliche Attacke mit dem Spaten. Wir besprechen, daß er nach diesem Aufbegehren als Drei- oder Vierjähriger immer der passive Untertan gewesen sei und daß er offensichtlich jetzt innerlich an diese frühe Protestphase anknüpfe. In diesem Zusammenhang fällt Martin auch der Wutanfall ein, mit welchem er als Kind den Vater beim Schuhkauf provoziert hatte. In diesen Tagen lernt Martin ein neues Mädchen kennen, Marianne. Sie gefalle ihm außerordentlich. Sie sei so natürlich und offen. Aber er habe großen Bammel davor, sich ihr sexuell zu nähern. Immerhin empfinde er sie als sehr reizvoll. 321
Zur nächsten Sitzung zahlt er mir am Beginn gleich einen fälligen Honorarrückstand. Dazu sagt er: «Eigentlich wollte ich Sie zur Hölle schicken. Heute habe ich Geld gekriegt. Ich wollte alles wieder kaputtmachen, das mit der Analyse und auch das mit Marianne. Aber dann ist mir wieder die letzte Unterhaltung mit meiner Mutter im Krankenhaus eingefallen. Und dann sieht doch alles anders aus. Das hat eigentlich mein ganzes Leben umgekrempelt.» Er schluchzt wieder leise. «Wenn ich mir sagen kann, daß meine Mutter mich doch geliebt hat, dann befinde ich mich in einer ganz anderen Lage. Ich glaube, deshalb habe ich das Geld nicht mehr rausschmeißen können. Ich fühle mich überhaupt viel kämpferischer. Wenn mich jetzt jemand schief ansehen würde, würde ich nicht weggehen wie früher. Ich würde ihn sofort zur Rede stellen.» Er habe das sichere Gefühl, daß es in der Analyse für ihn keinen Rückweg mehr gebe. Er spüre, daß er freier werden könne, wenn er durchhalte. In den nächsten Wochen benimmt er sich mir gegenüber kritischer und distanzierter. In gedämpfter Form bekomme ich einiges von dem gewachsenen Widerstandswillen zu spüren, den er am Vater erprobt hat. übrigens hat er diesem nach der Auseinandersetzung regelmäßig Abzahlungen geleistet, um die Schuld aus den Diebstählen abzudecken. In den folgenden Wochen wird die Beziehung zu der neuen Freundin Marianne.zum bevorzugten Thema. Martin ist froh, daß Marianne ganz anders ist als seine ehemalige Frau und seine früheren Bekannten. Sie habe nichts Kühles und Madonnenhaftes an sich, sondern sei eine ganz natürliche und unkomplizierte junge Frau. Sie studiere. Sie sei aber auch häuslich und praktisch. Es gefalle ihm, daß sie gerne Handarbeiten mache. Stark beeindruckt ist er eines Tages von dem folgenden Traum: «Es ist die Straße, wo ich wohne. Aber merkwürdigerweise ist es nicht unser Haus, sondern das Institutsgebäude meines Vaters. Da sind Marianne und meine Eltern. Ich war weg und 3 22
komme wieder. Das Haus ist verschwunden, ratzekahl weg, so daß ich es nicht mehr finde. Ich bin völlig verzweifelt und fange an zu weinen. Ich rufe aber nicht nach meinen Eltern, sondern nach Marianne. Da kommt ein Serviermädchen. Die frage ich: <Wo ist das alles geblieben?> Die umliegenden Häuser brennen. Ich falle ihr um den Hals. Sie sagt, sie mÜsse weiter und hätte keine Zeit. Dann bemerke ich, daß sie einem andern lachend davon erzählt, was ich ihr gesagt hatte. Dann kam irgendein Mann. Ein Chauffeur vom Theater. Ich heulte wahnsinnig. Er war immerhin freundlich zu mir. Ich hatte in dem Traum die Ahnung, als ob ich Marianne wiedersehen würde. Und plötzlich kam sie mir dann entgegen, während ich noch mit dem Chauffeur sprach. Na, und es war toll, es war so schön.» Er schluchzt. «Gestern abend war ich mit Marianne im Kino. Vorher war ich noch beim Sporttraining. Ich wollte an einer Bude ein Sprudel trinken. Plötzlich war die Bude nicht mehr da. Sie war über Nacht abgerissen worden. Das hat mich sehr erschreckt.» 1944 sei das Haus, in dem sie gewohnt hätten, bei einem , Fliegerangriff abgebrannt. Er habe mit dem Vater und der Schwester im Garten mit der geretteten Habe gesessen und dem Brand zugeschaut. Er habe das damals mehr aufregend als traurig empfunden. - Im Traum habe er zunächst das Gefühl, daß alle tot seien. Das Zuhause sei weg, das sei für ihn verloren. Es erstaune ihn, daß er zwar die alte Wohnung seiner Eltern suche, daß es sich im Traum aber um die Straße handle, in der sich der Betrieb des Vaters befindet. Also suche er eigentlich seinen Vater. - Das Serviermädchen, das sei sicherlich eine Prostituierte. Es könnte aber auch ebenso gut seine ehemalige Frau sein. Die Prostituierten laufen von ihm zum nächsten, und seine Frau habe ja inzwischen auch schon wieder einen anderen geheiratet. Es sei jedenfalls eine Frau, die ihn abserviert habe. So sei es ihm bis jetzt ja immer wieder gegangen. Er sei zurückgestoßen und ausgelacht worden. Dazu falle ihm ein: «Gestern habe ich Marianne gesagt, daß ich Schwierigkeiten hätte, mit ihr zu schlafen. Daraufhin hat sie mich ausgelacht und gesagt: Diese Ant32 3
wort habe ihn sehr gefreut. Vor zwei Tagen sei er noch nachts um zwei Uhr zu ihr hingefahren und habe ihr Blumen mitgebracht. Obwohl er vorher etwas getrunken habe, habe sie ihm das nicht übel genommen. - Bei dem Theaterchauffeur im Traum habe er gedacht, daß ich das eventuell gewesen sei. Wir finden, daß dieser Traum bilanzierend die augenblickliche Situation Martins beschreibt. Nach dem Bruch mit dem Vater hat er eigentlich kein Zuhause mehr. Aber er spürt noch die Bindung an den Vater. Deshalb hängt das Zuhause, das abbrennt, mit dem Betrieb des Vaters zusammen. Jetzt sucht er Anlehnung an die Frau. Aber er ist unsicher, ob er sich auf eine Frau verlassen kann, nachdem er so viele Abweisungen von der Mutter und später die Enttäuschungen bei seiner Frau, der Schwiegermutter und manchen Frauen erlebt hat. Die Prostituierten, die ihm gewissermaßen eine sexuelle Befriedigung servieren, taugen nicht zu einer verläßlichen Bindung. Bei Marianne ist denkbar, daß sie ihn nicht abserviert, obwohl er ihr seine Impotenz gestanden hat. Und im Traum sieht es so aus, als ob die Beziehung zum Psychoanalytiker die Beziehung zu Marianne nicht stört, sondern ihr dient. An dieser Stelle wiederholt Martin noch einmal, wie glücklich er sich am Ende des Traums gefühlt habe, als er Marianne in den Armen gehalten habe. In den nächsten Wochen, in denen die Freundschaft mit Marianne intensiver wird, bringt er in der Analyse noch wichtige Ergänzungen zum Bild des Vaters. Es geht ihm auf, daß ja auch der Vater verschiedentlich kleine Diebstähle begangen habe und darauf sogar noch stolz gewesen sei. Der Vater sei in den ersten Jahren nach dem Kriege häufiger bei höheren alliierten Offizieren eingeladen gewesen, und da habe er verschiedentlich etwas mitgenommen. Einmal ein Feuerzeug, einmal sogar einen goldenen Füllhalter. Auch aus Hotels habe er manchmal irgendeinen Gegenstand mitgebracht. Aber offensichtlich seien diese Diebstähle nie aufgefallen, und der Vater sei immer damit durchgekommen. Martin ist ganz aufgeregt, als ihm die Verbindung seines Klauens mit den väterlichen Diebstählen 32 4
klar wird. übrigens habe er, Martin, außer dem Vater nie jemand anders bestohlen. Aber während seine eigenen Diebstähle für ihn ein furchtbares Problem gewesen seien und noch seien, habe der Vater seine kleinen Klauereien wie eine Selbstverständlichkeit betrieben. Es habe ihm überhaupt nichts ausgemacht. «Das ist ja phantastisch, daß mir das noch nie aufgegangen isth> übrigens trinke der Vater auch ziemlich viel Alkohol. Aber er blamiere sich damit nicht. Er halte sich immer gerade so, daß er nie ganz die Fassung verliere. Der Vater trinke sogar regelmäßig, während er selbst ja nur seine periodischen Exzesse im Zusammenhang mit den Auszahlungstagen habe. Jetzt habe er das Trinken aber recht gut in der Hand. Und er fühle, daß die Beziehung zu Marianne in dieser Hinsicht sehr wichtig für ihn sei. Drei Wochen später ist er außerordentlich von zwei Träumen fasziniert, die in der Tat wieder eine Wendung einleiten. «Ich war mit einem Bekannten in einem Lokal. Das war zuerst geschlossen. Wir klopften an. Da machte eine ältere Frau auf. Wir gingen nach hinten, wo diese Frau schlief. Das Lokal war vorn klein. Ein ärmlicher Raum. Sie schlief da, um den Raum zu bewachen. Da war ein Fenster. Plötzlich war ich wahnsinnig erschrocken. Ich hörte, wie jemand das Fenster öffnete. Ich sagte: <Jetzt müssen wir ganz ruhig sein. Jetzt kommt ein Einbrecher.> Da kam der Mann rein mit einer Pistole. Wir mußten die Hände hochnehmen. Dann wühlte er in dem Raum herum. Einen Moment legte er die Pistole auf den Tisch. Da ergriff ich die Pistole und ließ ihn seinerseits die Hände hochnehmen. Die anderen packten ihn. Ich sagte: <So, mein Bürschchen, jetzt ist es vorbei.> Dann führten wir ihn raus. Ich drehte ihm den Arm auf den Rücken und führte ihn auf die Straße. Da übergab ich ihn der Polizei.» ' Der zweite Traum: «Der Traum spielte auf einem Schiff. Da war ein Mann. Der hatte einen Topf mit einer Creme, es kann auch Sahne gewesen sein. Und meine Schwester war auch da. Da wollte er meiner Schwester etwas von dem Zeug mit dem Löffel geben. Ich wußte, daß das vergiftet ist. Plötzlich war das
eine Szene wie bei einem Verhör. Ich tat etwas von der sahneartigen Creme auf den Löffel. Ich tat so, als ob ich es meiner Schwester einflößen wolle. Ich sah ihn dabei scharf an. Ich sagte ihm auf den Kopf zu, daß das vergiftet sei. Ich brachte ihn auf diese Weise zu einem Geständnis. Er wurde zum Tode verurteilt. Man führte ihn eine Treppe hinunter. Ich tröstete ihn unten noch und hatte Mitleid mit ihm. Ich sagte ihm aber, daß da nichts zu ändern wäre. Es würde ja nur einen Moment dauern. Dann wurde er hinausgeführt. Er sollte geköpft werden.» Martin hat diese beiden Träume unmittelbar nacheinander erzählt. Wir vergleichen die Träume: In beiden verhindert Martin, daß ein krimineller Mann eine böse Absicht ausführt. In beiden Fällen richtet sich das verbrecherische Tun auf eine Frau. Die ältere Frau des ersten Traums läßt eher an die Mutter denken. Im zweiten ist es ganz offensichtlich die Schwester. In beiden Träumen entwindet Martin dem Verbrecher ein Instrument, die Pistole bzw. den Löffel. Martin kastriert den Vater und bricht den Bann der magischen Potenz des Vaters, die wieder durch die Creme symbolisiert ist. Zum erstenmal überhaupt hat Martin die Polizei auf seiner Seite. Früher, in dem Generalstraum, hatte er Recht und Macht gegen sich, als Recht und Macht symbolisch am gleichen Faden hingen. Jetzt sind Recht und Macht auf seiner Seite. Er überwältigt den Vater legitimerweise als einen bösen Mann. Und es erscheint wichtig, daß er sich - im ersten Traum - das Potenzwerkzeug des Vaters, die Pistole, aneignet und dem Vater den Arm auf den Rücken dreht. Die Wirklichkeit hält, was die beiden Träume versprochen haben: An dem Tage, welcher der Thematisierung der beiden Träume folgt, wird Martin plötzlich erstmalig potent. Er kann mit Marianne sogar mehrmals am Tage sexuell verkehren und hat jedesmal einen vollen Orgasmus. Er ist selig und kann die Heilung des Symptoms, unter dem er so sehr gelitten hatte, kaum fassen. Er habe überhaupt keine Angst vor dem weiblichen Genitale mehr. Und er schildert, wie gern er Mariannes
Genitale liebkose und wie wohl er sich in ihrer Vagina fühle. Parallel mit der Behebung der sexuellen Schwierigkeiten gestaltet sich die Beziehung zu Marianne noch inniger. Sie unternehmen gemeinsame Ausflüge. Er kann zu ihr offen über alle Probleme sprechen. Es entlastet ihn in hohem Maße, daß Marianne ihn trotz seiner vielfältigen Schwierigkeiten akzeptiert. Er spürt, daß sie zuverlässig zu ihm hält. Er ist glücklich über die Freundschaft. Dabei versteht er, daß er diese nicht nur einem äußeren Zufall verdankt, sondern auch seiner veränderten inneren Einstellung. Er kann mit Marianne anders als früher mit Frauen umgehen, nachdem er sich innerlich mit seiner Mutter ausgesöhnt hat. Marianne stützt ihn in seinem Konflikt mit dem Vater in einer behutsamen und zuversichtlichen Art. Sie erträgt es, daß er noch immer mit starken zwiespältigen Gefühlen am Vater hängt. Offensichtlich traut sie sich zu, in der Konkurrenz mit dem Vater bestehen zu können. Was sie Martin bedeutet, bestätigt dieser ihr indirekt dadurch, daß er in den gemeinsamen intensiven sexuellen Beziehungen voll potent bleibt. Die veränderte Szene bildet sich in einem kurzen, aber für Martin sehr eindrucksvollen Traum ab: «Unsere alte Wohnung in Tegel. Im Zimmer sitzt mein Vater auf dem Sofa. Ich gehe und lasse die Rolladen herunter. Er sagt: , sage ich. , sage ich, Ich sah meinen Vater so, wie ich ihn als Kind oft erlebte, wenn er morgens aufstand. Im Pyjama. Da haben sich oft unangenehme Unterhaltungen abgespielt. Vor allem über die Schule. Das war so etwa, als ich 13, 14 war und ihn zu beklauen anfing. Mein Vater hat mir immer mißtraut. Er wollte mich immer impotent haben, das ist mir jetzt ganz klar.» Nach einer Pause fährt er leise fort: «Ich will ihn ja gar nicht töten. Ich will ihn nur schlafen legen. Marianne gibt mir die Möglichkeit, ihn wieder richtig zu wecken. Sie hat mir ja ge32 7
zeigt, daß ich potent bin. Da brauche ich ihn nicht mehr zu töten.» Die Trennung vom Vater hält er fortan durch. Es kommt über ein Jahr nur noch zu einigen telefonischen Kontakten, die Martin nicht mehr besonders aufregen. Er tilgt bei dem Vater den Rest seiner Schulden. Auch mit der Trinkerei wird es wesentlich besser. Nur einmal erleidet er einen Rückfall. Marianne begibt sich auf eine längere Orientreise. Als er nach über zweieinhalb Wochen noch keine Post von ihr erhalten hat, bringt er wieder mal den größten Teil seines Gehaltes in verschiedenen Kneipen durch. Nach Mariannes Rückkehr fühlt er sich in der Freundschaft schnell wieder sicher und hält sich im Gleichgewicht. Die Analyse führt er nun zuverlässig fort und bricht nicht mehr aus. Ein Jahr später schließen wir die Behandlung ab. Bald darauf heiratet er Marianne und lädt mich als Trauzeugen ein. Bei dieser Gelegenheit lerne ich auch den Vater kennen, bei dem ich den Eindruck gewinne, daß er sich sehr zusammennimmt und Mühe hat, eine untergründige depressive Stimmung zu überdecken. Marianne ist eine unbefangene, recht selbständig wirkende junge Frau. Offensichtlich hat sie Martin sehr lieb. N ach einiger Zeit macht Martin sein altes Vorhaben wahr und wandert mit Marianne nach Süd am erika aus. In der Endphase der Analyse hatte er noch öfter davon gesprochen, daß er sich in weiter Entfernung vom Vater sicherer fühlen würde. Ich habe später gehört, daß er gelegentlich wieder getrunken hat. In der Ehe hat es anscheinend ein paar ernste Krisen gegeben. Aber beide haben wieder zusammengefunden. Sie haben zwei Kinder bekommen. Noch vor Martins Auswanderung verschlechtert sich der Zustand des Vaters laufend. Der Vater wird depressiv und verwirrt. Man bringt ihn in eine Klinik. Dort setzt sich sein psychischer Verfall fort. Wie mir berichtet wird, verliert er zunehmend die Orientierung. Er demonstriert bis zuletzt ein selbstbewußtes und herrisches Auftreten, das in Widerspruch 328
zu seinem fortschreitenden psychischen Abbau steht. Dann stirbt er einsam im Krankenhaus. Für seine rapide gesundheitliche Verschlechterung finden die Ärzte keine hinreichende Erklärung. Als eine wesentliche Mitursache für das abrupte Nachlassen der Hirnleistungen sahen sie eine chronische Alkoholschädigung an.
Folgerung
Vieles spricht dafür, daß der Zusammenbruch des Vaters die notwendige Konsequenz aus der Veränderung Martins ist. Mehr als zwanzig Jahre hatte der Vater sein Selbstbild von Großartigkeit und Macht stabil halten können, weil er den Sohn als Repräsentanten seiner unterdrückten negativen Kehrseite zur Verfügung hatte. Auch die übrigen Familienmitglieder, Frau und Tochter, mußten ihre Selbstentfaltung opfern, damit der Vater nahezu in Reinkultur den Typ von Top-Mann realisieren konnte, wie er in etwa dem soziokulturellen Leitbild von Supermännlichkeit entspricht. Aber Martin war für ihn von zentraler Bedeutung. Diesen benötigte er als den Träger des Leidens, des Masochismus, der absoluten Abhängigkeit und der Impotenz, um sich selbst mit der Gegenseite identifizieren zu können, mit leidloser Selbstsicherheit, mit totaler Unabhängigkeit und omnipotenter Grandiosität. Er konnte im Sinne des Traums von Martin - ganz und gar die «rechte Seite» sein, weil der Sohn ihm die «linke Seite» abnahm. Martin fühlte die eigene Vereinsamung, die der Vater so lange verdrängen konnte, als er über den Sohn verfügte. Martin scheiterte am Alkoholproblem, welches den Vater genauso betraf, von diesem aber - bis zum Zusammenbruch - kaschiert werden konnte. Martin erlebte die eigenen Diebstähle als schmachvolle Selbsterniedrigung. Der Vater gefiel sich in der Rolle des Kavaliersdiebes, der sich souverän über kleinbürgerliche Normen hinwegsetzt. Der Vater konnte sich als den modernen, aber besseren und geläuterten Super-Faust porträtieren, weil ihn Martin vom Gegenaspekt der Kläglichkeit, der Primitivität und 33°
der «Schweinehaftigkeit» entlastete. Aber beide Seiten gehören zusammen. Und es war übrigens in der letzten Phase der Analyse außerordentlich eindrucksvoll, wie Martin begriff, daß seine Stärkung den Zusammenbruch des Vaters herbeiführen mußte. «Wenn er mich nicht mehr hat, wird er ersticken!» Auch in diesem Bilde des Erstickens findet sich übrigens die genaue polare Entsprechung: Als der Sohn schließlich frei atmen kann (seine asthmaartigen Zustände sind während der Psychoanalyse völlig verschwunden), wird das Erstickungsthema auf seiten des Vaters akut (der sich nach Martins Beobachtungen und auf Fotos immer häufiger an die Kehle greifen muß). Ich war seinerzeit durch mein ausschließliches Training in psychoanalytischer Einzelbehandlung noch außerstande, die psychische Krankheit von vornherein als ein gemeinsames Problem von Sohn und Vater und als Indikation für eine familientherapeutische Strategie zu erkennen. Damals galt Familientherapie für einen Psychoanalytiker noch als eine Unmöglichkeit. Aber die Erfahrung mit Martin und den familiendynamischen Zusammenhängen seines Problems wurden für mich selbst zu einer Art von Offenbarung, die mich zwangsläufig auf den Weg der Familientherapie führte. Meine späteren Erkenntnisse lassen mich den Ertrag der skizzierten Psychoanalyse recht kritisch bewerten. Die relative Besserung bei Martin ist um den Preis der Destabilisierung des Vaters erreicht worden. Allerdings war der Vater nicht mein Patient. Und viele Jahrzehnte sind Psychoanalytiker und Psychotherapeuten wie alle übrigen Ärzte dazu erzogen worden, lediglich für den unmittelbaren Symptomträger therapeutische Verantwortung zu übernehmen. Erst neuerdings wissen wir, daß viele psychische Krankheiten im Grunde familiäre Gruppenkrankheiten sind und auch als solche unter Einschluß der mitbetroffenen Angehörigen behandelt werden sollten. Daß es für die Therapeuten lange Zeit so schwer war, Probleme wie im Falle der Familie Martins ganzheitlich zu begreifen, hängt natürlich auch und vor allem mit den tiefliegenden Kon33 I
flikten zusammen, von denen wir insgesamt in unserer soziokulturell begründeten Lebensanschauung betroffen sind. Es liegt in unserem geistigen Erbe begründet, daß wir seit je eine falsche Scheidung von psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit vorgenommen haben. Daß die Stärke und die Schwäche, die Leidensfreiheit und die Verzweiflung, die Macht und die Hilflosigkeit von vornherein miteinander verknüpft sind und auch im menschlichen Zusammenleben sich überall wechselseitig bedingen und durchdringen, das vermögen wir uns erst allmählich bewußt zu machen. Denn das hier im Falle von 11artin und seinem Vater veranschaulichte AufeinanderBezogensein von Macht und Leiden ist kein klinisches Sonderphänomen, sondern unser aller psychische Wirklichkeit. Das Spezielle im vorgetragenen Beispiel besteht allein darin, daß die Polarisierung ein extremes Ausmaß e~reicht. In den üblichen Beziehungsformen ist mehr Durchmischung der psychischen Aspekte vorhanden, was die Dynamik schwerer durchschaubar macht. Nahezu 100 Jahre Psychoanalyse sind vergangen, ehe sich jetzt fassen läßt, daß die psychisch «Kranken» nur die Kehrseite der psychisch «Gesunden» sind. Anders ausgedrückt: Die reibungslos funktionierenden, äußerlich symptomfreien Teile der Gesellschaft tragen unsichtbar an den gleichen unbewältigten Problemen mit, deren sichtbare Opfer das sich ständig vergrößernde Heer der Rat und Behandlung suchenden Menschen mit psychopathologischen Symptomen und Verhaltensschwierigkeiten darstellt. Gewöhnt, psychische Gesundheit mit Symptomfreiheit, Selbstsicherheit und sozialem Erfolg gleichzusetzen, haben wir nun allen Grund, unsere als Selbstverständlichkeiten tradierten diesbezüglichen Leitbilder in Zweifel zu ziehen. überall, wo sich imposante Großartigkeit wie im Bilde von Martins Vater entfaltet, hängt diese nicht nur innerpsychisch, sondern auch im sozialen Beziehungsfeld mit verdrängter Armseligkeit und Kleinheit zusammen. Das eine ist stets die Bedingung des anderen. Die Therapeuten, die von der Gesellschaft beauftragt sind, nur das sichtbare Leiden der einen ohne die damit unmittelbar verbundene unsichtbare 33 2
Krankheit der anderen zu kurieren, müssen letztlich scheitern. So ist es nur logisch, daß immer mehr Vertreter dieser therapeutischen Berufsgruppe die Unlösbarkeit ihrer gesellschaftlichen Aufgabe zum Anlaß nehmen, zu einer Revision unseres gemeinsamen Selbstverständnisses und letztlich der Struktur unseres Zusammenlebens aufzurufen. Wir leben in einer historischen Phase, in der die Martins das heißt die Träger des sozial Verdrängten - zunehmend gegen ihre Unterdrückung aufbegehren. überall, wo es im Verhältnis der Generationen, der Geschlechter, der sozialen Klassen, der reichen zu den armen Völkern, spaltende Unterdrückung bzw. Imperialismus in irgendeiner Form gibt, sind Emanzipationsbestrebungen im Gange. Und die jeweils Mächtigeren, die auf der Seite von Martins Vater sind, hätten allen Gründ, diese Emanzipationswelle als Anstoß zur freiwilligen Preisgabe von fragwürdigen Machtprivilegien zu nutzen. Denn was im mikrosoziologischen Maßstab Martins Vater widerfahren ist, droht allen Individuen und Kollektiven, die sich auf einen uneinsichtigen Verteidigungskampf gegen die vielfältigen Befreiungsbewegungen einlassen, die aus den Bereichen von Not, Schwäche und U nterprivilegiertheit hervorbrechen. Auf längere Sicht wird es ein gedeihliches Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft nur geben können, wenn ein neuer Sinn in einer gemeinsamen Teilhabe aller an den Problemen aller anderen gefunden wird und wenn dieses Bewußtsein im kleinen wie im großen zu einem beharrlichen Abbau von selbstzerstörerischen Oben-Unten-Verhältnissen führt.
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14 DESCARTES, R.: Die Prinzipien der Philosophie. 1. Teil: über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. In: Philosophische Werke H. Meiner Verlag, Leipzig 3. AufI. 19II 15 DESCARTES, R.: über die Leidenschaften der Seele. In: Philosophische Werke H. Meiner Verlag, Leipzig 3. AufI. 1911 16 ELIAS, N.: über den Prozeß der Zivilisation, 1. Band, Einleitung. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1976 17 EMPEDOKLES: zit. nach Capelle, W. (Hg.): Die Vorsokratiker. Kröner Verlag, Leipzig 1935 18 EPIKTET: Handbüchlein der Moral und Unterredungen. Kröner Verlag, Stuttgart 1973 19 ERDMANN, J. E.: Grundriß der Geschichte der Philosophie, 1. Band. Hertz Verlag, Berlin 4. AufI. 1896 20 ERIKSON, E. H.: Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit. Klett Verlag, Stuttgart 1953 21 FENICHEL, 0.: über die Psychoanalyse als Keim einer zukünftigen dialektisch-materialistischen Psychologie (1934). In: Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, Band 1. Hg. H.-P. Gente. Fischer Bücherei, Frankfurt 1970 22 FICHTE, J. G.: Der Patriotismus und sein Gegenteil (1807). Zit. aus Roselius, L. (Hg.): Fichte für heute. Angelsachsen-Verlag, Bremen-Berlin 1938 23 FICHTE, J. G.: Reden an die deutsche Nation (1808). Zit. aus Roselius, L. (Hg.): Fichte für heute. Angelsachsen-Verlag, Bremen-Berlin 1938 24 FICHTE, J. G.: Der Geschloßne Handelsstaat. In: Ausgewählte politische Schriften. Hg. Z. Batscha u. R. Saage. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1977 25 FREUD, S.: Zur Einführung des Narzißmus (1914). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 10 26 FREUD, S.: Triebe und Triebschicksale (1915). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 10 27 FREUD, S.: Jenseits des Lustprinzips (1920). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 13 28 FREUD, S.: Das Ich und das Es (1923). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 13 29 FREUD, S.: Die Verneinung (1925). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 14 . 30 FREuD, S.: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 14 3I FREUD, S.: über die weibliche Sexualität (1931). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 14
J2 FREuD, S.: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1932). Imago Publishing Co. Ltd., Ges. Werke Band 15 33 FROMM, E.: Die Kunst des Liebens. Ullstein Verlag, FrankfurtBerlin- Wien 1973 34 FROMM, E. : Anatomie der menschlichen Destruktivität. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1974 35 FUNCKE, 0.: Vademekum für junge und alte Eheleute. Geibel Verlag, Al tenburg 19°8 36 GROSSHARTH-MATICEK, R.: Der kurze Weg von der Ausstoßung zur Radikalität. Frankfurter Rundschau Nr. 217 v. 3°.9. 1978 37 HAMMES, M.: Hexenwahn und Hexenprozesse. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1977 38 HOBBEs, T.: Leviathan. Hg. 1. Fetscher. Ullstein-Verlag, Frankfurt- Berlin-Wien 1976 39 HOFFER, W.: mündliche Mitteilung 40 HOLMSTEN, G.: Jean-Jacques Rousseau. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1972 41 JASPERS, K.: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit. Piper Verlag, München 195 ° 42 JUNGK, R.: Der Atomstaat. Kindler Verlag, München 1977 43 J URINETZ, W.: Psychoanalyse und Marxismus. In: Psychoanalyse und Marxismus. Bernfeld u. a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 197° 44 KANT, 1.: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. K. Kehrbach. Reclam Verlag, Leipzig 1878 45 KANT, 1.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). In: Zur Geschichts-Philosophie. Hg. und Verlag W. Keiper. Berlin 1948 46 KRAUCH, H. (Hg.): Edassungsschutz. Deutsche VerlagsAnstalt, Stuttgart 1975 47 LEIBNIZ, G. W.: Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke. In: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I. Hg. E. Cassirer. Meiner Verlag, Hamburg 3. Aufl. 1966 48 LEIBNIZ, G. W.: Zur Monadenlehre. In: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band 2. Hg. E. Cassirer. Meiner Verlag, Hamburg 3. Aufl. 1966 49 LORENZ, K.: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. Piper Verlag, München 1973 50 MAlER, A.: An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft. Essener Verlagsanstalt, Essen 1943
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51 MALEBRANcHE, N.: Erforschung der Wahrheit, 1. Band. Hg. A. Buchenau. Müller Verlag, München 1914 52 MARc AUREL: Selbstbetrachtungen. Neuübersetzung von A. Wittstock. Reclam Verlag, Leipzig 1879 53 MARcusE, H.: Triebstruktur und Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1969 54 MARx, K.: Privateigentum und Kommunismus. Auszüge aus den «ökonomisch-philosophischen Manuskripten». In: E. Fromm: Das Menschenbild bei Marx. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1963 55 MARx, K.: Die deutsche Ideologie (1845/46). In: Die Frühschriften. Hg. S. Landshut. Kröner Verlag, Stuttgart 1971 56 M1TSCHERLlCH, A., u. F. MIELKE: Medizin ohne Menschlichkeit. Fischer Bücherei, Frankfurt 1960 57 MOELLER, M. L.: Selbsthilfegruppen. Rowohlt Verlag, Reinbek 1978 58 MosER, T.: Gottesvergiftung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1976 59 MUMFoRD, L.: Technics and Civilization. Harcourt, Brace, Jovanovich, Inc., New York 1963 60 NARR, W.-D.: Die Generation der Ausgeschlossenen. Die Zeit Nr. 4 v. 20. 1. 1978 61 N1ETZSCHE, F.: Also sprach Zarathustra. In: Werke in drei Bänden, Band 2. Hg. K. Schlechta. Hanser Verlag, München 19 66 62 N1ETZSCHE, F.: Jenseits von Gut und Böse. In: Werke in drei Bänden, Band 2 63 N1ETZSCHE, F.: Zur Genealogie der Moral. In: Werke in drei Bänden, Band 2 64 N1ETZSCHE, F.: Dionysos-Dithyramben. In: Werke in drei Bänden, Band 2 65 NIETZSCHE, F.: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. In: Werke in drei Bänden, Band 3 66 PARACELSUS: Aus der Philosophia Sagax. In: Schriften. Hg. H. Kayser. Insel Verlag, Leipzig 1924 67 PARIN, P.: Der ängstliche Deutsche. Kleinbürger ohne Selbstbewußtsein. Psychologie heute 5, Heft 10, 14, 1978 68 PASCAL, B.: Gedanken. In: Logik des Herzens. Hg. F. Paepcke. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1959 69 PLATON: Symposion. In: Platon - Klassische Dialoge. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1975 70 PLATON: Timaios. In: Timaios und Kritias. Hg. O. Apelt. Meiner Verlag, Leipzig 1922
71 REICH, W.: Die Massenpsychologie des Faschismus. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1974 72 RICHTER, H. E.: Flüchten oder Standhalten. Rowohlt Verlag, Reinbek 1976 73 RICHTER, H. E.: Freiheit oder Sozialismus? In: Worte machen keine Politik. Hg. I. Fetscher u. H. E. Richter. RowohltTaschenbuch Verlag, Reinbek 1976 74 RICHTER, H. E.: Engagierte Analysen. Vorwort. Rowohlt Verlag, Reinbek 1978 75 RICHTER, H.E.: Beide Geschlechter können sich nur gemeinsam befreien. In: Engagierte Analysen. Rowohlt Verlag, Reinbek 197 8 76 ROUSSEAU, J.-J.: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Hg. H. Brockard. Reclam Verlag, Stuttgart 1977 77 ROUSSEAU, J.-J.: Politische Schriften, Band I. Schöningh Verlag, Paderborn 1977 78 SANDKÜHLER, H. J.: Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation einer Kontroverse. In: Psychoanalyse und Marxismus. Bernfeld u. a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1970 79 SAPIR, J.: Freudismus, Soziologie, Psychologie. In: Psychoanalyse und Marxismus. Bernfeld u. a. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1970 80 SCHELER, M.: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Abhandlungen und Aufsätze, I. Band. Verlag der weissen Bücher, Leipzig 1915 81 SCHELER, M.: Wesen und Formen der Sympathie. Schulte-Bulmke Verlag, Frankfurt 5. Auf!. 1948 82 SCHELER, M.: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Ges. Werke, Band 2. Francke Verlag, Bern-München 5. Auf!. 19 66 83 SCHELSKY, H.: Der selbständige und der betreute Mensch. Seewald Verlag, Stuttgart 1976 84 SCHMIDT, G.: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945. Evange!. Verlagswerk, Stuttgart 1965 85 SCHOPENHAUER, A.: über das Fundament der Moral (1840). In: Die beiden Grundprobleme der Ethik. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 2. Auf!. 1860 86 SCHOPENHAUER, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Sämtliche Werke, I. Band. Hg. E. Grisebach. Reclam Verlag, Leipzig 3. Auf!. 1920 87 SCHOPENHAUER, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Sämtliche Werke, 2. Band
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88 SCHOPENHAUER, A.: Parerga und Paralipomena. In: Sämtliche Werke, 5. Band 89 SCHUMACHER, E. F.: Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Rowohlt Verlag, Reinbek 1977 90 SCHUMACHER, E. F.: Ein anderer «Way of Life» - Ist der Fortschritt noch ein Fortschritt? In: Bergedorfer Gesprächskreis, Protokoll Nr. 56, 1977 über Buchhandlung W. Nordmann, Hamburg 91 SENECA: Vom glückseligen Leben. Hg. A. v. Gleichen-Rußwurm. Deutsche Bibliothek, Berlin o. J. 92 SEVE, L.: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt 1972 93 SIMMEL, G.: Schopenhauer und Nietzsehe. Duncker & Humblot Verlag, München-Leipzig 3. Aufl. 1923 94 SKINNER, B. F.: Was ist Behaviorismus? Rowohlt Verlag, Reinbek 1978 95 SPIEGEL: Wie verzaubert, betäubt, berauscht. 32, Nr. 29, 36,1978 96 SPINOZA: Die Ethik. Revidierte Übersetzung von J. Stern. Reclam Verlag, Stuttgart 1977 97 STETTNER, L.: Das philosophische System Shaftesburys und Wielands Agathon. Niemeyer Verlag, Tübingen 1974 98 TILTON, H.: «Das große Buch vom Laufen» führt Bestsellerlisten. Frankfurter Rundschau Nr. 180v. 18.8.1978 98a TROELLER, G., u. C. DEFFARGE: Die grauen Panther. ARDFernsehfilm vom 28.8. 1978 99 WATSON, J. B.: Behaviorismus. Hg. C. F. Graumann. Fachbuchhandlung für Psychologie, Frankfurt 2. Aufl. 1976 100 WATZLAWICK, P., J. H. BEAVIN u. D. D. JACKSON: Menschliche Kommunikation. Huber Verlag, Bern-Stuttgart-Wien 1972 101 WEIZENBAUM, J.: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1977 102 WEIZSÄCKER, C. F. v.: Das moralische Problem der Linken und das moralische Problem der Moral. Merkur 31, 6II, 1977 103 WEIZSÄCKER, V. v.: Der Gestaltkreis. Thieme Verlag, Stuttgart 3. Aufl. 1947 104 WINDELBAND, W.: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. Hg. H. Heimsoeth. Mohr Verlag, Tübingen 1935 105 WINDHOFF-HERITIER, A.: Sind Frauen so, wie Freud sie sah? Rowohlt Verlag, Reinbek 1976 106 WUNDT, M.: Fichte. Frommanns Verlag, Stuttgart 1927