Das neue Abenteuer 324
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Das neue Abenteuer 324
Ulrich Waldner: Der goldene Ring Verlag Neues Leben, Berlin V 1.0 Scan by Dumme Pute & Klesen by Sokrates
Alle Rechte beim Verlag Neues Leben, Berlin 1973 Lizenz Nr. 303 (305/64/73) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Jürgen Pansow Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p. Excelsior Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland Bestell-Nr. 641 710 0 EVP 0,25
Hauptmann Reinhardt schloß den Schreibtisch ab, holte seinen Staubmantel und eine prall gefüllte Einkaufstasche aus dem Schrank. Seppel Beck griff nach der Tasche, sagte „Moment“ und begann ihren Inhalt zu überprüfen: Tapetenkleister, Leimfarbe für die Decke, Abtönpaste, Latex-weiß und kirschrote Plakatfarbe. „Hoffentlich reicht das Rot! Hättest ruhig zwei Becher mehr kaufen können. Das gibt Bonbonrosa, aber mehr nicht!“ „Macht keine Witzchen mit mir“, verteidigte sich Reinhardt. „Wer hat mich denn überredet, den Flur mit Latex zu bepinseln? Wer hat mir aufgeschrieben, was ich kaufen soll? Vielleicht wirfst du mir noch Knausrigkeit vor! Mein Bier trinken, meine Bockwurst essen – Ihr seid sowieso teurer als jede Malerbrigade!“ „Hör nicht auf diesen Menschen“, sagte Oberleutnant Kaluweit grinsend. Er stand vor der Schrankwand und kniffte einen Spitzhelm aus Zeitungspapier. „Im Zweifelsfalle frage Kalle! Vertrauen Sie sich dem Fachmann an! – In letzter Zeit soll da so ein Feierabendbrigant die Leute betrügen. Kann kaum den Pinsel halten, von Farben versteht er soviel wie die Kuh vom Filetstricken – Beck soll er heißen, Seppel Beck! glaub ich! Vor diesem Menschen wird dringend gewarnt!“ Kalle stülpte Seppel Beck den Papierhelm auf den Kopf. „Hier hast du deine Arbeitsschutzbekleidung! Geh vorsichtig damit um, Papier ist ein wichtiger Rohstoff!“ Walter Reinhardt verriegelte die Fenster, Seppel Beck besah sich im Spiegel, rückte den Helm zurecht und fand sich schön. „Das Rot reicht“, sagte Kalle. „Die alte Flurtapete ist ja hell – da klatsch ich dir ein leuchtendes Kirschrot drauf, ein strahlendes, lachendes Rot, sag ich dir! Die Flurgarderobe und der Kuchentellerspiegel – das silberne Blattwerk, das wirkt doch nur vor einer klaren, einfarbig-hellen Fläche! Deine Frau wird begeistert sein.“ Kalle trat an Reinhardt heran, fragte „gestatten?“ und setzte
ihm den zweiten Papierhelm auf. Mit dem dritten behelmte er sich selbst. „Mensch“, sagte Seppel Beck und prustete los, „wenn wir so aus dem Haus gingen! Unten am Posten vorbei! – Die Gesichter! Stellt euch mal vor: die Gesichter!“ Bevor die anderen von seinem Lachen angesteckt wurden, ging die Tür auf. Der Chef trat ins Zimmer. In seinem dunklen tadellos sitzenden Anzug und dem sorgfältig frisierten grauen Haar stand er da und blickte etwas verwundert auf seine drei Mitarbeiter, die sich beeilten, die Papiertüten vom Kopf zu reißen. „Das ist nur, wir wollten“, setzte Walter Reinhardt leicht verlegen mit einer Erklärung an. Der Major unterbrach ihn lächelnd: „Meine Wohnung hätt‛s auch mal nötig“, sagte er. „Vielleicht merkt ihr mich mal vor. Aber heute – es tut mir leid, ich hab hier was für euch. – Gold!“ Er gab Reinhardt einen Zettel, auf dem eine anonyme Anzeige formlos notiert war. Reinhardt las, daß ein gewisser Hans Siebenhaar wieder anfinge – diesmal mit Gold. Man wollte ihn am besten gleich verhaften, heute abend noch, im D-Zug nach Leipzig, Abfahrt 22.35 Uhr. „Überprüft mal die Sache“, sagte der Major, „vielleicht guckt was raus!“ Er nickte ihnen zu, wünschte Toi, toi, toi und ging dann. „Mist verdammter!“ Kalle knüllte seinen Arbeitsschutzhelm zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Zusammen mit Beck überflog er den Text der Anzeige. „Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will – sie meint es nur gut mit Herrn Siebenhaar – , möchte verhindern, daß er sich tiefer in Schuld verstrickt!“ „Ekelhaft“, kommentierte Kalle. „Diese enttäuschten Weiber! Die will ihrem Hänschen eins auswischen! Vielleicht fährt der mit ‛ner Mieze nach Leipzig, und wir sollen ihm die Tour vermasseln! Ich hab sie genascht, diese anonymen Damen und
Herren! Seitdem mir das damals mit dem vermeintlichen Mörder passiert ist …“ Reinhardt bremste ihn. „Ja doch“, sagte er, „ist ja gut! – Laßt uns mal überlegen!“ Er setzte sich an den Schreibtisch und las noch einmal die Anzeige durch. „Wenn sie schreibt, ,er fängt wieder an – diesmal mit Gold‛, dann heißt das doch, daß er schon mal angefangen und höchstwahrscheinlich bei uns eingesessen hat!“ Er telefonierte, und fünf Minuten später wußten sie, daß Hans Siebenhaar, Jahrgang fünfundzwanzig, kaufmännischer Angestellter, vor einem halben Jahr aus dem Strafvollzug entlassen wurde: dreieinhalb Jahre wegen Optikschiebung und Urkundenfälschung. „Na bitte“, sagte Reinhardt voller Genugtuung, „nun sieht der Fall schon etwas freundlicher aus. Was meinst du – immer noch ein Windei?“ Er sah Kalle fragend an. „Schon gut, ich fahre!“ Begeistert war Oberleutnant Kaluweit nicht. „Ihr fahrt beide“, entschied Reinhardt. „Die Decken wasch ich alleine ab. Mehr hätten wir heute sowieso nicht geschafft.“ „Das Flurstreichen überläßt du mir“, forderte Kalle kategorisch, „dazu habe ich mich verpflichtet!“ „Hast du was, worauf du dich freuen kannst!“ Reinhardt stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. Draußen auf dem Gang waren Schritte zu hören. Ein Bote kam und brachte die angeforderten Unterlagen des Hans Siebenhaar. Die Fotos zeigten einen etwas faden blassen jungen Mann. Er sah nicht aus wie Anfang Dreißig, er sah eher aus wie ein durchs Abitur gefallener Oberschüler. „Nehmen wir an, er sitzt im Zug – was dann“ fragte Seppel. Visitieren wir ihn, oder lassen wir ihn laufen und sehen zu, wo er uns hinführt?“ „Lohnt doch nicht“, warf Kalle ein. „Der hat in Leipzig einen Juwelier kennengelernt, und nun bringt er ihm aus Westberlin prima DEGUSSA-Goldblech! Kleiner Fisch – brauchst ihn dir
bloß anzusehen. Da steht der Aufwand in keinem Verhältnis zum möglichen Erfolg.“ „Kleiner Fisch stimmt“, sagte Beck und blätterte in der Akte, in der er gelesen hatte, „deshalb hat er auch nur in der Gruppe gearbeitet. Das ist kein Einzelgänger, der fühlt sich in der Clique wohl. Ich denke, wir sollten nicht zupacken, wir sollten ihn beobachten. Was meinst du, Walter? – Daß es in Leipzig einen Schieberring gibt, steht fest. Nur über den Umfang wissen wir nichts – und auf welche Weise sie sich das Rohgold beschaffen. Dieser Siebenhaar könnte ein Pilotfisch sein.“ „Durchaus möglich“, sagte Reinhardt abwägend. Er legte die Hände auf den Rücken und sah zum Fenster hinaus. Der Septembertag war warm und sonnig gewesen, Abendrot färbte den Himmel über den Dächern. „Ich habe das Gefühl, daß uns dieser Bursche ganz nützlich sein könnte – und trotzdem“, er wandte sich Seppel Beck zu, „ihr werdet ihn visitieren, und wenn ihr was findet, nehmt ihr ihn fest.“ „Und warum“, fragte Seppel erstaunt. „Weil Frauen konsequenter sind als Männer! Was meint ihr, was passiert, wenn wir die anonyme Anruferin enttäuschen? – Ich wäre sonst auch für Observation, aber mit einer liebenden, besorgten – was weiß ich, auf welche Weise engagierten Frau im Nacken …“ Reinhardt schüttelte den Kopf. Kalle brubbelte etwas vor sich hin, das so klang, wie „Hut ab vor deiner Weisheit, Chef“. Es war alles klar. Sie mußten die Transportpolizei verständigen und sich mit der Persönlichkeit des Herrn Siebenhaar vertraut machen. Die Akten lagen ja auf dem Tisch. Walter Reinhardt nahm seine Einkaufstasche mit den Malerutensilien auf und verabschiedete sich. „Ruft mich zu Hause an, wenn ihr in Leipzig seid!“ Sie versprachen es und sahen ihm nach wie der Landmann, dem es die Petersilie verhagelt hat.
Hans Siebenhaar fuhr erster Klasse. Das ist immer gut, hatte er sich gesagt, das wirkt seriös: Geschäfts- oder Dienstreisender! Aktentasche im Gepäcknetz, Trenchcoat am Haken und auf dem leeren Sitz neben ihm das aufgeschlagene ND. – Er unterhielt sich mit seiner Nachbarin zur Linken sehr angeregt über den volkswirtschaftlichen Wert des Exportartikels Mode. Die Dame war weder jung noch schön, aber sie besaß einen Modesalon und war entsprechend scheußlich gekleidet: in glitzerndes Lila! Um den Hals ein schwarzes Samtband mit Medaillon. Egal, wie die Dame war, Hans Siebenhaar wollte unbefangen, fröhlich plauschen, wenn die Transportpolizei kam und die Ausweise kontrollierte. Er achtete nicht auf die beiden Herren – den schmalen dunkelhaarigen im Nylonmantel und den etwas jüngeren, der blond war und breitschultrig und einen marineblauen Übergangsmantel über dem Arm trug. Die beiden hatten einen Blick ins Abteil geworfen, standen nun auf dem Gang und sahen aus dem Fenster, vor dem gemächlich nachtdunkle Felder und tiefschwarze Waldstücke vorbeizogen. Die Transportpolizei betrat den Wagen. Abteiltüren wurden aufgezogen. „Bitte die Ausweise zur Kontrolle!“ Oberleutnant Beck nickte den Genossen zu. Hans Siebenhaar wunderte sich, daß man ihm seinen Ausweis nicht zurückgab. „Kommen Sie bitte mit zur Kontrolle“, forderte man ihn auf. „Ist das Ihr Gepäck – und Ihr Mantel?“ „Ja, aber ich verstehe nicht …“ Ob er verstand oder nicht, der Transportpolizist blieb unerbittlich, und so faltete Hans Siebenhaar das ND zusammen, nahm seinen Trenchcoat über den Arm und die schweinslederne Aktentasche aus dem Gepäcknetz. Er hob die Schultern, warf seiner ältlichen Reisebegleiterin einen Blick zu, der besagte: Na ja, was will man da machen, dieser Unverstand! und verließ das Abteil. Die Besitzerin des Modesalons war empört. Sie zeigte den Blauuniformierten durch Haltung, Blicke und Ausdruck, was sie von ihnen hielt.
Paul Lüdecke stand fünf Abteile weiter auf dem D-Zug-Gang. Er hatte aus Westberlin den Auftrag mitgenommen, den Neuling Siebenhaar unauffällig zu überwachen. Als er ihn jetzt in Begleitung eines Transportpolizisten und der beiden Männer in Zivil sah – die beiden waren ihm gleich nicht koscher erschienen! – als er Siebenhaar so eskortiert den Gang auf sich zukommen sah, packte ihn das blanke Entsetzen. Ruhe bewahren, nicht durchdrehen, sagte er sich, dieser dämliche Anfänger kennt mich nicht, die Bullen kennen mich auch nicht! Also dumm stellen und vorbeilassen! Er ließ sie vorbei, zog den Bauch und den Brustkorb ein. Paul Lüdecke war ein Mann von zwei Zentnern Lebendgewicht; sein eleganter, maßgeschneiderter Anzug, das teure Hemd, die teure Krawatte, der schwere Siegelring und das glatt gestriegelte schwarze Haar ließen ihn bedeutsamer und intelligenter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Paul Lüdecke wußte, daß sein Chef gelegentlich von ihm als dem Gorilla sprach, und er setzte alles daran, seinem Äußeren den Anschein zivilisierten Menschseins zu geben. Etwas schwach in den Knien, zog er sich in die Toilette zurück. Tür zu, Riegel herumgedreht. Aufatmend lehnte er sich gegen die Tür. Zwei, drei Sekunden verharrte er so. Dann kam Leben in ihn. Aus den dicksohligen Schuhen holte er Einlagen hervor, schwere, goldglänzende Einlagen. Er ließ sie in einem der eingebauten Schränkchen verschwinden, zog die Schuhe wieder an, knüpfte die Senkel zu. Ein Blick in den Spiegel, das Haar glatt gestrichen, tief durchatmen – auch „Gorillas“ haben Nerven! – auf die Spülung gedrückt, das Wasser rauscht. Noch einmal rauschen lassen, das Wasser am Handwaschbecken durch Fußdruck zum Fließen bringen und die schweißnassen Hände kühlen. Abtrocknen, die Tür aufmachen und dem draußen wartenden Transportpolizisten erstaunt ins Auge blicken. „Ausweiskontrolle? – Aber sofort, bitte!“ Paul Lüdecke war Herr der Situation.
Der Zug, der hinter Jüterbog das Tempo aus unerfindlichen Gründen verlangsamt hatte, nahm wieder Fahrt auf. Das Ratata der Schienenstöße erfolgte immer schneller, verschmolz zu dem gewohnten jagenden Rhythmus. Das Fenster des Dienstabteils war verhängt. Hans Siebenhaar saß Oberleutnant Beck gegenüber und beteuerte seine Unschuld. „Es ist das erstemal! Sie können mir glauben, ich hatte keine Ahnung …“ „Sie wollen uns doch nicht weismachen, daß man Sie in Westberlin mit dieser Ladung – die unter Brüdern ein paar Tausend wert ist – so einfach losschickt! Ins Ungewisse, als Versuchsballon!“ Seppel Beck zeigte auf die meterlangen Goldblechstreifen, die sie aus dem Trenchcoatgürtel des Herrn Siebenhaar herausgetrennt hatten. „Doch! Das heißt, nicht gerade als Ballon!“ Der blasse, blonde Siebenhaar ringt in echter Verzweiflung die Hände. „Ich hatte nur den Auftrag, zu diesem Juwelier zu fahren. ,Tag, Herr Graf, sollte ich sagen und fragen, ob der Ring für Herrn Wittig fertig ist. Ein Siegelring mit den Initialen O.W. Und er sollte antworten: ,Ich habe ihn gerade in Arbeit. Kommen Sie mit.‛ – Das war alles.“ Kalle saß auf derselben Bank wie Siebenhaar an der Türseite, er protokollierte. Zwischendurch sah er den zu Vernehmenden mit wachsendem Interesse von der Seite an. Er beugte sich auch vor, sah ihn von vorn an, und dann riß er einen Zettel von seinem Block, schrieb etwas darauf und reichte es Seppel. Der las, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Nun erzählen sie uns mal mehr über diesen Herrn Wittig“, forderte er Siebenhaar auf. Und der erzählte alles: daß er in einer Westberliner Kneipe, einem sogenannten Künstlerlokal, verkehrt, dort mächtig auf den Putz gehauen und vorgegeben habe, aus politischen Gründen inhaftiert worden zu sein. Bei seinem fünften Besuch hatte Wittig sich seiner angenommen und ihm diese todsichere Sache verschafft. Er könnte sich Geld für eine neue Existenz im Westen verdienen. „Wie ich den Wittig beschrei-
ben soll? – Nun ja, ‛n Geschäftsmann in den Fünfzigern, groß, schlank, graue Schläfen – wie eben einer aussieht, der Geld wie Heu hat. Fährt ‛n dicken Chevrolet, der Herr, innen mit Schlangenleder ausgeschlagen. Ja, wirklich: echtes Schlangenleder!“ Hans Siebenhaar schwor bei allem, was ihm heilig war, daß es sein erster Auftrag war und daß er den Leipziger Juwelier Graf, dem er das Gold bringen sollte, noch nie gesehen hätte. Tränen der Reue liefen ihm übers blasse Gesicht. Bemerkenswert war, daß er schon eine Ahnung davon hatte, wer ihn so schnell dem zielgerichteten Griff der Polizei ausgeliefert hatte: Elsbeth, seine Verlobte. Sie hatte ihn gewarnt, hatte ihn zurückhalten wollen, sogar gedroht hatte sie ihm: nicht untätig zusehen würde sie, wie er erneut in sein Verderben renne! Hans Siebenhaar war ihr so dankbar! Bestätigt wurde ihm seine Vermutung nicht. Kalle dachte nur: Du alter Schwede! Hätt‛s geklappt, würdest du jetzt nicht heulen, sondern jubilieren und leben wie der Graf von Luxemburg – oder der aus Leipzig! Er schrieb wieder etwas auf einen Zettel und reichte es Seppel Beck. Seppel las, warf Kalle einen rügenden Blick zu, unterbrach jedoch die Vernehmung. Ein Transportpolizist blieb bei Siebenhaar, sie gingen ins Nachbarabteil. „Was hast du dagegen einzuwenden?“ fragte Kalle und entwickelte sofort eine beängstigende Aktivität. „Das ist eine Chance, in den Ring einzusteigen. Der Junge schwindelt nicht, der hat viel zuviel Dampf in den Hosen!“ „Du bist Kriminalist und kein Privatdetektiv!‛‛ „Entscheidungsfreudig warst du nie!“ „Entschuldige mal.“ Seppel brauste auf. „Wir haben einen klaren Auftrag! Du hast ihn genauso akzeptiert wie ich!“ „Ein Kriminalist muß sich veränderten Situationen anpassen können“, konterte Kalle. Er war zu laut und zu erregt, er dämpfte seine Stimme. „Ich habe gedacht, der Siebenhaar wäre
ein ganz kleiner Fisch – so auf privater Ebene, klein, klein! – , du hast das Wort Pilotfisch geprägt. Ich korrigiere mich: Du hast recht. Er dirigiert uns direkt an die Beute – wenn wir mal Hai spielen wollen! Von diesem O.W. in Westberlin zu diesem Graf in Leipzig! Das sind die beiden Pole. Wir können Walter nicht fragen, er sitzt in Berlin, wäscht seine Zimmerdecke ab, aber wenn er hier wäre …“ Seppel unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Was guckt raus“, fragte er. „ … auf die einfachste Weise zu erfahren, wer alles drinhängt in diesem Ring. Das kann uns monatelange Arbeit ersparen!“ „Zugegeben! Immer vorausgesetzt, daß Siebenhaar die Wahrheit sagte. Aber es gibt eine Telefonverbindung von Leipzig nach Westberlin.“ „Na und?“ „Es wäre doch denkbar, daß O. W. aus Westberlin seinem Kompagnon in Leipzig eine genaue Personenbeschreibung durchgegeben hat. Du hast zwar die Größe, auch das blonde Haar, aber sonst …“ „Der eine legt‛s so aus, der andere so“, sagte Kalle. „Nehmen wir an, O. W. hat einen bläßlichen Typ avisiert – nun komme ich …“ Seppel Beck grinste gemein. Kalle war alles andere als bläßlich. „Kennst du den Juwelier Graf? Vielleicht findet er mich blaß! Hauptsache, die äußeren Merkmale stimmen – und die stimmen überein.“ Seppel dachte nach. Er kratzte sich das Schläfenhaar, sah Kalle an, sah auf die Fotografie des Siebenhaar. „Mensch, Junge“, sagte er schließlich, „du wärst doch nur ein kleiner Kurier. Meinst du, die lassen sich von so einer Funktionsfigur in die Karten gucken?“ „Das laß mal meine Sorge sein!“ Kalle war voller Zuversicht. „Ich werde mich hüten, so trottlig aufzutreten wie dieser Siebenhaar.“
„Mag sein – und trotzdem …“ Seppel zögerte immer noch. „Die Sache ist nicht ungefährlich“, sagte er. „Wir müssen dich absichern.“ „Das hoff ich“, sagte Kalle, und diesmal war er ganz ernst. „Du wirst Walter anrufen und wirst auch in Leipzig alles Nötige in die Wege leiten.“ Der D-Zug hatte die Bummeleien auf der Strecke aufgeholt und lief pünktlich auf dem Leipziger Hauptbahnhof ein. Türen wurden aufgestoßen, Leute stiegen aus, schleppten Koffer, wurden empfangen, umarmt, ein Strom von Menschen bewegte sich vor zur Sperre. Paul Lüdecke war als einer der ersten vorausgeeilt. Am Zeitungskiosk faßte er Posten und beobachtete, wer alles den Zug verließ. Siebenhaar war nicht dabei. Aber der dort, der Dunkelhaarige, Schmale, das war einer der Kriminalisten, die Siebenhaar abgeführt hatten – und da, in einigem Abstand, kam auch der zweite, der Blonde, der aussah wie ein Sportsmann! Pauls Herz begann einen wilden Wirbel zu schlagen. Dieser Kriminalpolizist steckte in Siebenhaars Trenchcoat! Kein Zweifel, das war der Trenchcoat, das war der breite gesteppte, mit Goldblech gefütterte Gürtel! Warum hatte O. W. einen Neuen einstellen müssen?! Schon der Name hatte Paul mißfallen: Siebenhaar! So pflaumenweich wie der ganze Kerl! ,Er sieht so schön harmlos aus‛, hatte O. W. gemeint, ,genau das, was wir brauchen! Außerdem ist er sehr formbar!‛ Formbar! Gesungen hatte der Bursche, gesungen wie ein ganzer Knabenchor! Paul setzte sich in Bewegung. Er mußte Graf warnen, mußte ihm sagen, daß alles aus war, daß ihm ein Kuckucksei ins Nest gelegt werden sollte. Die Telefonzellen waren besetzt. Auf dem Bahnhofsvorplatz erwischte er ein freies Taxi. Er nannte als Fahrtziel das Juweliergeschäft Graf, verbesserte sich aber schnell: „Drei Häuser
davor.“ Als der Wagen in die Straße einbog, sah Paul schon von weitem, daß vor dem Laden ein anderes Taxi stand. Der Fahrer schaltete auf „frei“ und fuhr an. Ein Mann im Trenchcoat lief über den Bürgersteig, betrachtete die Auslagen im hellerleuchteten Schaufenster, schlenderte weiter zur Haustür und drückte auf den Klingelknopf. „Moment mal“, Paul klopfte seinem Fahrer auf die Schulter, „ich hab‛s mir anders überlegt!“ Der Fahrer fuhr langsamer. Ihm war es einerlei, wohin er den piekfein angezogenen Ochsentreiber kutschierte. (Der Taxifahrer klassifizierte seine Fahrgäste auf die ihm eigene Weise und zählte dennoch zu einem der höflichsten in ganz Leipzig!) Ihm fiel auf, daß es im Wagen plötzlich intensiv nach Schweiß roch. Er kurbelte das Fenster herunter und steckte sich eine Zigarette an. So rollten sie fast im Schrittempo am Juweliergeschäft des Gunnar Graf vorbei. Paul Lüdecke sah, wie der blonde Kriminalist das vornehme alte Haus betrat, und wußte, daß alles, was er jetzt unternehmen würde, sinnlos war. Gunnar Graf und die „tolle Lola“ – seine Frau Madeleine – waren nicht mehr zu retten. Pauls Gedanken bewegten sich wie ein Hamster in der Trommel. Alles um ihn drehte sich rasend, aber er kam nicht voran. Der Taxifahrer wurde ungeduldig. „Na, wohin nun, Meister?“ „Stopp mal!“ Paul hielt den unökonomischen Gedankenkreislauf an. In den Brusttaschen seines Jacketts steckten die schweren goldenen Einlegesohlen. Das war etwas. Und wenn schon alles krachen ging, dann hatte er dies, und dann hatte er noch eine andere Möglichkeit, sich mit Gewinn aus der Affäre zu ziehen. Er griff in die linke Brusttasche, wo sich in traulicher Nachbarschaft mit dem Edelmetall die Brieftasche befand, entnahm letzterer einen größeren Geldschein, reichte ihn dem Fahrer und nannte als neues Fahrziel eine Wochenendsiedlung weit außerhalb der Stadt.
Der Juwelier Graf empfing seinen Besucher mit vornehmer Zurückhaltung. „Sie wünschen?“ fragte er ganz so, als ob er in seinem Geschäft stünde und einen Kunden bediente. Kalle hatte beschlossen, forsch aufzutreten. Er musterte den Juwelier, einen ziemlich klapprigen Endfünfziger im kaffeebraunen Morgenmantel, mit unverhohlener Neugier. „Ist der Siegelring mit den Initialen O. W. fertig?“ fragte er. „Ich habe ihn gerade in Arbeit, kommen Sie mit!“ Das klappte ja, die Parole stimmte. Kalle folgte dem würdevoll voranschreitenden Hausherrn über den Flur und durfte ins Wohnzimmer treten. Chippendale, stellte Kalle fest. Sehr teuer, sehr geschmackvoll. Altes Porzellan in der Vitrine – China oder Meißen – , wer konnte das entscheiden auf den ersten Bück! „Guten Morgen“, sagte eine angenehm dunkle Frauenstimme. Kalle drehte sich um und sah sich einer Frau gegenüber, deren verblüffende Ähnlichkeit mit Sophia Loren ihn zu einem erstaunten und bewundernden „Oh“ veranlaßten. Die in einen weißen Morgenmantel gehüllte Dame war keineswegs pikiert. Im Gegenteil, sie lächelte, erhob sich aus ihrem Sessel in der Ofenecke und reichte ihm die Hand zur Begrüßung. „Ich bin entzückt“, sagte Kalle und beugte sich über ihre schlanke, wohlgeformte Hand. Sie raucht zuviel, stellte er fest, die Finger sind braun! Und sicher trinkt sie auch zuviel! Er sah, daß die Kognakflasche auf dem Tischchen unter der Stehlampe zu Dreivierteln geleert war. „Das ist Herr – na ja, du weißt schon, der Neue von O. W.“, sagte der Hausherr hinter Kalles Rücken. Das war keine formvollendete Vorstellung. Kalle fühlte sehr wohl, daß der alternde Juwelier ihn deklassieren und so schnell wie möglich aus dem Haus haben wollte. Aber dies konnte er doch nicht mit ihm tun! „Siebenhaar“, stellte er sich vor. „Fragen Sie mich nicht, gnädige Frau, wie
ich zu diesem Namen komme! Ich weiß es nicht! Jedenfalls dürfen Sie froh sein, mich so frisch und munter und vollständig in allen Teilen“ – er wandte sich auch an den Ehemann – , „ja, mein Lieber, Sie können froh sein …“ Graf war überfordert. Er wußte mit diesem jungen, energischen, impertinent auftretenden Siebenhaar nichts anzufangen. Die schmalen Lippen in seinem runzligen Aristokratengesicht preßten sich noch fester zusammen. Ein Blick von oben herab, ein verächtliches Naserümpfen. „Mein lieber Freund“, sagte er, jedes Wort betonend. Kalle kümmerte sich den Teufel daran, ob dieser Mann ihn auf diskrete Weise rügen wollte oder nicht. Er blieb bei seinem Vorhaben. Die Dame des Hauses, die mindestens fünfundzwanzig Jahre jünger war als ihr Gemahl, schien so viel Alkohol geschluckt zu haben, daß ihr an Form nichts mehr gelegen war. Sie sah ihn, einen jungen, kräftigen Kerl, vor sich, und sie erwartete etwas. Wahrscheinlich etwas, das ihr Herr Gunnar Graf nicht mehr zu geben imstande war. Oberleutnant Kaluweit ging aufs Ganze. Er räusperte sich, warf der Dame einen auffordernden, ja geradezu frechen Blick zu und sagte, sich langsam wieder zu ihrem Gemahl umwendend: „Der Tod des Handlungsreisenden von Arthur Miller ist ja bekannt!“ Er lachte unbefangen. „Und so tot wäre ich, und so tot wäret Ihr auch, meine beiden Hübschen! Da guckt Ihr dumm aus der Wäsche …“ In der Tat: Nicht nur Gunnar, auch seine jüngere Frau Madeleine sah etwas verwundert drein. „Man hatte mich am Wickel! Man soll die Ost-Trapo nicht unterschätzen! ‛Kommen Sie mal mit ins Dienstabteil!‛“ Gunnar Grafs dunkel umschattete Augen weiteten sich vor Schreck. „Jaja“, beteuerte Kalle, „man hat heute aus jedem Abteil einen mitgenommen, es war schlimm! Aber man muß der Sache gewachsen sein, sehen Sie: So …!“ Er öffnete den Trenchcoatgürtel, ließ die schweren Enden nach unten fallen, schlug geschickt den Mantel auseinander, präsentierte sich wie
zu einer Leibesvisitation. „Und dann faßt man sich ans Herz, an die Brusttasche – reine Reflexbewegung! – , und schon hat man die Herren abgelenkt. Sie wollen die Brieftasche sehen! – Ja, und da hat man da zwei Fotos drin. Ich mach mir nicht sehr viel daraus – aus den Fotos!“ Kalle bemerkte, daß Frau Graf immer interessierter wurde, „aber diese Fotos, französische wohlbemerkt, müssen konfisziert werden. Paragraph sowieso, sowieso – und schon hat man so viel Ärger damit, daß es gar nicht auffällt, wenn man zum Schluß wutentbrannt mit offenem Mantel aus dem Dienstabteil stürzt.“ Kalle machte auch das vor. Sophia Loren lachte vor Vergnügen. Ihr weißer Morgenmantel öffnete sich ein wenig. Vielleicht war es Absicht. „Ja“, sagte Kalle, zog den Gürtel mit einem Ruck aus den Schlaufen und knallte ihn auf den Wohnzimmertisch, „ich bin zwar neu in Ihrem Kreis, aber ich glaube, einen Kognak habe ich mir verdient.“ Er zog den Mantel aus, warf ihn auf die Couch, setzte sich und trennte geschickt die Innennaht des Gürtels auf. Er zog die weichen, schmiegsamen Goldblechstreifen heraus, stand auf und präsentierte sie dem Juwelier. „Sie sind ja ein Held“, sagte die schöne Frau und reichte ihm leicht schwankend ein reichlich gefülltes Glas. „Vielen Dank!“ Kalle verbeugte sich, sah ihr tief in die Augen. Dem Hausherrn und Ehemann mißfiel das Benehmen seiner Frau. Sobald sie getrunken hatte, vergaß sie allzu leicht, wer sie war. Gunnar Graf räusperte sich. „Dann mal zum Geschäftlichen“, sagte er und klappte seine Brieftasche auf. „Das hat Zeit bis morgen!“ Kalle tat ganz unbekümmert. Er nippte mit Kennermiene an dem Kognak. „Bitte setzen Sie sich doch – und erzählen Sie“, forderte Madeleine ihn auf. „Wie geht‛s O. W.? Wie haben Sie ihn kennengelernt? Ich bin neugierig.“ „Er fährt noch immer Schlangenleder. Ehrlich gesagt, mir
war‛s zu kühl, ich bevorzuge die Haut vollblütiger Geschöpfe!“ Er lächelte ihr zu, trank seinen Kognak aus und verabschiedete sich. Der Juwelier atmete auf, seine Frau verzog enttäuscht das Gesicht. „Wir können ihn doch nicht einfach so gehen lassen“, warf sie ihm vor. Und zu Kalle gewandt: ,,Wissen Sie denn überhaupt, wo Sie heute nacht unterkommen? Haben Sie ein Hotelzimmer?“ „Ja, gnädige Frau, vielen Dank!“ „Er könnte doch bei uns schlafen! Wir haben Platz genug, Gunnar! Ich verstehe dich nicht!“ „Madeleine …“, der Hausherr zog tadelnd die Brauen hoch, „Herr Siebenhaar zieht es vor, im Hotel zu übernachten. Du hast es eben gehört. Wir können ihm doch nicht vorschreiben …“ „ …wirklich, sehr liebenswürdig Ihr Angebot“, sagte Kalle und schaute auf die Uhr, „aber ich habe noch eine wichtige Verabredung. Mit O. W.‛s Blechjob allein schaff ich nicht das, was ich mir vorgenommen habe – Sie verstehen …“ Der mürrische, wortkarge Juwelier brachte ihn die Treppe hinunter und ließ ihn aus dem Haus. „Morgen vormittag um zehn, wenn‛s recht ist“, sagte Kalle. „Bist du wahnsinnig! Wie kannst du diesen Kerl einladen, bei uns zu übernachten!“ Wieder in seiner Wohnung, begann Gunnar Graf erregt hin- und herzulaufen und heftig zu schimpfen. „Wir haben mit diesem Menschen nichts zu tun! Verstehst du! Keine Kontakte! Überhaupt: Ich muß O. W. anrufen! Er hat uns einen blassen, schüchternen jungen Mann angekündigt, sehr formbar – einen, den wir gut in der Hand haben, weil er hüben und drüben Dreck am Stecken hat! Das Letztere mag stimmen, aber blaß, schüchtern und formbar? Da stimmt was nicht!“ Graf lief zum Telefon. Seine Frau saß lässig auf der Couch, hatte die Beine übereinandergeschlagen und sah ihm belustigt zu. Als er den Hörer abhob, sägte sie: „Ich habe das Gespräch nach Westberlin bereits angemeldet!“
„Was hast du?“ Er drehte sich um, sah sie verblüfft an. „Du bist und bleibst ein Schaf“, sagte sie und trank von ihrem Kognak. „Was meinst du denn, warum ich ihn hierbehalten wollte? Um ihn besser unter Kontrolle zu haben -~ aber du, du denkst ja nur, ich …“ Das Telefon klingelte. Mitten im Satz sprang sie auf und nahm ihrem Mann den Hörer aus der Hand. – O. W. war am Apparat. Man nannte die Dinge nicht beim Namen, und dennoch verstand man sich. Als das Gespräch beendet war, standen die beiden Grafs dicht nebeneinander am Telefon und sahen sich fragend an. Gunnar hatte mitgehört, er zweifelte noch immer am meisten. „Ist er‛s nun oder ist er‛s nicht? Das Signalement stimmt – nur sein Auftreten! Trat der wie ein armer Schlucker auf? War er nur aufs Geld scharf? Und überhaupt …“ „In drei Tagen kommt O. W.! So lange müssen wir diesen Siebenhaar festhalten. Und das überläßt du mir!“ Sie faßte ihren Gunnar an der Nase, dann zog sie ihn am Ohr. „Daß du mir nicht wieder dazwischen funkst mit deiner blöden Eifersucht! Du überläßt ihn mir – hast du verstanden?“ „Ja doch, ja doch!“ Er legte seine Arme um sie. „Nur trink nicht soviel!“ „Ich habe noch nichts mit den Nieren! Also laß mich trinken – ein kleines Vergnügen braucht der Mensch, nicht wahr?“ Es war ihm äußerst peinlich, wenn sie ihn an seine Krankheiten und sein Alter erinnerte. Er straffte sich nur, reckte sich in den schmalen Schultern und begann, während sie sich den Rest Kognak einschenkte, im Zimmer auf und ab zu wandern. „Mir ist nicht ganz wohl bei dieser Sache – beziehe das bitte nicht auf dich! – Ich meine nur – überhaupt …“ Sie saß wieder auf der Couch und beobachtete ihn. Überlegen und distanziert. „Das eigentliche Problem liegt ganz woanders“, sagte sie und vermerkte voller Genugtuung, daß er genauso reagierte, wie sie es erwartet hatte: Er blieb stehen, sah sie verwirrt an und mühte sich vergeblich zu erfassen, was sie
wohl meinte. „Paul ist im selben Zug mit ihm gefahren“, sagte sie über den Rand des Glases hinweg. „Er müßte längst hier sein. Er ist etwas blöd, aber zuverlässig. Zumindest war er es – bis heute jedenfalls …“ „Mein Gott, du willst doch nicht etwa andeuten, daß unser guter Gorilla mit diesem Siebenhaar …“, der Juwelier konnte vor Aufregung nicht weitersprechen. Madeleine stand auf und holte sich aus dem Schrank eine neue Flasche. „Nimm eine Tablette und geh schlafen, Gunnar“, riet sie ihrem Mann im Ton einer alten erfahrenen Oberschwester, „Einen Gallen- oder Nierenanfall können wir uns im Augenblick nicht leisten. Ich bleibe noch auf und warte auf Paul.“ Paul Lüdecke hatte den Taxifahrer nach Hause geschickt und war die letzten zweihundert Meter zu Fuß gegangen. Es war eine dunkle, sternklare Nacht. Paul blieb vor einem Grundstück stehen, das von hohen Schilfmatten umgeben war. Er kletterte über das Gartentor, lief den Plattenweg entlang, umkreiste wie ein Fuchs, der einen Durchschlupf in den Hühnerstall sucht, das ziemlich große, massiv gebaute Wochenendhaus, rüttelte an der Klinke, faßte dann einen der geschlossenen Fensterläden, zerrte daran mit aller Kraft, warf sich zwei-, dreimal wuchtig zurück – ein Knacken und Splittern, die Fensterläden flogen auf und schlugen klatschend links und rechts gegen die Hauswand. Paul störte sich nicht weiter um den Lärm. Er zog eine seiner goldenen Einlegesohlen aus der Brusttasche, schlug ein Loch in die Scheibe, wirbelte den Riegel auf, stieg ein, schloß die Läden, knipste Licht an und begann in Kästen und Schränken zu wühlen. Er fand nicht, was er suchte, geriet in Schweiß, warf fluchend die Betten durcheinander, schlitzte die Polster der Sessel auf, zerrte den Teppich beiseite, untersuchte die Dielenbretter, klopfte die Wände ab. Ohne Erfolg. In Hemdsärmeln stand er inmitten der Verwüstung, ein behaarter Koloß,
der sich schnaufend vor Wut umsah. Irgendwo mußten sie doch das Gold versteckt haben! Das zu Schmuck verarbeitete Gold, die massiven Ringe und Armreifen, die schweren Ketten! Aber wo? Er sah sich um, hilflos und verzweifelt. Morgen war das Gold nur noch einen Pfifferling wert. Der falsche Siebenhaar saß bei Grafs in der Wohnung – die waren sowieso verloren, denen half keiner mehr! – aber ihm, wenn er den Schmuck fand, ihm konnte er noch nützlich sein! Die Gerätelaube, durchzuckte ihn ein Gedanke. Er löschte das Licht, stieg aus dem Fenster. Mit voller Wucht warf er seine zwei Zentner gegen die Tür des Schuppens. Das Schloß brach gleich beim ersten Ansturm aus der Verschraubung – doch als es nach Stunden zu dämmern begann und das Innere des Wochenendhauses und das Innere des Geräteschuppens aussahen, als sei ein Tornado hindurchgefegt, hatte Paul Lüdecke noch immer nichts gefunden, nicht einen einzigen Ring. Er starrte sich in einem heil gebliebenen Spiegel an, knirschte mit den Zähnen. Dann spuckte er auf die Trümmer und begann, sein Äußeres einigermaßen herzurichten. Was ihm jetzt blieb, war nur noch die Flucht! So schnell wie möglich nach Berlin, nach Westberlin zu O. W. Oberleutnant Kaluweit hatte ein Zimmer im Hotel „Zum Löwen“ bestellt. Er ließ sich um sieben Uhr wecken, begann den Tag wie immer mit zehn Minuten intensivem Krafttraining, ging ins Bad, drehte die Dusche auf, und unter den sprühenden, dampfenden Strahlen sich wohlig reckend und drehend, überlegte er, wie die Sache heute wohl weiter laufen würde. Angefangen hatte sie ganz gut. In der Nacht noch hatte er mit Seppel Beck hier im Hotelzimmer gesprochen. Seppel hatte es zunächst sehr spannend gemacht. Klar, Kalle konnte sich denken, wie Walter Reinhardt reagierte, als er von ihrer im D-Zug gefaßten Entscheidung erfuhr. Ein Mordsdonnerwetter ließ er
vom Stapel, und die Malerbürste hat er in die Ecke geworfen, aber dann, nachdem sich die Aufregung gelegt hatte, gab er seinen Segen. ,,Ich heiße also Hans Siebenhaar“, murmelte Kalle vergnügt vor sich hin und wiederholte alle Daten und Fakten, die er als Siebenhaar wissen mußte. Viel mehr war im Augenblick nicht zu tun. Er hatte sich ein Programm zurechtgelegt, wie er bei Madeleine und Gunnar Graf vorgehen wollte, aber dieses Programm trug mehr hypothetischen Charakter. Er war gezwungen, sich auf die Gegenseite einzustellen, mußte sich also weitgehend auf seine Intuition verlassen. Seppel Beck und zwei Genossen der Leipziger Bezirksbehörde schirmten ihn ab. Kalle hielt das für überflüssig. Was war von diesen sich vornehm gebärdenden Spießbürgern schon zu erwarten? Gefährlich wurden die nicht! Aber wie es so ist: Es gibt Vorschriften und Bestimmungen, die beachtet werden müssen. Nach Beendigung seiner Morgentoilette fuhr Kalle mit dem Lift ins Restaurant hinunter, frühstückte ausgiebig, telefonierte mit Seppel, ließ sich die Daumen drücken und war pünktlich um zehn Uhr vor dem Juweliergeschäft. Die Ladenglocke hörte sich an wie ein gedämpftes indisches Glockenspiel. „Guten Morgen“, sagte Kalle und setzte sein strahlendstes Lächeln auf. Madeleine kam um den Ladentisch herum und begrüßte ihn nicht weniger strahlend. Sie war allein und trug ein tiefausgeschnittenes resedafarbenes Kleid. Ein wenig zu tief ausgeschnitten fast, Kalle glaubte wieder, Sophia Loren sei auf direktem Wege von Rom nach Leipzig geeilt, um sich ihm in all ihrer sündigen Schönheit zu präsentieren. Doch diese Gedanken mal beiseite geschoben: Seine Rechnung schien, aufzugehen! Madeleine war der Schlüssel, an sie mußte er sich halten. Sie war eine Frau, die noch etwas vom Leben erwartete. Ihr Mann besaß viel Geld, hatte aber sonst nicht viel zu bieten. Kein Wunder also, daß sie sich an jüngere hielt.
Kalle beschloß, sich gleich kräftig ins Zeug zu legen. „Sie sind so schön“, sagte er und musterte sie dabei eindringlich, frech und ungeniert, „eine solche Schönheit sollte man verbieten, gnädige Frau! Sie richtet nur Unheil an!“ Und im gleichen Atemzuge: „Wann haben Sie Zeit für mich? Lassen Sie sich etwas einfallen. Heute abend! Ich muß mit Ihnen sprechen, ich muß allein sein mit Ihnen!“ Natürlich fiel sie ihm nicht gleich um den Hals, aber offensichtlich tat es ihr wohl, so gefordert zu werden. Sie überlegte, sah ihn ihrerseits prüfend an, wandte sich lächelnd ab und entnahm der Ladenkasse ein weißes Briefkuvert. „Ihr Geld“, sagte sie. Er steckte es, ohne hinzusehen, in die Tasche, das war ihm jetzt nebensächlich, er wartete auf eine Antwort. „Warum haben Sie mein Angebot nicht angenommen?“ fragte sie mit leichtern Vorwürfe. „Wir hätten uns sehr gut unterhalten können. Mein Mann fühlte sich nicht, er ging zu Bett – ich saß ganz allein» „Unmöglich“, sagte er. „Sie werden getrennte Schlafzimmer haben – aber trotzdem: Es wäre unmöglich gewesen.“ „Und mit wem waren Sie mitten in der Nacht so dringend verabredet?“ „Ein häßlicher Mensch – den ich, ohne zu zögern, hätte warten lassen, wenn … na ja!“ Er winkte ab. „Ein Mann?“ „Ja. Ich bin nicht nur in Sachen Goldblech nach Leipzig gekommen. O. W. nimmt das an. Er hält mich für einen bescheidenen Jüngling, der dankbar ist für den kleinsten Job und die paar Kröten, die dabei herausspringen.“ Sie zog verwundert die Brauen hoch. „Aha! Sie sind mal so und mal so! Für sehr bescheiden halte ich Sie nicht …“ „Reizt Sie das nicht?“ Sie legte den Kopf schief und zog die Nase kraus, als wüßte sie es nicht recht.
Vor dem Schaufenster standen einige Kauflustige. „Sie entschuldigen“, sagte Kalle zu Madeleine. Seelenruhig ging er zur Ladentür, schloß ab und drehte das Schild mit den Ladenöffnungszeiten herum, so daß die Rückseite nach außen kam, und nun „Vorübergehend geschlossen!“ anzeigte. Daß er ihrer Kundschaft die Tür vor der Nase zuschloß, ließ Madeleine nicht gerade in Entzückensrufe ausbrechen, doch schien ihr auch diese Frechheit zu imponieren. Jedenfalls hob sie Kalles Maßnahme nicht auf. „Gehen Sie immer so ran?“ fragte sie. „Nur wenn es sich lohnt!“ Sie sah ihn lange prüfend an, dann sagte sie: „Kommen Sie“, und ohne eine weitere Erklärung ging sie ihm voran durch das Hinterzimmer, an das sich die Goldschmiedewerkstatt anschloß. Eine Viertelstunde später saß Oberleutnant Kaluweit alias Hans Siebenhaar in einem dunkelroten Mercedes ziemlich neuen Baujahrs und ließ sich einem unbekannten Ziel entgegensteuern. „Sie werden schon sehen, wo wir landen“, hatte die dunkelhaarige Schöne geheimnisvoll gesagt. Sie fuhr sehr sicher durch den Stadtverkehr. Hoffentlich bemerkt sie nicht, daß wir verfolgt werden, dachte Kalle. Wenn er sich verstohlen umsah, fiel ihm der graue Wartburg Seppel Becks auf. So etwas Dummes, fluchte er im stillen, wie ungeschickt er das macht! Sie hat ihn doch ständig im Rückspiegel! Als er sich wieder umsah, war der Wartburg verschwunden. Gott sei Dank! Kalle atmete auf. Wozu diese Absicherung? Er saß neben keinem Gewaltverbrecher, er saß neben einer attraktiven Frau. Und von der war wohl nichts zu befürchten, außer – ja, ein sehr unangenehmer Gedanke verdrängte allmählich alle anderen: Die Frau, die er sozusagen im Sturm erobert hatte, die ihren kränkelnden alten Ehemann unter einem Vorwand von seinem Schmerzenslager weg hinter den Ladentisch zitiert und
sich heimlich mit ihm ins Auto gesetzt hatte, diese Frau erwartete etwas von ihm: ein Erlebnis, ein Abenteuer! Aber zum Teufel, darauf durfte er sich nicht einlassen! Er, Oberleutnant Kaluweit, hatte einen einfachen Kriminalfall zu klären: Aufdecken eines Goldschieberringes! Madeleine Graf, im tiefausgeschnittenen resedafarbenen Kleid, sprach nicht mit ihm. Wer weiß, wo sie mit ihren Gedanken schon war? Das Verkehrsgewühl der Innenstadt hatten sie hinter sich, die Ausfallstraße nach dem Norden war frei. Aber die Dame sprach immer noch nicht mit ihm. Ihr Blick war träumerisch, das schien Kalle nicht gerade sehr angenehm: Eine träumerische Dame am Steuer eines mit hundert Stundenkilometern dahinsausenden Wagens! – Sie sah ihn auch noch nicht an, als sich ihre Hand vom Steuer löste und nach seiner tastete. Himmel und Hölle, Kalle sah die Kurve! Dennoch erwiderte er den Druck ihrer Hand. Wie konnte er sich aus der Affäre ziehen? Er war aufs Ganze gegangen, aber doch nur in der Annahme, daß bestenfalls der Besuch einer Bar mit Tanz und viel Alkohol, gelösten Zungen, Vertrauen, Geständnissen herausguckte. – Was er ihr sagen wollte, stand fest. Seine Siebenhaar-Legende war überzeugend gewesen, sie war es auch noch. Wieder eine Kurve, und noch immer hielten sie ihre Hände ineinander! Sie hat‛s geschafft! Sie ist gut! Sie könnte die WartburgRalley mitfahren! – Kalle schenkte ihr ein bewunderndes Lächeln. – Das Landschaftsbild wurde aufgelockert. Felder und Wiesen, einige Industriebetriebe. Madeleine Graf drückte aufs Gaspedal! Einhundertzehn, einhundertfünfundzwanzig. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen. Dübener Heide, Wochenendhäuser. Tempo runter, rechts einbiegen, nochmals, nochmals einbiegen – Halt vor einem mit Schilfmatten umschirmten Grundstück.
„Da wären wir“, sagte sie und stieg aus. Oberleutnant Kaluweit sah hinter Büschen versteckt ein todschickes Wochenendhaus. Madeleine hakte ihn unter und sah ihm tief in die Augen. „Na“, sagte sie aufmunternd. Weeß Knöppchen, dachte Kalle auf sächsisch, ich hab mich da auf was eingelassen! Weeß Knöppchen, wie ich da jemals wieder heil rauskommen soll! Als sie den Kalkplattenweg zum Haus Arm in Arm bis zur Hälfte zurückgelegt hatten, hörte Kalle auf der Straße Motorengeräusch. Das war ein Zweitakter! Kein Trabant – ein Wartburg! So unbefangen wie möglich schaute er zurück – er sah einen grauen Wartburg. Und er sah einen dunkelhaarigen Herrn am Steuer – Seppel Beck! Also war er doch besser, als er gedacht hatte! Er hatte die Spur nicht verloren. Seppel war ein guter Verfolger! Kalle nahm alles zurück. Jetzt war er froh, daß Seppel seine Fährte gehalten hatte und irgendwo in der Nähe in Bereitschaft stand. Madeleine hatte den Wartburg nicht wahrgenommen, drückte seinen Arm, daß es fast schmerzte, und als sie hinter der Jasminhecke standen, fiel sie ihm um den Hals und küßte ihn so vehement, daß ihm der Atem ausblieb. „Ich habe gewartet auf dich“, flüsterte sie, „du mußt bei mir bleiben, immer bei mir bleiben, hörst du!“ „Ja“, flüsterte Kalle, „ja!“ – Herrgottsakrament, jetzt mußte ihm etwas einfallen! Aber was? Er konnte doch nicht einen von seinen Gefühlen überwältigten Mann markieren – oder den Schluckauf bekommen! Das wirkte albern, das war Schmierentheater! Er verwünschte den Augenblick, in dem er beschlossen hatte, forsch wie Casanova an diese Dame heranzugehen. Das hatte er nun davon! „Hier sind wir ungestört“, sagte Madeleine und zog ihn zum
Haus. „Da, was ist das“, sagte Kalle und zeigte auf die Glasscherben unter dem Fenster. Madeleine blieb stehen. Sie war wie verwandelt. Kein bißchen Liebe mehr. Der Anblick dieser paar Scherben hatte ihre zärtlichen Gefühle ausgelöscht. Sie kümmerte sich nicht mehr um Kalle, rannte los, klappte die Läden auf, die nur angelehnt und nicht mehr von innen zu verschließen waren und starrte fassungslos durch das zerbrochene Fenster auf das Tohuwabohu im Haus. „So was kommt vor“, versuchte Kalle sie zu trösten. „Am besten, wir verständigen die Polizei.“ Sie warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu. Von der Polizei hielt sie nicht viel. „Weißt du“, sagte Kalle, als sie die Verwüstungen in Haus und Schuppen besichtigt hatten, „das sieht so aus, als ob einer was gesucht hat. Gestohlen wurde nichts, nur alles durchwühlt.“ Er steckte die Hände in die Manteltaschen, zog die Augenbrauen zusammen und dachte nach; er gab sich das bedeutende Aussehen eines Filmdetektivs. „Irgend jemand hat gehofft, hier etwas Besonderes zu finden, und was das war“ – er sah Madeleine an, die mit schmal gewordenen Lippen und verbissener Miene vor ihm stand – , „nun, das kannst du dir an drei Fingern abzählen. Ich jedenfalls würde die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Derjenige, welcher, muß aus euren engsten Kreisen kommen. Einer, der bestens Bescheid weiß. Wenn du mir die Sache übertragen wolltest – ich garantiere dir, daß ich ihn finde.“ Mit ihrer verwunderten, fast erschrockenen Reaktion hatte er gerechnet. „Du? Du willst ihn finden?“ „Ich habe schon ganz andere Sachen übernommen und bin damit fertig geworden. Es ist jetzt bloß nicht die Zeit, darüber zu plauschen.“ „Du bist verrückt“, sagte sie und lächelte gezwungen. „Hier draußen kann keiner was Besonderes vermuten! Hier gibt‛s auch nichts!“ Sie schaute noch einmal über die Trümmerstätte
und sagte fest und bestimmt: „Das ist reinster Vandalismus! Nichts weiter! Ein paar Halbstarke, die sich austoben mußten. Ich werde Leute rausschicken, die das aufräumen und die Fensterläden sichern – mit eisernen Stangen!“ „Bitte“, sagte Kalle gleichmütig und hob die Schultern. Auf der Rückfahrt sprach die schöne Frau kein Wort mit ihm. Kalle drängte sich nicht auf, er hätte nur zu gern gewußt, womit sie sich in Gedanken beschäftigte. Mit Liebesabenteuern bestimmt nicht. Das war ihm klar. Vor seinem Hotel setzte sie ihn ab. „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich mit einem schwachen Lächeln, „aber das hat mir restlos die Stimmung verdorben. Ruf mich doch an.“ Er blickte spöttisch, ein bißchen von oben herab. „Vielleicht“, sagte er, nickte ihr zu und ging. Von der Hotelhalle aus rief er Seppel an. Es war dreizehn Uhr, eine der festgelegten Zeiten zu eventuell nötiger Kontaktaufnahme. Seppel kam zum Brühl. Kalle stieg zu ihm in den Wagen. Sie fuhren ein Stück raus ins Rosenthal, fanden einen einsamen Parkplatz. Die Septembersonne schien, aber sie hatte keine rechte Kraft mehr. Der Himmel hatte schon die durchsichtige Bläue des Herbstes. Es war kühl. Der Polarlufteinbruch trieb die Leute von den Bänken. „Setzen wir uns“, sagte Seppel, „und mach nicht so ein miesepetriges Gesicht! Noch ist Polen nicht verloren! Was verlangst du denn? Soll sie dir am ersten Tag gleich alles erzählen? Du bist rangeklotzt wie ein Stier – ich hätt‛s anders gemacht, aber schön …“ „Ich weiß“, sagte Kalle, „du hättest alles anders gemacht! Du überlegst jeden Schritt dreimal – bevor du einen Fuß vor den anderen setzt! Möchte mal wissen, was du mit dieser Frau angefangen hättest!“ Sie hatten sich eine Parkbank ausgesucht, die in der vollen Mittagssonne lag. Auf dem Weg liefen Schulkinder vorbei. Schüler der ersten Klassen, die nur fünf Stunden hatten. Sie
jagten sich, spielten Ball, warfen mit Steinen nach den ersten Kastanien. „Das Ding ist schiefgelaufen“, sagte Kalle. „Ich wollte groß rauskommen, als Verehrer – na ja, und so weiter und so weiter! Daß die Ehe mit ihrem alten Gunnar nicht mehr stimmt, das sah ich sofort, deshalb bin ich eingestiegen! Sie hat mich animiert. Aber ich sage dir, das ist alles Heuchelei!“ „Du bist enttäuscht!“ „Quatsch!“ Kalle fuhr hoch. „Mensch, kannst du dir vorstellen, in welcher Situation ich mich befand? Dieser Einbruch im Wochenendhaus, das war meine Rettung!“ „Du rufst sie an“, sagte Seppel sehr ruhig und sehr sachlich. „Ja, du mußt dich wieder mit ihr treffen“, fuhr er fort. „Was du mir im Auto alles erzählt hast, Junge, ja, da kann was dran sein: Bitte schön, sie mag dir mißtrauen! Soll sie versuchen, dich aufs Glatteis zu führen oder sonstwohin – du weißt doch, woran du bist, und du weißt doch, was wir wollen.“ „Ja, das weiß ich! Aber ob sie mir noch was sagt …“ „Was ist los?“ fragte Seppel. Meldest du Bankrott an, oder was ist? Nee, mein Lieber, aussteigen gibt‛s nicht mehr! Nicht zu diesem Zeitpunkt! Kennst du denn die Mentalität dieser Frau? Sie hat einen alten reichen Zausel zum Mann, sie wird nicht zum erstenmal eine Abwechslung gesucht haben – daß ich ausgerechnet dir eine Lektion über die Psyche verwöhnter Frauen halten muß!“ Seppel rang in komischer Verzweiflung die Hände. Kalle rang auch die Hände, aber seine Verzweiflung war weniger komisch. Ihm war es ziemlich ernst, als er sagte: „Na gut! Wenn du unbedingt sehen willst, wie ich sang- und klanglos untergehe …! Ich rufe sie an, und ich werde mich mit ihr treffen.“ Seppel Beck fing einen Ball auf, den fußballspielende Jungen in seine Richtung geschossen hatten. „Hallo“, rief er und kickte ihn zurück. „Was seid ihr für Schlumpschützen! Nicht noch
mal solchen Fehlpaß!“ Über Mittag blieb das Juweliergeschäft geschlossen. Gunnar Graf saß in der Werkstatt an seinem Arbeitstisch und setzte ein schweres goldenes Gliederarmband zusammen. Hunger hatte er nicht. Was Madeleine ihm berichtet hatte, war ihm auf den Magen geschlagen. Er arbeitete, um sich abzulenken beziehungsweise durch Konzentration auf die Arbeit die nervöse Unruhe einzudämmen, die ihn in letzter Zeit immer häufiger befiel. Überall witterte er Gefahr, fühlte sich auf Schritt und Tritt bedroht. Schon seit langem wagte er es nicht mehr, zur Staatlichen Münze zu fahren. Madeleine verkaufte den Goldschmuck und kassierte die Prämien; er war sich seiner nicht sicher. Das Alter und das aufreibende Leben machten sich bemerkbar. Und nun gar dieser Schock! „Paul ein Verräter“, wiederholte er zum drittenmal. „Unfaßbar! Aber du hast recht, Madeleine: Wer sonst wußte davon, daß wir draußen einiges deponiert haben.“ „Er hat das Versteck nicht gefunden.“ Madeleine saß auf dem Arbeitstisch, hatte die Beine übereinandergeschlagen und rauchte gierig eine Zigarette. „Nicht gefunden! Ein schwacher Trost!“ Gunnar warf ihr einen tadelnden Blick zu. Seine langen schlanken Hände hielten das in der blassen Septembersonne glänzende weißgoldene Armband. Es war bewundernswert, wie er mit diesen zitternden Händen die feinen Scharniere einzog und befestigte. „Wenn nicht mal mehr auf Paul Verlaß ist – das ist wie ein Menetekel!“ „Menetekel! Menetekel!“ fauchte Madeleine ihn wütend an. Vielleicht siehst du schon die Flammenschrift wie dieser Dingsda, dieser komische König, na, wie heißt er gleich – ,und noch in selbiger Nacht!‛ – du weißt, wen ich meine …“ „Nebukadnezar“, half ihr Gunnar aus. „Dein Vergleich ehrt
mich, mein Kind! Aber ich bin nicht so groß wie Nebukadnezar, und ich verlache das Menetekel nicht, wie er es getan hat!“ Er warf das fast fertige Armband auf den Tisch zwischen die Zangen, Pinzetten und Stichel, besann sich auf seine Manneswürde und erhob sich. Sehr straff, sehr gefaßt stand er vor seiner auf dem Tisch sitzenden, Zigarettenrauch ausblasenden Frau. Sie hätte gut seine Tochter sein können. Eine bildschöne, aufregende Tochter. Das resedafarbene Kleid hatte sich über die Knie geschoben – er sah es sehr wohl, er sah ihre schön geformten Beine, sah den tiefen Ausschnitt …, und ihn überkam das Gefühl der Schwäche und Hilflosigkeit. Ja, sie war seine Frau, aber wenn er sie behalten wollte (für den Rest seines Lebens), dann mußte er diese Verhältnisse hier ändern. Er durfte sich nicht mehr aufregen, keine Angst mehr, keine Nervosität! Ruhe und Ausgeglichenheit, das war es, was er brauchte. „Ich hebe unser Konto ab. Du fährst morgen zur Staatlichen Münze und setzt das um, was wir draußen deponiert haben!“ Er gab seine Befehle wie ein Feldherr vor der Schlacht. „Wir brechen unsere Zelte ab, sind morgen nacht in Berlin, bei O.W. in Westberlin.“ So weit hatte er sich noch in der Gewalt, doch nun brach es aus ihm heraus. Er zitterte am ganzen Körper, sein faltiges Gesicht verzerrte sich. „Ich habe es satt“, schrie er, „ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr! Wir haben genug! Das Westkonto ernährt uns, wir haben genug rübergeschafft! Was wollen wir hier noch! – Paul ist abtrünnig geworden, er verrät uns! Das Menetekel!“ Madeleine warf die Zigarette auf den Boden, sprang vom Tisch, trat die Zigarette aus, duckte sich und krallte wie ein Raubtier die Hände. „Reiß dich zusammen! Mach mich nicht auch noch verrückt! Was bist du denn schon? Ein alter Trottel, ein Waschlappen, ein Hasenfuß!“ Auch in der Werkstatt gab es ein Schränkchen, in dem Kognak stand. Sie holte sich die Flasche, goß ein und trank. Der
Juwelier stand starr wie ein vertrockneter Weihnachtsbaum. „Dreh doch nicht durch“, sagte Madeleine, nachdem Kognak milder gestimmt. „Hals über Kopf ist nie gut!“ Sie trank noch ein Glas. „Paul ist der Versuchung erlegen. Zweitausend Gramm Gold hatte er bei sich. Er hoffte auf unsere Reserve im Wochenendhaus. Er ist schwach geworden. Das ist alles.“ Gunnar trank auch ein Glas. Er wurde unnatürlich ruhig. Er brachte es sogar fertig zu lächeln. „Was hätte Paul mit all dem Gold und dem Schmuck anfangen sollen?“ fragte er sanft. „Zur Staatlichen Münze kann er‛s nie bringen, da fehlen ihm die Quittungen. Und nur durch die Aufkaufprämie wird die Sache lukrativ. Das Zeug zurück nach Westberlin bringen? Das hieße Eulen nach Athen tragen. Was verdient er schon? Nichts! Gar nichts! Er riskiert nur etwas. Glatter Nonsens! Nein, mein Kind“, Gunnar Graf zog seinen weißen Kittel aus und warf ihn über den Stuhl, „der Fall liegt anders. Von allein wäre Paul nie darauf gekommen, da hängt dieser Siebenhaar mit drin. Dieser Kerl ist ein Filou. Ohne ihn wäre Paul nie auf diese Gedanken gekommen – der Siebenhaar …“ „Das ist doch dummes Zeug!“ Madeleine warf voller Wut ihr Kognakglas in die Ecke. Es klirrte, die Scherben spritzten durch die Werkstatt. „Aus dir spricht wieder mal die Eifersucht – und macht dich blind! Wenn Paul mit Siebenhaar unter einer Decke steckte – warum hat sich Siebenhaar dann bei uns eingeführt? Das wäre doch blöd! Er kann sich nichts erhoffen, er wäre verloren! Ich will dir sagen, was dieser Siebenhaar für ein Mann ist: ein Großsprecher, ein Angeber, mit allen Wassern gewaschen – so denkt er jedenfalls. – Ein Würstchen ist dieser Siebenhaar, ein ganz kleines Würstchen!“ Das Telefon klingelte. Madeleine stand ihm am nächsten, aber diesmal war Gunnar schneller. Er fühlte, daß die Entscheidung bevorstand, und wenigstens da wollte er beweisen, daß er ein Mann war. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.
„Hier Paul“, hörte er eine rauhe Stimme, „Gunnar, hörst du, Gunnar, bist du‛s?“ Der Juwelier nahm den Hörer vom Ohr, schaute Madeleine an, die neben ihm stand und mitgehört hatte. Sie schauten sich an, schüttelten verwundert den Kopf. Wenn das Paul war – und der Stimme nach war er es – schien er nicht normal, wenigstens nicht ganz nüchtern zu sein. „Paul, hör mal zu“, sagte der Juwelier, und sein linkes Augenlid begann zu zucken, „von wo sprichst du denn? Wir haben dich vermißt, nun pack mal aus, aber schnell! Was ist passiert?“ „Gunnar – seid ihr allein, oder ist die Polizei da?“ fragte Pauls rauhe Stimme. Madeleine entriß ihrem Mann den Telefonhörer. „Wenn du besoffen bist, Paul, dann ruf uns noch mal an – was soll das dumme Gerede!“ „Madeleine“, Paul schnaufte, und für eine ganze Weile war nur sein Schnaufen zu hören, „Madeleine, – der Siebenhaar, der gekommen ist, das ist ein falscher! Das ist einer von der Kripo! Den richtigen Siebenhaar haben sie im Zug weggefangen! Ich wollte euch warnen, aber es war zu spät!“ Madeleine hatte richtig verstanden. Auch Gunnar hatte richtig verstanden. Sie sahen sich an, waren beide sehr blaß. Madeleine hielt den Hörer mit abgespreiztem Arm. Pauls Stimme quäkte aus der Membrane. „Einer von der Kripo.“ Gunnar stöhnte. „Ich hab‛s geahnt! Ich hatte es im Gefühl! Ich sagte dir immer …“ „Hör auf zu flennen“, unterbrach ihn Madeleine hart und brutal. Sie nahm den Hörer ans Ohr. „Paul“, schrie sie in den Apparat, „du bist ein Riesenrindvieh! Warum rufst du erst jetzt an? Wir lassen dich hochgehen wie einen Luftballon, du Kanaille! Bist du in Leipzig?“ „Ja“, kam das quäkige Echo. „Ich will nicht zu euch kommen, ihr werdet beobachtet. Aber wenn Ihr die Verfolger abschüttelt – ich würde sagen – ganz simpel. In Auerbachs Kel-
ler! Ich warte auf euch!“ Der Juwelier Graf war bekannt in Auerbachs Keller. Er bekam einen Separattisch – selbstredend! Sie saßen mit dem grobschlächtigen, elegant gekleideten Paul Lüdecke zusammen, aßen Wildschweinbraten und Fasan und dachten, sie hätten durch geschickte Manöver jeden Verfolger abgeschüttelt. In dem jungen langhaarigen, lederbejackten Mann am Nebentisch, der saure Flecke aß, hätten sie nie einen Kriminalisten vermutet. Sie unterhielten sich ziemlich ungeniert, dabei aber doch so leise, daß Leutnant Schröder von der Bezirksinspektion Leipzig kein Wort verstehen konnte. „Ich wollte euch anrufen“, sagte Paul Lüdecke, „aber die Telefonzelle war besetzt, und als ich aus der Taxe stieg, war er schon bei euch an der Haustür.“ Er stopfte sich ein Riesenstück Wildschweinbraten in den Mund. „Er ist von der Kripo, einwandfrei“, fuhr er kauend fort. „Ich hab sein Gesicht gesehen – wie sie den richtigen Siebenhaar abgeführt haben. Ich täusch mich nicht, ich mache kein Schmus! Und nun wollt ihr sicher wissen, warum ich nicht gleich angerufen habe? Ja – ich war im Krankenhaus, ambulante Behandlung! So ‛n Wolgafahrer hat mich erwischt, wie ich zum nächsten Telefon rennen wollte. Ist weitergefahren, und ich lag auf der Fahrbahn. Warum hink ich denn? Warum ist denn mein linker Arm bandagiert! – Ja, das sind so Schicksalsschläge!“ Paul schaufelte mit seiner gesunden Rechten Rotkohl in sich hinein. Er verschwieg, daß er nach der vergeblichen Durchsuchung des Wochenendhauses von panischer Angst gepackt nach Westberlin zurückgefahren war, daß er sogar vor der Villa von O.W. gestanden und daß ihn zum Schluß der Mut verlassen hatte, auf die Klingel zu drücken. Was wollte er denn? Eine Belohnung hatte er nicht zu erwarten, gar nichts hatte er zu erwarten! Paul Lüdecke machte kehrt und fuhr wieder zurück nach Leipzig. Vielleicht war das dumm von ihm, vielleicht
wurde er von der Polizei geschnappt – eines jedoch stand fest: Seinen Anteil konnten ihm nur die Grafs auszahlen. Paul war nicht sehr schnell im Denken, aber im D-Zug hatte er Zeit genug. Man hat die Grafs nicht gleich verhaftet, sagte er sich, das war doch sehr merkwürdig. Und je länger er darüber nachdachte und grübelte, um so klarer wurde ihm, daß dieser falsche Siebenhaar wie ein Kuckuck ins fremde Nest gesetzt wurde, um einiges auszuspionieren. Ganz klar! Nur so und nicht anders verhielt sich das! Paul kam sich groß und bedeutend vor. Er hatte Gunnar und Madeleine, er hatte sie alle an Intelligenz und Scharfsinn überboten. Und wenn er es geschickt anfing, konnte er sie warnen, ja vielleicht gelang es ihm sogar, ihnen zur Flucht zu verhelfen – und das erst würde sich voll auszahlen für ihn! Seinen Besuch im Wochenendhaus verschwieg er. Als Madeleine ihn beim Kaffee danach fragte, leugnete er. Nun gut, mochten sie ihm glauben oder nicht – Madeleine sah ihn an, wie man einen Übeltäter ansieht, dem man schon verzeiht – und das war sehr vernünftig. Es gab Wichtigeres zu tun, als über einmal begangene Dummheiten zu rechten. „Wir müssen weg“, sagte Madeleine leichthin, als ob es sich um einen Wochenendausflug handelte. „Lächelt“, forderte sie die beiden Männer auf, „gebt euch ungezwungen und heiter!“ „Du hast Nerven!“ Gunnar Grafs linkes Augenlid begann zu zucken. „Weg, weg“, echote er, „wie denkst du dir das! Einfach ins Auto setzen und losfahren? Spätestens in Berlin nehmen sie uns fest, wahrscheinlich aber schon in Düben. – Und wer holt das Geld vom Konto?“ „Niemand“, sagte Madeleine mit bewundernswerter Ruhe. „Das Konto schreiben wir ab. Wir haben unser Westkonto, und das reicht, denke ich. Aber das Gold nehmen wir mit, den Schmuck und die Steine, die Uhren …“ Diese Sicherheit war selbst Paul zuviel. Er starrte Madeleine aus großen Augen an, machte den Mund auf, klappte ihn wie-
der zu, stotterte schließlich: „Ja, aber – das – das ist doch, du tust gerade so, als wäre das alles ‛n Klacks! Ganz einfach!“ „Leider steht uns kein Hubschrauber zur Verfügung“, bemerkte Gunnar bissig. „Wie kann man nur so oberflächlich sein, so leichtfertig! Du verkennst den Ernst der Lage, in der wir uns befinden! Das Gold und den Schmuck! – Ja, natürlich, aber wie? Ich zermartere mir das Hirn, aber ich sehe keinen Weg, keine Möglichkeit.“ „Du vergißt Herrn Siebenhaar“, sagte Madeleine hoheitsvoll und freute sich über die verblüfften Gesichter der beiden. „Ja, ihr habt richtig gehört! Solange dieser aufgeblasene Bursche bei uns ein- und ausgeht, sind wir sicher. Wir müssen nur dafür sorgen, daß er sich wohl fühlt – und selbstredend muß er etwas erfahren!“ Sie beugte sich vor. „Deshalb ist er doch gekommen“, sagte sie leise und eindringlich. „Das ist sein Auftrag, seine Aufgabe! Nun gut, er wird etwas erfahren – alles, was er wissen möchte! Wohldosiert, jeden Tag ein Bröckchen mehr. Wir müssen Zeit gewinnen – und kommt Zeit, kommt Rat!“ „Nein, das wirst du nicht tun“, herrschte Gunnar seine Frau an, als sie allein in ihrer Wohnung waren. Er war aufgeregt, lief auf und ab, blieb an dem Tisch stehen an dem sie saß und ihn kühl beobachtete und schlug mit der Faust auf die Platte, daß die Gläser klirrten. „Das verbiete ich dir! Es sind unsere Freunde! Nenn ihm falsche Namen, erfinde irgend etwas, aber du kannst doch nicht …“ Er hatte sich zu sehr erregt, holte tief Luft und sagte dann mit einer untermalenden Handbewegung: „So was nennt man: über die Klinge springen lassen!“ „Ja“, sagte Madeleine trocken. „Hätte man uns verhaftet, müßten sie jetzt auch über die Klinge springen. Vielleicht hätten sich zwei oder drei noch rechtzeitig absetzen können – aber die anderen …? Also, was tut‛s? Ich sehe da keinen Unterschied: Ob wir die Namen jetzt nennen oder später, wenn wir im Gefängnis sitzen, es läuft aufs selbe hinaus.“
Er sah sie an, als hätte er sie erst jetzt, in dieser Sekunde richtig kennengelernt. Auf seinem zerfurchten Gesicht lag ein Ausdruck von Furcht und Bewunderung. „Du kannst einem Angst einflößen“, sagte er mit Abscheu in der Stimme. „Diese Kälte! Genausogut wärst du fähig …“ „Halt deinen Mund!“ schrie sie ihn an und sprang auf. „Du bist nicht fähig, logisch zu denken! Überlaß das mir, und verschone mich mit deiner Moral und deiner Gefühlsduselei! Wenn du unbedingt hinter Gitter willst …“ „Ja doch, ja doch“, lenkte er ein, „du hast ja recht! Es bleibt uns ja nichts anderes – sie mögen es uns verzeihen!“ Sein Widerstand war gebrochen. Mit zitternder Hand schenkte er zwei Gläser Kognak ein. Oberleutnant Kaluweit war leichter und schneller zu seinem Barbesuch gekommen, als er erhofft hatte. Die schöne Frau Graf hatte sich für ihre Unfreundlichkeit am Vormittag entschuldigt und entschädigte ihn nun, indem sie besonders liebenswürdig und nett zu ihm war. Sie tanzten, tranken Sekt, Madeleine sah bezaubernd aus in ihrem eng anliegenden blauschillernden Kleid. Sie fing an zu erzählen. Über ihren Mann beklagte sie sich. Es wäre kein Leben mehr für sie an der Seite dieses alten, ständig mehr verkalkenden Juweliers. Man müßte ganz neu anfangen – am besten drüben. Na wunderbar! Genau das wollte Kalle auch! Er stand im Begriff, sich eine Existenz im Westen aufzubauen. Seine Legende, die er Madaleine auftischte, klang durchaus glaubwürdig, jedenfalls wurde sie nicht beanstandet. Ja, mehr noch, Madeleine begeisterte sich an dem Gedanken, ihm bei der Beseitigung der Anfangsschwierigkeiten behilflich zu sein. Der Goldschmuggel und -handel war ausbaufähig. Warum nur Leipzig? Rostock, Magdeburg, Erfurt, Schwerin, überall gab es Absatzmärkte, man mußte sie nur erschließen, eine Organisation aufbauen, aber dafür war Gunnar Graf schon zu alt und
zittrig. Kalle begann sich für diesen Gedanken zu erwärmen, und als er sich gegen drei Uhr morgens von Madeleine vor ihrer Haustür verabschiedete, wußte er bereits eine ganze Menge über das Wesen einer solchen Organisation. Er schlief sich aus, rief Madeleine an, erkundigte sich nach ihrem Befinden und war sehr erfreut, daß sie Sehnsucht nach ihm hatte. „Bis heute abend“, flüsterte sie zum Schluß. „Ich weiß nicht, das ist mir zuviel Liebe – das geht alles zu schnell! Eins, zwei, drei, blättert sie mir die Namen auf den Tisch!“ Kalle war unzufrieden. „Was meint ihr? Irgend etwas ist faul an der Geschichte!“ Hauptmann Reinhardt war nach Leipzig gekommen. Sie saßen in einem Dienstzimmer der Inspektion. „Ja“, Reinhard wiegte den Kopf, blickte Seppel an, schaute in den drei Seiten langen Bericht, den Kalle auf der Maschine getippt hatte, und hob ratlos die Schultern. „Merkwürdig ist das, in der Tat! Die Dame hat dir einen sehr tiefen Einblick gewährt – ich meine in den Schieberring!“ Reinhardt lächelte. „Jetzt wissen wir endlich, wie die Sache funktioniert. Da gibt es den Westberliner Chef O. W. da gibt es Kuriere, die das Rohgeld per Auto oder Bahn nach Leipzig, Halle, Merseburg schaffen, und dort gibt es Juweliere, die es zu schwerem Schmuck verarbeiten und es gegen Quittungen an die Staatliche Münze verkaufen. Der Staat braucht Gold und zahlt eine hübsche Aufkaufprämie. Das ist sozusagen der Reingewinn für diese Brüder. Ja – gar nicht schlecht ausgeknobelt. Ich möchte nicht wissen, wieviel Hunderttausend die ganze Bande schon verdient hat. Wenn die Mengen stimmen, die sie dir genannt hat – und das in einem Monat! – mein lieber Freund!“
Reinhard rieb sich nachdenklich das Kinn. „Das ist es ja eben! Stimmt es oder stimmt es nicht? Warum erzählt sie mir das alles? Einfach so, aus freien Stücken, ich brauchte sie nicht mal zu drängen!“ Seppel grinste. „Vielleicht will sie sich wirklich zusammen mit dir eine Existenz aufbauen!“ „Quatsch!“ Kalle war nicht nach Scherzen zumute. „Sie nennt mir den Namen des Mannes, den sie bestochen haben, damit er sich die gefälschten Quittungen nicht so genau ansieht, sie nennt mir die verschiedenen Tricks ihrer Kuriere – Paul Lüdecke, mit dem sie gestern zusammen Mittag gegessen haben. Seine Spezialität: Goldblech unter den Einlegesohlen! Das sind Interna, das sind Geheimnisse, die sie niemals, unter keinen Umständen preisgeben …“ „Moment mal!“ Kalle stutzte, sein frisches Jungengesicht hellte sich auf. „Doch“, sagte er, „es gibt einen Grund: Sie haben erfahren, daß ich von der Kripo bin!“ Er wartete nicht, bis Walter und Seppel sich dazu geäußert hatten, er entwickelte sofort seine Version: „Sie wußten von Anfang an Bescheid, spätestens aber seit meinem Barbesuch gestern nacht. Vielleicht hatten sie ein Foto vom echten Siebenhaar, vielleicht ist uns ein zweiter Mann nachgefahren, der Siebenhaar kannte und sie gewarnt hat – im Augenblick ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen! Sie wissen, daß ich von der Kripo bin und daß es ihnen und der ganzen Schieber binde ans Leder geht. Und was machen sie da? Sie opfern die anderen, um Zeit zu gewinnen. Sie werfen uns das hier zum Fraß vor“, er schlug mit der Hand auf seinen Bericht, „und während wir begeistert schlucken und arbeiten, bereiten sie den großen Coup vor: Ihre Flucht nach Westberlin!“ „Klingt sehr überzeugend“, sagte Walter Reinhardt. Kalle war noch immer voller Eifer: „Also beenden wir die Vorstellung“, schlug er vor. „Wir haben letzten Endes erreicht, war wir erreichen wollten. Wir kennen die Verbindungen, kennen den Ring
– wir könnten mit einem Schlag die ganze Bande hochgehen lassen …!“ „Das werden wir nicht tun“, sagte Reinhard sehr entschieden. „Die Vorstellung läuft weiter – unter doppelter Absicherung!“ „Wie denn? Ich soll noch mal …?“ fragte Kalle enttäuscht. „Ja, du spielst weiter wie bisher! Wir wollen doch mal sehen, wie sie ihre Flucht in Szene setzen und wer ihnen dabei hilft. Außerdem werden sie eine Menge Wertsachen beiseite geschafft haben, die sie mitnehmen wollen. Das machen sie alle so. Entweder haben sie das bei Freunden deponiert oder – na ja, jedenfalls haben sie‛s nicht auf der Sparkasse oder im Tresor. Und ich denke, das sollten wir auch mitnehmen. Also, laßt uns mal einige Varianten durchspielen: Was könnte alles passieren, worauf müssen wir achten?“ Oberleutnant Kaluweit, der sich nur ungern in seine Rolle fügte – er kam sich zu dumm oder zu albern vor mit einemmal – , wurde beim Abendessen, das er mit Madeleine einnahm, zu seiner größten Überraschung mit einer Variante vertraut gemacht, die er mittags mit Walter und Seppel nicht durchgespielt hatte. Sie war völlig neu, und sie kam für ihn so unerwartet, daß er sich um ein Haar verschluckt hätte – und er aß Forelle auf Müllerinnen Art! „Heute kommt O. W.“, hatte ihm Madeleine eröffnet. „Er hat einen westdeutschen Ausweis und kann sich frei bewegen. Du kommst doch mit? Ich möchte, daß Ihr beide euch näher kennenlernt. O.W. hat viele Verbindungen und kann uns sehr nützlich sein.“ „Ausgezeichnet!“ Kalle nahm mit spitzen Fingern die Gräte aus dem Mund, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden war, spülte die Kehle mit einem Schluck „Traminer“, und danach gelang es ihm, richtig begeistert auszusehen. Wo man sich treffen wollte? ,, … das wird nicht verraten! Nur soviel sag ich: Du wirst staunen!“ Madeleine lächelte verheißungsvoll.
Kalle streichelte ihre Hand und dachte im stillen: Verdammtes Luder, was du dir da ausgeheckt hast! O. W. in Leipzig, das wäre zu schön, um wahr zu sein, man hätte den Westberliner Chef auch gleich im Sack! Doch daran war den beiden Grafs bestimmt nicht gelegen. Also diente O. W. nur als Köder, um ihn irgendwohin zu locken und auszuschalten. Sicher, das war‛s! Bevor sie zahlten, mußte Kalle noch einmal telefonieren. Ihm fiel auf, daß Madeleine nicht den geringsten Argwohn hatte. Sie fragte nicht, sie folgte ihm nicht heimlich – sie hatte sogar schon die Zeche bezahlt, als er zurückkam. Und sie drängte auf Eile. Der Mercedes stand auf einem kleinen unbewachten Parkplatz, auf dem es stockfinster war. Sie stiegen ein und fuhren los. Ein paar Autoscheinwerfer hängte sich hinter sie. Andere schoben sich dazwischen, nach einiger Zeit jedoch fiel auf, daß ein Paar nicht abzuschütteln war. „Ich mag es nicht, wenn man mich verfolgt“, sagte Madeleine böse und trat aufs Gaspedal. Kalle verwünschte alle ungeschickten Abschirmgenossen, verwünschte die Frau, die mit ihrem schweren Wagen rücksichtslos Amok zu fahren begann. „Wer zum Teufel soll uns verfolgen?“ fragte er sie gereizt und hatte Mühe, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. „Na, wer schon? Mein Mann natürlich! Es wäre nicht das erstemal. Er nimmt sich ein Taxi und zahlt sehr gut. Entschuldige, aber ich schätze das nicht!“ Sie überholte verkehrswidrig eine haltende Straßenbahn, jagte in halsbrecherischem Tempo durch einige Kurven und Seitenstraßen, und plötzlich hielten sie in einer abgelegenen Straße. „Uff“, sagte Madeleine und bediente sich eines nach Lavendel duftenden Erfrischungstüchleins. Weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen. „Das hätten wir geschafft – nun können wir uns Zeit lassen!“ Sie gab Kalle einen flüchtigen Kuß, und dann fuhr sie los.
Es war die Strecke nach Düben. „Etwa zum Wochenendhaus?“ fragte Kalle. Sie lächelte. „Du hast es erraten. O. W. kommt nicht allein – du mußt nicht eifersüchtig werden. Es wird ein bildschöner Abend, verlaß dich drauf!“ Daß der Abend, besser gesagt die Nacht sehr munter und aufregend werden würde, davon war Kalle überzeugt. Die Vorfreude wurde nur dadurch getrübt, daß seit einer Viertelstunde kein Scheinwerferpaar zu sichten war, das ihnen folgte. Nun schön, dann eben allein, sagte er sich und tastete nach seiner Pistole. In das Motorengeräusch mischten sich plötzlich laute, hämmernde Schläge. Was war das? Hinterräder, Antrieb, Kardan? – Ein abgerissener Auspuff scheppert anders! – Das knallte ja, wie wenn jemand mit einem Hammer auf Metall schlägt! Madeleine neben ihm hörte es doch auch! Warum bremste sie nicht, warum hielt sie nicht an? Sie erhöhte sogar die Geschwindigkeit, saß mit verbissenem Gesicht am Steuer. „Das hat er manchmal“, warf sie ihm als Erklärung hin. „Fehlzündungen. In der Werkstatt sagten sie, dann soll ich ihn ordentlich hochjagen.“ Die Schläge hörten auf. Doch dann setzten sie wieder ein, schlimmer als vorher, und diesmal wurden sie von dumpfen Gebrüll einer menschlichen Stimme begleitet. „Anhalten“, glaubte Kalle zu verstehen. Ein langgezogenes Heulen. „Aanhalten!“ Das kam aus dem Kofferraum. Kalle besann sich nicht lange. Er legte Madeleine seine Hand auf den Arm. „Schluß jetzt“, befahl er, „stoppen Sie sofort!“ Sie befanden sich auf freier Chaussee. Felder links und rechts. Ein Hinterhalt kam nicht in Frage. Das Geheul aus dem Kofferraum wurde lauter. „Ich bin von der Kriminalpolizei“, sagte Kalle ganz ruhig. „Ich fordere Sie auf, den Wagen zu stoppen! Es ist doch sinnlos, Frau Graf. Wozu diese Raserei? Einmal müssen Sie ja doch halten, nicht wahr?“
Sie sagte nichts, aber sie ging mit dem Tempo herunter und hielt vorschriftsmäßig auf dem Sommerweg. „Bitte!“ Sie lehnte sich zurück. „Sind Sie zufrieden?“ Kalle zeigte ihr seinen Ausweis. „Oh ja“, sagte sie verbindlich. Gunnar Graf wurde aus seinem Versteck im Kofferraum befreit. Er torkelte wie ein Betrunkener an den nächsten Baum, Madeleine mußte ihn stützen. „Ich hielt‛s nicht mehr aus“, stöhnte er, „ich wäre gestorben! Es war entsetzlich!“ Und dann übergab er sich. Madeleine trat zu Oberleutnant Kaluweit. „Sie wissen ja alles“, sagte sie, „wozu noch viele Worte. Was noch zu gestehen ist, gestehe ich ganz freimütig: O.W. kommt tatsächlich ins Wochenendhaus! Ich hatte geplant, Sie dort einzusperren; wir wären dann mit O. W.‛s Wagen nach Berlin gefahren. Schwierig war nur eins bei diesem Unternehmen: Ich mußte Ihre Genossen abschütteln – und Sie sehen, das ist mir gelungen!“ Auf der nachtdunklen Chaussee war außer einigen entgegenkommenden Fahrzeugen und einen Lkw aus Richtung Leipzig in der Tat nichts von Verfolgern zu sehen. „Ja, so ist das! Hätte ich dieses Wrack nicht im Kofferraum mitgeschleift …“ Sie sah Kalle vielsagend an und lächelte spöttisch – „man kann sich eben von altem Inventar schwer trennen, nicht wahr?“ Gunnar Graf schwankte heran. Er war ungefährlich. Eine Waffe besaß er nicht, Kalle hatte ihn abgetastet – außerdem kostete es ihn Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Aber schimpfen konnte er, so viel Kraft besaß er noch. Er schrie und tobte. Er hätte sich längst zur Ruhe gesetzt, aber auf ihn hatte sie nie gehört. Sie war zu geldgierig, und die Gefahr lockte – den Nervenkitzel brauchte sie! Und daß die Bekannten und Freunde und zum Schluß noch O. W. in den allgemeinen Untergang mit reinreißen mußte, das verzieh er ihr nicht. „Na, dann steigen Sie man ein“, forderte Oberleutnant Kaluweit ihn auf.
Das Wochenendhaus war wieder hergerichtet. Im Schein der schmiedeisernen Ampel über der Tür erkannte Kalle, daß sogar die eisernen Stangen, von denen Madeleine gesprochen hatte, zur Sicherung der Fensterläden angebracht waren. (Wo sie nur die Handwerker hernahm?) „Bitte, schließen Sie auf“, sagte Kalle. Er stand hinter den beiden Grafs und behielt sie im Auge. Den Mercedes hatte er direkt vor dem Grundstück geparkt – unübersehbar für O.W. falls er kommen sollte. Und er kam auch schon! Scheinwerferlicht schwankte über Büsche und Zäune, das leise Brummen eines Motors wurde hörbar. Und dann hielt ein schwerer Schlitten, ein Chevrolet – irgendein Amerikaner – hinter dem Mercedes. „Schnell, schließen Sie auf!“ befahl Kaluweit. Madeleine öffnete die Tür zum Wochenendhaus. „Das ist er“, sagte sie, „das ist O.W.!“ Sie trat ein, Kalle schob Gunnar Graf ins Haus. Licht wurde angeknipst, und als es aufflammte, sah Kalle, daß Madeleine einen Blick hinter die Tür warf – so, als ob sie sich mit jemandem verständigen wollte. Aha, dachte er, also doch! Er zog die Pistole. Er durfte nicht viel Aufsehen erregen; keinen Schuß, kein Geschrei, das O.W. warnen könnte. – Wenn Walter oder Seppel jetzt hier wären! Noch nie hatte er sie so vermißt! Draußen klappte eine Wagentür. O. W. ging jetzt auf das Gartentor zu. Er mußte ins Haus kommen, er durfte ihn nicht entwischen lassen. Kalle stieß mit aller Kraft die Tür auf, spürte einen menschlichen Widerstand, hörte einen unterdrückten Schrei. In der nächsten Sekunde stand er im Flur und richtete die Pistole auf Paul Lüdecke. „Kein Wort“, drohte er .ihm, „ganz ruhig und die Hände hoch!“ Paul hob seine gewaltigen Tatzen. Kalle schob die Tür sacht
zu. Auf dem Gartenweg waren Schritte zu hören. „Polizei“, kreischte Madeleine, „hau ab! Polizei!“ Kalle fuhr herum, riß Madeleine von der Tür zurück, sah einen großen schlanken Mann im hellen Mantel auf dem Weg, sah, wie er erschrocken stehenblieb. „Polizei“, schrie Madeleine. Sie wehrte sich gegen Kalles Griff, kratzte, biß ihn ins Handgelenk. Der Mann machte kehrt und rannte zurück zur Straße. Paul Lüdecke schlug zu. Er benutzte einen Knüppel als Schlaginstrument und traf die rechte Schulter. Kalles Arm war gelähmt, die Pistole fiel ihm aus der Hand, Paul bückte sich nach ihr. Kalle stieß die Pistole mit dem Fuß in die Ecke. Er verbiß den rasenden Schmerz in der Schulter, schlug mit der Linken zu, einmal, zweimal. Die Tür schlug krachend ins Schloß, von draußen wurde der Schlüssel herumgedreht. Das war das Letzte, was ihm passieren konnte! Beide Grafs und O. W. durch die Lappen – und er hier mit diesem Totschläger eingesperrt! Der Idiot schien nicht einmal begriffen zu haben, daß man ihn aufsitzen ließ, daß man ihn abgeschrieben hatte. „He, willst du nicht mit?“ schrie er ihn an und zeigte auf die Tür. Paul glotzte verwirrt und verständnislos. Dann packte ihn die Wut. Er nahm Anlauf und warf sich gegen die Tür. In seiner Aufregung hatte er vergessen, daß er ja auch Schlüssel besaß. Madeleine hatte sie ihm ausgehändigt – wie hätte er sonst ins Haus kommen sollen! Doch nun war es zu spät, sich daran zu erinnern: Kalle hatte ihn, als er von der festgezimmerten Tür zurückprallte, mit einem der sonst verbotenen, nur in äußerster Gefahr anzuwendenden Jiu-Jitsu-Schläge außer Gefecht gesetzt. Paul hatte tief aufgegrunzt und war zu Boden gestürzt. Wo hatte er die Schlüssel? Kalle durchwühlte seine Taschen, lauschte dabei nach draußen. Zwei Autos standen draußen – und kein Motorengeräusch! Sollten sie so schnell gestartet
sein? In der Gesäßtasche fand er das Schlüsselbund. Die rechte Hand war noch immer nicht zu gebrauchen. Mit der Linken schloß er auf. Was er sah, ließ ihn alle Schmerzen und alle selbstanklägerischen Vorwürfe vergessen: Die Scheinwerfer eines dritten Wagens tauchten das ganze Grundstück in blendende Helligkeit, und in diesem gleißenden Licht sah er Walter Reinhardt mit gezogener Pistole auf das Haus zu laufen. Als Walter ihn in der Tür entdeckte, blieb er wie angewurzelt stehen. „Kalle“, rief er, als wollte er sich vergewissern, daß er es mit keiner Erscheinung zu tun hatte. „Hier liegt der vierte Mann“, sagte Kalle und wies mit dem gesunden linken Arm auf den hingestreckten Paul Lüdecke. „Junge, Junge“, sagte Walter kopfschüttelnd, „was drehst du bloß für Dinger! Das verstößt gegen jede Vorschrift! Hätte Seppel nicht so eine Ahnung gehabt – vielmehr: Hätte er nicht mit seinem Scharfsinn erfaßt, daß die Dame dich hierher lokken könnte – wie wäre das bloß ausgegangen?“ „Ich hatte auch so ‛ne Ahnung, daß ihr so ‛ne Ahnung haben könntet“, sagte Kalle, faßte nach seinem Arm und lächelte schmerzlich. Das Ehepaar Graf und der sehr distinguierte, graumelierte Herr im hellen Mantel trugen ihre Handschellen mit Würde. „Bitte!“ Seppel Beck, der sie begleitete, forderte sie auf ins Haus zu treten. Das Versteck, nach dem Paul Lüdecke so verzweifelt gesucht hatte, fanden Hauptmann Reinhardt und Seppel Beck am nächsten Morgen: Auf den trüben Wassern der Sickergrube schwammen in einem verlöteten Blechbehälter fünf Kilogramm noch nicht an die Münze verkaufter Schmuck.
Heft 325 Herbert Friedrich Der verlorene Vater Hannelore, die Tochter des Gastwirts Lehnert, sah, wie Bürgermeister Hahndorf ihrem Vater auf die Schulter schlug und sagte: „Ehe wir uns besaufen, mein Lieber, mal das Geschäftliche!“ Der Vater schrak auf. „Das Geschäftliche?“ fragte er, aber Hahndorf fuhr schon fort: „Du hast mir 387 Mark Zinsen nicht bezahlt. Daraufhin kann ich dir die ganze Hypothek kündigen.“ Der Gastwirt starrte auf die Tischplatte, er hatte die Hände gefaltet und drehte nervös die Daumen. „Aber ich will dir helfen, von Mensch zu Mensch, hör zu: Dein Haus und mein Geld, das bleibt in der Familie. Ich heirate dein Mädel, und du überschreibst uns die Kneipe.“ Hannelore sah noch, wie der Vater aschgrau wurde.