Paul Doherty
Der Gladiator des Kaisers
Ein Roman aus dem alten Rom
Aus dem Englischen von Christine Pavesicz
Aufbau...
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Paul Doherty
Der Gladiator des Kaisers
Ein Roman aus dem alten Rom
Aus dem Englischen von Christine Pavesicz
Aufbau Taschenbuch Verlag
Die Originalausgabe unter dem Titel The Song of the Gladiator erschien 2004 bei Headline Book Publishing, London. ISBN-10: 3-7466-2199-2 ISBN-13: 978-3-7466-2199-9 1. Auflage 2006 © Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin 2006 Copyright © 2004 Paul Doherty
Umschlaggestaltung Mediabureau Di Stefano, Berlin unter Verwendung des Gemäldes »Sweet Sounds«, 1918, John William Godward, getty images Druck und Binden Oldenbourg Taschenbuch GmbH, Plzefi Printed in Czech Republic www.aufbau-taschenbuch.de
PAUL DOHERTY, geboren in Middlesbrough, studierte Geschichte an den Universitäten Liverpool und Oxford. In Oxford promovierte er über Edward II. und Königin Isabella. Derzeit leitet er eine Schule in London, wo er auch mit seiner Familie lebt. Doherty ist Autor von über 40 Büchern, darunter zahlreiche auch in Deutschland sehr erfolgreiche Serien historischer Kriminalromane. Noch bevor der Gladiator Murranus wirklich zu kämpfen begonnen hat, bricht sein Gegner zusammen. Undenkbar, daß Murranus ihm tatsächlich Gift in den Wein getan hat. Claudia, Spionin der Kaiserinmutter, will ihren Geliebten von diesem Verdacht befreien. Doch der Hof Kaiser Konstantins zieht um in die Villa Pulchra. Dort soll ein Streitgespräch zwischen Arianern und Athanasianern stattfinden, denn seit die Christen nicht mehr verfolgt werden, ist es offenbar vorbei mit ihrer Einigkeit. Das von der Kaiserinmutter streng gehütete Schwert, mit dem Paulus hingerichtet wurde, verschwindet spurlos. Mehrere christliche Gelehrte werden ermordet. Claudia, die das Schwert und den Mörder finden soll, muß um ihr Leben fürchten. Aber mehr als um ihr eigenes Leben sorgt sie sich um das von Murranus.
Für Angela Francescotti in Dankbarkeit
HAUPTPERSONEN
DIE KAISER Diokletian Maxentius Konstantin Helena Licinius
der alte Kaiser, jetzt im Ruhestand früher Kaiser des Westreichs, von Konstantin an der Milvischen Brücke besiegt und getötet neuer Kaiser des Westreichs Konstantins Mutter, Kaiserin und Augusta Kaiser des Ostreichs
BEAMTE AM KAISERLICHEN HOF Anastasius
Chrysis
christlicher Priester und Schriftgelehrter, Sekretär von Helena Burrus Helenas Leibwächter Oberhofmeister
IN DER VILLA PULCHRA Gaius Tullius Athanasius Justin Septimus Dionysius Narcissus Timothaeus Meleager
Hauptmann der Wache ein Redner ein Redner ein Redner ein Redner ein Sklave ein Haushofmeister ein Gladiator
Rufinus
Eigentümer einer Handelsbank, Freund von Konstantin
DIE CHRISTLICHE KIRCHE Militiades Sylvester
Papst, Bischof von Rom Assistent von Militiades, höchstrangiger Priester der christlichen Gemeinde in Rom
IN DEN »ESELINNEN« Polybius Poppaoe Oceanus Januaria Claudia Murranus Simon Petronius Sallust Spicerius Valens Agrippina Dacius
der Eigentümer seine Lebensgefährtin ein ehemaliger Gladiator ein Serviermädchen Nichte von Polybius ein Gladiator der Stoiker der Zuhälter der Sucher ein Gladiator ehemaliger Militärarzt die Freundin von Spicerius ein Bandenchef
EINLEITUNG
Im Evangelium steht, daß Pilatus bei der Gerichtsverhandlung gegen Christus den Gefangenen freilassen wollte. Ein Aufschrei, wenn er das täte, wäre er kein Freund von Cäsar, hielt ihn davon ab. Wie die Kommentatoren berichten, verstand Pilatus die Drohung. Jeder römische Gouverneur und Beamte wurde von Geheimpolizisten des Kaisers, den agentes in rebus, genauestens überwacht! Im römischen Reich gab es eine Polizei – sowohl eine Militärpolizei als auch zivile Wachmannschaften (wenngleich sich diese von Region zu Region unterschieden) –, doch gab es nichts, was mit den Ermittlern unserer Kriminalpolizei vergleichbar wäre. Statt dessen zahlten der Kaiser und seine wichtigsten Politiker Unsummen an Informanten und Spione, die jedoch häufig schwer unter Kontrolle zu halten waren; wie Walsingham, der Meisterspion von Königin Elisabeth L, einmal trocken bemerkte: »Er war nicht wirklich sicher, für wen seine eigenen Leute arbeiteten, für ihn selbst oder für die Gegner.« Unter den zahlreichen Gerüchtesammlern, Klatschüberbringern und manchmal sehr gefährlichen Informanten waren die agentes in rebus eine Klasse für sich. Die Kaiser benutzten sie, und ihre Berichte konnten das Ende einer vielversprechenden Karriere bedeuten. So war es jedenfalls in der blutigen und undurchschaubaren Zeit Anfang des vierten Jahrhunderts nach Christus. Kaiser Diokletian hatte das Reich in eine östliche und eine westliche Hälfte aufgeteilt. Jede der beiden Reichshälften hatte einen eigenen Kaiser und einen Mitregenten, der den Titel Cäsar trug. Das römische Reich hatte wirtschaftliche
Probleme, die Barbaren fielen ein. Die Staatsreligion wurde von der christlichen Kirche bedroht, die wuchs und gedieh und sich in allen Provinzen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen bemerkbar machte. Im Jahr 312 beschloß ein junger General, Konstantin, unterstützt von seiner Mutter Helena, einer gebürtigen Britin, die bereits mit der christlichen Kirche liebäugelte, die Herrschaft über das weströmische Reich an sich zu reißen. Er marschierte in Italien ein und traf an der Milvischen Brücke auf seinen Rivalen Maxentius. Laut Konstantins Biographen Eusebius hatte der Möchtegern-Kaiser eine Vision: Er sah das Kreuz und darunter die Worte In hoc signo vinces (Unter diesem Zeichen wirst du siegen). Es heißt, daß Konstantin seinen Truppen befahl, das christliche Symbol zu übernehmen, und dann einen überragenden Sieg errang. Er besiegte und tötete Maxentius und marschierte in Rom ein. Jetzt war Konstantin Kaiser des weströmischen Reiches. Sein einziger Rivale war Licinius, der das oströmische Reich regierte. Unter dem starken Einfluß seiner Mutter ergriff Konstantin die Herrschaft und begann mit der christlichen Kirche über das Ende der jahrhundertelangen Verfolgung zu verhandeln. Dennoch standen Intrigen und Morde nach wie vor auf der Tagesordnung. In Rom gab es noch viele offene Rechnungen, und die Agentes in Rebus hatten alle Hände voll zu tun. Helena stand der christlichen Kirche wohlwollend gegenüber, mußte aber bald erkennen, daß Intrigen und Mord dort genauso verbreitet waren wie am kaiserlichen Hof…
KAPITEL 1 »Der bleiche Tod klopft mit gleichem Schlag an die Hütten der Armen und die Burgen der Könige.« Horaz, Oden, 1,4
»Iugula! Töte ihn!« Der Schrei der Menge im vollbesetzten, staubigen, flohverseuchten Amphitheater stieg donnernd hinauf in den Himmel. Der Tag wurde heiß. Die Sommersonne, ein wahrer Dämon am blauen Himmel, brannte hinab auf die Zuschauer, deren Blutdurst geweckt war und die jetzt nach mehr brüllten. In der Arena kämpften zwei Männer um ihr Leben; die Körper schweißüberströmt, die Glieder von Schmerzen gepeinigt, die Kehlen so trocken wie der Sand, den sie aufwirbelten. Der Veranstalter der Spiele, der Bankier Rufinus, hatte alles getan, damit es die Zehntausende geladener Gäste so kühl wie möglich hatten. Über den oberen Teil des Amphitheaters war mittels eines komplizierten Systems von Flaschenzügen und Stricken ein großes, wassergetränktes wollenes Sonnensegel gespannt worden, das spärlichen Schatten spendete, während man mit Spezialpumpen parfümiertes Wasser versprühte, um die Menschenmenge etwas abzukühlen. Doch Rufinus hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Die Hitze, der Durst und die gnadenlose Sonne taten der Blutgier des Pöbels keinen Abbruch. Viele Menschen waren schon vor Tagesanbruch in die ockergelben und schwarzen höhlenartigen Tunnel geströmt, die sich in eine Reihe weiterer, kleinerer teilten und die Zuschauer zu ihren jeweiligen Sitzplätzen führten. Jeder hatte die begehrte beinerne Eintrittsmarke mit der Sitznummer
dabei. Viele dieser Knochen waren vom Veranstalter verschenkt worden. Rufinus tat sein Bestes, um den Pöbel von Rom zufriedenzustellen – nicht für sich selbst, sondern für den neuen Kaiser Konstantin, der vor etwa achtzehn Monaten die Herrschaft übernommen hatte und jetzt allmählich die Früchte seines Sieges genießen wollte. Auf der anderen Seite des Amphitheaters, über dem Podium, erhob sich die prächtig geschmückte kaiserliche Loge. Vorderwand, Seitenwände und Balustrade waren mit einem kostbaren Purpurstoff drapiert, über den vergoldeter Efeu geschlungen war. Die Zuschauer folgten dem Kampf der beiden Gladiatoren mit solcher Aufmerksamkeit, daß sie Rufinus, der neben dem Kaiser saß, oder die Frau auf der anderen Seite von Konstantin, Helena Augusta atque Pia Mater, die edle und heilige Mutter des Kaisers, kaum wahrnahmen. Der Kaiser selbst schenkte den Spielen keinerlei Beachtung. Auf seinem Gesicht mit dem prägnanten Kinn lag der Ausdruck angespannter Konzentration: Die Zungenspitze aus einem Mundwinkel geschoben, balancierte er auf den Knien eine Schreibtafel und las die diversen Dokumente, die ihm sein pausbäckiger Oberhofmeister Chrysis zum Studium übergab. Helena war mit ähnlichen Dingen beschäftigt: Sie las Berichte, die ihr persönlicher Sekretär, der christliche Priester Anastasius, ihr reichte. Helena beschäftigte Anastasius nicht nur wegen seiner Verbindungen zu dem neuen Glauben, sondern auch weil er ein gelehrter Mann war und Griechisch und Hebräisch beherrschte. Vor allem aber war er überaus diskret; er konnte nicht sprechen, weil ihm die kaiserlichen Folterknechte während der jüngsten Christenverfolgungen die Zunge herausgerissen hatten.
Helena starrte auf ein Pergament auf ihrem Schoß. Es war der Bericht eines Spions über den Stadtsenat von Korinth, in dem es um bestimmte Flottenbewegungen ging. Sie knetete mit den Fingern ihren Oberschenkel, wie so oft, wenn sie mit einem Problem beschäftigt war. Ihr geliebter Sohn war jetzt Kaiser, zumindest des Westreichs, doch in Nicomedia lag der Emporkömmling Licinius auf der Lauer, der selbsternannte Kaiser des Ostreichs. Helena kniff die Augen zusammen und blickte hinunter auf die Gladiatoren im Amphitheater. »Einer der beiden hat Probleme«, flüsterte sie vor sich hin und lehnte sich an die Balustrade. Ja, der retiarius, der Netzmann mit den goldenen Haaren, blutete aus einer Wunde an der rechten Schulter und wurde langsamer. Helena schaute zwar auf die Gladiatoren, war aber mit ihren Gedanken ganz woanders. In Wahrheit waren ihr Sohn Konstantin und Licinius ebenfalls Gladiatoren, die um den größten Preis der Welt kämpften, um ein Reich, das sich vom großen Ozean im Westen bis zum Schwarzen Meer erstreckte, vom sengend heißen Sand Nordafrikas bis zu den eisigen Wäldern am Ufer des Rheins. Im Augenblick umkreisten die beiden einander, auf der Suche nach einer Schwäche. Früher oder später – wohl eher früher – würden Konstantin und sein Gegner aneinandergeraten. Würde sein Heer nach Osten marschieren oder Licinius in den Westen einfallen? Konnte man Licinius’ Truppen kaufen, die Beamten an seinem Hof dazu verleiten, abtrünnig zu werden? Helena nagte an ihrer Lippe. Ob es wohl leichter wäre, Licinius zu vergiften, ein paar Körnchen eines Pulvers in seinen Wein zu mischen? Aber was würde dann passieren? Würde ein neuer Emporkömmling auftauchen? Sie studierte den Bericht noch einmal. Licinius führte eindeutig etwas im Schilde – an seinem Hof herrschte gesteigerte Aktivität, und wieso zog er seine Flotte im Golf von Korinth zusammen? Zu
Manövern? Oder als Vorbereitung für eine Schlacht? Konstantin neben ihr schlürfte hastig seinen Wein, und Helena stieß ihn mit dem Ellbogen an. Wie immer reagierte ihr Sohn mit einem mürrischen Gesicht, aber das war Helena egal. Sie war stolz auf ihre frostige Art und ihre starken Nerven; so war sie auch mit Konstantins Vater umgegangen und erst recht mit emporgekommenen Priestern und meuternden Offizieren. Sie würde sich benehmen wie immer, als Herrscherin des Reiches. Helenas graue Haare waren auf traditionelle Weise frisiert, und auf ihren Schultern lag ein goldgesäumtes purpurnes Tuch, das sich leuchtend von ihrem schlichten schneeweißen Leinenkleid abhob. Sie trug bewußt keinen Schmuck außer einem Amethystring am kleinen Finger ihrer linken Hand. Die teuren spanischen Sandalen hatte sie abgestreift und genoß jetzt das kühle, parfümierte Fußbad, das ihr ein Sklave gebracht hatte. Schließlich hatte sie an den Feldzügen ihres Mannes und ihres Sohnes teilgenommen und eine alte Soldatenweisheit verinnerlicht: »Wenn du dich abkühlen willst, dann spritze dir Wasser auf den Nacken und stecke deine Füße in ein kaltes Bad.« Ihr langes Gesicht mit den hohen Wangen, den tiefliegenden dunklen Augen und der Stupsnase über dem vollen Mund und dem entschlossenen Kinn war ungeschminkt. Sie sah keinen Sinn darin, sich auf solche Art zu verschönern; sie wollte streng sein und auch so aussehen. Es gab Leute, die tuschelten einander zu, sie habe keinen Geschmack; war sie nicht die Tochter eines Gastwirts? Helena schenkte solchem Geschwätz keine Beachtung, und ihr einziges Zugeständnis an die Mode war, daß sie sich die Augenbrauen abrasierte und ein wenig Karminrot auf die Lippen auflegte. Sie wollte aussehen wie die kriegerischen Matronen des Alten Rom. Und außerdem, gestand sie ihrem Sohn, begannen in der Hitze auch die teuersten Schminkfarben zu fließen.
Helena wandte sich zu den Damen hinter ihr um und lächelte strahlend. Dumme Weibsstücke, ihre Gesichter waren bemalt wie die von germanischen Kriegern! Nun ja. Sie drehte sich wieder um, rollte die Zehen ein und stupste ihren Sohn erneut an. Sie hatte ihm schon tausendmal gesagt, er solle in der Öffentlichkeit nicht in der Nase bohren! Ein weiteres Dokument wurde gebracht. Sie packte Anastasius am Arm und sprach langsam. Er antwortete rasch in der Zeichensprache, die, wie Helena hoffte, nur sie verstehen konnte. Sie sah sich im Amphitheater um. Gut, der Pöbel brüllte noch immer zu dem armen Teufel hinunter, der ausgestreckt auf dem rotgoldenen Sand der Arena lag. Helena war es lieber, wenn die Leute auf die Kämpfer blickten als auf die kaiserliche Loge. Sie stieß ihren Sohn an, damit er mehr Aufmerksamkeit an den Tag legte. Die Zuschauer mochten es nicht, wenn es den Anschein hatte, daß die Erhabenen, die in Purpur Gekleideten, das Gemetzel und das Blutvergießen nicht genossen. »Konstantin?« Der Kaiser, in ein Gespräch mit Rufinus vertieft, ignorierte sie. »Mein geliebter Sohn?« Der Kaiser saß noch immer mit dem Rücken zu ihr da. »Konstantin!« brüllte Helena. »Dreh mir nicht den Rücken zu! Hör auf, mit Rufinus zu flüstern, und paß auf!« »Mutter.« Konstantin wandte sich um. Auf seinem grobgezeichneten Gesicht waren unschöne Bartstoppeln, auf seiner Stirn unter den kurzgeschnittenen dunklen Haaren standen Schweißtropfen, seine dunkelblauen Augen waren müde und rot gerändert. »Konstantin, du hast wieder getrunken und zu viele lange Nächte mit deinen Offizieren verbracht.« Das Toben der Menge verebbte. Er blickte rasch auf und sah, warum: Der auf dem Boden liegende Gladiator hatte die
Unterbrechung genutzt und wälzte sich von seinem Gegner weg. Dieser hatte gedacht, mit dem Netzmann gehe es zu Ende, und zur kaiserlichen Loge geschaut. Nun war der Netzmann wieder auf den Beinen, und der Pöbel sah fasziniert zu, wie der tödliche Kampf von neuem aufgenommen wurde. »Diese Priester«, flüsterte Konstantin heiser. »Was ist mit ihnen?« Helena war ganz Ohr. Jetzt war es ihr egal, ob Konstantin die Zuschauer ignorierte. »Die christlichen Priester«, wiederholte Konstantin zähneknirschend. »Es geht schon wieder los, Mutter. Die Christen liegen sich wegen irgendwelcher obskuren Dogmen in den Haaren.« »Das sind doch bloß Worte!« antwortete Helena sarkastisch. »In Ostia gab es einen Tumult zwischen den Anhängern zweier Sekten«, erklärte Konstantin. »Anscheinend streiten sie sich über das Wesen Gottes. Ist Jesus Christus, der Mensch wurde, vom gleichen göttlichen Wesen wie Gottvater und ihm ebenbürtig?« Konstantin wischte sich mit seinen kurzen Fingern den Schweiß vom Gesicht. »Sie wollen, daß ich die Sache entscheide, dabei verstehe ich kein Wort von alledem. Vielleicht sollten wir die dummen Kerle ihren Konflikt in der Arena austragen lassen.« »Konstantin!« »Entschuldigung, Mutter.« »Trink nicht zuviel.« »Natürlich nicht, Mutter.« Konstantin seufzte, wandte sich ab und hielt seinen Becher einem Diener hin, der ihn mit Rotwein füllte. Helena schüttelte den Kopf und starrte hinunter auf die Arena. Das Sonnensegel war von einem Windstoß erfaßt worden, es flatterte und wölbte sich. Sie betrachtete das Publikum. Das war das Kaiserreich. In den unteren Rängen des Amphitheaters, vom Rest der Zuschauer durch
Zwischenwände getrennt, saßen die weißgekleideten Aristokraten; darüber die niedrigeren Stände in dunklen Tuniken. Ganz oben waren die Leute aus den Armenvierteln. Sie sind das Problem, dachte Helena. Sie nahm ihren Fächer und wedelte heftig damit. Die Zehntausende Armer in Rom und in allen anderen großen Städten des Kaiserreichs. Wie sollte man die unter einen Hut bringen, wodurch? Durch Kaiserverehrung? Schließlich hatte jahrzehntelang Bürgerkrieg geherrscht. Durch das Christentum? Helena lächelte. Der neue Glaube mit seiner revolutionären, radikalen Lehre, daß Gott Mensch geworden, ans Kreuz geschlagen und von den Toten auferstanden war, tauchte jetzt aus den Katakomben von Rom auf. Christus brachte die neue Botschaft, daß alle Menschen gleich seien. Jedem, selbst einem Sklaven, wurde das ewige Leben versprochen, wenn er oder sie sich zu den Lehren des Gekreuzigten bekannte. Welcher andere Glaube versprach das schon? Frühere Kaiser hatten das Christentum als Bedrohung angesehen und unbarmherzig bekämpft. Unter Konstantin war das alles anders geworden. Er war als ehrgeiziger General mit seinen Legionen von Britannien nach Italien gezogen, hatte den alten Herrscher, Maxentius, herausgefordert und ihn in der Schlacht an der Milvischen Brücke besiegt. So hatte alles begonnen! Helena fächerte sich energisch Luft zu. Sie hatte sich stets gefragt, was wohl tatsächlich hinter der Geschichte steckte. Immer wieder hatte sie ihren Sohn gebeten, ihr zu sagen, was wirklich geschehen war. Wenn Konstantin überhaupt an etwas glaubte, dann an den Sonnengott. Dennoch war ihm vor jener schicksalhaften Schlacht im Traum Christus erschienen und hatte ihm befohlen, die Schilde seiner Soldaten mit den christlichen Insignien zu versehen, dem Chi und dem Rho, den ersten beiden griechischen Buchstaben des Wortes »Christos« – der Gesalbte, Jesus von Nazareth. Am nächsten Tag hatte
Konstantin eine weitere Vision gehabt: Er hatte ein Kreuz gesehen, schwarz gegen die strahlende Sonne, und darunter die Worte »Unter diesem Zeichen wirst du siegen«. War das tatsächlich eine Vision oder bloß das Produkt seiner überschäumenden Phantasie gewesen? Konstantin konnte sich als rauher Soldat gebärden und derb wie ein Maultier sein, aber er war auch ein Träumer. Als Kind hatte er Anfälle gehabt, es schien, als nehme er etwas wahr, was seine Mutter nicht sehen konnte. Helena klappte den Fächer zu. Die Vision war echt gewesen! Ihr Sohn war zum Herrscher des Westreichs ausgerufen worden, zum Herrn über Rom. Er hatte seine Gegner vernichtet. Eines Tages würde er in den Osten marschieren, diesem versoffenen Dummkopf Licinius eine Schlacht liefern, ihn zermalmen und sich dann zum Imperator totius mundi erklären, zum Herrscher über die ganze Welt. Trotz seiner Visionen hatte sich Konstantin nach außen kaum verändert: Er benahm sich noch immer wie der unflätige, verschwitzte Soldat, der seinen Wein hinunterstürzte, zuviel aß und den Kurtisanen gerne auf den Hintern klopfte. Doch auf seine Art war er anders, war von Helena abhängiger geworden. Nach dem Einmarsch seiner Legionen in Rom hatte er ihr und Anastasius das Kommando über die agentes in rebus übertragen, jene Scharen von Spionen und Geheimagenten, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen des römischen Reiches im Einsatz waren. Entschlossen, die Herrschaft ihres Sohnes zu festigen, und in dem Bestreben, mit dem mächtigen christlichen Glauben zu einem Übereinkommen zu gelangen, hatte Helena die Zügel der Macht ergriffen. Wenn sie diesen Glauben unter ihre Kontrolle brachte, konnte sie auch den Pöbel kontrollieren. Sie war mit Militiades, dem höchsten Repräsentanten der christlichen Kirche in Rom, und mit seinem Stellvertreter Sylvester, dem
Mann mit den silbernen Haaren und der goldenen Zunge, in Geheimverhandlungen eingetreten. Vielleicht konnte das römische Reich mit diesem radikalen Glauben ja irgendwann einmal eine Übereinkunft erzielen. »Mutter, Mutter.« Konstantin beugte sich zu ihr und rüttelte sie am Arm. »Mutter, du darfst nicht einschlafen.« »Ich schlafe nicht«, fauchte sie. »Ich freue mich schon darauf, diese flohverseuchte Hitze verlassen zu können. Ich will weg aus Rom.« Sie starrte ihren Sohn finster an. »Wir sollten bald wegfahren…« »Ah, die Villa Pulchra«, zog Konstantin sie auf. »Die wunderschöne, von den Bergwinden gekühlte Villa. Keine Sorge, Mutter, wir werden bald dort sein.« Er zwinkerte. »Und du kannst alle deine Freunde mitnehmen.« Helena wußte, auf wen er anspielte. Konstantin hatte den Christen religiöse Toleranz gewährt, doch jetzt hatte sich der neue Glaube seine eigenen Probleme geschaffen. Helena knirschte mit den Zähnen. Probleme, immer gab es Probleme. »Schau, Mutter.« Konstantin war entschlossen, sie zu necken. »Der Kampf geht dem Ende zu.« Dem blonden Netzmann mit seinem rot-silbern gesäumten Schurz war das Glück nicht hold gewesen. Der Mann mit den gepolsterten weißen Beinschienen, einem ähnlichen Schutz auf seinem linken Arm und einer glänzenden bronzenen Rüstung auf der Schlüter wollte den Kampf jäh beenden, indem er das an seinem linken Arm befestigte, zwei Meter lange Netz weit auswarf. Es hätte seinen Gegner, einen Thraker in schwerer Rüstung, der einen Helm mit Visier und rot-gelbem Pferdehaarbusch trug, zu Fall bringen sollen. Doch der Thraker war schneller gewesen. Er hatte sich vor dem Netz und der Geschwindigkeit seines leichter bewaffneten Gegners in acht genommen und war immer weiter zurückgewichen. Als das Netz auf ihn zuflog, fing er es mit seinem Rundschild ab und
versuchte, damit seinen Gegner zu seinem spitzen Schwert heranzuziehen. Der retiarius ließ sofort den Dreizack fallen, zog das Messer aus seinem bestickten Gürtel und befreite sich, indem er das Netz durchschnitt. Dann nahm er den Dreizack in beide Hände und stellte sich mit dem Rücken an die Podiumswand. Der Thraker folgte ihm, wobei seine Füße den goldenen Sand aufwirbelten. Jetzt war der Netzmann verloren; er war in der Falle. Die Menschen brüllten, sie wollten den Kampf beendet sehen, doch der Thraker blieb vorsichtig. Es herrschte flirrende Hitze. Beide Männer hatten seit Stunden nichts getrunken, und der Netzmann blutete stark, seine Kräfte ließen nach, er geriet in Panik. Er spürte, wie er schwächer wurde. Er machte einen Satz nach vorn und richtete seine Waffe auf die Brust des Thrakers. Der Thraker schlug sie ihm mit solcher Wucht aus der Hand, daß der Dreizack wie ein Kreisel davonwirbelte. Dann stieß er sein Schwert tief in den Nacken des Netzmannes. Der Kampf war vorbei. Der Netzmann stürzte in den Sand, das Blut sprudelte aus seinen Wunden. Diesmal wollte der Thraker auf Nummer Sicher gehen. Er stellte sich über seinen Gegner, während der Pöbel brüllte. »Hoc habet! Hoc habet!« Gib’s ihm! Der Thraker kannte die Regeln; er war Gladiator, kein Metzger. Er sah zu, wie das Lebenslicht in den Augen seines Gegners erlosch, wie der Körper sich in Todesqualen wand, bevor er sein Schwert hob und den Beifall der Menge entgegennahm. In Hochstimmung drehte der Thraker eine Ehrenrunde, wobei er immer wieder innehielt, um seine Waffen zu erheben und in den Münzen und Blumen, die auf ihn herabregneten, zu schwelgen. Die vergitterten Tore vor den Tunneln unter dem Podium wurden geöffnet, und eine gespenstische Gestalt mit der Terrakottamaske von Charon, dem Fährmann zur Unterwelt,
erschien. Sein Begleiter stellte Merkur dar, den Hirten der Seelen. Während der Thraker vom Pöbel bejubelt wurde, näherten sich die beiden makabren Gestalten dem toten Gladiator. Merkur trug einen rotglühenden Eisenstab, mit dem er den Toten anstieß, um festzustellen, ob er auch wirklich tot war, während Charon den auf dem Boden Liegenden mit seinem Hammer auf den Kopf schlug – als Beweis dafür, daß dieser jetzt ihm gehörte, und um den Tod zu bestätigen. Eine Gruppe von Männern mit einer Tragbahre eilte herbei, und während der Sieger seine Waffen dem lanista, seinem Betreuer, übergab, wurde sein toter Gegner hinausgeschleift. Man würde ihn ausziehen, sein Blut in Behältnissen auffangen und als Heilmittel gegen Epilepsie verkaufen. Den Rest seiner geschundenen Leiche würde man entweder in irgendein Grab werfen oder zerhacken und an die wilden Tiere verfüttern. In der kaiserlichen Loge lehnte sich Helena auf ihrem Thronsessel zurück. Der Blutdurst der Zuschauer war gestillt, und sie beschäftigten sich mit anderen Dingen, während sie auf den Höhepunkt der heutigen Spiele warteten: den Kampf zwischen Spicerius, dem berühmtesten Netzmann von Italien, und Murranus, dem secutor, dem Liebling des römischen Pöbels. Beide waren erfahrene Gladiatoren und hatten bereits eine ganze Reihe von Siegen errungen. Beide hatten die rudis, das hölzerne Schwert der Freiheit, erhalten, und beide hofften, am Ende dieser Spiele mit der Krone als victor ludorum, als Sieger der Spiele, ausgezeichnet zu werden. Der Sand im Amphitheater wurde gerecht, gewendet und mit glitzerndem feinem Kies bestreut. Männer mit Wassereimern wuschen die Blutspritzer von der Marmorwand des Podiums. Auf den Rängen darüber wogte die Menge wie eine sanfte Brandung hin und her. Einige Zuschauer eilten davon, um sich etwas zu trinken oder zu essen zu besorgen, andere wollten ihren Platz nicht verlieren und riefen den Händlern, die billigen
Wein und bitteres Bier, würzige Würste, Honigkuchen, geräucherten Fisch, Sesamkekse und sogar gezuckerte Feigen in Weinblättern verkauften, lautstark ihre Bestellungen zu. Trompeter versuchten Musik zu machen, doch niemand nahm wirklich Notiz davon. Helena nippte an ihrem Glas mit gekühltem Weißwein und beugte sich auf ihrem Stuhl vor. Sie lauschte den Worten ihres Sohnes, der so viel getrunken hatte, daß er jetzt förmlich brüllte, so daß alle in der kaiserlichen Loge hören konnten, was er sagte. »Siehst du, wie diese Christen einander lieben, was, Rufinus?« scherzte Konstantin. »Sie gehen einander wegen der Frage, ob ihr Christus Gottvater ebenbürtig ist, an die Gurgel.« Doch Helena fand das gar nicht lustig. Sie brauchte die Christen und bemühte sich, die Dreieinigkeit ihres Gottes zu verstehen. Sie hatte versucht, die Grundlagen zu begreifen. Offenbar war ihr Gott drei in einem, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Der Sohn war Mensch geworden, Jesus von Nazareth, blieb aber dennoch dem Vater gleichwertig, war mit Ihm wesensgleich. Doch eine Gruppe von Christen unter einem Gelehrten namens Arius glaubte, daß Jesus nicht gleichwertig, nicht wesensgleich sei mit Gottvater. Militiades, der Bischof von Rom, hatte verfügt, das sei Ketzerei, und Helena ersucht, ihr Sohn solle eingreifen. Helena wischte sich mit einem parfümierten Tuch das Gesicht ab. Sie hatte ihren Willen durchgesetzt. Wenn er die neue Religion auch verspottete, stand Konstantin doch in ihrer Schuld. Er hatte beschlossen, anläßlich seines Geburtstags eine Woche südlich von Rom in der Villa Pulchra zu verbringen und Vertreter beider christlichen Splittergruppen eingeladen, die Angelegenheit vor ihm zu debattieren. Der Bischof von Rom hatte eine Gruppe öffentlicher Redner von der Schule in Capua als Beispiel für dieses ärgerliche Problem genannt. Die
Schule war von Häresie zerrissen: Einige folgten den Lehren des Arius, andere der orthodoxen Linie, daß Gottvater, Sohn und der Heilige Geist wesensgleich seien. Es überraschte Helena, welche Ausmaße die theologischen Streitereien in Capua angenommen hatten. Die Debatten wurden so hitzig geführt, daß die Gelehrten mit Schwertern und Schilden bewaffnet in den Diskussionssaal kamen; sie nahmen zum Schutz sogar Leibwächter mit. Draußen versammelte sich der Pöbel; die einen brüllten, der Sohn sei dem Vater gleichwertig, die anderen behaupteten lautstark das Gegenteil. Häuser waren angegriffen worden, man hatte Schmutz und Unrat in den Diskussionssaal gebracht, um damit die Gegner zu bewerfen. In den Tavernen und Garküchen war es sogar zu nächtlichen Überfällen und wüsten Messerstechereien gekommen. Konstantin, dem das alles ein Rätsel war, hatte je drei Redner von jeder Gruppe in die Villa Pulchra befohlen. Helena schloß die Augen und seufzte. Konstantin liebte handfeste Streiche und genoß es, wenn sich andere in hitzige Debatten verstrickten. Das war schön und gut, solange er den Mund hielt und nicht schallend zu lachen anfing. Helena hatte ihr Bestes getan, diesen Befehl mit der Aussicht auf großzügige Gastfreundschaft zu versüßen und mit der Möglichkeit, eine bedeutende christliche Reliquie zu sehen und zu untersuchen: das heilige Schwert, einen römischen gladius, der wie durch ein Wunder die Jahrhunderte überdauert hatte – das Schwert, mit dem der christliche Apostel Paulus von Kaiser Nero hingerichtet worden war. Für so etwas hatte Helena etwas übrig! Sie war fasziniert von derartigen Funden und sammelte eifrig christliche Reliquien. Noch immer suchte sie nach der Dornenkrone, die dem gemarterten Christus während seiner Passion auf den Kopf gedrückt worden war, nach dem Speer, mit dem man ihn in die Seite gestochen hatte, und nach den Nägeln, mit denen der christliche Heiland ans Kreuz
geschlagen worden war. Das heilige Schwert war bisher Helenas größter Fund. Es würde in der Villa ausgestellt werden; vielleicht erinnerte es die christlichen Gelehrten ja sogar daran, wie wichtig Einigkeit war. »Jetzt! Jetzt! Jetzt!« grölten die Zuschauer. Sie hatten ihren Hunger und ihren Durst gestillt und wollten endlich den Kampf zwischen Murranus und Spicerius sehen. Helena stellte den Becher hin und drehte sich um. Hinter ihr saßen hohe Beamte, wichtige Persönlichkeiten, Priester und Vestalinnen. Letztere erkannte man an ihren griechischen Roben mit den schweren Falten; ihr Haar war unter weißen und roten Wollbändern versteckt, die sie eng um den Kopf geschlungen trugen und deren Enden über ihre Schultern hingen. Doch sie interessierten Helena nicht. Sie spähte zum anderen Ende der Loge, wo auf einem Hocker, der auf einem erhöhten Podest stand und daher einen guten Blick auf die Arena bot, eine junge Frau saß. Helena zwinkerte Claudia zu, ihrem Mäuschen, ihrer fähigsten Spionin. Sie ging jede Wette ein, daß kaum jemand in der Loge Claudia mit ihrer jungenhaften Figur und den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren bemerkt hatte. Ihre Haut war elfenbeinfarben, ihre Züge regelmäßig; wenn etwas an ihr schön war, dann waren es diese großen, glänzenden Augen, die so ruhig und unverwandt blickten. Sie trug weder Schminke noch Schmuck, nur eine Tunika mit rundem Ausschnitt, die ihr bis unter die Knie reichte, und an den Füßen feste Sandalen wie die der Soldaten. Helena formte mit den Lippen das Wort »Mäuschen«, was von Claudia mit einem schnellen, schiefen Lächeln und einem leichten Nicken quittiert wurde. Helena kehrte zu ihren Überlegungen zurück. Das Mädchen würde bei den Problemen, denen der Kaiser gegenüberstand, helfen können; dieses scharfsinnige Mäuschen, diese hervorragende Agentin mit ihrer Nase für Probleme! Claudia war ein Kind der
Armenviertel, eine ehemalige Schauspielerin; wenn sie wollte, konnte sie eine feine Dame darstellen, doch das tat sie selten. Sie mochte es nicht, wenn man Notiz von ihr nahm, und das machte sie sowohl wertvoll als auch gefährlich. Die Leute redeten, als wäre sie nicht anwesend, und sie hatte einen scharfen Blick für kleine Ungereimtheiten und Eigentümlichkeiten. Ob Claudia wohl Christin war? fragte sich Helena. Sie stand jedenfalls in irgendeiner Verbindung zu dem Priester Sylvester und ebenso zu Rufinus. Vielleicht hatte der Bankier versprochen, Claudia bei der Suche nach dem Mann mit der Tätowierung eines purpurnen Kelchs am Handgelenk zu helfen. Dieser Mann hatte vor zwei Jahren ihren einfältigen Bruder Felix ermordet und dann sie vergewaltigt. Seltsam, dachte Helena, daß Claudia ihre Einladung zu den Spielen angenommen hatte; das Mädchen hatte einmal erklärt, sie hätte für diese Art von Unterhaltung nichts übrig. Aber war sie nicht einem der Gladiatoren zugetan? »Augusta, darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?« Fulvia Julia, die Frau von Rufinus, stand neben ihr, an ihrer Seite ein Haussklave mit einem Hocker. »Aber natürlich.« Helenas Lächeln war ebenso falsch wie das von Julia. »Sehr gut.« Fulvia Julia setzte sich. »Augusta«, gurrte sie und klopfte auf die Armlehne von Helenas Stuhl, »es ist ja so mutig von Euch, keinen Schmuck und keine Schminke zu tragen. Es ist so…«, sagte das Miststück mit einem schrillen Lachen, »so schlicht.« »Hast du denn nicht Heilmittel gegen die Liebe von Ovid gelesen?« fragte Helena lächelnd. »Er sagt, Edelsteine, Gold und Schminke verbergen alles.« Sie beugte sich näher zu Julia. »Eine falsche Frau ist am wenigsten sie selbst.«
»Oh! Augusta, Ihr seid ja so klug! Also«, meinte Fulvia Julia dann, klatschte in die Hände und deutete auf die Arena, »wer, glaubt Ihr, wird getötet werden?«
Murranus, der Gladiator, stand in der Dunkelheit des Tunneleingangs unter dem Amphitheater und stellte sich dieselbe Frage. Er hatte vor einer Statue des Mars gebetet und etwas Weihrauch, gemischt mit einem Büschel seiner kurzgeschnittenen roten Haare, über die Flamme gestreut. Er hatte seine Augen zum Schutz vor dem Staub gebadet und die Lider ein wenig geschwärzt, um das Blau seiner Augen zu betonen. Er war bereit für den Kampf. Er und sein Gegner waren freie Männer, daher durften sie ihre eigenen Waffen tragen; sie brauchten nicht zu warten, bis sie die Arena betraten. Sie waren aus freien Stücken hier. Aber nein. Murranus schüttelte den Kopf. Er war hier, weil er hier sein mußte; Kämpfen – das war das einzige, was er konnte. Murranus kniff die Augen zusammen und blickte hinaus in das Sonnenlicht. Er war friesischer Abstammung, aber genau wie jeder andere Kämpfer aus den Armenvierteln ohne jeglichen Anhang. Seine Familie war tot, und seine einzigen Freunde waren seine Kumpane in der Taverne »Die Eselinnen«. Er hatte zwar etwas mit der Schankmagd Januaria gehabt, aber sein Herz… Er schnitt eine Grimasse. Die kleine Claudia wußte Bescheid. Er sah sich im Tunnel um. Die Wände waren makaber gelb und schwarz bemalt und mit den letzten Worten und Zeichnungen von anderen Gladiatoren bedeckt, die hier vor dem Tor des Lebens gewartet hatten, wo sie vom blendenden Licht in die Arena hinaus gelockt worden waren. Würde heute der Tag sein, an dem er starb? Murranus hatte mindestens ein Dutzend Kämpfe gewonnen und nur zwei verloren – und bei
beiden hatte das Urteil amissus gelautet: besiegt, aber am Leben gelassen. »Bist du bereit, Murranus?« Polybius, Claudias Onkel und Wirt der »Eselinnen«, deutete auf den Tisch, auf dem die Waffen lagen. Polybius hatte ein volles Gesicht und verschmitzte Augen. Jetzt setzte er eine traurige Miene auf. Er rieb sich die Spitze seiner dicken Nase und zog seine lachenden Mundwinkel nach unten, als hätte Murranus den Kampf bereits verloren. »Ich bin derjenige, der kämpft«, scherzte Murranus. Polybius schob die schweiß getränkten Haare auf seinem kahl werdenden Schädel zurecht und wischte sich dann die schmuddeligen Hände an seiner dunkelblauen Tunika ab. »Ich wünschte, es wäre nicht so!« Oceanus trat aus dem Dunkeln. Der ehemalige Gladiator hatte einen breiten, gewölbten Brustkorb, einen dicken Bauch und Arme und Beine, stark wie Säulen. Da er es für besser hielt, einen leeren Garten zu haben als ab und zu mal ein paar Blumen, rasierte er sich täglich den Schädel und rieb ihn mit einem billigen Öl ein, so daß er glänzte wie ein frisches Taubenei, wie Polybius meinte. Er hatte nur noch ein Ohr, das er mit einem riesigen Messingring schmückte; das andere war ihm bei einem Kampf abgebissen worden. Oceanus hatte es in Salzlake gelegt, getrocknet, und trug es jetzt an einer Kordel um den Hals. Es waren noch mehr Leute von den »Eselinnen« hier, zum Beispiel Simon der Stoiker, der selbsternannte Philosoph, wie immer in seinem schäbigen Umhang. Heute war seine stets traurige Miene noch düsterer, und seine bitteren Lippen waren bereit, ein paar tragische Verse zu rezitieren. Murranus wäre lieber allein gewesen, doch sie wollten ihm nur helfen; zumindest lenkten sie ihn von den Blutflecken am Boden ab, ebenso wie von Charon und Merkur, den beiden makabren Typen, die mit dem Rücken zur Wand dastanden und ihn
anstarrten, als wäre er ein Ochse, der zur Schlachtbank schritt. Draußen erklang donnernd der ominöse Sprechchor der Zuschauer, doch als dieser verstummte, zerrte schrille Musik an Murranus’ Nerven, und er spürte, wie ihm im Nacken der Schweiß ausbrach. Er wünschte, das Warten wäre vorbei. »Ich bin bereit«, erklärte er. Er ging hinüber zum Tisch und zog sich aus. Oceanus tauchte einen Schwamm in kaltes Wasser, wusch seinen Körper, trocknete ihn ab und begann ihn mit Öl einzureiben. Danach schlang sich Murranus ein dreieckiges Lendentuch um die Hüfte, zog das Ende zwischen den Beinen durch und verknotete es vorn. Als nächstes kam der breite, goldbestickte Gürtel. Murranus hüpfte auf und ab und dehnte seine Bauchmuskeln. Als er zufrieden war, befestigte er an seinem linken Arm einen ledernen Schutz und legte dick mit Leinen gepolsterte Beinschienen aus geprägtem braunem Leder an. Oceanus vergewisserte sich, daß alle Riemen fest angezogen waren, und rieb dann Murranus’ nackte Füße, Oberschenkel, die Brust und den rechten Arm noch einmal mit Öl ein. Der Gladiator nahm sein kräftiges Kurzschwert und den rechteckigen Legionärsschild, wog beide sorgfältig ab und kontrollierte, ob alles in Ordnung war. Schließlich wurde ihm der Helm mit dem Visier gereicht, der mit dem Relief eines Panthers und an der Spitze mit einem Pferdehaarbusch verziert war. Die Riemen und Schnallen des Helmes waren intakt. Murranus setzte ihn auf und prüfte, ob er bequem saß. Durch die Löcher für die Augen blickte er seine Freunde an, die in einem Halbkreis um ihn herum standen. »Betet für mich, meine Freunde.« Seine Stimme klang gedämpft. »Auf daß das Glück mir hold sei.« Er nahm den Helm wieder ab und grinste, obwohl sich sein Magen umdrehte und ein Muskel seines rechten Oberschenkels zitterte. Murranus hatte sich am Vorabend in der cena libera verabschiedet, wo die Gladiatoren, die am nächsten Tag in der
Arena kämpfen sollten, gratis essen konnten und die Nacht, die vielleicht ihre letzte war, feierten. Stimmen ertönten. Er drehte sich um und sah einen Haufen junger Männer mit bemalten Gesichtern, gefärbten Haaren und klimpernden Wimpern durch den Tunnel trippeln. Oceanus scheuchte sie weg. »Perverse!« höhnte Oceanus. »Die bekommen nur noch einen Steifen, wenn sie zusehen, wie sich ein Mann auf den Tod vorbereitet.« Murranus lachte, um die Spannung zu mindern. Er erzählte ihnen, daß sich solche Perverse – Männer wie Frauen – häufig am Tor des Lebens herumtrieben und die noxii, die Verbrecher, die den wilden Tieren vorgeworfen wurden, belästigten und verspotteten und daß diese verkommenen Subjekte ihre Körper an die gefesselten Gefangenen preßten. Ein früherer Herrscher hatte einmal die geheime Order gegeben, daß zusammen mit den noxii auch diese Perversen zu den wilden Tieren in die Arena getrieben werden sollten. Murranus’ Geschichte rief Heiterkeit hervor, die jedoch abrupt abbrach, als im Tunnel lautes Lachen widerhallte. »Spicerius«, sagte Polybius, »und seine Gefolgschaft.« Der Netzmann stolzierte aus der Dunkelheit, groß, geschmeidig und wendig, das buschige schwarze Haar von einem roten Stirnband gehalten. Er war bereits bewaffnet und sah prächtig aus mit seinem silbernen Lendenschurz und dem goldbestickten Gürtel, in dem in einem Ring neben der Schnalle ein gefährlich spitzer Dolch steckte. An den Beinen und am rechten Arm trug er einen goldfarbenen, gepolsterten Schutz; der Armschutz war vorn mit einem fauchenden Löwen geschmückt, während der Rand mit Stierköpfen verziert war. Um den Hals hatte er eine silberne Kordel, von der der Zahn eines Löwen hing. Spicerius behauptete, den Löwen mit bloßen Händen getötet zu haben. Als er sich schließlich herabließ, von Murranus Notiz zu nehmen, hob er den spitzen
Dreizack und ließ das Netz baumeln, das an seiner linken Hand befestigt war. »Komm schon, Murranus, komm und hol’s dir.« Murranus legte den Helm hin und ging zu ihm. Er musterte den Netzmann genau – die engstehenden Augen, den unruhigen Blick, den grinsenden Mund. Er sah, daß Spicerius wie immer sein Gesicht bemalt und die Augen leuchtend grün umrandet hatte. Seine Lippen waren karminrot, und er roch intensiv nach teurem Parfüm. Spicerius klimperte mit den Wimpern und hielt ihm das Gesicht hin. »Ein Küßchen, Murranus?« Die junge Frau an Spicerius’ linker Seite quietschte vor Lachen, so laut, daß Murranus annahm, daß sie betrunken war. »Das ist Agrippina«, stellte Spicerius sie vor. »Die edle Tochter einer edlen Familie.« Agrippina war groß und gertenschlank. Das schwarze Haar trug sie hochgesteckt in einem Netz, wohl aus Sympathie für ihren Freund. Das schneeweiße Leinentuch, das sie um die Schultern gelegt hatte, verbarg so gut wie nicht den tiefen Ausschnitt ihres Kleides. Sie trug leuchtend rote Schuhe und Ohrringe, Armbänder und Armreifen in derselben Farbe, als wollte sie damit zeigen, daß sie die Farbe des Blutes liebt. »Ich bin hier, um Spicerius einen Abschiedskuß zu geben«, verkündete sie keck. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn ich es mir recht überlege, möchte ich ihm nur alles Gute wünschen. Ich werde ihn stolz küssen, wenn er zurückkommt!« »Du kannst mich sonstwo küssen!« brüllte Oceanus, der hinter Murranus stand. Spicerius trat vor, um ihn zur Rede zu stellen, doch Murranus versperrte ihm den Weg. »Dafür ist bald genug Zeit«, murmelte er. »Ja«, antwortete der Netzmann und klemmte den Dreizack unter den Arm, »für alles wird bald Zeit sein.«
Nervös und schweißüberströmt tauchte der Leiter der Spiele auf und wies auf ein Tablett mit einer Flasche Wein und zwei Trinkgefäßen auf dem schäbigen Tisch an der Wand. Er winkte die Gladiatoren hin und füllte die irdenen Becher. Jeder nahm einen und prostete seinem Gegner zu. »Usque ad mortem«, sagte Murranus. »Usque ad mortem«, erwiderte Spicerius. »Bis zum Tod.« Sie leerten die Becher und kehrten zu ihrem Gefolge zurück, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Der Leiter der Spiele trat an das Tor des Lebens und gab mit den Händen ein Zeichen. Ein schriller Trompetenstoß brachte die Menschenmenge zum Verstummen. Beide Gladiatoren tranken einen weiteren Becher Wein. Spicerius überprüfte das Netz, das an seinem Handgelenk befestigt war, während Murranus seinen Helm aufsetzte. »Jetzt«, brüllte eine Stimme. Sie liefen aus der Düsternis in das strahlende Licht. Die Trompeten erschallten, Becken klirrten, und die Zuschauer brachen in donnernden Applaus aus. Die Hitze umfing sie wie glühendes Feuer in einem Ofen. Die Musiker, die Männer, die den Sand gerecht hatten, und die Putztruppe waren verschwunden. Murranus ging vorsichtig über den Sand, Spicerius hielt Schritt. Vor der kaiserlichen Loge blieben sie stehen, um den Salut zu leisten, den eine Gestalt hoch über ihnen mit träge erhobener Hand erwiderte. Beide Gladiatoren drehten sich um, grüßten einander und gingen dann rasch in entgegengesetzte Richtungen davon. Der Lärm der Menge verebbte zu einem leisen Gemurmel. Die sogenannten Experten gaben ihr Urteil über die Kämpfer ab. Murranus versuchte sich nicht ablenken zu lassen. Er hatte Claudia in der kaiserlichen Loge gesehen; er wünschte, sie wäre nicht dort. Es ging ihm nicht gut, und er bemühte sich, seine Ängste abzuschütteln. Er hatte einen Zauberer
aufgesucht; dieser hatte eine Taube in einem Tümpel geopfert und gebetet, daß alle Götter Murranus beistehen mögen. Murranus wollte nicht sterben. Er mußte victor ludorum werden und die Gladiatorenkrone davontragen. Spicerius ging noch immer von ihm weg und hielt sich von der Wand fern, die sein Netz behindern konnte. Murranus folgte ihm langsam. Jetzt setzte Spicerius zu dem seltsamen Tanz an, den alle Netzmänner aufführten: Er bewegte sich schnell nach rechts und nach links, um zu eruieren, ob die Sicht seines Gegners versperrt oder beeinträchtigt war. Murranus hob Schwert und Schild. Er ignorierte das Netz und den Dreizack, beobachtete jedoch Spicerius’ Gesicht, seine Augen: Wohin würde er sich wenden? Murranus’ bloße Füße stießen im Sand gegen etwas. Er machte einen Schritt zurück und blickte hinunter: Es war ein abgetrennter Arm, den die Recher übersehen hatten, eine grausige Erinnerung an die Tierhetze, die bereits stattgefunden hatte. Spicerius hatte es nicht bemerkt. Murranus ging rasch weiter und tat, als stolpere er. Spicerius sauste herbei und wirbelte das Netz über seinem Kopf. Murranus sprang zurück; das Netz war zu kurz. Murranus schoß vor. Spicerius war schneller und stieß den Dreizack auf Murranus’ Gesicht zu. Der machte einen Satz nach hinten. Die Zuschauer brüllten begeistert. Jetzt tanzte Spicerius wieder; er setzte sich in Szene. Dabei kam er Murranus zu nahe und bezahlte dafür mit einer Wunde am rechten Oberschenkel, eine Warnung. Murranus ignorierte den Applaus und folgte Spicerius, aber irgend etwas stimmte nicht: Die Wunde, die er ihm zugefügt hatte, war nur oberflächlich, doch der Netzmann blinzelte und schüttelte den Kopf. War das eine Falle? Murranus ging vorsichtig weiter und blieb dann stehen. Spicerius hatte sich aus seiner Kauerhaltung aufgerichtet. Er stand da, starrte seinen Gegner verwirrt an und bewegte die Lippen. Der
Dreizack fiel ihm aus der Hand. Er machte einen Schritt nach vorn, verfing sich mit den Füßen im Netz, seine Beine gaben nach, und er sank zu Boden. Einen winzigen Augenblick herrschte Stille, dann verliehen die Zuschauer durch ohrenbetäubendes Gebrüll ihrem Mißfallen Ausdruck. Die Leute waren gekommen, um Blut zu sehen, und nicht, wie jemand auf dem Sand zusammenbrach. Das Tor des Lebens öffnete sich, Merkur lief mit seinem glühenden Eisen durch die Arena und stieß damit Spicerius’ Bein an. Der Netzmann stöhnte auf, versuchte sich zu bewegen und blieb dann reglos liegen. Charon drehte den Körper herum. Spicerius’ Gesicht war blaß, seine Lider flatterten, er hustete und spuckte. Charon drehte ihn wieder auf den Bauch, und Spicerius begann sich zu erbrechen. »Gift!« Das Wort schien sich wie ein Lauffeuer im ganzen Amphitheater zu verbreiten. Murranus ging weg, Buhrufe ertönten. Er schritt auf das Tor des Lebens zu. Der Leiter der Spiele hatte bereits einen der Weinbecher ergriffen und schwenkte ihn herum. Gaius, der Hauptmann des kaiserlichen comitatus, der Kavallerieeskorte, die den Kaiser stets bewachte, biß in einen weichen goldfarbenen Apfel. Er schloß die Augen und genoß den süßen Geschmack. Er saß in der kühlen Kolonnade, von der aus man auf den Garten im Peristyl, dem Innenhof der Villa Pulchra, blickte. Gaius war tief in Gedanken versunken. Er hatte so viel zu überlegen, so viel zu tun und so wenig Zeit dazu. Dennoch öffnete er die Augen. Die Villa war eine angenehme Abwechslung von den muffigen Baracken und den heißen Stallhöfen der Kaiserpaläste. Er war froh, daß er nicht die kaiserliche Paradeuniform zu tragen brauchte und sich statt dessen in einer kühlen, bestickten Tunika und einer kurzen Toga entspannen konnte, wenngleich er zwischen den Falten
dieses Gewandes einen schmalen Ledergürtel mit einer bestickten Scheide trug, in der ein langer Dolch steckte. Gaius war nicht weit von dieser Villa entfernt geboren worden. Er bezeichnete sich als Römer, obwohl manche Leute behaupteten, seine Vorfahren seien Spanier gewesen, was erklärt hätte, warum der gutaussehende junge Mann ein so dunkler Typ war und ein so hitziges Naturell besaß. Er war noch keine Dreißig und gehörte bereits zu jenen Offizieren, denen Konstantin am meisten vertraute. Für seinen Mut in der Schlacht an der Milvischen Brücke und die unbarmherzige Verfolgung des Feindes bei dessen Rückzug war ihm die Tapferkeitskrone verliehen worden. Trotzdem konnte er es kaum fassen, daß er zu den Glücklichen zählte, die zu so einem Treffen hierherbeordert worden waren. Natürlich hatte er nichts dagegen gehabt und gutmütig die neidvollen Glückwünsche der anderen Offiziere entgegengenommen. Er hatte Rom vor ein paar Tagen verlassen, als Eskorte für die Wagen, Packponys und langen Reihen von Sklaven und Dienstboten, die Waren aus dem Palast am Palatin in die kaiserliche Villa gebracht hatten. Es war so erfrischend gewesen, aus der Stadt herauszukommen und über die Via Latina und dann auf den Landstraßen nach Tibur zu Konstantins Sommerresidenz zu reiten. Die Villa Pulchra mit einem dazugehörigen großen Bauernhof stand auf der Kuppe der Albaner Berge mit den dunklen grünen Wäldern, Wiesen und Weiden, deren Fruchtbarkeit vom kühlen, glitzernden Fluß Anio herrührte. Die Villa wurde von einer fensterlosen Mauer mit Wachtürmen und einem breiten, befestigten Tor geschützt. Innerhalb der Mauer erstreckte sich ein wahres Paradies an Gärten, funkelnden Springbrunnen, künstlichen Kanälen und Bächen, mit Girlanden geschmückten Säulengängen und schattigen Kolonnaden. Es gab Alleen mit Zypressen, Olivenbäumen und
Pinien, die, wie der geschwätzige alte Gärtner Gaius erklärt hatte, mit Wein gegossen wurden. Ulmen und Steineichen wuchsen neben Myrte, Buchsbaum, Oleander und Lorbeer. Rund um die Villa erstreckten sich süß duftende Obstplantagen mit Apfel-, Birn-, Pfirsich- und Kirschbäumen und Beete mit Rosen und Lilien, und in Wasserbecken und auf Fischteichen schwammen exotische Lotusblumen. Nachdem die Wagen entladen und die Packponys von ihrer Last befreit worden waren, hatte Gaius die vergangenen zwei Tage mit Spaziergängen durch die Villa zugebracht. Die Eingangshalle, das Atrium, war atemberaubend schön mit dem langgestreckten Wasserbecken unter dem offenen Dach, durch das das Sonnenlicht schien, den prächtig verzierten Säulen und den bunten Wandfresken. Das Triklinium, der Speisesaal, war ebenso luxuriös wie die diversen Gemächer und Ruheräume für die kaiserliche Familie und den Hof. Jeder Luxus wurde geboten, jedes Bedürfnis erfüllt. Die Villa hatte ihre eigenen Küchen, Bäckereien, Weingärten und Weinkeller. Es gab sogar eine Latrine mit zwanzig Marmorsitzen am anderen Ende der Villa, neben der Mauer, die sie von dem Bauernhof trennte, der selbst ein kleines Anwesen war mit Pferde-, Schweine- und Hühnerställen, Taubenschlägen und Gemüsegärten. Gaius hatte ein eigenes Zimmer auf der anderen Seite des Innenhofs, ziemlich schmal, aber mit einem großen Fenster, einer mit Schnitzereien verzierten Truhe, einem Hocker, einem kleinen Tisch und einer bequemen Liege. Es hatte sogar einen Wandteppich, auf dem die Flucht von Äneas aus Troja zu sehen war, während das Mosaik auf dem Fußboden den Kopf eines Delphins darstellte, der aus himmelblauen Wellen herausragte. Gaius hatte wenig zu tun, außer Pläne zu schmieden und dafür zu sorgen, daß seine Leute wachsam waren. Mit den Vorbereitungen auf die Ankunft der edlen Herrschaften hatte er nichts zu schaffen; dafür waren die
Oberhofmeister und Haushofmeister zuständig. Gaius war für die Sicherheit verantwortlich und hatte sich den Grundriß der Villa bis ins kleinste Detail eingeprägt. Das einzige, was ihm Sorgen bereitete, waren die anderen Soldaten. Diese gehörten keinem kaiserlichen Regiment an; sie waren germanische Söldner in ausgebeulten Hosen und Tuniken, deren gerötete Gesichter unter ihren zotteligen Haaren und Schnurrbärten kaum zu sehen waren. Die Germanen standen unter dem Kommando von Burrus, dem persönlichen Leibwächter der Kaiserin Helena, und waren ja soweit recht freundlich. Sie hatten bereits vor zwei Wochen hier Stellung bezogen, um den – wie sie in ihrem gebrochenen Latein sagten – sanctus gladius, das heilige Schwert, zu bewachen, offenbar eine bedeutende christliche Reliquie, die die Kaiserin in der Nähe des Grabes von Paulus gefunden hatte, einem der ersten Anführer der christlichen Kirche. Paulus war vor etwa zweihundertfünfzig Jahren von Kaiser Nero enthauptet worden; die Gläubigen hatten das Schwert, das seinen Kopf abgetrennt hatte, in ihren Besitz gebracht und es an einem geheimen Ort aufbewahrt. Gaius hielt das alles für einen ausgemachten Schwindel, aber die Germanen waren von Ehrfurcht übermannt und nahmen ihren Auftrag sehr ernst. Gaius kratzte eine Schnittwunde an seinem Arm und blickte hinunter auf einen goldenen Karpfen, der geruhsam zwischen dem Schilf hindurchschwamm. Er konnte es kaum fassen, daß man ein Schwert über zweihundert Jahre lang aufbewahrt hatte, aber so war das – alles änderte sich. Gaius kniff verächtlich die Augen zusammen. Diese Christen… Nun, die kamen jetzt wie die Ratten in Scharen aus ihren unterirdischen Kanälen und Höhlen hervorgekrochen. Wenn sie gerade mal ihre Nasen nicht in Dinge steckten, die sie nichts angingen, dann bekriegten sie einander. Gaius tappte ungeduldig mit dem Fuß. Er und seine Offizierskollegen sahen es gar nicht gern,
daß der Glaube dieses Feiglings die Stelle von Mithras in seiner Herrlichkeit einnahm. Hatten sie etwa dafür gekämpft? Ihre Loyalität galt Rom, doch die Augusta bildete sich ein, daß dieses verdammte Schwert wertvoller sei als eine kaiserliche Standarte. Burrus hatte ihm alles über die sogenannte Reliquie erzählt; der Germane war gesprächig, besonders nach ein paar Bechern des schweren Weins aus Lesbos. Er hatte Gaius gestanden, daß er aus Ehrfurcht und Liebe zu seiner Kaiserin seine Aufgabe überaus ernst nahm. »Sie gibt mir so gutes Essen«, hatte Burrus gelallt. »Haselmäuse – ich hätte nie geglaubt, daß die mir schmecken würden, aber in Honig, mit Sesamkörnern bestreut…« Er strich sich genüßlich über den Bauch. Über die Ankunft der Philosophen äußerte er sich jedoch nicht so höflich. »Christen«, hatte er höhnisch gesagt, »die nichts Besseres zu tun haben, als zu schnattern wie die Enten. Das Schwert wurde doch bloß hergebracht, um sie zu beeindrucken.« »Wo wird es denn aufbewahrt?« hatte Gaius gefragt. »Gleich hinter dem Atrium«, hatte ihm Burrus anvertraut, »führt eine Treppe in einen Keller. Anscheinend wollte der Erbauer dieser Villa ein Eishaus schaffen, indem er die Wände verputzte und einen Zementfußboden legte, in dessen Mitte ein großer Kreis mit Erde ausgespart wurde. In diesem Kreis sollte der Eisbottich stehen. Sein Unterfangen scheiterte aber kläglich, und die unterirdische Kammer wurde zu einem Tresorraum umfunktioniert, in dem der Besitzer seine Schätze aufbewahren kann. Und da« – Burrus beugte sich näher und verströmte dabei einen starken Geruch nach Wein und verhaspelte sich beim Sprechen –, »ist der locus sacer, der heilige Ort.« Timothaeus, der Haushofmeister der Villa, ein erklärter Christ, der an einer Kette um den Hals das Fischsymbol trug, hatte zustimmend genickt. Der Mann mit dem fröhlichen roten
Gesicht und dem ansteckenden Lachen gesellte sich gewöhnlich zu ihren kleinen Abendessen. Er nahm es Burrus nicht übel, daß er die Christen verachtete, ermahnte den Söldner jedoch stets, vorsichtig zu sein, denn die Kaiserin Helena würde sich gewiß eines Tages taufen lassen und in die christliche Kirche aufgenommen werden. Der Germane hatte nur mißbilligend gebrummt, Fragen über diesen tollen Paulus gestellt und Gaius dann angeboten, ihm die berühmte Reliquie zu zeigen. Der Haushofmeister hatte sie zur Treppe mit der eisenbeschlagenen Kellertür begleitet. Zu beiden Seiten dieser Tür hockten zwei von Burrus’ Männern, die im tanzenden Licht der Fackeln über ihnen ziemlich furchterregend aussahen. Sie waren betrunken und erhoben sich schwankend. »Geht es deinem Bein schon besser?« fragte einer von ihnen Timothaeus. »O ja«, antwortete der Haushofmeister hastig. »Also, Burrus, deinen Schlüssel…« Offenbar gab es an der Tür zwei Schlösser, die mit zwei verschiedenen Schlüsseln zu öffnen waren. Burrus hatte den einen, Timothaeus den anderen. Der Söldner steckte den seinen in das Schloß und drehte ihn um; der Haushofmeister tat es ihm gleich und stieß dann die Tür zu dem heiligen Ort auf. Im Keller war es dunkel, es roch nach Weihrauch und Bienenwachs. Gaius trat über die Schwelle und blickte sich um. Der Raum war lang und wirkte wie eine Höhle. Die Kerzen in den durchsichtigen Alabastertöpfen, die in Nischen entlang den Wänden standen, erzeugten unruhige Schatten. Die hohe Decke war von dicken Balken durchzogen, die den darüberliegenden Fußboden stützten. In der Mitte des Raumes befand sich ein riesiger Kreis aus mit Goldstaub bestreutem Sand, der von glänzend polierten, im Hundszahnornament gelegten Ziegelsteinen eingefaßt war. Rund um den Kreis
standen mit dem Chi und dem Rho des christlichen Glaubens geschmückte Weihrauchgefäße. Von der knisternden Holzkohle stiegen duftende Weihrauchwolken auf. Das Objekt dieser ganzen Verehrung hing an einer dicken Kette von einem Sparren: das heilige Schwert des Legionärs, der den Apostel Paulus hingerichtet hatte. Rund um den ziegelgesäumten Kreis standen Gebetshocker, auf die sich die Gläubigen setzen konnten, wenn sie kamen, um die heilige Reliquie zu verehren. »Wo ist Burrus?« fragte Gaius. Timothaeus war ihm hineingefolgt, doch der Germane war draußen geblieben und plauderte mit seinen Gefährten. »Er hat Angst«, flüsterte der Haushofmeister. »Dies ist ein heiliger Ort. Burrus fürchtet sich vor den christlichen Engeln.« Gaius brummelte etwas und trat an den Rand des Kreises. Das Schwert war eine alte Legionärswaffe, die mittlerweile als Standardausrüstung durch das lange, gekrümmte Schwert ersetzt worden war, das Gaius während seiner Karriere beim Heer benutzt hatte. Er studierte die Reliquie mit großem Interesse. Der Griff war aus reinem Elfenbein und am Knauf mit einem glitzernden Rubin geschmückt, eine Hieb- und Stichwaffe mit einer zweischneidigen, in der Mitte ein wenig erhabenen Klinge. Sie war auf Hochglanz poliert worden und schimmerte wie ein Spiegel. Gaius konnte verstehen, warum dieser Raum dafür auserkoren worden war. Man konnte um das Schwert herumgehen und es von allen Seiten betrachten, doch es hing mehr als eine Armlänge von der Stelle entfernt, an der er stand, und in dem glatten Sand würde man jeden Fußabdruck sehen. Am unteren Ende der Kette befand sich ein scharfer Haken, an den man den Ring am Schwertgriff gehängt hatte. Gaius inspizierte das Schwert eigentlich nur aus Neugier. Er konnte nicht wirklich glauben, daß es so alt war, wie Timothaeus behauptete.
»Der Griff ist wahrscheinlich ersetzt worden«, versicherte ihm der Haushofmeister hastig, »aber diese Klinge hat ganz ohne Zweifel unseren Paulus zum glorreichen Märtyrer gemacht…« Gaius starrte auf den Karpfen im Schilf. Er hatte sehr bald das Interesse an dem Schwert verloren und konnte nicht verstehen, wieso sich der Kaiser zunehmend für solche Dinge interessierte. Er hatte ihn darüber scherzen gehört, daß seine Mutter in ihrer Begeisterung für Reliquien das ganze Reich durchforstete. Die Gäste, Philosophen und Redner aus Capua, waren sehr an dem Schwert interessiert. Gaius hatte »diese abscheulichen Kreaturen«, wie er sie insgeheim nannte, seit sie vorgestern angekommen waren, genau beobachtet und gegen jeden einzelnen eine persönliche Abneigung entwickelt; sie hatten keine Tugenden, die man ihnen zugute halten konnte, und ihr Aussehen und Benehmen bestätigte alles, was er über sie gehört hatte. Ein wahres Schlangennest! Natürlich hatten sie sofort nach ihrer Ankunft das Schwert besichtigt. Laut Timothaeus hatte es sie sichtlich in den Fingern gejuckt, wenngleich der Haushofmeister nicht wußte, ob sie von der Heiligkeit der Reliquie oder von dem funkelnden Rubin im Elfenbeinknauf fasziniert gewesen waren. Doch als die Redner über die Lehren des Apostel Paulus zu streiten begonnen hatten, war es mit der Ehrfurcht bald vorbei gewesen. Das hatte Timothaeus wirklich schockiert. Wenn sie nicht achtgaben, würde ihnen der Herr eine Seuche schicken, um sie gegen den gemeinsamen Feind wieder zu vereinen, dachte er. Durch den Innenhof hallten Stimmen. Gaius schloß die Augen. Diese Redner schrien wie Esel! Justin, der Anführer der Arianischen Delegation, kam in den Garten. Er wedelte mit einem knochigen Finger, während er seinen beiden Gefährten einen Vortrag über irgendein obskures theologisches Thema hielt.
»Wir müssen darüber entscheiden«, erklärte er, »ob Jesus Christus von demselben göttlichen Wesen ist wie Gottvater oder mit Gottvater nur verglichen werden kann.« Seine beiden Begleiter nickten und machten gescheite Gesichter. Gaius starrte sie finster an, aber er war natürlich nur ein Soldat; in ihren Augen existierte er gar nicht. Justin war sehr dick, er hatte hervortretende Augen und einen Mund wie ein Fisch. Gaius blickte auf den Karpfen. Nein, dachte er, das ist eine Beleidigung für den Fisch. Justin war ein aufgeblasener Frosch. Er bezeichnete sich gern als asketisch und bestand darauf, eine schäbige Tunika zu tragen, die nach Stall stank, und Sandalen, die an einem Bettler abgerissen gewirkt hätten. Seine beiden Begleiter, Dionysius und Malachus, waren einfache junge Männer, beide mit schütteren Haaren. Mit ihren dünnen Bärten und Schnurrbärten versuchten sie wie Griechen auszusehen; sie kniffen konzentriert die Augen zusammen und hatten die Lippen leicht geöffnet, als würden sie jeden Augenblick eine tiefe Wahrheit verkünden, die dem Rest der Menschheit verschlossen war. Sie gingen weiter, und Gaius legte sich in den Schatten eines Lorbeerstrauchs. Er fragte sich, was wohl geschehen würde. Die Erinnerungen kamen und gingen. Als Jungen hatten er und Spicerius des öfteren einen reichen alten Mann mit einem Garten wie diesem besucht. Er fragte sich träge, was sein ehemaliger Kamerad zu alldem sagen würde. Alsbald war er eingeschlafen. Nach einer Weile – die Schatten wurden länger – wurde er von Beckenschlägen, lauten Rufen und Schreien geweckt. Zuerst glaubte Gaius im Halbschlaf, die Villa werde angegriffen. Burrus kam in den Garten gelaufen. Er warf die Hände in die Luft, fiel dann auf die Knie und begann wie ein Hund zu heulen.
»Bei allem, was recht ist«, murmelte Gaius. Er sprang auf und befahl dem Germanen, still zu sein. »Das Schwert«, jammerte Burrus, »das heilige Schwert ist weg! Und Timothaeus ist tot!«
KAPITEL 2 »Die kurze Lebenszeit verbietet uns, zu weit gespannte Hoffnungen zu hegen.« Horaz, Oden, 1,4
»Die Eselinnen«, eine Taverne am Rand eines eher zweifelhaften Viertels von Rom nahe dem Flavischen Tor, war hell erleuchtet. Die Taverne nahm das Erdgeschoß einer insula, eines Mietshauses, in der Nähe des verfallenen Tempels der Krone der Venus ein. An die schöne Eingangstür des geräumigen Lokals war ein Schild genagelt, auf dem stand, was es zu essen gab, welche Weine und Biere serviert wurden, und ebenso eine scharfe Warnung an Spieler, Raufbolde, Zauberer und herumziehende Kesselflicker, daß sie – unter Androhung einer gebrochenen Nase – hier keine Geschäfte machen durften. Über der Tür saß eine geschnitzte Statue der Minerva, die sich Polybius aus dem nahen Tempel »geborgt« hatte, während auf der Spitze jedes Torpfostens ein grinsender Hermes hockte. Diese Hermesstatuen hatte sich Oceanus als langfristige Leihgabe aus einem Badehaus geholt, das von der Polizei geschlossen worden war, weil es als Bordell gedient hatte, ohne daß der Polizei die üblichen Gebühren gezahlt wurden. Das ehemalige Atrium hinter der großen Falttür hatte Polybius in einen geräumigen, hohen Speisesaal umgebaut. An einem Ende befand sich die Theke und am anderen das »Gartentor«, wie Polybius es hochtrabend nannte. Der Raum war von Öllampen, Kerzen mit Binsendocht und Laternen erhellt, die an Wand- und Deckenhaken hingen.
An jenem speziellen Abend nach dem Ende der Spiele hatte man die Tische zusammengeschoben und provisorische Liegen und Hocker aufgestellt. Den Ehrenplatz nahm Murranus ein, der mit ernstem Gesicht auf Polybius’ einziger richtiger Liege lag. Zu seiner Rechten hatte sich Claudia auf mit Kissen belegten Hockern ausgestreckt. Polybius, die schütteren Haare mit Fett rund um den kahl werdenden Schädel gelegt wie den Kranz eines Athleten, teilte sich einen breiten, thronartigen Stuhl mit seiner molligen, hübschen Frau Poppaoe, die er seine »kleine reife Pflaume« nannte. Simon der Stoiker, der ihnen gegenübersaß, starrte lüstern auf Poppaoes volle Brüste, die sich gegen ihr tief ausgeschnittenes, blaugesäumtes Kleid preßten; er konnte dieser Bezeichnung nur zustimmen. Alle Stammgäste waren eingeladen worden, selbst Saturninus, der verschlafene Kommandant der vigiles dieses Viertels, die als Wachmänner, Feuerwehr, Polizei und, wie Polybius zähneknirschend sagte, als inoffizielle Steuereintreiber fungierten. Roter und weißer Wein wurde gereicht. Polybius behauptete, es sei Falerner Wein aus Campania; Claudia vermutete, daß die Krüge vom Markt stammten und der Wein von den Rebstöcken, die Poppaoe in dem großen Garten hinter den »Eselinnen« zog. Polybius hatte jedenfalls jeden Becher genossen. Jetzt rappelte er sich schwankend auf. Um Murranus ein Lächeln zu entlocken, deklamierte er brüllend die unbeholfenen Reime: »Der Mensch ist nur ein Haufen Gebeine, Heute hier und morgen fort. Bald sind wir tot und ganz alleine, Drum trinkt und genießt diesen fröhlichen Ort.« Er warf einen scharfen Blick auf Murranus’ ernste Miene, nahm dann zwei kleine Becken und schlug sie zusammen, damit Ruhe herrsche. »Ich erzähle euch jetzt eine Geschichte«, erklärte er, und bevor irgend jemand dagegen protestieren
konnte, war er in die Mitte des Kreises aus Eßtischen getreten und stürzte sich, ohne Poppaoes warnende Blicke zu beachten, in seine Erzählung. »Es war einmal ein armer Zimmermann, der hatte eine Frau, die den Sex liebte. Bei Tag oder bei Nacht, bei gutem oder schlechtem Wetter, sie hatte immer Lust darauf.« Polybius hob die Hand, um das Johlen, das diese Worte hervorgerufen hatte, zum Verstummen zu bringen. »Sie hatte einen Liebhaber, den sie, wenn ihr Ehemann weg war, königlich bediente. Eines Tages vergnügten sich die beiden gerade miteinander, als unerwartet ihr Mann nach Hause kam. Ihr Galan hatte keine andere Wahl, als sich in einem großen, leeren, aber sehr schmutzigen Weinfaß zu verstecken, das in einer Ecke des Schlafzimmers stand. Als der Ehemann eintrat, war von ihm nichts mehr zu sehen. Die Frau begann auf der Stelle, das Bett abzuziehen. ›Was tust du denn hier?‹ schrie sie. ›Du nichtsnutziger Faulpelz! Ich rackere mich ab, und du kommst ohne Geld nach Hause.‹ ›Es gibt keine Arbeit‹, antwortete ihr Mann. Dann deutete er auf die Ecke. ›Aber ich habe gerade dieses Weinfaß für sieben Denar verkauft, also kannst du mir helfen, es sauberzumachen und hinauszutragen.‹ ›Du Idiot‹, versetzte seine schlagfertige Frau. ›Sieben Denar? Ich habe es gerade für zwölf verkauft. Der Käufer ist drinnen und prüft, ob es in Ordnung ist.‹ Auf dieses Stichwort steckte ihr Liebhaber seinen Kopf heraus. ›Ich nehme es!‹ rief er. ›Aber nur unter einer Bedingung. Du‹ – und er zeigte auf den Ehemann –, ›kletterst herein und machst es sauber.‹ Also kletterte der Mann hinein und begann das Weinfaß zu reinigen, während der Liebhaber und die Dame des Hauses sich wieder miteinander vergnügten. Die Schreie seiner Frau spornten den Armen noch an, denn er hielt sie für Anweisungen zum gründlichen Reinigen…«
Polybius’ Zuhörer kugelten sich vor Lachen. »Ist das eine wahre Geschichte?« rief Festus der Hurenbock. »Ja«, erwiderte Polybius. »Das heißt«, brüllte Petronius der Zuhälter, »daß du entweder der Mann auf dem Bett oder der Ehemann im Weinfaß warst!« Petronius duckte sich, weil Poppaoe ein Stück Fleisch nach ihm warf. Polybius torkelte zurück zu seinem Sitzplatz, und die Gäste begannen wieder mit ihren Sitznachbarn zu plaudern und sich an den frischen Weinflaschen gütlich zu tun, die Polybius herumgehen ließ, gefolgt von gebratener Leber mit Koriander, Schweinefleisch in pikanter Soße und Schüsseln mit pürierten Kräutern mit Walnüssen. »Es wird niemals geschehen«, brüllte Polybius Murranus zu – ein letzter Versuch, den Gladiator aus seiner düsteren Stimmung herauszureißen. »Es ist schon geschehen«, sagte Murranus leise zu Claudia. Sie nippte an ihrem gewässerten Wein, streckte sich aus und legte ihre kleine Hand auf seine Wange. »Erzähle es mir noch einmal.« »Wir waren in der Arena, ich habe gut gekämpft, das hast du gesehen.« »Nein, habe ich nicht«, antwortete Claudia. »Ich habe die Augen zugemacht.« »Spicerius begann zu schwanken und brach dann zusammen. Ich dachte, er sei tot, bis er anfing, sich zu übergeben. Bei den Zitzen einer Sau, ich habe noch nie jemanden so kotzen gesehen. Sie trugen ihn durch das Tor des Lebens zurück, und da hatte er das meiste, was er zu sich genommen hatte, bereits wieder von sich gegeben. Den Göttern sei Dank für den alten Soldatendoktor; er gab Spicerius Salzwasser zu trinken, und er übergab sich erneut. Er schlug Spicerius immer wieder ins Gesicht und ermahnte ihn, ja nicht einzuschlafen. Ich habe
noch nie erlebt, daß jemandem soviel Wasser eingeflößt wurde.« »Gift?« fragte Claudia. »Vielleicht«, antwortete Murranus. »Der Arzt hat das Erbrochene untersucht und gesagt, es stinke wie eine Kloake. Möglicherweise war es Belladonna, Tollkirsche; vielleicht wollte man ihn aber auch nur betäuben. Der Doktor meinte, Spicerius habe Glück gehabt. Er hat überlebt, weil er die Konstitution eines Ochsen hat. Aber jetzt legen sie es mir zur Last. Man hat am Boden von Spicerius’ Weinbecher Reste eines Pulvers gefunden – in meinem jedoch nicht und ebensowenig in dem Wein, der noch im Krug war.« Murranus deutete mit dem Daumen auf ihren Onkel. »Und daß Polybius ein Anhänger von mir ist und derjenige war, der den Wein hinunterbrachte, macht die Sache natürlich nicht besser. Kurz gesagt, ich werde beschuldigt, Spicerius Gift in den Becher getan zu haben. Man könnte mich also des versuchten Mordes anklagen.« »Aber das ist doch nicht wahr«, erwiderte Claudia hitzig. »Der Becher stand auf dem Tisch, und alle möglichen Leute liefen dort herum, das hat mir Polybius erzählt. Egal. Was geschieht jetzt?« »Rufinus soll nächste Woche zu Ehren des Geburtstags unseres Kaisers Spiele veranstalten. Ich werde wieder kämpfen. Diesmal wird es keinen Wein geben, und es wird ein Kampf auf Leben und Tod sein!« »Warum hörst du nicht auf damit?« fragte Claudia flehentlich. »Eines Tages werde ich das tun, wenn ich victor ludorum geworden bin und die Krone bekommen habe.« »Aber nach dem Kampf gegen Spicerius findet doch noch einer statt?«
»O ja, einer noch. Spicerius – oder ich – gegen Meleager, den größten Kämpfer einer Million Städte.« »Ist er das?« »Nein, so nennt er sich nur selber; er ist ein gerissener Halunke. Der wird sich kaputtlachen, wenn er die Geschichte hört.« »Eigentlich ist ja nichts passiert.« Claudia berührte Murranus’ Nasenspitze. »Sie haben keinen Beweis dafür, daß du den Wein vergiftet hast, und ihr werdet beide wieder kämpfen. Übrigens, wie geht es Spicerius?« »Heute abend schon viel besser. Als ich ihn besuchte, war er ziemlich still, sagte aber, er mache mich nicht dafür verantwortlich. Er nahm meine Hand und behauptete, er sei noch immer der bessere von uns beiden.« »Er könnte es ja auch selbst genommen haben«, meinte Claudia. »Er wäre nicht der erste Gladiator, der ein Zauberpulver schluckt. Aber komm jetzt, lächle, mein Onkel legt sich wirklich ins Zeug.« »Und was tust du?« Murranus beugte sich näher. Er ignorierte Januarias eifersüchtiges Zischen und wischte mit seiner Serviette einen Fettfleck von Claudias Mundwinkel. Sie lächelte strahlend und wünschte sich insgeheim, dieser gutaussehende grünäugige, rothaarige Gladiator möge endlich genug haben, aufhören und für immer bei ihr bleiben. »Woran denkst du, meine Kleine?« flüsterte Murranus. »Suchst du noch immer nach dem Mann, auf dessen Handgelenk dieser purpurne Kelch eintätowiert ist? Hast du nicht gesagt, er sei vielleicht Soldat in einem illyrischen Regiment und daß Rufinus der Bankier etwas über ihn wüßte? Arbeitest du deshalb im Palast?« »Ich flitze herum«, sagte Claudia lächelnd. »Ich bin das Botenmädchen der Kaiserin.«
»Das glaube ich dir.« Murranus senkte die Stimme, so daß der Lärm der anderen über sie hinwegschwappte. »Bist du eine Spionin, Claudia? Gehörst du zu den agentes?« »Aber, Murranus.« Claudia klimperte mit den Wimpern. »Bist du eine Spionin?« Sie schwieg. Die Tür ging auf, und ein Hausierer mit einem Bauchladen, auf dem er Schmuckgegenstände, ägyptische Skarabäen, Isis-Medaillons und Päckchen mit Schwefelhölzern feilbot, kam herein. Er streckte seine klauenartige Hand aus, in der viele Münzen lagen, und brüllte, er wolle etwas trinken, egal, was. Sein Blick traf den von Claudia. »Und ich möchte etwas Fisch«, fügte er dreist hinzu. »Ich bin die ganze Via Appia auf und ab gelaufen und habe meinen Stand neben den Grabsteinen an der dritten Meile aufgebaut.« Er lächelte und entblößte dabei seine abgebrochenen Zähne. »Dort, wo die Christen sagen, daß Sebastian mit Pfeilen totgeschossen wurde. Morgen werde ich wieder dort sein, etwa um die sechste Stunde, also brauche ich etwas zu essen und viel Schlaf.« Er brüllte immer weiter, bis ihm ein Dienstmädchen einen kleinen Krug Wein und in Würfel geschnittenen Fisch brachte. Erneut sah der Hausierer Claudia rasch an und setzte sich dann in eine Ecke. Claudia wandte den Blick ab. Sylvester hatte ihr eine Nachricht geschickt. Sie mußte am folgenden Morgen in den Katakomben sein, zwischen den Grabsteinen des Friedhofs nahe dem dritten Meilenstein an der Via Appia… Claudia erwachte lange vor Tagesanbruch. In ihrer kleinen Kammer über der Taverne schlief sie stets gut. Poppaoe hatte ihr Bestes getan, um den Raum komfortabel und ansprechend zu gestalten. Es gab eine Tapete mit springenden Steinböcken, einen bronzenen Tisch auf drei Beinen, einen Hocker aus Akazienholz und eine mit Schnitzereien verzierte ägyptische Truhe, in der sie ihre Habseligkeiten verstauen konnte. Claudia
stand auf und lief zu der Quelle im Garten in der Mitte der insula. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und es herrschte eine kühle Brise, daher war der Garten noch frisch, bevor die Feuchtigkeit und die Hitze einsetzten. Sie wusch sich sorgfältig und kehrte zurück in ihr Zimmer, um saubere Unterwäsche, eine grüne Tunika mit besticktem Saum und einen dunkelbraunen Umhang anzulegen, unter dem sie in dem Gürtel um ihre Taille einen Dolch verbarg. Sie nahm ihren Gehstock und den breitkrempigen Hut, ging hinunter in die Küche und ließ sich von einem verschlafenen Küchenjungen in der kleinen Vorratskammer neben der Küche Reste vom Vortag servieren, trank ein wenig gewässerten Wein und sagte dem Jungen, er solle sich wieder hinlegen. Dann öffnete sie einen der Fensterläden, kletterte hinauf und ließ sich auf die Straße hinunter. Sie blickte sich nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. Kein Bettler, der vorgab zu dösen, kein Betrunkener, der an die Wand urinierte. Die Straße lag verlassen da. Eilig lief sie in Richtung Durchfahrtsstraße. Die Wasserträger und die Straßenkehrer waren bereits bei der Arbeit; Kinder wurden zum Schulzimmer des Viertels gezerrt, wo ihnen ein Wanderlehrer die Grundlagen der Mathematik und das Alphabet beibringen würde. Männer auf dem Weg ins Bad schritten rasch aus oder wurden in ihren Sänften getragen; ihre Sklaven hasteten mit Körben mit Striegeln, Kämmen, Handtüchern, Parfümflakons und Ölflaschen hinterher. Straßenhändler bereiteten sich auf ihr Tagwerk vor. Die Barbiere hatten schon ihre Hocker aufgestellt, heißes Wasser und Bürsten waren bereit. Köche entzündeten ihre mobilen Herde und hofften, der Duft der Pfannen voller würziger Würstchen würde den Appetit der Passanten anregen. In den Werkstätten begannen die Handwerker zu hämmern. Der Alltagslärm setzte ein.
Gemäß Caesars Gesetz mußten jetzt alle Wagen von der Straße verschwinden, mit Ausnahme jener, die Holz und Material für den Hausbau brachten. Die Straßen füllten sich mit Menschen. Hier und da machten sich Gaukler mit ihren seltsamen Tricks, Geschichten und schrillen Darbietungen für ihre Auftritte fertig; ein Mann mit einer dressierten Viper hatte bereits eine kleine Gruppe von Zuschauern angelockt. Fenster und Fensterläden wurden geöffnet, Nachttöpfe ausgeleert, Blumenkörbe aufgehängt und Karren mit Abfällen aus den Türen hinausgeschoben, damit sie zum Misthaufen gebracht wurden. Eine Gruppe von Soldaten schritt mit klirrenden Waffen vorbei, Hilfstruppen mit rotgeränderten Augen, blauen Schilden und Lederhelmen, die nichts sehnlicher wünschten, als nach dem langen Nachtdienst in ihre Unterkünfte zurückzukehren. Claudia dachte an Murranus, der im Gästezimmer mit Blick auf den Garten fest schlief, und war zutiefst bekümmert über das Schicksal, das ihren Freund getroffen hatte. Claudia hatte versucht, sich den dunklen, makabren Tunnel vorzustellen, in dem Murranus und Spicerius auf ihren Auftritt in der Arena gewartet hatten; dabei war sie eingeschlafen. Sie hatte den Gladiator eingehend befragt und war dann mit Polybius und Oceanus scharf ins Gericht gegangen. Sie glaubte, daß irgend jemand versucht hatte, Murranus’ Gegner zu schwächen, in der Hoffnung, Murranus würde ihn töten, bevor die Wirkung des Giftes sichtbar wurde. Sie wußte sehr viel über Gladiatoren. Spicerius, ein echter Profi, hatte wahrscheinlich seit der cena libera am Vorabend nichts gegessen. Am Morgen des Kampfes hatte er gewiß seinen Darm entleert und dann nur noch getrocknete Hülsenfrüchte gekaut. Er war sicher aufgeregt und angespannt gewesen; der Wein und das Gift mußten seinem Magen so zugesetzt haben, daß er alles erbrach, bevor echter Schaden entstand. Wer war
also dafür verantwortlich? Am härtesten hatte sie ihren Onkel ins Gebet genommen. Polybius konnte listig sein wie eine Schlange und hatte überall seine Finger drinnen, aber er hatte seine Unschuld beteuert. War es doch Murranus gewesen? Claudia verscheuchte einen Köter, der sie ankläffte, und schüttelte den Kopf. Murranus war ein Kämpfer, aber er war ehrenhaft, nicht verdorben oder korrupt; ein Mann, der in die Arena ging, weil er nichts anderes konnte, außer davon zu träumen, eine Taverne wie »Die Eselinnen« zu besitzen. Claudia erreichte die Hauptstraße, die zu den Stadttoren führte. Sie hatte sich am Straßenrand gehalten und war den Leuten ausgewichen, die herein oder hinaus wollten. Am Stadttor pfiff ihr eine der Wachen nach und wollte mehr von ihren Beinen sehen. Sie antwortete mit einer obszönen Geste. Das Lachen des Wachmanns im Ohr, lief sie hastig durch das Tor auf die Via Appia, auf der ein reges Treiben herrschte: Kaufleute, Händler, Hausierer, umherziehende Musikanten waren unterwegs. Nur einmal blieb sie stehen, um einer Schauspieltruppe zuzusehen, die mit grotesken Masken vor den Gesichtern und grellen Gewändern spielten und sangen, während sie auf die Stadt zugingen. Zwei kleine Jungen hatten Satyrmasken auf den Hinterkopf geschoben und versuchten, den Leuten ein paar Münzen für ihre Bettelkörbchen zu entlocken. Claudia marschierte zielstrebig weiter. Sie dachte daran, daß auch sie einmal bei einer solchen Truppe von Wanderschauspielern gewesen war, die ganz Italien bereist hatte, von der Südspitze der Halbinsel bis zu den kalten Bergen im Norden. Es hatte ihr gefallen, aber der Leiter hatte die Gewinne versoffen, und so war sie nach Hause zurückgekehrt. Doch sie hatte dabei eine Menge gelernt. Sie konnte lesen und schreiben, die Umgangssprache der verschiedenen Städte sprechen und hatte ein Gespür dafür, wenn jemand etwas im Schilde führte. Sie war eine gute Schauspielerin und
Pantomimin und kannte jede Zeile der Gedichte und Stücke von Ovid, Terenz und Seneca. Ab und zu blieb Claudia stehen, als wolle sie den Riemen an ihrer Sandale nachziehen oder den Hut abnehmen, um sich vom Wind den Schweiß auf der Stirn trocknen zu lassen. Dabei blickte sie sich um, kontrollierte, ob ihr jemand folgte. Einmal ging sie ein Stück zurück, und als sie an eine Reihe von Gräbern gelangte, die sich zu beiden Seiten der Straße erstreckten, spazierte sie zwischen ihnen hindurch, als wolle sie ein Grabmal inspizieren oder eine Inschrift lesen, bis sie sicher sein konnte, daß ihr niemand nachschlich. Dann erreichte sie den dritten Meilenstein und den Pfad zum Friedhof des heiligen Sebastian, wie ihn Sylvester jetzt nannte. Claudia hatte keine Ahnung von christlichen Heiligen; sie wußte nur, daß die Christen während der Verfolgung hier, im porösen Gestein unter dem Stadtrand von Rom, unterirdische Gänge und Tunnel gegraben und ausgebaut hatten. Sie fand den Sarkophag, der den Zugang verbarg, trat ein und suchte an der üblichen Stelle nach der Öllampe und einem Päckchen Schwefelhölzern. Nach etlichen Versuchen, die Schwefelhölzer zu entzünden, leuchtete die Lampe endlich. Sie stellte sie in die Laterne, nahm ihren Hut ab, legte ihn auf die oberste Stufe und stieg dann vorsichtig hinunter in die stille, muffige Finsternis. Jedesmal wenn sie die Katakomben besuchte, wurde ihr klar, wie sehr sie diese unterirdischen Gänge haßte. Sie hatte keine Angst vor Dämonen oder Geistern; es war nur die bedrückende Stille, die Wände, die sie umschlossen. Sie erreichte den untersten Gang. Hier war der Tunnel etwa zwei Meter breit, die Decke hoch über ihrem Kopf, der feste Boden aus gestampfter Erde. Vorsichtig ging sie weiter und hielt die Lampe vor sich; ihr Gehstock klopfte auf den Boden und erzeugte ein trommelartiges Echo. Sie bog um eine Ecke und
betrat die christliche Begräbnisstätte. Hier lagen auf Simsen in der Wand hinter einer dünnen Verputzschicht die toten Christen. Die meisten waren eines natürlichen Todes gestorben; manche waren der Verfolgung zum Opfer gefallen, erdrosselt oder enthauptet worden. In einigen Fällen befanden sich hier nur noch die jämmerlichen Überreste von Menschen, die man im Amphitheater den wilden Tieren vorgeworfen hatte. Die Wände waren mit grob eingeritzten Inschriften und christlichen Zeichnungen bedeckt, mit dem üblichen Chi und Rho, einem Kreuz oder Gebeten an Petrus oder Paulus. Claudia kannte diese Zeichen auswendig; sie führten sie zum richtigen Tunnel, zum richtigen Gang. Zuletzt kam sie an das Grab der Philomena, »Jungfrau und Märtyrerin«, wie die Inschrift besagte, und setzte sich auf eine Marmorbank, die man vom Friedhof über den Katakomben gestohlen hatte. Dies war eine Kreuzung, an der drei Tunnel zusammenliefen, eine sichere Stelle, an der Claudia und Sylvester hören würden, wenn jemand nahte, und von wo aus sie auf einem anderen Weg hinauslaufen konnten. Claudia stellte ihren Gehstock vorsichtig an die Marmorbank und wartete. Sie kontrollierte die Lampe; es war genug Öl darin, und der Docht war stark. Sie lehnte sich an den kalten Stein, tupfte sich den Schweiß vom Gesicht und fragte sich, was Sylvester wohl von ihr wollte. Er hatte ihr von irgendeinem Treffen draußen in der Villa Pulchra erzählt, zu dem sie gehen mußte; die Kaiserin Helena würde sie brauchen. Claudia machte sich mehr Sorgen um Murranus. Sie überlegte, ob Rufinus der Bankier vielleicht etwas über den Anschlag auf Spicerius wußte. Schließlich hörte sie ein Geräusch, ein Klappern, wie immer, wenn Sylvester kam. Sie legte die hohle Hand über den Mund, stieß einen scharfen Pfiff aus und wartete dann auf die drei Pfiffe, die als Antwort ertönten. Sie seufzte erleichtert auf:
Sylvester war da. Ein Schatten näherte sich durch einen der Tunnel, und mit einem Lächeln auf dem mageren, müden Gesicht tauchte der silberhaarige Priester aus der Dunkelheit auf. Sie tauschten den Friedenskuß. Sylvester setzte sich neben Claudia, schlug eine Serviette auf und teilte mit ihr das Brot, Käse, Feigen und eine kleine Flasche Wein, die er mitgebracht hatte. »Warum treffen wir uns eigentlich hier?« fragte Claudia zwischen zwei Happen. »Die Gefahr ist doch vorüber.« »Die Gefahr ist niemals vorüber, Claudia, es gibt immer Gefahr. Wir Christen werden toleriert, nicht anerkannt; wir stehen erst am Beginn unseres Weges.« Sylvester nahm ein Stück Käse und zerbrach es mit den Händen. »Auch für dich ist es gefährlich, Claudia. Du arbeitest als Spionin für den Bischof von Rom, aber auch für die Kaiserin.« »Ich habe keinen von beiden je betrogen und werde es auch niemals tun.« »Vielleicht tust du es eines Tages doch. Manchmal muß man wählen, Entscheidungen treffen. Dein Vater würde das, was du tust, gutheißen.« »Mein Vater ist tot.« »Er war einer von uns.« »Ob er einer von euch war oder nicht, er hätte den Mann, der seine Tochter vergewaltigt und seinen Sohn ermordet hat, zur Strecke gebracht und getötet.« Claudia drehte sich auf der Marmorbank um und lauschte noch immer mit halbem Ohr, ob sie in den Tunnels irgendwelche Geräusche hörte. »Sylvester, ich komme nicht zu dir, weil ich dich oder deinen Glauben liebe. Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich vor einiger Zeit um Hilfe gebeten, und du hast mir damals versprochen, diesen Mann zu finden.« Claudia versuchte, nicht allzu flehentlich zu klingen. »Den Mörder, auf dessen Handgelenk ein purpurner Kelch eintätowiert ist.«
»Claudia, wir helfen dir ja. Dein Angreifer hatte einen purpurnen Kelch eintätowiert, das Zeichen der Jünger des Dionysos, die den Saft der Trauben trinken und die Dämonen Bacchus und Pan verehren. Es ist eine mächtige Sekte; ihre Mitglieder sind Beamte, Priester und Soldaten.« »Magister, bei allem Respekt, es wäre mir auch egal, wenn der Mann den Arsch des Kaisers verehrte.« Sylvester stieß ein trockenes Lachen aus und tätschelte ihre Hand. »Ich habe Neuigkeiten für dich, Claudia, wenngleich vielleicht nicht sehr gute. Rufinus der Bankier hat gemeint, ein solcher Mann diene im illyrischen Regiment. Nun, ich kann dir verraten, daß das halbe Regiment ein solches Zeichen trägt.« Er drückte einen Finger an die Lippen. »Ich habe für dich sorgfältige Nachforschungen angestellt. Du warst nicht die einzige, die angegriffen und vergewaltigt wurde; du hattest Glück, daß du mit dem Leben davongekommen bist.« »Mein Bruder nicht.« »Still jetzt. Der Mann, der dich angegriffen hat, wollte vielleicht, daß du seine Tätowierung siehst, um dich abzulenken. Vielleicht war es eine Tarnung für andere Verbrechen, ein Zeichen, das danach abgewaschen werden konnte. Nein, nein, Claudia, du weißt, wie das mit Tätowierungen ist. Ich könnte mir ein Zeichen eintätowieren lassen, das nicht mehr wegzubekommen ist. Aber ich kann auch einen Künstler bitten, eine Tätowierung nachzumachen, die ich so leicht entfernen kann wie du ein Tuch von deinem Hals.« Claudia stöhnte leise auf. Sie war von Dunkelheit umgeben; nur die Lampe flackerte. Daran hatte sie nie gedacht; sie war so überzeugt gewesen, eines Tages einen Mann mit einer Tätowierung zu finden, die er nicht verbergen konnte. Sylvesters Informationen waren stets fundiert, doch sie erinnerte sich genau an den Mann, der sie überfallen hatte. Sie
würde ihn nie vergessen: seinen Geruch, seine Berührung, seine Stimme. Sie holte tief Luft und versuchte ein Schaudern zu unterdrücken. »Es tut mir leid, Claudia, aber du mußt diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Es gibt noch andere Wege, ihn zu suchen. Schließe die Augen. Ich weiß, es ist schwer, aber an jenem Abend am Ufer des Tiber hat dein Bruder Muscheln gesammelt, nicht wahr?« Claudia schloß die Augen und nickte. »Und dann kam dieser Mann«, fuhr Sylvester fort. »Er brachte Felix um, weil er keine Zeugen wollte und niemanden, der dich beschützte. Stell ihn dir vor, wie er kämpft, seine Armmuskeln, seine Rückenmuskeln, seine Bauchmuskeln.« Claudia tat es, und ihr wurde übel. Sie war wieder am Ufer des Flusses, die Sonne ging unter, und der Mann beugte sich über sie. Sie erinnerte sich an seine Beine, seine Wadenmuskeln, seine Arme, stark wie ein eiserner Schraubstock, an den heißen Atem, der nach Wein roch. »Soldat oder Priester?« fragte Sylvester plötzlich und drückte fest ihr Handgelenk. »Soldat«, erwiderte Claudia. »Ja, er muß Soldat gewesen sein. Er hatte kein Gramm Fett am Körper; es war, als kämpfe man gegen einen Mann in einer Rüstung.« »Gut«, murmelte Sylvester. »Wir haben also einen Betrunkenen, der am Flußufer entlangwandert. Es kümmert ihn nicht, ob er erwischt wird, er will nur sein Vergnügen. Was er getan hat, war furchtbar, aber er ist auch ein großes Risiko eingegangen. Sag mir, Claudia, warum sollte ein Soldat so etwas tun? Denk an die Soldaten in Rom. Die meisten von ihnen sind wabbelig; selbst jene, die von der Grenze zurückkommen, legen sehr bald Gewicht zu, und ihre Muskeln setzen Fett an.«
Claudia wurde ganz aufgeregt. Sylvester war Rechtsgelehrter gewesen; sie hatte Achtung vor seinem scharfen Verstand, seiner logischen Argumentation. Sie schlug die Augen auf und lächelte ihn an. »Wir sprechen von einem Athleten, nicht wahr? Von jemandem, der ständig trainiert?« »Nein, Claudia, wir sprechen von einem Kämpfer. Du hast mir in allen Einzelheiten erzählt, was passiert ist; ich wollte, daß du das tust, damit du deinen Geist befreist und deine Seele reinigst.« Sylvester beschrieb mit seinen Fingern einen Kreis. »Wäre es denkbar, daß dein Angreifer, der Mörder deines Bruders, ein Gladiator war?« Claudia zischte mißbilligend, und er lächelte fast. »Nein, nein«, fügte er sanft hinzu und strich ihr eine Locke aus der Stirn. »Claudia, überlege einmal! Gladiatoren töten und sind oft einsam. Ja, sie werden als Helden verehrt, aber nur, weil sie jemanden umgebracht haben. Sie sind ständig im Training. Die Frauen, die sie anhimmeln, sind entweder Huren oder verkommene Weiber vom Kaiserhof. Nein« – sein Lächeln wurde breiter –, »ich spreche nicht von dir und Murranus; er kann sich wirklich glücklich schätzen! Ich rede von jenen Frauen, die sich bei den Gladiatorenschulen herumtreiben und ihre Körper anbieten. Das nächste Mal, wenn du mit den Freunden von Murranus zusammenkommst, sieh sie dir genau an, und denke an meine Worte. War der Mann, der dich überfallen hat, auf der Suche nach frischer Beute? Nach einem unschuldigen Mädchen? Einer achtbaren jungen Frau, als Abwechslung zum Gewohnten? Es kommt oft genug vor.« Sylvester seufzte. »Wie der Herr des Lichts wohl weiß!« Claudia starrte auf die gegenüberliegende Wand, als sei sie fasziniert von den Wandmalereien: Sie zeigten Männer und Frauen, die rund um einen Tisch saßen und einander die Hand reichten, und darunter christliche Symbole für das ewige
Leben. Sie sah das Alpha und das Omega, den ersten und den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets, die Symbole für den Gott der Christen. Was Sylvester gesagt hatte, irritierte sie. Bald würde sie über seine Worte nachdenken. Sie war aufgeregt, empfand eine prickelnde Erregung, als spüre sie, daß sie der Wahrheit nahe war. Sylvester brach ein weiteres Stück Käse ab, steckte es in den Mund und ging hinüber, um sich die Wandzeichnung anzusehen. Claudia seufzte laut. »Warum bin ich heute hier? Wieso jetzt?« »Die Villa Pulchra, in Tibur«, antwortete Sylvester, der nur allzu gern das Thema wechselte. »Zwei Dinge von Bedeutung. Wie du vielleicht weißt, sammelt die Kaiserin Helena christliche Reliquien. Sie scheint eine Leidenschaft dafür zu haben; ihre Agenten durchkämmen die Gegend von Jerusalem nach dem echten Kreuz. Die Kaiserin Helena glaubt, das Schwert gefunden zu haben, mit dem der Apostel Paulus hingerichtet wurde. Sie hat es in einem speziellen Raum in der Villa Pulchra zur Schau gestellt, eine Art Ausstellung für ein paar Philosophen, Redner aus Capua, die dort über die christliche Lehre diskutieren sollen.« »Und?« »Um es kurz zu machen, gestern nachmittag, das haben unsere Agenten erzählt, ist das Schwert verschwunden. Die Kammer oder der Keller hat keine geheimen Eingänge und wurde von Söldnern bewacht. Die Tür konnte nur mit zwei Schlüsseln geöffnet werden. Timothaeus, der Haushofmeister, hatte einen davon; Burrus, ein schmuddeliger Germane, der Helena anbetet, den anderen. Jedenfalls« – Sylvester biß in eine Feige –, »hat Timothaeus gestern nachmittag, wie immer, nach dem Schwert gesehen. Die Tür wurde aufgeschlossen. Burrus, der Angst vor dem Ort hat, an dem es hängt, blieb draußen. Timothaeus betrat den Raum. Burrus hörte ein
dumpfes Geräusch und einen Schrei, ignorierte das aber zuerst. Kurz darauf ging er dann doch nachschauen. Timothaeus lag neben dem Kreis aus Sand.« »Kreis aus Sand?« »Ja, du wirst ihn sehen, er befindet sich unter der Stelle, an der das Kreuz an einer Kette hing. Nur war gestern nachmittag diese Kette leer. Das Schwert war weg.« »Und Timothaeus?« »Burrus dachte, er sei tot, aber er war nur in Ohnmacht gefallen. Man schlug Alarm, rief die Wachen, Timothaeus wurde hinausgetragen und die Kammer durchsucht. Aber man fand kein Schwert. Ein richtiges Wunder.« Sylvester grinste. »Timothaeus glaubt, wegen der Streitereien unter den Christen sei der Engel des Herrn gekommen und habe das Schwert geholt.« »Es wurde natürlich gestohlen?« »So sieht es aus, aber von wem, wie und warum, das ist wirklich ein Rätsel. Die Augusta wird nicht erfreut sein. Sie wird nach dir schicken. Ich bin sogar sicher, daß inzwischen eine Botschaft oder ein Bote in den ›Eselinnen‹ eingetroffen ist, um dich in die Villa Pulchra zu beordern.« »Aber es gibt noch etwas, nicht wahr?« »O ja, es gibt immer noch etwas. Der Kaiser hat sechs Redner eingeladen, selbsternannte Philosophen von der Rhetorikschule in Capua, einer angesehenen Akademie, an der viele Gelehrte Theologie und Philosophie studieren und ihre Redekunst perfektionieren. Sie ist uns mittlerweile ein Dorn im Auge, weil dort die Häresie des Arius blüht und gedeiht. Einer ihrer gewandtesten Verfechter ist ein Gelehrter namens Justin.« »Worum geht es denn bei dem Streit?« »Worum es geht, Claudia? Nun, um die Wahrheit unseres Glaubens. Wer ist Gott? Wie handelt Gott?« »Ich bin keine Philosophin und ganz gewiß keine Christin.«
»Nein, du bist etwas Besseres«, erwiderte Sylvester. »Du bist eine integre Frau mit einem scharfen Verstand und einem wachen Geist. Wir, die Athanasianer, glauben folgendes, Claudia: Unser Gott ist ein dreieiniger Gott, drei Personen in einer. Der Vater, ein rein geistiges Wesen, sieht ein Bild seiner selbst; dieses Bild ist der Sohn, ewig und real, wie der Vater, aber, doch nicht der Vater. Der Vater hat in aller Ewigkeit immer mit seinem Bild koexistiert. Er liebt dieses Bild, und die Liebe, die zwischen ihnen besteht, ist wieder jemand anderer, nämlich der Heilige Geist. Drei Personen, aber ein Gott. Unser Glaube lehrt, daß der Sohn Mensch geworden ist, Jesus Christus, Gott und doch Mensch, begrenzt und doch unendlich. Die Arianer hingegen predigen einen anderen Glauben, der die Dreieinigkeit zerstören und Christus zu einem glorifizierten Engel machen würde.« »Und?« »Die Arianer dürfen diese Debatte auf keinen Fall gewinnen. Ich werde ebenfalls in der Villa Pulchra sein, Claudia, um die Kaiserin dazu zu bringen, uns ihre Unterstützung zu gewähren. Ich möchte, daß die arianische Häresie vernichtet wird und unsere Einheit erhalten bleibt.« »Was geschieht, wenn sie sich dagegen wehren?« Sylvester rieb sich mit den Händen die Wangen. »Dann müssen wir vielleicht zu härteren Methoden greifen; ein krankes Glied muß abgeschnitten werden.« »Du meinst, ihr werdet sie umbringen lassen? Ihr Christen, die ihr einander so liebt?« »Häresie ist für unsere Kirche dasselbe wie Verrat für den Staat.« »Aber was ist mit der Liebe Christi?« zog ihn Claudia auf. »Soll Christus sie lieben«, antwortete Sylvester scharf. »Die Kirche muß überleben, doch das ist nur der eine Teil des Problems.« Er verstummte und sammelte seine Gedanken.
»Einerseits haben wir Leute wie den Haushofmeister Timothaeus; er ist Athanasianer bis zum Fanatismus. Er hält nichts von dieser Debatte, er findet, die Arianer sollten den Mund halten oder zum Schweigen gebracht werden. Andererseits gibt es Menschen wie Chrysis, Konstantins Agent und Oberhofmeister, durch und durch Heide. Er freut sich über die Spaltung der Christen, er wird sich über die Debatte lustig machen und versuchen, uns alle als Agitatoren hinzustellen.« »Aber es wird doch auch der Vertreter eures Bischofs dort sein, um die athanasianische Lehre zu verteidigen?« »O ja«, sagte Sylvester mit einem höhnischen Lachen. »Und der wird unserer Sache vielleicht mehr schaden als nutzen. Athanasius kommt selbst und er ist heißblütig, ein richtiger Aufwiegler.« »Glaubst du, einer dieser Philosophen könnte das Schwert gestohlen haben? Waren sie da, als die Reliquie verschwand?« »Möglich ist es. Vielleicht fanden sie, das Schwert sei ein Heiligtum für die Christenheit und solle nicht vor Heiden zur Schau gestellt werden. Auch andere könnten das Schwert gestohlen haben, Soldaten, Beamte. Chrysis ist in der Villa ein und aus gegangen; nichts würde ihm mehr Freude bereiten, als die Christen aus der Fassung zu bringen.« Sylvester holte tief Luft. »Oder es war ein gewöhnlicher Dieb, den der Elfenbeingriff und der funkelnde Rubin angelockt haben. Aber das ist nicht wichtig, Claudia.« Sylvester machte eine ausladende Handbewegung. »Was interessieren uns Gräber, Reliquien, philosophische Debatten? Die Kirche verläßt die Katakomben, sie muß stark bleiben. Zur Zeit werden wir toleriert, nicht anerkannt. Eines Tages wird das anders sein. Wir werden das Reich sein. Kannst du dir das vorstellen, Claudia?« flüsterte er. »Kirche und Staat, eine Einheit, die Stadt Gottes?« Er verstummte und versank in seinen Träumen
von einem Reich. Dann erinnerte er sich daran, wo er war. »Ich habe gehört, dein Freund Murranus ist in Schwierigkeiten?« »Murranus ist immer in Schwierigkeiten.« Claudia stand auf und nahm ihren Umhang und den Gehstock. »Also treffen wir uns in der Villa Pulchra?« »Ich mache mich jetzt auf den Weg dorthin.« Sylvester lächelte zu ihr hoch. »Ich werde in einer Stunde dort sein und sehen, was man so im Schilde führt.« »Im Schilde führt?« »Nur so ein Gefühl…« Sylvester erhob sich und deutete auf einen der Tunnel. »Ich nehme einen anderen Weg. Komm gut nach Hause. Ach, Claudia?« Sie drehte sich um. »Ja, Magister?« »Als du Murranus kennengelernt hast« – Sylvester ging gemessenen Schrittes auf sie zu –, »war das Zufall oder geplant? Hast du ihn aufgesucht oder er dich?« Er hob die Hand zum Friedensgruß. »Denk darüber nach.« Das tat Claudia, während sie mit brennendem Gesicht durch den Tunnel lief. Sie hielt die Laterne hoch und war sich des Lichts bewußt, das sich um sie herum bewegte. Sylvesters Worte hatten sie beunruhigt. Sie war im Reich der Toten; hinter diesen verputzten Wänden lagen die Überreste derer, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Fast von allein kehrten ihre Alpträume zurück, in denen sie durch Tunnel wie diesen rannte und von dem Mann mit dem eintätowierten purpurnen Kelch verfolgt wurde. Sie konnte seinen Atem hören, und irgendwo in der Ferne floh auch Felix auf seinen schnell trippelnden kleinen Beinchen. Sie wollte zu ihm, doch durch die Wand streckten sich Hände und Arme aus, um nach ihr zu greifen. An einer Ecke blieb Claudia stehen. »Sei nicht so dumm!« flüsterte sie. »Du mußt die Lebenden mehr fürchten als die Toten.«
Sie lauschte angestrengt, hörte aber nichts und ging zielstrebig weiter. Als sie zu den Stufen kam, stellte sie die Laterne wieder an ihren Platz und sah, daß ihr Hut noch genauso dort lag, wie sie ihn hingelegt hatte. Sie setzte ihn auf und stieg hinauf ins Sonnenlicht. Den Gehstock fest gepackt, marschierte sie zwischen den Gräbern davon. Eine alte Bettlerin in einem schwarzen Umhang, die sich im Schatten versteckte, stand unvermittelt auf und bat mit ausgestreckten, klauenartigen Händen um Almosen. Claudia dachte an die Hexen und Zauberer, die sich hier trafen, um zu mitternächtlicher Stunde einen schwarzen Hahn zu opfern. Am liebsten hätte sie sie beschimpft, doch das Gesicht der Greisin war vom Alter zerfurcht, und ihre Augen waren milchig weiß. »Nur einen Denar«, lispelte die Bettlerin, »ein wenig Geld für ein bißchen Wein.« Claudia drückte ihr zwei Münzen in die Hand und eilte weiter. Sie schloß sich dem Menschenstrom an, der sich auf der Via Appia drängte, und verlor sich darin. Bei dem üblichen Geruch nach Schmutz, frisch gebackenem Brot, würzigem Fleisch und dem alles durchdringenden Gestank von Öl entspannte sie sich. Auf dem Weg zur Stadt hatten die Reisenden Hunger, und so machten die Lebensmittelverkäufer, Wasserträger und Weinhändler ein Bombengeschäft. Claudia stillte ihren Durst und plauderte dabei mit einem Bauern, der zwei Kisten mit schnatternden Enten trug. Sie fragte ihn nach seinem kleinen Hof und den Aussichten auf eine gute Ernte. Der Bauer fühlte sich geschmeichelt von soviel Aufmerksamkeit und plapperte dies und das, während Claudia mit zusammengekniffenen Augen auf den Weg zurücksah, auf dem sie gekommen war. In der Stadt angelangt, bog Claudia von der Hauptstraße in ein Labyrinth von Seitengassen ein. Sie befand sich in einem Viertel, das sie kannte, und die Färber und Gerber, die Händler
hinter ihren Ständen und alle, die die »Eselinnen« besuchten, riefen ihr Grußworte zu. Claudia erwiderte sie hastig, war aber in Gedanken mit dem beschäftigt, was ihr Sylvester gesagt hatte, vor allem über Murranus. In den »Eselinnen« war es ruhig. Oceanus teilte ihr mit, daß Polybius noch immer die Nachwirkungen der vergangenen Nacht ausschlief, während Poppaoe auf den Markt gegangen sei. »Du weißt, wen ich sehen will?« »Er ist draußen im Garten, Kleine«, sagte Oceanus und beugte sich zu ihr hinunter. »Er hat ganz besonderen Besuch.« Claudia stockte fast das Herz, doch Murranus unterhielt sich nicht mit einer Dame aus der Stadt, sondern mit einem jungen Athleten mit scharfgeschnittenen, sardonischen Gesichtszügen und buschigen schwarzen Haaren. Neben ihm hockte ein grauhaariger alter Mann, der einer gezähmten Schlange erlaubte, sich um seinen Arm zu winden. Da auf dem Tisch ein Stab mit dem Äskulap-Symbol lag, nahm Claudia an, daß er wohl Arzt war. Murranus drehte ihr den Rücken zu; sein Besucher beugte sich zu ihm, stupste ihn am Arm und deutete auf sie. Der Gladiator sprang auf. Claudia blickte instinktiv auf sein Handgelenk und hatte sofort ein schlechtes Gewissen: Er hatte keine Tätowierung. Murranus war doch kein Vergewaltiger, kein Kindermörder! Was den Besucher ihres Verehrers anlangte, war sie nicht so sicher. Er war mittelgroß, hatte spöttische Augen und zynische Lippen. Ein Mann, der von seinem schönen Körper überaus eingenommen war. »Weißt du, wer das ist?« fragte Murranus und rieb sich die Hände. »Spicerius, erinnerst du dich an Spicerius? Niemand vergißt Spicerius.« Claudia nickte und öffnete den Mund, sagte aber nichts. Spicerius blickte sie kühl an und musterte sie aufmerksam von oben bis unten, als wäre sie eine Sklavin auf dem Markt. Es
war eine gewollte Beleidigung. Dann entschuldigte er sich hastig, stand auf, nahm Claudias Hand und hob sie an seine Lippen. »Claudia, ein schöner Name.« Seine hellblauen Augen waren voller Spott. »Ein schöner Name für eine schöne Frau.« Er ließ ihre Hand los. »Murranus, du hast mir gar nichts von ihr erzählt, jedenfalls keine Einzelheiten.« Sie lachten, und dann stellte Spicerius seinen alten Freund Valens vor, der Arzt in der Zehnten Pannonischen Legion gewesen war. Oceanus brachte etwas zu trinken und in Honig getunktes Brot heraus, und sie setzten sich alle im Schatten eines Baumes ins Gras. Doch während sie lachten und scherzten, studierte Spicerius Murranus genau, als wolle er sich jede Einzelheit an ihm einprägen. Hin und wieder streifte sein unruhiger Blick auch Claudia. Der Gladiator war noch nicht wieder ganz gesund. Wie ihm sein Arzt flüsternd geraten hatte, aß und trank Spicerius nur sehr wenig. Er merkte, daß Claudia ihn beobachtete. »Ich bin gekommen, um mit Murranus Frieden zu schließen«, sagte er lächelnd. »Warum so schnell?« fragte Claudia. »Es gibt Leute, die behaupten, er habe versucht, dich zu vergiften.« »Ich glaube das nicht.« Spicerius lachte. »Und es gibt eine gute Methode, das herauszufinden…« Er verstummte und umklammerte seinen Bauch. Sein Gesicht war geschickt geschminkt, wie das einer Frau. Doch auch die Schminke konnte nicht die Schatten um seine Augen oder die eingefallenen Wangen verbergen oder daß seine Lider flatterten, als sei ihm nicht ganz wohl. »Er redet von den Wetten«, erklärte Murranus. »Polybius und ich haben bewiesen, daß keiner von uns darauf gewettet hatte, wer gewinnen würde. Hätten wir das getan, würde unser guter
Spicerius denken, wir hätten versucht, ein wenig nachzuhelfen.« »Und ich habe nichts gesehen.« Spicerius schüttelte den Kopf. »Ich stand im Tunnel und wartete. Die Weinbecher wurden gefüllt. Murranus’ Hand kam nie auch nur in die Nähe meines Bechers. Eigentlich habe ich überhaupt keine Hand bei meinem Becher gesehen. Ich bin immer sehr vorsichtig. Es wäre nicht das erste Mal, daß ein Getränk oder eine Speise vergiftet wurde; die Leute arbeiten mit allen möglichen gemeinen Tricks.« Er drehte sein Handgelenk um und zeigte Claudia eine Narbe. Entsetzt starrte sie auf einen eintätowierten purpurnen Kelch, den sein Lederband nicht verbergen konnte. Sie wich zurück; Murranus folgte ihrem Blick. »Was ist los?« fragte Valens, der Arzt. »Was hast du, junge Frau? Du machst ein Gesicht, als hättest du ein Gespenst gesehen.« Claudia wollte aufstehen und warf dabei die Schüssel mit dem Brot und dem Honig um. Sie stieß den Bierkrug weg. Murranus packte sie am Handgelenk. »Claudia, es ist nicht das, was du denkst…« Doch sie riß sich los, drehte sich um und rannte in die Taverne.
KAPITEL 3 »In Rom ist alles käuflich.« Juvenal, Satiren, I
Dionysius, ein Anhänger von Justin und nicht ganz so begeisterter Jünger der Lehren des Arius, dachte an den Tod. Nicht an seinen eigenen, sondern an den Tod im allgemeinen. Der selbsternannte Philosoph bereitete eine Rede über den ernüchternden Spruch der Sophisten vor: »Ich war nicht; ich bin; ich bin nicht; es ist mir egal.« Nach der ganzen Aufregung, die die Ankunft der Mitglieder des Kaiserhofs in ihren Palankinen und Sänften verursacht hatte, herrschte in der Villa Pulchra jetzt wieder Ruhe. Der Kaiser war natürlich hoch zu Roß gekommen. Er war in den großen, gepflasterten Hof geritten und hatte brüllend nach Wein und einem warmen Bad für das kaiserliche Hinterteil verlangt. Dann waren die Lastponys und die Wagen eingetroffen. Die schwerbeladenen Dienstboten und Sklaven waren mit Möbeln, Einrichtungsgegenständen und persönlichen Habseligkeiten von Konstantin und seinem Hofstaat in der Villa umhergehastet. Die Küchen hatte man schon vorbereitet, in den Herden Feuer entzündet, das Backhaus geöffnet; jetzt stieg aus den Küchen Rauch auf wie Nebel über dem Fluß. Es duftete köstlich nach den Speisen, die für das Bankett am Abend zubereitet wurden: in Wein pochierte Eier, geschmortes Rindfleisch, Hase in süßer Soße, Schinken in Rotwein-Fenchelsoße, gebackene Scholle und Austern in Weinblättern. Dionysius lief das Wasser im Mund zusammen, sein leerer Magen knurrte bei der Aussicht auf diese Delikatessen. Er und
die anderen waren zu dem Festessen eingeladen, und Dionysius wollte sie alle mit etwas Geistreichem oder Tiefsinnigem beeindrucken. Er hatte vor, eine kurze Rede über den Tod zu halten, ein paar Verse von Ovid oder aus Vergils Aeneis zu zitieren und vielleicht einen Vergleich zwischen Homer und Herodot zu ziehen. Er spazierte weiter und trat in den Schatten des Obstgartens. Er zog die Schultern hoch und rollte den Kopf herum, um seinen verspannten Nacken zu lockern. Er war froh, nicht mehr in der Sonne zu sein. In der Villa hatte man sich zur Nachmittags ruhe begeben, mit Ausnahme der Kaiserin, die durch die Gänge strich wie eine Pantherin auf der Suche nach Beute. Das heilige Schwert, die kostbare Reliquie, war verschwunden. Dionysius schloß die Augen und schüttelte den Kopf. Dieser blöde Germane hatte geweint wie ein Kind, während der Hauptmann der Wache, Gaius Tullius, mit bemüht stoischer Miene die Villa und den Garten abgesucht, aber nichts gefunden hatte. Der Haushofmeister, Timothaeus, war schnell wieder zu sich gekommen, obwohl er bleich wie ein Gespenst war. Beim Abendessen hatte er ihnen dann die ganze Geschichte erzählt: Er war hinunter an den heiligen Ort gegangen, um nach dem heiligen Schwert zu sehen; Burrus und er hatten gemeinsam die Tür aufgeschlossen; der Germane war wie immer draußen geblieben. Timothaeus erinnerte sich, daß er als erstes auf den Sand geblickt hatte – er war unberührt – und erst danach zu seinem Entsetzen bemerkt hatte, daß das Schwert weg war. »Es war die Kette«, hatte er geflüstert. »Sie hing so gerade und ruhig da. Da bin ich in Ohnmacht gefallen.« Der arme Timothaeus war zu Boden gesunken und halb im Sand, halb außerhalb des Kreises gelandet. Burrus hatte hineingeschaut, gesehen, was passiert war, und auf der Stelle einen hysterischen Anfall bekommen. Gaius Tullius, der aus
seinem Schläfchen im Peristylgarten gerissen worden war, hatte das Kommando übernommen. Er war mit Dionysius in den Keller geeilt, hatte jedoch keine Spuren gefunden außer an der Stelle im Sand, wo Timothaeus lag. Mit Hilfe eines Sklaven vom Totenhaus hatten sie den Haushofmeister ins Freie gebracht. Gaius hatte kontrolliert, ob er noch atmete, und dann den Keller weiter durchsucht, ohne aber etwas zu entdecken. Timothaeus war in sein Zimmer getragen worden. Später hatte Gaius Nachforschungen angestellt, bei denen er folgendes herausfand: Erstens schworen Burrus und Timothaeus, daß niemand ohne die beiden Schlüssel den Raum betreten konnte. Zweitens wies nichts auf ein gewaltsames Eindringen oder einen Geheimgang hin. Drittens hing die Kette leer, aber unbeschädigt von der Decke. Viertens gab es im Sand keine Spuren. Das Verschwinden der Reliquie war wirklich ein Rätsel! Die Kaiserin war natürlich außer sich. Berichten zufolge hatte sie Burrus ins Gesicht geschlagen, weil er so hysterisch reagiert hatte, und sich laut gefragt, ob die beiden Wachen vor der Kellertür etwas mit dem Diebstahl zu tun haben könnten. Sie hatte sie zu sich befohlen, geschlagen und eine Schimpftirade auf sie losgelassen, doch beide hatten die heiligsten Eide geschworen, daß sie ihre Pflicht getan und nichts Ungewöhnliches bemerkt hätten. Kaiserin Helena hatte geschrien, sie würde sie alle kreuzigen lassen, und war dann in ihr Schlafgemach stolziert. Schließlich hatte sich ihr Zorn gelegt. Das heilige Schwert war weg, und es gab auch nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, wie es hatte verschwinden können. Justin hatte natürlich überlegt, ob es vielleicht ihre Gegner gestohlen hätten, und boshaft darauf hingewiesen, daß Athanasius, Aurelian, Septimus und die anderen Anhänger dieser Glaubensrichtung alle arm waren und der Anblick des
Elfenbeins und des Rubins Habgier in ihnen erweckt haben könnte. Vor sich hin murmelnd, hockte sich Dionysius unter einen Apfelbaum und lehnte sich mit dem Rücken an dessen Stamm. Er streckte die Beine aus und genoß den Schatten, das kühle Gras und das beruhigende Gurren der Vögel. »Justin sollte den Mund halten!« grummelte er leise. »Alle haben das Schwert bewundert, jeder könnte es gewesen sein – auch dieser Koloß Burrus und seine zotteligen Germanen.« Dionysius fand, Justin sollte die Situation nicht noch schlimmer machen, als sie ohnehin war. Der Philosoph befeuchtete die Lippen und blickte auf ein kreisförmiges Beet mit bunten Wildblumen, welche die Sonnenstrahlen einfingen, die zwischen den Blättern der Bäume hindurchfielen. Meinungsverschiedenheiten führten stets zu etwas Schlimmerem. Dionysius hatte in seinem Leben genug Schreckliches erlebt und versuchte seine Angst zu verdrängen. Er war als Halbwüchsiger zum Christentum übergetreten. Er diskutierte zwar über die Existenz von Engeln und Dämonen, doch seine heidnische Erziehung beschwor auch die Manen herauf, die Geister der Toten, von denen einige aufgrund der Art, wie sie gestorben waren, zurückkehrten, um die Lebenden heimzusuchen und ihnen das Leben schwerzumachen. Dionysius wandte sich wieder seinen Gedanken über den Tod zu, wurde jedoch durch die Aussicht auf die bevorstehende Debatte erneut abgelenkt. Er war nicht dumm. Ihm war klar, daß Bischof Militiades und sein Assistent, der Presbyter Sylvester, bei der Kaiserin auf ein offenes Ohr stießen. Er hatte insgeheim seine eigene Position überdacht und war zu dem Schluß gekommen, daß es wohl am besten sein würde, wenn er den Lehren des Arius abschwor und sich zur athanasianischen Glaubensauffassung bekannte. So mußte er vorgehen, um Beachtung und Annerkennung zu
finden, und gab es eine bessere Methode, als dies in aller Öffentlichkeit zu tun, als ganz bescheiden zu erklären, daß ihn die Argumente seiner Gegner überzeugt hätten? »Genießen wir den Garten?« Dionysius erschrak und blickte empor zu einer Gestalt, die über ihm aufragte. Da ihn die Sonne blendete, konnte der Philosoph nicht erkennen, wer ihn da angesprochen hatte. Er wollte die Augen abschirmen, doch er hatte die Hände kaum bewegt, als ein Stein seinen Kopf traf. Er spürte einen stechenden Schmerz und den Geschmack von Blut im Mund. Er sank nach vorn. Sein Angreifer band ihm hastig Hände und Füße zusammen und einen groben Strick um den Bauch. Dionysius versuchte sich zu bewegen, konnte es aber nicht. Er wurde wie ein Sack über den Boden geschleift, sein Körper schlug gegen Stümpfe und Steine. Die Schmerzen ließen ihn für Augenblicke das Bewußtsein verlieren. Er bekam keine Luft. Er versuchte zu schreien und merkte, daß der Schmerz in seinem Mund von dem harten Knebel herrührte, den man ihm zwischen die Lippen gezwungen hatte. Nun waren sie tief zwischen den Bäumen, und der Strick, mit dem man Dionysius gezogen hatte, wurde gelockert. Der Angreifer verband ihm die Augen und entfernte die Fesseln von seinen Händen. Dionysius versuchte sich zu wehren, aber es war nutzlos. Sein Gegner summte leise vor sich hin, während er den Philosophen, auf dem Boden ausgestreckt, anpflockte und dann begann, ihm Arme, Beine und die Brust zu zerschneiden. Jetzt glaubte Dionysius wirklich, die Manen wären gekommen. Er versank in einem Meer von Schmerzen, warf sich hin und her, sein fiebernder Geist verlor abwechselnd das Bewußtsein und kam wieder zu sich. Er sah sich in Capua, im Schulzimmer oder auf den Feldern, bis ihn ein weiterer Schnitt zurück in die qualvolle Gegenwart holte. Sein Körper
bäumte sich gegen die Stricke auf. Sein Angreifer zerschnitt seinen Körper wie ein Stück Rindfleisch. Schließlich verlor Dionysius endgültig das Bewußtsein. Sein Peiniger ließ ihn, an den Boden gefesselt, liegen. Das Blut floß in Strömen über das saftige grüne Gras. Es dauerte eine Stunde, bis Dionysius starb. Seine Leiche wurde von Gaius Tullius entdeckt, der mit vier seiner Männer seine üblichen Kontrollgänge unternahm. Sie alle blickten entsetzt auf den blutüberströmten Körper und den blutgetränkten Boden rund um ihn. »Holt die Kaiserin«, befahl Gaius. »Und seine Exzellenz?« »Ich sagte, die Kaiserin«, wiederholte Gaius. »Die Augusta wird wissen, was zu tun ist.« Er lächelte schwach. »Unser edler Kaiser hat ein paar Becher Wein getrunken; er ist mit einem der Dienstmädchen zusammen und möchte sicher nicht gern gestört werden.« Kurze Zeit später schritt die Kaiserin, begleitet von ihrem verzagten Leibwächter, zwischen den Bäumen hindurch. Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus und ging dann um die Leiche herum, sah die ausgestreckten Arme und Beine, die mit einem Strick an Pflöcke im Boden gebunden waren. »Wie lange ist er schon tot, Hauptmann?« fragte sie. Gaius raffte seinen Umhang hoch, beugte sich hinunter und legte die Hand an das Gesicht des Toten. »Mindestens zwei Stunden, vielleicht etwas weniger.« Er strich mit der Hand über den Bauch. »Der ist kaum aufgebläht.« Er erhob sich wieder. »Wer immer ihn umgebracht hat, muß ihn wirklich gehaßt haben. Augusta, soll ich die anderen verhaften?« »Unsinn!« »In der Villa ist ein Arzt«, murmelte Burrus.
»Der ist hier nutzlos, außer, er kann Tote auferwecken«, erwiderte Helena. »Ich frage mich…« Sie verstummte, als sie Timothaeus, den Haushofmeister, herbeieilen sah. Er warf einen Blick auf die Leiche, drehte sich um und würgte. Helena ging zu ihm und klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Ich fürchte«, murmelte sie, »das ist nicht gerade deine Woche, was, Timothaeus? Also, sei so nett und nimm diesen Fleischkloß hier mit« – sie zeigte auf Burrus –, »und wenn sich dein Magen beruhigt hat, geht beide nach Rom, in die ›Eselinnen‹ in der Nähe des Flavischen Tors, und holt Claudia. Ich will sie heute abend hier haben.« Helena verschwand zwischen den Bäumen, sie atmete schwer. Ja, dachte sie, es ist Zeit, daß mein Mäuschen mit den flinken Füßen hierherkommt. Sie wird diese Rätsel lösen helfen…
Murranus brachte Claudia zurück in den Garten. Er nahm ihre Hand und flüsterte ihr zu, sie solle nicht töricht sein. Claudia war das alles bereits peinlich; schließlich trugen viele Männer in Rom diese Tätowierung am Handgelenk. Sie hatte schon ein paar von ihnen gesehen, warum hatte sie dann auf Spicerius so heftig reagiert? »Es ist wegen Sylvester«, flüsterte sie. »Wegen wem?« fragte Murranus. »Nichts.« Claudia riß sich zusammen. »Nur ein Freund, mit dem ich über meine Probleme rede.« »Ich dachte, du hättest keine Freunde außer mir.« Um ihn abzulenken, sagte Claudia lächelnd: »Nun, man lernt jeden Tag etwas dazu.« Spicerius und Valens saßen noch immer im Schatten. Als Claudia näher kam, erhob sich der Gladiator.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Murranus hat mir erzählt, was passiert ist. Ich habe versucht, meine Tätowierung unter dem Lederband zu verstecken.« Sie setzte sich hin, und er tat es ihr gleich. »Ich weiß ein wenig über deine Vergangenheit«, fuhr er fort, »aber dieser Kelch hier« – er nahm das Band ab und zeigte ihn ihr – »wurde erst vor sechs Monaten eintätowiert.« »Tragen viele Gladiatoren diese Tätowierung?« »Frag Murranus«, antwortete Spicerius und zuckte die Achseln. »Sie ist ziemlich verbreitet. Sie steht für die Verehrung von Dionysos, dem Gott des Weines.« Claudia sah, daß seine Eckzähne spitz waren wie die eines Wolfs. »Dionysos und Eros«, fuhr er fort. »Kann ein Gladiator mehr vom Leben erwarten?« »Du bist nicht die einzige!« warf Valens ein, der sie genau beobachtet hatte. »Ich weiß von mindestens drei Mädchen aus den Armenvierteln, eine davon erst zwölf, die von einem Mann mit dieser Tätowierung überfallen und vergewaltigt wurden. Eines der Mädchen behauptete, es sei ein Gladiator gewesen, aber andererseits« – er klopfte Spicerius auf die Schulter – »werden diese Männer für alles verantwortlich gemacht. Wenn eine Frau vergewaltigt oder ein Mann umgebracht wird…« Er verstummte. »Und doch I in ich bei den Gladiatoren mehr Ehrenmännern begegnet als bei den Priestern.« »Gibt es einen Tempel, der Dionysos geweiht ist?« fragte Claudia. »Ich meine, mit diesem purpurnen Kelch als Symbol?« Spicerius schüttelte den Kopf. »Tempel, die Dionysos oder Bacchus geweiht sind, gibt es wie Sand am Meer. Nein, der Kelch ist eher ein Zeichen, daß man ein Weinliebhaber ist, und man kann sich damit in einem Verein von Zechern Freunde machen.« Spicerius hielt inne und umklammerte seinen Bauch. »Nur ein Krampf.« Er zwinkerte.
»Bald wird es mir wieder so gut gehen, daß ich gegen deinen Freund kämpfen kann. Möge der Pöbel diesmal ihm das Leben schenken.« Claudia war froh über den Themenwechsel. »Als du den vergifteten Wein trankst«, sagte sie, »ist dir da nichts Ungewöhnliches aufgefallen?« »Ich war im Tunnel«, antwortete Spicerius, »beim Tor des Lebens. Ich wollte, daß der Kampf beginnt. Ich trank den Wein.« Er klopfte auf die Tätowierung an seinem Handgelenk. »Mit Wein kenne ich mich aus, er reinigt den Mund und befeuchtet die Kehle.« »Hast du dich seltsam gefühlt?« fragte Claudia. Spicerius verdrehte die Augen. »Frag deinen Freund hier. Natürlich fühlt man sich vor einem Kampf seltsam. Dein Magen schlingert wie ein Schiff im Sturm. Man hat merkwürdige Geräusche im Ohr. Im Kopf beginnt es zu trommeln. Man möchte rennen und schreien, aber gleichzeitig empfindet man eine eisige Kälte. Man nimmt die kleinste Kleinigkeit wahr.« »Und in der Arena?« erkundigte sich Claudia weiter. »Ich ging hinaus.« Spicerius’ Züge glätteten sich; die Maske zynischer Arroganz war verschwunden. »Ich dachte wirklich, ich hätte eine Chance. Plötzlich sah ich alles doppelt, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen.« Er klopfte auf seinen Bauch. »Mein Magen brannte wie Feuer. Ich dachte, es würde vergehen, doch dann versagten die Beine mir den Dienst. Ich wußte nur, ich mußte mich übergeben, sonst würde ich sterben.« Er drehte sich zu Valens, zog den alten Mann an sich und küßte ihn auf den Kopf. »Ohne meinen guten Freund hier wäre der große Spicerius gestorben wie ein Sklave, der aus Angst vor einem Löwen oder Panther in Ohnmacht fällt.« »Irgend jemand wollte dich vergiften«, beharrte Claudia. »Warum?«
»Es gibt drei Gründe«, warf Murranus ein und zählte sie an seinen Fingern ab. »Entweder jemand liebt Murranus oder jemand haßt Spicerius.« »Und der dritte Grund?« fragte Claudia. »Jemand hat hoch gewettet, daß ich gewinnen würde. Das war sicher nicht ich oder jemand in dieser Taverne.« »Aber du solltest sterben«, sagte Claudia zu Spicerius, »und nicht ohnmächtig werden. Man wollte dich umbringen.« Sie sah den alten Arzt an, der an seinen Lippen nagte und das Gesicht zur Sonne gewandt hatte, sie aber aus dem Augenwinkel genau beobachtete. »Mann«, flüsterte er, »hast du aber ein kluges Mädchen, Murranus! Ihr Verstand ist so scharf wie das Messer eines Chirurgen. Du hast recht, Spicerius sollte sterben. Drei Dinge haben ihm das Leben gerettet. Er hat die Konstitution eines Ochsen, er hat das Gift erbrochen, und ich war dort, um ihn zu behandeln. Und es gibt noch einen Grund…« Er verstummte. »Ja?« fragte Claudia. Sie merkte, wie still es im Garten geworden war. Ein Schmetterling mit weißen Flügeln flatterte in der leichten Brise zwischen ihnen hindurch. »Er sollte sterben«, murmelte Valens, »aber der Mörder hat einen Fehler begangen. Er oder sie hat ihm nicht genug Gift gegeben. Es reichte, um Erbrechen und Schmerzen hervorzurufen, aber es war zuwenig, um ihn umzubringen.« »Spicerius!« Claudia drehte sich um. Eine junge Frau, deren schwarzes Haar ihr Gesicht einhüllte wie ein Schleier, trippelte über das Gras. Ihr kostbares Gewand umspielte ihren Körper, ein Tuch schützte ihren Rücken und die Schultern vor der Sonne. Ein alter Sklave hastete mit einem Sonnenschirm und zwei dicken Kissen hinter ihr her. Die Frau blieb stehen und fuhr ihn an: »Kannst du nicht schneller laufen, du alter Trottel!« schrie sie. »Dieser Sonnenschirm soll die Sonne von mir fernhalten!«
»Agrippina«, murmelte Spicerius. Die junge Frau umgab eine Wolke von Parfüm, sie hockte sich unaufgefordert hin, schlang ihre Arme um Spicerius’ Hals, küßte ihn gierig auf die Mundwinkel und das Gesicht und herrschte den alten Sklaven an, er solle die Kissen hinlegen. Sie rückte von Spicerius ab, machte es sich bequem und sah sich mit einem dreisten Lächeln auf ihrem frechen Gesicht um. Dann warf Agrippina Murranus einen Kuß zu, und Claudia bemühte sich, den Stich zu verbergen, den der Neid ihr versetzte. Diese Frau war wirklich wunderschön. Sie hatte ein Gesicht wie Elfenbein und schöne, ausdrucksvolle Augen. Bei jeder Bewegung glitzerten ihr Schmuck und ihre Ohrringe, alles blutrot, und die Armbänder und Armringe klimperten. Sie trug eine Wiesenblume im Haar und hielt ein parfümiertes Tuch in der Hand, mit dem sie ihren verschwitzten Nacken und die Arme kühlte. Sie winkte dem Arzt zu, doch Claudia tat sie mit einem schwachen Lächeln und einem kurzen Blick ab. »Ich habe dich überall gesucht«, gurrte sie, zu Spicerius gewandt. »Was in aller Welt tust du an einem solchen Ort?« »Das ist mein Haus«, sagte Claudia, »und ich frage mich, was eine Frau wie du hier tut.« Das Lächeln wich von Agrippinas Gesicht. Der alte Sklave zog sich hastig zurück. Agrippina zog einen Fächer aus einer Tasche ihres Gewandes, klappte ihn auf, blickte Claudia scharf an und begann zu lachen. Sie nahm ein Armband von ihrem Handgelenk und drückte es Claudia in die Hand. »Ich bin ein Biest«, gestand sie, »und so überheblich! Ich wollte dich nicht beleidigen.« »Ich bin nicht beleidigt«, antwortete Claudia und streifte das Armband über. »Möchtest du etwas Wein?« Agrippina schüttelte den Kopf. »Ich habe schon den ganzen Vormittag getrunken. Worüber habt ihr denn gesprochen?« »Wer wohl versucht hat, Spicerius zu töten.«
»Nun, ich war es nicht«, entgegnete Agrippina. Sie lehnte sich an ihren Liebhaber. »Wir haben die Regeln befolgt, nicht wahr? Wir haben den ganzen Morgen weder etwas gegessen noch getrunken. Ich tue immer, was Spicerius tut.« Ihr Blick wurde weich. »Sei mir nicht böse, Murranus, aber ich dachte wirklich, Spicerius würde gewinnen. Mein Vater schäumt vor Wut. Ich habe ein Vermögen auf ihn gesetzt und verloren.« »Ich dachte, das ganze Geld würde rückerstattet?« sagte Spicerius. Agrippina küßte ihn auf die Schulter. »Nein, darüber streiten ja jetzt alle. Wahrscheinlich werden sie sich darauf einigen, daß die Wetten für den nächsten Kampf gelten. Hör mal, Spicerius, du mußt im Schatten sitzen. Claudia – du heißt doch Claudia, nicht wahr? Hast du etwas dagegen, wenn ich hierbleibe? Ich helfe dir.« Sie plapperte weiter, so schnell, daß sie kaum zum Atemholen kam. Claudia entschuldigte sich, ging durch den Garten in die Taverne und trug Oceanus auf, sich um die Gäste zu kümmern. Dann zog sie sich in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie verriegelte die Tür und legte sich auf das schmale Bett. Polybius war inzwischen aufgestanden und brüllte in der Küche jeden an, der ihm in die Quere kam. Claudias Gedanken wanderten zurück zu der morgendlichen Begegnung in den Katakomben und zu Spicerius’ Tätowierung am Arm. »Eines Tages finde ich…«, flüsterte sie. Ihre Augen wurden schwer, und sie schlief ein. Sie schlief lange und tief; als sie erwachte, war es bereits Nachmittag. Sie spritzte sich ein wenig Wasser ins Gesicht und ging hinunter in den Garten. Murranus und die anderen waren immer noch da. Sie hatten beschlossen, den Tag zu genießen, und vergnügten sich mit einem beliebten Spiel, bei dem Knochen als Spielfiguren dienten, bestellten den besten Wein und das beste Essen. Polybius war nach dem Besäufnis am
Vorabend schlecht gelaunt gewesen, bis er hörte, wie reich Agrippina war. Jetzt brieten die Köche Rindfleisch und eine Gans, während die Schankjungen in den Kellern die besten Fässer anzapften. Claudia beschloß, der Gruppe Gesellschaft zu leisten. Murranus hatte bereits viel getrunken, er umarmte sie fest und gab ihr weinselige Küsse, und Claudia zog ihn auf. Sie unterhielten sich gerade über die Vorzüge von Meleager dem Glorreichen, als Polybius über das Gras auf sie zueilte. »Ein Bote aus Tibur ist hier«, erklärte er. »Claudia, du sollst zum Kaiserhof in der Villa Pulchra kommen.« »Na so etwas«, meinte Murranus, »hast du aber mächtige Freunde.« Claudia schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. »Ich bin nur ein Dienstmädchen.« Bevor Murranus noch etwas hinzufügen konnte, küßte sie ihn mitten auf den Mund. »Zum Kaiserhof?« Spicerius erhob seinen Becher. »Richte Gaius Tullius, dem Hauptmann der kaiserlichen Wache, Grüße von mir aus. Sag ihm, er kann sich sein überhebliches Getue sparen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir einander als Jungen mit bloßem Hintern durch die Felder von Sisium jagten. Du wirst es doch nicht vergessen, ja?« Claudia versprach es und folgte ihrem Onkel eilig in die Taverne. Dort erblickte sie den glupschäugigen Haushofmeister der Kaiserin, Timothaeus, der mit gerötetem Gesicht über den mißmutigen Burrus in seiner schäbigen Aufmachung lachte, welcher gerade von einem der Küchenjungen aufgezogen wurde. Der hünenhafte germanische Söldner schien den ganzen Raum auszufüllen. Den Jungen, der ihn verspottete, ignorierte er, doch Simon den Stoiker, der ein wenig germanisch sprach und seine Sprachkenntnisse unverzüglich dazu benutzt hatte, den Besucher zu beleidigen, starrte er finster an. Januaria hingegen war entschieden beeindruckt. Sie hatte sich zu Burrus
geschlichen und zupfte an dem großen Bärenfell, das er sich trotz der Hitze über die Schultern gelegt hatte. Poppaoe kam aus der Küche und schimpfte sie lautstark aus, worauf Januaria verschwand. Claudia begrüßte die beiden Gäste und lief die Treppe hinauf, um Umhang und Hut zu holen und ein paar Habseligkeiten in eine Ledertasche zu stopfen. Als sie wieder hinunterkam, gab sie Poppaoe und Polybius einen Abschiedskuß, winkte den Stammgästen zu und trat vor die Tür, wo sich eine kleine Menschenansammlung gebildet hatte, um Burrus’ Gefolgschaft zu begaffen. Die Söldner erkannten Claudia und grüßten sie mit einem Grunzen. Jeder andere hätte das als Beleidigung aufgefaßt, doch Claudia wußte, daß dies die herzlichste Begrüßung war, zu der diese düsteren Männer fähig waren. Sie hatten ein sanftes Pferd für sie mitgebracht. Burrus half ihr beim Aufsitzen, und sie machten sich auf zum Stadttor und zur Via Latina. Die Geschäfte des Tages gingen dem Ende zu, und die Menschen strömten aus der Stadt hinaus. In den Straßen drängte sich die Menge, die Leute schoben und stießen einander, die Luft war erfüllt von Stimmengewirr in den verschiedensten Sprachen, dem Geschrei von Kindern und dem geschäftigen Treiben an den Marktständen, die jetzt abgebaut wurden. Die Handwerker benutzten die letzten Stunden des Sommertages, um ihre Arbeit zu beenden. Vor den Eingängen zu ihren Werkstätten und zu den Restaurants brüllten Straßenhändler und Marktschreier, die unbedingt noch vor Sonnenuntergang etwas verkaufen wollten. Die staubige Luft roch nach Fett, Talgkerzen, verbranntem Öl, Weihrauch, gekochtem Fleisch, getrocknetem Fisch und vor allem nach dem Schweiß der erhitzten, müden Menschen. Garnisonssoldaten mischten sich unter die Kunden an den Weinständen und Bierläden und wichen nur widerstrebend der Sänfte eines reichen Adeligen aus. Claudia liebte dieses
Treiben. Es wimmelte von Menschen der verschiedensten Nationalitäten: Es gab Äthiopier und Nubier in ihren Pantherund Leopardenfellen, ägyptische Priester in prunkvollen weißen Gewändern und mit ölglänzenden rasierten Schädeln, Syrier in gestreiften Umhängen mit verschwitzten dunklen, bärtigen Gesichtern. Wenn der Tag sich neigte, erwachte natürlich auch Roms Unterwelt zum Leben: Die Zauberer und Hexer, die Straßenräuber und Taschendiebe, sie alle drängten sich mit Tänzern, Huren und Zuhältern auf den Straßen, um ihr Unwesen zu treiben. Claudias Gruppe machte einen Bogen um die Hauptstraße und überquerte einen Platz, auf dem die vigiles mit einer Jugendbande kämpften, die ein Schwein aus dem obersten Stockwerk eines Wohnhauses geworfen hatte. Ein verrückter alter Mann tanzte um die blutige Masse herum und sang dabei ein wirres Lied. Ein paar Gladiatoren versammelten sich auf den Stufen des Tempels, um einem Gott ihren Dank darzubringen. Claudia fragte sich, was Murranus wohl an diesem Abend tun würde. Sobald sie den Platz überquert hatten, setzten sich Burrus und sein Gefolge an die Spitze der Gruppe und machten ihnen den Weg zu einer breiten, von Statuen gesäumten Straße frei. Sie mußten langsam gehen. Sie hatten die Armenviertel hinter sich gelassen und befanden sich jetzt auf der Straße, die zu den Stadttoren führte. Hier herrschte ein noch größeres Gedränge. Die Reichen wurden von ihren Sklaven getragen, die Armen schoben alte, in Decken gehüllte Verwandte in Schubkarren vor sich her. Sie passierten Säulengänge und erreichten schließlich das Stadttor, das von samaritischen Söldnern bewacht wurde, die an die Wände oder hölzerne Pfosten gelehnt dastanden und jeder attraktiven Frau nachpfiffen. Der Lärm, der Staub, die Hitze und die Fliegen machten jegliches Gespräch unmöglich. Burrus war in düsterer
Stimmung; Timothaeus hingegen schien unbedingt mit ihr reden zu wollen. Im Verlauf der Via Latina wurden die Gebäude weniger und der Duft angenehmer. Sie kamen an den Friedhöfen der Stadt vorbei; die Grabsteine erhoben sich dunkel gegen den hellblauen Himmel, düstere Mahnmale der Vergänglichkeit des Lebens. Irgendwo in der Menschenmenge stimmte ein Junge eine schöne, heitere Melodie an, er sang von einem Haus, in dem im Schatten eines Olivenhains ein einladender Tisch stand. Claudia hörte aufmerksam zu, doch Timothaeus hatte es sehr eilig und zeigte seinen kaiserlichen Paß, um schneller zwischen den Menschen hindurchzukommen. Schließlich erreichten sie die Kreuzung, auf der sich Holzpfosten erhoben und wo auf dem Boden Menschenschädel lagen – eine Hinrichtungsstätte. Hierher trugen Verbrecher die Querlatte des Kreuzes, an das sie dann genagelt wurden. Neben den Pfosten hatte jemand eine Öllampe entzündet und einen Strauß Wiesenblumen hingelegt. Claudia dachte, was das wohl zu bedeuten habe in der verkehrten Welt, in der sie lebte und in der das römische Reich jetzt mit einer religiösen Sekte, deren Gott es ans Kreuz gebracht hatte, Geschäfte machte. Sie erinnerte sich an die Worte von Sylvester, musterte Timothaeus’ banges Gesicht und fragte sich, was sie in der Villa Pulchra wohl erwarten mochte. Sie betete still zu jedem Gott, der ihr zuhörte, daß Murranus in ihrer Abwesenheit auf sich aufpassen und keinen Unfug anstellen möge. Sie legten eine Pause ein, um an einem Brunnen Wasser zu trinken. Claudia bewunderte den kühlen, dunklen Lorbeer, die Zypressen und Olivenbäume und das – wenn auch von der Sonne versengte – Grün der Sträucher und des Grases links und rechts von ihr. Über ihnen segelten Vögel durch die Luft, während im Gras neben der Straße Grillen ihr Lied sangen. Burrus blaffte einen Befehl, und sie stiegen wieder auf ihre
Pferde. Sie überquerten Bäche und Ströme, die Hufe der Pferde klapperten nervös. Immer wieder wurden sie von Dienstboten und Kindern gegrüßt, die von einer Villa oder einem Gehöft zu ihnen rannten. Nach einer Weile zügelte Timothaeus sein Pferd und ritt neben Claudia her. Sie hatten sich zwar schon am Kaiserhof kennengelernt, doch Timothaeus ließ jetzt jegliches Protokoll und jede Etikette beiseite und schwatzte mit ihr wie mit einer Schwester, die er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. In hastigen Sätzen schilderte er ihr den Diebstahl des heiligen Schwertes, den Aufruhr, den dieser hervorgerufen hatte, und den darauffolgenden brutalen Mord an Dionysius. »Keiner weiß, wer es getan hat!« Timothaeus schüttelte den Kopf, als rede er mit sich selbst. »Kein Mensch, aber ich habe eine Theorie. Ich meine, wenn man jemanden ermorden will, warum schlägt man ihn dann nicht einfach auf den Kopf und läßt ihn liegen? Aber diese arme Teufel wurde gefesselt, durch den Garten geschleift und wie ein Verbrecher im Amphitheater angepflockt.« Er beugte sich mit weit aufgerissenen Augen zu ihr. »Er muß verblutet sein.« »Und niemand hat seine Schreie gehört?« »Er war geknebelt, mit einem Stück hartem Leder.« »Und du hast eine Theorie?« »O ja.« Timothaeus nahm die Zügel in eine Hand und senkte die Stimme, als würde Burrus sie belauschen. Der Germane schien sich jedoch mehr darauf zu konzentrieren, den Weinschlauch zu leeren, den er von seinem Sattelknauf genommen hatte. »Ich glaube«, fuhr der Haushofmeister atemlos fort, »daß Dionysius von den anderen Philosophen umgebracht wurde. Was das für Mistkerle sind, eifersüchtig auf dieses, eifersüchtig auf jenes! Ich nehme an, sie haben gestritten und beschlossen, ihn zu töten.«
»In diesem Fall«, antwortete Claudia lächelnd, »hätten sie doch genau das tun können, was du gesagt hast, ihn einfach auf den Kopf schlagen und liegenlassen.« »Ach ja.« Timothaeus verzog angestrengt das Gesicht und versuchte, über dieses große Rätsel nachzudenken. Natürlich hatte er gleich seine Antwort parat: daß die Philosophen grausame Scheusale waren. Claudia hörte nur mit halbem Ohr zu. Beklommen wurde ihr klar, daß sie im Begriff war, eine Schlangengrube zu betreten. Aus Timothaeus’ Bericht hatte sie bereits den Schluß gezogen, daß der Mord an Dionysius nicht im Affekt begangen wurde, sondern eine kaltblütig geplante, grausame Tat war, darauf angelegt, das Opfer so lange wie möglich leiden zu lassen. Burrus, der den Weinschlauch geleert hatte und nach mehr Wein lechzte, trieb sie jetzt alle zum Galopp an. Die Luft wurde kühler, Schatten fielen auf den Weg, und der rotgoldene Himmel wurde allmählich dunkel. Schließlich erreichten sie den gewundenen Pfad, der zur Villa Pulchra führte. Claudia war vor vielen Jahren einmal da gewesen, aber noch immer überrascht, wie groß und luxuriös die Gebäude waren, die sich auf der Hügelkuppe drängten. Sie passierten Wachposten, Feldwachen, die an ihren Lagerfeuern hockten. Eine wahre Allee von Feuern erstreckte sich bis zu der hohen Mauer mit dem Haupttor. Timothaeus verlangte Einlaß; ein Offizier kam heraus, prüfte die Pässe, und die Tore wurden geöffnet. Sie betraten den Innenhof, der nach Ställen roch. Soldaten und Dienstboten saßen auf Bänken, tranken, plauderten und würfelten. Claudia stieg ab. Stallknechte kümmerten sich nun um ihr Pferd, und alle Wehwehchen waren schnell vergessen, als Timothaeus mit ihr einen raschen Rundgang durch die Villa unternahm. Zuerst gingen sie in den Peristylgarten, der wunderbar duftete und von Hunderten Öllampen in
Alabasterbehältern erhellt wurde, die in der Dämmerung wie Glühwürmchen leuchteten. Claudia sah saftig-grüne Rasenflächen, die von schmalen Kanälen bewässert und von zahlreichen Statuen von Göttern und Göttinnen, Nymphen und Faunen gesäumt wurden. Sie erblickte Springbrunnen und Becken mit kristallklarem Wasser, von Schilf eingefaßte Karpfenteiche, Säulengänge, Wände und Fußböden aus Marmor, phantastische Gemälde, wunderschöne Ornamente, leuchtend bunte Wandteppiche und elegante Möbel. Bewacht von Soldaten aus den kaiserlichen Regimentern und von Söldnern aus dem persönlichen Gefolge des Kaisers und seiner Mutter, schritten sie nun durch die Korridore. In den Küchen, den Tranchierräumen, Bäckereien und Anrichtezimmern hasteten schweißüberströmte Dienstboten umher. Das kaiserliche Bankett hatte bereits begonnen, die Türen waren geschlossen, also hielten sie sich lieber fern vom Triklinium, in dem der Kaiser und seine Gäste beim sanften Klang der Musik des kaiserlichen Orchesters speisten. »Der Tod von Dionysius«, bemerkte Timothaeus scharf, »hat ihnen jedenfalls nicht den Abend verdorben.« Er brachte Claudia in die Küchen, wo sie eine leichte Mahlzeit bekam: würzige Würstchen, Haferpflaumen und einen Becher gekühlten Weißwein. Danach begleitete er sie zu ihrem Zimmer, einer kleinen Kammer mit einem Bett, einem Hocker, einer Truhe und einem Wandhaken für ihre Kleider. Sie durfte sich waschen und umziehen, bevor sie in das Vorzimmer der Kaiserin geführt wurde, einen Raum mit weißen Wänden und einem Marmorfußboden, dessen leuchtende Farben die medaillonartigen dunkelblauen und roten Bilder in der Mitte jeder Wand noch betonten. Claudia setzte sich auf eine Liege und betrachtete eines dieser Gemälde, das irgendeinen Herrscher bei seinem triumphalen Einzug in Rom zeigte. Sie war fasziniert von der
Detailgenauigkeit; wie die Pferde vor den Streitwagen die Köpfe drehten, das war so lebensecht, daß sie vermeinte das Klappern der Hufe oder Wiehern der Pferde zu hören. »Da ist ja mein Mäuschen!« Claudia schreckte auf. Die Kaiserin hatte die Tür geöffnet und lehnte graziös am Türpfosten. Claudia sprang auf und wollte niederknien, doch die Kaiserin, deren Gesicht gerötet war, nahm sie bei der Hand, ließ sich neben ihr auf der Liege nieder und starrte hinauf zu dem Bild. »Das soll der große Cäsar sein, Claudia, wie er nach der Eroberung Ägyptens Kleopatra nach Rom mitbrachte. Ich suche sie immer darauf, kann sie aber nicht finden. Ein faszinierendes Gemälde, nicht wahr? Wenn man es lange genug anschaut, hat man das Gefühl, selbst Teil des großen Triumphes zu sein. Nun, meine Kleine, du gehörst jetzt wieder zu meiner Welt, und ich möchte, daß du beobachtest, untersuchst und die Ohren aufsperrst. Hattest du eine angenehme Reise? Gut.« Helena wartete nicht auf eine Antwort. »Und wie geht es Murranus? Du solltest den Göttern danken, daß er Spicerius nicht getötet hat.« Sie lächelte über Claudias Überraschung und küßte sie sanft auf die Stirn. »Manchmal, mein Mäuschen, bist du schlau wie eine Schlange, dann wieder unschuldig wie eine Taube. Daran hast du noch nicht gedacht, oder?« »Nein, Eure Exzellenz.« »Augusta genügt«, meinte Helena lächelnd. »Ach, verzeih mir meine Offenheit. Ich habe ein Glas Falerner Wein zuviel getrunken. Aber es ist so«, sagte sie und streichelte Claudias Hand, »da hätte Murranus einen schrecklichen Fehler begehen können. Es war offensichtlich, daß Spicerius Probleme hatte. Hast du gesehen, wie ich zugeschaut habe? Ich war fasziniert. Ich vergaß sogar den Brief, den ich las. Jeder andere Gladiator
hätte die Gelegenheit ausgenutzt, und damit hätten die Probleme erst begonnen.« »Was wäre denn geschehen?« fragte Claudia. Sie hatte vergessen, wie müde sie eigentlich war und daß sie mit der Kaiserin sprach. »Ich weiß es nicht genau.« Helena nagte an ihrem Mundwinkel. »Das ist eine interessante Frage. Mein Sohn wird es wissen, ich werde mich bei ihm erkundigen. Aber komm jetzt.« Sie stand auf und zog Claudia mit sich. »Hier drinnen ist es heiß.« Sie zeigte auf die Öllampen auf dem Tisch. »Wenn ich die noch länger anschaue, schlafe ich ein.« Die Kaiserin ging mit ihr hinaus in einen kleinen Garten, eines jener privaten Paradiese, die allein der kaiserlichen Familie vorbehalten waren, mit einem Rasen, Blumenbeeten und marmornen Sitzbänken um einen Springbrunnen herum, in dessen Mitte ein Amor stand, der einen Fisch in der Hand hielt. Der Garten war umgeben von einer hohen Mauer aus roten Ziegelsteinen ohne Tor – er war nur vom Palast aus zu erreichen. »Siehst du«, erklärte Helena und nahm mit dem Rücken zum Springbrunnen auf der Marmorbank Platz, »hier kann man sich hersetzten, reden und die Tür im Auge behalten. Nicht wie in diesen anderen Gärten, wo hinter jedem Strauch oder sogar auf einem Baum ein Spion hocken kann, was? O ja«, sagte sie lachend, »so etwas soll schon vorgekommen sein. Also, Claudia, jetzt vergiß deinen Gladiator, und hör zu, was ich dir zu sagen habe.« Helenas Beschreibung des Diebstahls des heiligen Schwertes und des Mordes an Dionysius ähnelte der von Timothaeus, nur daß die Kaiserin wie üblich wesentlich finsterere Motive dahinter vermutete. »Vielleicht wurde das Schwert gestohlen«, schloß sie, »um mich zu blamieren oder um den Verdacht auf einen der hier
versammelten Christen zu lenken. Schließlich weiß ich, daß es ihnen nicht gefällt, daß eine Heidin wie ich ihre heiligen Reliquien sammelt.« »Aber Ihr seid doch keine Heidin, Augusta. Ihr unterstützt den christlichen Glauben.« »Ich bin noch nicht getauft«, flüsterte Helena, »und mein Sohn auch nicht. Eines Tages vielleicht, aber bis dahin bin ich in den Augen vieler Christen nichts weiter als eine Heidin.« »Und der Mord an Dionysius?« »Das«, meinte Helena und tupfte sich Wasser aus dem Springbrunnen auf ihr Gesicht, »könnte ebenfalls das Werk eines Unruhestifters sein, der den Groll der beiden christlichen Glaubensrichtungen aufeinander schüren will.« »Oder?« fragte Claudia. »Möge der Herr des Lichts es verhüten, aber der Mord an Dionysius ist vielleicht wirklich das Werk der Christen selbst. Deshalb bist du hier, Claudia.« Helena erhob sich und tätschelte sanft Claudias Wange. »Morgen früh beginnst du dich umzusehen, deine Fragen zu stellen.« Sie schlenderte davon, blieb dann aber stehen und blickte über die Schulter zurück. »Geh zu Bett, mein Mäuschen, und denke stets daran: Wo es Mäuse gibt, ist immer auch eine Katze!«
»Merkwürdig, nicht wahr, daß die weißen Lotusblumen nur nachts und die blauen nur am Tag blühen.« Claudia wirbelte herum. Der Mann im Schatten hinter ihr trug eine lange Tunika und hatte einen Arm in den Falten seiner Toga verborgen. In seiner freien Hand glitzerte ein Krummschwert. Sein Besitzer ließ es in einem raschen Bogen hochschnellen, als wolle er die Luft zwischen ihnen zerschneiden. Claudia machte keine Bewegung. Wieder schnitt das Schwert durch die Luft, dann hielt es der Fremde, die
Spitze nach oben gerichtet, mit der flachen Seite der Klinge an sein Gesicht. »Claudia, ich grüße dich.« »Manch einer würde sagen, du versuchst mir Angst einzujagen.« »Und manch einer würde sagen, das kann man gar nicht. Ich weiß alles über dich, Claudia. Die Augusta nennt dich ihr ›Mäuschen‹, wenngleich, wie ich vermute, ein Mäuschen mit sehr scharfen Zähnen und Krallen.« Gaius Tullius trat ins Licht. Claudia hatte ihn schon gesehen, aber nur aus der Ferne, doch sie hatte das scharfgeschnittene, schmale Gesicht mit den schwermütigen Augen sofort erkannt. Gaius war Berufssoldat, einer der Trinkkumpane des Kaisers, ein Mann, dem Konstantin blind vertraute. Jetzt deutete er eine Verbeugung an, legte das Schwert auf den Boden und setzte sich neben sie an den Rand des Teiches. Claudia blieb reglos sitzen und beobachtete den Soldaten, wie er ins Wasser blickte und es mit den Fingern durchkämmte, worauf ein Karpfen erschreckt davonschwamm. »Ich habe zuviel getrunken«, seufzte er und schnipste das Wasser von seinen Fingern. »Kaiserliches Bankett hin oder her, ich habe dennoch Pflichten und muß die Wachen kontrollieren. Ich weiß, daß du vor kurzem hier angekommen bist; ich habe Timothaeus getroffen. Der Mann rennt herum wie ein verschrecktes Huhn, aber er ist ein netter Kerl.« »Ich soll dich grüßen«, antwortete Claudia. »Spicerius, der Gladiator, hat gesagt, du kannst dir dein überhebliches Getue sparen, denn er erinnert sich noch daran, wie ihr als Jungen mit bloßem Hintern…« »Das ist so lange her«, antwortete Gaius wehmütig. »Seither ist so viel geschehen.« Er zeigte auf die Lotusblüte. »Ich habe in Ägypten gedient. Dort habe ich die Tempel in Memphis, Karnak und Luxor besucht. Die Lotusblume hat mich schon
immer fasziniert. Man sieht sie dort überall als Ornament, sie ist ein häufig verwendetes Symbol.« Er beugte sich ein wenig näher und sagte mit einem Lächeln in den Augen: »Aus ihr«, flüsterte er, »wird auch ein wohlriechendes Parfüm hergestellt, Kiphye. Angeblich hat Kleopatra darin gebadet.« »Ich dachte, sie hätte Eselsmilch verwendet?« Gaius zog eine Grimasse. »Die duftet nicht so süß. Jedenfalls«, fuhr er dann achselzuckend fort, »werden in zehn Jahren überall christliche Symbole vorherrschen. Alles ändert sich.« »Bist du gegen sie?« »Es ist mir egal, Claudia. Ich bin Soldat. Ich bin Anhänger des Sonnengottes Mithras und kämpfe gegen die Feinde des Reiches.« »Timothaeus hat mir erzählt, daß du die Leiche von Dionysius gefunden hast?« »Ja, angepflockt wie eine Tierhaut beim Gerber. Manchmal überrascht es einen, wieviel Blut der menschliche Körper enthält.« »Hast du jemanden im Verdacht?« »Vielleicht waren es seine Kollegen.« Gaius blickte zum Himmel hinauf. »Oder einer seiner Freunde. Ich habe dich angelogen«, murmelte er dann. »Ich bin nicht nur hier, weil ich Wachdienst habe. Ich habe nach dir gesucht, um dir das hier zu bringen.« Er kramte in den Falten seines Gewandes und zog eine kleine Schriftrolle heraus, die er Claudia reichte. »Ich habe Dionysius’ Leiche ins Totenhaus bringen lassen«, erklärte er. »Das ist nicht mehr als ein gemauerter Schuppen mit einem Ziegeldach. Dann bin ich in Dionysius’ Zimmer gegangen. Ich dachte, daß man ihn vielleicht hatte ausrauben wollen, doch in dem Zimmer war alles in Ordnung, wenn es darin auch nicht allzu sauber war- schließlich war Dionysius
Philosoph. Er hatte ein paar Bücher, einige Manuskripte. Ich habe sie mir angesehen und fand das hier.« Gaius lächelte schwach. »Ich weiß, daß du für die Kaiserin arbeitest!« Er klopfte Claudia auf die Schulter und stand auf. »Lies es. Ich bin nicht sicher, ob das ein Entwurf oder das Original ist.« Er nahm sein Schwert und ging davon. »Gaius! Darf ich dich Gaius nennen?« »Natürlich«, antwortete er lächelnd und kam zurück. »Hast du an der Leiche irgend etwas entdeckt, irgendeinen Hinweis auf den möglichen Mörder?« Er schüttelte den Kopf. »Und das heilige Schwert?« Gaius brach in schallendes Lachen aus. »Ich habe tief und fest geschlafen, als es gestohlen wurde, aber wie, warum und von wem, ich weiß es nicht.« Er wollte weitersprechen, als ein schriller Schrei die Luft zerriß, gefolgt von schmetterndem Trompetenklang und dem Klirren von Becken – Alarm.
KAPITEL 4 »Was für Zeiten! Was für Sitten!« Cicero, Reden gegen Catilina, I
Sie hasteten durch Korridore und Kolonnaden, durchquerten Gärten und Tore. Als sie schließlich beim Totenhaus am anderen Ende des Anwesens ankamen, war es fast gänzlich niedergebrannt. Die Flammen loderten so heftig, die Hitze war so sengend, daß das Dach bereits eingebrochen und die vordere Wand am Einstürzen war. Dienstboten, Beamte, Soldaten und Mitglieder der kaiserlichen Familie liefen herbei, aber man konnte nichts mehr tun. Timothaeus versuchte eine Kette von Wasserträgern zu organisieren, doch es war sinnlos. Burrus rannte mit einem Eimer zum Feuer, war jedoch so betrunken, daß er den Eimer mit ins Feuer warf und im Schwung beinahe selbst hinterhergeflogen wäre, hätte man ihn nicht festgehalten. Die Germanen begannen zu singen und zu tanzen, sie stimmten einen ihrer wilden Gesänge an, bis ihnen die Kaiserin mit schneidender Stimme zu schweigen befahl. Claudia blickte sich um. Der Rauch war so stark, daß sie husten mußte. Die kaiserliche Gesellschaft hatte unter einem ausladenden Bergahornbaum Schutz gesucht. Claudia trat hinzu. Sylvester stand ganz ruhig hinter der Kaiserin; Konstantin saß mit gerötetem Gesicht, die Hände auf den Knien, auf einem Feldhocker und genoß das Spektakel. »War ein Lebender da drinnen?« brüllte er. »Nur zwei Leichen, Eure Exzellenz«, schrie Timothaeus zurück. »Dionysius und ein Wanderer aus dem Wald, ein Bettler, der tot auf dem Pfad vor der Villa gefunden wurde.«
»Nun, jetzt sind sie wirklich tot, gesotten, gebraten und zu Asche verbrannt!« scherzte der Kaiser. Helena winkte Claudia zu sich. Konstantin warf ihr eine Kußhand zu. Sylvester, der noch immer hinter dem Kaiser stand, deutete eine Verbeugung an, während Chrysis, dessen dickes, eingeöltes Gesicht vor Vergnügen strahlte, ihr die Zunge herausstreckte. »Ein schönes Feuer«, seufzte der Kaiser. »Toll, den Flammen zuzusehen.« »Das war Brandstiftung«, fuhr ihn Helena an. »Ein kaiserliches Gebäude ist zerstört worden.« »Brandstiftung?« Konstantin blickte zu seiner Mutter auf. »Bei allem, was heilig ist, wer sollte denn Leichen verbrennen wollen?« »Vielleicht der kaiserliche Schatzmeister?« Chrysis kicherte boshaft. »Schließlich hat er so die Begräbniskosten gespart.« »Brandstiftung?« fragte Konstantin. Jetzt war jegliche Heiterkeit aus seinem Gesicht gewichen. »Sieh dir das Feuer doch an«, antwortete Helena verärgert. »Wieso schlagen die Flammen derart hoch? Timothaeus«, rief sie, »war etwas Leichtentzündliches in dem Haus?« »Nichts, Augusta.« Timothaeus trat zu ihr. Sein Gesicht war voller Asche. »Überhaupt nichts.« Unaufgefordert setzte er sich ins Gras und wischte sich mit einem Lappen das Gesicht ab. »Wieso Brandstiftung?« wiederholte Rufinus, der Bankier, die Frage des Kaisers. Helena stupste Claudia an. »Dionysius wurde ermordet.« »Sprich lauter, Mädchen!« blaffte Konstantin. »Dionysius wurde ermordet«, wiederholte Claudia laut, »und seine Leiche wurde ins Totenhaus gebracht. Ich nehme an, sie
hätte irgendwelche Hinweise auf die Identität des Mörders liefern können.« »Was sollte das gewesen sein?« fragte Helena. »Er wurde wie ein Schinken aufgeschnitten und ist verblutet. Ich habe mir seine Leiche genau angesehen.« »Augusta«, sagte Claudia lächelnd, »Ihr habt mir eine Frage gestellt, und ich habe geantwortet. Ich weiß nicht, was der Brandstifter verbergen wollte.« »Es kann auch jemand anderes gewesen sein.« Chrysis’ Stimme triefte vor Boshaftigkeit. »Oh, wie diese Christen einander lieben! Behaupten sie nicht, daß jene, die ihren Glauben angreifen, im Höllenfeuer schmoren werden, Körper und Geist?« »Nicht auf meine Kosten, nein«, brummte Konstantin und erhob sich. »Chrysis, finde den Mistkerl, der für dieses Feuer verantwortlich ist, und wenn er keine gute Erklärung dafür hat, schlage ihn vor den Toren ans Kreuz. Mutter, ich habe genug gesehen. Wir müssen miteinander reden.« Die kaiserliche Gesellschaft begab sich zurück in die Villa. Claudia blieb unter dem Bergahorn stehen und las im Licht des Feuers die Schriftrolle, die ihr Gaius gegeben hatte. Der Brief war kurz und bündig. Er trug die Unterschrift von Dionysius und war an Athanasius, den Führer der athanasischen Glaubensrichtung, adressiert. In diesem Brief schrieb Dionysius, er habe gebetet, gefastet und lange und gründlich nachgedacht und jetzt eingesehen, daß sein Weg falsch gewesen sei. Daher würde er, geleitet vom Heiligen Geist, zum angemessenen Zeitpunkt seinem Irrglauben öffentlich abschwören, um die Vergebung des Bischofs zu erlangen. »Verdammt im Leben! Verdammt im Tod!« Die Stimme war voll und laut. Claudia blickte auf. Vor ihr standen mit dem Rücken zum Feuer wie Schatten drei Männer.
»Entschuldigung«, sagte sie lächelnd und versteckte hastig den Brief, »sprichst du von mir oder vom Verstorbenen?« Der Mann in der Mitte trat vor. Er war klein und gedrungen, hatte ein schmales Gesicht mit brennenden Augen und trug eine schlichte dunkle Tunika über dicken, ausgeleierten Ledergamaschen. »Mein Name ist Athanasius.« Er deutete auf seine beiden Begleiter. »Das sind Aurelian und Septimus. Wir haben uns gefragt, wer da mit der Kaiserin sprach, und irgend jemand hat uns gesagt, daß du Claudia bist, die Botin der Augusta. Andere wiederum meinen, du wärst ihre Spionin.« Athanasius beugte sich hinunter; seine geöffneten Lippen zeigten schöne, starke Zähne. »Presbyter Sylvester hält sehr viel von dir.« Claudia trat ein wenig zur Seite, um die drei Athanasianer besser sehen zu können. Athanasius selbst mit seinem harten Mund und dem kantigen Kinn strahlte Kraft aus. Sein kurzgeschnittenes rötlichbraunes Haar erinnerte sie an einen Soldaten, während seine Kleider mehr an einen Söldner denken ließen als an einen Mann des Wortes. Seine beiden jungen Begleiter hatten glatte Gesichter und rasierte Schädel und waren wohl eher Jünger als Gleichgestellte. Sie waren ebenfalls recht einfach gekleidet: in lange Gewänder, die in der Taille mit einer Kordel zusammengehalten wurden, und sie hatten Sandalen an den Füßen. »Das sind meine Schüler«, erklärte Athanasius. »Sie wurden getauft und haben den einzig wahren Glauben angenommen. Bekennst du dich zum wahren Glauben, Claudia?« »Ich bekenne mich zur Wahrheit«, erwiderte sie und deutete auf das Feuer, »und ich frage mich, wie gewiß auch euer Gott sich fragt, warum Dionysius auf so grauenhafte Art sterben mußte und seine Leiche derart geschändet wurde. Habt ihr Christen denn keine Begräbnisriten?« »Allein der Geist zählt; das Fleisch ist nicht wichtig.«
»Auch deines nicht, Magister? Wenn Dionysius ermordet wurde, warum gerade er? Ersetzt bei der Debatte jetzt Mord die Argumente?« »Wir wissen nicht, warum Dionysius gestorben ist«, antwortete Athanasius. »Und es kümmert uns nicht wirklich«, warf Septimus wie ein trotziges Kind ein. »Er hat seine gerechte Strafe bekommen.« Sogar von ihrem Standort aus konnte Claudia in dem schwachen Licht Septimus’ mißbilligende Miene sehen. Sie wies auf das Feuer und meinte: »Die Leute werden fragen, ob ihr dafür verantwortlich seid.« »Wir sind nicht dafür verantwortlich«, erklärte Athanasius. »Warum bist du so sicher?« Claudia trat einen Schritt vor. »Etwa weil Dionysius vorhatte, wieder die Seiten zu wechseln und eure Argumente anzuerkennen?« Athanasius wirkte überrascht; seine beiden Begleiter stießen ein abfälliges Zischen aus. »Er wollte die Seiten wechseln«, fuhr Claudia erbarmungslos fort. »Ich habe einen Brief gesehen, den Dionysius an dich, Athanasius, diktiert hat, in dem er den Arianern abschwört und zu eurer Glaubensrichtung zurückkehrt, die, wenn ich es richtig verstehe« – Claudia schloß die Augen –, »darin besteht, daß euer Jesus Christus wesensgleich mit Gottvater ist.« Der Rauch ließ Claudia husten. Sie hatte Schleim in der Kehle, sie drehte sich um und spuckte ihn aus; sie wußte, daß diese Männer ein Ausspucken vor ihnen als Beleidigung auffassen würden. »Ihr sagt, ich wäre eine Spionin, die Botin der Kaiserin, also gebt mir eine Nachricht, die ich ihr überbringen kann.« »Nämlich?« »Wo wart ihr, als Dionysius umgebracht wurde?«
»Wir hatten eine Beratung«, brauste Athanasius auf. »Wir haben Gedanken ausgetauscht. Du kannst uns seinen Tod nicht in die Schuhe schieben.« Claudia starrte die selbstgerechten Philosophen an. Athanasius starrte zurück, wandte aber dann den Blick ab. Justin trat zu ihnen. »Selbst im Tod«, jammerte er, »lassen sie uns nicht in Ruhe.« Athanasius fragte sofort, wen er mit »sie« meinte, und es entstand ein Streit. Claudia ging gelangweilt weg. Die Flammen verglommen, die vordere Wand des Totenhauses war nun vollkommen eingestürzt; man sah nur noch ein paar verkohlte Holzstücke. Sie kauerte sich ins Gras und zupfte an einer Wiesenblume. Sie war sicher, daß der Brand gelegt worden war, und gewiß von demjenigen, der Dionysius getötet hatte. Vielleicht um die Leiche zu schmähen, aber da war sie sich nicht so sicher. Brandstiftung mußte man planen, so etwas erforderte Zeit und stellte für den Täter ein Risiko dar. Sie erinnerte sich an den Alarm und wie sie mit Gaius herbeigelaufen war. Als sie hier angekommen waren, hatte das Feuer schon das ganze Gebäude erfaßt gehabt, also mußte es zu brennen begonnen haben, während sie am Brunnen gesessen hatten. Der Brandstifter hatte wahrscheinlich im Innenraum des Totenhauses Öl verschüttet und dann eine Fackel hineingeworfen. Aber warum? Sie stand auf und sah sich um. Die Schaulustigen verließen den Ort allmählich. Gaius unterhielt sich am Eingang der Villa mit einigen seiner Soldaten. Sie ging hin und wartete, bis der Hauptmann sie bemerkte. Er entschuldigte sich und kam zu ihr. »Claudia, du solltest schlafen gehen. Das war genug Aufregung für einen Tag.« Er wedelte mit der Hand, um eine Rauchschwade zu vertreiben. »Zweifellos war es Brandstiftung.«
»Waren Wachen da?« wollte Claudia wissen. »Außerhalb der Mauer am anderen Ende des Anwesens, ja. Ich dachte doch nicht, daß man zwei Leichen bewachen müßte. Offenbar hat ein Dienstbote den Rauch gerochen und ist herausgelaufen. Doch da züngelten die Flammen schon durch die Tür, also wurde Alarm gegeben.« »Warum verbrennt jemand zwei Leichen?« fragte Claudia. Gaius schnitt eine Grimasse. »Kannst du mir genau beschreiben«, fuhr Claudia fort, »wie ihr die Leiche von Dionysius ins Totenhaus gebracht habt?« Gaius warf einen Blick auf seine Männer und zog mit dem Daumennagel die Umrisse seiner Lippen nach. »Ich habe die Leiche entdeckt«, begann er langsam zu erzählen. »Auf einer Patrouille; es war eher ein Spaziergang. Die Kaiserin wurde gerufen und der Arzt des Hauses, ein geschwätziger alter Mann mit wäßrigen Augen. Ich erinnere mich so genau an ihn, weil ich über ihn lachen mußte. Er untersuchte die Leiche sorgfältig und verkündete dann: ›Ja, Eure Exzellenz, der Mann ist tot.‹ Selbst Helena mußte schmunzeln. Einer meiner Männer versuchte, die Stricke zwischen den Hand- und Fußgelenkengelenken des Toten und den Pflöcken durchzuschneiden, doch sie waren so straff gespannt, daß wir die Pflöcke herausziehen mußten. Dann legten sie die Leiche auf eine Bahre.« »Die Stricke und Pflöcke waren noch an den Hand- und Fußgelenken?« »Ja, ja, da bin ich sicher! Die Leiche wurde ins Totenhaus gebracht. An den Wänden sind Totenbänke, und es stank nach dem alten Bettler, der am Morgen gefunden worden war. Jedenfalls legten wir Dionysius auf eine Totenbank und gingen.« »Und was geschah dann?«
»Ich werde mich erkundigen, aber ich nehme an, ein Sklave bekam den Auftrag, die Leiche auszuziehen und zu waschen.« »Und was ist mit Dionysius’ Kleidern, den Stricken und Pflöcken passiert?« »Wahrscheinlich sind sie im Totenhaus geblieben«, antwortete Gaius, »es sei denn, der Sklave hat sie auf den Abfallhaufen geworfen. Warum?« Er sah Claudia aufmerksam an. »Wenn es Brandstiftung war«, erklärte sie, »wollte der Täter etwas verbergen. Ich frage mich, was? Aber du hast recht.« Sie blickte hinauf zum Himmel. »Es muß schon bald Mitternacht sein.« Sie dankte Gaius und ging zurück in die Villa. Einmal blieb sie stehen, um eine Büste des Vaters des Kaisers zu bewundern. Rufinus und Chrysis kamen aus einem Raum und sprachen leise miteinander. Als sie Claudia sahen, verstummten sie. Chrysis starrte sie böse an. Ihre Anwesenheit und ihr Einfluß auf die Kaiserin paßten ihm nicht. Rufinus wollte schon lächeln, drehte sich dann aber weg. Plötzlich schnipste er mit den Fingern und eilte auf sie zu. »Claudia, ich wußte, ich wollte dich etwas fragen. Murranus – geht es ihm gut?« »Es ist ihm alles ein wenig unangenehm, aber er ist bereit, wieder zu kämpfen.« »Ich weiß, ich weiß.« Der Bankier kratzte sich den Kopf mit den schütteren silbergrauen Haaren. Sein hageres Gesicht wirkte angespannt. »Ich hoffe, das passiert nicht wieder«, sagte Chrysis jetzt. »Ich habe eine hohe Wette auf deinen Freund abgeschlossen, Rufinus ist mein Zeuge. Wir dachten, wir würden zumindest unser Geld zurückbekommen.« »Solch ein Vertrauen hattet ihr zu Murranus?«
»Ich kenne Spicerius«, entgegnete Chrysis und beugte sich verschwörerisch zu ihr. »Er trinkt zuviel und verbringt zuviel Zeit in den Armen der göttlichen Agrippina. Es heißt, er wird langsamer. Eigentlich habe ich zwei Wetten abgeschlossen: die erste, daß Murranus gewinnen, und die zweite, daß binnen einer Stunde jemand sterben würde. Ist es nicht so, Rufinus?« »Er hat diese Wette bei mir abgeschlossen«, bestätigte der Bankier. »Ganz Rom diskutiert nun darüber, was wir tun sollen. Hat Murranus gewonnen? Hat Spicerius verloren? Sollte das Geld rückerstattet werden?« »Und was habt ihr entschieden?« Claudia bemühte sich, ganz ruhig zu sprechen. »Nun, wie du weißt«, sagte Rufinus mit einem säuerlichen Lächeln, »finden in einer Woche zu Ehren des Geburtstags des Kaisers außerplanmäßige Spiele statt. Wenn alles gutgeht, treffen Murranus und Spicerius wieder aufeinander. Dann werden die alten Wetten gelten.« Rufinus sagte Claudia gute Nacht, Chrysis machte mit den Fingern ein obszönes Zeichen, und dann marschierten die beiden den Korridor hinunter. Claudia beschloß, noch ein wenig durch die Villa zu spazieren. Körperlich war sie müde, doch in ihrem Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock. In der Nähe des Peristylgartens fragte sie den Wächter, wo der Keller sei. Er beschrieb ihr den Weg. Vorher ging Claudia in die Küchen und borgte sich von einem schlaftrunkenen Koch eine Laterne aus. Er entzündete die Öllampe darin und reichte ihr die Laterne. »Geh nicht zu schnell«, ermahnte er sie. »Laß den Docht eine Zeitlang stark brennen.« Also setzte sich Claudia draußen auf eine Bank und beobachtete, wie die Flamme kräftiger wurde. Dann nahm sie die Laterne und ging damit zum Keller. Er war jetzt unbewacht. Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter. Die Tür
unten stand offen, und Claudia trat ein. Sie bewegte sich langsam vorwärts. Der Fußboden bestand aus gebrannten Ziegeln; in den gekalkten Wänden waren Risse und Sprünge und ab und zu ein Spalt, aber es gab keine Öffnung oder einen Hinweis auf einen zweiten Eingang. Die Decke wirkte ebenfalls stabil und sicher. Sie war durchzogen von schweren Balken, und der Gips dazwischen war hart und glatt. Nun ging Claudia zu dem großen Kreis aus Sand, über dem das Schwert gehangen hatte. Sie setzte sich auf einen der Hocker und blickte hinauf zu der Kette. Sie hatte starke Glieder und am Ende einen langen Haken. Sie schloß die Augen. Wie konnte man das Schwert geraubt haben? Gaius hatte im Garten geschlafen. Die Tür zu diesem Raum war mit zwei verschiedenen Schlössern abgeschlossen gewesen und von den Söldnern der Kaiserin bewacht worden. Timothaeus und Burrus hatten die Tür aufgeschlossen. Der Haushofmeister hatte ihr erklärt, daß er den Keller dreimal am Tag kontrolliert habe, um sich zu vergewissern, daß alles in Ordnung war, aber auch, wie er gestanden hatte, weil er den Wunsch verspürt habe, die Reliquie zu sehen. Claudia öffnete die Augen und blicke über die Schulter zur Tür. »Du bist also hier hereingekommen, Timothaeus«, murmelte sie, »an den Rand des Kreises getreten, hast zur Kette aufgeblickt und festgestellt, daß das Schwert verschwunden war?« Claudia konnte Timothaeus’ Entsetzen verstehen; kein Wunder, daß er in Ohnmacht gefallen war! Das Verschwinden des Schwerts, ganz zu schweigen vom Zorn der Kaiserin, hätte den stärksten Mann umgehauen. Sie blickte auf den mit Goldstaub bestreuten Sand; inzwischen hatten jene, die danach den Keller durchsucht hatten, hier ihre Spuren hinterlassen. »Claudia! Claudia!«
Sie drehte sich um und riß, zu Tode erschrocken, den Mund auf. In der Tür stand eine Gestalt in einem Umhang. Claudia hob mit zitternder Hand die Lampe hoch. »Wer ist da?« rief sie. Die Gestalt blieb reglos stehen. Claudia stand auf und hielt die Lampe vor sich. Als sie den Raum halb durchquert hatte, wurde ihr klar, daß die Gestalt – wer immer es war – nicht nur den Körper unter einem schweren Umhang verbarg, sondern auch das Gesicht hinter einer scheußlichen Satyrmaske versteckte. Claudias Mund wurde trocken. Plötzlich bewegte sich die Gestalt, kam blitzschnell in den Raum und warf die Tür zu. Sie ließ beinahe die Laterne fallen und wich zurück. »Wer bist du?« fragte sie. Sie versuchte sich die Stimme des ungebetenen Gastes ins Gedächtnis zu rufen, konnte sie aber nicht zuordnen. Die Satyrmaske wirkte im Licht der Laterne bedrohlich. Jetzt erblickte sie auch den langen Dolch, den diese groteske Gestalt in der Hand hielt. Sie ging immer weiter zurück und versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, ob sie im Keller irgend etwas gesehen hatte, womit sie sich schützen konnte. Ihr Bein stieß an einen der Hocker; sie packte ihn und stieg rückwärts in den Sandkreis. Ein Fehler! Der Sand war ganz weich und tief, und ihre Füße sanken sofort darin ein; der Sand reichte ihr bis an die Knöchel und hinderte sie am Ausweichen. Die Gestalt schritt langsam und vorsichtig mit gemessenen Schritten auf sie zu. Claudia versuchte sich aus dem Sand zu befreien, sprang nach vorn und schleuderte den Hocker auf den Angreifer. Er verfehlte ihn knapp. Sie griff sich einen anderen Hocker, wich um den Sandkreis herum zurück, begann gellend zu schreien und warf einen Hocker nach dem anderen, um die alptraumhafte Gestalt, die so still, so bedrohlich war, von sich abzuhalten. Schließlich schleuderte Claudia in ihrer Verzweiflung die Laterne auf ihren Gegner. Sie landete zu seinen Füßen; die
Flammen loderten hoch auf und erfaßten aus reinem Zufall den Umhang der grotesken Gestalt. Beinahe hysterisch vor Angst, stammelte Claudia ein Gebet. Die Flamme fraß sich in den trockenen Stoff; ihr Gegner wich hastig zurück, warf den Umhang ab, riß die Kellertür auf und floh. Claudia rannte ihm sofort durch die halboffene Tür nach, doch er war verschwunden; alles, was sie sah, war ein schmutziger Umhang, der auf der Treppe lag. Sie hob ihn auf. Er war abgetragen, verschmutzt und stank. Die Flammen waren ausgegangen und hatten einen versengten, ausgefransten Saum hinterlassen, in dem ab und zu Funken aufglühten. Claudia trat sie aus und kehrte in den Keller zurück, wo sie sich vorsichtig zwischen den Hockern auf dem Boden einen Weg suchen mußte. Die Laterne war kaputt, die Flamme verloschen. Claudia verfluchte ihre Dummheit. Sie hätte überhaupt nicht hierherkommen sollen; und wieder hierher zurückzukehren war vielleicht sogar noch dümmer. Sie rannte zur Tür, knallte sie hinter sich zu und raste die Stufen hinauf. Der kleine Gang dahinter war leer; keine Spur von dem Angreifer. Claudia ging in den Peristylgarten und setzte sich eine Weile auf eine Bank, um in tiefen Zügen die frische Nachtluft einzuatmen. In einiger Entfernung stand im Dunkeln eine Wache, und sie überlegte, ob der Mann vielleicht etwas gesehen hatte. Dann zuckte sie die Achseln. In diesem Fall wäre er gewiß zu ihr gekommen. Claudia wusch sich im Teich die Hände und ging in ihre Kammer. Dort war alles sauber und ordentlich; ein Sklave hatte die Öllampe auf dem Tisch gegenüber ihrem Bett entzündet. Sie war zu müde, um sich zu waschen und umzuziehen. Als sie die Lampe ausmachen wollte, sah sie an der Wand darüber die grobe Zeichnung eines kleinen purpurnen Kelchs. Sie wich zurück. Sie löschte das Licht nicht, sondern legte sich ins Bett und starrte auf die Zeichnung. In
Gedanken ging sie alles noch einmal durch, was an diesem Tag passiert war, ließ die Gesichter, Szenen und Worte an sich Revue passieren, und die ganze Zeit blickte sie auf die grobe Zeichnung, als stünde sie einem Feind gegenüber und weigerte sich, klein beizugeben. Sie starrte noch immer auf die Wand, als ihre Augen schwer wurden und sie in einen tiefen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen wurde Claudia früh vom Sonnenlicht und vom Lärm aus der Villa geweckt, die durch das von keinen Läden geschützte Fenster über ihrem schmalen Bett drangen. Sie schlug mit der Faust auf die mit Reißwolle gefüllte Matratze und sank wieder zurück. Eine Hand unter die Wange gelegt, dachte sie an die Schrecken der vergangenen Nacht und betrachtete die scheußliche kleine Zeichnung über dem Regal mit der Öllampe. Schließlich stand sie auf und inspizierte sie genauer, zog mit dem Fingernagel die Umrisse nach. Die purpurne Farbe, mit der Frauen ihre Nägel färbten, war hart, doch als sie darauf drückte, entstand ein Riß. Claudia war versucht, sie abzukratzen, entschied sich dann aber dagegen. »Nein«, flüsterte sie, »du kannst dranbleiben, mich erinnern und anspornen. Ich werde herausfinden, wer mein Feind ist, und mich dann mit ihm befassen.« Sie setzte sich auf die Bettkante und überlegte, daß der mysteriöse Zeichner, wer immer es war, sie wohl verspotten und ängstigen wollte. Sie dachte an die schaurige Gestalt im Keller, wie sie maskiert und bewaffnet langsam auf sie zukam. »Das ist es«, flüsterte sie, »du wolltest mich gar nicht umbringen, sondern mir Angst einjagen!« Sie starrte den purpurnen Kelch an. »Und dasselbe versuchst du auch damit.« Die Konfrontation im Keller war beängstigend gewesen, aber vielleicht nicht lebensgefährlich. Sie hatte den Gladiatoren
beim Üben und Kämpfen zugesehen – echte Meister im Töten bewegten sich schnell wie Panther, oder sie schlugen aus der Ferne mit Pfeil, Katapult, Speer oder einem Wurfmesser zu. Der Auftritt in der vergangenen Nacht hatte nur zum Ziel gehabt, Helenas Mäuschen in Angst und Schrecken zu versetzen, es zu vertreiben, es zu veranlassen, davonzuflitzen und sich in Sicherheit zu bringen. Claudia stand auf. Nun, sie würde es ihnen zeigen. Doch obwohl sie ihren ganzen Mut zusammennahm, merkte sie, wie sich ihr der Magen zusammenzog. »Diesmal wollte man mir nur Angst einjagen«, murmelte sie, »aber das nächste Mal…?« Sie nahm ein Tuch und ihre kleine lederne Toilettentasche aus dem Beutel, der an dem Haken an der Tür hing, und ging damit rasch zu den luxuriös ausgestatteten Latrinen, die man in der Nähe der Küchen gebaut hatte, um sie mit dem Wasser, das dort weggegossen wurde, sauberhalten zu können. Sie setzte sich auf einen Marmorsitz und starrte auf das Fußbodenmosaik, ein wunderschönes Bild mit silbernen Delphinen, die aus einem goldenen Meer sprangen. Timothaeus kam herein. Er hatte in der Nacht getrunken und war in einem jämmerlichen Zustand. Er hockte sich ihr gegenüber hin und blickte traurig auf einen Punkt zwischen ihnen. »Mein Magen macht mir zu schaffen«, stöhnte er. »Das kommt von zuviel Wein und dem üppigen Essen am Kaiserhof.« Claudia versuchte ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch der Haushofmeister schüttelte den Kopf und murmelte etwas über den Zorn der Augusta. Claudia schloß daraus, daß er ihre scharfe Zunge zu spüren bekommen hatte. Sie wusch sich und ging von den Latrinen und dem Badehaus zurück in ihre Kammer, kleidete sich fertig an und beschloß, etwas zu essen. Sie mußte ein Gärtchen durchqueren, nicht
mehr als ein kleiner, von Buchsbaumhecken umgebener und von Lorbeerbäumen beschatteter Rasen. Dort stand die Kaiserin Helena in einem erlesenen weißen Leinenkleid und mit einem purpurnen Umhang um die Schultern auf einem goldgeränderten Hocker. In der einen Hand hielt sie einen Stock, mit der anderen gestikulierte sie. Vor ihr auf dem Gras knieten Burrus und das gesamte germanische Söldnerkorps; die Köpfe gesenkt, die Hände vor das Gesicht geschlagen, schluchzten sie wie Kinder, während Helena sie schalt. »Ihr seid der Abschaum von Germanien«, schnarrte sie, »das dreckige Moos aus euren finsteren Wäldern, und doch habe ich euch aufgenommen und behandelt wie meine eigenen Kinder. Ich habe euch ans Herz gedrückt und euch mit Liebe und Zuneigung überschüttet.« Sie hielt inne, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Sie mußte Claudia gesehen haben, die fasziniert unter einem Baum stehenblieb, aber sie drehte sich nicht zu ihr um, sondern ignorierte ihre Anwesenheit. »Habe ich euch nicht mit köstlichen Speisen und bequemen Unterkünften verwöhnt, euch meinen Schutz gewährt und unter meine Schirmherrschaft gestellt? Habe ich nicht über eure widerliche Manieren und euer betrunkenes Gegröle hinweggesehen?« Sie stieg vom Hocker hinunter und ging zwischen den Kriegern hindurch, wobei sie jedem von ihnen mit ihrem Stock auf die Schulter klopfte. Gelegentlich blieb sie stehen, um einem Söldner die Haare zu zerzausen oder einem anderen sanft die Wange zu tätscheln. Ihre Schmährede hatte den gewünschten Erfolg. Burrus, dachte Claudia, hätte einen guten Schauspieler abgegeben. Er warf die Arme in die Luft – eine Geste, um die ihn jeder griechische Tragöde beneidet hätte – und begann sich die goldenen Armbänder vom Handgelenk und die dicke Silberkette vom Hals zu reißen. Mit dem Schmuck in der Hand
stand er auf und ging auf Helena zu. Mit tränenüberströmtem Gesicht warf er sich der Kaiserin zu Füßen. »Ihr wart alle sehr garstige Jungen«, fuhr Helena fort und bohrte ihren Stock in Burrus’ Rücken, »und habe ich euch nicht dennoch gepriesen? Hat mein Sohn euch nicht sein Lächeln geschenkt und seine Großzügigkeit bewiesen? Und was tut ihr? Ihr vergeltet mir meine übergroße Freundlichkeit, indem ihr euch sternhagelvoll laufen laßt und hinter jeder Dienstmagd her seid.« Jetzt drückten auch die übrigen germanischen Söldner die Nasen ins Gras. Helena drehte sich rasch um, lächelte Claudia an und zwinkerte ihr zu. Dann ging sie wieder zum Angriff über. »Ihr hättet besser aufpassen sollen«, erklärte sie. »Dionysius hätte nicht sterben, das Totenhaus nicht niederbrennen müssen, aber daß das heilige Schwert verschwunden ist, das hat mich wirklich ins Herz getroffen! Ich hatte es in eure Obhut gegeben.« Das Klagen ihres Leibwächters schwoll an. Helena stieg wieder auf den Hocker, und Burrus versuchte ihr zu folgen, doch sie schrie ihn an, er solle den Kopf senken. »Dennoch, ihr undankbarer Abschaum«, fuhr sie fort, »habe ich beschlossen, euch die Strafe zu erlassen.« Burrus hockte sich auf seine Fersen und lächelte diese Frau, die er so verehrte und liebte, strahlend an. »In meiner großen Güte«, sagte Helena, auf ihren Stock gestützt, »habe ich euch vergeben.« Claudia konnte kaum mehr an sich halten, so sehr amüsierte sie diese Szene, daher lief sie aus dem Garten in die Villa, wo sie unvermittelt stehenblieb und zurückblickte. Die Kaiserin war eine Schauspielerin, die eine Horde von Schlägern eisern im Griff hatte. Die Germanen beteten den Boden an, auf dem sie ging; sie betrachteten es als die größte Ehre, ihr Blut für sie zu vergießen. Helena wußte das. Warum schimpfte sie dann so mit ihnen?
Claudia setzte sich auf eine marmorne Fensterbank und betrachtete ein Gemälde, auf dem Bacchus in einen Weingarten kletterte, um saftige Trauben zu stehlen. Verfolgte Helena mit ihrer Strafpredigt einen anderen Zweck? Die Germanen waren loyal, Krieger durch und durch; natürlich waren sie auch Trunkenbolde, Wüstlinge und vor allem Diebe. Hatten sie das Schwert gestohlen? Die Söldner hatten große Scheu vor allem, was mit Religion zu tun hatte, und Burrus hatte sich geweigert, den heiligen Ort zu betreten, doch sein schlurfender Gang und sein ungepflegtes Aussehen konnten Claudia nicht täuschen. Burrus war hochintelligent, gerissen und geschickt. Hatte er bei einem Täuschungsmanöver mitgemacht, das die anderen in die Irre führen sollte? Claudia dachte an den Keller, die beiden Wachen vor der Tür und an Burrus, der einen Schlüssel zum Keller hatte. Timothaeus, der Haushofmeister, war ein solcher Umstandskrämer. War die Tür mit zwei Schlüsseln oder nur mit einem verschlossen gewesen? Hatte Timothaeus nur angenommen, daß er die Tür mit seinem Schlüssel verschlossen hätte, und war von den Germanen irgendwie getäuscht worden? In diesem Fall wäre es für Burrus ein leichtes gewesen, die Tür aufzuschließen, das Schwert zu nehmen, den Keller zu verlassen und die Tür wieder zu verschließen. Timothaeus wäre hinuntergekommen… Claudia unterbrach ihren Gedankengang. Was wäre dann geschehen? Hatte Burrus die Schlüssel vertauscht oder das Schloß so manipuliert, daß Timothaeus dachte, sein Schlüssel drehe sich im Schloß, obwohl die Tür bereits offen war? Claudia vergaß die Schrecken der vergangenen Nacht, lieh sich eine Laterne und ging wieder in den Keller. Sie lief rasch über die Stufen hinunter, verbannte bewußt alles, was passiert war, aus ihren Gedanken, kauerte sich hin und sah sich beide Schlösser genau an, das eine über dem Türgriff, das andere
darunter. Sie hielt die Lampe ganz nahe daran, untersuchte die Kante der Tür und des Schlosses, konnte aber keinen Kratzer entdecken und auch keinen Hinweis darauf, daß jemand etwas verändert hatte. Verärgert stand sie auf. Wenn ihre Theorie richtig war, mußte Burrus Timothaeus irgendwie dazu gebracht haben, zu glauben, die Tür sei verschlossen, obwohl sie offen war. Claudia seufzte, stieß die Tür auf und trat in den Keller. »Nehmen wir einmal an«, sagte sie laut, als sei sie in einer Schulklasse, »der Dieb kommt herein.« Sie trat an den Rand des Sandkreises und streckte sich, um die Kette zu berühren, erreichte sie aber nicht. Sie stieg auf einen Hocker, doch auch das nützte nichts. Dann fiel ihr ein, daß Burrus ein langes Schwert hatte. »Das könnte er benutzt haben«, flüsterte sie aufgeregt. Burrus hätte damit die Kette heranziehen und das heilige Schwert vom Haken abnehmen können. Claudia stieg vom Hocker herunter und blickte auf die Tür. Es blieben noch immer vier Probleme. Erstens hätte Burrus die Hilfe der beiden Wachen vor der Tür benötigt. Zweitens die Geschichte mit den Schlüsseln. Drittens, was hätte Burrus mit dem Schwert getan, wenn er es gestohlen hätte? Und schließlich der letzte und wichtigste Punkt: Burrus hätte gewußt, daß er damit den Zorn der Kaiserin auf sich ziehen würde. Claudia setzte sich und überlegte. Helena wäre wütend, hätte aber natürlich keinen Beweis. Die Kaiserin hatte recht. Burrus benahm sich oft wie ein ungezogener Schuljunge und akzeptierte, daß sie ihn dann maßregelte- er betrachtete das als einen Bestandteil seines Militärdienstes. Hatte Helena deshalb heute früh alle seine Leute versammelt, um ihnen eine Strafpredigt zu halten, die sie niemals vergessen würden? Verdächtigte sie die Söldner und hoffte, ihnen eine derartige Angst einzujagen, daß sie das heilige Schwert zurückgaben?
Claudia hörte draußen Schritte und legte den Kopf zur Seite. Sie ging zur Tür. Timothaeus stieg die Treppe herunter, langsam und vorsichtig, wie ein alter Mann. Noch immer wirkte er ängstlich und besorgt. »Ich komme immer wieder hierher«, sagte er und schniefte. »Und jedesmal hoffe ich, wenn ich eintrete, ist das Schwert vielleicht wieder da.« Er setzte sich auf die unterste Stufe, und Claudia ließ sich rieben ihm nieder. »Es ist nicht da, oder?« fragte er traurig. »Nein.« Claudia nahm seinen Arm. Sie mochte diesen rotgesichtigen Beamten, der den Tränen nahe war. »Sag mir«, fuhr sie rasch fort, »bist du sicher, daß dabei kein Trick im Spiel war? Ich meine, als du die Tür abgeschlossen hast – bist du sicher, daß sie wirklich zu war?« »Ich weiß, was du denkst.« Timothaeus sah sie aus den Augenwinkeln an. »Ich traue diesen Germanen nicht über den Weg. Nein, ich war sehr vorsichtig, es war immer dieselbe Prozedur. Ich habe die Tür zugeschlossen und dann daran gerüttelt. Erst danach steckte Burrus seinen Schlüssel in das Schloß.« »Ah.« Claudia merkte, daß ihre Theorie nicht hieb- und stichfest war. »Hätte man die Schlüssel nachmachen können?« »Ich habe meinen an einer Kette um den Hals getragen«, erklärte Timothaeus, »und – das muß ich ihm zugute halten – Burrus ebenfalls. Ich kann jedoch nur für mich selbst sprechen, wenn ich sage, daß ich den Schlüssel immer bei mir hatte. Ich habe ihn nie abgenommen.« Claudia dankte ihm, stand auf und ging in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Sie zog eine dunkelgrüne Tunika mit silbernem Saum an, legte einen Umhang in ähnlicher Farbe um ihre Schultern und einen Ledergürtel um die Taille. Daran befestigte sie eine Scheide für das scharfe Messer, das sie überallhin mitnehmen wollte, solange sie in der Villa Pulchra
war. Dann schlüpfte sie in Sandalen und nahm aus ihrem Schmuckkästchen einen kleinen Ring, eines der wenigen Stücke, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Sie berührte wie zur Erinnerung die Zeichnung des purpurnen Kelches und lief dann in das Speisezimmer der Dienstboten, das sich direkt neben den kaiserlichen Küchen befand. Es war nicht leicht, etwas zu essen zu bekommen. Sie mußte den Koch mit den müden Augen einschüchtern, damit er ihr Brot, Käse und Honig, einen Kelch mit gewässertem Bier und ein paar schon recht vertrocknete Trauben gab. Konstantin aß für sein Leben gern, und die Köche, Küchenjungen und Küchenmädchen waren schon wieder damit beschäftigt, ein Mahl für den Kaiser und seinen Hof zuzubereiten. Claudia setzte sich an ein Ende des langen Gemeinschaftstisches und beeilte sich mit dem Essen. Die anderen Dienstboten mieden sie. Sie wußte auch, warum. Sie hielten sie für eine Spionin, aber sie war deswegen nicht beleidigt, weil es ja stimmte. Sie war sich sicher, daß auch der Kaiser, ganz zu schweigen von Leuten wie Rufinus oder Chrysis, hier ihre Agenten hatten, die dem Klatsch lauschten und Informationen sammelten, um sie an ihre Herren weiterzugeben. Als sie ihr Mahl beendet hatte, schlenderte sie in das prächtige Atrium mit den Marmorwänden, den erlesenen Gemälden und den herrlichen Mosaiken. Vor einem Schrein zu Ehren der Laren und Penaten, der Hausgötter, der in eine der Wände eingelassen war, blieb sie stehen. Sie betrachtete das Tabernakel und die Statuen, die sich darin befanden. Davor stand ein bronzenes Gefäß auf drei Beinen, das mit Weihrauch bestreute Holzkohle enthielt und in dem Flammen flackerten. Der Rauch stieg weiß und duftend auf. Claudia sah zu, wie er sich auflöste. Zog er woandershin, überlegte sie, oder verschwand er einfach? Geschah dasselbe auch mit den Gebeten? Hörte sie jemand? Oder waren sie wie
Weihrauchwolken, die viel hermachten, jedoch keine Substanz hatten? Sie schloß die Augen und betete, sie wußte nicht, zu wem, doch sie drückte ihre Liebe zu Felix, ihrem toten Bruder, aus, zu ihren Eltern, zu Polybius, Murranus, Poppaoe und zu allen, mit denen sie verbunden war. »Bist du bereit?« Claudia schlug die Augen auf und drehte sich so schnell um, daß ihr fast schwindlig wurde. Sie hatte gedacht, sie sei allein, doch hinter ihr standen Timothaeus, Burrus und Gaius. »Kommst du mit?« fragte Gaius lächelnd. Sein frisch rasiertes Gesicht glänzte von Öl. Er trug eine schlichte weiße Tunika, hatte zwanglos über eine Schulter einen Schwertgürtel und über die andere eine Toga gelegt, um sich jederzeit korrekter kleiden zu können, wenn der Kaiser erschien. »Das Streitgespräch«, erklärte Timothaeus, »es findet im Peristylgarten statt.« Claudia lächelte. Sie hatte es vergessen. Jetzt erinnerte sie sich daran, daß der Haushofmeister ihr am Vorabend atemlos mitgeteilt hatte, die Kaiserin könne es nicht erwarten, daß sich die Philosophen zusammensetzten und ihre Probleme offen miteinander ausdiskutierten. »Wir haben über das heilige Schwert gesprochen.« Gaius grinste und stieß Burrus scherzhaft an. Der Germane wirkte schon wieder gefaßter. In seinen eisblauen Augen standen keine Tränen mehr, und er beobachtete Claudia aufmerksam. »Warum habt ihr darüber gesprochen?« fragte sie. »Hast du eine Theorie, wo es sein könnte?« »Ich wünschte, es wäre so«, antwortete Gaius. »Aber die Kaiserin hat uns gebeten, nachzudenken, zu überlegen und uns zu erinnern.« Der Hauptmann redete wie ein Schuljunge, der ein Zeitwort deklinierte, doch seine Stimme triefte vor Sarkasmus, und seine Augen lachten. »Nun, das werden wir
tun«, fuhr er fort und schnitt eine Grimasse, »während wir uns bei dem Streitgespräch zu Tode langweilen.« Claudia schloß sich den drei Männern an, und sie schlenderten in den Peristylgarten. Vor dem Springbrunnen waren Stühle mit purpurnen Überwürfen aufgestellt, und Sklaven errichteten eilig Sonnensegel, um die kaiserlichen Häupter vor der Sommersonne zu schützen. Schreiber in weißen Gewändern und mit tintenverschmierten Fingern waren damit beschäftigt, Kissen auszulegen und Schreibtäfelchen vorzubereiten. Zu beiden Seiten des langen, glitzernden Beckens standen Hocker für die Redner und, den Stühlen für die Kaiserlichen Hoheiten direkt gegenüber, ein langes Podium. Alle anderen mußten sich selbst einen Platz suchen, entweder im Garten oder in den Säulengängen. Zwischen den Blumenbeeten spazierten Hausdiener mit Sonnenschirmen umher oder befahlen den Sklaven mit schrillen Stimmen, weitere Erfrischungen zu bringen. Claudia kehrte zurück ins Atrium. Es würde eine Weile dauern, bis alle versammelt waren, und Konstantin war dafür bekannt, daß er immer zu spät kam, besonders nach einem Bankett. Als sie einen Korridor entlangging, berührte jemand ihren Ellbogen. Sie erschrak und wirbelte herum. Sylvester stand in der Tür zu einem Zimmer und winkte sie hinein. Sie blickte sich rasch um und folgte ihm dann. Die Wand zu ihrer Rechten war mit einem Bild geschmückt, auf dem zwei junge Mädchen aus einem Fenster blickten, an den anderen beiden Wänden hingen Szenen aus der etruskischen Geschichte. Das Fenster war hoch und ziemlich schmal. Sylvester führte sie in eine Ecke zu einem Hocker, ließ sich auf einer Seite davon nieder und bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen. »Weißt du, was das hier ist?« fragte er und machte eine ausladende Geste. »Ein leeres Zimmer«, antwortete Claudia lachend.
»Nein, ein taubes Zimmer.« Sylvesters faltiges Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Die Kaiserin behauptet, es sei einer der wenigen Räume ohne geheime Löcher oder Ritzen in den Wänden.« »Das heißt«, erwiderte Claudia, »daß es mindestens ein Dutzend davon gibt.« Sylvester lächelte und tätschelte ihr den Arm. »Gehst du zu dem Streitgespräch?« »Ich werde bleiben, solange ich mich wachhalten kann«, antwortete sie. »Oh, ich glaube, du wirst schon wach bleiben«, murmelte Sylvester. »Heute morgen wird es lustig; sie werden sich gegenseitig jede Menge Anschuldigungen an den Kopf werfen.« »Theologische?« »Nein.« Sylvester spreizte die Finger, als inspiziere er seine Nägel. »Keine theologischen, sondern sie werden sich des Verrats, der Denunziation und des Mordes beschuldigen.«
KAPITEL 5 »Der Zorn schafft die Waffen.« Vergil, Aeneis, I
Murranus saß in den »Eselinnen« und erhob seinen Becher, ein Geschenk von Polybius und Poppaoe, der einen Ehrenplatz im Lokal hatte. Polybius behauptete, er sei aus bester samischer Keramik; verziert war er mit einem kretischen Motiv, das junge Männer und Frauen zeigte, die über einen Stier mit langen Hörnern sprangen. Murranus klopfte auf den Rand des Bechers und zwinkerte Polybius ziemlich betrunken zu. »Das ist sehr schwer, weißt du. Ich habe vor Jahren einmal bei Tierhetzen mitgemacht. Was glaubst du, welches das wildeste Tier war?« »Der Stier«, lallte Polybius. »Richtig«, antwortete Murranus. »Großkatzen können feige sein, Elefanten sind keine Kämpfer, aber ein Stier ist schlimmer als ein Bär. Stiere greifen blitzschnell an. Man ist total überrascht von ihrer Geschwindigkeit, weiß nie, wohin sie den Kopf wenden werden. Ich bewundere diese Jungen und Mädchen, die auf Kreta über die Stiere sprangen, sehr.« »Das ist doch nur so eine Geschichte«, nuschelte Polybius. »Nein, das stimmt nicht. Ich war auf Kreta.« Murranus beugte sich über den Tisch. »Dort gibt es noch mehr solche Zeichnungen. Und außerdem habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie ein Junge über einen Stier sprang. Dazu braucht man Mut und Geschicklichkeit!« Murranus trank seinen Wein, den besten Falerner, wie ihm Polybius versichert hatte. Er schmeckte wirklich gut. Er lächelte Polybius zu, der ihm gerade seinen Becher wieder
gefüllt hatte. Der Gastwirt klopfte auf seinen Nasenflügel und legte einen Finger auf die Lippen, was bedeutete, daß Murranus den Wein nicht allzu laut loben sollte, weil sonst die anderen auch welchen haben wollten. Alle Stammgäste waren da. Simon der Stoiker hatte sich vor kurzem einen Maki, einen Halbaffen, als Haustier gekauft – um mit jemandem reden zu können, wie Fortunatus der Hurenbock gemeint hatte. Petronius der Zuhälter versuchte Danuta die Tänzerin zu verführen, während die Damen von Lesbos, eine Akrobatinnentruppe, jetzt bei den syrischen Mädchen saßen, einer Gruppe dunkeläugiger, in hauchdünne Kleider gehüllter Darstellerinnen, die sich zwar von den Damen zu Getränken hatten einladen lassen, aber klargestellt hatten, daß sie nicht käuflich waren. Oceanus stützte sich mit einem Ellbogen auf die Theke und starrte verträumt Januaria an, die dasaß und ihre Haare zu Zöpfen flocht, wobei sie sich immer wieder vorbeugte, so daß Oceanus ihre vollen, reifen Brüste sehen konnte. Murranus betrachtete den Rest der Gäste und blickte dann hinauf zu den verkohlten Balken an der Decke. Bewegte sich der Schinken, der neben einem Sack Zwiebeln hing, tatsächlich, oder hatte er zuviel getrunken? Murranus war gefühlsduselig geworden. Claudia fehlte ihm, und er hatte laut überlegt, ob er sie in der Villa Pulchra besuchen sollte. Polybius hatte den Kopf geschüttelt. »Du weißt, daß das nicht geht. Man wird dich nicht hineinlassen, und außerdem mußt du dich auf den Kampf vorbereiten. Spicerius wird nicht nur wieder kräftiger, er trainiert auch hart und will siegen…« Polybius hielt inne, als die Tür aufging und eine Gruppe von Männern die Taverne betrat. Sie blieben eine Weile mit dem Rücken zum Licht stehen und gingen dann weiter in den Speisesaal.
»Oh, nein«, stöhnte Polybius. »Die Daker!« Murranus blickte auf. Die Daker waren, ganz allgemein gesagt, eine der häßlichsten Straßenbanden der Armenviertel. Ihr Anführer war eine extrem auffallend gekleidete Kreatur, die mit hochhackigen Schuhen über den Tavernenboden trippelte und mit den Hüften wackelte wie eine Frau. Auf den ersten Blick konnte man kaum erkennen, welchen Geschlechts er war; er trug ein weites Gewand und auf seinem großen Kopf eine leuchtend blonde Perücke, doch sein Gesicht war männlich, hart und kräftig, wenngleich bunt bemalt wie das einer Kurtisane: die Augenbrauen gezupft und dunkel nachgezogen, die Wangen weiß und rot, die Lippen karminrot. Seine Armreifen klimperten bei jeder Bewegung, und um den Hals trug er Parfümsäckchen, die die verlockendsten Düfte verströmten. Er blieb stehen, blickte sich finster in der Taverne um und blinzelte. »Ich will, daß ihr geht.« Die Stimme war hoch wie die eines Eunuchen. Er klatschte in die Hände. »Ich will, daß ihr auf der Stelle geht!« Der Speisesaal leerte sich rasch. Die Daker umringten Polybius und Murranus. »Ich bin Dacius.« Der Anführer mit der blonden Perücke setzte sich Murranus gegenüber, seine Finger bewegten sich unruhig. »Aber das weißt du ja«, lispelte er und betrachtete seine hennagefärbten Nägel. Der Gladiator blieb mit dem Weinbecher in der Hand reglos sitzen und starrte die groteske Gestalt an. Er kannte Dacius aus den Armenvierteln, den Hinterhöfen und der Gladiatorenschule, wo die Bande hinkam, um den Kämpfern zuzusehen und ihre Stärken und Schwächen einzuschätzen. Die Daker waren an einer Reihe illegaler Geschäfte beteiligt – Prostitution, Entführung und Mord –, aber in erster Linie waren sie Geldverleiher, die hohe Zinsen verlangten und ihre
Darlehen gern mit sorgsam plazierten Wetten finanzierten. In den Armenvierteln um das Flavische Tor kontrollierten sie einen Großteil der Glücksspiele. Dacius zeigte mit dem Finger auf Murranus. »Du bist ein sehr ungezogener Junge! Du hättest Spicerius töten sollen.« »Warum?« »Sprich nicht so mit mir«, schmollte Dacius. »Ich hatte viel Geld auf dich gesetzt. Spicerius war doch ganz offensichtlich geschwächt. Warum hast du nicht zugestoßen?« »Ich bin Gladiator und kein Mörder. Und vor allem vergifte ich niemanden.« Murranus’ Zorn wuchs; er mochte weder Dacius noch seine Gefährten. »Warst du verantwortlich für das Pulver in Spicerius’ Glas?« »Natürlich nicht!« lispelte Dacius. »Dieser kleine Mistkerl läßt mich doch nicht in seine Nähe.« »Wußtest du, daß er vergiftet werden sollte?« Murranus’ Gesicht näherte sich dem von Dacius. »Du wußtest, daß etwas passieren würde?« »Ich habe meinen Augen nicht getraut.« Dacius wedelte mit den Händen. »Da torkelte der große Spicerius herum wie ein Betrunkener; du hättest ihm dein Schwert durch den Hals stechen sollen!« »Ich habe gesehen, daß etwas nicht stimmte«, antwortete Murranus, »und, wie ich schon sagte, ich bin Kämpfer, kein Mörder.« Er warf Dacius eine Kußhand zu. »Das nächste Mal gewinnst du deine Wette vielleicht, aber aufgrund eines fairen Kampfes.« »Eines fairen Kampfes?« Dacius zog seine gezupften Augenbrauen hoch. »Ob fair oder nicht, es wäre besser, wenn du gewinnst!« »Das ist eine schöne Taverne«, sagte einer von Dacius’ Kumpanen, ein Mann mit einem grobschlächtigen Gesicht,
gebrochener Nase und sabbernden Lippen. Er tippte Polybius auf den Arm. »Du mußt immer auf der Hut vor dem Feuer sein, nicht wahr? Man weiß nie, wann eines ausbrechen wird.« Der Flegel nahm Polybius’ Becher und trank einen Schluck. »Und dann ist da ja auch noch deine hübsche Nichte – wie heißt sie, Claudia? Sie ist in der Villa Pulchra, nicht wahr? Wir wissen, daß sie da ist, und wir haben Freunde dort, die können –« Murranus’ Faust knallte auf den Tisch. Er packte das Messer, das in einem Spalt unter der Tischplatte steckte, stieß zwei Daker beiseite und ging wütend auf den Flegel los, der jetzt, da Schläge und Fußtritte auf ihn niederhagelten, hastig den Rückzug antrat. Schließlich hatte ihn Murranus in die Enge getrieben und packte ihn an den Haaren. Als er die Messerspitze in den fleischigen Hals seines Gegners drückte, merkte er, daß Poppaoe in der Küchentür stand und schrie. Jetzt überwanden die Stammgäste ihre Angst vor dieser Bande von Raufbolden, stießen die Tür auf und strömten herein. »Das reicht«, rief Dacius. »Das reicht jetzt, Murranus! Mein lieber Junge, dreh dich doch um.« Der Gladiator drehte sich um. Dacius saß noch immer am Tisch, doch zwei seiner Bandenmitglieder hatten Polybius hochgezerrt, während ein anderer die Spitze seines Dolches unter das Kinn des Gastwirts hielt. »Ein fairer Austausch ist kein Raub«, lispelte Dacius, erhob sich und wackelte durch den Raum. Er musterte Murranus von oben bis unten. »Ich muß schon sagen, mein lieber Junge, du bist sehr schnell. Ich hoffe, du wirst in der Arena ebenso schnell sein.« Dacius schnipste mit den Fingern und stolzierte zur Tür hinaus. Polybius wurde zu seiner Frau gestoßen, während Murranus seinen Dolch senkte, den Flegel an den Haaren packte und ihm einen Tritt in den Hintern versetzte, so daß er
den anderen hinterhertorkelte. Polybius rannte zur Tür und verriegelte sie; dann glitt er zu Boden und schlug die Hände vors Gesicht. »Komm schon«, sagte Murranus, ging zu ihm und half ihm auf die Beine. »Das sind doch bloß Rabauken; sie quaken wie die Frösche.« »Es sind üble Typen«, antwortete Polybius. »Selbst die Kanalratten würden einen großen Bogen um sie machen.« Murranus brachte ihn zurück zum Tisch, beruhigte Poppaoe und holte zwei saubere Becher. Er füllte sie, drückte Polybius einen in die Hand und setzte sich dann ihm gegenüber. »Warum hast du ihn nicht getötet? Ich meine, Spicerius«, fragte Polybius und stellte den Becher hin. »Wußtest du etwas über diese Geschichte, bevor sie begann?« »Man hört vor jedem großen Kampf Gerüchte«, erwiderte Murranus, »aber an denen ist nichts dran, man braucht sich keine Sorgen zu machen. Spicerius und ich, wir wußten beide, daß viel Geld den Besitzer gewechselt hatte. Doch warum hat Dacius auf mich gewettet, wieso waren sie sich so sicher?« »Vielleicht ist es nur eine einzige Person«, antwortete Polybius. »Irgend jemand, der irgendwo eine große Summe darauf gewettet hat, daß du gewinnst; die Wetten wurden eingefroren, und deshalb hat man die Daker geschickt.« »Nein, da steckt mehr dahinter.« Murranus tauchte einen Finger in seinen Wein und fuhr sich damit über die Lippen. »Vergiß nicht, Polybius, sie wetten nicht nur, daß ich gewinne, sondern auch, daß Spicerius verliert. Aber, wie die kleine Claudia immer zu mir sagt, so einfach ist das Leben nicht…« »Ich dachte«, sagte Claudia und rutschte auf ihrem Hocker hin und her, »bei diesem Treffen ginge es um theologische Fragen, darum, ob euer Jesus wirklich Gott ist?« »Claudia, Claudia.« Sylvester tätschelte ihren Arm. »Glaubst du, wir Christen sind anders als andere Menschen? Um unserer
Gemeinschaft beizutreten, muß man zwei Voraussetzungen erfüllen: erstens, eingestehen, daß man ein Sünder ist, und zweitens, erkennen, daß einen nur Gott ändern kann. Unser Glaubensgründer war – ist«, korrigierte er sich, »Gott, doch unsere Gemeinde besteht aus Sündern.« Er schlug sich auf die Brust. »Einschließlich meiner selbst. Wir streiten, wir verraten, wir begehren, wir stehlen, wir töten.« »Weiß Helena das?« »Natürlich weiß sie das. Doch Helena betrachtet die christliche Kirche als Mittel, das Reich zu stärken und zusammenzuhalten. Und vor allem hat sie erkannt, daß das riesige Heer der Armen in unserer Kirche, die ihnen die Auferstehung und das ewige Leben verspricht, den einzigen Trost in diesem Jammertal findet. Die christliche Gemeinschaft«, fuhr Sylvester fort, »wurde schon immer von Meinungsverschiedenheiten zerrissen. Unsere Kirche ist fast dreihundert Jahre alt, aber von Anbeginn gab es Verrat. Einer der Anhänger von Christus selbst, Judas, hat ihn verraten und ans Kreuz gebracht. Petrus, der später nach Rom kam, leugnete, ihn auch nur gekannt zu haben.« Claudia hörte aufmerksam zu. Sie hatte das noch nie jemandem gesagt, aber obwohl sie den christlichen Glauben nicht annahm, war sie doch fasziniert von seinen Lehren und vor allem von seiner Wirkung auf die riesige Masse der Armen in Rom. »Unsere Kirche« – Sylvester hob die Hände, als hielten sie eine Schale – »ist aus den Katakomben emporgestiegen; sie versteckt sich nicht mehr unter der Erde. Die Schatten sind verschwunden, jetzt ist es an der Zeit, den alten Groll aus der Welt zu schaffen, um Macht zu kämpfen, einen Platz an der Sonne zu fordern. Vor zehn Jahren hat der alte Kaiser, Diokletian, eine brutale Christenverfolgung angeordnet. Aus den fernsten Ländern wie Britannien und Persien wurden
unsere Anhänger in Fesseln hierhergebracht. Du hast gewiß von den scheußlichen Vorgängen im Flavischen Amphitheater gehört. Männer, Frauen und Kinder wurden von wilden Tieren zerrissen oder auf die demütigendste Art umgebracht.« »Ich war damals noch ein Kind«, flüsterte Claudia. »Aber ich kann mich erinnern, daß mein Vater die christlichen Symbole versteckt hielt. Einmal, ich glaube, es war zum Fest von Lupercalia, kamen am Morgen Soldaten und durchsuchten unser Haus.« »Deine Eltern hatten großes Glück«, antwortete Sylvester. »Andere weniger. Wenn ein Christ verhaftet wurde, hatte er die Möglichkeit, sich reinzuwaschen, indem er Weihrauch vor eine Statue des Kaisers oder die Standarten von Rom streute. Natürlich haben viele Menschen dem Druck nachgegeben; im Angesicht eines schrecklichen Todes haben sie es sich leichtgemacht.« »Und was ist mit denen passiert?« »Sie bekamen einen neuen Namen, sie wurden verächtlich die ›Lapsi‹, die Abtrünnigen, genannt. Einige Mitglieder unserer Kirche finden, man sollte diesen Abtrünnigen nicht verzeihen. Andere, wie ich, glauben, daß das zu hart ist. Die Lapsi sollten Buße tun, das ja, aber letztendlich sollte man ihnen vergeben und sie wieder in unsere Gemeinschaft aufnehmen.« »Was hat das mit unseren Philosophen zu tun?« Sylvester lächelte säuerlich. »Wenn du die Lapsi für schlimm hältst – es gibt noch Schlimmere, eine andere Gruppe von Sündern, die den Spitznamen Ischarioths tragen, nach Judas Ischarioth, dem Mann, der Jesus Christus verraten hat. Das sind Männer und Frauen, die nicht nur ihrem Glauben abgeschworen haben, sondern auch – gegen eine Belohnung oder um einer Bestrafung zu entgehen – anboten, die Behörden zu anderen
christlichen Gemeinden zu führen. Das Haus deines Vaters wurde wahrscheinlich aufgrund der Angaben eines Informanten durchsucht, Claudia.« Sylvester holte tief Luft. »Also, während der Verfolgung durch Diokletian war die Schule von Capua bereits als christliche Gemeinde bekannt. Man wußte, daß viele der Lehrer und Gelehrten Anhänger von Christus waren.« Er zuckte die Achseln. »Zumindest theoretisch. Vor etwa sechs Jahren bekamen die Behörden jedoch sehr genaue Informationen, wo und nach wem sie suchen sollten, alle Beweise, die sie benötigten. Mindestens vierzig Menschen wurden verhaftet, von denen dreißig zur Hinrichtung nach Rom gebracht wurden.« Claudia stieß einen leisen Pfiff aus. »Athanasius ist der Ansicht, daß die Verräter unter den Arianern zu suchen sind. Heute vormittag wird er die Aufmerksamkeit der Kaiserin auf dieses Thema lenken.« »Aber warum?« fragte Claudia. »Konstantin kümmert es nicht, was vor sechs Jahren passiert ist. Er ist kein Christ, und er schert sich keinen Deut darum, ob es in eurer Gemeinde einen Heuchler und Verräter gibt!« »O ja«, seufzte Sylvester, »aber Athanasius wird darlegen, daß diese Verräter ihre eigenen Leute ans Messer geliefert, unschuldige Männer, Frauen und Kinder in den Tod geschickt haben. Er könnte gut behaupten, daß in der christlichen Gemeinde noch immer solche Leute auf der Lauer liegen…« »Ich verstehe.« Claudia nickte. »Und Menschen, die schon einmal jemanden verraten haben, werden es wieder tun?« »Genau«, sagte Sylvester. »Athanasius wird folgendes andeuten: wenn solche Männer und Frauen bereit sind, den Bischof von Rom zu verraten, warum nicht auch den Kaiser von Rom?« »Aber Athanasius ist doch einer von euch. Warum sagt ihr ihm nicht einfach, er soll den Mund halten?«
»Das haben wir bereits versucht«, entgegnete Sylvester. »Du hast Athanasius kennengelernt: Er ist hitzig und braust leicht auf, aber das ist nicht alles. Er behauptet, daß Justin, der Anführer der Arianer, den Athanasianern ebenfalls Verrat vorwerfen wird. Ich möchte dich bitten, Claudia, mit der Kaiserin zu sprechen. Ich will mich nicht öffentlich einmischen.« »Aber du hast mir das doch aus einem anderen Grund erzählt, nicht wahr?« »Ja, das stimmt«, räumte Sylvester ein. »Jetzt siehst du, Claudia, wie sehr wir Christen einander lieben! So sehr«, fügte er trocken hinzu, »daß wir bereit sind, einander zu töten und zu verstümmeln. Ich habe erst heute morgen erfahren, was sie vorhaben, und das muß verhindert werden.« »Und der andere Grund?« fragte Claudia. Sylvester tätschelte ihre Schulter und erhob sich. »Der Mord an Dionysius könnte mit diesen Beschuldigungen im Zusammenhang stehen. Ich weiß es nicht, aber ich habe hier so ein Gefühl« – er klopfte sich mit der Hand auf die Brust –, »daß Dionysius vielleicht nicht der letzte bleiben wird, der in der Villa Pulchra starb.« Als Sylvester gegangen war, blieb Claudia auf dem Hocker sitzen und blickte auf ihre sandalenbekleideten Füße. Draußen auf dem Gang konnte sie die Mitglieder des Kaiserhofes, die sich im Peristylgarten versammelten, reden und lachen hören. Sie stand auf und verließ den Raum, drängte sich durch die Menschenmassen, bis sie im vollen Licht der Sonne stand. Sie seufzte erleichtert auf; die Kaiserin saß jetzt neben ihrem Sohn auf dem Thron, doch aus dem Durcheinander, das bei den Schreibern herrschte, schloß Claudia, daß das Streitgespräch noch nicht begonnen hatte. Unter wortreichen Entschuldigungen stieß und schob sie sich durch die Menge und gelangte schließlich zu der Reihe von Soldaten, die den
Kaiser bewachten. Ein Soldat hob seinen Schild. Claudia entdeckte Gaius und rief ihn beim Namen. Der Beamte kam eilig zu ihr, wobei er die Toga hochhob, um seinen Kopf vor der Sonne zu schützen. »Na so was, Claudia«, sagte Gaius und lächelte auf sie hinunter, »die Kaiserin hat sich schon gefragt, wo du bleibst.« »Ich muß sie dringend sprechen.« Gaius winkte sie durch, nahm sie an der Schulter und führte sie zu den kaiserlichen Thronen. Claudia hockte sich zur Rechten der Kaiserin hin. »Schau, schau, mein Mäuschen.« Helena wandte nicht einmal den Kopf. »Ich habe dich kommen gesehen. Hast du mit Sylvester gesprochen?« Jetzt drehte sie sich um und zwinkerte Claudia zu. »Wie hat dir meine Vorführung heute morgen gefallen? Ich hoffe nur, daß keiner dieser reizenden Jungen die heilige Reliquie gestohlen hat, aber das muß jetzt warten. Was willst du?« Claudia erklärte der Kaiserin in kurzen, präzisen Sätzen, daß Sylvester darauf hingewiesen hatte, die beiden christlichen Glaubensrichtungen könnten das Streitgespräch dazu benutzen, die schwersten Beschuldigungen gegeneinander zu erheben. Helena hörte ihr zu, entließ sie dann mit einem Fingerschnippen, drehte sich um und sprach mit ihrem Sohn. Claudia stand hinter den kaiserlichen Thronen und beobachtete, wie Chrysis in die Reihen der Schreiber, die ihre Hocker zu beiden Seiten des Beckens aufstellten, Ordnung brachte. Er verbeugte sich spöttisch nach beiden Seiten und sprach ein paar kurze, sardonische Worte. Er war sich seines Publikums wohl bewußt. Die Christen mochten die Unterstützung des Kaisers haben, doch am Hof gab es viele, die den neuen Glauben bestenfalls mit Belustigung, und einige wenige, die ihn mit wahrer Feindseligkeit betrachteten. Chrysis wollte sich gerade zurückziehen, als der Kaiser die Hand hob
und mit dröhnender Stimme verkündete, daß es in dem folgenden Streitgespräch ausschließlich um theologische Dinge gehen solle und um nichts anderes. Er sprach die scharfe Warnung aus, daß jeder Redner, der von der Tagesordnung, die vor ihm lag, abweiche, die unangenehmsten Folgen zu erwarten habe. Die Worte des Kaisers riefen auf beiden Seiten Aufregung und verschwörerisches Geflüster hervor. »Wir warten«, rief Chrysis und deutete auf das Podium. Athanasius erhob sich, verneigte sich vor dem Kaiser und seiner Mutter, stieg auf das Podium und breitete sorgfältig sein Pergament aus. Er blickte auf die diversen Persönlichkeiten von Rang, zeichnete theatralisch ein Kreuz in die Luft und hielt dann mit gesenktem Kopf inne, als bete er. Claudia sah interessiert zu. Sie hatte die Gäste ihres Onkels oft mit Pantomimen oder mit Rollen aus einem der großen klassischen Stücke unterhalten und erkannte in Athanasius einen Schauspielerkollegen. Er begann langsam, mit gespanntem Körper und sprach ziemlich leise, entspannte sich dann aber, und seine Stimme wurde voll und weich. Athanasius war auch ein Gelehrter mit ausgezeichneten Griechischkenntnissen – kein mickriger Philosoph oder Sophist, der mit Worten spielte oder Fragen stellte, ohne sie zu beantworten. Er beeindruckte seine Zuhörer sofort, indem er die Klassiker zitierte, bevor er zu seinem Hauptthema kam: Er definierte in sehr fachspezifischen Ausdrücken die Heilige Dreieinigkeit und ihre Zusammensetzung, Gottvater, Sohn und Heiliger Geist. Er stellte dieses Dogma als radikal und revolutionär dar; er führte einen der großen christlichen Schriftgelehrten an, Johannes, und zitierte die erste Zeile eines Berichts dieses Mannes, der mit Christus gelebt und gearbeitet, ihn sterben und wiederauferstehen gesehen hatte. »Johannes schreibt«, Athanasius legte eine Pause ein und stieß einen Finger in die Luft: ›»Im Anfang war das Wort, und
das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.‹« Mit seiner weichen Stimme konzentrierte er sich auf den griechischen Ausdruck für »das Wort«, o Xoyoo, dem er große Bedeutung beimaß. Dann ging er zu anderen Texten über, die bewiesen, daß das Wort Fleisch geworden war. Justin wollte etwas einwerfen, doch Athanasius war jetzt in Schwung gekommen, er zitierte weiter aus dem Evangelium und den Schriften des Johannes und anderen Texten des Evangeliums, um zu beweisen, daß Christus gesagt hatte, er und der Vater seien eins. Claudia hörte genau zu, gebannt von der Kraft von Athanasius’ Redekunst und von seiner kritischen Haltung als Gelehrter, die sein Publikum tief beeindruckten. Selbst Konstantin lauschte ihm aufmerksam, während Helena mit dem Fuß tappte, was sie häufig tat, wenn sie zufrieden war. Claudia betrachtete die Gesichter, die sie umgaben. Gaius Tullius konzentrierte sich mit geschlossenen Augen aufs Zuhören. Timothaeus strahlte vor Freude, während Sylvester, der neben ihm stand, zustimmend nickte. Sie wäre gern geblieben und hätte zugehört, entschied jedoch, daß dies der beste Zeitpunkt war, den Schauplatz des Mordes an Dionysius aufzusuchen. Sie schlich sich davon, huschte durch ein Labyrinth von Gängen und durch den Garten in den dahinter liegenden Obstgarten. Sie trat unter die Bäume und entdeckte auf dem Boden Kratzspuren, konnte aber nicht sagen, ob sie etwas mit dem Mord zu tun hatten oder von jenen stammten, die die Leiche gefunden hatten. An der Stelle, wo der Philosoph gestorben war, war das Gras dunkel vom Blut, über dem Fliegen summten. Im Geäst über ihr zwitscherte laut ein Gimpel, als hätte er etwas gegen ihre Anwesenheit. Claudia kauerte sich auf Händen und Knien nieder und untersuchte den Boden sorgfältig. Sie entdeckte die kleinen Löcher, wo die Pflöcke in die Erde getrieben worden
waren, und konnte die schwachen Umrisse des Körpers erkennen, der dort gelegen war. »Hier bist du also gestorben«, murmelte sie vor sich hin. Sie ging zurück und inspizierte dabei das Gelände, bis sie zu einem Apfelbaum kam. Der Boden darunter wies ebenfalls Blutspuren auf, und in einiger Entfernung lag ein moosbewachsener Stein. Sie hob ihn auf – er war schwer, doch sie schaffte es, ihn neben ein kleines Blumenbeet ins Sonnenlicht zu tragen. Sie legte den Stein nieder und strich mit den Fingern darüber. Die Flechten waren zerstört, und sie entdeckte Spuren von Blut und ein paar Haare. Claudia hockte sich hin und starrte auf den Apfelbaum. »Also, Dionysius«, flüsterte sie. »Du hast hier gesessen, hast meditiert oder geschlafen. Dein Mörder hat sich wie ein Schatten herangeschlichen und dir mit diesem Stein auf den Kopf geschlagen und dich betäubt.« Sie stand auf. »Dann wurdest du weiter unter die Bäume gezerrt und ermordet.« Claudia ging weiter. Ihre Schritte verursachten ein leises Geräusch, daher zog sie die Sandalen aus und stellte fest, daß sie lautlos über das Gras gehen konnte. In der Gewißheit, alles gesehen zu haben, was es zu sehen gab, trat sie in einen angrenzenden Garten und lief über den Rasen zum niedergebrannten Totenhaus, von dem jetzt nur noch ein Haufen verkohlter Trümmer übrig war. Daneben saß ein Sklave auf dem Boden und starrte traurig auf die Überreste des Hauses. »Was machst du denn da?« fragte Claudia. »Der Hauptmann der Wache hat gesagt, ich soll hierbleiben, bis die Trümmer genauer untersucht sind, aber es gibt nichts zu untersuchen.« Der Mann hatte ein schmales Gesicht mit Bartstoppeln auf Wangen und Kinn. Er zupfte an einem losen Faden seines schmutzigen Gewandes.
»Ich hoffe, sie geben nicht mir die Schuld«, jammerte er. »Weißt du, es war meine Aufgabe, die Toten zu bewachen, das Totenhaus sauberzuhalten und mich ganz allgemein darum zu kümmern.« Claudia setzte sich neben ihn. »Was ist passiert?« fragte sie. »Erzähle es mir genau – nicht von der Leiche des alten Mannes, sondern von dem, der im Obstgarten ermordet wurde.« »Ach, der sah wirklich schlimm aus«, antwortete der Sklave. »Der Hauptmann der Wache brachte seine Leiche ins Totenhaus und trug mir auf, sie zu waschen. Hier hatte der Tote eine schreckliche Wunde.« Der Sklave klopfte auf die linke Seite seines Kopfes. »Und sein Körper war ganz zerschnitten, Arme, Beine und Brust, sogar die Fußsohlen. Er muß unter großen Schmerzen gestorben sein. Seine Augen waren noch immer offen, und er hatte diesen furchtbaren Knebel im Mund, ein Stück Leder, wie die, mit denen man Türen offenhält.« »Und die Fesseln?« fragte Claudia. »Die Stricke an den Händen und Füßen des Opfers?« »Sie befanden sich noch immer an seinen Hand- und Fußgelenken, sehr fest gebunden. Ich mußte sie mit einem Messer abschneiden.« »Und was hast du damit gemacht?« »Ich habe sie auf den Boden geworfen. Weißt du, Herrin, ich bekam Hunger; ich hatte schon eine Leiche gewaschen – nun ja, viel mehr hält man an einem einzigen Tag nicht aus. Ich wollte meine Ration nicht verpassen, also dachte ich, den mache ich heute früh fertig.« Er rieb sich den Bauch. »Natürlich gab man uns Reste aus der Küche, also habe ich gut gegessen und legte mich dann schlafen. Als ich aufwachte, stand das Totenhaus in Flammen.«
Claudia reichte ihm eine Münze aus ihrem Geldbeutel, erhob sich und ging zu den geschwärzten Überresten des Totenhauses. Sie trug ihre Sandalen noch immer in der Hand, nun zog sie sie an und trat auf die glimmende Asche. Das Haus war vollkommen zerstört, vor ihr lag ein Durcheinander von Holz und Steinen, das mit feinem weißem Staub und schwarzer Asche bedeckt war. Sie mußte sich sehr vorsichtig bewegen. Dann kauerte sie sich nieder und untersuchte mit Hilfe ihres Dolches die Trümmer. Es roch schwach nach Öl und etwas widerlich Süßlichem. Die beiden Leichen mußten vollständig verbrannt sein, wie alles im Totenhaus. Sie erhob sich und ging, neugierig beobachtet von dem Sklaven, um die Reste des Hauses herum. Das Feuer war ganz isoliert gewesen, weil das Totenhaus weit weg vom Garten auf einer Steinplatte gestanden hatte. Das Gras, das rundum wuchs, war versengt, doch Claudia fand keinen Hinweis darauf, daß das Feuer mit einer brennenden Fackel oder einem hastig hineingeworfenen Topf voll brennendem Öl gelegt worden war. Wieder trat sie auf die Trümmer, und diesmal half ihr der Sklave, die verkohlten Ziegel und Holzstücke wegzuschieben, aber sie konnte noch immer nichts finden. Claudia dankte dem Mann, ging zu den Gärten und in einen kleinen, schattigen Säulenvorbau, der dazu diente, die kaiserlichen Bewohner vor der Sonne zu schützen. Der Wind trug das Geräusch von Stimmen und gelegentlichem Applaus zu ihr – das Streitgespräch war wohl noch immer im Gang. Sie legte sich ins Gras und blickte durch die Spalten im Dach des Säulenvorbaus auf den blauen Himmel, über den ab und zu weiße Wolkenfetzen zogen. Das hatten sie und Felix gern getan. Wenn sie allein war, hatte Claudia fast das Gefühl, daß ihr Bruder wieder da war, ausgestreckt neben ihr lag, sie hingebungsvoll ansah und sich fragte, was seine geliebte Schwester wohl als nächstes vorhatte. Sie blinzelte, um die
Tränen zu vertreiben, und konzentrierte sich auf die Rätsel der Villa Pulchra. Sie hatte keine Erklärung für das Verschwinden des Schwerts, während es für Dionysius’ Tod in einem Haus voller Verdächtiger eine Reihe von Motiven gab. Unter der glatten Fassade dieses eleganten Landsitzes schwelten dunkle, leidenschaftliche Gefühle; alte Erinnerungen und alter Groll traten an die Oberfläche. Doch was Claudia überhaupt nicht verstand, war, warum man das Totenhauses zerstört hatte. Da es keine weiteren Beweise gab, hatte sie mit Bestimmtheit geschlossen, daß das Haus nicht in Brand gesetzt worden war, um den unglückseligen Dionysius noch weiter zu entehren; der Mörder wollte offenbar etwas vernichten, das bei genauerer Untersuchung seine Identität enthüllen mochte. Claudias Augen wurden schwer. Sie dachte daran, zu dem Streitgespräch zurückzukehren, war jedoch binnen weniger Minuten fest eingeschlafen. Als sie aufwachte, sah sie an den langen Schatten des Baumes neben ihr, daß sie doch geraume Zeit geschlafen hatte. »Ich habe dich beobachtet.« Schnell wandte sich Claudia um. Eine schattenhafte Gestalt tauchte auf, halb verborgen von einem Baumstumpf. »Wer bist du?« Claudia wollte aufstehen, verfing sich aber in ihrem Gewand. »Komm, ich helfe dir.« Sie spürte, wie eine Hand ihren Arm packte, und blickte auf zu Athanasius, dessen Augen jetzt nicht mehr so hart waren. Etwas verlegen angesichts ihrer Verdächtigungen, dankte sie ihm. Athanasius schüttelte das Gras von ihrer Tunika. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.« Er lächelte. »Ich sehe, das Streitgespräch hat wenigstens etwas Gutes bewirkt: Du hast tief und fest geschlafen. Wenn ich eine Rede gehalten habe, mache ich hinterher immer einen Spaziergang, um mich zu entspannen.«
»Habt ihr gewonnen?« Claudia setzte sich ins Gras, und Athanasius gesellte sich zu ihr. »Nun, es hat keine Abstimmung gegeben.« Athanasius nagte an seiner Lippe und starrte auf einen Punkt hinter Claudia. Er kniff die Augen zusammen. »Nein, es hat keine Abstimmung gegeben«, wiederholte er, »aber ich glaube, wir haben unsere Argumente klar dargelegt. Justin konnte meinen Zitaten aus der Heiligen Schrift nichts entgegenhalten. Er wurde konfus und hat ziemlich wirr geredet. Ich glaube, wir haben den Sieg davongetragen.« »Warum wollte sich Dionysius auf eure Seite schlagen?« Athanasius zuckte die Schultern. »Aufstieg, Ehre, Reichtum. Er hat erkannt, aus welcher Richtung der Wind weht.« »Also könnte er von einem Mitglied seiner eigenen Fraktion ermordet worden sein?« »Oder von einem von uns?« entgegnete Athanasius verächtlich. »Die Religion ist wie die Politik, Claudia. Wir singen vielleicht alle dasselbe Lied, aber das heißt nicht, daß wir alle gern im selben Chor sind. Dionysius hätte uns Informationen über mögliche Verräter in unseren eigenen Reihen liefern können.« »Könnte er irgend etwas mit den Lapsi zu tun gehabt haben?« »Ah!« meinte Athanasius lächelnd. »Also weißt du alles darüber. Ich habe gesehen, wie du mit der Augusta geflüstert hast. Ich habe mich schon gefragt, wer die Kaiserin informiert hatte. Kein Wunder, daß der Kaiser sein Dekret erlassen hat.« Er beugte sich vor und faltete die Hände wie zum Gebet. »Weißt du, Claudia, die Rednerschule von Capua ist ziemlich berühmt. Viele christliche Familien flohen dorthin, um der Verfolgung in Rom zu entgehen. Als Diokletian seinen Angriff befahl, konzentrierte man sich speziell auf Capua. Die Behörden schleusten Spione und Informanten in die Stadt. Wir erlebten plötzlich einen neuen Zustrom von Möchtegern-
Gelehrten, von denen einige echt waren, andere aber etwas anderes im Sinn hatten. Übrigens, ich sage nicht, daß du eine Spionin bist.« »Oh, aber da irrst du dich, Magister.« Claudia lächelte. »Ich bin eine Spionin, aber keine Verräterin. Da gibt es einen Unterschied.« »Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist«, fuhr Athanasius fort. »Wir haben unsere heiligen Gefäße versteckt und uns nachts in unterirdischen Höhlen oder draußen auf dem Land getroffen. Wir waren sicher – das dachten wir wenigstens, bis alle Dämonen der Hölle losbrachen. Die Razzien wurden verstärkt, immer mehr Menschen wurden verhaftet. Eine Truppe von Folterknechten kam aus Rom, und die Verhöre begannen.« »Wurdest du verhaftet?« »Ja, ja, ich wurde verhaftet. Damals war ich wesentlich jünger, hatte aber einflußreiche Gönner, und ich hatte meine Lektion gelernt. Wenn du jemals verhört wirst, Claudia, schweig nicht, sondern erzähle ihnen eine Geschichte, irgendeine Geschichte, solange sie nur plausibel ist. Ich wurde entlassen und bin geflohen, bevor die richtige Verfolgung begann. Andere hatten nicht soviel Glück. Einige hat man körperlich und seelisch zerbrochen, andere starben unter der Folter, und ziemlich viele wurden nach Rom gebracht, wo sie einen grauenhaften Tod erlitten.« »Und Dionysius?« fragte Claudia leise. »Dionysius war kaum zwanzig und gerade zu unserem Glauben übergetreten. Er war damals etwas Ähnliches wie du, Claudia, ein Bote, der zwischen den einzelnen Gruppen hin und her pendelte. Er wußte, wann und wo wir uns trafen. Er wurde ungefähr zur selben Zeit entlassen wie ich.« Athanasius verstummte, schnalzte mit der Zunge, und Claudia sah, wie er gegen die Tränen ankämpfte. »Kurz danach waren die
römischen Behörden, wie soll ich sagen, bei ihren Durchsuchungen erfolgreicher. Und die Gefängnisse quollen von gefangenen Christen über.« »Hat man Dionysius verdächtigt, ein Ischarioth, ein Verräter, zu sein?« »Wir wurden alle verdächtigt, auch ich. Das furchtbare daran ist, daß Dutzende Menschen eines grauenhaften Todes gestorben sind.« »Also«, stellte Claudia langsam fest, »könnte Dionysius von seinen eigenen Leuten ermordet worden sein, weil sie wußten, daß er sie verraten wollte. Aber er könnte auch von jemandem von euch umgebracht worden sein, weil er Informationen hatte, die für euch eine Bedrohung darstellen mochten. Oder der Mörder war jemand, der einen Verwandten oder Freund rächen wollte, der vor einem Jahrzehnt in die brutale Verfolgung geriet.« »Und was glaubst du?« Claudia betrachtete Athanasius’ kluges, zynisches Gesicht. Obwohl er ihr anfangs nicht sympathisch gewesen war, hatte sie das Gefühl, diesem Mann, der auf seine Art integer war und leidenschaftlich für die Sache, an die er glaubte, eintrat, vertrauen zu können. »Claudia?« Athanasius wedelte mit der Hand vor ihren Augen. »Ich dachte an die Grausamkeit seines Todes«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lachen. »Derjenige, der Dionysius getötet hat, ist nicht mit einem Dolch oder einer Axt von hinten an ihn herangeschlichen, er hat ihm nicht mit einem Knüppel den Schädel eingeschlagen. Dionysius wurde zuerst betäubt, dann unter die Bäume gezerrt, geknebelt, festgebunden und gefoltert.« Sie schnipste mit den Fingern. »Sag mir, Athanasius«, fuhr sie eilig fort, »gibt es nicht eine Folter, wo
der Gefangene an Ketten aufgehängt und mit Tausenden Schnitten umgebracht wird?« »Ich habe von solchen Grausamkeiten gehört«, räumte Athanasius ein. »Ich sehe, in welche Richtung deine Gedanken gehen. Du hast deine Frage selbst beantwortet: Wurde Dionysius ermordet, um Rachegefühle zu befriedigen, die der Mörder seit der großen Verfolgung gehegt hat?« »Möglich ist es.« Claudia stand auf und begann sich zu entfernen. »Wenn du irgend etwas Neues hörst…«, rief sie über die Schulter zurück. »Dann erfährst du es als erste«, erwiderte Athanasius. Das Schläfchen hatte Claudia erfrischt, und sie beschloß, zur Villa zu gehen. Sie hoffte Leuten zu begegnen, die sie insgeheim verdächtigte. Sie traf als erstes auf Justin, der sich mit seinem Jünger in einem Säulengang ausruhte; die beiden ertränkten ihre Sorgen in einem Krug Wein. Sie blickten auf und begrüßten sie. »Ich habe gehört, du hast dich sehr gut geschlagen«, versuchte Claudia die Sache herunterzuspielen. »Dann«, lallte Justin, »bist du die einzige hier, die das glaubt. Athanasius hat mich verwirrt. Ich dachte, er würde über das göttliche Wesen sprechen.« »Ja, ja«, warf Claudia ein, »aber ich will nicht über deinen Gegner reden, sondern über Dionysius. Wußtest du, daß er euch verraten wollte?« Justin warf seinem Begleiter einen raschen Blick zu. Er hatte vor zu lügen, ließ aber dann die Schultern hängen und nickte. Claudia dachte, er sei deprimiert, doch als er sein müdes Gesicht hob, brannte in seinen Augen Haß. Man hat dich in die Falle gelockt und gedemütigt, dachte Claudia. Du bist ein sehr gefährlicher Mann.
»Dionysius«, Justin spie das Wort verächtlich aus, »war wie ein Rohr im Wind. Wir hatten schon so unseren Verdacht. Er war still geworden, verschlossen.« »Und?« fragte Claudia. »Wir haben erfahren, daß er in Athanasius’ Haus ging und seine Vorträge besuchte. Also wird er uns nicht fehlen, nicht wahr? Mehr habe ich über seinen Tod nicht zu sagen.« Justin wandte sich ab und nahm den Weinkrug, um seinen Becher zu füllen. Sein Jünger schniefte und musterte Claudia von Kopf bis Fuß. Sie unterdrückte eine zornige Antwort. Als sie sich umdrehte, sah sie Burrus und seine Kohorte von Söldnern um die Ecke biegen und den Säulengang entlangstolzieren. Beim Anblick der Männer mit ihren dicken Bärten und den Fellumhängen, die sie auch bei der größten Hitze nicht ablegen wollten, mußte sie immer an ein Rudel dahintrottender Bären denken. Trotz der Anweisungen der Kaiserin hatten sie alle getrunken. Claudia ging auf sie zu und versperrte ihnen den Weg. Burrus blieb so abrupt stehen, daß seine Männer ineinanderliefen. Sofort umringten sie sie. Claudia blickte sie an; hellblaue Augen in narbenübersäten, wettergegerbten Gesichtern starrten zurück. Sie konnte das Fett und das Öl riechen, mit dem sie ihre Körper einrieben, und das Parfüm, mit dem sie den Geruch übertünchen wollten – ein vergebliches Unterfangen: sie stanken dennoch stets nach Bärenhöhle und Stall. Die Germanen lächelten freundlich auf sie hinab, wobei sie entweder auf ihre Schwertgriffe klopften oder mit den Fingern ihre Bärte und Schnurrbärte kämmten; das taten sie immer, wenn sie den Wert einer Frau abschätzten. Claudia schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. Sie brummten und verbeugten sich. Sie mochten die Kleine, das Mäuschen der Kaiserin. Sie hatten gesehen, wie die Augusta ihr über das Haar strich, und deshalb hatten sie sie ebenfalls gern. Sie wußten auch von
Murranus und waren zu dem Schluß gekommen, daß ein solcher Mann eine Gefährtin mit dem Herz einer Kriegerin brauchte. Claudia ihrerseits ließ sich von ihrem Geschrei und ihrer ulkigen Art nicht täuschen; diese Männer waren Killer, berühmt für ihre Brutalität und Schläue. Sie hatten immer wieder bewiesen, daß ihr grobes, rauhes Äußeres einen Verstand verbarg, der scharf wie ein Schwert war. Und sie nahmen sich auch gern, was immer sie fanden, einschließlich Frauen. Jetzt begannen sie unruhig zu werden. Claudia sah, daß zwei von ihnen versuchten, sich hinter den anderen zu verstecken; das war seltsam, denn normalerweise stand ein jeder Krieger gerne im Mittelpunkt. Sie ging zu den beiden, die sich im Hintergrund hielten, und gab den anderen mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie beiseite treten sollten. Anfangs reagierten sie nicht. »Bitte«, sagte Claudia lächelnd. Sie gehorchten. Sie stellte sich vor die beiden. Sie standen mit hängenden Armen da und warfen ihr unter den Augenbrauen ängstliche Blicke zu. Sie bemerkte unter ihren Tuniken eine leichte Ausbuchtung. Indem die zwei Söldner versuchten, ihre Umhänge darüber zu ziehen, lenkten sie erst recht die Aufmerksamkeit darauf. »Bitte«, sagte Claudia und streckte ihre Hand aus, »zeigt mir, was ihr da habt.« Die beiden traten unruhig von einem Fuß auf den anderen. Claudia schnipste mit den Fingern. Sie zuckten die Achseln, warfen ihre Umhänge zurück und lüfteten die Tuniken, so daß ihre behaarten Bäuche zu sehen waren. Jeder der beiden zog eine schöne Elfenbeinstatue der Göttin Juno heraus, die nach der griechischen Mode gekleidet war und auf einem kleinen Hügel stand. Um ihre Knöchel rankte sich ein Rosenstrauch, in einer Hand hielt sie ein Blitzbündel, in der anderen Trauben. Claudia balancierte beide Statuetten auf den Händen und blickte von einem zum anderen. Burrus starrte sie mit offenem
Mund an. Die anderen betrachteten angelegentlich den Himmel, als sähen sie ihn zum ersten Mal. Die beiden Männer fielen auf die Knie und schlugen die Hände vors Gesicht – nach den Gebräuchen ihres Stammes eine Bitte um Gnade. »Was ist da los? Was ist da los?« Die Söldner traten beiseite; Gaius Tullius und eine Gruppe von Wachbeamten kamen durch den Säulengang. Sie waren nicht in Uniform, sondern trugen einfache Tuniken über ziemlich zerlumpten Hosen und an den Füßen geschnürte Stiefel. Gaius hatte den Schwertgürtel über die Schulter geworfen. Die Söldner wurden unruhig. Die regulären Soldaten und die »Hilfstruppen«, wie man sie verächtlich nannte, konnten einander nicht riechen. »Was ist da los?« fragte Gaius erneut und drängte sich durch die Söldner. Sein hübsches Gesicht war angespannt, sein Blick wachsam. Claudia hörte das Klirren von Stahl – seine Begleiter zogen ihre Schwerter. Einer der Söldner wollte aus Angst davor, was passieren könnte, nach dem Dolch in seinem Gürtel greifen, doch Gaius schlug seine Hand weg. »Ihr seid nicht berechtigt, hier eure Waffen zu ziehen. Claudia?« Gaius drehte sich um und blickte auf die zwei Statuetten, die sie in den Händen hielt. »Ich verstehe.« Er nahm ihr eine der Statuen ab, wandte sich um und hielt sie Burrus vor die Nase. »Soll ich dir sagen, welche Strafe auf Diebstahl in einem Kaiserpalast steht? Neunundvierzig Peitschenschläge und möglicherweise Kreuzigung. Ich will die Missetäter haben!« »Hauptmann, Hauptmann.« Gaius drehte sich zu ihr um. »Ja, Claudia?« »Ich glaube, du begehst einen Fehler.« Claudia sprach bewußt langsam, damit die Germanen sie verstehen und nicht eingreifen würden. »Diese Herren waren auf einem Rundgang
durch das Anwesen und haben dabei diese Statuetten gefunden, die unter einem Strauch hervorsahen, sie aufgehoben und mir gebracht, damit ich den rechtmäßigen Besitzer ausfindig mache.« »Könnt ihr mir diesen Strauch zeigen?« »Hauptmann«, sagte Claudia und klimperte mit den Wimpern, »willst du etwa sagen, daß ich lüge? Schließlich hast du doch den Beweis. Ich hielt die Statuen in den Händen, nicht sie. Und ich habe sie ganz gewiß nicht gestohlen. Ich kann belegen, wo ich heute den ganzen Vormittag war. Aber wenn…« »Natürlich«, antwortete Gaius hastig. Er drehte sich um und klopfte Burrus auf die Schulter. »Ihr könnt euch sehr glücklich schätzen.« Die Männer seiner Eskorte steckten die Schwerter wieder in die Scheiden, Gaius verbeugte sich und ging. Sobald sie außer Sichtweite waren, wurde Claudia von den Germanen umringt, gedrückt, umarmt, hochgehoben und auf beide Wangen geküßt. Sie hatte das Gefühl, von einer freundlichen Bärenfamilie adoptiert worden zu sein. Die Germanen brummten vor Vergnügen. Manche lachten still vor sich hin und versuchten ihre Heiterkeit zu verbergen, obwohl ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Burrus packte sie an der Schulter und führte sie aus dem Säulengang hinaus in den Schatten einiger sehr knorriger Olivenbäume in einem uralten Wäldchen, das zur Zeit der Erbauung der Villa Teil des Gartens gewesen war. Sobald sie niemand mehr sehen konnte, blieb er stehen, legte Claudia die Hände auf die Schulter und strahlte sie an. Dann sagte er über seine Schulter schnell etwas auf germanisch. Die beiden Missetäter kamen einer nach dem anderen her und ließen sich zu ihren Füßen auf die Knie nieder, nahmen ihre Hände und hielten sie fest, während sie mit ernster Miene und leuchtenden Augen irgendeinen Eid sprachen.
»Sie gehören jetzt dir«, übersetzte Burrus, »im Frieden und im Krieg. Blut und Feuer werden sie nicht abschrecken. Du hast soeben zwei Brüder gewonnen, Claudia.« Sie blickte hinab auf diese zwei Neuzugänge in ihrer Familie, lächelte und dankte ihnen. Noch einmal wurde sie von der Horde umzingelt und von allen ans Herz gedrückt. Atemlos und mit dem Gefühl, blaue Flecken zu haben, gab sie Burrus die Statuetten. »Wenn euch euer Leben lieb ist«, sagte sie – ein Ausdruck, den Burrus gern verwendete –, »dann bringt diese verdammten Dinger dorthin zurück, wo ihr sie gefunden habt, und tut das nie, nie wieder.« Sie hielt seinem Blick stand. »Jetzt könnt ihr mir einen Gefallen tun. Ich möchte, daß ihr zu dem Keller mitkommt, wo das heilige Schwert hing.« Sie folgten ihr gehorsam durch den Säulengang, durch die Gärten, den Peristylhof und die Treppen zum Keller hinunter. Unten angekommen, wollten sie nicht weitergehen, sondern standen wie Kinder da und schwatzten miteinander. Burrus erklärte, daß sie den Keller noch immer als heiligen Ort betrachteten, der von christlichen Geistern heimgesucht wurde. »Na gut«, seufzte Claudia. »Ihr anderen könnt zurück ins Peristyl gehen. Burrus, ich brauche die beiden Wachen, die an dem Tag, als das Schwert verschwand, Dienst hatten.« Burrus stieß einen Befehl aus. Eine Zeitlang herrschte Verwirrung. Die Germanen wollten gar nicht gehen; sie waren fasziniert von diesem gewieften Geschöpf, das ein Gesicht hatte wie eine ihrer Waldelfen und das einen mächtigen Offizier ausgetrickst und damit zwei ihrer Kameraden gerettet hatte. Doch nachdem Burrus sie angeschrieen und einigen von ihnen einen Schlag versetzt hatte, schlurften sie die Treppe hinauf. Claudia war nicht überrascht, daß die beiden verbleibenden Wachen die Statuettendiebe waren. Sie wirkten ziemlich verlegen; einer starrte auf die Wand, als interessiere er sich für das
Mauerwerk, der andere auf den Boden, als habe er etwas Wertvolles verloren. »Burrus«, sagte Claudia und zupfte den Söldner an seinem Umhang, »hast du das Schwert genommen?« Er stieß aufgeregte Schwüre aus, die seine Begleiter wiederholten. »Na schön«, meinte Claudia. »Zeigt mir, was an jenem Tag passiert ist.« Die beiden Wachen bezogen zu beiden Seiten der Tür Stellung und hockten sich auf die Fersen. Burrus demonstrierte, wie Timothaeus seinen Schlüssel ins Schloß gesteckt hatte und er den seinen. »Und du bist sicher, daß die Tür verschlossen war?« fragte Claudia. Burrus brummte bejahend. »Jetzt geht die Tür auf.« Claudia sah, daß die beiden Hockenden sich nicht bewegten, doch Burrus sprang zurück, als ob jemand in der Dunkelheit dahinter lauere. Sie ging hinein und hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloß. Sie öffnete sie und trat wieder hinaus. »Bis du sicher, daß das so war? Ich meine, daß die Tür geschlossen wurde?« Burrus nickte. »Hatte Timothaeus eine Lampe bei sich?« »O ja«, antwortete Burrus und beschrieb sie mit seinen Händen. »Eine von diesen Laternen.« »Ich verstehe. Bring mir eine.« Der Hauptmann der Söldner lief eilig davon und kam mit einer großen Laterne mit bronzenem Rahmen und Seitenflächen aus Pergament zurück. Claudia öffnete den Riegel; drinnen war in der Mitte eine Öllampe befestigt. Einer der Wachen brachte ihr Zunder; sie zündete die Lampe an und ging zurück in den Keller. Dort nahm sie einen der Hocker,
setzte sich an den Rand des Sandkreises und blickte hinauf auf den leeren Haken. Dann schloß sie die Augen. Timothaeus kam hier herein, dache sie, und fiel in Ohnmacht. Sie schlug die Augen wieder auf und drückte ihre Hand tief in den Sand. Was war geschehen? Auf welche Weise war das Schwert verschwunden? »Burrus«, rief sie. Der Germane antwortete nicht, daher ging Claudia hinaus. Sie fragte ihn, ob der Keller nach dem Diebstahl genau durchsucht worden sei. Burrus nickte. »Ich glaube schon, es war jedoch offensichtlich, daß das Schwert weg war.« »Aber war es wirklich weg?« fragte Claudia. Während ihres Aufenthalts im Keller war ihr eine neue Idee gekommen.
KAPITEL 6 »Die Redlichkeit erntet Lob und muß frieren.« Juvenal, Satiren, I
Claudia verließ den Keller und kehrte zurück zu den Peristylgärten. Sie sah zu, wie Dienstboten an einem Spalier, das den Rasen von der schattigen Kolonnade trennte, die üppigen Rosensträucher stutzten. Ein Sklave kam und fragte, ob sie etwas aus der Küche wolle. Claudia dankte ihm lächelnd. Kurz darauf tauchte ein anderer Sklave auf und brachte ihr ein Tablett mit einem gut gefüllten Teller mit geräuchertem Fisch und Weinblättern, gewürztem Gerstenbrei, in Wein pochierten Eiern, einem Stück Käse und Gebäck sowie zwei Bechern Weißwein. »Zwei?« Claudia hob den Kopf und schirmte ihre Augen vor der Sonne ab. Sie erkannte den Sklaven – es war derjenige, den sie beim Totenhaus befragt hatte. »Du möchtest mit mir trinken?« Das Gesicht des Mannes erhellte sich zu einem Lächeln. »Von Herzen gern, Herrin. Ich entschuldige mich für meine Dreistigkeit, aber du hast ein freundliches Gesicht und ein edles Herz.« »Wer bist du?« »Mein Name ist Narcissus. Ich bin Syrer.« Unaufgefordert setzte er sich neben Claudia. »Von Beruf war ich Einbalsamierer. Ich habe mich um die Toten gekümmert, bis ich direkt vor den Toren von Damaskus in eine dumme Revolte geriet.« Claudia drückte ihm einen der Weinbecher in die Hand. »Du weißt ja, wie das so ist«, fuhr Narcissus traurig fort.
»Irgendein Idiot beginnt einen Kampf. Unschuldige werden hineingezogen, die Legionen kommen, die Anführer werden gekreuzigt und die restlichen als Sklaven verkauft, Ende der Geschichte.« Sein Gesicht wurde noch bekümmerter. »Man nannte mich Narcissus, den Geschickten, so gut war ich in meinem Beruf! Besonders stolz war ich auf meine Genauigkeit beim Präparieren einer Leiche. Ich habe das Nasenbein immer ganz vorsichtig gebrochen und das Hirn herausgezogen, ohne daß allzu viel daneben ging .« »Ja, ja«, unterbrach ihn Claudia und starrte auf das Essen. »Aber wie wurdest du in die Revolte verwickelt?« Narcissus trank seinen Becher aus, und Claudia leerte den ihren in seinen. Nach dem zweiten Becher Wein entspannte sich der Sklave und blickte Claudia an wie ein hungriges Hündchen. »Um deine Frage zu beantworten, Herrin, ich habe fünf Meilen vor Damaskus gewohnt. Dann tauchte dieser Verrückte auf, der sich Simon der Retter nannte, ein großer Kerl mit einem düsteren Gesicht. Er war in Ägypten gewesen und hatte dort allerhand gelernt. Er versprach, daß jene, die an ihn glaubten, auf ewig jenseits des Fernen Horizonts leben würden; sie würden zwar sterben, aber wenn sie den Gott Osiris verehrten und sich nach den heiligen Riten bestatten ließen, dann würden sie nicht nur ewig leben, sondern auch zurückkommen und andere Gestalt annehmen können.« »So einen Unsinn hast du doch gewiß nicht geglaubt.« »Nein, ich nicht. Aber meine Frau, obgleich sie das wohl auch deshalb tat, weil sie mit Simon, unserem sogenannten Retter, schlief.« Narcissus hielt inne und beobachtete eine Gruppe von Höflingen, die sich im Säulengang versammelt hatte. Sie umringten Athanasius und gratulierten ihm mit ihren hohen Stimmen.
»Ich hatte keine andere Wahl«, fuhr Narcissus fort. »Einige Menschen hören auf Gott; ich hörte auf eine höhere Instanz, auf meine Frau. Jedenfalls«, sagte er und blies die Wangen auf, »sagte Simon, er brauche mich, weil ich Einbalsamierer bin. Der blöde Fanatiker nahm eine Festung am Rand der Wüste ein und verkündete, der Tag des Fernen Horizonts sei gekommen. Wir stellten die Standarte von Osiris auf und trotzten dem Gouverneur der Gegend. Er sandte Truppen, einen Tribun mit einer Fußtruppe und Kavallerie. Meine Frau wurde getötet, Simon der Retter gepfählt.« Narcissus schniefte. »Das war mir eine gewisse Genugtuung, obwohl ich selbst auf dem Sklavenmarkt landete.« Er blickte auf den Teller mit dem Essen und schluckte schwer. Claudia hörte, wie sein Magen knurrte. »Iß«, befahl sie und reichte ihm den Teller, »iß, soviel du kannst. Du bist mein Gast, Narcissus, ich übernehme die Verantwortung.« Der Sklave ließ sich das nicht zweimal sagen und machte sich über das Essen her wie ein hungriger Wolf. Claudia stand auf, ging zu einem Beistelltisch, der im Schatten stand, und holte noch einen Krug Wein. Narcissus schlang das Essen in sich hinein. Claudia empfand Mitleid mit dem Mann in mittleren Jahren, der so hungrig war, daß er seinen Status vergaß, um seinen Bauch füllen zu können. Einige Höflinge sahen sie merkwürdig an; ein aufgeblasener Haushofmeister, ein Eunuch, watschelte auf sie zu. Claudia sagte ihm, er solle sie in Ruhe lassen. »Wenn du etwas essen wolltest«, flüsterte Claudia, »hättest du darum bitten sollen, aber andererseits« – sie klopfte ihm auf die Schulter – »hätte ich es auch merken können.« »Es war nicht nur der Hunger«, antwortete der Sklave zwischen zwei Bissen. »Ich wollte dir von den Feuern berichten.«
»Ja, ich weiß, das Totenhaus ist niedergebrannt.« »Nein, die Feuer«, wiederholte er. »Ich muß jemandem erzählen, was ich gesehen habe. Gestern nacht habe ich, wie schon gesagt, gut gegessen und viel getrunken, kein allzu gutes Bier. Ich wurde wirklich betrunken und schlief gleich hinter den Latrinen ein. Geweckt hat mich der Lärm, den der Brand des Totenhauses verursachte. Ich sprang auf und lief hin; die Flammen loderten schon hoch zum Himmel. Ihr Götter, dachte ich, die werden mir die Schuld dafür geben! Ich bin reif für den Scheiterhaufen oder für das Kreuz, also floh ich. Ich sprang über die Mauer und rannte den Hügel hinter der Villa hinauf. Diese Villa steht auf der Seite, wo der Boden geebnet worden ist. Jedenfalls« – Narcissus wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab –, »da saß ich nun, blickte auf die Sterne über mir und überlegte, was ich tun sollte. Wenn ich wegliefe, würden sie mir ganz sicher die Schuld geben. Eigentlich hatte ich nichts zu befürchten, wenn ich blieb. Ich hatte Zeugen, die bestätigen konnten, wo ich gewesen war und daß sich im Trauerhaus nichts Gefährliches befunden hatte. Es gab dort keine Lampe, kein Öl, nichts, was so einen Brand hätte auslösen können. Ich hatte nichts Falsches getan, ich…« »Und?« unterbrach ihn Claudia. »Ich beruhigte mich. Ich schaute hinauf auf die Sterne, die Luft war kühl und süß. Ich schloß die Augen. Ich schwöre, ich konnte die Narzissen riechen, die in dem Tal, wo ich als Junge gespielt habe, so üppig wuchsen. Jedenfalls«, sprach Narcissus hastig weiter, »öffnete ich die Augen. Von der Stelle, wo ich saß, konnte ich das Totenhaus sehen, aber als ich über das Land blickte, entdeckte ich noch weitere Feuer.« »Was?« rief Claudia. »Andere Feuer, Herrin. Als ich auf den Hügel kam, hatten sie noch nicht gebrannt, da bin ich ganz sicher. Aber als ich dann so in die Dunkelheit starrte, sah ich eines in mittlerer
Entfernung, dann, etwas weiter entfernt, noch eines. Zuerst dachte ich mir gar nichts dabei. Ich hielt sie für Erntefeuer, aber es war ja noch gar keine Ernte. Solche Feuer gibt es erst in etwa zwei Monaten. Dann fiel mir Simon der Retter ein.« »Wieso der?« Claudia versuchte ihre Ungeduld zu verbergen. »Genau das hat er am Anfang seiner Revolte getan. Er hat Signalfeuer entzündet, Reisighaufen mit Öl übergossen und angezündet. Er nannte sie die Lichter des Himmels, und was hat er jetzt davon?« Claudia sah sich in dem schönen, gepflegten Garten um. Das Peristyl füllte sich; weitere Höflinge und Beamte spazierten herbei, um von den Bankettischen zu essen und sich in dem kühlen, duftenden Garten auszuruhen. Ein Angstschauer lief ihr über den Rücken. Narcissus’ Bericht weckte in ihr Erinnerungen an den vergangenen Abend. Sie dachte daran, wie sie zur kaiserlichen Familie unter dem Bergahornbaum gegangen war. Das war es! Die nächtliche Brise hatte ihr entgegengeweht, in die Richtung zum brennenden Totenhaus, und doch hatte sie Holzrauch gerochen. Und wenn Narcissus recht hatte? Hatte das brennende Totenhaus als Signalfeuer gedient? Während Claudia mit der Schauspieltruppe durch Italien gezogen war, hatte sie marschierende Heere gesehen und Kampflärm gehört. Sie erinnerte sich an die dunklen Hügel im Norden, an die Signalfeuer, die mitten in der Nacht brannten, während die römischen Heere aufmarschierten und sich auf blutige Schlachten vorbereiteten. »Sag mir«, fragte sie, »hast du auch in die andere Richtung geblickt?« »Was meinst du?« »Du hast auf dem Hügel gesessen und auf die Villa hinuntergeschaut, ja? Die liegt Richtung Süden. Waren im Osten und Westen oder hinter dir im Norden ebenfalls Feuer? Ich stelle nur eine grobe Berechnung an«, fügte sie hinzu.
»Waren die Feuer, die du gesehen hast, in einer direkten Linie unter dir oder rund um dich herum?« »Nein, sie waren alle vor mir, links und rechts konnte ich nichts entdecken. Übrigens, ich arbeite seit fünf Jahren hier, ich kenne die Himmelsrichtungen.« Claudias Unbehagen wuchs. Narcissus hatte recht. Warum brannten mitten im Sommer solche Feuer? Er war offenbar der Ansicht, daß es sich nicht um von der Hitze verursachte Busch- oder Waldbrände gehandelt hatte, sondern um absichtlich entzündete Feuer. Wenn es wirklich Signalfeuer waren, wozu hatten sie gedient? Sie zermarterte sich das Hirn; es gab zur Zeit keine großen Feste oder Feiern. Sollte sie es der Augusta sagen? Doch was war, wenn sie sich irrte? Claudia stand auf. »Du kommst mit mir.« »Wohin? Wozu?« »Wir machen einen kleinen Ausflug. Geh hinunter zu den Ställen, und bitte die Stallknechte im Auftrag von Claudia, Botin der Augusta, mein Pferd – es ist ein sanftes Halbblut – und ein zweites für dich vorzubereiten.« »Ich gehe lieber zu Fuß«, brummte Narcissus. »So wurde ich gefangengenommen! Statt wegzulaufen, habe ich ein Pferd gestohlen und bin heruntergefallen.« Vor sich hin grummelnd eilte der Sklave aus dem Garten. Claudia kehrte in ihr Zimmer zurück. Es war alles in Ordnung. Sie steckte ein paar Münzen in ihren Beutel und nahm ihren Hut. Kurz darauf verließen sie und Narcissus durch ein Seitentor das Anwesen; am Sattelknauf ihres Pferdes hing eine Wasserflasche. In der Villa wurde es jetzt still; die kaiserliche Familie und ihre Gäste hatten sich vor der Hitze des Tages zurückgezogen. Das taten auch die Wachen auf der anderen Seite der Mauer. Es waren nur wenige zu sehen, sie standen in großen Abständen und hatten sich in den Schatten
der Bäume begeben. Claudia zügelte das Pferd und blickte zurück. Narcissus, der neben ihr hermarschierte und seinen Gehstock schwang, blieb ebenfalls stehen und schaute neugierig zu ihr hoch. »Hast du Angst?« »Nein, ich bin nur vorsichtig. Sag mir«, fuhr Claudia fort, »wußtest du, wann der Kaiser kommen würde?« »Nein, alle waren ganz aufgeregt. Der Küchenmeister fragte den Hauptmann der Wache, aber der wußte es auch nicht. Der Kaiser kommt und geht wie der Wind. Die Haushofmeister und Verwalter hatten nur erfahren, daß der Kaiser nach dem Ende der Spiele Rom verlassen würde.« Narcissus zuckte die Achseln. »Alles war ganz normal, bis das Schwert gestohlen wurde. Beim Herrn des Lichts«, seufzte er, »was für ein Aufruhr! Die Leute liefen hierhin und dorthin. Weißt du, ich bekam den Befehl, diesen dicken Haushofmeister, Timothaeus, aus dem Keller zu tragen. Er war weiß wie Schnee, ich dachte, der stirbt. Nun ja, überlegte ich, noch einer, dem ich die Nase brechen muß…« »Danke«, warf Claudia hastig ein. An der Kreuzung angelangt, bogen sie auf einen Pfad ein, der in die Richtung führte, wo Narcissus das erste Feuer gesehen hatte. Der Sklave hing seinen Gedanken nach, erquickt von einem vollen Bauch und dem Wein, der in seinem Blut sang. Er lächelte zufrieden und summte leise vor sich hin. Die Landschaft aalte sich in der Sommersonne. Sie kamen durch Linden-, Platanen- und Bergahornalleen; gelegentlich sahen sie rotbraune Erde und grüne Weiden, die unter der brennenden Sonne gelb wurden. Gerste und Roggen reiften in der Hitze des Sommers heran. Sie passierten kleine Bauernhöfe, wo die Luft nach Dung, Milch und Heu roch. Das Bellen eines Hundes oder der schrille Schrei einer Gans durchbrach die Stille. Über ihnen flogen Schwalben, Bussarde, Stare und Spatzen. Das
ständige Zirpen der Grillen wurde nur ab und zu vom Geräusch eines anderen Insekts oder dem monotonen Summen der Bienen unterbrochen. Claudia spürte, wie ihre Augen schwer wurden. Sie war nicht die beste Reiterin, doch der Sattel war bequem und das Pferd sanft. Sie döste ein. Sie hoffte nur, daß Narcissus ein gutes Gedächtnis und einen guten Orientierungssinn hatte. »Ich bin sicher, es war hier.« Narcissus schüttelte sie, um sie aufzuwecken. Sie waren zu einem brachliegenden Stück Ackerland links von ihrem Pfad gekommen. Claudia stieg ab, sprang über einen schmalen Graben und trat auf das Feld. Eine Hecke am anderen Ende bildete die Grenze zum nächsten Feld. Der Boden unter ihren Füßen war hart und trocken. Hier und da pickte ein Vogel darin herum. »Ich bin sicher, es war hier«, wiederholte Narcissus. »Wir sind gerade an einem Bauernhof vorbeigekommen. Ich erinnere mich, daß ich ihn gesehen habe. Sollten wir dein Pferd nicht anbinden?« »Mach dir um das Pferd keine Sorgen«, rief Claudia über die Schulter zurück. »Es hat Gras gefunden; es ist zufrieden.« Sie überquerten das Feld. Claudia stolperte über Unebenheiten in der Erde, die von kleinen Furchen und Spalten durchzogen war. Zuerst dachte sie, Narcissus hätte sich geirrt, bis sich der Boden leicht senkte und sie zu einer kreisrunden Stelle kamen, in der Asche und verbrannte Holzstücke lagen. Claudia kauerte sich nieder, faßte mit der Hand hinein und hob eine Mischung aus Erde und Asche heraus. Der Ölgeruch war durchdringend. Sie stand auf, wischte sich die Hände ab und blickte sich um. Das Feld, das sich weit und still vor ihnen erstreckte, kam ihr auf einmal bedrohlich vor. Jeder konnte sie von den Bäumen aus beobachten. »Wir sollten lieber gehen«, flüsterte sie, »schnell, Narcissus.«
Claudia lief fast zurück zum Pfad. Die Sonne brannte herab, Schweiß brach ihr aus, ihr Mund wurde seltsam trocken. Als sie die Bäume erreicht hatten, ruhten sie sich in ihrem Schatten aus. »Wir sind zu einem guten Zeitpunkt gekommen«, bemerkte sie. »Alle schlafen.« »Sollten wir nicht den Bauern befragen?« »Damit würden wir nur Verdacht erregen.« Claudia deutete auf das Feld. »Für dieses Feuer gibt es keinen Grund, überhaupt keinen. Der Bauer hatte wohl nichts damit zu tun. Stell dir vor, mitten in der Nacht, Narcissus! Irgend jemand hat am Rand dieses Feldes Reisig und Ginster aufgehäuft. Sobald es dunkel wurde, zog er die trockenen Zweige in die Mitte, tränkte sie mit Öl und warf eine Fackel hinein. Ich frage mich…« Und bevor Narcissus sie davon abhalten konnte, lief Claudia mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern zurück über das Feld, als hätte sie Angst, daß sich zwischen den Bäumen ein Bogenschütze versteckte. Narcissus holte sie ein, als sie den verbrannten Flecken Erde gerade erreicht hatte und sich in die Richtung umdrehte, aus der sie gekommen waren. Die Bäume und der Dunst der sommerlichen Hitze ließen sie nicht weit sehen. Sie blickte sich angestrengt um, ging vorwärts und wieder zurück und erspähte schließlich die Dächer der Villa Pulchra. »Mitten in der Nacht«, flüsterte sie, »konnte man von hier das brennende Totenhaus sehen.« »Man konnte unsere Villa auch von anderen Stellen aus sehen«, meinte Narcissus. »Nicht nur von hier aus.« Sie liefen zurück, Claudia stieg auf ihr Pferd und lenkte es in die Richtung der Villa Pulchra. »Sollten wir nicht nachschauen, wo die anderen Feuer entzündet wurden?« Narcissus gefiel der Sommerspaziergang mit der sehr freundlichen, aber rätselhaften jungen Frau.
»Ich habe genug gesehen!« antwortete Claudia. »Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe.« Sie eilten zurück zur Villa, wuschen sich die Hände und begaben sich sofort zu den Gemächern der Augusta. Die Türen und Eingänge wurden von Burrus’ Männern bewacht, von denen die meisten schliefen. Narcissus wurde nervös und begann zu zittern; Claudia konnte sogar seine Zähne klappern hören. Der Haushofmeister teilte ihr mit, die Kaiserin schlafe und dürfe nicht gestört werden, doch Claudia bestand darauf, sie zu sprechen. Bald darauf wurden sie und Narcissus ins Schlafgemach der Kaiserin geführt. Helena hatte auf einer Liege geruht, die auf einem Podest unter einem Fenster stand. Sie trug eine schlichte weiße Tunika, und das schwarze Haar fiel ihr auf die Schultern. Jetzt saß sie mit bloßen Füßen auf einem prunkvollen gepolsterten Hocker, rieb sich die Wangen und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Claudia bemerkte Narben auf dem bloßen linken Arm der Kaiserin, und ihre kräftigen Hand- und Fußgelenke. »In meiner Jugend war ich Athletin«, erklärte Helena, die Claudias Blick gefolgt war. »Ich bin auch mit meinem geliebten verstorbenen Mann ins Feld gezogen. Einmal wurde unser Zelt angegriffen.« Sie rieb die Narben an ihrem Arm. »Egal. Du hast mich aus dem Schlaf geweckt, Mäuschen, also hast du mir wohl ein paar Neuigkeiten mitgebracht. Wer ist dein Begleiter?« Claudia und Narcissus knieten sich auf den Boden. Narcissus zitterte so sehr, daß ihm die Kaiserin einen Becher Wein reichte und sagte, er solle ihn schnell trinken. Dann machte sie Claudia ein Zeichen, daß sie sich setzen solle. Anfangs wirkte Helena schläfrig, doch je mehr ihr Claudia berichtete, desto wacher wurde sie. Helena schaute immer wieder auf Narcissus, der zustimmend nickte. Claudia erzählte genau, was ihr
Narcissus gesagt hatte, und beschrieb ihren Ausflug zu jenem einsamen Feld und den Überresten des Signalfeuers. »Ich bin deiner Meinung«, erklärte die Augusta, als Claudia mit ihrem Bericht fertig war. »Das ist kein Zufall.« Sie ging zu Narcissus und tätschelte ihm den Kopf, wie sie es bei einem Hund getan hätte. »Das hast du sehr gut gemacht. Du sollst freigelassen werden.« Narcissus fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Claudia kniete sich neben ihn, drückte ihren Handrücken auf seinen Arm, spürte seinen Puls und lauschte seinem Atem. Dann öffnete sie seinen Mund und steckte einen Finger hinein, um festzustellen, ob seine Zunge nicht die Atmung blockierte. »Es ist alles in Ordnung.« Helena kniete sich auf seiner anderen Seite hin und lächelte. »Komm, Claudia, machen wir es ihm bequem.« Sie drehten Narcissus zur Seite, legten eine Decke unter seinen Kopf und breiteten eine andere über ihn. »Der arme Mann«, meinte Helena. »Er hat zuviel Wein getrunken, ist dann lange in der Sonne marschiert, und jetzt hat sich gerade sein Leben geändert. Er wird eine Zeitlang schlafen, du kümmerst dich um ihn. Ich werde dir ein wenig Geld für ihn geben, aber das muß warten. Komm her.« Helena führte sie zu einem Tisch, auf dem sich Schriftrollen türmten. Sie wühlte darin und zog dann eine Karte des Mittelländischen Meers hervor, auf der die großen Häfen von Italien, Kleinasien und Griechenland eingezeichnet waren. »Während der letzten Spiele«, erklärte die Kaiserin, »habe ich von einem Spion Berichte erhalten, daß Licinius, der Herrscher des Ostreiches, eine ganze Reihe von Kriegsschiffen, Trieren und Reserveschiffen in die Bucht von Korinth geschickt hat. Außerdem verstärkt er die Garnisonen in Griechenland. Gemäß dem Vertrag, den beide Seiten unterzeichnet haben, muß uns Licinius natürlich über solche
Manöver informieren. Er behauptet, er ziehe seine Streitkräfte zusammen, um gegen eine mächtige Piratenflotte vorzugehen, die einige Handelsschiffe angegriffen habe.« »Fürchtet Ihr eine Invasion?« fragte Claudia. »Nein.« Helena schüttelte den Kopf. »Dazu ist Licinius nicht fähig, obwohl er durch und durch ein Verräter ist. Ich vermute, er plant eine Überraschung.« Sie nahm eine Karte von ihrer Gegend und zeichnete die kurze Entfernung zwischen der Villa Pulchra und der italienischen Küste nach. »Wenn du recht hast, Claudia, und das nehme ich an, wurde in einer geraden Linie eine ganze Reihe von Feuern entzündet – von der Villa Pulchra bis hin zu den Klippen am Meeresufer. Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Kleine: Wir sollten den Kaiser alarmieren, damit er Truppen herbeiholt. Aber was ist daran nicht gut?« »Wir wissen nicht, wer der Verräter ist, und wir werden ihn – oder sie – damit nur warnen.« »Genau.« Helena lächelte. »Ich glaube, du überläßt die Sache am besten mir und meinem edlen Trupp germanischer Helden. So, jetzt lassen wir Narcissus wegbringen.« Helena rief Dienstboten, die eine Tragbahre holten. Claudia veranlaßte, daß der noch immer reglos daliegende Leichenbalsamierer in ihr Zimmer getragen und dort auf das Bett gelegt wurde. Der Haushofmeister, der sie dorthin begleitete, klopfte ihr auf die Schulter. »Laß ihn eine Weile hier«, flüsterte er. »Ich bleibe bei ihm. Die Augusta will noch mit dir reden.« Als Claudia in Helenas Schlafgemach zurückkam, hatte sich die Kaiserin angekleidet und legte sich gerade ein purpurnes Tuch um die Schultern. Im Nebenzimmer bereiteten Dienstboten Gewänder, Spiegel, Kämme und Parfümtiegel vor. Konstantin hatte verfügt, daß am Abend wieder ein kaiserliches Bankett stattfinden solle. Helena schloß mit einem Tritt ihres sandalenbekleideten Fußes die Tür und winkte
Claudia, sie solle sich neben sie auf einen Hocker setzen. Die Kaiserin beugte ihr Gesicht ganz nahe zu dem von Claudia und betrachtete sie aufmerksam. »Man kann mir trauen«, flüsterte Claudia. »Das weiß ich, mein Mäuschen. Was mir Sorgen macht, ist, wem kann ich sonst noch trauen? Wir haben bereits die Geschichte mit dem verschwundenen Schwert, den Tod von Dionysius und die Zerstörung des Totenhauses; jetzt haben wir auch noch einen Verräter in unserer Mitte, und das könnte jeder sein. Narcissus hat seine Freiheit verdient. Was er sah, waren wirklich Signalfeuer, und ich vermute, sie haben sich bis zur Küste erstreckt. Irgendwo im Süden, vor unseren Kundschaftern und Beobachtungsposten verborgen, lauert mit gerefften Segeln und startbereiten Rudern eine Kriegstriere, wahrscheinlich unter falscher Flagge und unterstützt von Reserveschiffen. Ich nehme an, daß eine Kohorte an Land gehen und die Villa angreifen soll. Wenn ich die Hafenmeister und -kommandeure alarmiere, wird das Kriegsschiff einfach verschwinden. Wenn ich es meinem Sohn sage, wird er nach Rom zurückkehren oder eine Flotte ausschicken, und der Verräter wird einfach abwarten und ein andermal zuschlagen.« »Aber Ihr seid in Gefahr.« »Nein, nein.« Helenas Gesicht rötete sich vor Aufregung. »Das ist ein Spiel, Claudia, das genauso gefährlich ist wie die Spiele deines Murranus in der Arena. Im Osten, in Nicomedia, sitzt Licinius, unser Rivale, und schmiedet ein Komplott – vielleicht sollte ich besser sagen, er liegt herum und schmiedet ein Komplott«, fügte Helena trocken hinzu. »Er hat erfahren, daß Konstantin in seine Sommerresidenz unweit der Küste gezogen ist, und beschlossen, zuzuschlagen. Ich werde das vereiteln und gleichzeitig meinem geliebten Sohn beweisen, daß Licinius vernichtet werden muß.«
»Ihr wollt Krieg, nicht wahr?« Claudia sah Helena an. Wieder würden die Legionen marschieren, und die Welt würde vom Zusammenstoß zweier Reiche widerhallen. »Ihr wollt Krieg«, wiederholte sie. »Nein, Claudia, ich will Frieden. Ich möchte, daß die künftigen Geschichtsschreiber vom großen Pax Augusta sprechen, von einer Zeit, in der die Welt ruhte, die Ernte heranwuchs und eingebracht wurde und die Menschen in Frieden lebten.« Helena beugte sich in einer Wolke von duftendem Parfüm und dem Geruch von süßem Wein näher. »Ich will ein neues Reich, Claudia, mit einem neuen Herrschergeschlecht und einer neuen Religion, die alle vereint. Das werden wir niemals haben, solange Licinius mit seiner Bande im Osten herumstolziert und nach einer günstigen Gelegenheit sucht. So ist der Lauf der Welt«, fügte Helena müde hinzu. Sie blickte um sich. »Die Kriege beginnen nicht in den Besprechungszimmern der Könige und Prinzen, sondern oft in Boudoirs wie diesem, wo eine einzige Entscheidung getroffen wird und die Würfel fallen. Also, meine Kleine«, sagte sie und drückte einen Finger auf Claudias Lippen, »deine Lippen müssen versiegelt bleiben. Rede mit niemandem darüber, vertraue mir, und sieh zu, daß Narcissus seine Freiheit genießt.« Claudia verließ die Gemächer der Kaiserin und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer. Bei einer Fensternische blieb sie stehen und blickte hinaus auf die Blumen. Ihr Duft war schwer, und selbst die Bienen und Schmetterlinge wirkten wie betäubt von dem berauschenden Wohlgeruch. Dann sah sie die Büste eines längst vergessenen Kaisers, die blicklos von ihrem Sockel starrte, trat näher und las die Inschrift. Sie war kurz und bündig: Zu Ehren des »Göttlichen Hadrian«. Sie studierte das Gesicht mit dem üppigen Voll- und Schnurrbart, die scharfe Nase, die Augen, die so geformt waren, als blicke der Kaiser
nach oben, was die Bildhauer den vielen Reliefs und Gemälden von Alexander dem Großen abgeschaut hatten. Claudia murmelte: »Ob wohl in hundert Jahren jemand die Büste der Augusta betrachten wird?« Sie dachte an die leidenschaftlichen Worte der Kaiserin und verspürte plötzlich Mißtrauen gegenüber den Absichten der Augusta. War Helena bloß eine Zuschauerin bei allem, was passierte? Oder lenkte sie wieder einmal die Ereignisse? Claudia schob diese Gedanken beiseite; das hatte die Kaiserin nicht verdient. Sie erinnerte sich an Narcissus und lief in ihr Zimmer. Der Haushofmeister teilte ihr mit, daß der Einbalsamierer noch immer schlief, also schickte Claudia nach dem Hofarzt, der mit einem Röhrchen mit einem stechend riechenden Öl hereinschlurfte. Er zerrte Narcissus hoch, hielt ihm das Öl unter die Nase und schlug ihm sanft auf die Wangen. Narcissus schüttelte den Kopf und kam langsam zu sich. Der Arzt untersuchte ihn sorgfältig, sagte, er solle den Mund aufmachen, tastete am Hals nach seinem Puls und zog seine Unterlider hinunter, wobei er die ganze Zeit Kommentare vor sich hin murmelte. »Soll ich Wein bringen lassen?« fragte Claudia. »Ja, das wäre gut«, antwortete der Arzt. Als der Wein kam, trank er ihn selbst, erklärte, der Patient sei in besserer Verfassung als er, und ging. Narcissus stemmte sich hoch. »Ich glaube es nicht«, keuchte er und sank zurück auf das Bett. »Ich glaube es einfach nicht.« »Es ist wahr«, sagte Claudia lächelnd. »Deine Beobachtungen waren überaus wertvoll; du bist ein freier Mann, Narcissus.« Er starrte sie an und brach in Tränen aus. »Was soll ich tun? Was soll ich bloß tun?« jammerte er. »Ich kann nicht zurück nach Damaskus. Alle meine Freunde und Verwandten sind tot, und die, welche noch am Leben sind,
werden nur denken, daß ich ein Spion bin. In Rom kenne ich niemanden, und ich habe kein Geld.« »Ach, halt doch den Mund!« Claudia wollte ihn schelten, als es an der Tür klopfte. Ein Beamter trat ein, einer der hübschen jungen Männer der Kaiserin, mit schwarzgelocktem Haar und glattem Gesicht. Er trug eine knappe Tunika, die seine langen Beine perfekt zur Geltung brachte. »Claudia?« Er musterte sie von oben bis unten, warf einen Blick auf Narcissus, der auf dem Bett lag, und begann hinter gespreizten Fingern mit leuchtend scharlachrot bemalten Nägeln spöttisch zu kichern. Um das Handgelenk trug er ein Lederband mit dem Siegel eines offiziellen nuntius, eines Boten des kaiserlichen Archivs. Er reichte ihr eine Schriftrolle und einen kleinen Lederbeutel, in dem es klimperte, als er in Claudias Hand landete. »Ich glaube«, lispelte er, »das ist für deinen Freund«, und stolzierte hinaus. Claudia brach das Siegel, rollte das Pergament auf und las die einleitenden Worte: »Helena Augusta, geliebte Mutter…« Es folgten die üblichen Phrasen. Claudia gab Narcissus das Pergament. »Deine Freiheit«, erklärte sie, »und ein paar Münzen, die dir weiterhelfen sollen.« Sie ergriff Narcissus’ Hand; der Mann zitterte noch immer. Er blickte hinab auf die Schriftrolle und den Beutel mit den Münzen, die auf seinem Schoß lagen. »Du kannst bei meinem Onkel wohnen«, bot sie ihm an. »Er besitzt eine Taverne in der Nähe des Flavischen Tors.« Narcissus’ Augen füllten sich mit Tränen. »Oh, nein«, protestierte sie, »fang jetzt nicht wieder an zu weinen, das kannst du später tun. Bis wir von hier weggehen, sollst du mein Begleiter sein; es muß in der Nähe irgendwo noch eine kleine Kammer geben.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Du bist bereits mein Freund, und ich brauche Hilfe.«
Narcissus öffnete den Mund, um zu klagen, sah Claudias entschlossenen Blick und zwang sich zu einem Lächeln. »Was immer du sagst.« Claudia brachte ihm einen frischen Becher Wein. Auf dem Gang draußen liefen jetzt Dienstboten geschäftig mit Tellern voll Obst und Krügen mit Wein hin und her – die Gäste des Kaisers erwachten aus ihrem Schlummer. Sie wartete, bis Narcissus den Becher ausgetrunken hatte. »Narcissus, vergessen wir einmal dein Glück. Ich möchte, daß du dich an Dionysius’ Leiche erinnerst. Du bist Einbalsamierer, du hast Erfahrung mit Leichen. War daran irgend etwas« – Claudia suchte nach Worten – »Auffälliges, Außergewöhnliches?« Narcissus kratzte sich an der Nase und schloß die Augen. »Nichts«, erklärte er dann. »Ich erinnere mich nur an eine aufgeschlitzte, zerschnittene, blutüberströmte Leiche. Da Dionysius Arianer war, habe ich mich jedoch gefragt, ob die irgendwelche besonderen Begräbnisriten haben, ich meine, ob die sich von jenen der anderen Christen unterscheiden. Ah.« Narcissus hob eine Hand. »Nein, nein, da war doch etwas! Auf der rechten Seite der Leiche waren mehr Schnitte als auf der linken. Bedeutet das, daß der Mörder Rechtshänder ist? Und die Kopfwunde war ebenfalls auf der rechten Seite. Ist es nicht so, Claudia, daß sich ein Mörder von der Seite nähert, die er eher verwendet, daß ein Linkshänder mich von links angreifen würde…?« »Ich weiß es nicht«, unterbrach ihn Claudia. »An so etwas habe ich noch nie gedacht. Ich sollte wohl Murranus danach fragen, aber andererseits sind die meisten Menschen Rechtshänder. Sonst noch etwas?« fügte sie hinzu. »Einige der Wunden sahen aus wie Kreuze, quer übereinander gezogene Schnitte. Die Leiche wurde auf eine Totenbank gelegt, und ich weiß noch, daß ich die Stricke
gelockert habe, aber dann hatte ich genug und bin bald darauf gegangen. Wer ist übrigens Murranus?« »Ein Gladiator, ein Freund von mir. Hör zu, Narcissus, du beschäftigst dich mit dem menschlichen Körper«, sagte Claudia lächelnd, »wenngleich mehr mit dem toten als mit dem lebenden. Weißt du etwas über Gifte und ihre Wirkung?« »O ja.« Narcissus’ müdes Gesicht erwachte zum Leben. »Einige Gifte sind sehr schwer nachzuweisen. Man würde glauben, das Opfer sei an einem Anfall oder einer inneren Verletzung gestorben, aber die Organe einer Leiche lügen nicht. Wenn man ein Herz herausnimmt, das schwarz und verschrumpelt ist, oder einen Magen, der stinkt wie eine Kloake, dann fragt man sich schon, woran dieser Mensch wirklich gestorben ist. O ja«, fuhr er fort, »ich habe oft einen armen Teufel einbalsamiert, dessen Organe die Farbe gewechselt hatten oder stanken wie ein Kamelpferch, und dann habe ich mir die trauernde Witwe angesehen und hätte gern gewußt, was wirklich geschehen war. Warum fragst du?« Claudia schilderte den Vorfall in der Arena: daß Spicerius vergifteten Wein getrunken hatte; daß er zusammengebrochen und der Verdacht auf ihren Freund Murranus gefallen war. Sie berichtete Narcissus auch, was der Militärarzt gesagt hatte. Narcissus nickte zustimmend. »Vergiß nicht, meine Liebe«, sagte er und wedelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht, »daß viele Gifte in kleinen Dosen sogar heilsam sein können. Sie können das Blut und die Säfte reinigen, überschüssigen Ballast aus dem Magen entfernen und sogar Makel wie Warzen zum Verschwinden bringen. Spicerius muß selbst wissen, ob er ein Pulver oder ein Nahrungsmittel zu sich genommen hat, das so eine Substanz enthielt. Nicht genug, um ihn umzubringen, aber, wie ich meinen würde, irgendwo in der Mitte zwischen den nützlichen Eigenschaften dieser Substanz und ihrer giftigsten…«
Narcissus wollte fortfahren, als plötzlich die Tür aufging. Claudia drehte sich um. Zuerst dachte sie, ein Hofbeamter wolle sie wieder zur Augusta rufen. Wie in einem Traum sah sie zu, wie eine Öllampe auf den Boden fiel und zerschellte, das Öl auslief und die Flamme vom Docht in Windeseile weiterlief. Ein paar Sekunden lang konnte sie nur mit offenem Mund entsetzt darauf starren. Narcissus war auch nicht geistesgegenwärtiger, bis er die ganze Ungeheuerlichkeit dessen, was da geschehen war, begriff: das auslaufende Öl, die Flammen, die hungriger wurden und den Leinenstoff rund um das Bett erfaßten und gierig nach dem Bein eines hölzernen Hockers leckten. Claudia sprang auf, schnappte ihren Beutel, Umhang und Hut, schrie Narcissus an, er solle die Schriftrolle und den Beutel der Kaiserin nehmen, und stieß ihn zum Fenster…
Septimus, ein Jünger von Athanasius und treuer Verfechter der althergebrachten christlichen Lehren, lag auf seinem Bett und starrte auf die Decke mit dem cremefarbenen Putz. Die Farbe gefiel ihm, sie war so beruhigend. Manchmal weckten die lebhaften Farben dieser Kaiservilla, ganz zu schweigen von den Wachen, die überall standen, Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte. Septimus hatte gut gespeist. Er hatte Claudia beobachtet, die eine Ewigkeit mit diesem Sklaven geredet hatte, und sich gewundert, was sie an ihm so interessant fand. Septimus war sich sicher, daß »die kleine Claudia«, wie Athanasius sie nannte, in die Villa geholt worden war, um auf sie aufzupassen und nicht auf die Sklaven. Septimus war mit dem Lauf der Dinge sehr zufrieden. Athanasius hatte die Oberhand; das machte Justin schwer zu schaffen. Und Dionysius war tot. Er war froh darüber und schob jegliche Anwandlung von schlechtem Gewissen beiseite.
Dionysius hatte zuviel über ihn und seine Vergangenheit gewußt. Sie waren zusammen in Capua aufgewachsen, hatten dieselbe Schule besucht und waren ohne Bedauern zu dem neuen Glauben übergetreten. Sie dachten, sie würden in Frieden leben, bis alle Schrecken der Hölle losbrachen. Dionysius hatte angenommen, sie wären sicher- schließlich stammten sie aus guten Familien –, doch er hatte sich verrechnet, und sie waren von Diokletians Männern verhaftet worden. Mitten in der Nacht hatten sie die Türen zu ihren Häusern aufgebrochen und waren ins Atrium gestürmt. Sie hatten die Keller und die Gärten durchsucht und natürlich genug Beweise gefunden. Mit eisernen Halsbändern und gefesselten Händen waren sie durch die Dunkelheit gezerrt und gestoßen und auf irgendwelche Karren geworfen worden. Septimus würde diese halsbrecherische Fahrt durch die eiskalte Nacht niemals vergessen. Man hatte ihnen keine Erholung gegönnt, ihr Bitten und Flehen ignoriert und ihnen Kapuzen über den Kopf gezogen. Er und Dionysius hatten einander nur an der Stimme erkannt; wer die anderen Gefangenen waren, wußten sie nicht. In der eisigen Dämmerung waren sie aus dem Wagen geworfen worden. Umgeben vom Rauch und den Flammen der Fackeln ihrer Eskorte, hatte man sie durch gähnende, schreckliche Tunnel gestoßen. Erst da war Septimus, der vor Angst fast wahnsinnig war, klar geworden, daß sie sich in den Eingeweiden des großen Flavischen Amphitheaters befanden, potentielle Opfer für die Spiele. Septimus wußte alles über den Himmel, wo der Herr Jesus Christus war, doch der Priester, der ihn bekehrt hatte, hatte ihm auch die Qualen der Hölle beschrieben. An jenem furchtbaren Tag war Septimus fast sicher gewesen, daß er gestorben und den Schrecken der ewigen Finsternis ausgesetzt war. Sie waren in eine Höhle gebracht worden, die nach wilden Tieren stank,
deren Brüllen und Fauchen bedrohlich in der Finsternis widerhallte. Die Stunden waren ihm endlos erschienen; sie hatten nichts zu essen oder zu trinken bekommen. Von Erschöpfung übermannt, war Septimus schließlich eingeschlafen, nur um vom Geschrei der Menge geweckt zu werden, das sich anhörte wie das Tosen einer wütenden See. Schwarz maskierte Wachen waren gekommen, hatten ihnen die Kapuzen abgenommen und sie durch die dreckigen Tunnel zum offenen Tor des Todes gebracht, das zum großen, sonnenüberfluteten Amphitheater führte. Septimus hatte nur dastehen und zusehen können, welche Grauen dieser Tag bereithielt. Männer, Frauen und Kinder waren hinausgestoßen worden, um von wilden Tieren gejagt, von Panthern, Löwen und Tigern zur Strecke gebracht oder von wütend aufstampfenden Stieren mit weit auseinanderstehenden Hörnern aufgespießt und herumgeschleudert zu werden. Er hatte zugesehen, wie andere Menschen in Stücke gerissen wurden und der goldene Sand der Arena mit Blut besudelt wurde wie eine Fleischerbude. Doch das alles hatte den Appetit des Pöbels erst richtig angeregt. Septimus war beiseite gestoßen worden; man hatte andere Opfer in mit Teer und Pech getränkten Umhängen in die Arena geschoben, wo sie von Bogenschützen mit brennenden Pfeilen angezündet und so zu schreienden lebenden Fackeln gemacht worden waren. Schließlich war Septimus in Ohnmacht gefallen, doch man hatte ihm grob einen Weinschlauch zwischen die Zähne geschoben und ihn mit Tritten aufgeweckt. Er hatte geglaubt, jetzt sei er an der Reihe. Er hatte sich umgeschaut und Dionysius gesehen, der von Furcht so übermannt war, daß er vollkommen die Kontrolle über seinen Darm und seine Blase verloren hatte. Dennoch war dieser furchtbare Tag vergangen, und weder er noch sein Begleiter waren mit den anderen in die
Arena gestoßen worden. Statt dessen hatte man sie, als die Spiele vorbei waren, wieder in eine Zelle tief unter dem Amphitheater gebracht, wo sie von Männern mit schemenhaften Gesichtern aufgesucht wurden. Sie hatten ihm ein Angebot gemacht – Leben und Freiheit, Schutz vor den schrecklichen Dingen, die er gesehen hatte, aber unter einer Bedingung: Er mußte ihnen alles sagen, was er über die christliche Gemeinde in Capua wußte, und sie dann weiter mit Informationen beliefern, die er an bestimmten vorgegebenen Orten in der Stadt hinterlassen sollte. Septimus hatte eingewilligt. Er war auf die Knie gefallen und hatte um sein Leben gebettelt. Sie hatten ihm eine gehörige Tracht Prügel verabreicht, um die anderen in Capua davon zu überzeugen, daß er nicht mit Samthandschuhen angefaßt worden war. Dann hatte er eine gute Mahlzeit bekommen, einen Beutel mit Geld und Schutzbriefen und war freigelassen worden. In Capua hatte Septimus erklärt, daß er der Folter standgehalten habe, nicht zusammengebrochen und aus Mangel an Beweisen freigelassen worden sei. Er war als Held gefeiert und geehrt worden und hatte einen besonderen Platz in der christlichen Versammlung bekommen. Eine Woche später war Dionysius mit einer ähnlichen Geschichte zurückgekehrt. Die beiden Männer hatten kaum miteinander geredet, die Gesellschaft des anderen gemieden und niemals darüber gesprochen, was in jenen dunklen unterirdischen Höhlen vorgefallen war. Die Verfolgung ging weiter. Septimus hatte die geforderten Informationen geliefert, bis der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Da hatten sich die Behörden nicht mehr um die Christen gekümmert, sondern darum, wer in Rom regieren würde. Mittlerweile hatte sich Septimus als Redner und Gelehrter einen Namen gemacht, während Dionysius sich den Lehren des Arius zugewandt hatte. Das war Septimus nur recht gewesen; es war eine Erklärung für ihre Feindschaft, es trennte
sie – bis Dionysius in Geheimverhandlungen mit den Athanasianern eingetreten war und Septimus begonnen hatte, sich zu fragen, wieviel er wußte. Septimus’ Bauch zog sich vor Angst zusammen. Ein schmerzhafter Krampf im linken Bein schreckte ihn hoch. Er stand auf und hörte draußen Schreien und Brüllen, das Getrampel von Füßen. Hastig schlüpfte er in seine Sandalen, nahm einen Umhang und lief hinaus auf den Gang. Dienstboten rannten umher. Einer trug einen Eimer Wasser. Aus den Tiefen der Villa hallten Beckenschläge und »Feuer!«Rufe wider. Septimus entschloß sich, nachzusehen, was los war, doch in dem Gang, der zu den kaiserlichen Gemächern führte, wurden er und die anderen von Wachen aufgehalten. Ein Offizier teilte ihm schroff mit, daß in einem der Zimmer Feuer ausgebrochen, aber niemand verletzt und der Brand rasch unter Kontrolle gebracht worden sei. Septimus kehrte in sein Zimmer zurück und sah, daß unter seiner Tür jemand eine gekritzelte Nachricht durchgeschoben hatte. Er rieb sie zwischen den Fingern, knüllte das Pergament zusammen und steckte es in seinen Beutel. Dann verließ er das Zimmer und spazierte, so gleichgültig er konnte, durch die Villa und hinaus zu den Latrinen. Er öffnete die Tür und trat ein. Die Latrinen waren leer. »Bist du da?« rief Septimus. Ein Schatten bewegte sich von rechts auf ihn zu. Septimus drehte sich um, aber nicht schnell genug, um dem wuchtigen Schlag auf seinen Kopf zu entgehen, der ihn zu Boden warf. Halb bewußtlos, merkte er, daß er über die Fliesen gezogen wurde. Er versuchte die Hände zu bewegen, doch sie waren bereits gefesselt. Die Schrecken vergangener Zeiten, seine Alpträume der letzten Jahre kehrten zurück. Eine Tür ging auf, und Septimus wurde in die Dunkelheit hinuntergezerrt. Er spürte, daß ihm sein Gürtel und sein Beutel abgenommen
wurden. Es roch muffig und nach stehendem Wasser und war widerlich heiß. Er wollte stöhnen und merkte, daß man ihm einen Knebel in den Mund gesteckt hatte. Dionysius! Stand ihm dasselbe bevor? Schmerzen durchzuckten seinen Kopf, sein Körper war schweißgebadet, der rauhe Atem desjenigen, der ihn gefangengenommen hatte, klang bedrohlich. Septimus wurde gegen eine Säule gestoßen und mit Stricken festgebunden. Er hatte sein Gewand verloren, und jetzt wurde seine Tunika zerrissen. Hinter sich hörte er schlurfende Füße und ein Keuchen, als wäre jemand schnell eine lange Strecke gelaufen. Eine Peitsche knallte, und Septimus schrie lautlos, als der erste Schlag seinen bloßen Rücken traf.
KAPITEL 7 »Wem nützt es?« Cicero, Pro Milone, XII
Die Galeere, die normalerweise als Stolz von Korinth in der Straße von Byzanz patrouillierte, war schwarz angestrichen, die rotgoldene Heckreling war verhüllt und ebenso der goldgeprägte Greif am Heck, der Adler mit den ausgebreiteten Flügeln und das Horusauge am Bug. Die gerefften Segel waren ebenfalls schwarz, und die Mannschaft hatte gelernt, mit umwickelten Rudern umzugehen. Die Galeere hatte das spätsommerliche Wetter genutzt, um sich von der Kriegsflotte abzusetzen, die Ägäis zu verlassen und ins Mittelländische Meer zu segeln. Sie war von Sizilien aus die italienische Küste entlanggefahren und hatte sich dabei vorsichtig an menschenleere Buchten gehalten. Wenn Gefahr drohte, waren falsche Flaggen und Standarten gehißt worden. Neugierige hielten sie für eine von vielen Galeeren, die zum Schutz vor Piraten die Küste bewachten. Mit einem großen Vorrat an Wasser und Lebensmitteln hatte die Galeere am festgelegten Tag ihre vereinbarte Stellung bezogen und auf das Zeichen gewartet, das schließlich gekommen war – eine Reihe von Signalfeuern, die vom Meer aus deutlich zu sehen waren. Der Kapitän der Galeere hatte sein Schiff, das schlank und tief im Wasser lag wie ein hungriger Wolf, der sich an einen Schafspferch heranschleicht, zum Ufer manövriert. Die See war ruhig, der Lotse kannte alle Strömungen und verborgenen Gefahren, und so legte die Galeere bei Einbruch der Dunkelheit problemlos an.
In Hosen und Tuniken unter ihren Rüstungen bereiteten sich die Soldaten darauf vor, ins Land einzudringen. Alle waren aufgrund ihrer Loyalität und ihrer Ausbildung ausgewählt worden, Veteranen, die sich beim Überfallen und Töten von Banditen und Verbrechern im Taurusgebirge an den kilikischen Toren hervorgetan hatten. Sie waren mit Bogen, Pfeilen und langen, gekrümmten Schwertern ausgerüstet, die Rundschilde trugen sie am Rücken, und auf ihren Köpfen saßen verstärkte Lederhelme mit Nasenschützern und Ohrenklappen. Manche führten provisorische Leitern mit, lange Stangen mit Stäben auf beiden Seiten, sowie Enterhaken, Eimer mit Pech und kleine Töpfe mit Feuer. Sie verzehrten ihr Mahl – hartes Brot, getrocknete Früchte und gepökeltes Fleisch –, tranken aus der kleinen Wasserflasche, die jeder Mann bei sich hatte, und marschierten los. Sobald sie die Sandhügel erreicht hatten, legten sie eine Pause ein, um ihre Vorbereitungen abzuschließen, und schickten ihre Vorposten in den Wald. Diese Kundschafter, vandalische Söldner, brachten in den einsamen Bauernhöfen und Katen alles Leben zum Verstummen, sie schnitten jedem, dem sie begegneten, die Kehle durch, schlachteten die Hunde ab und holten sich dann ihre Beute. Die Offiziere hatten die Karten dieser Gegend eingehend studiert. Aufgrund verschiedener kaiserlicher Erlasse war das Land rund um die Villa Pulchra kaum besiedelt. Das war hilfreich, ebenso wie die Informationen über die Wachen in der Villa, die sie erhalten hatten. Die Wachen standen unter dem Kommando von Gaius Tullius, einem von Konstantins altgedienten Offizieren, der sich das Kommando mit Burrus teilte, dem Kommandanten der Wache dieser Schlampe Helena. Die Angreifer hatten strenge Anweisungen: Konstantin und seine Mutter sollten ermordet, Männer wie Burrus, Rufinus, Chrysis und Gaius Tullius gemeinsam mit dem Priester Sylvester und
dem Führer der alten Glaubensrichtung, Athanasius, gefangengenommen werden. Alle anderen waren umzubringen. Die Angreifer drangen tiefer in den Wald ein. Sie erklommen die Hänge und gelangten zu einer Lichtung, wo sie sich neu formierten, ausruhten und ihre armselige Beute aufteilten. Sie tranken noch etwas Wasser und gingen weiter. Nach einem beschwerlichen Marsch näherten sie sich der Villa. Gelegentlich trafen sie auf Vorposten, doch es waren nur wenige, schläfrige Männer, die rasch beseitigt werden konnten. Das Unterholz rund um die Villa war sehr dicht, weshalb sie gezwungen waren, den einzigen Pfad zu benutzen, den es gab. Der Hauptmann der Angreifer hatte keine andere Wahl, merkte aber, daß irgend etwas nicht stimmte. Das spürte er an dem Schweiß, der ihm über den Rücken lief. Lag es daran, daß es im Wald so still war? Daß man keine Eule schreien, keine Tiere im Unterholz rascheln hörte? Hatten die Tiere ebenfalls etwas Bedrohliches gewittert und waren geflohen? Immer wieder blieb der Hauptmann stehen und lauschte den Geräuschen der Nacht. Er blickte zurück. Er konnte nur die auf und ab wippenden Köpfe seiner Männer sehen. Trotz seines Argwohns merkte er nicht, daß seinen Männern zu beiden Seiten des Pfades dunkle, stämmige Schatten folgten. Diese Gestalten, die an die pechschwarzen Nächte in den Wäldern Germaniens gewohnt waren, schlichen wie jagende Wölfe durch das Farnkraut und gruppierten sich um das Ende der Kolonne. Die Reihe der Angreifer wurde schneller, und es gab immer wieder Nachzügler; diese nahmen sich die lautlosen Schattengestalten vor: Sie legten ihnen eine Hand auf den Mund und setzten ihnen ein Messer an die Kehle… Claudia sah sich im luxuriösen Triklinium der Villa Pulchra um. Die goldgesäumten Liegen waren hufeisenförmig angeordnet; vor jeder befand sich ein langer, niedriger Tisch
aus polierter libanesischer Zeder mit Intarsien aus Ebenholz und Elfenbein. Auf den Tischen standen kleine, fein gearbeitete Goldgefäße mit Rindfleischeintopf, Hasen in süßer Soße, Schinken in Rotwein und Fenchel, gebackener Leber, gebratener Scholle und würziger Forelle. Auf einem versteiften Papyrus mit kaiserlichen und christlichen Insignien am oberen und unteren Ende hatte Konstantins persönlicher Küchenchef seine Speisenfolge mit Sätzen wie: »Wenn sie jung sind, müssen Hasen in einer süßlichen Soße mit Pfeffer, ein wenig Kreuzkümmel und Ingwer verzehrt werden…«, beschrieben. Claudia hatte genug gegessen und den blutroten Falerner Wein getrunken, der mindestens siebzig Jahre alt war – das stand jedenfalls auf der Speisekarte – und mit viel lauwarmem Wasser gemischt wurde, das jeder Gast in kleinen Krügen serviert bekam. Der Raum war von Kronleuchtern mit je sechs Öllampen in verschiedenfarbenen Alabastergefäßen erhellt. Diese Lampen standen auf Rädern, die man so weit wie möglich herabgesenkt hatte, um genug Licht zu erhalten. Ihr Duft vermischte sich mit jenem aus den Weihrauchgefäßen, mit dem Duft von Eisenkraut und Frauenhaar und dem der zahllosen Blumenkörbe, die entlang den Wänden aufgestellt waren. Verschiedene Künstler und Musiker waren zur Unterhaltung der Gäste aufgetreten. Jetzt rezitierte der Dichter der Villa ein Sonett von Ovid: »Von einer Schönheit wie dir kann ich nicht verlangen, daß sie treu ist.« Nur sehr wenige Gäste hörten zu; sie waren entweder in Gespräche vertieft oder starrten betrunken in ihre Becher. In der Mitte des Hufeisens saß Konstantin und stritt heftig mit seiner Mutter. Er wirkte erregt. Helena hielt einen Wasserkrug in der Hand und machte ihrem Sohn Vorhaltungen, weil er so viel trank. Timothaeus stand besorgt hinter den kaiserlichen Liegen. Claudia hätte ihn gern auf sich aufmerksam gemacht und zu sich gewunken, doch der
Haushofmeister wirkte beunruhigt. Chrysis lag ausgestreckt da und flüsterte einem hübschen Jungen, der seine Liege teilte, etwas zu. Athanasius und Justin, die Anführer der beiden christlichen Gruppen, waren absichtlich auseinander gesetzt worden, obwohl diese gemütliche Abendgesellschaft zu ihren Ehren stattfand. Claudia gegenüber saß Gaius Tullius, dessen Toga zu Boden rutschte, und gähnte einem älteren Senator ins Gesicht. Der Hauptmann blickte sie kurz an, zwinkerte ihr zu und wandte sich dann wieder dem alten Trottel zu, der mit seinen Klagen über die Zustände in den Bädern von Rom jedermann langweilte. Claudia hatte sich an einem Ende des Hufeisens niedergelassen. Von da aus konnte sie die Musiker sehen, die alles versucht, aber dann aufgegeben hatten und sich jetzt am Wein gütlich taten und sich mit den Resten der Speisen von den Tischen den Bauch vollstopften. Direkt ihr gegenüber, am anderen Ende des Hufeisens, saß ein großer, dunkelhaariger Mann, der die ganze Zeit geschwiegen hatte und angespannt wirkte. Claudia hatte gesehen, daß Rufinus aufgestanden und zu ihm gegangen war und leise mit ihm gesprochen hatte. Der Fremde hatte ein griesgrämiges Gesicht und tiefliegende Augen und rutschte unruhig auf der Liege hin und her. Er trug zwar teure Kleidung, war aber kein Höfling; sein Gesicht, die Arme und Beine waren von der Sonne braungebrannt und glänzten von Öl. Claudia bemerkte Narben, die unter den Ärmeln und dem Saum seiner Tunika hervorsahen, und schloß daraus, daß er entweder Soldat oder Gladiator sein mußte, denn er strahlte dieselbe Ruhelosigkeit aus wie Murranus. Claudia blickte weg. Sie langweilte sich und war müde, nach dem brutalen Angriff aber noch immer besorgt. Sie dachte daran, wie die Tür aufgegangen, die Öllampe ins Zimmer geworfen worden und am Boden zerbrochen war und sich eine Pfütze aus Öl und Flammen gebildet hatte. Hätte sie
geschlafen, dann hätte die Lampe das Bett in einen Scheiterhaufenverwandelt. Warum hatte das jemand getan? Sie schloß die Augen und versuchte sich alle Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Sie hatte dagesessen und mit Narcissus gesprochen, als sich die Tür blitzschnell öffnete. Das war es! Die meisten Gäste der Villa zogen sich während der größten Tageshitze in ihre Betten zurück. Der Beinahemörder hatte angenommen, sie würde dasselbe tun. Er war mit der Öllampe zu ihrer Kammer gegangen, hatte gewartet, bis der Gang leer war, und dann die Tür aufgerissen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß jemand bei ihr sein würde. Er – und wenn Claudia an die groteske Gestalt im Keller dachte, mußte sie zu dem Schluß kommen, daß es ein Mann war – war beim Klang ihrer Stimmen gewiß in Panik geraten, und statt genauer zu zielen und die Lampe direkt auf das Bett zu schleudern, hatte er sie nur in das Zimmer geworfen. Sein Vorhaben war fehlgeschlagen, doch immerhin hatte er sie und Narcissus durch das Fenster in die Flucht getrieben. Die kleine Kammer war aus Stein gebaut und enthielt nur wenige Möbelstücke aus Holz, daher hatten die Dienstboten die Flammen mit schweren Tüchern und trockenem Sand bald unter Kontrolle gebracht. Claudia und Narcissus waren sicher im Garten gelandet. Sie hatte ihren Begleiter angewiesen, den Mund zu halten, und dem Haushofmeister erklärt, der Brand sei ein Mißgeschick gewesen. In Wirklichkeit war ihr Peiniger jedoch hinter ihr her, und Claudia fragte sich, ob die Augusta wohl davon wußte. Während des Mahles hatte Helena immer wieder mit gerunzelten Augenbrauen zu ihr herübergeblickt, als sei sie neugierig oder über etwas verwirrt. Claudia schaute sich in dem Raum um. Welcher von den Gästen hier hatte das getan? Chrysis, der sie nicht leiden konnte? Die Philosophen? Athanasius hatte sich kurz vor dem Bankett an sie gewandt; er war ziemlich wütend gewesen, weil
er seinen Kollegen Septimus nicht finden konnte. Claudia hätte gern noch einen Schluck Wein getrunken, um ihre Nerven zu beruhigen, wollte aber nicht, daß er ihr zu Kopf stieg. Rufinus, der auf der Liege neben der ihren saß, versuchte sich mit ihr zu unterhalten, doch seine Frau Fulvia Julia hatte das mitbekommen und gurrte die ganze Zeit wie eine Ringeltaube, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Also beschloß Claudia, ein Gemälde an der Wand am anderen Ende des Trikliniums zu studieren. Der Speiseraum wurde pompös »Marszimmer« genannt, weil seine Wände mit kriegerischen Szenen geschmückt waren, die den Ruhm Roms priesen. Das Bild auf der gegenüberliegenden Wand zeigte ein blühendes Land, das gerade verwüstet wurde. Ganze Bataillone von Feinden wurden abgeschlachtet. Die Männer liefen davon oder wurden gefangengenommen, die Mauern einer Stadt waren von Belagerungsmaschinen zerstört, ihre Wälle in einem Meer von Blut erstürmt worden, und die Verteidiger, die keinen Widerstand mehr leisten konnten, ergaben sich mit erhobenen Händen. Auf dem Tisch vor ihr landete eine Kirsche. Claudia blickte auf. Sylvester sah sie fragend an, als sei er ebenfalls neugierig, was passiert war. Claudia schenkte ihm ein kurzes Lächeln. Auch dem römischen Presbyter durfte sie nicht trauen – wie allen anderen in diesem Raum. O ja, dachte Claudia, und ganz zu schweigen von den Menschen draußen, selbst Narcissus mit seinem jammervollen Gesicht. Claudia kniff sich in die Nase. Irgend etwas stimmte nicht ganz mit Narcissus dem Geschickten, er hatte irgend etwas Seltsames gesagt, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was es gewesen war. Der Gesprächslärm verstummte; der Dichter hatte sich zurückgezogen, nachdem ihm der Kaiser eine Silbermünze zugeworfen hatte. Chrysis erhob sich und setzte zu einer Rede an, was sofort mit Applaus quittiert wurde. Claudia konnte sich
vorstellen, was jetzt geschehen würde. Chrysis, ein ehemaliger Schauspieler, war stets bereit, neue Skandale über Licinius, den Kaiser des Ostreichs, und seinen korrupten Hof zu verkünden. »Es gibt Neuigkeiten aus dem Osten.« Chrysis spreizte die Finger. »Licinius organisiert Tombolas. Bei seinen Abendgesellschaften verteilt er Löffel mit Glückssymbolen. Das können zehn Kamele, zehn Fliegen, ein Pfund Rindfleisch oder sogar tote Hunde sein. Ich glaube, ihm geht das Geld aus.« Er gab den Zuhörern zu verstehen, daß sie nicht lachen sollten. »Der Mann ist verrückt. Er besteht darauf, Fisch in blauer Soße zu essen. Er spannt vier große Hunde vor seinen Wagen, und – hört euch das an – wenn er betrunken ist, sperrt er seine Freunde in ihren Schlafräumen ein und läßt dann mitten in der Nacht Löwen, Leoparden und Bären zu ihnen hinein.« »Das könnte ich hier auch einführen«, unterbrach ihn Konstantin und wieherte vor Lachen. »Was hättest du denn gern, Chrysis, einen Bären oder einen Panther?« »Eure Exzellenz«, sagte Chrysis kopfschüttelnd, »Licinius ist am Ende. Er schickt seinen Gefolgsleuten Frösche, Skorpione, Schlangen und andere scheußliche Reptilien, er hält sich in Krügen Fliegen und bezeichnet sie als zahme Bienen.« Jetzt hatte Chrysis die Aufmerksamkeit aller im Raum auf sich gelenkt; das war kein Spiel. Er machte Konstantins Rivalen bewußt lächerlich, was das Blut der Zuhörer in Wallung brachte und Konstantin weiter ermutigte, sein Glück im Osten zu versuchen. Claudia beobachtete die Kaiserin. Helena hatte nichts gegessen und getrunken. Plötzlich stellte Claudia fest, daß jemand fehlte: Helenas Schatten, der Mann, der Claudia in den kaiserlichen Dienst eingestellt hatte, der christliche Priester und Schriftgelehrte Anastasius. Warum hatte ihn die Kaiserin in Rom zurückgelassen? Was ging hier sonst noch vor? Gab es
noch andere Gefahren als diese Signalfeuer? Claudia fragte sich, warum die Kaiserin mit ihrem Sohn gestritten hatte. Außerdem hatte es, seit der Dichter abgetreten war, ein ständiges Kommen und Gehen von Boten gegeben, die Helena über etwas Wichtiges informierten, das irgendwo in der Villa geschah. Claudia blickte sich um und unterdrückte ein Schaudern. Helena hatte die Kontrolle über die Abendgesellschaft übernommen. Noch vor deren Beginn hatte sie darauf bestanden, daß alle bleiben und sich unterhalten mußten. Hatte das vielleicht einen ernsteren Hintergrund? »Licinius wird bald sterben.« Jetzt war Chrysis voll in Fahrt. »Ein syrischer Priester hat vorhergesagt, daß er eines gewaltsamen Todes sterben wird. Deshalb hat er zwei Seile aus purpurner Seide vorbereiten lassen, damit er sich notfalls erhängen, und ein goldenes Schwert, in das er sich stürzen kann, wenn sein letztes Stündchen geschlagen hat.« Chrysis starrte seinen kaiserlichen Herrn an. »Licinius erwartet den Tod. Es heißt, er hat in Amethysten und Smaragden Gifte versteckt und einen sehr hohen Turm gebaut, unter dem mit Gold und Juwelen geschmückte Steinplatten liegen, auf die er sich stürzen kann. Vielleicht ist es an der Zeit, Eure Exzellenz«, schloß er schwungvoll, »Licinius dazu zu ermutigen, mit diesen Spielzeugen etwas Sinnvolles anzufangen.« Seine Worte ernteten tosenden Beifall. Die Zuhörer prosteten ihm mit ihren Bechern zu. Konstantin blickte sich mit gerötetem Gesicht um und nickte. Die Musiker stimmten eine Melodie an, waren aber so betrunken, daß ihnen Chrysis befahl, mit dem Spielen aufzuhören. Rufinus, der Bankier, ergriff die Gelegenheit, sich wieder zu Claudia zu wenden. »Machst du dir noch immer Sorgen um Murranus?«
»Ja«, antwortete sie lächelnd, »und was Chrysis gesagt hat, ist sehr interessant. Habt Ihr wirklich geglaubt, Murranus würde einen kampfunfähigen Mann töten?« Rufinus zuckte die Achseln. »Das ist das Gesetz des Amphitheaters, Claudia. Ich habe gesehen, wie Gladiatoren stolperten oder krank wurden; das hat sie nicht vor dem Tod bewahrt. Aber ich werde dir etwas verraten«, meinte er mit einem schiefen Grinsen, »besser gesagt, ich wiederhole mich. Es wechselt gerade eine Menge Geld die Hände, und viel davon wird darauf gesetzt, daß Murranus gewinnt.« »Aber damit ist die Sache ja noch nicht zu Ende«, unterbrach ihn Claudia. »Er wird gegen Meleager den Glorreichen, den größten Kämpfer einer Million Städte, antreten müssen.« »Möchtest du ihn kennenlernen?« fragte Rufinus. »Meleager? Er ist bereits seit deiner Ankunft hier in der Villa. Meleager«, rief Rufinus dem dunkelhaarigen Fremden zu, der Claudia schon vorher aufgefallen war. »Komm herüber, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Meleager stand von der Liege auf und kam zu ihnen. Er war groß, und allein sein Gang erinnerte Claudia an einen Panther in einem Käfig. Er war stämmig und kräftig gebaut, bewegte sich jedoch graziös wie ein Tänzer. Er kauerte sich vor Rufinus hin und starrte Claudia an. Er hatte tiefliegende, engstehende Augen, hohe Backenknochen, eine etwas schiefe Nase, dünne Lippen und ein festes Kinn. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten und so frisiert, daß es eine häßliche Narbe an seinem linken Ohr bedeckte. Claudia blickte auf sein Handgelenk; keine purpurne Tätowierung. »Meleager, darf ich dir Claudia vorstellen, Botin und Dienstmädchen der Augusta und eine liebe Freundin von Murranus, dem du in der Arena gegenübertreten wirst?« »Meine Dame.« Meleager nahm Claudias Hand und hob sie an die Lippen. »Euer Freund hat einen sehr guten Ruf. Ich
hoffe, bei den Spielen zu Ehren des Geburtstags des Kaisers auf ihn zu treffen. Meine Dame, geht es Euch nicht gut?« Claudias Mund war trocken geworden. Sie wollte, daß Meleager ihre Hand losließ. Sie wollte nicht, daß er merkte, wie kalt sie geworden war. Er hatte vielleicht keine Tätowierung auf dem Handgelenk, doch aus der Nähe erkannte sie diese Stimme, sie erinnerte sich an den Geruch, eine Mischung aus Parfüm und Schweiß; selbst seine Berührung war ihr vertraut. Das war der Mann, der sie vergewaltigt hatte, der Mörder des armen Felix. »Ich…« Claudias Lider bebten. Sie betete, daß sie nicht ohnmächtig werden würde. Der Raum schwankte. »Wißt Ihr, was«, sagte sie lachend und zog rasch ihre Hand zurück, »ich habe viel zuviel Wein getrunken, mir wird schlecht.« Damit rappelte sie sich von der Liege auf und flüchtete aus dem Raum. Sie wußte nicht, wohin sie wollte. Sie rannte an den Wachen vorbei und ignorierte den Anruf eines Offiziers. Sie lief einen Säulengang entlang, kletterte über eine Mauer und floh in die Dunkelheit. Bei einem Baum glaubte sie, nicht mehr weiter gehen zu können. Ihre Beine wurden schwer, und in ihrem Hinterkopf pochte ein schrecklicher Schmerz. Sie hatte das Gefühl, sie habe aufgehört zu atmen; sie fiel auf die Knie, um sich krampfartig zu übergeben. Während sie würgte, wischte sie sich die Hand ab, die Meleager gehalten hatte, am liebsten hätte sie nicht nur seine Berührung, sondern sogar die Haut abgestreift. Sie erbrach sich, bis ihr Mägen leer war; in ihrer Kehle stieg Säure auf, aber sie fühlte sich besser. Sie ging weiter und legte sich dann mit dem Gesicht nach unten ins Gras. Es war feucht und kühl, wie der Sand, in dem sie und Felix gespielt hatten. Er hatte Muscheln gesucht, als der Schatten aufgetaucht war. Sie begann zu weinen und ließ den Tränen freien Lauf.
»Claudia! Claudia!« Sie spürte, wie ihr Haar gestreichelt wurde, und verkrampfte sich. Eine Hand packte sie an der Schulter und zog sie sanft an sich; sie wehrte sich nicht, sondern ließ sich fallen und blickte hinauf zu Sylvester, der ein besorgtes Gesicht machte. Er nahm seinen Umhang ab, deckte sie damit zu, setzte sich neben sie und begann am Gras zu zupfen. »Ich habe gesehen, daß du gegangen bist. Die anderen dachten, dir sei schlecht. Claudia, dir ist niemals schlecht, du bist nie betrunken! Was ist da drinnen geschehen? Meleager glaubt, er hat dir angst gemacht.« »Das stimmt«, antwortete Claudia. Sie setzte sich mühsam auf und legte sich Sylvesters Umhang um die Schultern. »Er hat mir furchtbare Angst eingejagt, Magister. Er ist es!« »Er ist wer?« »Der Mann, der mich vergewaltigt und meinen Bruder ermordet hat.« »Das ist unmöglich! Hast du die Tätowierung gesehen?« »Sie ist entfernt worden.« Claudia spürte, wie ihre Kräfte zurückkehrten. »Ich weiß, daß er es ist; seinen Geruch, seine Stimme werde ich niemals vergessen…« »Still.« Sylvester nahm ihr Gesicht in seine Hände. »Ich bin ein Priester Christi, Claudia, und daher fällt mir das, was ich dir jetzt sagen werde, sehr schwer. Du mußt dich verstellen, wie du das seit jener entsetzlichen Nacht getan hast. Wenn der Gerechtigkeit Genüge getan werden soll, dann überlaß es Gott. Ich schwöre bei seinem heiligen Namen, daß er sich darum kümmern wird. Meleager ist Gladiator. Wenn er auch nur ein paar Sekunden lang merkt, daß du weißt, wer er in Wirklichkeit ist, dann bist du in sehr großer Gefahr. Nein, nein.« Er drückte seine Finger an Claudias Lippen. »Claudia, ich bitte dich bei allem, was heilig ist, verbirg deine Angst und zügle dein Herz! Ich schwöre dir, wenn Gott nichts tut, dann
werde ich handeln. Das schulde ich dir.« Er nahm seine Finger weg. »Denk an dich, Claudia«, klangen seine Worte durch die Finsternis, »denk an dich selbst und an Felix!« Claudia starrte in die Nacht. Der Schmerz ließ nach, ihr Magen war leer, und sie hatte Hunger. So vieles ging ihr durch den Kopf. Sylvester strich ihr übers Haar, wie das ihr Vater getan hatte. Sie lehnte sich an seine Hand. »Hilf mir auf«, flüsterte sie, »dann helfe ich mir selbst.« Auf unsicheren Beinen schritt sie in die Dunkelheit. Auf einmal blieb sie stehen, drehte sich um und legte den Kopf ein wenig schief. »Was war das?« fragte sie. »Hast du das gehört, Magister?« Sie versuchte die nächtlichen Geräusche zu unterscheiden. »Das Klirren von Waffen, Schreie?« Sylvester lauschte angestrengt. Jetzt hörte Claudia die Geräusche wieder. Sie kamen von irgendwo aus dem Süden, von jenseits der Mauern der Villa. »Was ist los?« Sie war froh über die Ablenkung. Sie lauschte noch einmal, doch die Laute waren verstummt. Sie dachte an die Signalfeuer und daran, wie Helena die Landkarten studiert hatte. »Was geht da vor, Sylvester?« »Ich weiß es nicht.« Er zuckte die Achseln. »Die Augusta war am frühen Abend sehr beschäftigt. Hast du bemerkt, daß Anastasius nicht da ist? Sie hat ihn in Rom zurückgelassen, damit er die Situation dort im Auge behält. Außerdem hat sie an das nahe Hauptlager der Germanen eine dringende Botschaft gesandt. Hast du sie bei der Abendgesellschaft beobachtet? Sie wollte nicht, daß irgend jemand das Triklinium verläßt.« Sylvester lächelte in der Dunkelheit. »Sie war es, die gesagt hat, daß ich dir folgen soll.« »Nun, mir ist nichts passiert. Und jetzt werde ich mich umziehen.« Claudia hob die Hand. »Sylvester, ich danke dir. Ich werde deinen Rat befolgen und meine Zunge hüten.«
Claudia kehrte zurück in die Villa und ging direkt in ihr altes Zimmer. Die Tür hing lose in den Angeln; eine Seite war stark versengt. Sie nahm eine Lampe und trat ein. Der Fußboden war mit Sand und Asche bedeckt, und sie stocherte mit dem halbverbrannten Bein eines Hockers darin herum, um sich zu vergewissern, daß nichts darin lag. Während sie das tat, fiel ihr der Sand im Keller ein. »Natürlich!« flüsterte sie. »So muß es gewesen sein!« Sie blickte auf die Asche, sammelte ein paar Dinge auf, die noch brauchbar waren, und begab sich in ihre neue Kammer. Helena war überaus großzügig gewesen – dieses Zimmer war geräumiger. Die Wände waren mit Bildern eines Weingartens verziert: dunkelgrüne Weinstöcke an ockergelben Gittern, über die sich goldene Äste mit üppigen blauen Trauben rankten, die Kinder in übervolle Körbe legten. Das Gemälde an einer anderen Wand zeigte Arbeiter in der Weinpresse. Wieder dachte Claudia daran, wie sie in dem Keller auf der Flucht vor ihrem Angreifer durch den Sand gewatet war. Auf der stuckverzierten Decke prangte ein strahlendes Bild von Phöbos in seinem Wagen, während das Fußbodenmosaik einen kleinen flötenspielenden Jungen darstellte. Als Bett diente ihr eine Liege, die aus dem Triklinium gebracht worden war. Die restlichen Möbel – Hocker und kleine Tischchen – waren Geschenke aus den Lagern der Kaiserin. Neue Kleider waren ebenfalls bereitgelegt worden. Claudia wusch sich in einer glänzenden Schüssel das Gesicht, zog sich aus und kleidete sich wieder an. Sie blickte in den Spiegel mit Kupferrand, kniff sich in die Wangen, frisierte sich und besprühte sich mit dem Parfüm, das ihr Murranus nach seinem letzten siegreichen Kampf geschenkt hatte. Als sie ins Triklinium zurückkam, stellte sie erleichtert fest, daß ihre Abwesenheit kaum aufgefallen war. Athanasius fragte lautstark nach Septimus. Chrysis war betrunken; er hatte sich
bereits übergeben und lauschte mit verschleiertem Blick der scharfen Stimme des Redners, dessen Liege er teilte. Konstantin und Rufinus hatten die Köpfe zusammengesteckt wie zwei Verschwörer und unterhielten sich flüsternd. Helena war verschwunden. Claudia kehrte an ihren Platz zurück. Sie sah kurz zu Meleager, doch der würdigte sie kaum eines Blickes; er war zu sehr damit beschäftigt, mit Rufinus’ Frau zu turteln. Claudia bändigte ihren Zorn. Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen und hätte ihn zur Rede gestellt. Sie strich mit den Fingern über ein scharfes Fleischmesser, das auf dem Tisch lag. Wie leicht hätte sie es nehmen, hinüberlaufen und es in diesen Stiernacken stechen können! Sie war drauf und dran, danach zu greifen, als sie eine Kirsche auf der Wange traf. Sie blickte empor. Sylvester starrte sie an und schüttelte den Kopf. Claudia zog ihre Hand zurück. Was konnte sie schon tun? Sie dachte daran, wie sich Murranus in der Gladiatorenschule wie ein Tänzer über den Sand bewegte, und fühlte, wie sich ihr leerer Magen verkrampfte und ihr Herz ein wenig zu flattern begann. Sie zog einen Teller mit Essen zu sich heran und schrak auf, als das laute Schmettern eines Kriegshorns ertönte. Der Lärm im Triklinium verstummte. Gaius Tullius sprang auf. Konstantin fuhr mit einem Ruck von seiner Liege hoch und setzte sich mit hervorquellenden Augen und offenem Mund auf die Kante. Die Türen wurden aufgestoßen, und Helena trat ein. Sie flüsterte ihrem Sohn etwas zu. Er wollte aufspringen, doch die Kaiserin, die hinter ihm stand, drückte seine Schultern fest nach unten. »Meine Herren und Damen, meine Gäste«, begann sie und sah sich mit einem liebenswürdigen Lächeln um. »Es wurde Alarm gegeben. Die Villa wird angegriffen, aber« – und jetzt wurde ihre Stimme lauter – »es ist alles unter Kontrolle. Ich bitte euch, in eure Zimmer zurückzukehren und sie nicht zu
verlassen. Mein Sohn und ich werden mit einigen anderen« – dabei starrte sie Claudia an – »hierbleiben.« Sie hob eine Hand und schnipste mit den Fingern. Burrus und seine Germanen betraten den Raum. Das Blut auf Burrus’ Armen, sein schlammbespritztes Gesicht, der Schmutz und der Stechginster auf seinen Kleidern ließen keinen Zweifel daran, daß er gerade von einem Kampf zurückgekommen war. Weitere Männer seiner Wache traten in den Saal. Gaius Tullius wollte protestieren, doch Helena blaffte ihn an, er solle sich um seine Pflichten kümmern. Dann klatschte sie in die Hände. »Geht jetzt!« rief sie. »Ihr habt alle eure Befehle!« Das Triklinium leerte sich schnell, nur Konstantin, Helena, Chrysis – der nicht so aussah, als sei er zu irgend etwas zu gebrauchen –, der Priester Sylvester, Rufinus und Claudia blieben zurück. Weitere Söldner erschienen, einige von ihnen aus dem Lager, das sich zwischen Rom und der Villa Pulchra befand. Konstantin hob eine Hand und lauschte aufmerksam den Trompeten und Hörnern und dem Geräusch laufender Füße im Gang draußen. »Das ist sinnlos«, fauchte Helena. »Das ist jetzt sinnlos. Ich habe alles unter Kontrolle.« Sie nahm ihren Umhang von der Kante ihrer Liege. »Ich habe strenge Anweisungen gegeben, die Tore dürfen nicht geöffnet werden.« »Warum nicht?« schrie Konstantin wie ein kleiner Junge. »Meine Soldaten…« »Mein Sohn«, Helena senkte die Stimme, doch die anderen im Raum konnten sie trotzdem hören, »die Tore bleiben geschlossen, bis ich den Befehl widerrufe. In diesem Augenblick, dieser Stunde des Verrats, würden wir nicht wissen, wen wir hinauslassen. Wenn die Tore geschlossen bleiben, haben wir zumindest eine gewisse Kontrolle über jene, die eingelassen werden. Komm jetzt, hör auf herumzuschreien, das bringt nichts.«
Helena rauschte hinaus, und die anderen folgten ihr. Konstantin hielt mit seiner Mutter Schritt und fluchte leise vor sich hin. Burrus’ Männer umringten sie mit ihren Schilden und gezogenen Schwertern; die kaiserlichen Stabsoffiziere, die in den Korridoren standen, konnten nur hilflos zusehen. Sie blickten den Kaiser an und warteten auf ein Zeichen, doch Konstantin war kein Dummkopf; betrunken oder nicht, er wußte, daß die Worte seiner Mutter vernünftig waren. In dieser Stunde des Verrats vertraute er ihr blind. Sie durchquerten den Peristylgarten und das Atrium, wo vor den Hausgöttern noch immer die Öllampen brannten, und schritten dann auf dem Hauptweg, vorbei an Gärten und Wäldchen, zum Tor. Das Areal davor war jetzt von Kohlenbecken und kleinen Feuern hell erleuchtet; weitere Männer von Burrus scharten sich um sie und bildeten einen Ring aus Stahl um das Tor. Entlang der Mauerbrüstung flackerten Fackeln. Die Treppe zur Brüstung wurde ebenfalls bewacht. Als Helena hinaufsteigen wollte, traten die Germanen rasch beiseite. Ihr Sohn stolperte hinterher. Oben angekommen, peitschte der heftige Nachtwind durch Haare und Umhänge. Claudia mußte ihr Gesicht vor den Funken der knisternden Fackeln schützen. Sie blickte zum Himmel empor. Sturmwolken brauten sich rasch zusammen und verdeckten die Sterne. Unter ihr stand mit erhobenen Schilden in Hufeisenform ein Trupp Germanen, der das Tor von außen bewachte. Sie waren bereit zur Verteidigung der Villa. Ihre langen Schatten huschten im Licht des tosenden Feuers hin und her; sie wirkten bedrohlich und finster. Helena gebot Ruhe. Als alle Stimmen verstummten, hörte Claudia in der Ferne den gedämpften Lärm, der aus der Dunkelheit des Waldes drang. Zuerst dachte sie, daß sich bewaffnete Männer zum Angriff zusammenzogen, doch dann vernahm sie das Klirren von Waffen und leise Schreie, und
zwischen den Bäumen sah sie Flammen. In dem Wald, der sich bis zur Küste erstreckte, fand in der pechschwarzen Nacht ein erbitterter, blutiger Kampf statt, Mann gegen Mann. »Wir haben sie!« jubelte Helena. »Meine Jungs haben sie im Wald erwischt. Für sie ist das hier Germanien, und die Feinde sind die Legionen von Varus.« »Es bringt Unglück«, lallte Chrysis, »wenn man so etwas sagt.« Die Kaiserin befahl ihm unverzüglich, den Mund zu halten. »Liebste Mutter«, schnarrte Konstantin, »ich brauche eine Erklärung oder etwas zu trinken oder auch beides.« Der Kaiser wollte weitersprechen, doch der Kampflärm wurde deutlicher vernehmbar. Jetzt verstand Claudia, warum man ihn in der Villa nicht gehört hatte. Burrus’ Germanen hatten den Feind offenbar in den Tiefen des Waldes gestellt und trieben ihn zurück zur Küste. Ihr wurde auch klar, warum Helena geheimgehalten hatte, was sie über den Angriff wußte, und keine kaiserlichen Truppen hatte aussenden wollen. Die Männer, die jetzt im Wald starben, waren von einem Verräter hergeholt worden; der wahre Feind befand sich in der Villa. Konstantin war Kaiser, weil ihn seine Truppen dazu ausgerufen hatten. Er wäre nicht der erste Kaiser, der von Leuten aus seinem engsten Umkreis gestürzt wurde. Das hatte Helena ihrem Sohn auch gesagt und darauf hingewiesen, daß praktisch jeder ermordete Kaiser von Leuten aus seiner nächsten Umgebung getötet worden war. »Mir ist schlecht«, stöhnte Chrysis. »Es ist, als stünde ich an Deck eines Schiffes.« Claudia sah, wie der dicke Mann eilig die Treppe hinunter und in den Garten lief, wo die kaiserliche Garde unter der Führung ihrer Offiziere aufmarschierte. Er ging auf die Büsche zu, und Claudia fragte sich, ob wohl er der Verräter war. Sie hörte Helena aufschreien und drehte sich wieder um. Die
Kaiserin deutete auf eine Flamme, die in der Dunkelheit aufloderte. »Da hat jemand einen Topf Öl oder einen Eimer Pech mitgehabt«, murmelte Helena. Der Lärm und die Schreie erstarben. Claudia lehnte sich an die Mauer und blickte in die Nacht, als die Stille abrupt von einem seltsamen Gesang durchbrochen wurde. Sie erkannte ein Kampflied, das bei den Söldnern sehr beliebt war. Aus dem Wald tauchten dunkle Gestalten auf, die auf das Tor zuliefen; andere folgten ihnen langsamer mit Fackeln. Einige von ihnen tanzten wie Dämonen im Licht, wirbelten herum, sprangen auf und ab und schüttelten die Bündel, die sie in den Händen hielten. Als sie näher kamen, sah Claudia, daß diese Bündel abgeschnittene Köpfe waren. Eine wahre Flut von Männern strömte aus dem Wald. Jetzt ging Burrus, der das Tor bewacht hatte, hinaus, um seine Kameraden zu begrüßen, die sich unter der Mauer zusammenscharten und ergeben zu ihrer Herrin hinaufblickten. Sie grüßten sie mit dem Klirren ihrer Schwerter, wüsten Schreien und frenetischen Tänzen, wobei sie die ganze Zeit ihre grausigen Trophäen schüttelten. Hinter dieser Gruppe tauchten weitere Gestalten auf, und Claudia sah, daß sie ein paar Gefangene bewachten. Die Augusta lehnte sich an die Wand. Ihr Gesicht und ihre Schultern wurden von der brennenden Fackel erhellt, die ihr Sohn hielt. Sie hob die Hand zum Gruß und rief den Germanen zu, sie seien zwar eine Schlägerbande, aber sie liebe sie von ganzem Herzen. »Laßt sie herein«, seufzte Helena und stieß sich von der Mauer ab. »Laßt meine lieben Jungen herein. Sie sollen nach Herzenslust essen und trinken, und dann wird es Zeit, daß sie ins Bett kommen.«
Die Tore wurden geöffnet, und die Germanen stolzierten herein. Helena erklärte, sie könne keine Grußzeremonien von ihnen mehr ertragen. »Wir müssen jetzt nachdenken und reden«, fauchte sie. »Claudia, du kommst mit mir. Mein Sohn, lobe die Germanen. Sag ihnen, daß du jeden einzelnen von ihnen küßt und umarmst, versprich ihnen frisches Fleisch und große Becher Wein. Befiehl Burrus, die Gefangenen in das Beratungszimmer zu bringen.«
Kurz darauf warteten Helena, die auf einem Hocker neben ihrem Sohn saß, und Claudia, die neben ihr hockte, auf die Ankunft von Burrus und seinen Gefangenen. Rufinus, Chrysis und Sylvester waren ebenfalls in das prächtige Beratungszimmer eingeladen worden. Die Wände unter der Gewölbedecke, deren mit Sternen bemalter Verputz sich im Glanz des Fußbodens aus reinem Marmor spiegelte, waren mit Szenen aus der römischen Geschichte geschmückt. Die Fenster hatten keine Läden, und weil das Heizungssystem, das Hypokaustum, den Sommer über versiegelt war, wurde der Raum von Gefäßen mit glühender Holzkohle erwärmt und von zahlreichen Lampen erhellt, um die sich ein Sklave kümmerte. Gaius und seine Offiziere standen an der Tür Wache. Sie traten beiseite, als Burrus mit seinen Gefangenen hereinkam. Die Barbaren mit ihren verfilzten Haaren und Bärten, den noch immer blutbespritzten Gesichtern, Armen und Waffen wirkten wild und finster. Sie zerrten drei Gefangene hinter sich her, junge, verwundete und schmutzige Männer, die bis auf ihre Lendentücher nackt und deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Sie wurden gezwungen, niederzuknien und ihren Namen und Rang zu nennen. Einer war ein einfacher
Soldat, die beiden anderen waren Offiziere, Dekurionen von den Garnisonen in Athen. Helena fauchte Burrus an, er solle seinen Bericht abliefern, und ermahnte ihn, nicht zu prahlen. Der Germane gehorchte und beschrieb, daß die Angreifer den Fehler begangen hatten, dem Pfad zu folgen. Sie hatten die Nachzügler umgebracht und die Angriffslinie aufgerollt wie eine Schnur, bis sie schließlich zur großen Attacke ansetzten, den Feind umringten und ein blutiges Gemetzel veranstalteten. Einige der Angreifer waren zur Küste geflohen, wo die Galeere von einer Reihe von Bogenschützen bewacht wurde. Burrus hatte seine Männer nicht gefährden wollen, sich zurückgezogen und von den sandigen Hügeln aus beobachtet, wie die Galeere mit ihrer Mannschaft wieder aufs Meer hinaus glitt. »War sie denn am Ufer?« fragte Konstantin. »Nein, Eure Exzellenz«, antwortete Burrus und schüttelte den Kopf. »Sie hatten sie bereits wieder ins Wasser gezogen. Ein Angriff wäre zu gefährlich gewesen.« Helena befragte die Gefangenen, doch sie konnten ihr nur sehr wenig sagen. Sie berichteten, daß die Galeere aus ihrer Flotte ausgeschert war und vor der italienischen Küste auf der Lauer gelegen hatte, bis der Kapitän das Schiff ans Ufer gesetzt hatte. Sie hatten nur erfahren, was sie angreifen sollten, nicht mehr. »Tötet sie!« lallte Chrysis. »Bringt sie hinaus und kreuzigt sie.« Helena hob die Hand. Sie stand auf und kauerte sich vor die Gefangenen hin. »Seid ihr römische Bürger?« fragte sie. Die beiden Offiziere nickten, der Soldat jedoch war bloß ein Söldling.
Helena löste eine hauchdünne Silberbrosche von ihrem Gewand ab. Sie flüsterte ihrem Sohn etwas zu, der lächelte und zustimmend nickte. Sie reichte die Brosche Burrus. »Brich sie entzwei«, befahl sie. »Mach schon«, drängte sie, »tu, was ich dir gesagt habe.« Der Germane nahm die Brosche, zerbrach sie und gab die beiden Teile Helena zurück. Sie kauerte sich vor einem Offizier hin und legte eine Hälfte der Brosche auf den Boden vor ihm. »Ihr werdet nicht sterben«, sagte sie. »Ihr werdet euch waschen, bekommt neue Kleider, eine heiße Mahlzeit und weiches Stroh zum Schlafen. Morgen früh werden euch meine Söldner zum nächsten Hafen bringen. Ihr könnt euch aussuchen, mit welchem Schiff ihr zurück nach Korinth oder Piräus fahrt, aber nur unter einer Bedingung: Ihr erzählt Licinius, daß der Angriff fehlgeschlagen ist und daß ich den Verräter ausfindig machen werde. Ihr werdet ihm ein Geschenk bringen, diese halbe Brosche. Ihr werdet ihm sagen – und vergeßt das ja nicht –, daß mein Sohn bald kommen und sie zurückverlangen wird.«
KAPITEL 8 »Mögen die Götter dieses Omen abwenden.« Cicero, Philippica, 111,35
Am nächsten Morgen stand Claudia zeitig auf und begab sich sofort zum kleinen Archivzimmer zwischen dem Atrium und dem Peristylgarten. Während der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, die Blumenbeete und Pflastersteine waren naß, und der Himmel sah noch immer grau und trübe aus. Claudia schätzte, es war etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang. Die Sklaven begannen allmählich mit ihrem Tagwerk; sie säuberten die Gärten und räumten das Essen aus dem Triklinium ab. Die Villa hatte sich in ein bewaffnetes Lager verwandelt: Die Wachen waren verdoppelt worden, Soldaten patrouillierten durch die Kolonnadengänge, auf den Dächern und in den Obergeschossen der Gebäude hatten Bogenschützen Posten bezogen. Helenas Germanen hatten die ganze Nacht lautstark gefeiert, waren aber noch in der Lage, Kontrollgänge durch die Gärten zu machen. Sie hatten rund um die Tore Lager aufgeschlagen und überschütteten jetzt die regulären Soldaten mit ihrem Spott. Claudia konnte ihre Rufe und ihr Gelächter hören. Sie schlüpfte ins Archiv, schloß die Tür, nahm sich hastig eine Schreibtafel, Federkiele, bereitliegende Pergamentblätter, ein Tintenfaß, einen Bimsstein und einen Sandstreuer und verstaute das alles sorgsam in ihrer ledernen Schreibtasche. Danach ging sie in die Küche, wo sie sich einen kleinen Krug gewässertes Bier und einen Teller mit dem Brot vom Vortag, etwas harten Käse und reife Pflaumen nahm. Sie aß und kehrte dann gleich wieder zurück in ihre Kammer, versperrte die Tür,
machte eine Ecke frei, setzte sich mit gekreuzten Beinen hin, legte die Schreibtafel auf ihren Schoß und stellte das Tintenfaß auf den Boden. Nun schärfte sie einen Federkiel, tauchte seine Spitze in die Tinte und begann die Probleme, mit denen sie konfrontiert war, aufzuschreiben. Gladius sanctus – Das heilige Schwert Primo: Das Schwert hing an einer Kette über einem großen Sandkreis. Die Kette war nur mit einem langen Stab, einem Speer oder einem Schwert von der Mitte wegzuziehen. Dabei hätte man wahrscheinlich trotzdem in den Sandsteigen müssen und Abdrücke hinterlassen. Die Tür wurde von zwei Germanen bewacht, die Schlüssel hatten Timothaeus und Burrus. Secundo: Am fraglichen Tag betrat Timothaeus den Raum. Das Schwert war weg. Timothaeus fiel in Ohnmacht. Sonst war niemand da. Die Germanen hatten eine Riesenangst vor dem Ort, den sie als heilig betrachteten. Der Keller wurde von Gaius Tullius genau durchsucht. Er fand nichts, alles war wie immer, außer daß Timothaeus, als er in Ohnmacht fiel, den Sand aufgewühlt hatte. Der Haushofmeister wurde auf einer Trage hinausgeschafft; er hätte wohl kaum das Schwert verstecken können – das hätte jemand bemerkt. Auch wenn er eine Stange oder einen Haken mit hinuntergenommen hätte, wäre das aufgefallen. Das einzige, was er bei sich hatte, war eine Laterne, die nicht groß genug war, um etwas darin zu verbergen. Wäre das Schwert oder ein Gerät im Keller versteckt worden, hätte es Gaius Tullius bei seiner Durchsuchung entdeckt. Tertio: Die Tür zum Keller hatte zwei Schlösser, zu denen zwei Personen je einen Schlüssel hatten. Nach allem, was ich gesehen und gehört habe, weist nichts auf einen Trick hin. Quarto: Unter den Männern, die halfen, Timothaeus’ Bahre aus dem Keller zu tragen, befand sich Narcissus.
Claudia zog einen Strich und schrieb: Dionysius
Sie knabberte am Ende ihres Federkiels und starrte die Wand an. Der Tod des Philosophen war der Schlüssel zu so vielen mysteriösen Dingen; er und der Brand des Totenhauses. Sie tauchte ihren Federkiel in die Tinte und fuhr fort: Primo: Dionysius war in den Obstgarten gegangen, um nachzudenken, um allein zu sein. Oder war er hinbestellt worden? Er saß mit dem Rücken zum Baum, als er von einem Schlag auf den Kopf betäubt wurde. Dann wurde er offenbar geknebelt und gefesselt, unter die Bäume gezogen, wie eine Löwenhaut am Boden angepflockt und zahllose Male ins Fleisch geschnitten. Schließlich ließ ihn der Mörder verbluten. Secundo: Dionysius’ Leiche wurde ins Totenhaus gebracht, wo bereits die eines alten Bettlers lag. Wie es scheint, hat man die Stricke und den Knebel entfernt, aber nichts Ungewöhnliches bemerkt. Tertio: Am selben Tag wurde nach Einbruch der Dunkelheit das Totenhaus von einem heftigen Feuer zerstört. Hat der Mörder die Leiche verbrannt, um irgendeinen Fehler aus der Welt zu schaffen, einen Hinweis auf seine Identität? War dies das erste Signalfeuer, oder war beides der Fall? So ein Brand war leicht zu legen. Der Brandstifter brauchte nur eine Schnur anzuzünden, die zu einem Haufen ölgetränkter Felle führte, und dann in die Dunkelheit zu fliehen. Aber brennt Öl so stark, daß es ein solches Inferno anrichten kann? Claudia erinnerte sich daran, wie sie in den Überresten des Hauses herumgestochert hatte. Ihr war ein süßlicher Geruch
aufgefallen, doch sie hatte gemeint, der sei zufällig bei dem Brand entstanden. Wer war der Brandstifter? Gaius Tullius hatte sich in ihrer Nähe aufgehalten, aber nur die Götter wußten, wo sich alle anderen befunden hatten. Claudia hielt inne. Irgend etwas hatte sie bei dem Brand übersehen, etwas, das sie nicht einordnen konnte. Sie dachte an ihr Mißtrauen gegenüber Narcissus, seufzte und schrieb weiter. Quarto: Das Motiv für den Mord an Dionysius. War er die Folge der Zwistigkeiten zwischen den Athanasianern und den Arianern, oder war die Wurzel darin zu suchen, daß während Diokletians brutaler Christenverfolgung vor etwa zehn Jahren, die sich besonders auf Capua konzentrierte, viele Menschen zu Verrätern wurden? Jetzt führen die Redner anscheinend ein rechtschaffenes Leben, aber wie hat ihre Vergangenheit ausgesehen? Haben sie etwas zu verbergen? Haben sie Angst, von alten Verbrechen eingeholt zu werden? Oder war der Mord an Dionysius das Werk eines Menschen wie Chrysis, eines eingefleischten Heiden? Er würde diese öffentliche Debatte liebend gern in eine blutige Arena verwandeln, wo sich die Christen gegenseitig vor dem Kaiser in Stücke reißen und ihre Religion öffentlich in Verruf bringen könnten. Quinto: Warum wurde Dionysius auf so grausame Art getötet? Hätte man ein Messer nach ihm geworfen, ihn erwürgt, einen Pfeil auf ihn geschossen, ihm einen Becher mit Gift verabreicht, wäre das Ergebnis dasselbe gewesen. Was beabsichtigte der Mörder? Wählte er diese Methode, um ihm so viele Schmerzen wie möglich zuzufügen? Was war der Grund für eine derartige Brutalität? Sexto: Und schließlich: Besteht eine Verbindung zwischen dem Diebstahl des Schwerts und Dionysius’ Tod?
Claudia nahm einen neuen Federkiel, zog einen Strich und schrieb weiter: Der Verräter Primo: Der Angriff auf die Villa gestern nacht erfolgte von einer Galeere aus, die vom Meer ans Ufer kam und einen Trupp von Mördern an Land brachte. Eine Reihe von Signalfeuern, die hier in der Villa ihren Anfang nahm, war das vereinbarte Zeichen für die Galeere, was bedeutet, daß der Angriff geplant war, daß Licinius genaue Informationen bekommen hatte, wann der Kaiser und seine Mutter wo sein würden, doch das wußte jeder. Es ist allgemein bekannt, daß Konstantin die Villa Pulchra liebt. Er hat seine Absicht, hierherzukommen, öffentlich verlautbart. Die Galeere muß vor der Küste gelegen und auf das Zeichen gewartet haben, daß der Kaiser tatsächlich eingetroffen sei. Secundo: Sind Dionysius’ Mörder und der Verräter dieselbe Person? Wurde das Schwert gestohlen, um es Licinius zu übergeben, so daß dieser damit die Mutter des Kaisers lächerlich machen kann? Hatte der Brandstifter schon immer vor, das Totenhaus als Signalfeuer anzuzünden? Claudia schloß die Augen. Logisch betrachtet, mußte es eine Verbindung geben, dachte sie, aber wo war der Beweis dafür? Tertio: Geschah der Angriff im Auftrag von Licinius, dem Kaiser des Ostreichs? Wahrscheinlich, doch wie Chrysis bei der Abendgesellschaft anschaulich bewiesen hat, gibt es am Hof viele, die einen casus belli suchen, einen Grund dafür, in den Krieg zu ziehen und Konstantin zum Imperator orbis zu machen, zum Herrscher über die ganze Welt.
Claudia legte den Federkiel hin, lehnte sich zurück und streckte ihre verkrampften Beine. Sie dachte an die hitzige Diskussion, die sich im Beratungszimmer entspann, nachdem man die Gefangenen weggebracht hatte. Konstantin war wütend gewesen, weil seine Mutter die volle Verantwortung für die Verteidigung der Villa übernommen hatte. Seine Offiziere hatten ihn unterstützt, und sogar Rufinus hatte beifällig genickt. Helena war jedoch ruhig und gefaßt geblieben und hatte dargelegt, daß der Angriff per definitionem geheim gewesen war und von einer bescheidenen Gruppe durchgeführt wurde, die geschlagen werden konnte, wenn man sie überraschte. Die Angreifer hätten durch bewaldetes Gebiet gehen müssen, und das in finsterster Nacht. Solche Bedingungen waren für ihre Germanen ideal. Und schließlich, und in diesem Punkt blieb Helena hart, gab es in der Villa einen Verräter. Wären die Angreifer gewarnt worden, hätten sie sich zurückgezogen und auf eine andere Gelegenheit gewartet. Doch sie hatte den Angriff vereitelt und Licinius eine eindringliche Antwort geschickt. Das hatte heftige Diskussionen ausgelöst, aus denen Helena jedoch als Siegerin hervorgegangen war. Dann hatte Konstantin eine Frage gestellt, die auch Claudia Sorgen machte. Wenn das Totenhaus von dem Verräter in Brand gesteckt worden war, wer hatte die anderen Signalfeuer entzündet, wer war in jener Nacht nicht in der Villa gewesen? Gaius Tullius ging, um das herauszufinden, und kam kurz darauf zurück, während Helena noch immer mit ihrem Sohn stritt. Er berichtete, daß niemand die Villa verlassen hatte, obwohl er das nicht mit Sicherheit sagen konnte, weil die meisten, die außerhalb der Villa Wache gestanden hatten, bei dem Angriff umgekommen waren. Claudias Federkiel glitt über das Pergament. Sie streute Sand darauf und nahm ein neues Blatt. Jetzt hörte sie vor ihrem
Zimmer Stimmen; die Villa erwachte. Sie stand auf und streckte sich, hockte sich dann wieder in die Ecke und setzte sich bequem hin. Schließlich nahm sie die Schreibtafel und schrieb die letzte Überschrift. Spicerius, Murranus, Meleager Primo: Die Leute rätseln herum, wieso Murranus seinen geschwächten Gegner nicht getötet hat, doch so ist Murranus, das ist seine Art zu kämpfen. Spicerius sollte vergiftet werden, aber das Gift war nicht stark genug. War der Wein vergiftet? Oder wählte man irgendeine andere Methode? Wollte man Spicerius schwächen, damit ihn Murranus leicht umbringen konnte? War das ein persönlicher Racheakt an Spicerius oder sogar an Murranus? Oder hatte es mit den hohen Wetten zu tun? Doch warum sollte man auf Murranus setzen, wenn er nicht gewann? Claudia biß sich auf die Lippen. In ein paar Tagen würde Murranus gegen Spicerius kämpfen und, wenn er siegte, danach gegen Meleager. Sie schrieb diesen schicksalhaften Namen auf und unterstrich ihn immer wieder. Sie spürte jedoch keinen Zorn in sich aufsteigen, sondern kalte Berechnung. Sie kam sich vor wie ein Schwertkämpfer, der seinen Gegner studiert, nach seinen Schwächen Ausschau hält und überlegt, wo er zuschlagen solle. Sie warf den Federkiel zu Boden, um sich abzulenken, und versuchte noch einmal zu lesen, was sie geschrieben hatte, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder zu jener schrecklichen Begegnung zurück. Hatte Meleager sie erkannt? Rufinus hatte gesagt, er sei schon seit einiger Zeit in der Villa. War er der Mann, der sie überfallen hatte? Stammte diese grobe Zeichnung an der Wand von ihm?
Plötzlich rang Claudia nach Luft; es war, als laste ein schweres Gewicht auf ihrer Brust. Sie stand auf, rollte die Pergamentstücke zusammen und steckte sie in die viereckige Ledertasche an ihrem Gürtel. Dann verließ sie ihr Zimmer und trat auf den Gang, passierte einen Wachposten und blieb stehen. Sie dachte an die Öllampe, die man in ihr Zimmer geworfen hatte. Wer hatte Zutritt zu den kaiserlichen Gemächern? Ein Sklave eilte mit zwei Wasserkrügen vorbei – solche Personen wurden bedenkenlos eingelassen. Hatte sich derjenige, der sie angriff, so getarnt? Hatte er sich als Dienstbote oder Sklave ausgegeben? Sie ging weiter und kam schließlich in den Peristylgarten. Die Sonne ging auf, trocknete das Pflaster und überflutete den schönen Garten mit Licht, das im Teich schimmerte und von den marmornen Säulen widergespiegelt wurde. Die Blumenbeete erwachten in überwältigenden Farben zum Leben, aus den Sträuchern und dem Unterholz rund um den Garten ertönte das Lied der Vögel. Claudia entdeckte eine trockene Stelle, setzte sich mit dem Gesicht zur Sonne hin und genoß mit halbgeschlossenen Augen die Schönheit. »Guten Morgen, Claudia.« Sie erschrak. Athanasius setzte sich mit verschlafenem Gesicht neben sie. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Ich bin früh aufgestanden. Diese Aufregung gestern nacht! Was war denn los?« Claudia berichtete ihm von dem Angriff, ließ sich aber über die Einzelheiten nur ganz vage aus. Athanasius zog sein Gewand über die Schultern und hörte ihr mit einem leisen Lächeln zu; er merkte, daß sie ihm nicht viel verraten wollte. »Ich suche Septimus«, sagte er, als sie verstummte. »Ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen und bin ein wenig beunruhigt. Wo kann er nur sein?« Claudia schwieg; eigentlich wäre sie lieber allein gewesen.
»Nun, manchmal spaziert er davon.« Athanasius versetzte ihr spielerisch einen kleinen Stoß. »Er ist auch gern allein. Was für ein schöner Ort. Hier hat ja das Streitgespräch stattgefunden, und danach hast du mit dem Sklaven geredet.« Claudia schwieg. »Du weißt, wen ich meine.« Athanasius sprach mit ausdrucksloser Stimme. »Er ist für das Totenhaus zuständig. Gestern bei der Abendgesellschaft habe ich versucht, mich mit Justin anzufreunden. Gerechterweise muß ich sagen, daß er das ebenfalls tat. Er hat etwas sehr Seltsames über diesen Sklaven gesagt…« »Über Narcissus?« »Ah ja, Narcissus. Justin glaubt, ihn schon früher gesehen zu haben, in Capua, als Sklaven einer großen christlichen Familie. Der Hausherr war Leichenbestatter. Justin war sicher, daß Narcissus für ihn gearbeitet hat.« Claudia bemühte sich, ein Schaudern zu unterdrücken. »Und noch etwas. An dem Nachmittag, an dem Dionysius starb…« »Ermordet wurde«, versetzte Claudia. »Dionysius wurde ermordet.« »Ach ja, stimmt. Also, da ging ich hinunter zum Totenhaus. Die Fensterläden auf beiden Seiten waren zu, und die Tür war von innen verschlossen. Die christliche Lehre besagt, daß es tugendhaft und recht ist, für die Toten zu beten. Ich wollte neben Dionysius’ Leiche niederknien und ein paar Gebete sprechen. Es überraschte mich, daß die Tür zu war, also klopfte ich, bis mir die Knöchel weh taten. Schließlich wurde die Tür geöffnet, und Narcissus stand vor mir. Er wirkte schuldbewußt und behauptete, eingeschlafen zu sein. Ich sagte ihm, er solle beiseite treten, und ging hinein. Ich sah mich um, aber es war alles in Ordnung. Der alte Mann war in Sackleinen gewickelt, Dionysius lag auf der Totenbank wie ein Stück
Fleisch. Aber irgend etwas in diesem Raum… Ich war in Ägypten, Claudia, ich habe die Totenstadt am Westufer des Nils und die Geschäfte der Einbalsamierer besucht; genauso hat es dort gerochen.« »Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?« Athanasius schloß die Augen. »Eine große Truhe im hinteren Teil des Raumes, sonst nichts. Ich habe gebetet und bin dann wieder gegangen.« »Hast du irgend etwas Ungewöhnliches gesehen? Bitte, Athanasius, denke nach.« »Nur die Leichen. Dionysius machte einen schrecklichen Eindruck, sein Mund stand offen, die Augen waren halb geschlossen. Er sah aus, als wäre er in Blut getaucht worden. Etwas fiel mir schon auf: Die Stricke, mit denen ihn der Mörder festgebunden hatte, und der Knebel lagen direkt unter der Totenbank auf dem Boden. Als Justin sich gestern abend bemühte, freundlich zu sein, erzählte ich ihm, daß ich im Totenhaus gewesen war, um dem Ermordeten die letzte Ehre zu erweisen, und daß der Brand nichts mit mir zu tun hatte. Justin glaubte mir das nicht, sagte aber, er sei ebenfalls hingegangen, um dort zu beten. Das Haus sei von außen verschlossen gewesen und der Sklave Narcissus hätte mit einem Bierkrug unter einem Bergahorn gelegen und geschlafen. Als Justin die Leiche ebenfalls sehen wollte, hatte sich Narcissus nicht allzu erfreut darüber gezeigt.« Athanasius stand auf. »Erinnerst du dich an die Gedichte von Juvenal?« Er lächelte auf Claudia hinunter. »Er hat einmal eine Frage gestellt: Doch wer wacht über die Wächter selber?« »Und?« fragte Claudia. »In deinem Fall, Kleine«, sagte Athanasius und beugte sich hinab, »mußt du die Frage stellen: Wer spioniert hinter den Spionen her?«
Der Philosoph ging. »Claudia?« Schnell wandte sie sich um. Am Eingang zum Peristylgarten standen Burrus und Gaius Tullius. Der Germane hatte seinen zotteligen Fellumhang umgelegt, Gaius war mit einem ledernen Brustharnisch, einem Schwertgürtel und Marschstiefeln bekleidet. Unter dem Arm trug er einen Helm mit dem scharlachrot-schwarzen kaiserlichen Federbusch. Er winkte ihr. »Claudia, die Augusta hat mich gebeten, dich zu suchen.« Sie erhob sich und ging zu ihm. »Wir sollen den Pfad zur Küste hinunter inspizieren. Die Augusta hat sich sehr klar ausgedrückt. Du sollst uns begleiten. Sie sagt, du hast scharfe Augen und siehst vielleicht etwas, das uns entgeht.« »In einem Wald aber nicht«, brummelte Burrus. Der Hauptmann ignorierte die Bemerkung des Germanen. »Willst du deinen Umhang holen?« fragte er. »Doch bevor wir gehen, möchte ich dir etwas zeigen.« Damit drehte sich Gaius Tullius um und marschierte davon, so daß Claudia und Burrus keine andere Wahl hatten, als ihm zu folgen. Sie gingen um die Villa herum zu den Trümmern des Totenhauses. Dort blieb Gaius jedoch nicht stehen, sondern er lief weiter zu einer Gruppe von Bergahornbäumen, einem eher verwilderten, ungepflegten Teil des Gartens, wo wilde Brombeeren und Stechginster die Mauer überwucherten. Er kämpfte sich hindurch; Burrus, der hinter ihm ging, hielt Claudia den Weg frei. Einmal blieb Claudia stehen und kauerte sich hin, um sich ein paar Knochen anzusehen, Lamm- und Rindsknochen, an denen noch ein paar vertrocknete Fleischfetzen hingen. Daneben lagen eine zusammengeknüllte schmutzige Serviette und unter einem Dornenbusch ein irdener Weinkrug.
»Hier hat jemand gefeiert.« Gaius kam zurück und trat neben sie. »Die Dienstboten stehlen sich immer davon, um das Essen, das sie stibitzt haben, zu verzehren, aber das ist jetzt nicht wichtig. Komm weiter…« Sie gelangten an eine kleine Lichtung direkt vor der Mauer. Gaius deutete auf einen verstärkten syrischen Bogen, einen leeren Köcher und daneben einen irdenen, vom Feuer innen und außen geschwärzten Topf, die auf dem Boden lagen. »Das habe ich heute morgen entdeckt«, erklärte er, »oder besser gesagt, meine Männer und ich. Wir beschlossen, den Boden nach verdächtigen Dingen abzusuchen. Es wäre ja möglich, daß sich einer der Angreifer durchschlagen konnte und vielleicht hier versteckt.« Claudia hob den Bogen auf. Das Holz und die Sehne waren naß und ebenso der Köcher und der irdene Topf, der noch immer nach Pech und Feuer roch. »Die müssen schon einige Zeit hier liegen«, murmelte sie. »Was meinst du, Gaius?« Dem glattrasierten Gesicht des Hauptmannes war noch die Spannung der vergangenen Nacht anzusehen, seine Augen waren vor Schlafmangel gerötet. »Ich wünschte, die Augusta hätte uns vertraut«, antwortete er, als spräche er mit sich selbst. »Ich meine, nimm es mir nicht übel, Burrus.« Er holte tief Luft. »Wahrscheinlich will ich mir nur selbst etwas beweisen. Ich nehme an, daß der Bogen, der Köcher und der Topf von dem Verräter stammen. Das brennende Totenhaus diente nicht als Signalfeuer, doch in der Nacht, als das Haus brannte, nutzte der Verräter die Verwirrung, um Brandpfeile in die Luft zu schießen.« Claudia kauerte sich hin, betrachtete den Bogen und die Wand und blickte dann zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Was Gaius sagte, klang vernünftig,
beantwortete aber noch immer nicht die Frage, wer die Signalfeuer entzündet hatte. »Burrus!« Sie winkte den Söldner zu sich. »Wir werden nicht durch den Wald gehen. Nein, Gaius«, sagte sie und hielt die Hand hoch. »Ich werde es der Augusta erklären. Burrus, ich möchte, daß du deine besten Männer in den Wald schickst. Sie sollen sich von den Stellen, an denen die Schlacht stattfand, fernhalten. Sag ihnen, sie sollen das Gebiet links von dem Pfad, der von der Villa wegführt, durchkämmen.« »Wonach sollen sie suchen?« fragte Burrus. »Nach Hinweisen auf Lager – vielleicht haben zwei oder drei Männer im Wald gelebt. Sie müssen ein Lagerfeuer hinterlassen, eine kleine Latrinengrube ausgehoben haben. Wahrscheinlich waren es Soldaten, vielleicht sogar umherziehende Kesselflicker oder Straßenhändler. Wenn sie ein Lager errichtet haben, dann vor gar nicht langer Zeit.« Burrus nickte und eilte davon. »Und ich?« sagte Gaius grinsend. »Hast du auch für mich Befehle?« »Ja, Hauptmann, die habe ich tatsächlich.« Sie verstummte, als sie die Stimme von Athanasius hörte. »Septimus? Septimus?« »Er sucht schon die ganze Zeit nach ihm.« Gaius stöhnte. »Wie ich die Philosophen kenne, schläft Septimus wahrscheinlich irgendwo seinen Rausch aus.« »Ich möchte, daß du Timothaeus holst«, erklärte Claudia. »Ich will mich mit ihm über den Mann unterhalten, der durch den Wald gewandert ist.« »Über den alten Mann, der tot auf dem Pfad außerhalb der Villa gefunden wurde?« »Ja«, antwortete Claudia. Gaius machte sich auf den Weg, und Claudia befaßte sich wieder mit dem Bogen, dem Köcher und dem kleinen Topf, in
dem Feuer transportiert worden war. Sie war jetzt wirklich verwirrt und wußte nicht, warum Narcissus hätte lügen sollen. Er hatte ihr erzählt, er habe das Totenhaus verlassen, sich den Bauch vollgeschlagen, zuviel getrunken und sich dann in einiger Entfernung hingelegt, um ein Verdauungsschläfchen zu halten. Jetzt glaubte sie, daß er gelogen hatte, und fragte sich, warum. Aber, dachte sie grimmig, sie hatte ja schon eine ganze Reihe von Fragen an ihren neuen Freund. Kurz darauf kam Gaius zurück; Timothaeus hastete neben ihm her. Der Haushofmeister sah aus, als gehe es ihm gar nicht gut, er wirkte ungepflegt, sein Gesicht war unrasiert und seine Tunika schmutzig. »Setz dich ins Gras.« »Es ist naß«, erklärte Timothaeus. »Hast du denn vergessen, Claudia, daß es gestern nacht geregnet hat?« Sie zuckte die Achseln, ließ sich auf einer Marmorbank nieder und lud Gaius ein, sich zu ihnen zu gesellen. »Dieser Mann, der im Wald herumgewandert ist«, begann sie. »Der Alte, der kurz vor der Ankunft des Kaisers nahe der Villa tot aufgefunden wurde.« »Richtig«. Der Haushofmeister nickte und blinzelte müde. »Erinnerst du dich nicht, Gaius, ich bin seinetwegen zu dir gekommen. Der Alte war eine Plage.« Timothaeus wandte sich wieder Claudia zu. »Er ist im Wald umhergewandert und kam oft zur Villa und bettelte um Essensreste. Die Bauern in dieser Gegend kannten ihn gut, leider gibt es ja nicht mehr viele hier«, fügte er traurig hinzu. »Ich habe gehört, daß die Männer, die uns angriffen, jeden, der nicht fliehen konnte, niedergemetzelt haben. Wir sollten diese Gefangenen kreuzigen.« Er fuhr sich mit den Fingern an die Lippen. »Kreuzigen!« murmelte er. »Ich bin Christ, ich hätte das nicht sagen sollen, oder?«
»Erzähl mir von dem alten Mann aus dem Wald«, wiederholte Claudia. »Eine der Wachen hat ihn auf dem Pfad gefunden.« Timothaeus deutete auf seine linke Gesichtshälfte. »Er hatte hier überall blaue Flecken. Manchmal war er betrunken. Ich dachte, er wäre gestürzt oder hätte einen Anfall gehabt. War es nicht so, Gaius?« Der Hauptmann pflichtete ihm bei. »Normalerweise«, sagte er gedehnt, »hätten wir so eine Leiche ins Unterholz geworfen, aber er tat mir leid. Die Villa hat direkt hinter der Ostmauer einen Begräbnisplatz. Ich ließ die Leiche ins Totenhaus bringen und in ein Leichentuch wickeln. Unser Timothaeus«, fügte er sardonisch hinzu, »der ja Christ ist, behauptete, es sei eine fromme Tat, die Toten zu begraben, ein Gebet zu sprechen und über dem Grab ein Trankopfer darzubringen.« »Bist du Christ?« fragte Claudia Gaius, »oder jemand aus deiner Familie?« »Sieh dir meine Unterlagen an, Claudia. Ich habe nicht an der Verfolgung teilgenommen, aber die Mitglieder meiner Familie sind keine Freunde der Christen. Dennoch«, sagte Gaius und klopfte Timothaeus auf die Schulter, »mag ich einige von ihnen. Timothaeus ist ein netter Kerl. Jedenfalls berichtete mein Mann, was er gefunden hatte, und Timothaeus bat mich um Hilfe. Ich ließ den Wanderer hineinbringen; sein Körper war schmutzig, der Kopf ganz blutig.« »Könnte er ermordet worden sein?« fragte Claudia. Gaius schnitt eine Grimasse. »Vielleicht. Aber wer sollte einen alten Mann umbringen wollen? Ich erinnere mich nur, daß er stank wie eine Kloake. Der Kaiser traf am frühen Nachmittag ein, kurz nachdem wir die Leiche entdeckt hatten.« Gaius wiegte nachdenklich den Kopf. »Sie wurde ins Totenhaus gebracht, und dann ging es los: Dionysius wurde ermordet aufgefunden.«
»Timothaeus, du hast gesagt…« Claudia verstummte. Sie wollte sich so präzise wie möglich ausdrücken. »Du hast gemeint, der Mann, der im Wald umherwanderte, sei eine Plage gewesen?« »Nun, zumindest die letzten paar Tage vor seinem Tod. Claudia, ich weiß nicht, ob er gestürzt ist oder überfallen wurde. Ich ließ seine Leiche hineinschaffen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Der Alte hatte immer wieder ans Tor geklopft und gesagt, er wolle den Kaiser sprechen. Ich hatte ihm geantwortet, er solle verschwinden.« Timothaeus blickte sie traurig an. »Vielleicht hätte ich freundlicher sein sollen? Wir haben uns seine Leiche nicht sehr genau angesehen, nicht wahr, Gaius? Die Soldaten haben sie einfach in ein Leichentuch gewickelt, bloß ein Stück Sackleinen, sie auf eine Bahre gelegt und ins Totenhaus getragen.« »Gibt es sonst noch etwas?« fragte Gaius. Claudia starrte zum Totenhaus hin. »Was für Leute wurden dorthin gebracht?« »Gelegentlich«, antwortete Timothaeus, »starb ein Gast. Wenn er Familie hatte, bahrten wir den Leichnam dort auf, bis seine Freunde und Verwandten kamen, um ihn abzuholen. Ansonsten«, fuhr er fort und rieb sich die Augen, »waren es gewöhnlich Dienstboten und Haussklaven. Sie wurden ins Totenhaus gebracht und dann begraben oder verbrannt.« Er stand auf. »Also, Claudia, ich habe Pflichten und Gaius ebenfalls.« Sie gingen beide davon. Claudia erhob sich und spazierte zu dem Bergahornbaum, unter dem der Kaiser in der Brandnacht gesessen war. Sie wollte die Überreste des Mahls untersuchen, die auf der harten Erde verstreut lagen. Außerdem stellte sie fest, daß die Erde an manchen Stellen aufgegraben worden, jetzt aber wieder hart war. »Claudia!«
Sie stand auf, wischte sich den Staub von den Kleidern und blickte um einen Busch herum, wo Narcissus auf und ab ging und mit den Armen fuchtelte. »Claudia!« »Du kommst mir gerade recht!« flüsterte sie. Sie trat hinter dem Busch hervor, ging auf Zehenspitzen zu Narcissus hin und schlug ihm fest auf die Schulter. Er wirbelte herum. »Ich habe dich gesucht, Claudia.« »Und ich habe dich gesucht!« antwortete sie lächelnd. »Komm, setz dich und unterhalte dich ein wenig mit mir!« Sie tätschelte seinen Arm. »Ich dachte, ich sei eine gute Schauspielerin, aber du, Narcissus, bist mindestens ebenso gut.« »Was meinst du?« stotterte er. »Claudia, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, mich aufzuziehen. Ich möchte wissen, wo ich in Zukunft leben werde. Wie lange bleibst du noch in der Villa?« »Mach dir darüber keine Sorgen.« Claudia deutete auf die Bank. »Ich möchte mit dir über den Mann reden, der im Wald umhergewandert ist. Nein, Narcissus, fang jetzt nicht an, zu zittern oder zu weinen. Du hast den alten Mann gekannt?« »Natürlich«, murmelte er und wich ihrem Blick aus. »Jeder kannte ihn. Aber ich habe Angst. Claudia, was ist gestern nacht passiert?« »Du weißt, was passiert ist, Narcissus: Die Villa wurde angegriffen. Die Signalfeuer – du hast sie doch gesehen, nicht wahr?« Sie merkte, wie sich sein Gesicht rötete. »Dieser Wanderer aus dem Wald – glaubst du, er wurde ermordet?« Sie packte sein Handgelenk und grub ihre Fingernägel hinein. »Lüg mich nicht an, Narcissus. Du hast seine Leiche untersucht, wie du alle Leichen untersuchst, die ins Totenhaus gebracht werden. Manche von ihnen wagst du nicht
anzurühren, aber bei anderen übst du deine Balsamierkünste aus, nicht wahr?« Narcissus weigerte sich zu antworten. »Weißt du, was?« fuhr Claudia unbekümmert fort. »Ich glaube, du hast mich über viele Dinge belogen.« »Ich…« »Ach, fang jetzt nicht an zu schauspielern. Du bist ein Einbalsamierer aus Syrien, in eine Revolte geraten und dann als Sklave verkauft worden. Ja?« Narcissus nickte. »Du wurdest nach Italien gebracht und…« »Ich kam hierher.« Claudia gab ihm eine Ohrfeige. »Wenn du lügst, schlage ich dich wieder. Ich hatte dich gern, Narcissus, aber ich weiß nicht wirklich, wer du bist. Du bist schon seit einiger Zeit in dieser Villa, nicht wahr? Du kennst Leute wie Timothaeus. Du kennst auch mich, und du verdankst mir sehr viel, also sag mir die Wahrheit.« »Nach meiner Ankunft in Italien«, begann Narcissus langsam, »wurde ich in Tarentum zum Kauf angeboten.« »Capua«, unterbrach ihn Claudia. »Vergiß Capua nicht, Narcissus.« »Nun ja«, fuhr er hastig fort. »Ich wurde an einen Bauern verkauft, der mich für mehr oder weniger nutzlos hielt, also landete ich auf dem Sklavenmarkt, wo ich von einer christlichen Familie gekauft wurde.« »Aha«, meinte Claudia lächelnd, »und du bist Christ, nicht wahr, Narcissus? Ich bin sicher, du bist zum Christentum übergetreten.« Sie tätschelte seinen Arm. »Du hast einen Fehler gemacht. Du hast laut überlegt, ob die Arianer andere Begräbnisriten hätten als die anderen Christen. Seltsam, dachte ich, wieso weiß ein heidnischer Sklave, ein Mann, der immer nur mit den Begräbnisriten Ägyptens zu tun hatte, so viel über
die Athanasianer und die Arianer?« Sie sah ihn mit großen Augen an. »Vielleicht hast du noch andere Fehler begangen.« Claudia war zufrieden; sie wollte Narcissus noch nicht alles an den Kopf werfen, was sie wußte, aber ihre Bemerkung hatte ihm angst gemacht. »Was wolltest du sagen?« drängte sie ihn. »Mein neuer Herr war Bestattungsunternehmer. Er war angenehm, hatte eine große Familie, Mädchen und Jungen. Sie lebten in einer Villa am Stadtrand, ein schönes Haus, Herrin, mit Gärten und Obstgärten, Olivenhainen und einem Weingarten. Er kelterte selber Wein, der sehr gut schmeckte. Ich war so glücklich. Was mein Herr wollte, das wollte ich auch. Ich nahm ihren Gott, Christus, an. Ich glaubte an alles, woran mein Herr glaubte. Er hat mich oft als Boten benutzt, er hat mir vertraut. Er bewunderte mein Geschick beim Einbalsamieren. Er hat immer gelacht, mir auf die Schulter geklopft und gemeint, ich könne auch die abstoßendsten Leichen so herrichten, daß man sie küssen wollte. Am Sonntag trafen sich die Christen in seiner Villa. Ihre Priester, denen die Hand aufgelegt wurde, wie sie es nennen, kamen, um das Abendmahl zu feiern, die Eucharistie, die sie das Fest der Liebe nennen: sie brachen das Brot und tranken Wein. Sie glauben, es ist der Leib und das Blut Christi. Mein Herr war sehr wohlhabend. Er war der Gönner der Rhetorikschule der Stadt; zum Abendmahl lud er gern Redner in seine Villa ein. Wenn die Feier vorbei war, nahmen wir das Essen unter den Sternen ein, die Luft duftete süß nach Hyazinthen. Die Redner unterhielten uns mit Diskussionen über irgendwelche Themen. Manchmal nahm mein Herr den gesamten Haushalt mit in die Schule, wo wir den Rednern lauschten.« Narcissus schlug die Hände vors Gesicht. »Eine idyllische Zeit! Vergil hätte sie in seinen Gedichten besungen.« »Und?« fragte Claudia.
»Oh, dort habe ich sie alle kennengelernt. Die Rednerschule von Capua war berühmt; selbst Chrysis war dort, um seine Redekunst und seine Auftritte in der Öffentlichkeit zu verbessern. Er hielt sich für einen neuen Cicero. Er zitierte so gerne aus Pro Milone oder Contra Catilinam und aus anderen Reden des großen Mannes. Ich weiß nicht genau«, sagte Narcissus und verdrehte die Augen, »aber ich glaube, Chrysis mußte die Schule verlassen; es gab irgendeinen Skandal wegen unbezahlter Gebühren.« »Und Gaius Tullius?« Narcissus schüttelte den Kopf. »Ich habe mit ihm geredet. Er hat die meiste Zeit in Gallien oder Britannien verbracht. Er ist durch und durch Heide und versteht nicht, was die ganze Aufregung soll. Ihn habe ich erst hier kennengelernt.« »Und der Haushofmeister, Timothaeus?« »Der war nie in Capua, aber ich habe gehört, er hatte einen Bruder dort.« »Was ist mit ihm passiert?« »Der ist während der Verfolgungen verschwunden. Timothaeus weiß nicht, ob er geflohen ist, verhaftet oder getötet wurde.« Narcissus zuckte die Achseln. »Niemand weiß das! Die anderen Redner waren alle dort, Athanasius, Dionysius und so weiter. Damals waren sie noch jung und lernten, in der Öffentlichkeit zu sprechen, sie lernten, mit einem Kieselstein im Mund eine Rede zu halten und ohne Unterlagen zu rezitieren. Rückblickend waren sie alle aufgeblasen wie die Pfauen. Justin hielt sich für den neuen Demosthenes.« »Du bist ein gebildeter Mann, Narcissus, du kennst alle Namen.« »Mein Herr war ein großer Gelehrter. Er hat mich unterrichtet, er ließ mich in seiner Bibliothek lesen.« »Und dann war das alles aus?«
»Ja, es war alles aus«, antwortete Narcissus müde. »Ich habe diese Familie geliebt, Herrin. Mein Herr hat mir die Freiheit versprochen, er wollte mich als Geschäftspartner haben. Wir hätten die Leichenbestatter in dieser Stadt in die Tasche stecken können. Du hättest seine Lagerhäuser sehen sollen. Er hatte die besten Begräbnisutensilien: Masken, Fächer, Särge, sogar eine eigene Musikantengruppe. Mit Diokletian war das alles vorbei. Durch seinen Erlaß wurden die Christen einmal mehr geächtet, die Heilige Schrift und die christlichen Symbole verboten.« Narcissus begann leise zu schluchzen. Claudia sah, daß er die Hände zu Fäusten ballte und die Venen an seinen Armen wie gestraffte Seile hervortraten. Dieser Mann, dachte sie, könnte töten. Und Timothaeus? Er hatte in Capua einen Bruder gehabt, der offenbar verschwunden war. Chrysis? Der war etwas ganz anderes. Der war schon immer für seine Knauserigkeit bekannt gewesen, der wollte nie seine Schulden bezahlen. Der schluchzende Narcissus erinnerte Claudia an ein Kind; er vergoß seine Tränen eher aus Zorn als aus Kummer. »Die Familie meines Herrn«, fuhr er fort und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab, »wurde denunziert. Die Soldaten kamen mitten in der Nacht, fanden ein Exemplar der Heiligen Schrift, das Chi und das Rho und das Ichthys, das Zeichen des Fisches. Wie du weißt, stehen diese Zeichen für ›Jesus Christus, Sohn Gottes, Retter der Welt‹. Ich stand zitternd im Dunkeln, als die Soldaten meinem Meister dieses Symbol vor die Nase hielten und sagten, er solle ihm abschwören. Er weigerte sich und seine Familie auch. Sie wurden alle verhaftet, gefesselt und auf einen Wagen gestoßen. Mich haben sie ignoriert; ich war ja nur ein Sklave, ich existierte gar nicht. Wie einen Geist ließen sie mich in dem leeren Haus zurück. Ich blieb etwa vier Tage lang dort. Die Leute kamen und fragten, was passiert sei. Ich konnte es nicht
fassen! Ich sah es in ihren Augen: Ich war der Verräter, ich hatte meinen Herrn verraten. Also bin ich geflohen und habe mich auf dem Lande versteckt.« »Wie hast du überlebt?« »Ich wußte über die christliche Gemeinde Bescheid, kannte Namen und Orte. Als ich floh, um mein Leben zu retten, und mich versteckte, wurde ich als einer von ihnen aufgenommen, aber es war für mich sehr gefährlich. Die Christen konnten mich als Verräter brandmarken, die Behörden als entlaufenen Sklaven. Wurde ich gefaßt, stand mir vielleicht das Kreuz bevor, oder ich würde in der Arena irgendeinem großen Bären vorgeworfen. Einer der Bauern, bei denen ich Unterschlupf fand, erzählte mir, daß die Behörden eine Liste der Besitztümer meines Herrn angefertigt hatten. Ich stand auch darauf, aber als Fehlposten. Sie suchten mich.« Narcissus hielt die Hände hoch. »Herrin, ich schwöre, ich habe niemanden verraten, aber ich wußte, wenn sie mich erwischten, würden sie mich foltern. Ich hielt mich etwa« – er blies die Backen auf – »zwei, drei Jahre auf dem Land versteckt, danach wurde ich in den Norden geschleust und fand in den Katakomben Zuflucht. Ich habe die Gräber der Toten betreut. Die Jahre vergingen schnell. Dann bin ich dem Presbyter Sylvester aufgefallen und habe ihm meine ganze Geschichte gebeichtet.« »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Claudia mit einem schwachen Lächeln. »Und Sylvester hat veranlaßt, daß du hierherkamst?« »Ja, Herrin, wegen Konstantins Toleranzedikt. Unser neuer Kaiser drückte sich ganz klar aus: Entlaufene Sklaven mußten ihren Status anerkennen und sich den Behörden stellen. Sylvester erklärte mir, daß er nicht mehr für mich tun könne, als den Schlag zu mildern. Er würde dafür sorgen, daß ich eine gute Stelle bekäme, und wirklich, ich wurde Chrysis übergeben und hierhergebracht.«
»Also bist du noch gar nicht seit fünf Jahren hier«, meinte Claudia lächelnd. »Natürlich nicht.« Claudia betrachtete ihn aufmerksam. Sie glaubte, daß Narcissus die Wahrheit sagte, zumindest zum Teil. Jetzt verstand sie auch, warum die Augusta gegenüber diesem syrischen Einbalsamierer so großzügig gewesen war. Helena wußte alles und hatte gewiß von Narcissus’ früherem Leben erfahren. »Du bist ein Spion, nicht wahr?« fragte Claudia. »Das war eine von Sylvesters Bedingungen. Du gibst alles, was du erfährst, an Timothaeus oder jemanden wie mich weiter; das war der wahre Grund, weshalb du im Garten an mich herangetreten bist. Sylvester tut nichts ohne Gegenleistung, die stets eines zum Ziel hat: die Förderung der christlichen Gemeinde. Es ist von Vorteil, in der Villa Pulchra einen Spion zu haben.« »Es sind nur Informationen«, protestierte Narcissus. »Ich weiß, was ich in jener Nacht gesehen habe, ich meine, die Signalfeuer. Ich habe Sylvester einen Treueid geschworen, und ich habe ihn gehalten. Als ich damals so unter den Sternen saß, war mir nicht klar, wie wichtig meine Beobachtung war.« »Wer hat deinen Herrn verraten?« Claudia hatte bewußt das Thema gewechselt und sah, wie sich einen flüchtigen Moment lang Narcissus’ Blick änderte, hart und berechnend wurde. »Komm schon«, sagte sie, »du hast dich doch gewiß umgehört. Die Leute reden. Namen«, fauchte sie, »du hast doch sicher gehört, daß Namen genannt wurden.« »Dionysius, Septimus.« Jetzt war Narcissus ganz ernst. »Hast du Dionysius’ Leiche entehrt?« »Ich habe ihm ins Gesicht gespuckt.«
»Was hast du sonst noch getan, Narcissus? Hast du diesen alten Mann, der im Wald umherwanderte, untersucht?« »Ich…« Claudia hob drohend die Hand. »Er wurde ermordet, nicht wahr?« »Ich glaube, ja.« Narcissus schaute weg. »Ja, ich glaube schon. Er war ganz staubig und schmutzig und an einer Seite seines Kopfes blutig. Er hatte dickes, zotteliges Haar. Sein Schädel war eingeschlagen, aber das könnte ja auch ein Unfall gewesen sein.« »Du praktizierst deine Kunst noch immer, nicht wahr?« fragte Claudia. »Du bist Einbalsamierer und beherrschst die osirischen Riten, entnimmst den Leichen das Hirn und die Eingeweide. Das hast du auch bei dem Wanderer aus dem Wald gemacht, genau wie bei den Leichen von Sklaven.« »Das weiß niemand«, gestand Narcissus. »Ich hatte das Gefühl, ich müsse es tun, um ihnen auf ihrer Reise zu helfen und um meine Kunstfertigkeit nicht zu verlieren. Wem habe ich damit geschadet? Wen interessiert schon irgendein alter Sklave?« »Du vergräbst die Überreste im Wald, nicht wahr? Ich habe die Stellen gesehen. Aber was noch wichtiger ist, du hattest im Totenhaus eine Truhe mit Harzöl und anderen brennbaren Substanzen. Das war dein eigenes kleines Königreich, und deshalb hast du es auch nie allein gelassen. Du hast die Tür zugeschlossen und unter einem nahen Bergahorn geschlafen, wo du auch warst, als das Feuer ausbrach. Du dachtest, man würde dir die Schuld dafür geben, also bist du in die Nacht geflohen. Du hattest schreckliche Angst, daß sie entdecken würden, was du dort aufbewahrt und was du getan hast. Also, Narcissus, das alles ist Vergangenheit. Hast du in jener speziellen Nacht irgend etwas Verdächtiges gesehen?«
»Ich hatte Angst«, antwortete er flehend. »Diese Redner, die die Leiche besuchen wollten… Das hatte ich nicht erwartet. Ich holte mir einen Krug Bier und trank zuviel. Als ich aufwachte, war das Feuer…« Er sprang auf. »Ich habe Pflichten…« »Nein, Narcissus, hast du nicht. Du bist jetzt kein Sklave mehr, sondern ein freier Mann.« Sie packte ihn am Handgelenk. »Ich habe noch weitere Fragen an dich, aber die müssen im Augenblick warten. Lauf nicht davon.«
Claudia blieb in der Sonne sitzen und dachte über das nach, was Narcissus gesagt hatte. Langsam, aber sicher fügten sich die Teilchen zusammen. Plötzlich hörte sie das Klirren von Waffen und erschrak. Burrus und ein paar seiner Söldner kamen auf sie zu. Sie führten einen jungen Mann mit zerzaustem Haar und dunkler Tunika, die in der Taille mit einer Kordel zusammengehalten wurde, zu ihr. Burrus behandelte ihn freundlich; er hatte ihm seine große Pranke auf die Schulter gelegt, aber der junge Mann war trotzdem sichtlich verängstigt, und hätte der Germane seine Hand weggenommen, wäre er wohl davongeflitzt wie ein Hase. »Wir haben es gefunden!« Die Germanen umringten Claudia, und der junge Mann fiel vor ihr auf die Knie. »Was habt ihr gefunden?« fragte Claudia und blickte zu ihnen auf. »Spuren von Lagerfeuern; es müssen zwei oder drei Männer einige Zeit im Wald gelebt haben. Eine Wasserflasche, Essensreste und Kleider.« »Und wer ist das?« Der junge Mann kniete mit furchtsamem Blick vor ihr.
»Sprich.« Burrus schlug ihm auf die Schulter. »Erzähl der Herrin, was du gesehen hast.« Der junge Mann sprach einen Dialekt, den Claudia nur schwer verstand; sie mußte ihn bitten, langsamer zu reden und zu wiederholen, was er gesagt hatte. Er war jedoch noch immer wie von Sinnen vor Angst, und erst als ihm Claudia eine Münze anbot, begann er langsamer zu sprechen. Sie erfuhr, daß er als Landarbeiter auf einem nahen Bauernhof gearbeitet hatte und geflohen war, als das Haus seines Herrn angegriffen wurde. Er war gerade vom Feld zurückgekommen und hatte Männer gesehen, die auf das Tor des Bauernhofs zuliefen. Als er das Klirren von Waffen und erstickte Schreie gehört hatte, war er zu Tode erschrocken stehengeblieben. Burrus boxte ihn in die Schulter. »Nein, nicht das. Erzähl der Herrin, was du sonst noch gesehen hast!« Der junge Mann berichtete, er sei in der Nacht, als das Totenhaus niedergebrannt war, auf den Feldern umhergestreift, um Wild zu jagen. Er gab eine genaue Beschreibung des Feldes, das Claudia untersucht hatte. Es hatte einsam im Mondlicht gelegen. Er hatte es gerade überqueren wollen, als er in der Dunkelheit ein Feuer bemerkte. Er hatte sich niedergesetzt und beobachtet, wie es aufloderte. Dann war er zurückgegangen, um seinem Herrn davon zu erzählen, doch am nächsten Morgen hatten sie nur noch Glutreste gefunden und das Feuer daher Wilddieben zugeschrieben oder Leuten, die sich im Wald versteckten. Claudia dankte dem jungen Mann, gab ihm die Münze und entließ ihn. Sie erwartete, daß Burrus ebenfalls gehen würde, doch der Germane blieb stehen und blickte sich um. »Wo ist er?« fragte er abrupt. »Der Mann, der so leise geht?« »Wen meinst du?« fragte Claudia gereizt. »Gaius«, erklärte Burrus. »Ich möchte mich bei ihm entschuldigen.« Er schaute auf Claudia hinab. »Gaius ist ein
guter Soldat, aber er kann es nicht verwinden, daß ihm die Kaiserin nicht getraut hat. Ich muß das erklären.« Er schnipste mit den Fingern und machte sich auf die Suche. Claudia stand auf, streckte sich und beschloß, in die Villa zurückzugehen. Als sie sich einem Seiteneingang näherte, rief jemand ihren Namen. In einem Säulenvorbau stand Sylvester und winkte sie zu sich. »Ich habe gehofft, daß ich dich treffen würde.« Claudia lehnte sich an eine Säule und spürte, wie kühl sie war. »Wie geht es dir?« fragte Sylvester besorgt. »Ich meine, wegen Meleager. Hab keine Angst vor ihm, Claudia. Die Gerechtigkeit Gottes ist wie ein Jagdhund, sie findet immer ihre Beute. Du bist hier unter Freunden. Aber Meleager ist ohnehin weg, er ist nach Rom zurückgekehrt.« Claudia merkte, wie sie sich entspannte, und holte tief Luft. Sie fürchtete sich davor, den Gladiator wieder zu treffen. »So viele unerwartete Dinge sind passiert.« Sylvester schüttelte den Kopf. »Hast du das alles geplant?« fragte Claudia müde. »Wie könnte ich ein derartiges Chaos planen?« erwiderte Sylvester und blickte über ihre Schulter. Sie drehte sich um und sah Justin vorbeieilen. »Nun ja« – sie wandte sich wieder zu Sylvester –, »es sind alle hier: Timothaeus, Narcissus, Athanasius.« »Ich hätte nie gedacht, daß uns Mord vereinen würde«, erwiderte Sylvester, »oder Verrat.« »Warum hast du das so arrangiert?« fragte Claudia. »Warum wurden ausgerechnet Redner aus Capua eingeladen, warum nicht aus einer anderen Stadt? Es gibt in vielen Städten in ganz Italien ähnliche Schulen.« »Capua wurde aus zwei Gründen gewählt. Erstens ist Athanasius vielleicht unser größter Redner. Zweitens…«
Sylvester nahm sie am Arm und zog sie tiefer in den Schatten. »Militiades, der Bischof von Rom, hatte Familie, Blutsverwandte, die der letzten Verfolgungswelle zum Opfer fielen. Sie waren auch aus Capua. Er dachte, bei dem Streitgespräch würden Dinge zur Sprache kommen und so manches aufgeklärt werden, was vor all den Jahren geschehen ist. In Capua sind sehr viele Menschen gestorben, Claudia, aber das ist Vergangenheit.« Sylvester seufzte. »Militiades ist überzeugt, daß wir den Streit gewinnen werden. Ich nehme an«, fügte er hinzu, »mein Bischof hoffte, das Streitgespräch würde zeigen, daß die Arianer Verräter und Betrüger sind, aber natürlich ist das Leben nicht so einfach. Ich habe ihn darauf hingewiesen. Die Verfolgung ist vorbei, aber die Blutfehden gehen weiter.« »Ich weiß, daß Narcissus einer von euch ist. Gilt das auch für Timothaeus?« »Natürlich. Ein guter Mann, sehr fromm. Timothaeus bezweifelt sogar, ob es richtig ist, daß er in einem heidnischen Haushalt dient.« »Aber dir ist das egal, nicht wahr?« versetzte Claudia. »Du und Militiades, ihr habt hier Leute zusammengebracht, deren Leben voller Schatten und Geister sind. Ihr müßt doch gewußt haben, daß diese Schatten an die Oberfläche treten würden. Die ganze Rivalität, der ganze Groll.« »Es ist mir nicht egal«, antwortete Sylvester. »Eine Reinigung des Geistes, eine Läuterung, ist sehr gut. Der Glaube, unsere Religion, muß triumphieren. Ich habe gesagt, es gebe zwei Gründe für dieses Streitgespräch. In Wahrheit gibt es noch einen dritten Grund, das eigentliche Motiv dahinter.« Er ballte seine Hand zu einer Faust. »Wir haben Helena, die Augusta, und bald werden wir auch ihren Sohn haben. Siehst du denn nicht den wahren Grund für dieses Streitgespräch, Claudia? In Wirklichkeit freuen wir uns über
die Uneinigkeit, die Aggressivität, die Rivalität. Genau das wollen wir. Wir wollen, daß die Augusta eingreift, daß sie eine von uns wird und den Bischof von Rom stärkt. Es reicht nicht, daß Helena den christlichen Glauben unterstützt. Schau, unter den Christen gibt es mehr Glaubensrichtungen als Flöhe auf einem Hund, aber Rom hält alles zusammen. Wir wollen, daß die Menschen eines Tages begreifen, daß ein Angriff auf die Kirche ein Angriff auf das Reich ist und umgekehrt, während ein Angriff auf das Reich auch ein Angriff auf die Kirche ist.« Claudia blickte den klugen Priester an, hinter dessen sanftem Gesicht und freundlichen Augen sich ein schlaues Hirn verbarg. »Darum geht es also«, flüsterte sie. »Ihr wollt, daß Helena den Bischof von Rom bedingungslos unterstützt; ihr seht euch als Co-Cäsaren, als den geistlichen Arm des Kaiserreichs. Helena wird zugunsten von Militiades entscheiden, und was die Kaiserin sagt, ist Gesetz. Zwischen dem Bischof von Rom und dem Kaiser wird es keinen Unterschied mehr geben. Das Christentum wird Staatsreligion sein und Militiades ihr Hohepriester. Eines Tages werdet ihr den Kaiser salben, aber auch das wird euch nicht reichen, nicht wahr, Sylvester? Der Kreis wird sich schließen; vielleicht wird eines Tages der Bischof von Rom entscheiden, wer den Purpur, wer das Diadem trägt.« »Träume«, antwortete Sylvester lächelnd, »Träume von Ruhm und Macht, Claudia, vom Königreich Gottes hier auf Erden. Helena ist zu einem Einverständnis mit uns gekommen. Wir aber wollen einen Beschluß, der uns aneinanderbindet. Wir wollen, daß sie zu unseren Gunsten entscheidet, damit unsere Lehre zu einem kaiserlichen Edikt wird. Also«, fuhr er dann lebhaft fort, »was wir sicher nicht geplant oder erwartet haben, war dieser Angriff. Was hast du herausgefunden?«
Claudia blickte hinauf zu einem Gesicht, das in das obere Ende einer Säule geschnitzt war, einem Cherub mit geschürzten Lippen und aufgeblasenen Wangen. Sein Kopf war von Weinblättern umkränzt. Sie überlegte, wie viele Menschen in der Villa wohl in vollem Umfang erkannten, welche Ränke Sylvester schmiedete. »Claudia?« fragte Sylvester. »Der Angriff erfolgte auf Befehl von Licinius«, antwortete sie. »Er hat eine Galeere an die italienische Küste entsandt, aber er hatte bereits Agenten in der Umgebung der Villa. Diese haben auf ein Zeichen von hier Signalfeuer entzündet. Die Wälder sind dicht, und Licinius’ Agenten konnten sich darin gefahrlos aufhalten, während sie auf das vereinbarte Zeichen warteten. Was sie jedoch nicht wußten und womit sie nicht rechneten, war, daß im Wald ein alter Mann umherwanderte. Ich nehme an, er merkte, daß Fremde da waren, und kam zur Villa, um zu berichten, was er gesehen hatte. Zu seinem Pech erfuhren unser Verräter oder seine Komplizen, wovon er brabbelte, und ließen ihn umbringen. Der Rest ist dir bekannt: die Feuer wurden entzündet, die Galeere kam ans Ufer, und die Truppen gingen an Land. Freut dich das, Sylvester?« »Ein Angriff auf den Kaiser? Natürlich nicht.« »Du weißt, was ich meine«, sagte sie spöttisch. »Jetzt hat Konstantin einen Grund für einen Krieg. Gehört das auch zu deinem Traum, deinem klugen Plan? Daß Konstantin nach Osten marschiert und auch dort Toleranzedikte erläßt? Da wirst du mit deiner Legion von Agenten aber viel zu tun haben, wenn du in den östlichen Provinzen Konflikte schüren und für euren Retter die nötige Vorarbeit leisten willst.« Sylvester lachte nur, hob die Hand zum Gruß und ging davon.
Justin, der Anführer der Arianer, hatte gesehen, daß Claudia und Sylvester in ein Gespräch vertieft waren. Er hätte gern gewußt, worüber sie sich unterhielten, mußte aber dringend zu den Latrinen. Dort angekommen, stellte er erfreut fest, daß sie leer waren, abgesehen von der sehnigen schwarzen Hauskatze der Villa, die durch eines der halboffenen Fenster floh. Justin wählte einen Sitz am hinteren Ende und starrte traurig auf die Mosaike an der gegenüberliegenden Wand. Es ging ihm nicht gut, er hatte eine Magenverstimmung, und das üppige Essen und der Wein am Vorabend waren nicht gerade zuträglich gewesen. Außerdem machte er sich Sorgen. Er hätte die Einladung zu diesem Streitgespräch nicht annehmen sollen. Er saß in der Falle. Er war hergekommen, weil er eine Diskussion erwartet hatte, doch Athanasius brillierte, Sylvester fand bei der Augusta stets ein offenes Ohr, und er selbst wurde jetzt von den Geistern der Vergangenheit eingeholt. Athanasius war nicht nur ein hervorragender Redner, sondern unter den Philosophen auch der einzige ohne Makel. Schließlich war er, wie er gern betonte, gleich zu Beginn der Verfolgung unter Diokletian nach Norden geflohen, weit weg von Capua, während sich die anderen im Netz verfangen hatten. Geistesabwesend und noch immer mit den Problemen beschäftigt, die ihn plagten, reinigte sich Justin mit einem Schwamm am Ende eines Stocks und ging dann in den kleinen Waschraum, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Nach dem Verlassen der Latrinen kam er an einem niedrigen Gebäude aus roten Ziegeln vorbei. Eine Treppe führte hinunter zu einer Kellertür. Plötzlich hallte von dort eine Stimme herauf. »Justin, Justin.« Er blieb stehen und dachte, daß das Gebäude wohl etwas mit dem Hypokaustum zu tun hatte; vielleicht wurde da unten der Brennstoff gelagert.
»Justin.« Er hörte ein Knarren, machte einen Schritt nach rechts und spähte hinab. Jetzt war die Tür unten offen. »Justin.« Die Stimme klang aufgeregt, als hätte der Rufer etwas entdeckt. Justins war von seinen Problemen so sehr in Anspruch genommen, daß er gar nicht an Dionysius dachte oder daran, daß Septimus verschwunden war. Er ging rasch die Treppe hinunter und trat durch die Tür; er sah eine erleuchtete Lampe und Schatten, die in dem höhlenartigen Raum tanzten. Am anderen Ende stand jemand an einer Säule. Justin blieb stehen und bekam einen Schlag auf den Hinterkopf.
KAPITEL 9 »Niemand wird ganz plötzlich verdorben.« Juvenal, Satiren, II
»Komm schon.« Der oberste Küchenchef der kaiserlichen Küchen, der Lieblingskoch von Kaiser Konstantin, nahm die Hand des jungen Küchenmädchens und zog sie die Treppe zu dem Keller hinunter, wo unter einem niedrigen, von kräftigen steinernen Säulen gestützten Dach Holz und Holzkohle gelagert wurden. Der Küchenchef ging mit seinen Konkubinen, wie er seine Eroberungen nannte, gern hier herunter, besonders im Sommer, da war es hier so ruhig. Er wischte sich das fettige Gesicht ab, trocknete die Hände an seiner Tunika und musterte das Mädchen anerkennend. Sie hatte olivfarbene Haut, dickes schwarzes Haar und schöne Arme und Beine. Der Vorspeisenkoch hatte bereits mit ihr geschlafen und ihm eine anschauliche Beschreibung geliefert, wie geschickt und begeistert sie gewesen sei und daß sie sich sehr bemüht habe, ihn zufriedenzustellen. Der erste Küchenchef hatte sich sofort darangemacht, die junge Frau zu verführen, indem er ihr eine bessere Arbeit in den Küchen versprochen und ihr sogar eine Beförderung zum Serviermädchen, das das kaiserliche Speisezimmer betreten durfte, in Aussicht gestellt hatte. Außerdem hatte er veranlaßt, daß sie die frischesten Delikatessen bekam, die von den kaiserlichen Mahlzeiten übrigblieben. Bereits heute morgen hatte sie als erste unter den Speisen vom vergangenen Abend wählen dürfen: Käse und Honig, Walnuß- und Feigenkuchen, Pastete mit getrockneten Birnen sowie in Soßen eingelegte Fleischstücke.
»Komm schon«, wiederholte er, streckte seine Hand aus und ergriff die ihre. »Bist du sicher?« flüsterte das Küchenmädchen und benahm sich wie ein verängstigtes Reh. Der Kollege und Freund des Küchenchefs hatte ihn schon darauf vorbereitet, daß sie sich so sträuben und zieren werde. Und das tat sie; sie biß sich auf die Lippen und blieb sichtlich unentschlossen auf der Treppe stehen, während er sanft an ihrer Hand zog. »Du mußt nur beharrlich sein«, hatte ihm sein Freund geraten, »dann wirst du paradiesische Freuden erleben. Sieh zu, daß du einen einsamen Platz findest, wo euch niemand hören kann.« »Ach, sei nicht dumm!« Der Küchenchef spürte, wie sein Bauch vor Aufregung knurrte. »Wir schmusen ein bißchen, und dann gehen wir zurück in die Küche auf einen Becher Honigwasser und Pyramidenkuchen.« Das Mädchen folgte ihm die Stufen hinunter, spielte aber noch immer die Spröde. Sie war fest entschlossen, diesen wichtigen Mann glücklich zu machen und seine Gunst zu gewinnen. Es wäre schön, die Aufsicht über ein paar von den anderen, die besten Essensreste und den trockensten und saubersten Schlafplatz zu bekommen. Der Küchenchef öffnete die Tür und tastete auf dem Sims nach den Schwefelhölzern, mit denen er die Fackeln und die zwei irdenen Öllampen entzündete, die beide mit einer Darstellung von Pegasus verziert waren. Während er das tat, spazierte das Mädchen weiter und schaute in den muffigen Raum. »So!« Der Küchenchef trat einen Schritt zurück. Die beiden Lampen brannten hell, die Fackeln knisterten und sprühten Funken. Das Mädchen hinter ihm stöhnte auf.
»Ach, das wird bald aufhören«, murmelte der Küchenchef. Er spürte eine Hand auf seinem Arm und drehte sich grinsend zu ihr um. »Was ist denn los, Mädchen?« Selbst in dem schwachen Licht sah er, daß ihr Gesicht verändert war, ganz bleich und verzerrt, ihre Unterlippe bebte. Sie zog stumm an seinem Arm und deutete in den Keller. Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte. Sein Mund klappte auf, und er schnappte verblüfft nach Luft. Er ging langsam weiter und zog das Mädchen mit. »Bei Apollo«, hauchte er, »was ist denn das?« Das Mädchen riß sich los, stieß einen gedämpften Schrei aus und floh durch die halboffene Tür. Der Küchenchef war aus härterem Holz geschnitzt. Als Veteran der Neunten Hispanischen Legion hatte er genug Leichen gesehen: an Galgen aufgehängt, gekreuzigt, in siedendem Öl gekocht, mit abgeschlagenen Gliedmaßen oder aufgedunsen und stinkend auf irgendeinem gottverlassenen Schlachtfeld liegend. Doch an dem grausigen Anblick am anderen Ende des Raumes, der in dem schwachen Licht noch scheußlicher wirkte, war etwas Groteskes. Zwei Leichen waren an nebeneinander stehende Säulen gefesselt worden. Der Küchenchef trat näher und bemühte sich, in der Düsternis etwas sehen zu können. Er erkannte die beiden Philosophen aus der Schule in Capua; der Kopf des älteren war nach hinten gekippt, die offenen Augen starrten blicklos ins Leere. »Justin«, flüsterte der Küchenchef, »so heißt du.« Er sprach, als erwartete er, daß der blutüberströmte Mann ihm antworten würde, aber Justin war tot. Der Alte war vollkommen nackt; sein knochiger Körper wirkte noch armseliger durch die zusammengeschrumpften Genitalien, die mit Krampfadern durchzogenen Beine und den schmutzigen Rumpf, der aussah wie die Unterseite eines gestrandeten Fisches. Der Küchenchef trat zur Seite. Man hatte Justin mit einem Stück Leder
geknebelt, das noch immer aus seinem Mund herausragte. Er war aus nächster Nähe mit Pfeilen totgeschossen worden; der syrische Bogen lag am Boden und daneben ein leerer lederner Köcher. Die meisten der mit Widerhaken und Feder bewehrten Pfeile steckten tief in Justins Fleisch, die anderen waren rechts von der Säule am Boden verstreut. »Kein sehr guter Bogenschütze«, flüsterte der Küchenchef. Mindestens vier oder fünf Pfeile hatten ihr Ziel verfehlt. Justin war mit einem eingeölten Strick gefesselt worden, der tief in sein Fleisch geschnitten, aber noch genug bloße Haut übriggelassen hatte, um die tödlichen Pfeile aufzunehmen. Der Küchenchef trat neugierig näher, kippte den Kopf des Toten nach vorn und schaute ihm in die Augen. Er dachte an die alte Redensart, daß im Blick eines Toten oft zu erkennen war, was er zuletzt gesehen hatte. Doch Justins Augen waren nichts als schwarze Scheiben, die nach oben gedreht waren und das rot geäderte Weiß zeigten. Jetzt ging der Küchenchef zu der zweiten Leiche; an den Namen des jüngeren Mannes konnte er sich nicht erinnern, aber er wußte, daß er einer der Redner war. Er war ebenfalls nackt, geknebelt und an eine Säule gefesselt. Der Küchenchef hielt sich die Nase zu. Dieser Mann war offenbar schon seit einiger Zeit tot; der Geruch war widerlich und sein Anblick noch grausiger als der des anderen. Er war entkleidet, mit dem Gesicht zur Säule festgebunden und zu Tode gepeitscht worden. Eine Aufseherpeitsche mit bronzenem Griff lag neben ihm; die Lederschnüre waren mit zwei oder drei rasiermesserscharfen Bronze-, Kupfer- oder Knochensplittern versehen. Der Küchenchef hatte solche Peitschen schon gesehen; er besaß sogar selbst eine und drohte damit immer den Küchenjungen, aber er hätte eine so grausame Waffe natürlich nie wirklich benutzt. Das Gesicht des Toten war ganz blutig; während er ausgepeitscht wurde, war sein Kopf
offenbar gegen die Säule geschlagen. Der Küchenchef drückte seinen Handrücken auf den Nacken der Leiche. Er war kalt und feucht, die Muskeln waren steinhart. »Zwei Männer«, murmelte der Küchenchef. Er ging zu Justin zurück und berührte dessen Leiche. Er erinnerte sich an seine Zeit beim Heer. Er hatte genug Leichen aufgehoben und in Massengräber geworfen, um abschätzen zu können, daß der junge Mann seit mindestens zwölf Stunden tot war. Justins Leiche hingegen war noch nicht so hart und kalt; er war wahrscheinlich erst kurz nach der Morgendämmerung umgebracht worden. Plötzlich kam dem Küchenchef zu Bewußtsein, was er da tat, doch er wollte nicht schreiend davonlaufen wie ein Huhn vor dem Fleischer. Er wollte nicht zur Zielscheibe von Spott und Häme werden; er mußte sich benehmen wie ein richtiger Kriegsveteran. Er drehte sich um und ging langsam zur Tür. Er war stolz darauf, ein alter Soldat zu sein, an den Anblick von Blut gewöhnt, und doch… Ein letztes Mal schaute er zurück auf die grausigen menschlichen Überreste. Wie diese beiden Leichen an den Säulen hingen und die Art ihres Todes – was für eine Niedertracht, was für ein blinder Haß hatten dazu geführt?
»Tot…« Narcissus sah auf die beiden Leichen herab, die unter den ausladenden Ästen einer Steineiche im Gras lagen. »Tot und der Verwesung preisgegeben. Das heißt« – er streckte eine Hand aus –, »zumindest einer von ihnen, Herrin. Du mußt der Augusta sagen, daß man sie dem Feuer überantworten sollte.« Claudia, die sich eine parfümierte Duftkugel an die Nase hielt, nickte heftig. Sie schaute auf die Leichen hinunter, auf denen sich die Schatten der Eiche, gesprenkelt mit sonnigen Flecken, bewegten. So ein schöner Tag, so ein schöner Platz
mit dem grünen Rasen, in dem Wiesenblumen wuchsen. Eine leichte Brise milderte die Hitze; aus den Bäumen erklang klar und hell das Lied einer Drossel. Die Leichen waren umgeben von frischem Grün; es war, als blickte man in einen wunderschönen Kelch, der ein ekelhaftes Gebräu enthielt. Zwei Leichen, zwei Geschöpfe, die im Leben wie im Tod aus demselben Stoff waren. Sie fragte sich, was Athanasius wohl dazu sagen würde. Hatten die Christen recht? Überlebten die Wesen namens Septimus und Justin ihren Tod? Trafen sie auf jene unsichtbare, aber ewige Schwelle, die sie von den Lebenden trennte, und verlangten von ihrem Gott Gerechtigkeit? Oder waren sie wie der Rauch eines erkalteten Feuers einfach verschwunden? Oder erging es ihnen wie den Geistern von Homer, verblassenden Seelen, die in der Dunkelheit jenseits des Lebens Schutz suchten und kraftlos wurden, sobald das Leben aus ihnen wich? »Wie es wohl ist?« murmelte Claudia. »Was?« fragte Narcissus. »Ach, nichts.« Claudia breitete die Hände aus. Sie wollte nicht mit ihm über den wahren Grund reden, weshalb sie es so schwierig fand, die Lehren Christi zu akzeptieren. Daß ein Mann vom Tod auferstand, konnte sie glauben; ein beeindruckendes Ereignis, ein schrecklicher Kampf zwischen Leben und Tod. Christus war wie Apollo oder Herkules, ein Held für die ganze Welt! Ein als Verbrecher verurteilter Gekreuzigter kehrte zurück als der Herr des Lebens und des Lichts, dem alle Dinge untenan waren. Das konnte sie verstehen, aber Menschen wie Dionysius und Justin mit all ihren kleinen Fehlern und dummen Gedanken, die auf so erbärmliche Art gestorben waren? Wie sollten die überleben können? Und all die anderen, die Menschenmassen von Rom oder die Horden von Barbaren an den Grenzen des römischen
Reiches. War jedem einzelnen von ihnen die Unsterblichkeit gewiß? Trugen sie alle den göttlichen Funken in sich? »Herrin?« »Entschuldige.« Claudia riß sich aus ihren Gedanken. »Wir haben zwei Leichen. Du kennst dich mit Leichen aus. Was kannst du über sie sagen?« »Septimus ist als erster gestorben«, antwortete Narcissus bestimmt. »Er ist seit mindestens zwölf Stunden tot; das Fleisch beginnt zu verwesen, das Blut sinkt nach unten, er ist reif für die Einbalsamierung, aber alle meine Öle und Instrumente sind verbrannt, und das sollte auch mit ihm geschehen.« »Mach dir darüber keine Gedanken«, antwortete Claudia. »Was weißt du über seinen Tod?« »Zuerst wurde er wie ein Ochse vor dem Schlachten mit einem Schlag auf den Kopf betäubt, dann an die Säule gefesselt, geknebelt und zu Tode gepeitscht. Die Peitschenschläge trafen seinen ganzen Körper vom Hals bis zu den Hinterbacken, ein paar erreichten auch die Knie und die Waden.« Narcissus kniete sich neben Septimus’ Leiche auf den Boden. »So eine Peitsche windet sich um den Rücken, und die scharfen Splitter graben sich in das weiche Fleisch von Bauch und Leisten.« Claudia blickte auf die blauen und roten Striemen und hielt wieder die Duftkugel an die Nase. »Der Mörder ist mit beiden Händen gleich geschickt«, fuhr Narcissus unbekümmert fort. »Als er müde wurde, hat er die Hand gewechselt. Ich sage ›er‹, aber es könnte auch eine Frau gewesen sein. Die Peitsche ist eine gräßliche Waffe. Ich weiß es«, fügte er grimmig hinzu, »ich habe sie selbst zu spüren bekommen. Die Lederstreifen und Metallhaken zerreißen einem das Fleisch und fügen einem schreckliche Verletzungen
zu, aber die wahre Wirkung liegt im Schock und in den Schmerzen.« »Und?« »Septimus hat die Peitsche wahrscheinlich nicht lange gespürt; sein Herz hat versagt, das sehe ich an seinem Gesicht. Die Haut ist verschwollen und bunt gesprenkelt. Ich bezweifle, daß er es länger als ein paar Minuten ausgehalten hat.« »Und Justin?« »Wieder ein brutaler Schlag auf den Hinterkopf. Er wurde wahrscheinlich irgendwann nach der Morgendämmerung ermordet. Nun« – Narcissus schüttelte den Kopf – »du hast ihn ja gesehen. Er wurde entkleidet und an die Säule gefesselt. Der Bogenschütze stand in unmittelbarer Nähe, die Pfeile stecken tief im Fleisch. Ich würde sagen, der Mörder war nicht mehr als einen Meter von seinem Gefangenen entfernt.« Claudia sah die Leiche an. Narcissus hatte die Pfeile zuerst abgebrochen und dann mit einem Spezialmesser, das er sich aus der Küche geliehen hatte, die Spitzen mit den Widerhaken aus dem Fleisch herausoperiert. »Er hat auch nicht lange gelebt«, fügte Narcissus traurig hinzu. »Und der Schütze?« fragte Claudia. »Kein sehr guter Schütze! Er mußte ganz nahe an sein Opfer herantreten. Er hat die linke Hand geschont; wie du weißt, wurden einige Pfeile rechts von der Leiche gefunden.« Claudia nickte geistesabwesend. Sie hatte mit dem Küchenchef gesprochen und seinem anschaulichen Bericht aufmerksam zugehört, bevor sie den Keller untersuchte. Es war ein dunkler, muffiger Raum mit einem Holz- und Holzkohlelager. Während der Sommermonate war er leer, geputzt und aufgeräumt; er würde erst im Spätherbst wieder gefüllt werden. Sie hatte nichts entdeckt, was einen Hinweis auf den Täter gegeben hätte, verstand jedoch, warum er diesen
Lagerraum als Exekutionsstätte gewählt hatte. Er war ein Stück von der Villa entfernt, aber neben den Latrinen. Der Mörder mußte auf seine beiden Opfer gewartet haben. Je länger Claudia nachdachte, desto sicherer wurde sie, daß diese beiden Männer willkürlich ausgewählt worden waren. Die Redner aus Capua waren von Natur aus einsame Menschen. Außerdem hatten sie Angst und viel zu verbergen. Solche Männer grübelten, wollten allein sein und waren daher die idealen Opfer. Was sie nicht verstand, war der Grund für die Morde. Sie hatte keine Ahnung, was das Motiv sein könnte, doch angesichts der Niedertracht, mit der der Mörder vorging, vermutete sie stark, daß diese beiden Morde, wie der an Dionysius, mit den Ereignissen während Diokletians brutaler Christenverfolgung in Capua zu tun hatten. Die anderen Philosophen dachten das ebenfalls und bereiteten sich schon auf ihre Abreise vor; die Ereignisse hatten ihnen Todesangst eingejagt. Das Küchenmädchen hatte die ganze Villa aufgeschreckt; sie war durch die Gärten gelaufen und hatte sich die Seele aus dem Leib geschrien, und als die Wachen sie aufhielten, hatte sie keine zusammenhängende Beschreibung dessen geben können, was sie gesehen hatte. Der Küchenchef hingegen hatte ganz ruhig und ungerührt Gaius Tullius gesucht und Alarm geschlagen. Helena war persönlich in den Keller gekommen, um die Leichen anzuschauen; sie hatte ihrer Wut freien Lauf gelassen und Athanasius und Sylvester angefaucht, daß das Streitgespräch jetzt zu Ende sei. Sie war auch auf Claudia losgegangen und hatte sie mißbilligend angezischt. »Das heilige Schwert ist weg.« Helena wischte sich einen weißen Speichelfleck vom Mundwinkel. »Drei Redner sind tot, mein Sohn wird angegriffen, und du, mein Mäuschen, hast keine Ahnung. Du hast nichts herausgefunden.«
Claudia wußte, daß es klüger war, nicht zu widersprechen; sie hatte einfach mit gesenktem Kopf dagestanden, während Helena gewütet und geschäumt hatte und dann davongeschritten war. Jetzt ging Claudia zurück zu den Gebäuden und blickte hinauf auf ein Gesims, das mit dem Gesicht eines lachenden Bacchus verziert war. In einiger Entfernung standen Burrus und seine Wachen und beobachteten sie genau. Sie hörte ein Geräusch. Wie aus dem Nichts war Sylvester aufgetaucht, mit Timothaeus im Schlepptau. Im Schatten der Eiche blieb der Presbyter stehen und blickte traurig hinab auf die beiden Leichen. »Der Mörder ist ein Teufel«, erklärte er, ohne den Kopf zu heben. »Ich frage mich, warum Dionysius auf eine so schreckliche Art gestorben ist. Und jetzt diese beiden. Der Mörder hat sie eindeutig gehaßt.« »Das glaube ich auch«, antwortete Claudia. »Aber der Mörder verspottet auch unseren Glauben.« »Was meinst du damit?« fragte Claudia. »Studiere unsere Geschichte, Claudia. Dionysius, Septimus und Justin sind eines ähnlichen Todes gestorben wie unsere Märtyrer in der Arena: sie wurden zerstückelt und verbluteten, wurden bis zur Besinnungslosigkeit gepeitscht und…« »Und mit Pfeilen erschossen wie Sebastian«, beendete Claudia seinen Satz. »Bist du nicht auch der Ansicht, Timothaeus?« rief Sylvester über die Schulter. Der Haushofmeister nickte mit trauriger Miene. »Presbyter?« »Ja, Claudia.« »Kann ich unter vier Augen mit dir reden?« Sylvester trat zu ihr. Claudia nahm ihn am Ärmel und zog ihn außer Hörweite von Timothaeus und Narcissus.
»Hast du etwas damit zu tun?« fragte sie. Sylvester sah sie schockiert und verblüfft an. »Mit Mord? Mit Folter? Claudia, ich mag Ränke und Komplotte schmieden, aber ich töte nicht.« Claudia hielt seinem Blick stand. »Hast du einen Verdacht?« »O ja.« Sylvester biß sich auf die Unterlippe. »Und die Liste ist lang. Man kann jeden Mann und jede Frau in dieser Villa verdächtigen.« Er wandte den Blick ab. »Es könnte jeder gewesen sein«, flüsterte er rauh. »Hat der Kaiser etwas damit zu tun? Möglich. Athanasius? Einiger seiner Freunde in Capua wurden während der Verfolgung getötet. Burrus? Er ist ein bezahlter Killer, er könnte einen Auftrag ausführen. Dasselbe gilt für Gaius Tullius. Chrysis? Er war in Capua.« »Ach ja, was ist dort passiert?« fragte Claudia. »Er hat sein Schulgeld nicht bezahlt, und außerdem sind Sachen verschwunden. Rufinus?« Sylvester zuckte die Achseln. »Timothaeus? Narcissus?« Die Namen strömten nur so aus dem Mund des Priesters. »Aber du willst von mir mehr hören als das Offensichtliche, nicht wahr?« »Ja«, antwortete Claudia. »Sag, wie ist der christliche Märtyrer Paulus, der große Prediger, gestorben? Wo ist er begraben?« »Paulus war Jude und römischer Bürger«, antwortete Sylvester. »Er wurde gegen Ende von Neros Herrschaft nach Rom gebracht und angeklagt. Die Gegner des Paulus fanden bei Neros Geliebter ein offenes Ohr, und er wurde zum Tode verurteilt. Anders als der Apostel Petrus, der mit dem Kopf nach unten gekreuzigt wurde, beanspruchte Paulus die Rechte eines römischen Bürgers und wurde enthauptet. Man brachte ihn von seinem Gefängnis vor die Stadtmauern, zu einem kleinen Brunnen nahe einem Friedhof auf der Straße nach Ostia, wo er hingerichtet wurde. Danach kamen seine Jünger
und begruben seine Leiche dort.« Sylvester lächelte schief. »Es wird bereits eine Gedenkstätte errichtet. Warum fragst du?« »Ach, nur so«, antwortete Claudia und ging. »Wir werden bald abreisen«, rief ihr Sylvester nach. »Der Kaiser wird nach Rom zurückkehren, um seinen Geburtstag zu feiern und an den Spielen teilzunehmen. Ich habe gehört, dein Murranus wird auch kämpfen. Wenn er Spicerius bezwingt, wird er in der Arena Meleager gegenübertreten.« »Er ist nicht mein Murranus«, versetzte Claudia und kam zurück. »Du erzählst mir Dinge, die ich bereits weiß. Was willst du mir sonst noch sagen, Priester?« »Meleager.« Sylvester spielte mit dem Ring an seinem kleinen Finger. »Ich habe für dich ein paar Nachforschungen angestellt. Du hast recht. Meleager gibt sich als zurückhaltender Krieger, aber er ist ein brutaler Kämpfer. Ein Mann, der gern tötet, kein Profi wie Burrus oder Gaius. Laut Rufinus spielt Meleager manchmal mit seinen Opfern in der Arena wie eine Katze mit ihrer Beute. Ich dachte, ich sage es dir.« Sylvester zog den Ring vom Finger und steckte ihn wieder an. »Nein, nein, nicht, um dir angst zu machen. Das würde ich nicht tun. Ich habe etwas Interessantes erfahren. In Capua gibt es nicht nur eine Rhetorikschule…« »Sondern auch eine Gladiatorenschule, nicht wahr?« warf Claudia rasch ein. »Das ist mir gerade eingefallen. Eine sehr berühmte Schule. Ist nicht der Aufstand von Spartacus von dort ausgegangen?« Sylvester sah sie merkwürdig an. »Meleager war dort«, antwortete er, »als die Verfolgung begann. Manch einer behauptet, daß er bei der Verhaftung von Christen mitgeholfen hätte. Er hat sie nicht nur bewacht, sondern war auch oft bei den Verhören dabei.« »Mit anderen Worten, er war ein Folterknecht?«
»Ja, Claudia, das könnte man so sagen.« Der Presbyter ging davon. »Was soll ich tun?« rief Narcissus ihm hinterher und deutete auf die Leichen. »Hier kann man sie nicht lassen, da fangen sie an zu stinken.« Sylvester spazierte hin und sprach leise mit ihm. Narcissus nickte und rief Burrus und seinen Söldnern zu, sie sollten herkommen und ihm helfen. Claudia überquerte die Rasenflächen und ging über die Treppe hinunter in den Lagerraum. Sie setzte sich auf einen Hocker und betrachtete die beiden noch immer blutbespritzten Säulen. Über den durchschnittenen, blutgetränkten Stricken und den Blutflecken auf dem Boden summten Fliegen. Durch kleine Öffnungen in der gegenüberliegenden Wand fiel etwas Licht herein, doch ansonsten wurde der Raum nur vom düsteren Schein der Fackeln erhellt, die jetzt schwach flackerten und schwarze Rauchschwaden in die Luft entließen. Sie dachte über die Dinge nach, die ihr Sylvester erzählt hatte. Der Mörder – und das konnte jeder sein – hatte Justin und Septimus von den anderen weggelockt, sie betäubt und dann hierhergeschleppt. Sie war sicher, daß ihr Tod nichts mit den theologischen Debatten zu tun hatte; der Grund mußte in der Vergangenheit liegen, aber in wessen Vergangenheit? Claudia stand auf und hob ein Stück Strick auf. Sie sah sich den Knoten an, aber es war nur ein gewöhnlicher doppelter Knoten. Ob die Stricke, die man bei Dionysius’ Leiche gefunden hatte, die gleichen gewesen waren? Hinter ihr ertönte ein Geräusch, das Schlurfen von Schritten, und ihre Hand fuhr zu der Scheide für den Dolch, die an ihren Gürtel angenäht war. Sie drehte sich schnell um, hob den Hocker wie einen Schild hoch, zog den Dolch und trat zur Seite, wie es ihr Murranus beigebracht hatte. Das düstere Licht verbarg den Eindringling, bis er mit der Zunge schnalzte.
»Chrysis«, flüsterte sie, »was machst du denn hier?« Chrysis trat vor. »Claudia, Claudia, was soll das?« »Schleich mir nicht nach«, warnte ihn Claudia. »Kaiserlicher Oberhofmeister hin oder her, Chrysis, du kannst mich nicht leiden, und ich drehe dir nicht gern den Rücken zu.« »Du bist viel zu mißtrauisch«, flüsterte Chrysis. »Du bist ein kleines Miststück mit einer scharfen Zunge und einem harten Herzen, Claudia.« »Von Moralisten lasse ich mich immer gern belehren.« Claudia stellte den Hocker wieder hin. »Ich bin nur gekommen, um mit dir zu reden.« »Worüber?« »Über Capua.« »Du warst dort?« »Das weißt du doch. Du mit deinen hin und her huschenden Augen und der zuckenden Nase! Ich war dort, um reden zu lernen und um etwas gegen mein Stottern und Lispeln zu tun. Dann ging mir das Geld aus, also bediente ich mich bei anderen Leuten. Schließlich konnte ich meine Rechnungen nicht mehr bezahlen und bin geflohen.« »Warst du ein Informant, Chrysis? Hast du Christen denunziert?« »Du Miststück!« »Nun, hast du es getan?« Claudia setzte sich wieder auf den Hocker. »Das geht dich nichts an.« »Warum bist du dann hier?« »Weil ich glaube, daß jeder, der in Capua war, Gefahr läuft, ermordet zu werden.« »Oder verdächtigt werden kann.« »Claudia.« Chrysis schlurfte näher; sie verabscheute seinen wuchtigen Körper und sein falsches Lächeln. »Ich möchte dein Freund sein. Ich bin gekommen, um dir etwas zu erzählen.«
»Worüber?« »Meleager ist aus Capua.« »Das weiß ich«, fauchte Claudia. »Ah, aber wußtest du auch, daß die Wetten darauf, daß Murranus Spicerius besiegt, zwar sehr hoch sind, aber nichts gegen das Geld, das die Leute darauf setzen, daß Meleager Murranus schlägt und tötet?« »Was willst du damit sagen?« Claudia wollte schon den Dolch wegstecken, richtete ihn dann aber gegen den dicken Oberhofmeister. »Die Welt des Wettens«, erklärte Chrysis und kam noch näher, »ist eine seltsame Welt, Claudia. Sie ist wie das Leben am Hof; nichts ist so, wie es scheint. Es gibt Doppelwetten, oder man kann sein Geld in allen möglichen Variationen aufteilen, wie Rufinus gesagt hat und auch Meleager, der gerne prahlt und den Mund nicht halten kann…« Chrysis bohrte in der Nase. »Ach, übrigens, kennst du ihn schon von früher? Ich habe heute morgen vor seiner Abreise mit Meleager gefrühstückt, und er ist sicher, dich schon mal gesehen zu haben, er konnte aber nicht sagen, wo und wann.« »Er irrt sich.« »Jedenfalls«, schwatzte Chrysis weiter, »heißt es, daß Unmengen von Sesterzen auf Meleager gesetzt werden. Solche Wetten können ganz einfach sein: Man wettet, daß Murranus gewinnt, daß Murranus stirbt oder daß Murranus gegen Spicerius gewinnt, aber gegen Meleager verliert. Kurz gesagt: Murranus gilt als Favorit gegen Spicerius, aber nur, wenn er gegen Meleager verliert.« Claudias Magen begann zu schlingern. »Und?« stotterte sie. »Also«, erklärte Chrysis, »kehren wir zurück zu Spicerius’ kleinem Unfall an dem Tag, als er in der Arena ohnmächtig wurde. Die Leute hatten ihr Geld darauf gesetzt, daß Murranus
ihn tötet, um dann gegen Meleager kämpfen zu können. Hätte er das getan… Hör zu, Claudia« – Chrysis wedelte mit dem Finger vor ihrem Gesicht herum –, »Murranus, der arme Junge, wäre gewiß ganz bestürzt gewesen, weil man ihn des Betruges bezichtigt hätte, und dann in den Kampf gegen Meleager vielleicht nicht, wie soll ich sagen, in Bestform gegangen.« Claudia wünschte, sie hätte Wasser gehabt, um sich den sauren Geschmack aus dem Mund zu spülen. Chrysis war gefährlich, aber er wußte, was er sagte. Die Morde hatten ihm angst gemacht, und er versuchte wahrscheinlich, sie zu besänftigen. Claudia benetzte ihre Lippen. Chrysis erging sich nur in Andeutungen, die Claudia auch schon von Leuten wie Helena gehört hatte. Spicerius hätte sterben sollen – Murranus hätte ihn töten können, wäre aber dann in den nächsten Kampf als ein Gladiator getreten, den man schmähte und der Unehrenhaftigkeit bezichtigte. Beim Kampf in der Arena mußte man Selbstvertrauen haben. »Warum hat mir Rufinus das alles nicht erzählt?« »Das hätte er schon getan«, sagte Chrysis und zog die Schultern hoch, »aber der ganze Tumult und die Aufregung hier hat alle beunruhigt. Kein Wunder, daß der Kaiser nach Rom zurück will. Er hat gesagt, dort ist es friedlicher.« »Und was, glaubst du, wird mit Murranus geschehen?« fragte Claudia. Der Oberhofmeister kniff sich in die Nase, was er häufig tat, wenn er scharf nachdachte. »Da fallen mir zwei Dinge ein, Claudia. Erstens, Spicerius könnte auch jetzt noch etwas zustoßen. Zweitens, wird Murranus noch immer bedroht, ist seine innere Ruhe gestört? Du weißt ja, wie das ist. Profis wie Murranus trainieren nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Geist. Sie sehen sich als Sieger; alles andere würde die Katastrophe heraufbeschwören.«
»Das stimmt.« Claudia verschränkte die Arme vor der Brust. Murranus hatte ihr erzählt, wie die Gladiatoren einander verspotteten und versuchten, den Willen des Gegners zu brechen, sein Blut in Wallung zu bringen und seinen Geist in Aufruhr zu versetzen. »Und noch etwas sollte dir Sorgen machen«, fügte Chrysis mit einem Hauch von Bosheit hinzu. »Wenn sie – wer immer es ist – mit Spicerius fertig sind, werden sie sich dann gegen Murranus wenden? Rufinus geht davon aus.« Claudia betrachtete den dicken Mann mit dem freundlichen Gesicht, dessen Gedanken ekligen Würmern glichen. »Du willst also sagen«, meinte sie langsam, »daß Spicerius noch immer etwas zustoßen könnte, und sobald er aus dem Weg ist, wäre Murranus dran. Ich frage mich, wer ›sie‹ sind.« »Jemand, der ein Vermögen gesetzt hat«, murmelte Chrysis. »Sehr, sehr viel Geld.« Etwas an seiner Stimme machte Claudia stutzig, die Art, wie er »sehr, sehr viel« sagte – wie ein Mann, der eine gute Speise sieht und dem das Wasser im Mund zusammenläuft. Sie lachte. »Findest du das komisch?« »Nein, du bist komisch, Chrysis. Du bist gekommen, um mir das zu erzählen, weil Rufinus es dir aufgetragen hat. Aber vor allem bist du ein Spieler. Du hast hoch gewettet, nicht wahr? Du hast jede Münze genommen, die du in deine kleinen, dicken Finger bekommen konntest. Hinter wem stehst du, Chrysis?« Sie erhob sich. »Tu nicht so, als wärst du mein Freund. Du sorgst dich mehr darum, daß dein früheres Leben in Capua ans Licht kommt. Aber vor allem machst du dir Sorgen um Murranus.« Aus der Nähe sah Claudia, daß der Oberhofmeister schwitzte. Sie stieß ihm den Griff ihres Dolches in den Magen. »Du fetter Lügner!« flüsterte sie.
Chrysis blinzelte und schluckte wie ein Schuljunge, der gescholten wurde. »Du hast dein ganzes Geld auf Murranus gesetzt, nicht wahr?« Chrysis nickte. »Ich habe Angst«, blökte er. »Ich habe Angst, daß Murranus unterliegt. Ich könnte mindestens zehntausend Sesterzen verlieren.« »Bei allen Göttern! Warum in aller Welt hast du das getan?« »Ich wußte nichts von Meleager. Nein, nein, das ist nicht wahr. Ich habe Murranus beobachtet. Weißt du, Claudia, er liebt dich, das weiß ich. Und ein Mann, der jemanden liebt, will leben, daher kämpft er besser. Du mußt zurück nach Rom, Claudia, du mußt deinen Mann warnen. Wenn er den Kampf verliert, ist das auch mein Ende.« Chrysis ging. Claudia blickte auf den Haufen Stricke auf dem Fußboden. »Herrin?« Narcissus tauchte in der Tür auf. »Herrin, woran denkst du?« »Daß ich ein Bad nehmen will!« fauchte Claudia. »Was glaubst du, woran ich denke, an ein Problem nach dem anderen.« »Und was wirst du tun?« »Nach Rom zurückkehren, zu Onkel Polybius. Ich glaube, es ist Zeit, mit Sallust dem Sucher ein Wörtchen zu reden…« Murranus duckte sich und zog sich rasch zurück; seine Füße stampften auf den heißen Sand des ludus magnus, der großen Gladiatorenschule nahe dem Flavischen Amphitheater. Der Netzmann, gegen den er einen Übungskampf austrug, tänzelte hinter ihm her und wirbelte mit seinen sandalenbekleideten Füßen Sand auf, den, wie er hoffte, der Wind Murranus ins Gesicht wehen würde. Er zog sein Netz nach und hielt den hölzernen Dreizack bereit, um ihn Murranus an die Kehle oder in den bloßen Bauch zu stoßen. Murranus spürte die sengende
Hitze. Unter seinem Helm war es stickig, durch die Öffnungen für Augen, Ohren und Mund sickerte Sand, und die Lederpolsterung klebte ihm am Gesicht. Die Beinschützer schienen schwerer geworden zu sein, und die Riemen des Schildes waren schweißnaß. Er hatte bewußt darum gebeten, in der größten Tageshitze antreten zu dürfen, und sich den schnellsten Netzmann der Schule ausgesucht, einen Gallier aus Narbonne, einen wahren Tänzer, der sich bewegen konnte wie ein Schatten. Durch die Schlitze in seinem Helm beobachtete Murranus, wie sein Gegner behende von einer Seite auf die andere huschte. Er versuchte Murranus zu verwirren, wollte ihn in eine Position bringen, in der er mit dem Rücken zur Sonne stand. Der linke Arm des Netzmanns wurde von einem Metallstück geschützt, das er als Spiegel benutzte, mit dem er seinen Gegner zu blenden versuchte. Murranus kannte alle diese Tricks; er wußte, daß ihn der Netzmann ganz genau beobachtete. Wenn es ihm gelang, die Öffnungen in Murranus’ Helm zu verstopfen, ihm Mund und Nase mit Sand zu verkleben und seine Augen, die bereits wegen des Schweißes blinzelten, blind zu machen, hätte er eine Chance, ihn mit seinem Netz zu fangen und zu Boden zu werfen. Murranus reinigte mit der Zunge seinen Mund. Er hielt den langen Schild hoch und packte das Holzschwert noch fester. Dann rückte er seinen Helm zurecht, spürte den Wind und fühlte sich ein wenig besser. Er merkte, daß sich die Sitzreihen im Amphitheater rasch füllten; seine Kollegen kamen, um ihm beim Kampf zuzusehen. Spicerius war bereits da, Meleager war soeben eingetroffen, ebenso die Daker. Wie ein Schwarm Schmeißfliegen rotteten sie sich zusammen und verfolgten jede seiner Bewegungen. Nun, er würde ihnen schon etwas zeigen. Der Netzmann bewegte sich auf ihn zu, bereit, das Netz auszuwerfen. Murranus schoß vor, zog sich aber hastig wieder
zurück. Erneut sprang er nach vorn. Jetzt war er voll konzentriert; er hörte nicht mehr das Aufstöhnen der Menschenmenge. Sein feuchter Helm, der Schweiß auf seinem Gesicht, die Schmerzen in den Beinmuskeln und in seinem rechten Arm, auf den er einen bösen Schlag mit dem Dreizack bekommen hatte, das alles war vergessen. Murranus begann sogar eine Melodie zu summen, die er als Kind gelernt hatte. Er genoß die Situation – das war sein wahres Wesen, seine Existenz. Sein ganzes Sein reduzierte sich nun darauf, durch den Schlitz in seinem Helm auf einen Mann zu blicken, der unter anderen Umständen versuchen würde, ihn zu töten. Jetzt hatte Murranus die Situation im Griff. Er ließ sich auf den Kampf ein, empfand diesen makabren Tanz als reine Musik, die seinen Körper in Erregung versetzte. Sein Verstand und sein Herz waren ganz auf Sieg ausgerichtet. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Er wußte, was er zu tun hatte; die Würfel waren gefallen. Beim vorangegangenen Herumtänzeln hatte er den Netzmann genau beobachtet und nach den Fehlern seines Gegners gesucht. Er ist ein bißchen zu schnell, dachte Murranus, zu ungestüm. Murranus sprang vor und riß seinen Schild nach links. Sein Schwert schnellte vor wie die Zunge einer Schlange. Der Netzmann folgte seinen Bewegungen; er wollte sich dem Kampf stellen. Murranus zog sich zurück. Der Gladiator wiederholte sein Manöver, bis er bereit war; dann schoß er erneut vor, zog sich jedoch nicht wieder zurück, sondern sprang blitzschnell nach rechts. Sein Gegner schleuderte überrascht das Netz aus und verfehlte sein Ziel. Murranus machte einen Satz auf ihn zu, benutzte seinen Schild wie einen Rammbock und schlug damit dem Netzmann den Dreizack aus der Hand. Der Netzmann wälzte sich im Sand und wollte aufspringen, aber es war zu spät. Murranus stand bereits über ihm und versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, der
ihn mit dem Gesicht nach unten in den Sand warf, und stieß dann die Spitze seines Schwertes in den Nacken seines Gegners. Der Netzmann blieb still liegen, während Murranus seinen Schild hob und die Beifallsrufe und den Applaus der Menge entgegennahm. Nun trat er zurück, ließ Schild und Schwert fallen und nahm den Helm mit dem Federbusch ab. Ein Sklave lief zu ihm und befreite ihn von den schweren Beinschützern. Ein anderer brachte einen Krug Wasser. Murranus trank daraus und goß sich Wasser über das Gesicht. Danach zog er seinen Gegner hoch und drückte ihm den Wasserkrug in die Hand. »Du warst zu schnell«, keuchte der Netzmann mit verschwitztem, sandigem Gesicht. »Ich hätte nie geglaubt, daß du das tun würdest.« »Du hättest es erwarten sollen.« Murranus grinste. »Wenn dein Gegner sich immer wieder vor und zurück bewegt, besonders, wenn er mit einem Schwert und einem schweren Schild bewaffnet ist, kannst du jede Wette darauf eingehen, daß er dich früher oder später von der Seite her angreifen wird. Ich habe mit dem Schild zugeschlagen, aber es gibt verschiedene Möglichkeiten. Zum Beispiel hätte ich mit meinem Schild dein Netz einfangen und dich an mein Schwert heranziehen können.« Er gab seinem Gegner einen Klaps auf die Wange. »Denk daran«, fügte er leise hinzu, »dann hast du vielleicht Chancen, zu überleben. In der Arena ist der Schild gefährlicher als das Schwert; er kann dein Netz fangen, deinen Dreizack stumpf machen, aber vor allem kann er dir einen Schlag versetzen wie ein Hammer. Und jetzt feiern wir mit einem Schluck Wein.« Sie gingen hinüber zu ihren Kameraden. Spicerius gratulierte Murranus, drückte ihm einen Becher Wein in die Hand, klopfte ihm auf die Schulter und lobte seine Strategie, brachte aber
auch seine Kritik vor. Murranus’ Blick traf den von Meleager; er nickte ihm zu. »Er ist total von sich eingenommen«, flüsterte Spicerius. »Einer von uns beiden wird wohl gegen ihn kämpfen und ihm eine Lektion erteilen müssen, was?« Eine Menschenmenge hatte sich um Meleager geschart und bombardierte ihn mit Fragen. Der Anführer der Daker starrte finster herüber. Agrippina flirtete ebenfalls mit dem Neuankömmling. »Ach, laß sie doch!« flüsterte Spicerius. »Solange sie mich in den ›Eselinnen‹ besucht, macht es mir nichts aus. Ich werde sie schon lehren, einen Gegner anzuhimmeln!«
Murranus sammelte seine Waffen ein und ging in das Bad, wo er zuerst in das warme Wasser und dann in das kalte tauchte. Er dachte an den soeben absolvierten Kampf. Er hoffte, seine Gegner wären dumm genug, zu glauben, daß er dieselben Tricks in der Arena wiederholen würde. Spicerius gesellte sich zu ihm und redete ununterbrochen von Meleagers Technik, worauf er achten, was er vermeiden müsse. Als nächstes begab sich Murranus in den Massageraum und legte sich auf eine Bank. Der Masseur bearbeitete und lockerte mit geübten Handgriffen und beruhigenden Ölen seine Muskeln. Murranus sog den Duft der Öle ein und merkte, wie er sich entspannte. Spicerius plapperte jetzt über das Fest, das Agrippina geplant hatte. Den frühen Nachmittag würden sie im kühlen Garten verbringen, und bei Einbruch der Dunkelheit würde die eigentliche Feier beginnen. Murranus döste ein und wurde vom Masseur geweckt, der ihm einen Klaps auf den Rücken gab und auf seine Kleider deutete, die auf einer Truhe neben der Tür ausgebreitet lagen.
Er band sich ein Lendentuch um und ging zu dem Mann, der die Wertsachen aufbewahrte, um seine Halskette, sein Armband und seine Ringe zu holen. Er zog die Sandalen an und trat zu Spicerius in den kühlen Kolonnadengang. »Weißt du, was?« Spicerius setzte seinen Weinbecher ab und wies auf den anderen Kolonnadengang, wo Meleager in ein Gespräch mit den Dakern vertieft war. Agrippina war anscheinend verschwunden. »Wir Gladiatoren«, fuhr Spicerius fort, »geben ja alle gern an, aber Meleager scheint sich seines Sieges gar zu sicher.« Er packte Murranus am Arm. »Möge Herkules mich segnen«, flüsterte er. »Was ist denn los?« Spicerius’ gehetzter Blick beunruhigte Murranus. »Du kennst das ja«, sagte Spicerius und verstärkte seinen Griff. »Du weißt, wie es ist, Murranus, wenn man im Tunnel steht und wartet, bis man in die Arena hinaustreten kann. Die Musik spielt, die Menschen schreien nach deinem Blut. Immer wieder habe ich erlebt, wie Gladiatoren, tapfere Männer, plötzlich furchtsam und verängstigt ausgesehen haben, und wenn man sie fragt, warum, sagen sie, sie hätten das Gefühl gehabt, sie seien von den Schwingen des Todes gestreift worden.« »Und?« fragte Murranus und befreite sich von Spicerius’ Griff. »Dieses Gefühl habe ich jetzt, Murranus.«
KAPITEL 10 »Es führt ein Weib zu der Tat an.« Vergil, Aeneis, I
Als sie den ludus magnus verließen, unterdrückte Murranus seine eigene quälende Unruhe und versuchte Spicerius zu beruhigen. Sobald sie von der Hauptstraße abgebogen waren und durch die vielen kleinen Nebenstraßen und Gassen gingen, war eine Unterhaltung unmöglich. Murranus dachte an Claudia und fragte sich, wann sie wohl zurückkommen würde. Er hatte von Boten und Dienstboten gehört, daß es in der Villa Pulchra nicht zum besten stehe, konnte aber nicht viel damit anfangen. Gerüchte über Morde und Brände schwirrten umher, und die Nachricht von irgendeinem Angriff auf die Villa war durchgesickert. Über diese Dinge diskutierte man nun auf dem Forum, während Murranus von Bekannten und Freunden in der Stadtgarnison erfahren hatte, daß man den Küstenschutz verstärkt hatte und Kriegsgaleeren ausgelaufen waren, obwohl Hochsommer war und Frieden herrschte. Über all das dachte Murranus nach, während er Spicerius durch die lauten Straßen mit ihren Verkaufsständen führte. Das Geschäft hatte kurz vor Tagesanbruch begonnen, und den Weinhändlern war es gelungen, die Säulenvorbauten in den Kolonnaden zu ergattern; ihre Weinbeutel und Flaschen hingen als Werbung an den Säulen. Die Fleischer und Fischhändler hatten ebenfalls alle Hände voll zu tun. Barbiere hatten ihre Stände unter den Bäumen aufgebaut; sie winkten mit ihren gepolsterten Hockern, um Kunden anzulocken. Die Köche, die ihre mobilen Herde in einem Karren und blutige Fleischstücke in einem anderen transportierten, gingen herum und suchten
einen geeigneten Platz, an dem sie weitab von den wachsamen Blicken der vigiles stehen und ihre Speisen verkaufen konnten. Die Erfolgreichen unter ihnen hatten bereits die besten Plätze in Beschlag genommen und waren sehr beschäftigt. Sie boten gegrilltes, gewürztes, in Feigenblätter gewickeltes Fleisch an. Wasserverkäufer schrien nach Kunden und behaupteten, in ihren Eimern sei das reinste Wasser von einer neu entdeckten Quelle auf dem Lande außerhalb von Rom. Mit billigen blauen Schmuckstücken behängte Händler priesen ihre Waren an; beim Kauf von zwei oder drei Stücken gab es ein Päckchen Schwefelhölzer gratis dazu. Murranus drückte sich an den Händlern vorbei und bog in eine Seitengasse ein, in der er einst ein möbliertes Zimmer gehabt hatte. Hier war alles beim alten. Der Gestank der Latrine, der Abfallgrube und des Misthaufens vermischte sich mit dem Geruch von Kräuteröl, brutzelnden Würstchen, grobkörnigem Brot und gekochtem Gemüse. Sie überquerten einen staubigen Platz, auf dem ein zerlumpter Schulmeister ein Gedicht deklamierte. Er war umgeben von einer Schar von Kindern, die unter einem Baum saßen und die Verse wiederholten; sie mußten schreien, um das Hämmern und Klappern aus den Werkstätten ihrer Väter rund um den Platz zu übertönen. Bettler – echte und falsche – schwärmten umher wie Fliegen über einem Kothaufen. Zecher und Radaubrüder, die von der letzten Nacht übriggeblieben waren und sich den schmerzenden Kopf und den flauen Magen hielten, schlichen auf der Suche nach Schatten und Wasser herum. Ein paar Leute erkannten den Gladiator. Murranus war froh, daß er sie ignorieren konnte, indem er beiseite trat, um einen prunkvollen Trauerzug vorbeizulassen – mit Flötenspielern, Hornbläsern, Schauspielern mit Masken, professionellen Klageweibern und einer Schar von kahlrasierten Priestern, die ihre Sprechgesänge so schnell skandierten, daß kein Mensch ihre Worte verstand.
Zwei Begräbniszüge der ärmeren Art hatten sich angeschlossen. Hier lagen die Leichen auf billigen, aufgeputzten Schubkarren; die Trauernden wollten vom kostenlosen Pomp des luxuriöseren Trauerzuges profitieren. Jetzt waren Murranus und Spicerius in den Armenvierteln, wo die Straßen und Gassen verliefen wie die Gänge in einem Kaninchenbau. In den Hausfluren lauerten Schatten, Prostituierte lockten flüsternd Kunden; Zuhälter winkten sie zu sich, die Hand am Messer. Raufereien und Streitereien waren an der Tagesordnung; mit Bratpfannen, Schöpflöffeln, Hämmern und Knüppeln bewaffnete Männer und Frauen verdroschen einander in den Hauseingängen oder wälzten sich über die Straße und schlugen aufeinander ein. Der Lärm verstummte, als eine Exekutionstruppe, angeführt von einem Offizier mit glitzernden Medaillen auf der Brust, vier Gefangene – Mörder und Einbrecher – zum Hinrichtungsplatz jenseits der Stadttore führte. Die Gefangenen waren bis auf einen Lendenschurz nackt und trugen die Querbalken für die Kreuze, an die man sie schlagen und in der prallen Sonne hängen lassen würde, bis sie starben. Sobald diese grausige Prozession vorbei war, hob der Tumult erneut an. Die Färber und Walker boten allen, die in ihre Töpfe urinierten, damit sie den Urin zum Gerben von Leder verwenden konnten, einen Gratisbecher Wasser an. Viele dieser kleinen Geschäftsleute unterstützten begeistert die Spiele und erkannten Murranus und Spicerius sofort, obwohl sich unter ihren Beifall auch Rufe wie »Schiebung!« und »Feigling!« mischten. Zum Glück wurden diese Beleidigungen in einer Vielzahl von Sprachen und Dialekten ausgestoßen; in den Slums wohnten Menschen aus allen Teilen des Reiches, von Britannien im Westen bis zum Kaspischen Meer im Osten. Murranus warf ab und zu einen Blick auf Spicerius, der noch immer besorgt und beunruhigt wirkte. Murranus war ebenfalls
unbehaglich zumute. Spicerius war normalerweise arrogant und distanziert, sehr von sich eingenommen und prahlte gern; doch seit jenem unglückseligen Vorfall war er still und verschlossen. Er suchte Murranus’ Gesellschaft und war ihm offenbar dankbar, daß er seine Schwäche in der Arena nicht ausgenutzt hatte. Schutz, dachte Murranus, das war es wohl, worauf Spicerius aus war, als sei er bedroht worden und glaube, Murranus könne ihm helfen. Spicerius besuchte jetzt häufig die »Eselinnen«, und die einzigen aus seinem Gefolge, die er gern um sich zu haben schien, waren der alte Militärarzt Valens und die ausgelassene, stets farbenprächtig gekleidete Agrippina. Am Ende einer schmalen Straße fiel Murranus’ Blick auf etwas Buntes in einem schattigen Eingang zu seiner Rechten. Dort standen ein Zauberer und eine Hexe mit bemalten Gesichtern und Halsbändern und Knochen um den Hals. Zwischen ihnen hockte an einer silbernen Kette ein häßlicher ägyptischer Pavian, während eine abgerichtete Krähe mit glänzenden Augen und einem scharfen Schnabel auf der Schulter des Zauberers saß. Mit den gelben Ringen um die Augen und den blau bemalten Wangen sahen der Zauberer und die Hexe aus wie makabre Statuen. Der Zauberer hob ein kleines schwarzes flabellum, einen Fächer aus Rabenfedern, und winkte sie zu sich. Murranus spuckte in ihre Richtung aus und ging weiter. Er war froh, als sie die »Eselinnen« erreichten, wo sie gleich hinter der Eingangstür der fröhlich lachende Hermes und die kleine Votivstatue des Gottes Priapus erwarteten. Polybius kam, gefolgt von Poppaoe, eilig aus der Küche gelaufen, um sie willkommen zu heißen. Die anderen Gäste riefen ihnen Begrüßungsworte zu und hoben ihre Becher. Sie alle waren von ihren diversen Geschäften hierhergekommen, um ihren Hunger und Durst zu stillen. Simon der Stoiker saß auf einem
Hocker und redete auf einen Wandergelehrten in verstaubten Kleidern ein. Anscheinend hatte ihm Simon ein Getränk spendiert und bemühte sich jetzt nach Kräften, ihn zu Tode zu langweilen. Petronius der Zuhälter sagte zu einigen Gästen, wenn sie behaarte Hintern hätten, könne er ihnen ein Pulver verkaufen, das unerwünschte Haare entfernen, und Wachs, das ihre Hinterteile glattpolieren würde. Seine Zuhörer bogen sich vor Lachen. Natürlich schenkte ihm kein Mensch Glauben, daher erklärte Petronius seinem staunenden Publikum, er habe dieses Mittel während seines Militärdienstes entdeckt, wo er für besondere Verdienste mit der hasta pura ausgezeichnet worden sei. Das wurde mit »Beweise es!« und »Wo ist der kleine silberne Speer?« quittiert. Draco, ein grauhaariger ehemaliger Soldat, der drei Stockwerke höher wohnte, war der Anführer des Angriffs. Der Alte trug immer einen draconarius, eine nachgemachte, gefiederte Standarte, bei sich und behauptete, solch eine Standarte habe er über die Donau getragen. Er konnte alle Stämme an ihrem südlichen Ufer aufzählen, wenn ihm jemand zuhörte – was sehr selten der Fall war. Murranus plauderte mit Polybius, grüßte die anderen Gäste und verweilte absichtlich länger im Speisesaal. Er wollte, daß sich Spicerius wohl fühlte, daß ihm diese buntgemischte Gruppe von Schlitzohren und Exzentrikern zujubelte und Trost spendete. Januaria drängte sich mit schwingenden Hüften zu ihnen durch und himmelte Spicerius an. Murranus fragte Polybius, ob er etwas von Claudia gehört habe. Der Gastwirt schüttelte den Kopf und antwortete, es seien ihm Gerüchte über irgendwelche Probleme zu Ohren gekommen, er wisse aber keine Einzelheiten, und ob Murranus mit in den Garten gehen wolle? Dieses Privileg behielt Polybius seinen »geschätzten Gästen« vor, wie er sie nannte, und Leuten wie
den Polizisten des Viertels, mit denen er lieber außerhalb der Hör- und Sichtweite von Neugierigen redete. Er führte die beiden Gladiatoren durch den Speisesaal und die Küche nach draußen. Beim Duft des Fleisches, das dort brutzelte, lief Murranus das Wasser im Mund zusammen. Sie gingen über das Gras, an einem kleinen Taubenschlag vorbei und gelangten in den Obstgarten, wie Polybius den schattigen Winkel mit den steinernen Bänken und einem kleinen Karpfenteich großspurig nannte. Zum x-ten Mal – und Murranus brachte es nicht übers Herz, ihn zu bremsen – erklärte ihnen Polybius seinen Gemüsegarten und die Kräuterbeete, auf denen Kopfsalat und Zwiebeln, Kerbel, Koriander, Fenchel und Petersilie wuchsen, und erläuterte in epischer Breite, daß er den Obstgarten vergrößern wolle, um nun Quitten und Haferpflaumen zu ziehen. Er erbot sich, ihnen auch seinen kleinen Weingarten zu zeigen, doch Murranus klopfte ihm lachend auf die Schulter und sagte, ein Teller Fleisch und ein Krug Wein reichten. Die beiden Gladiatoren setzten sich in den Schatten. Polybius servierte ihnen ihr Mahl und schwatzte noch immer über seinen Wein; er schwor bei seinem Penis, daß er der beste von ganz Rom sei. Als er gegangen war, hob Murranus seinen Becher zu einem Trinkspruch. »Friede«, flüsterte er. »Zumindest, bis wir einander in der Arena gegenüberstehen.« Spicerius trank einen großen Schluck. »Ich habe sie gesehen«, murmelte er. »Du weißt schon, den Zauberer und die Hexe.« Er unterdrückte ein Schaudern. »Ich habe einen Bannspruch gegen sie ausgesprochen.« »Hör auf mit diesen finsteren Gedanken«, antwortete Murranus. »Schone dich für den Kampf.« »Einer von uns wird dabei sterben.« »Nicht unbedingt«, antwortete Murranus fröhlich.
Spicerius wandte den Blick ab. »Ich wollte dir etwas sagen, Murranus.« Er stellte seinen Weinbecher ab und streckte den rechten Arm aus. »Siehst du diese Tätowierung, den purpurnen Kelch? Ich habe dir erzählt, daß die Mitglieder eines Vereins von Zechern diese Tätowierung tragen.« »Und ich habe dir geglaubt.« »Und zwar zu Recht. Aber ich werde sie mir wegmachen lassen – ich möchte sie nicht mehr tragen. Weißt du, Murranus, manche Männer haben unter diesem Kelch einen Kreis eintätowiert, der etwas ganz anderes bedeutet: Diese Männer besuchen besondere Bordelle, in denen sie gegen Kinder gewalttätig sein können.« Murranus starrte ihn ungläubig an. »Du weißt ja, wie es in der Welt zugeht, Murranus, je tiefer man gräbt, desto widerlicher wird sie. Ich mag Frauen, besonders die reichen, molligen, aber es gibt Dinge, die sind wie Straßen, durch die man einfach nicht geht. Der Mann, der deine Claudia überfallen hat – ich nehme an, er war einer von ihnen. Als wir uns das letzte Mal trafen, konnte ich sehen, daß sie sehr verstört war, also habe ich Erkundigungen eingezogen. Über solche Sachen erfährt man im allgemeinen nichts. In diesen Häuser verkehren ziemlich wohlhabende Männer, Gladiatoren oder Senatoren.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist alles, was ich weiß.« »Und der Vorfall im Amphitheater?« fragte Murranus. »Die Vergiftung?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Spicerius. »Der Wein war nicht vergiftet, obwohl man nachher Spuren von irgend etwas darin gefunden hat. Ich bin sicher, daß ich vergiftet wurde, bevor ich ihn trank. Aber hast du die Gerüchte gehört, Murranus? Diesmal wetten die Leute, daß du gegen mich gewinnst, nicht aber gegen Meleager.«
Murranus merkte, daß sein Freund jeden Moment wieder in düstere Stimmung verfallen konnte. Er fragte ihn noch einmal nach dem eintätowierten purpurnen Kelch, doch Spicerius erklärte, er habe ihm alles gesagt, was er wisse, also wechselte Murranus das Thema. Spicerius aß viel, trank aber nur wenig, und als ihn Murranus darauf ansprach, sagte er lachend, daß er sich für den Abend schone – Agrippina hätte ihm versprochen, auf ihre spezielle Art mit ihm zu feiern. Polybius, der gekommen war, um die Teller zu holen, und das gehört hatte, benahm sich daraufhin wie ein Verschwörer: Er tippte sich mit dem Finger an die Nase, zwinkerte Spicerius zu und erklärte, das Zimmer sei bereit, wenn er bereit sei. Der Nachmittag schritt voran. Spicerius wurde schläfrig, also nahm er seinen Becher und ging hinauf in den Raum, den Polybius großspurig als »Venuszimmer« bezeichnete. Murranus, dessen Neugier geweckt war, beschloß, ihm zu folgen. Das Zimmer lag im zweiten Stock und bot einen Blick auf den Garten; es war ausgestattet mit einem großen Bett mit stabilen Pfosten, dicker Matratze und einer rosa-goldenen Nackenrolle. Auf einer reichverzierten, viereckigen Truhe stand ein ziemlich fleckiger Spiegel. Der Fußboden war mit polierten Dielen einer seltenen Holzart belegt. Polybius erklärte, er habe die Dielen entdeckt, als er das Haus gekauft habe, und beschlossen, sie aufzupolieren. Die Wände waren gekalkt, und Murranus mußte sich beherrschen, um nicht zu lachen, als er die primitiven Malereien sah, auf die Polybius so stolz war. Eine dicke, aufgedunsene Venus hüpfte in einem Garten herum, umgeben von noch pummeligeren Putten, die aussahen, als seien sie viel zu schwer, um fliegen zu können. Spicerius ließ sich auf das Bett nieder, und Murranus kehrte wieder in den Garten zurück, um sich in den Schatten zu setzen. Bald spürte er die Wirkung des Weins und der trägen Hitze des Sommers; als er einem prächtigen Schmetterling
zusah, der zwischen den Blumen herumflatterte, wurden seine Augen schwer, und er döste ein. Eine Weile später schreckte er aus seinem Schlaf auf. Er merkte, daß es bereits spät am Nachmittag sein mußte, denn der Wind hatte zugenommen, und die Schatten waren länger geworden. Ja, und noch etwas hatte er gespürt: Jemand hatte ihn an den Haaren gezogen! Er wirbelte herum. »Claudia!« Er sprang von dem steinernen Sitz auf und packte sie. »Wann bist du…« »Laß mich doch atmen!« keuchte sie. Er ließ sie los. Sie setzte sich ins Gras, zupfte an den Halmen und schilderte rasch, was in der Villa Pulchra passiert war und daß sie die Kaiserin um Erlaubnis gebeten hatte, die Villa verlassen zu dürfen. »Sie kommen ohnehin alle zurück«, sagte sie lächelnd. »In vier Tagen wirst du gegen Spicerius kämpfen. Wo ist er eigentlich?« »Der wird wohl tief und fest schlafen. Also, erzähl mir noch einmal, was geschehen ist.« Claudia wiederholte ihren Bericht über die Morde, den Brand und den Angriff. Sie erwähnte vage, daß sie Meleager kennengelernt habe, verschwieg aber, daß er der Mann war, der ihr Leben zerstört hatte. Sie fand, das könne warten. Sie wollte vorsichtig sein; schließlich gab es im Augenblick andere Probleme. Eine Zeitlang unterhielten sie sich über die Vorgänge in der Villa Pulchra und die Ereignisse in Capua. Murranus erklärte, er wisse, daß es in dieser Stadt eine große christliche Gemeinde gab, von deren Mitgliedern viele unter Diokletian Schlimmes erlitten hatten. Die Menschen, von denen sie sprach, hätte er ebenfalls kennengelernt, aber nur flüchtig. Doch als ihm Claudia schließlich von den komplizierten Wettsystemen erzählte und daß Chrysis Tausende Sesterzen auf ihn gesetzt hatte, war er verblüfft.
»Mir ist das alles ein Rätsel.« Murranus rieb sich das Gesicht. »So läuft es immer bei den Spielen. Der eine Gladiator ist Favorit, der andere nicht, und es ist an der Tagesordnung, daß jemand versucht, den Ausgang zu beeinflussen, um an das Geld zu kommen. Aber hör dir einmal an, was ich zu erzählen habe.« Er berichtete vom Besuch der Daker, von Spicerius’ Vorahnungen und seinen eigenen Ängsten. »Wird das ein Kampf auf Leben und Tod?« fragte Claudia. »Das bezweifle ich«, antwortete Murranus. »An einem guten Tag sind Spicerius und ich gleich stark. Dann legen wir einen guten Kampf hin. Wenn einer von uns zu Boden geht, werden die Zuschauer nicht seinen Tod verlangen; dasselbe gilt für Meleager. Wir kämpfen hier nicht um das Blut des Gegners, sondern um die Siegerkrone.« Er streichelte Claudias Gesicht. »Und mach dir keine Sorgen wegen der Wetten. Sag deinem Onkel und erst recht Chrysis, sie sollen alles, was sie haben, auf mich setzen; ich werde sie nicht enttäuschen. Aber« – er nahm ihr Gesicht in die Hände – »warum bist du wirklich zurückgekommen?« »Nun, der Hof kehrt zurück nach Rom.« »Nein, ich meine den wahren Grund.« »Um dich zu sehen«, sagte sie lächelnd. »Und um mit Sallust dem Sucher zu sprechen. Es ist Zeit, daß mir jemand hilft. Ach, übrigens«, fuhr sie fort und deutete auf die Taverne hinter ihrem Rücken, »mein Onkel hat einen neuen Helfer. Er heißt Narcissus der Geschickte. Er ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe. In der Villa Pulchra gibt es für ihn nichts zu tun, und er kennt niemanden in Rom, daher…« »Murranus!« Die Frauenstimme war durch den ganzen Garten zu hören. Der Gladiator stöhnte auf. Agrippina trippelte in einem wunderschönen weißen Leinenkleid und einer bunten Stola
über den Schultern herbei. Und wieder funkelten ihre Schmuckstücke, Armbänder und Ohrringe, tiefrot. »Murranus!« Sie schwang ihr langes, wohlfrisiertes Haar zurück und berührte vorsichtig ihr kunstvoll bemaltes Gesicht. Ihr Parfüm übertönte jeden anderen Geruch. »Murranus«, sagte sie noch einmal und stützte die Hände in die Hüften. Claudia ignorierte sie vollkommen. »Sag diesem Tölpel Polybius, daß ich Spicerius sehen will.« »Der ist in seinem Zimmer und schläft«, antwortete Murranus. »Er erwartet dich.« »Nun, ich habe mich ziemlich verspätet. Ich war oben, aber die Tür ist abgeschlossen, und er macht nicht auf. Polybius, dieser Tölpel, ist zu sehr damit beschäftigt, mit seinen Gästen darüber zu witzeln, daß sie den Leuten ihre Hintern polieren wollen.« »Der Tölpel«, erwiderte Claudia und sprang auf, »ist mein Onkel. Wir sind sehr wählerisch in bezug auf unsere Gäste, du folgst jetzt am besten mir.« Sie gingen in den Speisesaal, wo Polybius, gegen eine der Holzsäulen gelehnt, Petronius gerade anbot, ihm den Hintern mit Wachs zu polieren. Claudia nahm ihren Onkel am Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr; er seufzte, wischte sich über die Stirn und stieg mit ihr die Treppe hinauf. Vor dem Venuszimmer blieben sie stehen und klopften und hämmerten an die Tür. Claudia blickte den Gang hinunter. Am Treppenabsatz stand Narcissus, er wirkte ziemlich verängstigt. Claudia wurde bewußt, wie ungewohnt der Lärm einer Taverne für ihn sein mußte. Oceanus kam herauf und schob die anderen beiseite. Claudia spürte ein erregtes Kribbeln in ihrem Bauch. Irgend etwas stimmte hier nicht, das sah sie an Murranus’ Gesicht. Oceanus schüttelte ungläubig den Kopf und sagte, er sei sicher, daß Spicerius nicht weggegangen war.
Wieder versuchten sie, die Tür zu öffnen, und schließlich wies Polybius Oceanus und Murranus an, sie aufzubrechen. Sie probierten es zuerst mit ihren Schultern, bis Polybius eingriff und Murranus ermahnte, sich nicht zu verletzen. Dann wurde aus dem Keller ein hölzerner Rammbock geholt. Damit bearbeiteten sie die Tür, bis sie aufsprang und an ihren ledernen Angeln hing. Claudia beeilte sich, das Zimmer als erste zu betreten. Spicerius lag ausgestreckt auf dem Bett, neben ihm ein Weinbecher. Halb aufrecht lehnte er an der Nackenrolle, das Gesicht zur Seite gedreht, Mund und Augen offen. »Bei den Eiern eines Schweins«, stöhnte Polybius. »O nein, nicht hier.« Claudia stieg auf das Bett. Alle Eleganz und Erhabenheit eines Gladiatoren waren von Spicerius abgefallen; er hatte das graue, faltige Gesicht eines alten Mannes, und an den Mundwinkeln klebte weißer, eingetrockneter Speichel. Sie befühlte seinen Arm. Er war kalt. Agrippina schrie. Andere Gäste kamen herauf. Claudia stieg vom Bett herunter und wischte sich die Hände ab. Dann ergriff sie den Becher und schnupperte daran: Er strömte einen bittersüßen Geruch aus. Sie nutzte die Aufregung und das Chaos, um rasch das Bett und den Fußboden rundherum abzusuchen, fand aber nichts als ein kleines, quadratisches Stück Pergament mit Liebessymbolen. Es war vergilbt und zerknittert und steckte zwischen den Falten der Matratze. »Wir müssen die verdammte Polizei holen«, sagte Polybius stöhnend. »Das wird wieder Fragen geben, nichts als Fragen.« Claudia sagte zu ihrem Onkel, er solle die kreischende Agrippina hinunterbringen, und bat Murranus, Narcissus zu ihr zu schicken und dann den Gang zu bewachen und niemanden durchzulassen. Sie spürte, wie der Zorn in ihr brodelte. Am liebsten hätte sie laut geschrien, nicht nur wegen der Gefahr, in
der sich ihr Liebster befand, sondern auch weil dieser grausige Tod all ihre Pläne über den Haufen warf. Sobald sie in den »Eselinnen« angekommen war, hatte sie Polybius gebeten, einem der Küchenjungen aufzutragen, Sallust den Sucher zu holen. Sie wußte, daß sie im Fall des verschwundenen heiligen Schwerts nur wenig Zeit hatte, ihren Verdacht zu beweisen und die Reliquie wiederzubekommen. Sie starrte die Leiche an und hatte ein schlechtes Gewissen wegen ihrer zornigen Gedanken. Dann ließ sie sich auf die Bettkante nieder, nahm Spicerius’ Hand und strich mit dem Daumen über seine kalten, harten Finger. »Es ist nicht deine Schuld«, flüsterte sie, »und wenn dein Schatten noch in der Nähe ist, wünsche ich dir für deine Reise, wohin immer sie dich führen mag, alles Gute.« Sie bemühte sich, ihre eigenen Probleme zu vergessen, und empfand tiefe Trauer über den brutalen Tod dieses jungen Mannes, der so voll Stolz, Kraft und Mut gewesen war. »Du hättest einen besseren Tod verdient«, sagte Claudia und hielt seine Finger fest, »als allein in einem Zimmer in einer Taverne zu sterben, ohne die Jubelrufe der Menge zu hören.« Jetzt merkte sie, daß Narcissus in der Tür stand; sie wandte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie durfte nicht vergessen, welch tiefe Kameradschaft die Gladiatoren verband. Murranus hatte diesen Mann als seinen Freund betrachtet. Sie mußte alles tun, um zu helfen. Claudia untersuchte die Leiche sorgfältig. Spicerius’ Gesicht trug die häßlichen Zeichen eines gewaltsamen, plötzlichen Todes: Seine Wangen- und Kinnmuskeln wurden allmählich hart, die Augen waren nach oben gedreht, der Mund stand offen, die Lippen waren vorgewölbt, als wolle Spicerius noch immer würgen und sich erbrechen. Der Gladiator hatte eine einfache Tunika an; sein Gürtel und die Sandalen lagen am Boden. Claudia zog sie zu sich heran, nahm den Becher in die
Hand und atmete erneut den bittersüßen Geruch ein. Was war das? Sie steckte ihre Nase wieder in den Becher, hielt ihn dann Narcissus hin und gab ihm zu verstehen, daß er ihn behalten solle. Draußen marschierte Murranus wie die diensthabende Wache auf und ab. Unten im Speisesaal kreischte und heulte Agrippina. Claudia legte den Kopf schief und hörte aufmerksam zu. Jetzt veränderte sich die Stimme dieses verwöhnten reichen Flittchens allmählich. Trat anstelle von Kummer jetzt Wut? Stieß sie Flüche aus? Erhob sie Beschuldigungen? Würde man Polybius oder Murranus der Tat bezichtigen? Claudia sah sich in der billigen Kammer um, die so anders war als die Zimmer in der Villa Pulchra. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie und Narcissus die Villa verlassen hatten. Claudia war zur Augusta gegangen, um die Erlaubnis dazu einzuholen; sie hatte erklärt, daß sie in Rom nützlicher sein könne als in der Villa und daß der Hof ohnehin bald in die Stadt zurückkehren werde. Außerdem hatte sie Helena gebeten, den Rest der Philosophen hierzubehalten und ihnen nicht zu gestatten, nach Hause zu fahren, bis die drei Mordfälle aufgeklärt waren. Die Antwort der Augusta war häßlich, unhöflich und hart gewesen. Sie hatte Claudia mit einem Fingerschnipsen entlassen und ihr gesagt, sie solle sich wieder in ihr Elendsquartier scheren. Als Claudia sich zurückzog, folgte sie ihr bis zur Tür und brüllte, es sei ein Jammer, daß ihr einige ihrer Dienstboten nicht so gute Dienste leisteten wie sie ihnen. Sobald Claudia außer Sichtweite war, machte sie eine ungehörige Geste in Richtung der kaiserlichen Gemächer und rannte dann in ihr Zimmer, um hastig ihre Habseligkeiten zu packen. Narcissus war ihr wie ein Schatten gefolgt. Er hatte es nicht erwarten können, von der Villa wegzukommen und nach Rom zu gehen, doch jetzt hatte er Angst vor der ungewissen
Zukunft. Claudia schloß die Augen. Es war wichtig, Narcissus in ihrer Nähe zu behalten. »Bittere Mandeln!« Claudia ließ die Hand des Toten los. »Bittere Mandeln!« wiederholte Narcissus. Er hielt ihr den Becher hin. »Bittersüß«, erklärte er. »Der Saft bitterer Mandeln kann ein tödliches Gift sein; es riecht nach Mandeln.« »Woher weißt du das?« »Weil ich schon in mehr Leichen geschnitten habe als du in Fleischstücke, Herrin.« Dann redete er weiter: »Aber wo werde ich wohnen, was werde ich tun, wie werde ich – « »Bittere Mandeln«, sagte Claudia scharf und hob die Hand. »Vergiß alles andere, Narcissus. Du wirst hier schlafen und gut essen, also mach dir keine Sorgen; erzähl mir alles über Mandeln.« »Mandelmilch.« Narcissus schnitt eine Grimasse. »So haben wir das in Syrien genannt. Es ist nicht wirklich Milch, mehr ein Saft; er wird aus einer bestimmten Sorte von Mandeln gewonnen, das Gift, meine ich, und dann destilliert. Es ist sehr wirksam.« Er beugte sich mit ernstem Gesicht hinunter. »Ich kann dir gar nicht sagen, Herrin, wie oft ich die Leichen von Männern und Frauen aufgeschnitten und diesen bittersüßen Duft gerochen habe! Oh, ich rede nicht viel darüber, aber ich weiß es! Geh in die Armenviertel und frag die Zauberer, die Giftjungen – die können dir alles darüber erzählen. Trink einen Schluck von dem Saft, einen guten Schluck, und alle deine Sorgen sind vorbei. Weißt du, Herrin, es gibt Gifte, die bringen das Herz sofort zum Stillstand.« Narcissus ging um das Bett herum. »Aber das brauche ich dir nicht zu sagen; schau dir nur das Gesicht dieses armen Teufels an. Die Haut ist gesprenkelt und bläulich, die Halsmuskeln sind verkrampft, die Haut fühlt sich so hart an, als wäre er seit Stunden tot. Aber warte nur«, fuhr er fort, »in ein paar weiteren Stunden werden Flecken
auftauchen.« Narcissus befühlte den Hinterkopf des Gladiators. »Ah, so etwas habe ich mir schon gedacht. Er hat einen leichten Bluterguß; hier hat er sich in seinen Todesqualen den Kopf verletzt.« »War es ein schneller Tod?« »Wie ein Pfeil mitten ins Herz, Herrin. Ein paar Zuckungen, ein paar Krämpfe, es müssen furchtbare Schmerzen gewesen sein. Aber lassen wir ihn nicht so liegen.« Claudia half ihm, die Leiche an den Füßen geradezuziehen. Sie erschrak, als aus der Lunge des Toten Atem entwich. »Er ist noch nicht lange tot.« Narcissus deutete auf den Becher. »Ein guter Becher süßen Weins, fruchtig und würzig. Ich habe gehört, wie Polybius sagte, er habe ihm den Wein serviert. Bevor du fragst, Herrin, das ist nur das Getränk, das den Geschmack übertönen soll. Aber kümmere dich nicht um die Toten, sondern um die Lebenden! Dein Murranus, ist das derjenige, von dem du mir auf dem Weg hierher erzählt hast? Nun, Gladiator hin oder her, Champion hin oder her, er steckt in großen Schwierigkeiten. Hätte er nicht einen Kampf gegen diesen…« Claudia sprang auf und fauchte Narcissus an, er solle den Mund halten. Dann begann sie das Zimmer gründlich zu durchsuchen. Sie besah sich die Leiche, Spicerius’ Geldbeutel und seine Kleider genau, doch außer ein paar Münzen, einem Dolch, einigen Schmuckstücken und einem Amulett, das Glück bringen sollte, konnte sie nichts finden. Sie wußte, dieses Zimmer hatte keine geheimen Eingänge, und die Vorstellung, jemand sei durch das Fenster hereingeklettert, war lächerlich. Was war also tatsächlich passiert? Selbstmord oder Mord? Das einzige, was sie entdeckt hatte, war dieses Stück Pergament mit dem Liebeszauber. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es noch einmal. Darauf war ein Herz gezeichnet, darüber standen die Worte »Amor vincit
Agrippinam« und darunter »Amor vincit Spicerium«. »Agrippina ist von Liebe überwältigt« und »Spicerius ist von Liebe überwältigt«. Sie strich mit dem Daumen über das Pergament, schnupperte daran, doch das einzige, was sie roch, war Agrippinas schweres Parfüm. Gereizt setzte sich Claudia auf einen Hocker. »Nichts!« fauchte sie. »Narcissus, geh und hole Polybius und Murranus. Sag Oceanus – das ist der große Dicke, du hast ihn kennengelernt –, er soll die Treppe bewachen. Bitte nur meinen Onkel und Murranus, zu mir zu kommen.« Kurz darauf betraten die beiden Männer das Zimmer. Claudia versuchte die Tür zu schließen, aber es war sinnlos. Die Riegel oben und unten waren schwer und stabil. »Sagt mir, was geschehen ist«, bat sie und setzte sich wieder auf das Bett. Polybius und Murranus berichteten, daß sie mit Spicerius in den Obstgarten gegangen seien, wo Murranus mit dem Gladiator gegessen und getrunken hatte. Spicerius habe ein wenig verschlossen gewirkt, sich aber auf sein Treffen mit Agrippina gefreut. Er sei mit seinem Wein in das Venuszimmer hinaufgegangen, um ein Schläfchen zu halten, bevor seine Freundin eintraf. »Und niemand ist hinaufgekommen«, betonte Polybius. »Bevor du davon anfängst, Claudia, es ist kein Dienstbote und niemand aus der Taverne diese Treppe hinaufgestiegen. Wenn Spicerius etwas gewollt hätte, hätte er danach schicken können. Ich war schon ein wenig beunruhigt, weil er so still geworden war, aber ich störe doch niemanden.« »Es ist nichts Verdächtiges vorgefallen?« »Nichts«, erwiderte Polybius. »Niemand kann ohne mein Wissen den Garten betreten, und es waren keine verdächtigen Typen hier. Ich meine«, fügte er grinsend hinzu, »abgesehen von unseren üblichen Nachmittagsgästen.«
»Murranus?« fragte Claudia und wandte sich zu ihm. Der Gladiator lehnte an der Wand und blickte hinauf zur Decke. »Besteht die Möglichkeit, daß Spicerius Selbstmord begangen hat?« »Nein, Claudia. Als Krieger hätte er es in der Arena darauf ankommen lassen. Das einzige, wovor sich der arme Teufel fürchtete, war ein weiterer Anschlag.« »Also wurde er ermordet«, schloß Claudia. »Irgendwie ist jemand in dieses Zimmer gekommen und hat ihm Gift in den Becher getan. Doch das ist unmöglich; wie du sagst, Spicerius war Gladiator, er hätte jeden, der hereingekommen wäre, gestellt.« »Und außerdem hätte ich auch davon gewußt«, sagte Polybius stöhnend. »Dir ist klar, was man sagen wird, nicht wahr, Claudia?« Er blickte sie unter seinen buschigen Augenbrauen an. »Man wird behaupten, daß ich oder Murranus oder wir beide das Gift in seinen Becher getan haben, bevor er den Obstgarten verließ. Die dumme Pute da unten beginnt schon, diesen Unsinn zu verbreiten.« »Ignoriere sie.« »Das würde ich ja gern tun«, jammerte Polybius, »aber es versammelt sich bereits eine häßliche Menschenmenge, drinnen und draußen.« »Ich hatte Spicerius gern«, rief Murranus. »Ich habe ihn nicht umgebracht, er hat nicht Selbstmord begangen, aber jetzt heißt es, an meinen Händen klebt Blut.« Er stand da und holte tief Luft. »Nun werde ich gegen Meleager antreten, und alle werden auf ihn setzen. Ach, übrigens, am Fuß der Treppe hat ein Mann gestanden und aufmerksam zugehört. Und dann ist er immer wieder zu den Dienstboten in die Küche gegangen und hat ihnen die Neuigkeiten mitgeteilt.« »Ach, der!« Polybius verdrehte die Augen. »Das ist Mercurius der Bote, der Geschichtenerzähler und Herold des
kleinen Mannes.« Er klopfte Murranus auf die Schulter. »Wenn Mercurius davon erfahren hat, dann weiß es bei Einbruch der Dunkelheit halb Rom. Also, gehen wir hinunter und treten wir diesen Mistkerlen gegenüber.« Es klopfte an der Tür; Valens, der alte Militärarzt, trat ein und verbeugte sich vor Claudia. Seinen abgetragenen Umhang an sich gedrückt, durchquerte er das Zimmer und blickte hinab auf die Leiche. Claudia beobachtete ihn aufmerksam und merkte am Zucken seiner Schultern und der Art, wie er sich über die Wangen wischte, daß Valens weinte. Außerdem war sie sicher, daß er mit den Fingern christliche Zeichen machte. Er warf ihr über die Schulter einen kurzen Blick zu und drehte ihr dann ganz den Rücken zu. Er beugte sich hinunter, flüsterte Spicerius etwas ins Ohr und berührte seine Stirn, die Augen und den Mund. Danach richtete er sich auf, schaukelte vor und zurück und sprach ein Gebet, das Claudia nicht verstand. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus, schlüpfte wieder in die Rolle des Arztes und untersuchte die Leiche und den Becher. Als er damit fertig war, nahm er sich einen Hocker und setzte sich Claudia gegenüber. »Was ist geschehen?« murmelte er. An diesem Mann war nichts Unechtes, keine Verstellung; seine unverblümte Ehrlichkeit gefiel Claudia, daher berichtete sie ihm alles, was sie herausgefunden hatte. Als sie damit fertig war, nickte Valens zustimmend. »Deine Diagnose ist richtig, Herrin. Ich wünschte nur, ich wüßte, warum Spicerius so besorgt war, und doch«, meinte er und räusperte sich, »ist es mir eigentlich klar. Ich weiß, es klingt wie ein Widerspruch, aber hast du an ihm irgendeine Veränderung bemerkt?« Claudia starrte die Leiche an. »Sein Gesicht«, erklärte Valens. »Er hat aufgehört, sich zu schminken; das war eine kleine Veränderung. Der Vorfall in
der Arena hat ihm wirklich angst gemacht. Daß einer der besten Gladiatoren von Rom so plötzlich, auf so gefährliche Weise, ohne Vorwarnung oder Erklärung seine Kraft, seine Stärke verlieren konnte. Weißt du, Claudia, Menschen wie dein Murranus erwarten eine ganz bestimmte Art von Tod. Ich hatte einmal einen Patienten, der fest davon überzeugt war, er würde an der Ruhr sterben, und dann versagte sein Herz. Spicerius war genauso. Er dachte, er würde nach einem heldenhaften Kampf sterben, nicht wie ein jämmerlicher Trunkenbold in den Sand speien.« Valens stand auf und versetzte dem Hocker einen Tritt. »Er hat sich so auf den heutigen Tag gefreut; er betrachtete Murranus als seinen Bruder und war gern mit ihm zusammen. Er wollte Agrippina sehen und die Nacht durchfeiern.« »Hat er Agrippina geliebt?« »Sie ist ein schamloses Flittchen, aber« – Valens tätschelte Claudias Kopf –, »ja, auf seine Weise hat er sie, glaube ich, geliebt, doch seine Ängste…« Valens verstummte, und seine Hand fiel auf die Hüfte. »Seine Ängste machten ihm zu schaffen. Er hatte seine Manneskraft verloren; er meinte, wenn er gegen Murranus siegte, würde er wohl nicht mehr in die Arena gehen.« »Er hat seine Manneskraft verloren?« fragte Claudia. »Ja, eine Zeitlang.« Valens grinste. »Das ist bei Männern keine Seltenheit, nichts Ernstes. Nun ja, ich warte jetzt auf die vigiles und nehme seine Leiche dann mit. Ich werde sie nach Sisium zurückbringen; das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Capua. Warst du schon einmal dort?« »Nein.« Valens ging zur Tür. »Ah, da kommen sie schon.« Er drehte sich wieder um. Die vigiles waren eingetroffen. Claudia hörte ihre schweren Stiefel auf der Treppe, und kurz darauf marschierte der
Kommandant der örtlichen Polizei, Saturninus, begleitet von seinen in Leder gekleideten Männern, ins Zimmer. Mit ihm kam Polybius, der ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen gab, daß sie gehen solle. Claudia wußte, was geschehen würde. Die Vigiles würden sich um die Leiche scharen, Becher des besten Weins der Taverne verlangen, von Polybius Bestechungsgeld annehmen, damit sie erklärten, daß der Tod nichts mit ihm zu tun hatte, und dann weiterziehen, um anderswo Ärger zu machen. Claudia huschte die Treppe hinunter in den Lärm des Speisesaals. Murranus wurde von den Stammgästen umringt, doch am anderen Ende des Raumes sah Claudia eine Gruppe von Fremden, die neben Agrippina saßen und sie trösteten. Oceanus war ebenfalls heruntergekommen und bewachte jetzt den Eingang. Er rief, die Taverne sei überfüllt, die neuen Gäste müßten draußen warten. Nach dem Lärm vor der Tür zu schließen, war der Pöbel aus den engen Nebengassen aufgescheucht worden. Die Leute versammelten sich draußen, um zu sehen, was passiert war, und um herauszufinden, ob sie irgendwie davon profitieren konnten. Murranus winkte Claudia zu sich, doch diese ignorierte ihn, schob sich durch die Menschenmenge hindurch und ging schnurstracks zu Agrippina. »Herrin.« Sie klopfte Agrippina auf die Schulter. »Ich muß mit dir reden.« »Ich spreche nicht mit Küchenmägden oder Tavernenpersonal.« Claudia beugte sich hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Agrippina sprang auf. Ihr Gesicht war aufgewühlt. »Ich… Äh… Ich…«, stotterte sie. »Im Garten«, schlug Claudia vor und drehte sich um, ohne auf eine Antwort zu warten.
Das Licht verblaßte, die Dämmerung legte sich wie ein Schleier über die Stadt. Claudia überquerte den Rasen, setzte sich auf ein ausgestochenes Grasstück und klopfte auf den Platz neben sich. »Ich wußte ja gar nicht, daß du die Augusta persönlich kennst.« In einer Wolke von Parfüm ließ sich Agrippina nieder und hob ihr Kleid hoch, damit es nicht über das Gras streifte. »Aber vor allem«, entgegnete Claudia, »kennt die Augusta mich. Also, was Spicerius anlangt – es tut mir wirklich leid, daß er gestorben ist, und Murranus ebenfalls. Wenn du aber anfängst, Beschuldigungen und falsche Verdächtigungen zu verbreiten, die du nicht beweisen kannst, werde ich die Augusta bitten, Gerechtigkeit walten zu lassen.« »Ich bin ganz durcheinander«, sagte Agrippina heulend. »Halt den Mund! Hast du eigentlich herausgefunden, was Spicerius damals in der Arena passiert ist – ich meine, die Ursache?« Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Oder heute nachmittag?« »Du weißt genausoviel wie ich.« Agrippina strich sich das tiefschwarze Haar aus dem Gesicht. »Ich habe Spicerius gestern abend gesehen und eingewilligt, mich hier mit ihm zu treffen. Es tat mir leid, daß ich mich verspätet hatte. Als ich eintraf, war er tot.« Ihre Stimme versagte. »Ermordet.« »Wieso bist du dir da so sicher?« »Nun, schau mal, ein gesunder Mann, ein Gladiator… Ich bin in die Taverne gekommen, um einen Liebhaber zu sehen, nicht eine Leiche. Ich habe deine Fragen beantwortet, mehr kann ich nicht sagen.« Agrippina stand auf. Claudia ließ sie gehen. Es war sinnlos, dachte sie, dieses Flittchen würde ihr doch nur erzählen, was sie wollte. Claudia lauschte mit halbem Ohr auf den Lärm der Taverne, der grüne Garten wirkte beruhigend auf sie. Als in der Taverne lautes Gebrüll ertönte, wurde ihr klar, daß sich die
Situation dort wohl zugespitzt hatte, und sie lief eilig wieder hinein. Der Speisesaal sah jetzt aus wie eine Arena. Murranus und Polybius standen neben der Küchentür, während durch die Tür am anderen Ende eine Gruppe von Menschen hereinströmte, deren Anführer grell wie eine Hure gekleidet war und sich mit einem rosa Fächer Luft ins Gesicht wedelte. Offenbar hatten die Neuankömmlinge sofort, nachdem die vigiles gegangen waren, die Taverne betreten. Eine Hand auf Agrippinas Schulter gelegt, stand ihr Anführer träge da, umringt von seiner Bande von Schlägern und deren Anhang, Zuhältern und schrill gekleideten Prostituierten aller möglichen Nationalitäten. Polybius brüllte sie an, sie sollten das Lokal verlassen. »Verschwindet von hier!« schrie er. »Verstehst du mich, Dacius? Du und deine Bande von verkommenen Subjekten.« »Oder es passiert – was?« Dacius trippelte auf seinen hochhackigen Sandalen vor. Er sah grotesk aus; nicht komisch, sondern sehr gefährlich, ein Mann der wechselnden Schatten mit einem maskulinen Gesicht und einer femininen Perücke. Sein Gang war großspurig und frech, sein Körper hart und muskulös, er lispelte, sein Tonfall war bedrohlich. Claudia kannte ihn und Typen wie ihn, Abschaum aus den Kloaken; sie zogen durch die Armenviertel wie Gift, das alles, was mit ihm in Berührung kommt, verpestet. Dacius’ Anwesenheit machte ihr angst. Ihr schien, seine Leute waren zu schnell hier aufgetaucht. Hatten sie Neuigkeiten erwartet? Oder waren sie hier, um Murranus, dessen hitziges Wesen bekannt war, zu provozieren? Der Gladiator hatte jetzt ein Hackbeil und einen Topfdeckel in die Hand genommen. Jeder andere hätte damit komisch ausgesehen, doch Murranus wirkte höchst gefährlich. Die Art, wie Dacius hin und her schaukelte und Murranus verspottete, gefiel Claudia nicht. Dabei warf er immer wieder einen Blick auf Agrippina, die affektiert zurücklächelte. Je
länger sie zusah, desto mehr war Claudia davon überzeugt, daß Agrippina bei der Vergiftung von Spicerius die Hand im Spiel gehabt hatte, sowohl jetzt als auch beim ersten Mal, aber welchen Beweis hatte sie dafür? Und vor allem, was für eine grausame Falle hatten sie Murranus gestellt? Würden sie ihn des Mordes beschuldigen, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, damit er sich nicht mehr konzentrieren konnte? Dacius hob die Hand, klappte den lächerlichen Fächer auf und zu, und seine Bande verstummte. »Weißt du, mein Bester«, sagte er gedehnt und stieß den Fächer in Murranus’ Richtung, »was immer du tust, mein lieber Junge, wie finster du auch dreinschaust, die Leute werden sagen…« – er legte den Fächer wieder ans Kinn und blickte hinauf zur Decke –, »ja, das werden sie sagen, daß du vor Spicerius Angst hattest.« »Das ist eine Lüge, du Stück Kamelscheiße!« Dacius wieherte vor Lachen. »Mein lieber Junge, sie werden sagen, daß du der letzte warst, der mit ihm getrunken hat, daß du ihn hierher eingeladen hast. Was ich aber wissen will, ist, was du mit Meleager vorhast.« Er trat einen Schritt vor und schlug den rechten Ärmel seines Gewandes zurück. Claudia sah den eintätowierten roten Kelch und den Kreis darunter. Ihr erster Impuls war aufzuspringen, doch sie wurde von Murranus abgelenkt, der sich auf Dacius stürzen wollte, jedoch von Polybius und Oceanus, die sich ihm in den Weg stellten, zurückgehalten wurde. Die Spannung in der Taverne stieg, Hände faßten nach Messern. Diejenigen, die einer tätlichen Auseinandersetzung aus dem Weg gehen wollten, schlichen sich bereits davon. »Beweise, daß ich unrecht habe«, höhnte Dacius. »Erbring eine Glanzleistung, erwürge einen Löwen mit bloßen Händen.« »Ich werde dich erwürgen!«
»Beweise deine Unschuld«, rief Dacius spöttisch, und seine Handlanger griffen den Refrain auf: »Beweise sie! Beweise sie! Beweise sie!« »Ich werde meine Unschuld beweisen«, entgegnete Murranus und stieß Polybius weg. »Am Tag des Kampfes, an dem Tag, an dem ich gegen Meleager kämpfe, werde ich an einer venatio teilnehmen und gegen ein Tier deiner Wahl, das auf mich losgelassen wird, antreten und es töten. Das ist mein Geschenk an den Schatten von Spicerius und der Beweis meiner Unschuld.« Murranus’ Worte wurden mit lautem Gebrüll aufgenommen. Claudia schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatten Murranus eine Falle gestellt, er war hineingetappt; und jetzt war sie zugeschnappt.
In der Galerie der Märtyrer, einem der größten Gänge in den Katakomben unter dem Friedhof, wo Sebastian, der Soldat, durch Pfeile getötet worden war, stand der Presbyter Sylvester und starrte ungläubig auf das geschändete Grab. Dies war ein überaus heiliger Ort, an dem die sterblichen Überreste jener, die während Diokletians Verfolgung brutal hingerichtet worden waren, ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Die Wände zu beiden Seiten des Gangs waren bienenwabenartig mit Regalen bedeckt, deren Fächer etwa einen Meter lang und ebenso tief waren. Man hatte die sterblichen Überreste der im Flavischen Amphitheater Ermordeten hierhergebracht, wenn möglich, identifiziert, sie mit dem heiligen Wasser und Weihrauch besprengt und in Gräber gelegt, die danach grob mit Gips verschlossen worden waren. Wo bekannt, hatte man Angaben über die Identität der Toten, ihren Stand und das Jahr ihres Todes in den Gips geritzt. Darunter war jeweils eine fromme Inschrift. Diese gläubigen Männer und Frauen und
ihre sterblichen Überreste mußten in Ehren gehalten werden, bis Christus sie am Jüngsten Tag wieder auferwecken würde, wenn er in all seinem Glanz zum Jüngsten Gericht erschien. Sylvester blickte den Gang hinauf und hinunter, der nun von Lampen und Fackeln erhellt war: ein unheimlicher, düsterer Ort, voller seltsamer Echos, als ob die Geister der Toten einander zuriefen; ein Ort der Geheimnisse und doch auch ein Ort des Friedens, ein scharfer Kontrast zu den letzten Stunden im Leben der Toten, die hier lagen. Die Katakomben waren jetzt unbenutzt, verlassen. Viele Menschen wollten nicht mehr an einen Ort zurückkehren, der noch immer an die Tage des Schreckens erinnerte. Wer sollte also hier einbrechen und verstaubte Knochen und Schädel herausholen? »Warum? Wann? Wer?« Sylvester drehte sich fassungslos zum Wächter der Gräber um, einem älteren Schreiber mit tintenbefleckten Fingern und abgehärmtem Gesicht, der seine Pflichten sehr ernst nahm. Der Schreiber hatte sich immer wieder dafür entschuldigt, daß er den Presbyter hergeholt hatte, aber was hätte er sonst tun sollen? Warum hatte jemand in ein einfaches Grab eingebrochen? Es enthielt keine Schätze. Er hatte bereits seine Besorgnis darüber ausgedrückt, daß der Friedhof zwar ein heiliger Ort war, an dem die Märtyrer begraben waren, aber auch für schwarze Magie benutzt wurde, daß sich Hexen und Zauberer hier trafen und im Mondschein Blutopfer brachten. »Wie lange ist es her?« fragte Sylvester. »Tage, vielleicht sogar Wochen. Ich muß so viel bewachen und habe so wenig Hilfe.« »Ja, ja.« Sylvester blickte hinunter auf die Gipsplatten, die auf dem Fußboden verstreut waren. »Hör zu«, befahl er, »untersuche diese Platten. Schau nach, ob ein Name darauf steht, irgendein Hinweis, wer in dem Grab lag.«
Sylvester ging weg, während sich der Schreiber und ein Helfer, leise vor sich hin murrend, niederknieten und die Gipsstücke wie ein Mosaik zusammensetzten. Sylvester spazierte den Gang hinunter und sprach ein leises Gebet, war jedoch mit den Gedanken woanders. Die Ereignisse in der Villa Pulchra freuten ihn; er bedauerte zwar die Morde und das Verschwinden des heiligen Schwertes, doch dafür war Claudia zuständig. Athanasius hatte gute Arbeit geleistet. Er hatte die Gunst der Kaiserin gewonnen, die sich bereit erklärt hatte, Militiades, den Bischof von Rom, zu treffen. Wenn es kühler würde und die Herbstwinde die glühend heiße Stadt etwas aufatmen ließen, würde Sylvester versuchen, die Kaiserin zu weiteren Zugeständnissen zu bewegen; vor allem sicherzustellen, daß die römische Kirche einen Sitz im Kriegsrat hatte, wenn Konstantin nach Osten marschierte. »Magister!« Sylvester kehrte um. Er nahm eine Öllampe aus einer Nische und kauerte sich hin, um den gesprungenen Gips zu untersuchen. Ein paar Teile fehlten, und manche Stücke waren zerbröckelt, doch der Schreiber hatte gute Arbeit geleistet. Sylvester zeichnete die Inschrift mit dem Finger nach. »Lucius et Octavia ex Capua, Christiani«, las er. »Christen aus Capua.« Er strich über das Datum auf dem Gips; es war das letzte Jahr der Herrschaft Diokletians, vor etwa vier Jahren. »Weißt du, wer das war?« Der Schreiber erhob sich müde. »Wie du weißt, Magister«, erklärte er, »habe ich in meinem Büro eine Liste der Christen jeder Stadt, und Chrysis hat mir die Namen der proscripti, der vom Staat Verurteilten, gegeben. Dort werde ich nachsehen.« Sylvester nickte. Sie liefen durch den Gang zurück zu einer kleinen Höhle, die der Schreiber pompös als sein »Schreibbüro« bezeichnete. Nach der Übergabe der Katakomben an den Bischof von Rom hatte Sylvester sofort
Wächter und Schreiber eingesetzt, die sich um den heiligen Ort kümmern und jedes Dokument registrieren sollten, das zur Identifizierung der hier Begrabenen dienen konnte. Während der Verfolgung waren die Menschen mitten in der Nacht aus ihren Häusern geholt, ohne Prozeß verurteilt und entweder sofort getötet oder in die Arena gebracht worden. Er hatte um kaiserliche Dokumente gebeten, und obwohl einige absichtlich vernichtet worden waren, hatte man ihm den Rest übergeben. Der Erste Schreiber war sehr stolz auf seine wohlgeordnete Ablage dieser Unterlagen in Weidenkörben, langen Kisten und Truhen. Sie zündeten Lampen an, und der Schreiber trug seinen Helfern auf, die benötigten Dokumente zu suchen. Sylvester setzte sich am Eingang nieder und blickte auf eine primitive Zeichnung an der Wand, die den triumphierenden Christus darstellte. Diese Höhle war einst ein heiliger Ort gewesen, wo Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandelt wurden. Er schloß die Augen und versuchte den Psalm für den Abend zu rezitieren, doch statt dessen döste er ein, bis ihn der Schreiber wachrüttelte. »Magister, wir haben etwas sehr Merkwürdiges entdeckt. Es gibt keinen Hinweis auf irgendein christliches Ehepaar oder Geschwister aus Capua, die diese Namen tragen. Hier ist jedoch eine vier Jahre alte Liste von Gefangenen, die die Namen der Bauern Lucius und Octavia enthält. Und außerdem steht in dem Dokument, daß sie keine Erben oder Verwandten hatten.« »Also ist ihr Land an den Staat gefallen?« »Genau, Magister. Und vor zwei Jahren wurden aufgrund des Toleranzedikts alle derartigen Besitztümer als Entschädigung der Kirche zurückgegeben.« Sylvester tappte mit einem sandalenbekleideten Fuß auf den Boden. »Was bedeutet das?« flüsterte er. »Wir haben einen
Mann und eine Frau, wahrscheinlich ein Ehepaar, von denen wir nichts wissen, und doch wurden sie offensichtlich als Christen getötet und ihr Besitz konfisziert. Man hat sie hierhergebracht und begraben, und jetzt wurden ihre Knochen aus dem Grab genommen. Hör mal«, sagte er und stand auf, »hast du einen Boten? Schicke ihn mit dieser Information zu einer Frau namens Claudia, die in den ›Eselinnen‹ nahe dem Flavischen Tor wohnt…«
KAPITEL 11 »Aber der Lenker und Leiter des Menschenlebens ist der Geist.« Sallust, Der Krieg mitjugurtha, I
Claudia saß im Garten. Der Morgennebel lag noch immer über der Stadt wie ein Schleier, die Vögel flogen umher und suchten im hohen Gras nach Krümeln und Samen. Caligula, der Tavernenkater, ein richtiger Mörder, schlich heraus, doch die Vögel erkannten die Gefahr, und Caligula mußte sich damit begnügen, finster den Baum hinaufzustarren, wo eine Drossel Warnlaute von sich gab. Claudia beobachtete den Kater und fragte sich, ob so der Tod war, ob er sich so aus der Dunkelheit an seine Beute heranpirschte. Am vergangenen Abend hatte der Tod die Taverne heimgesucht und Spicerius geholt. War er auch in der Ecke gesessen, als der arme Murranus in die Falle getappt war? Dacius hatte sichtlich entzückt reagiert und Murranus aufgefordert, sein Versprechen zu wiederholen, was dieser natürlich getan hatte. Jetzt waren die Würfel gefallen, und gewiß wußte schon ganz Rom davon; es gab kein Zurück mehr. Schließlich hatte Polybius Dacius und seine Bande gewaltsam hinausgeworfen, und erst da hatte es Murranus allmählich gedämmert, auf was für eine Ungeheuerlichkeit er sich eingelassen hatte. »Du hast angeboten, an einem Tag zweimal zu kämpfen«, lallte Oceanus, als sie ihre Sorgen im Wein ertränkten. Polybius hatte Murranus gedrängt, einen Rückzieher zu machen, doch der Gladiator war zu stur. Poppaoe hatte unter Tränen gefragt, was das alles zu bedeuten habe, und Oceanus hatte es ihr erklärt. Die Spiele würden mit der Hinrichtung verurteilter Verbrecher beginnen. Am Nachmittag stand dann
die venatio, die Tierhetze, auf dem Programm, bei der ein Gladiator gegen ein Tier kämpfen würde. Murranus hatte angeboten, sich mit irgendeinem wilden Tier zu messen, und Dacius hatte einen Stier gewählt, ein Tier, das Schnelligkeit, Schläue und Kraft in sich vereinte sowie die Entschlossenheit, alles, was sich ihm in den Weg stellte, zu töten. Die Hände vor das Gesicht geschlagen, hatte Claudia dagesessen und versucht, ihr Zittern zu beherrschen. Sie hatte die Kampfstiere aus Spanien und Nordafrika gesehen, sie hatte gesehen, wie deren Muskeln sich unter dem glänzenden Fell bewegten, hatte ihre kräftigen Beine bestaunt, mit denen sie zu einem wütenden Angriff ansetzten, und vor allem die weit auseinanderstehenden, gefährlich spitzen Hörner. Ein Stier konnte durch die Arena fegen wie ein Sturmwind und plötzlich die Richtung wechseln. Oceanus, weinselig und überzeugt von seiner Wichtigkeit, hatte ihnen keine Einzelheit erspart und beschrieben, daß ein Stier angreifen, täuschen und seine Hörner einsetzen kann wie ein fachkundiger Schwertkämpfer seine Klingen. Doch das war nur die halbe Gefahr. Murranus mußte gegen einen Stier antreten, unversehrt aus dem Kampf hervorgehen und sich eine Stunde später mit Meleager messen. Das war eine Falle! Claudia erkannte, wie geschickt sie gestellt war. Polybius hatte gemeint, das sei, als würde man einen Läufer mit Gewichten beschweren. Claudia richtete sich auf und holte tief Luft. Ihr war vor Angst und Zorn ganz schlecht, doch es gab noch etwas, woran sie gar nicht denken mochte. Sie hatte die Tätowierung auf Däcius’ Handgelenk gesehen und sich daran erinnert, was Spicerius Murranus erzählt hatte. Wenn das stimmte, dann waren Meleager und dieses verkommene Subjekt aus den Slums Verbündete, vielleicht sogar gute Freunde. Sie wollten Murranus töten und hatten ihm diese Falle gestellt, um bessere Gewinnchancen zu haben. Murranus sollte sterben, damit
Typen wie Dacius, Meleager und Agrippina noch mehr Delikatessen essen, noch mehr Wein hinunterkippen und ihre Körper mit noch teureren Kleidern und Juwelen schmücken konnten. Es war alles von langer Hand geplant. Für Spicerius hatten sie den Tod ausersehen, und Murranus war der zweite Ochse, der geschlachtet werden sollte. Claudia grub den Absatz ihrer Sandale ins Gras. Sie mußte sich eingestehen, daß ihr Haß und ihr Rachedurst ihr keine Ruhe ließen. Sie wollte, daß Murranus gegen Meleager kämpfte; sie hätte sich für sich selbst und den armen Felix keinen besseren Rächer wünschen können. Keinen, der das Unrecht besser hätte vergelten können. Während der vergangenen Tage hatte Claudia ihre Entscheidung getroffen. Meleager mußte sterben. Murranus mußte ihn töten. Es gab keine Alternative, und wenn er es nicht tat, würde sie es selbst tun. Was konnte sie also dazu beitragen? Sie dachte an Agrippina, die dasaß wie eine verhätschelte Katze, die mit Sahne gefüttert wurde, und die mit ihrem Gejammer und ihren kläglichen Blicken Mitleid erregen und Unterstützung gewinnen wollte und das Opfer spielte. »Du Schlampe!« keuchte Claudia. »Du angemalte Schlampe! Du mörderische Hure! Mit dir werde ich anfangen!« Caligula kam zu ihr und rieb sich an ihren Beinen. Claudia kraulte den Kater zwischen den Ohren und dachte an die anderen ungelösten Rätsel. Was war mit dem heiligen Schwert? Nun, überlegte sie mit einem grimmigen Lächeln, in diesem Fall mußte man den Missetäter auf frischer Tat ertappen. Und die Morde? Claudia kniff die Augen zusammen und beobachtete eine Amsel, die kühner als die anderen war und über das Gras hüpfte. Die Morde waren vielleicht gar nicht so rätselhaft; Kleinigkeiten begannen jetzt ihren Verdacht zu erregen. Sie wußte, wo Timothaeus war, und sie schwor sich insgeheim, auch Narcissus im Auge zu behalten.
Die Tavernentür öffnete sich hinter ihr, und Caligula flitzte auf den Spalt zu. »Claudia?« Polybius stand mit roten Augen, Nachwirkungen der durchzechten Nacht, unter dem Vordach. »Sie sind da, deine Besucher sind hier.« Sie folgte ihrem Onkel in die Taverne, wo ein Mann zusammengekauert neben der Tür saß. Auf der anderen Seite der Tür drängte sich eine Gruppe von Menschen zusammen wie Trauerweiber. »Sallust? Sallust der Sucher?« Der alte Mann schob seine Kapuze zurück und knüpfte die Kordel seines Gewandes auf. Claudia war stets fasziniert von seinem Gesicht. Es wirkte so gewöhnlich: unrasiert, mit wäßrigen Augen und laufender Nase. Sallusts weißer Haarschopf war widerspenstig, die Tunika, die er trug, war die eines armen Bauern, die Sandalen hatte er gebraucht von einem Quartiermeister des Heeres erstanden. Er war blaß und hatte eine Stupsnase, seine dunkelbraunen Augen blickten vertrauensvoll und interessiert wie die eines Hündchens. So sah nicht jemand aus, der herumspionierte, und das war seine beste Tarnung. »Na so etwas, Claudia!« Sallusts Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Sie nahm seine Hand. »Es ist so schön, dich zu sehen. Wie lange ist es her?« »Ein paar Monate. Möchtest du etwas essen?« »Polybius wird mir und meinen Jungs einen Krug Bier und ein Stück Birnentorte bringen. Wir essen sehr wenig, weißt du.« Claudia nahm neben dem Sucher Platz. Trotz seines Aussehens, oder vielleicht gerade deswegen, war Sallust der beste unter den Männern und Frauen, die beobachteten und berichteten. Während des letzten Bürgerkriegs hatte er auf die falsche Seite gesetzt. Er hatte für Maxentius gearbeitet, und
nach Konstantins Einmarsch in Rom hatte er sich verstecken müssen. Es war eine lange Geschichte, aber Sallust, der Polybius von ihrer gemeinsamen Militärzeit her kannte, hatte um Hilfe gebeten, worauf sich Claudia an den Presbyter Sylvester gewandt hatte. Er war begnadigt und amnestiert worden, hatte seinen konfiszierten Besitz zurückerhalten und war so Claudias guter Freund und Verbündeter geworden. Danach hatte er sofort wieder seine Arbeit als Sucher aufgenommen, unterstützt von seiner Großfamilie: Söhnen, Schwiegersöhnen und allen möglichen Freunden und Verwandten. Sallust arbeitete nicht für den Staat, sondern für Privatleute. Wenn eine Schuld oder ein Wettgeld nicht bezahlt wurden, wenn ein Sklave entfloh, ein Kind weg war oder Wertsachen verschwanden, Sallust und seine Sucher brachten das wieder in Ordnung. Während der Wirrnisse nach dem Bürgerkrieg hatte er einen Teil seines Vermögens verloren, und diese Verluste wollte er jetzt unbedingt wieder ausgleichen. Er besaß bereits ein palastartiges Stadthaus nicht weit vom Paladin und eine ruhige Villa in der Campania. Doch Sallust spielte gern den armen Mann, den Unscheinbaren, einen Menschen, der in einer Taverne sitzen konnte, ohne bemerkt oder vermißt zu werden. Eine Zeitlang plauderte Claudia nur über die »Eselinnen« und Polybius’ Garten, doch Sallust erinnerte sie an die Geschehnisse des letzten Abends, indem er ihr zuflüsterte, daß er und seine Familie bereits von Spicerius’ Tod und Murranus’ Prahlerei gehört hatten. »Nun, Herrin?« Er trank sein Bier aus und blickte zu seinen Begleitern, die damit beschäftigt waren, sich den Bauch mit Birnentorte vollzuschlagen. »Sie sind so still«, murmelte Claudia. »Die sind immer so«, erklärte Sallust. »So erledigen wir unsere Aufträge. Also, Herrin, du wolltest mich sprechen.«
»Ah.« Claudia rückte ein wenig näher. »Ich möchte mit dir über drei Dinge reden: über Liebessymbole, ein heiliges Schwert und die Stadt Capua. Also…« Es klopfte an der Tür; sie verstummte, stand auf, öffnete und erblickte einen Kesselflicker, der um den Hals ein Tablett trug. Sie wollte die Tür sofort wieder schließen, doch er hob die Hand und zeigte ihr den schlichten Ring mit dem Ichthys an seinem Mittelfinger. »Ich suche eine gewisse Claudia.« »Das bin ich.« »Wirklich?« Er sah sie genau an. »Du kennst die Abzweigungen?« »Durch den Friedhof zum Grabmal von Servilius«, antwortete Claudia mit dem vereinbarten Satz. »Er schickt dir das hier.« Der Kesselflicker reichte ihr eine Schriftrolle, winkte mit dem Finger und verschwand. Claudia entschuldigte sich bei Sallust und ging hinaus in den Garten, wo sie das Dokument aufrollte und Sylvesters Nachricht las. Sie war so überrascht, daß sie sie ein zweites Mal studierte. »Was hat denn das zu bedeuten?« rief sie und blickte auf die sorgsam geschriebenen Buchstaben. Sylvester berichtete von einem rätselhaften Vorfall, von einem geschändeten Grab und den sterblichen Überresten eines Mannes und einer Frau namens Lucius und Octavia, die nicht als Christen eingetragen, aber dennoch für diesen Glauben den Märtyrertod gestorben waren. Offenbar handelte es sich dabei um ein kinderloses Ehepaar, dessen Besitz an den Staat gefallen, aber jetzt, unter dem Toleranzedikt, der Kirche rückerstattet worden war. Claudia dachte über ihre eigenen Vermutungen nach und kehrte dann zurück zu Sallust.
»Wie ich schon sagte« – sie lächelte und nahm wieder Platz – »es geht um Liebessymbole, ein heiliges Schwert und die Stadt Capua.« Claudia schilderte Sallust ihre Probleme. Er hörte aufmerksam zu und stellte zwischendurch ein paar Fragen. Eine Stunde später verließen er und seine Begleiter die Taverne; er versprach, zu tun, was in seiner Macht stand. Die Taverne erwachte allmählich zum Leben, und Claudia ließ sich eine Mahlzeit bringen. Narcissus kam herunter, setzte sich in eine Ecke und verzehrte eine Schüssel Fleisch mit Zwiebeln vom Vortag. Januaria nahm neben ihm Platz und lächelte ihn die ganze Zeit gekünstelt an. Kurz darauf polterte Murranus die Treppe herunter und klagte über einen trockenen Mund und Kopfschmerzen. Er wollte allein sein und über das nachdenken, was am Vortag passiert war. Er brummelte einen Gruß, sagte aber, er habe es eilig, schlang in Milch getränktes Brot hinunter, trank einen Schluck Bier, drückte Claudia einen Kuß auf die Stirn und floh beinahe durch die Tavernentür. Narcissus, dem Januaria auf die Nerven ging, kam zu ihr. »Herrin«, fragte er klagend, »was werden wir jetzt tun?« »Wir werden uns hinsetzen und jammern«, antwortete Claudia und äffte seine Stimme nach. »Wir werden darüber jammern, daß du ein weiches Bett, die Freiheit, einen vollen Geldbeutel, gutes Essen und ein hübsches Mädchen hast, das dich anlächelt.« »Tut mir leid.« »Es braucht dir nicht leid zu tun«, fauchte Claudia. »Geh in den Stall und sattle mein Pferd. Wenn du willst, sattle dir auch eins. Wir reiten zurück zur Villa Pulchra.« »Da gehe ich lieber zu Fuß, ich reite nicht gern.« »Wie du willst«, versetzte Claudia. Sie wollte unbedingt etwas tun und nicht nur herumsitzen und sich von der Angst überwältigen lassen.
Claudia holte ihren Umhang, den Gürtel und ihren Geldbeutel, wickelte etwas Brot und Dörrfleisch in ein Tuch, borgte sich aus der Küche eine Ledertasche und verabschiedete sich. Narcissus begleitete sie gern; er ging neben ihr her und erzählte ihr, daß ihm beim Reiten übel wurde. Erst dann fragte er sie, warum sie in die Villa zurückkehren wolle; und wies darauf hin, daß ja keiner mehr dort sein werde; Timothaeus und die anderen waren jetzt im Kaiserpalast auf dem Palatin. Claudia murmelte: »Gut, ich hoffe, dort bleiben sie auch«, und widmete sich wieder ihren eigenen Gedanken und der Liste von Vermutungen, die sie gestern nacht aufgestellt hatte, als sie schlaflos im Bett lag. Sie brachten die Straßen von Rom rasch hinter sich; nur wenige nutzten das gute Wetter und die fast leeren Straßen am frühen Morgen für ihre Reise. Den Großteil ihres Wegs zum Flavischen Tor folgten sie einer Kohorte leichtbewaffneter Legionäre, die zu einer der kleinen Festungen an den Zufahrtsstraßen nach Rom marschierte. Narcissus bemerkte, daß jetzt anscheinend mehr Truppen bewegt wurden, während sich Claudia insgeheim fragte, ob Konstantin beschlossen hatte, sich bei seinem Rivalen im Osten zu revanchieren. Sie war froh, aus den »Eselinnen« weg zu sein. Murranus hatte sich in große Gefahr begeben, doch sie wollte die Sache nicht mit Ratschlägen und einer scharfen Zunge noch verschlimmern. Sie machte es sich im Sattel so bequem wie möglich, und als sie die geschäftigen Straßen mit ihrem Lärm und ihren Gerüchen verließen und auf die Hauptstraße kamen, die durch das Flavische Tor führte, döste sie leicht ein. Sie passierten den Ort der Toten, und Claudia dachte über Sylvesters rätselhafte Nachricht nach. Auch hierbei würde ihr Sallust helfen, da war sie sich sicher. Neben ihr summte Narcissus ein Liebeslied, das ihm Januaria beigebracht hatte,
und schlug dabei mit seinem Stock auf die Dornensträucher und das Unkraut am Wegrand ein. Sie kamen gut voran und mußten nur zur Seite treten, um kaiserliche Boten vorbeizulassen, die samt ihrer Militäreskorte mit donnernden Hufen die Straße hinunterritten. Bald verließen sie die Hauptstraße und folgten den sich windenden Landwegen, passierten die Vorposten, die den Zugang zur Villa bewachten, jetzt aber auf zwei oder drei Mann reduziert waren, die an einem Feuer hockten und sich mehr für ihren Haferbrei interessierten als für eine Reisende, die einen kaiserlichen Passierschein bei sich hatte. Als sie in der Villa ankamen, öffnete ihnen eine Wache gähnend das Tor und führte sie in den gepflasterten Hof. Ein untergeordneter Verwalter kam herunter und machte lautstark seiner Empörung Luft, doch als er Claudia und ihren Passierschein sah, erstarben die Worte auf seinen Lippen. Verblüfft hörte er, daß Claudia verlangte, er solle so schnell wie möglich alle Dienstboten und die verbliebenen Wachen in den Hof rufen. Er wollte dagegen protestieren, doch als ihm Claudia eine Silbermünze in Aussicht stellte, lächelte er und eilte davon. Claudia wußte, sobald der kaiserliche Hof die Villa verlassen hatte, taten die Dienstboten sowenig wie möglich; sie versteckten sich und vertrieben sich die Langeweile mit allen möglichen Streichen. Bald darauf strömten sie jedoch in den Hof: Küchenmägde, Hausdiener, Gärtner, Putzpersonal und Waschweiber; sie alle waren neugierig darauf, was die Besucherin wollte. Claudia bat sie, sich um sie zu scharen. Sie griff in ihren Geldbeutel, nahm fünf Silberstücke heraus und versprach demjenigen, der südlich der Villa eine Kriegswaffe fand, wie sie es nannte, eine großzügige Belohnung. »Was meinst du mit ›Kriegswaffe‹?« rief der Verwalter. »Wenn ihr sie seht, werdet ihr sie erkennen«, erwiderte Claudia. Sie stand auf einem umgedrehten Faß, das unter ihr zu
schwanken begann, daher schnipste sie mit den Fingern und sagte Narcissus, er solle es festhalten. »Ihr habt alle von dem Angriff auf die Villa gehört und wißt, aus welcher Richtung er erfolgte. Es führt ein Pfad durch den Wald. Ich möchte, daß ihr diesen Pfad entlanggeht – nicht weiter als zweihundert Schritte von den Mauern entfernt – und nach irgendeiner Waffe sucht: einem Dolch, einem Speer, einem Pfeil, einem Schwert oder einem Schild, nach allem, was verdächtig aussieht. Also, jetzt wißt ihr, was ich meine.« Sie deutete nach rechts. »Rechts ist der Pfad von einem Wald, Bäumen und Büschen gesäumt. Diese Seite braucht euch nicht zu interessieren. Ich möchte, daß ihr eine Reihe bildet und den Boden links von dem Pfad absucht. Wie gesagt, geht nicht weiter als zweihundert Schritte von der Mauer weg.« »Und was passiert, wenn wir nichts finden?« rief ein Gärtner. »Dann werdet ihr dennoch eine Belohnung erhalten«, antwortete Claudia lächelnd. »Ich lasse euch Geld da, damit ihr ein Fest feiern könnt. Ach, und übrigens«, fügte sie scharf hinzu, »ich dulde keinen Unfug.« Sie blickte die Wachen finster an. »Ich will keine Waffe, die aus der Waffenkammer geholt und unter einen Strauch gelegt wird. Ich bin nicht so dumm, wie ich aussehe.« Mit harter Stimme fuhr sie fort: »Ich bin auf Befehl der Kaiserin hier. Jene, die ihren Anordnungen nachkommen, werden belohnt werden.« Sie ließ diesen Satz in der Luft hängen. Bald darauf hatte der Verwalter mit Hilfe einiger Wachen alles organisiert. Es war ein schöner Tag, sie hatten wenig zu tun und wollten sich unbedingt die Belohnung verdienen. Sobald sie weg waren, ging Claudia in den Keller und zum Totenhaus und sah sich alles noch einmal genau an. Danach begab sie sich in die Küche. Narcissus folgte ihr wie ein Schatten. Sie setzten sich in den kleinen Hof und teilten ihre Mahlzeit. Beim Essen erzählte Narcissus, daß er in den
»Eselinnen« arbeiten werde, während er sich auf die Rückkehr in seinen Beruf als Einbalsamierer vorbereite. »Unter den Leuten, die in der Nähe des Flavischen Tors wohnen, wird es genug Kunden für dich geben«, bemerkte Claudia trocken, »wenn ich auch nicht sicher bin, wie sie dich bezahlen werden.« Narcissus ließ sich jedoch nicht von seinem Thema ablenken; er schilderte theatralisch, Polybius werde ihm vielleicht das Geld für sein Geschäft leihen und möglicherweise sogar als Partner einsteigen. Er redete so schnell, daß sich Claudia fragte, ob ihn der Gedanke daran, was sie wissen mochte, nervös machte. Sie schwenkte den Wein in ihrem Becher herum, um den sie den Kellermeister gebeten hatte. Dieser war zu beschäftigt, als daß er »mit den anderen hinausgehen und kindische Spiele spielen« konnte, wie er es ausgedrückt hatte. Im Wein hatte eine Fliege geschwommen. Claudia hatte sie herausgefischt und die Flecken von dem nicht allzu sauberen Becher abgewischt. Sie rührte den Wein mit dem Finger um, trocknete den Finger aber nicht ab, so daß er klebrig wurde. Sie rieb ihn, betrachtete die harten, weißlichen Körnchen und dachte daran, wie sie am vergangenen Abend neben Spicerius’ Leiche gesessen hatte. »Das ist es!« rief sie. »Was ist was?« »Tut nichts zur Sache«, antwortete Claudia, lehnte sich an die Wand und starrte auf die weißen Tauben auf dem roten Turmdach auf der anderen Seite des Hofes. Die Hitze nahm zu, daher gingen sie in die Gärten, um den kühlen Schatten neben einem plätschernden Springbrunnen zu genießen. Dort traf sie der Verwalter an, als er erhitzt, staubbedeckt und nicht allzu erfreut über die Funde, die man gemacht hatte, zurückkam. »Viel war da nicht«, brummte er. »Sieh selbst.«
Die Dienstboten hatten sich im Stallhof versammelt und ihre Funde auf eine Decke gelegt, die sie auf dem Pflaster ausgebreitet hatten: Riemen, eine Schnalle, eine abgenutzte Scheide, eine Speerspitze und sogar einen ziemlich ramponierten Schwertgriff sowie Lederstücke und andere Teile von Waffen. Claudia sah sich die Sachen genau an. Einige dieser Gegenstände mußten seit Jahren dort gelegen haben, doch andere waren eindeutig Überreste des Angriffs von neulich. Sie vergewisserte sich, daß sie wirklich auf dem Areal, das sie ihnen beschrieben hatte, gesucht hatten. Mit geröteten, verschwitzten Gesichtern riefen die Dienstboten einhellig, sie hätten sich durch Farne und Stechginster gekämpft, aber nur wenig gefunden. Claudia dankte ihnen und gab ihnen die fünf Silberstücke und noch ein weiteres dazu. Außerdem ermächtigte sie den Verwalter, Wein und Lebensmittel aus den Lagern zu holen und all jene, die an der Suche teilgenommen hatten, auf Kosten des Hauses zu bewirten. Es war Nachmittag, und obwohl Narcissus murrte, entschied Claudia, daß es kühl genug war, in die Stadt zurückzukehren. Ihr Rückweg verlief ereignislos. Sie schlossen sich einer Gruppe von Weinhändlern an, die von den Spielen gehört und sich in der Hoffnung auf größeren Profit eilig auf den Weg nach Rom gemacht hatten. Die »Eselinnen« waren fast leer. Claudia ging hinauf in ihr Zimmer, nahm eine kleine Schreibschatulle und begann alles, was sie entdeckt hatte, in einer Liste zu erfassen. Als sie damit fertig war, legte sie sich hin und schlief ein wenig; danach begab sie sich hinunter, um mit einem wortkargen Polybius das Abendmahl einzunehmen. Ihr Onkel erklärte traurig, Murranus hätte beschlossen, in der Gladiatorenschule zu bleiben, um für den bevorstehenden Kampf zu trainieren.
Die Stimmung in der Taverne war verändert. Die Wirkung des Weins hatte nachgelassen, die Aufregung hatte sich gelegt. Viele der Gäste waren insgeheim der Ansicht, daß Murranus in eine Falle gegangen war und damit seine Siegeschancen stark vermindert hatte. Claudia wußte, sie würde warten müssen. Eigentlich hatte sie sich darauf verlassen, daß Sallust der Sucher rasch fündig werden würde, doch er tauchte erst am folgenden Abend in der Taverne auf. Trotz des warmen Wetters trug er seinen Umhang und bestand darauf, mit Claudia draußen im Garten zu sprechen, wo niemand sie sehen oder hören konnte. Erst jetzt schlug er den Umhang zurück und überreichte ihr ein Bündel. »Ich glaube, das ist es, wonach du suchst.« Er lächelte, zwinkerte ihr zu und erhob sich. »Ich will gleich wieder gehen; schließlich könnte man meine Leute und mich beschuldigen, ein Grab ausgeraubt zu haben.« Sein Lächeln wurde breiter. »Dein Verdacht hat sich als richtig erwiesen.« »Und die andere Geschichte?« »Ich fürchte, die wird mehr Zeit in Anspruch nehmen. Die Menschen sind jetzt ganz aufgeregt wegen der bevorstehenden Spiele. Es ist schwer, die Spreu vom Weizen zu trennen und die Wahrheit zu finden.« Claudia bedankte sich, und der Sucher ging, trank jedoch vorher in der Taverne noch einen Krug Bier. Sie vergewisserte sich, daß Narcissus nicht in der Nähe war, und begab sich in ihre Kammer. Dort öffnete sie das Bündel, um den Inhalt zu prüfen, und versteckte es dann unter ihrem Bett. Danach lief sie hinunter zu Narcissus, der Poppaoe in der Küche half. Claudia bat ihn, mit einem der Hausdiener der Taverne zum Palatin zu gehen und dem Haushofmeister Timothaeus mitzuteilen, daß sie ihn wegen einer Angelegenheit, die die Kaiserin betraf, dringend sprechen müsse. Als Narcissus protestieren wollte, kam ihr Polybius zu Hilfe.
»Ich glaube, du solltest ihrem Wunsch nachkommen«, erklärte er. »Das ist das mindeste, was du für jemanden, dem du soviel verdankst, tun kannst.« Leise vor sich hin murrend, nahm Narcissus seinen Gehstock, zog die Sandalen an und verließ die Taverne mit einem kleinen Hausdiener, den alle »Entschuldigung« nannten, weil es das einzige war, was der Junge sagte, wenn er sich durch die Gäste drängte, um jemanden zu bedienen. »Du bist aufgeregt.« Polybius legte Claudia die Hand unters Kinn. »Dein Gesicht ist gerötet, und deine Augen glänzen wie polierte Knöpfe.« »Tust du mir einen Gefallen, Onkel? Was steht heute auf der Speisekarte?« »Dasselbe wie gestern«, sagte Polybius und schnitt eine Grimasse, »und wie letzte Woche. Fisch, Würste und Gemüse, aber wir haben auch Obst.« »Ich möchte, daß du mir und meinen Gästen draußen im Garten etwas besonders Gutes servierst. Narcissus und der Haushofmeister Timothaeus werden das zu schätzen wissen. Und außerdem brauche ich einen Eimer Sand und ein Küchenmesser.« Das erweckte Polybius’ Neugier, und er stellte jede Menge Fragen, doch Claudia lachte nur, schüttelte den Kopf und ging weg. Mittag war längst vorbei, als Narcissus Timothaeus mit verschwitztem, gerötetem Gesicht in die »Eselinnen« brachte. Claudia begrüßte den Haushofmeister herzlich und stellte ihn allen vor. Dann zwinkerte sie ihrem Onkel zu und ging mit ihren Gästen hinaus in den Obstgarten. Polybius hatte auf dem Boden eine kleine Decke ausgebreitet; der Eimer mit dem Sand und das Küchenmesser waren halb hinter der Steinbank verborgen. Timothaeus regte sich furchtbar auf und stellte viele Fragen. Er protestierte dagegen, daß man ihn von seinen
zahlreichen Pflichten weggeholt hatte, doch bei einem Becher von Polybius’ bestem Weißwein und einem Teller mit frisch gefangenem Fisch besserte sich seine Laune. Narcissus hingegen war viel mehr auf der Hut. Claudia fragte sich, ob ihm jemand in der Taverne von ihren Vorbereitungen erzählt hatte. Eine Zeitlang unterhielten sie sich über die bevorstehenden Spiele. Timothaeus berichtete, daß ganz Rom von Murranus’ Angeberei wußte. »Die Wetten sind in vollem Gange«, rief er, »und die Leute sichern sich bereits die besten Sitzplätze. Der Leiter der Gladiatorenschule war wegen der Organisation der Spiele bei Rufinus. Es heißt, daß jeder in Rom, der etwas gilt, dabeisein will; man spricht von einem Kampf auf Leben und Tod, und daß, wer immer zu Boden geht«, fügte er düster hinzu, »auch unten bleibt. Ach, übrigens, die Augusta läßt dich herzlich grüßen und ebenso Chrysis. Burrus sagte, er habe nicht vergessen, was du für ihn getan hast – während sich die Kaiserin noch immer fragt, was du für sie tun solltest«, versetzte er. »Schön, daß ihr mit dem Essen fertig seid.« Claudia saß mit überkreuzten Beinen da und schenkte Timothaeus ein strahlendes Lächeln. »Denn wißt ihr, meine Herren, ich habe das heilige Schwert gefunden!« Es bedurfte ihrer ganzen Schauspielkunst, bei diesem Satz keine Miene zu verziehen. Narcissus verschluckte sich fast an einer Pflaume und mußte sie ausspucken, während Timothaeus der Becher aus der Hand fiel. Claudia fing ihn geschickt auf und stellte ihn neben sich ins Gras. Narcissus begann zu zittern, als hätte er plötzlich Fieber; aus Timothaeus’ Gesicht wich alle Farbe. »Ihr werdet doch nicht in Ohnmacht fallen, oder?« zog Claudia sie auf. »Das könnt ihr beide ja sehr gut, in Ohnmacht fallen. Oh, und springt jetzt bitte nicht auf; je weniger davon wissen, desto besser.«
Claudia erhob sich, ging in den Obstgarten und kam mit dem Paket wieder, das ihr der Sucher gegeben hatte. Sie schlug das Tuch zurück, und sie starrten alle auf das Legionärsschwert, dessen polierter Elfenbeingriff im Sonnenlicht bläulich schimmerte; in dem Rubin darin leuchtete ein verborgenes Feuer. Sie nahm das Schwert und wog es in beiden Händen. »Ich glaube, das könnte es sein«, erklärte sie ruhig. »Es fühlt sich an wie ein Legionärsschwert, ich meine die Gewichtsverteilung. Die Klinge ist blank poliert und ziemlich alt, aber der Griff ist neu und wegen des Elfenbeins und des Rubins im oberen Teil ein wenig schwerer.« »Wo… wo?« stammelte Timothaeus. »Wo? Wo?« äffte ihn Claudia nach. »Dort natürlich! Mir war klar, daß du das Schwert gestohlen hast, Timothaeus, aber du bist ein guter Mann, ein frommer Christ. Du wolltest es nicht verkaufen; das wäre ein Sakrileg und sehr gefährlich gewesen. Du wolltest es auch nicht für dich behalten; das wäre selbstsüchtig und ebenfalls sehr gefährlich gewesen. Und drittens konntest du es auch nicht der Kirche überlassen; die hätte es sofort der Kaiserin zurückgegeben.« »Und?« Narcissus Stimme klang erstickt. »Also kam ich zu einem logischen Schluß«, sagte Claudia lächelnd. »Wenn der Apostel Paulus durch dieses Schwert den Märtyrertod erlitten hat, welch besseren Platz gab es dann dafür als die Kapelle, die jetzt über seinem Grab an der Straße nach Ostia steht, genau an dem Ort, an dem er hingerichtet wurde? Da ich vor euch nach Rom zurückgekehrt bin, konnte ich alles vorbereiten. Ich traf mich mit einem alten Mann, mit Sallust dem Sucher, einem Freund von mir. Er hat im wahrsten Sinne des Wortes Heerscharen von Verwandten, und die brauchte er nur dazu einzuteilen, die berühmtesten heiligen Plätze der Christen rund um die Stadt zu beobachten, wobei das Grab des Paulus besonders genau überwacht wurde, und
zwar von Sallust selbst! Du kamst zum ersten Mal, seit das Schwert gestohlen wurde, zurück nach Rom. Du hast es aus der Villa Pulchra herausgeschmuggelt, und mir war klar, daß du versuchen würdest, es so schnell wie möglich loszuwerden.« »Ich hatte tatsächlich das Gefühl, daß mich jemand…« »Beobachtet?« fragte Claudia. »Natürlich, so wie du Narcissus aufgetragen hast, mich zu beobachten.« Timothaeus schluckte. »Wißt ihr was?« Claudia legte das Schwert neben sich, deckte es mit dem Tuch zu, beugte sich vor und tätschelte Timothaeus und Narcissus das Gesicht. »Sollte ich jemals wieder als Schauspielerin arbeiten und meine eigene Truppe zusammenstellen, werde ich euch beide bitten mitzumachen. Was für eine Vorstellung! Ihr werdet mich sicher fragen, wie ich das alles herausgefunden habe? Oh, keine Angst, Timothaeus. Ich werde dich nicht verhaften lassen.« Beide Männer lächelten erleichtert. Claudia stand auf und holte den Eimer mit dem Sand und dem scharfen Küchenmesser. »Es war einmal«, begann sie schmunzelnd, »ein sehr frommer christlicher Haushofmeister namens Timothaeus, der wirklich an die Lehren Christi glaubte. Als Nichtjude und ehemaliger Heide verehrte er ganz besonders den Apostel Paulus, der, wie ich gehört habe, als erster die christlichen Lehren zu den Ungläubigen brachte. Hat Paulus nicht in Antiochia gelehrt? Dort wurde eure Gemeinschaft doch zum ersten Mal Christen genannt, nicht wahr? Jedenfalls ist Timothaeus auch ein loyaler Diener der Kaiserin; er vergöttert sie. Ihr und ihrem Sohn ist es zu verdanken, daß die Christen die Katakomben verlassen durften. Die Kaiserin Helena liebäugelt mit dem Christentum. Wird sie zum christlichen Glauben übertreten oder nicht? Und sie interessiert sich
brennend für alles Christliche. Die Augusta läßt das ganze Reich absuchen nach dem echten Kreuz, der Dornenkrone, der Lanze, mit der sie Christus in die Seite stachen, und nach den Nägeln, die sie in seine Handgelenke schlugen. Der einzige Fund, den Helena bisher machte, ist das heilige Schwert, mit welchem dem Apostel Paulus der Kopf abgeschlagen wurde und an dem sein heiliges Blut haftet. Sie organisierte ein großes Streitgespräch in der Villa Pulchra und beschloß, das Schwert zur Besichtigung auszustellen. Natürlich verschwinden in jedem Kaiserpalast manchmal Dinge; also ließ sie das Schwert in jenem Keller an eine Kette über eine Sandgrube hängen. Sollte jemand versuchen, es zu berühren, würden seine Füße tief im Sand versinken und Spuren hinterlassen. Die Kette schwebte in der Luft, so daß man eine Stange brauchen würde, um sie heranzuziehen und das Schwert abzunehmen. Der Keller hatte keine Fenster und wurde von den germanischen Schlägern der Augusta bewacht, und das schwere Tor war mit zwei verschiedenen Schlüsseln verschlossen. Einen hattest du, den anderen Burrus.« Claudia nahm Timothaeus’ Becher und drückte ihn ihm in die Hand. »Los«, forderte sie ihn auf, »trink. Und du auch, Narcissus.« Sie hielt inne und schaute durch die Äste eines Baumes zum Himmel empor. »Wie ich schon sagte, Timothaeus, du bist ein frommer Christ; und du hast Skrupel.« »Was sind Skrupel?« unterbrach sie Narcissus. »Das weißt du ganz genau: Zweifel, Unsicherheit. Es hat dich empört, daß eine so heilige christliche Reliquie im Besitz von Heiden war und für Leute wie Chrysis oder, noch schlimmer, für die Arianer – Justin und seine Leute – zur Besichtigung ausgestellt wurde, nicht wahr, Timothaeus? Für dich war das Blasphemie, Gotteslästerung. Also hast du beschlossen, das Schwert zwar nicht zu stehlen, aber es dem Blick des Pöbels zu entziehen und an einen heiligeren Ort zu bringen. Du wolltest
es so anstellen, daß niemand beschuldigt oder bestraft werden konnte, aber dazu brauchtest du Hilfe. Weißt du, mir ist bekannt, daß Narcissus Christ ist. Er hat seinen Posten in der Villa Pulchra mit Hilfe des mächtigen Sylvester bekommen. Narcissus ist dein Trinkkumpan, der Mann, dem du dein Herz ausschüttest, nicht wahr, Timothaeus? Und als Haushofmeister im Palast verfügst du über großen Einfluß.« »Willst du damit behaupten, daß wir beide das Schwert gestohlen haben?« fragte Narcissus. »Ja, das will ich. Wie gesagt, Timothaeus ist voller Skrupel. Er betete um göttlichen Rat. Wie konnte er ein Schwert stehlen, das so raffiniert gesichert war? Ich nehme an, die Götter beantworten unsere Fragen auf seltsame Art; in diesem Fall war die Antwort Burrus.« »Er hatte nichts damit zu tun«, stieß Timothaeus hervor. »Genau«, erwiderte Claudia, »aber er war die Antwort auf deine Gebete. Burrus und seine Männer sind extrem abergläubisch. Sie weigerten sich, den Keller zu betreten oder dem Schwert auch nur nahe zu kommen. Also hast du einen Plan geschmiedet, Timothaeus. Du gabst vor, ein verletztes Bein zu haben. Als du am Tag, bevor das Schwert verschwand, den Keller kontrolliertest, gingst du auf einen Stock gestützt, den du dort in irgendeinem Spalt in der Wand verstecktest. Ich weiß, daß dich einer der Wachhabenden nach deinem Bein fragte, was du aber rasch abgetan hast. Jedenfalls gingst du am nächsten Tag wieder hinunter. Inzwischen waren Burrus und seine Wachen daran gewöhnt und ließen dich ohne Probleme hinein und heraus. Du warst schnell. Du hast einen der Hocker neben die Sandgrube gestellt, deinen Gehstock hervorgeholt, dich auf den Hocker gestellt und die Kette zu dir herangezogen. Dann hast du das Schwert vom Haken genommen, bist vom Hocker gestiegen, hast den Gehstock wieder verborgen und den Hocker zurückgestellt.«
»Und das Schwert?« fragte Timothaeus. Claudia nahm das Küchenmesser und steckte es tief in den Sand im Eimer. »Du hast es im Sand vergraben.« »Aber das hätten sie doch gemerkt.« »Oh, sag jetzt nicht, daß man Spuren im Sand gesehen hätte. Für diesen Fall hattest du bereits vorgesorgt. Sieh, wie tief die Messerklinge einsinkt.« Claudia drückte das Messer in den Sand, bis der Griff beinahe verschwunden war. »Ich erinnere mich, wie ich in den Sand trat. Er war sehr feinkörnig. Meine Füße sanken bis über die Knöchel ein. Du hast das Schwert entweder mit dem Griff voran hineingestoßen oder es vergraben und mit Sand bedeckt. Vielleicht hast du das sogar an den Tagen davor geübt. Dann hast du eine Ohnmacht vorgetäuscht, wobei du mit der Hand und dem Arm über den Sand gestrichen hast – falls wirklich jemandem etwas aufgefallen wäre, hätte er es auf deine Ohnmacht zurückgeführt. Armer Timothaeus, so von Furcht übermannt! Natürlich wurden Burrus und seine Wachen neugierig und schauten nach. Sie sahen, was passiert war, und schlugen Alarm. Der Mann, der für eine derartige Situation zuständig war, lag bewußtlos im Keller, und die Augusta war noch nicht eingetroffen. Es herrschte Chaos und Bestürzung, die Leute liefen umher, und siehe da, rein zufällig« – Claudia beugte sich vor und tätschelte Narcissus’ Hand – »war da ein Sklave aus dem Totenhaus, zufällig ebenfalls Christ und ein guter Freund des jetzt ohnmächtigen Haushofmeisters. Ich meine, was hattest du dort zu suchen, Narcissus?« Er machte den Mund auf, um zu antworten, seufzte jedoch nur und wandte den Blick ab. »Du hast mir selbst gesagt«, fuhr Claudia fort, »daß du dich um das Totenhaus kümmern mußtest. Was hast du in der Nähe des Kellers getan? Du hast gewartet, nicht wahr? Du hast
geholfen, die Trage hinunterzuschaffen, und dafür gesorgt, daß du im Sand standest und das Schwert nicht zu sehen war. Und wem hätte schon auffallen sollen, daß du, als der arme Timothaeus aus dem Keller getragen wurde, seinen Gehstock nahmst und ihn mit hinausbrachtest? Die Leute suchten nicht nach einem Gehstock; sie suchten ein Schwert.« »Und?« fragte Timothaeus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Nun, Burrus und seine Männer zitterten wie Espenlaub im Sturm; sie dachten, das Schwert sei heilig und euer Gott sei gekommen, es zu holen. Gaius Tullius ist Heide und Zyniker. Er durchsuchte den Keller, fand aber nichts. Es interessierte ihn auch nicht wirklich, nicht wahr? Er war nicht dafür verantwortlich – was bedeutet ihm schon eine christliche Reliquie? Bald darauf kehrte Timothaeus, der sich inzwischen wieder erholt hatte, in den jetzt unbewachten Keller zurück, zog das Schwert aus dem Sand und versteckte es.« Claudia hielt inne, als lausche sie den Vögeln, die in den Zweigen über ihr sangen. »Du hast das sehr geschickt angestellt«, fügte sie hinzu. »Aber daß sich Narcissus in der Nähe des Kellers befand, als es passierte, hat mich stutzig gemacht; das und die Logik. Ich meine, das Schwert ist verschwunden, aber niemand hat etwas gesehen, also muß es im Keller geblieben sein. Die Frage war nur, wo.« »Du hast mich verdächtigt?« fragte Narcissus. »O ja, du bist sehr verdächtig, Narcissus. Erinnerst du dich an die Nacht, als das Totenhaus niederbrannte? Du hast im Schatten eines nahen Bergahorns geschlafen. Du sagtest, du hättest zuviel getrunken. Jetzt bist du ein freier Mann, aber damals warst du ein Sklave. Jeder andere Dienstbote in der Villa Pulchra, und erst recht ein Sklave, ißt und trinkt erst nach einem Bankett. Aber du hast selbst zugegeben, daß du wahrscheinlich genauso betrunken warst wie die Gäste von
Konstantin. Ich habe mich in den Küchen erkundigt, aber niemand erinnerte sich daran, dir etwas zu trinken gegeben zu haben.« »Ich habe das getan«, gestand Timothaeus. »Ja, natürlich warst das du.« Claudia lächelte. »Eine kleine Belohnung für Narcissus’ Hilfe. Was hast du ihm gegeben? Ich habe die Knochen gefunden – ein gutes, fettes Stück vom Kapaun, eine saftige Scheibe Rindfleisch und einen Krug besten Falerners. Eine angemessene Belohnung für einen Sklaven, der dir so geholfen hat, der bestochen werden mußte, damit er den Mund hielt. Wie ich dich kenne, Narcissus, hast du gewiß die ganze Zeit gejammert, daß du Angst hast. Timothaeus ging in die Küche der Villa und brachte dir ein paar Köstlichkeiten und einen großen Becher Wein. Ich habe dich essen gesehen, Narcissus, du hast einen guten Appetit. Du warst nervös, unruhig und hast schnell gegessen und ebenso schnell getrunken. Dann bist du eingeschlafen. Als du aufwachtest, mußt du geglaubt haben, in einem Alptraum zu sein. Das Totenhaus brannte, man würde vielleicht nachforschen und Fragen stellen. Wieso hatte ein Sklave, der für das Totenhaus verantwortlich war, sich den Bauch vollgeschlagen und den besten Wein getrunken?« »Was wirst du jetzt tun?« Timothaeus nahm die Hände vom Gesicht. »Was ich tun werde?« Claudia zuckte die Achseln. »Schau, Timothaeus, das Schwert ist bei der Kaiserin am besten und am sichersten aufgehoben. Du wirst unter irgendeinem Vorwand in die Villa Pulchra zurückkehren und das Schwert wieder an seinen Haken hängen. Nein, das ist zu idiotisch!« Claudia kratzte sich am Kinn. »Du bringst es zurück in die Villa und läßt die Gärten durchsuchen. Du wirst das Schwert finden und der Kaiserin übergeben. Sie wird dir sehr dankbar sein und dich großzügig belohnen. Dieser Faulpelz da« –
Claudia, zeigte mit dem Finger auf Narcissus – »wird dir dabei helfen. Ihr werdet die Helden der Stunde sein.« Beide Männer seufzten erleichtert. Timothaeus stand auf, streckte sich und kauerte sich dann vor Claudia nieder. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küßte sie sanft auf die Stirn. »Ich habe mir schon Gedanken gemacht«, sagte er und schnitt eine Grimasse. »Ich habe mir wirklich Gedanken wegen dir gemacht, Claudia. An der Art, wie du mich anschautest, merkte ich, daß du wußtest, daß irgend etwas nicht stimmte. Es war genau, wie du sagst. Ich sah das Schwert dort hängen. Manchmal glaubte ich, das heilige Blut des Apostels Paulus auf der Klinge glitzern zu sehen. Mir kam der Gedanke, wie leicht es wäre, auf einen dieser Hocker zu steigen und es abzunehmen. Mit dem Stock habe ich abgemessen, wie tief der Sand war. Er war sehr weich und sehr tief. Burrus und seine Germanen würden den Keller niemals betreten. Also überredete ich Narcissus, mir zu helfen. Ich erklärte ihm, was ich vorhatte und daß ich ihm das Leben sehr viel angenehmer machen konnte, also willigte er ein. Ich hatte nicht vor«, fügte er mit einem finsteren Blick auf seinen Komplizen hinzu, »ihn betrunken zu machen, und ich dachte auch nicht im Traum daran, daß jemand das Totenhaus anzünden würde.« »Was können wir denn sonst noch tun?« fragte Narcissus traurig. »Oh, ich glaube, ihr könnt mir bei einer ganzen Reihe von Dingen helfen«, antwortete Claudia lächelnd. »Aber vorher bringt das heilige Schwert in die Villa Pulchra, und wenn ihr es gefunden habt, kehrt schnell zurück auf den Palatin und berichtet der Augusta von eurem Erfolg. Erzählt ihr, daß euer Schlaf von Träumen geplagt war.« Beide Männer erhoben sich.
»Oh, Narcissus, tu mir bitte noch einen Gefallen. Auf dem Weg zur Villa Pulchra und zurück – denk darüber nach, was du in jener Nacht gesehen hast.« »In welcher Nacht?« »In der Nacht, als das Totenhaus niederbrannte. Jede Einzelheit! Du mußt jetzt mit Timothaeus in die Villa gehen, aber wenn ich ›Entschuldigung‹ nach dir schicke, kommst du sofort mit ihm hierher zurück.« Claudia sah den beiden Männern nach. Timothaeus hatte das Schwert sorgfältig eingewickelt. »Holt euch von Polybius einen Sack«, rief sie ihnen nach. »Einen Ledersack. Geht zu Fuß oder reitet, wie ihr wollt.« Timothaeus hob die Hand und verschwand in der Taverne. Claudia legte sich ins Gras und blickte durch die Äste in den Himmel. Timothaeus würde tun, was sie ihm sagte, und was Narcissus anlangte… »Mit dir bin ich noch nicht fertig«, flüsterte Claudia. Sie spürte, wie ihre Augen schwer wurden, und döste ein. Als sie erwachte, sah sie vor dem Licht der Sonne eine dunkle Gestalt. Sofort griff sie nach ihrem Dolch. »Ich bin es nur, Herrin!« Sallust der Sucher kauerte sich ins Gras. Claudia entschuldigte sich und rieb sich mit den Händen das Gesicht. »Du hast mindestens zwei Stunden tief geschlafen«, rief Polybius von der Veranda. »Ich wollte dich nicht wecken, aber wenn du noch lange geschlafen hättest…« Claudia hob die Hand und sagte zu Sallust, er solle es sich bequem machen, während sie zu den Latrinen und in das kleine Waschhaus daneben ging. Sie wusch sich die Hände und das Gesicht, wischte sich den Schlaf aus den Augen und überlegt müßig, wie es wohl Timothaeus und Narcissus in der Villa Pulchra ergehen mochte. Dann kehrte sie zu Sallust zurück.
»Die Jungs habe ich in der Taverne gelassen.« Der Sucher putzte einen Teller mit einem Stück Brot blank, steckte es in den Mund und begann dann das Obst zu verspeisen, das Timothaeus und Narcissus übriggelassen hatten. »Also hast du das heilige Schwert zurückgeschickt?« fragte er lächelnd. »Es war so einfach! Ich habe den Palast überwacht! Ich habe dort ein paar Freunde, also konnte ich nach Belieben ein und aus gehen. Timothaeus war das reinste Nervenbündel. Mitten in der Nacht, als er dachte, daß ihn niemand sähe, schlich er sich durch ein Seitentor hinaus. Sobald er den heiligen Ort erreichte, das Grab dieses Christen – wie hieß er doch gleich? Ach ja, Paulus – da hatte er mehr Zuschauer als ein Schauspieler auf der Bühne. Das Grab befindet sich an der Straße. Timothaeus ging so nahe heran, wie er konnte, hob ein Loch aus und vergrub das Schwert.« »Ich habe ihn nicht nach Einzelheiten gefragt«, gestand Claudia. »Er war so erleichtert, daß er gar nicht schnell genug von hier wegkommen konnte. Du wirst Stillschweigen über die Angelegenheit bewahren?« Sallust hob die rechte Hand. »Claudia, Claudia. Würde ich der Polizei alles erzählen, was ich weiß, wäre halb Rom im Gefängnis! Also, ich habe Neuigkeiten für dich. Du hattest recht. Spicerius wurde ermordet. Ich weiß nicht, wie, aber das Miststück, das ihn vergiftet hat, war gewiß keine Freundin.«
KAPITEL 12 »Von einem Verbrechen lernen wir die Natur aller Verbrechen.« Vergil, Aeneis, II
Du bist nicht gerade die geschickteste Mörderin von Rom, dachte Claudia, als sie im Schatten der Obstbäume saß und mit zusammengekniffenen Augen Agrippina auf der Steinbank ihr gegenüber betrachtete. Der Morgen war noch kühl; in der vergangenen Nacht war eine Brise aufgekommen und hatte erfrischende Regenschauer gebracht. Sobald Sallust gegangen war, hatte sich Claudia den Rest des Tages mit der Vorbereitung auf diese Begegnung beschäftigt. Narcissus redete nach seiner Rückkehr nur noch davon, wie er und Timothaeus mit der angeblichen Entdeckung des heiligen Schwertes die Gunst der Kaiserin gewonnen und ihre Großzügigkeit erfahren hatten. Sie hatte jedem von ihnen einen Lederbeutel mit Geld gegeben und sie zu den bevorstehenden Spielen in die kaiserliche Loge eingeladen. Narcissus war so glücklich, daß ihn Claudia leise daran erinnern mußte, daß sie das Schwert ja eigentlich nicht gefunden hatten und daß sich die Laune der Kaiserin, wenn sie die Wahrheit erführe, schlagartig ändern würde. Claudia meinte es nicht böse, aber sie brauchte Narcissus’ Aufmerksamkeit und Hilfe. Daraufhin riß sich der ehemalige Sklave sofort zusammen und wurde sehr ernst und vorsichtig. »Glaubst du, die Kaiserin vermutet etwas? Du denkst doch nicht, sie wird an unserer Geschichte zweifeln?« »Von mir wird sie nichts erfahren«, flüsterte Claudia. »Man fährt am besten, wenn man ihre Belohnung annimmt, ihre Gunst genießt und den Mund hält. Timothaeus wird das tun,
das ist sicher. Jetzt hör zu, Narcissus. Wenn ich etwas über dich weiß, dann, daß du der geborene Schauspieler bist, und ich habe einen Auftrag für dich.« Narcissus’ Stimmung hellte sich rasch auf, als ihm Claudia erzählte, was sie für ihr Treffen mit Agrippina geplant hatte. Er erwies sich als ein begabter Schüler und beherrschte schon bald perfekt seinen Text und den Gesichtsausdruck, den er annehmen sollte. Valens wurde ebenfalls eingeweiht. Den alten Militärarzt brauchte sie nicht lange zu bitten. Er trauerte zutiefst um seinen Freund und war sehr an Vergeltung für Spicerius’ allzu frühen Tod interessiert. Sie waren alle im Garten zusammengekommen, und Valens hatte Narcissus geholfen, hatte ihm bestimmte Namen und Ausdrücke beigebracht und ihm gezeigt, wie er sich verhalten und wie er sich hinsetzen solle. Claudia legte großen Wert darauf, daß beide ihren Text wirklich beherrschten; ihre einzige Sorge war, daß Agrippina Narcissus und damit die Falle, die ihr gestellt wurde, erkennen könnte. Auch Polybius hatte sie von ihrem Komplott erzählt und zum Stillschweigen verpflichtet. »Du darfst nichts trinken«, ermahnte ihn Claudia, »denn wenn du getrunken hast und im Speisesaal den Mund aufmachst, weiß es binnen einer Stunde halb Rom.« Polybius versprach es und schwor bei seinem Schwanz, daß kein Wort über seine Lippen kommen würde. Claudia hatte lange und hart gearbeitet, um sich abzulenken und nicht an Murranus zu denken, der sich auf den Kampf am folgenden Tag vorbereitete. Daher war es für sie sehr schwer gewesen, als Murranus am Abend kurz nach Einbruch der Dunkelheit geschmeidig und in bester körperlicher Verfassung, mit rasiertem, richtig jungenhaftem Gesicht in der Taverne aufgetaucht war. Sein trauriger Blick, sein stiller Mut und die Zuversicht, mit der er seine Ängste kaschierte, hatten Claudia fast das Herz gebrochen. Er war nur eine Stunde geblieben; er
hatte sie hier im Garten fest umarmt und sanft geküßt und sich dann verabschiedet. Claudia hatte dagesessen und geweint, bis Narcissus und Valens zu ihr gekommen waren, um sie zu trösten, doch ihr Herz schmerzte noch immer nach dem Abschied von Murranus, und deshalb empfand sie nicht das geringste Mitleid mit dem heimtückischen, mörderischen, verwöhnten Miststück, das wie eine Fliege in ihr Netz spaziert war. Mit schwingendem schwarzem Haar, geschürzten Lippen und klimperndem blutrotem Schmuck war Agrippina am Vormittag erschienen. Sie hatte weder Schuldbewußtsein noch Angst gezeigt, sondern sich anscheinend etwas darauf eingebildet, daß sie von zwei Tölpeln begleitet wurde, die ihrem Aussehen nach Mitglieder von Dacius’ Bande waren. Oceanus hielt diese beiden Kerle in der Taverne fest, während Claudia auf Agrippina einredete und mit ihr in den Garten ging. Jetzt begann Claudias Besucherin allmählich ihre Selbstsicherheit zu verlieren; sie starrte beunruhigt auf die Veranda, wo Polybius dafür sorgte, daß sie nicht gestört wurden. »Dein Bote sagte«, wandte sich Agrippina wieder Claudia zu, »du hättest ein paar sehr wertvolle Sachen, die Spicerius gehört haben.« »Ja, das hat der Bote gesagt.« Claudia kratzte sich am Kopf und beugte sich näher zu ihr. »Also, Agrippina, hör mir zu. Ich will, daß du deine große Klappe hältst. Ich möchte dir keine Angst einjagen, aber wenn du durch den Garten zur Taverne gehst, wird dich mein Onkel daran erinnern, daß ich am Kaiserhof mächtige Freunde habe. Ich arbeite für die Agentes in Rebus – du weißt, wer das ist, nicht wahr? Männer und Frauen, die ein gemeines, verwöhntes Miststück wie dich vernichten können; ihre Loyalität gilt der Kaiserin und niemand anderem.«
Agrippina schluckte und bewegte lautlos die Lippen. Claudia spürte, daß sie inzwischen ihre Arroganz verfluchte, die sie hatte herkommen lassen. »Ich könnte einfach von hier verschwinden«, schrie Agrippina und tappte mit ihren leuchtend roten Sandalen auf den Boden. »Du kannst es ja versuchen.« Claudia hob ihren Becher und prostete ihr zu. »Weißt du, was ich gerade gedacht habe, Agrippina? Daß du nicht gerade die geschickteste Mörderin von Rom bist. Du hast dich sogar ausgesprochen tölpelhaft angestellt und gedacht, niemand würde deine hinterlistigen, gemeinen Tricks durchschauen.« Agrippina sprang auf und raffte ihr Kleid zusammen. »Ach, setz dich hin!« Claudia zog ihren Dolch und fuhr damit durch die Luft; Agrippina trat hastig einen Schritt zurück und ließ sich auf die Steinbank fallen. Sie zitterte und starrte mit Tränen in den Augen zur Taverne hinüber. »Du bist eine Mörderin«, sagte Claudia mit einem freundlichen Lächeln. »Und du bist dumm. Du hast schon einmal versucht, Spicerius umzubringen, und es vermasselt, aber gehofft, Murranus würde ihm den Rest geben. Und dann hast du es noch mal probiert und dich dabei für so klug gehalten.« »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, keuchte Agrippina. »Du hast keinen Beweis.« »Oh, ich habe viele Beweise.« Claudia drehte sich um. »Onkel, du solltest unsere Gäste zu uns herausbitten.« Polybius trat beiseite. Valens und Narcissus kamen aus der Taverne und schlenderten durch das Gras auf sie zu. Claudia nahm sich fest vor, keine Miene zu verziehen. Sie und Valens hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet. Narcissus war nicht wiederzuerkennen. Sein Haar war geschnitten, sein Gesicht eingeölt; seine Tunika und sein Umhang waren aus dem besten
Stoff; seine juwelenbesetzten Ringe mit den Insignien des Äskulap mußte man einfach bewundern und ebenso den auf Hochglanz polierten Gehstock, der mit Falkenschwingen und dem allessehenden Auge des ägyptischen Gottes Horus verziert war. Sogar sein Gang war der des gelehrten Arztes, der zu sein Narcissus vorgab; er hielt den Kopf leicht geneigt, als würde er von der Last seines Wissens nach unten gezogen, auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck zynischer Überlegenheit, seine Lippen waren geschürzt, als hätte er in eine Pflaume gebissen und festgestellt, daß sie madig war. »Ich glaube, Valens kennst du«, sagte Claudia. Dann deutete sie auf den zweiten Mann. »Das ist Narcissus, ein berühmter Arzt aus dem Haus des Lebens beim Tempel der Isis in Alexandria. Er ist Experte für die Krankheiten, an denen Männer leiden.« Valens nickte Agrippina zu und setzte sich neben Claudia. Narcissus, der sich mehr für seine Fingernägel als für irgend etwas anderes zu interessieren schien, musterte Agrippina von oben bis unten, als wäre sie ein unangenehmes Symptom. Dann schnipste er arrogant mit den Fingern, um ihr zu verstehen zu geben, sie solle zur Seite rutschen, damit er sich auch auf die Gartenbank setzen konnte. Er hielt seinen Gehstock zwischen den Knien und lächelte Claudia an. »Meine Liebe.« Seine Aussprache war so gedehnt, daß Claudia die Lippen zusammenpressen mußte, um nicht zu schmunzeln. »Meine Liebe, ich bin ja so froh, daß du dein Gesicht nicht bemalt hast.« Er wandte sich zu Agrippina und wedelte mit dem Finger vor ihrer Nase herum. »Und du, meine Gute, solltest vorsichtiger sein. Du hast mehr Farbe im Gesicht, als ich an den Wänden von Villen gesehen habe. Man weiß nie, was in diesen Cremes und Ölen drin ist. Das habe ich auch dem lieben Spicerius gesagt. Es ist dir doch gewiß aufgefallen, daß er sein Gesicht nicht mehr bemalt hat? Aber
wie man sieht, meine Liebe, hast du keine Ahnung von Medizin. Ich meine, das ist doch offensichtlich.« Er blinzelte. »Was in aller Welt hat dich auf die Idee gebracht, der Saft von Mandeln sei ein Liebestrank, ein Heilmittel gegen Impotenz?« Dann warf Narcissus den Kopf zurück und wieherte vor Lachen. »Also, genau betrachtet, ist es schon ein Heilmittel, nicht wahr? Ich meine, alles verschwindet.« Seine Miene wurde ernst. »Sogar das Leben selbst.« Agrippina starrte ihn entsetzt an. »Wovon redest du?« kreischte sie. »Du, du…« »Arzt«, sagte Narcissus lächelnd. »Ich bin Arzt; hat dir Spicerius nie von mir erzählt?« Narcissus klopfte sich auf die Leistengegend. »Der arme Teufel, er hatte Probleme hier unten; das kommt recht häufig vor. Viele Soldaten, Kämpfer und Ringer klagen, daß ihre Manneskraft aussetzt. Ich meine, gewöhnlich ist mit ihnen alles in Ordnung.« Er tippte sich an die Schläfe. »Es hat eher mit dem Kopf und dem Herzen zu tun als mit irgend etwas anderem. Eine Störung der Körpersäfte.« Er seufzte. »Der arme Spicerius war so beunruhigt! Er begehrte dich, meine Liebe, aber er hegte dunkle Gedanken.« »Was soll das?« Agrippina wollte aufstehen, doch Narcissus rückte näher zu ihr und packte sie am Handgelenk. »Ich würde jetzt nicht weggehen, meine Liebe. Weißt du, ich bin dein Freund. Du wirst vielleicht meine Hilfe brauchen, weil diese werten Herrschaften hier glauben, daß du Spicerius vergiftet hast. Du solltest wirklich sitzen bleiben und ihnen zuhören, was auch ich tun werde, bevor ich mir eine Meinung bilde.« »Ich habe dich beschatten lassen«, erklärte Claudia. »Du gehst in Dacius’ Haus ein und aus. Mit seinen Männern hat man dich ebenfalls gesehen. Und ich vermute, du hast auch schon für Meleager die Beine breitgemacht. Du bist eine herzlose Hure, Agrippina, du schätzt die Gesellschaft von
Gladiatoren, um dir die Langeweile zu vertreiben. Du hast ein Talent für Schandtaten, und deshalb hat dich Dacius überredet, bei seinem Plan mitzuwirken. Dacius glaubt, den Großteil der Glücksspiele in Rom zu kontrollieren, den Geldverleih, die hohen Zinsen, und gelegentlich möchte er auch einen Riesenprofit einheimsen, nicht wahr, bei einem Hahnenkampf, beim Ringen oder mit zwei Männern, die sich in der Arena einen Kampf auf Leben und Tod liefern. Dacius und Meleager…« Claudia verstummte. »Dacius und Meleager«, wiederholte sie dann, »sind Freunde. Dacius wollte, daß Meleager Sieger, victor ludorum, werden sollte. Meleager ist ein guter Kämpfer, vielleicht einer der besten. Dacius und seine Freunde arrangierten… wie würdest du es nennen? Eine Doppelwette? Daß Spicerius verlieren und Murranus gewinnen würde; daß Murranus verlieren und Meleager gewinnen würde. Kannst du dir den Profit vorstellen, Agrippina? Das viele Geld, das im Spiel ist und sich rasch vermehrt, wenn es von einer Wette zur anderen geschoben wird. Ich habe gehört, auf diese Weise kann man Millionen machen, ein wahres Vermögen. Drücke ich mich klar aus? Jedenfalls sagt das Sallust der Sucher.« »Wer?« Agrippina bewegte kaum die Lippen. »Ach, du kennst Sallust nicht?« Claudia nahm den Dolch von einer Hand in die andere. »Du kennst ihn nicht, aber er kennt dich. Er hat dich sehr genau beobachtet.« »Ich bin eine freie Bürgerin, ich kann gehen, wohin ich will. Ich bin keine Sklavin oder Tavernenschlampe.« »Das bestreite ich nicht.« Claudia lächelte. »Und du kannst auch hier sitzen und mich nach Herzenslust beleidigen. Wenn die Leute dich sehen, sagen sie bloß: ›Das ist Agrippina.‹ Viel mehr würde sie interessieren, wieviel du von Liebestränken verstehst.« Sie faßte in den Beutel an ihrem Gürtel und zog ein Stück Pergament heraus. »Erkennst du das?« Sie hielt es hoch.
»Das ist deine Handschrift. ›Agrippina ist von Liebe überwältigt‹ und ›Spicerius ist von Liebe überwältigt‹.« »Das habe ich ihm gegeben, das ist doch kein Verbrechen!« »Nein, aber jemanden zu vergiften, das ist ein Verbrechen. Zuerst hast du es im Amphitheater versucht; das ist fehlgeschlagen. Du hast das Gift in Spicerius’ Schminke gemischt und erst später, als keiner hinsah, auch ein wenig in den Becher getan, aus dem er getrunken hatte, um den Verdacht auf Murranus oder sogar auf Polybius zu lenken. Murranus hätte Spicerius töten sollen, aber er hat es nicht getan. Das Gift, das du verwendet hast, das wird dir der Arzt Valens bestätigen, war nicht stark genug. Es hätte über die Haut aufgenommen werden sollen; ich weiß nicht, wie das funktioniert.« Claudia deutete auf Valens. »Vielleicht kannst du es unserer Freundin erklären.« »Es stimmt.« Valens ließ sich nicht lange bitten; seine heftige, leidenschaftliche Abneigung gegen Agrippina war spürbar. »Ein Arzt«, sagte er mit leiser Stimme, »schließt alle möglichen Ursachen für eine Krankheit oder eine Infektion aus. Das, was er nicht ausschließen kann, ist gewöhnlich die wahre Ursache. Ich habe Spicerius über jenen Tag im Amphitheater sehr genau befragt. Er hatte am Abend zuvor gegessen und vor seinem Aufbruch in die Arena etwas Wasser getrunken. Doch er behauptete steif und fest, er sei bis kurz vor dem Kampf gesund und munter gewesen.« »Er hat den Wein getrunken«, unterbrach ihn Agrippina. Valens schüttelte den Kopf. »Spicerius hat mir – und sonst niemandem – gesagt, daß er die ersten Symptome verspürte, bevor er den Wein trank.« »Du lügst!« rief Agrippina. Er log wirklich, aber Valens hielt ihrem Blick stand. »Du hast genau das getan, was Claudia beschrieben hat, du mörderische Schlampe. In Rom gibt es Frauen, die sich mit ihren Cremes,
Pudern und Ölen selbst vergiftet haben. Einige der Farben, mit denen sie ihre Augen schminken, enthalten Belladonna, während ihre Puder mit einer tödlichen Form von Blei und sogar Arsen vermischt sind, das ihre Gesichter zerfressen kann. Du hast es gewiß selbst schon gesehen. Solche giftigen Substanzen gelangen in die Körperflüssigkeiten, zerstören die Eingeweide und verunreinigen das Blut. An dem Morgen, an dem Spicerius gegen Murranus kämpfen sollte, hast du ihn besucht und deine Gesichtsfarben mitgebracht, die mit Gift vermischt waren. Spicerius hat immer großen Wert auf gutes Aussehen gelegt. Er behauptete, wenn er sich anmalte wie eine Frau, sei das für seinen Gegner oft irritierend. Erinnerst du dich an jenen Morgen, Agrippina? Sein Gesicht war stark geschminkt. Als er im Amphitheater ankam, spürte er die ersten Symptome, dachte jedoch, das wäre die Anspannung. Er trank den Wein und trat hinaus in die Arena. Jeder Arzt wird dir bestätigen, daß eine Mischung aus Wein, großer Aufregung, ob aus Angst oder Freude, in Kombination mit körperlicher Aktivität das Blut in Wallung bringt. Und da zeigte das Gift seine Wirkung. Doch weil es über die Haut nicht zur Gänze aufgenommen worden war« – Valens beugte sich über seinen Finger, der nur ein paar Zentimeter von Agrippinas Gesicht entfernt war – »und aufgrund seines durchtrainierten Körpers und seiner hervorragenden Kondition hat Spicerius überlebt. Er würgte und erbrach sich, und das hat ihm das Leben gerettet. Und während alle von dem Aufruhr, den sein Zustand hervorrief, abgelenkt waren, hast du in der Höhle hinter dem Tor des Lebens dasselbe Gift in Spicerius’ Becher getan. Ich glaube nicht«, sagte Valens mit einem grimmigen Lächeln, »daß du ihn umbringen wolltest; du wolltest ihn nur schwächen und den Rest Murranus überlassen.«
Agrippinas Gesicht war aschfahl und schweißüberströmt. »Dafür hast du keinen Beweis, das hast du dir ausgedacht.« »Spicerius aber nicht«, sagte Valens. »Er blieb dabei, daß es ihm ausgezeichnet ging, bis er sein Gesicht schminkte. Er fragte sich, wie das möglich sei, aber er war so vernarrt in dich, daß er nicht glaubte, daß seine geliebte Agrippina ihm den Tod wünschen konnte. Ich habe ihm – wie schon öfter – geraten, keine Schminke mehr zu verwenden; selbst völlig harmlos wirkende Cremes und Öle können eine giftige Substanz enthalten.« Valens stampfte mit dem Fuß auf. »Zuerst dachte ich, es wäre vielleicht ein Versehen gewesen, aber dann« – seine Stimme wurde leiser – »begann ich zu zweifeln… Jedenfalls« – Valens schnalzte mit der Zunge – »wurde Spicerius immer unruhiger und verschlossener; er war zutiefst besorgt. Er beteuerte, daß er Murranus auf keinen Fall verdächtige und sich auf den zweiten Kampf freue. Und er klagte, daß er an Impotenz leide. Das stimmte, nicht wahr? Er erzählte mir, daß du ihm Liebestränke gegeben hättest; er glaubte wirklich daran, daß sie etwas nützten. In Rom gibt es Mittel, die einen Mann von diesem Leiden heilen können, zumindest eine Zeitlang. Ist das nicht richtig, Narcissus?« »Was du nicht wußtest, meine Liebe«, spann jetzt Narcissus die Geschichte weiter, wobei er Agrippinas Arm fest gepackt hielt, »ist, daß mein guter Freund Valens seinen Patienten zu mir geschickt hatte. Ich habe Spicerius genauestens untersucht, seine Lenden, seinen Anus, und kein Gewächs oder etwas anderes Bösartiges entdeckt. Ich glaube, an dem Tag, an dem er starb, ging er in die Gladiatorenschule, um sich mit Murranus zu treffen. Vorher besuchte er dich, aber er war auch bei mir. Er zeigte mir das Pergament und die beiden Pillen, die es enthielt. Sie waren hart wie Kekse, sollten sich aber zu einem Liebestrank auflösen, wenn man sie in Wasser oder Wein tat. Ich habe das natürlich als Unsinn bezeichnet, doch
Spicerius ließ sich nicht davon abbringen. Er sagte, du hättest ihm schon früher Liebestränke verabreicht, und er hätte keine negativen Wirkungen gespürt. Ich schnitt mit dem Messer ein paar Krümel von den Pillen ab und legte sie auf eine Waage. Ich wollte sie untersuchen, aber«, meinte Narcissus und zuckte elegant die Achseln, »du weißt ja, wie das ist, meine Liebe, so viel zu tun! Ich dachte erst wieder daran, als mir Valens erzählte, wie Spicerius gestorben ist.« »Agrippina!« Claudia klopfte ihrem Gegenüber aufs Knie. »Agrippina, schau mich an.« Die Mörderin tat, wie ihr geheißen. Ihre Unterlippe bebte, und ihre rechte Hand zitterte so stark, daß die Armbänder klimperten. »Du hast deinem Liebhaber gesagt, er solle hierherkommen«, rief Claudia, »und nicht zuviel essen oder trinken, sondern im Venuszimmer auf dich warten; er solle sich ausruhen und entspannen und natürlich die Pillen mit Wein zu einem Liebestrank mischen. Das hat er getan. Als der Arzt Valens Spicerius’ Leiche untersuchte, bemerkte er, daß sein rechter Zeigefinger sehr klebrig war; mit diesem Finger hatte er die Pillen in Polybius’ süßem Weißwein verrührt. Und außerdem«, fabulierte Claudia jetzt weiter, »hatte die eine Pille, von der Narcissus ein Stück abgeschnitten hatte, zu krümeln begonnen. Wir haben Spuren davon auf dem Laken gefunden. Armer Spicerius«, seufzte Claudia, »da saß er nun, dachte an die Wonnen mit Agrippina, hielt in der einen Hand die Liebesbotschaft und in der anderen den vergifteten Wein.« »Der Saft der bitteren Mandel ist ein tödliches Gift«, erklärte Valens. »Der Tod ist schnell eingetreten, wie ein Pfeil, der ins Herz trifft.« »Ich habe es nicht getan!« Claudia blickte in Agrippinas Gesicht, und ihr Mut sank. »Oh, aber natürlich hast du es getan«, entgegnete sie rasch. »Narcissus hat noch ein Stück von der Pille, und Valens weiß,
was er gesehen hat; das reicht, um dich vor Gericht zu bringen. Hast du schon einmal miterlebt, wie eine Frau verbrannt wurde? Agrippina, Narcissus wird mit dem Ankläger reden, Valens seine Aussage bestätigen und mein Onkel und andere werden erklären, daß Spicerius Murranus wirklich als seinen Freund betrachtete. Und danach werden wir Rom durchkämmen. Dafür habe ich Sallust engagiert. Er wird herausfinden, wo du das Gift gekauft hast.« »Ich habe es nicht gekauft.« Agrippina hielt inne. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut. »Ich habe es nicht getan!« kreischte sie so laut, daß Polybius von der Veranda herunterkam. Claudia gab ihm ein Zeichen, daß er dort bleiben solle. »Ich habe es nicht getan!« wiederholte Agrippina. Die Tränen strömten über ihre Wangen und vermischten sich mit der Schminke, was ihrem Gesicht ein unschönes Aussehen verlieh. »Natürlich hast nicht du es getan«, beruhigte Claudia sie. »Es war Dacius, nicht wahr? Er hat die Pillen gekauft und behauptet, es sei ein Aphrodisiakum; er hat dir gesagt, was du tun solltest. Du wußtest es nicht, oder?« Agrippina ging in die Falle. »Nein, ich wußte es nicht.« Sie hob das Gesicht. »Ich habe von alledem nichts gewußt. Ich kam her und dachte, daß Spicerius geil wie ein Hengst auf mich wartet. Ich habe ihm nichts Böses gewünscht.« Claudia stand auf und steckte ihren Dolch in die Scheide. »Aber du hast ihm die Schminkfarben gebracht?« »Ja, ja.« Agrippina verstrickte sich immer tiefer in ihr Lügengewebe. »Ich wollte etwas, damit er besser kämpft. Dacius gab mir ein Pulver. Ich habe es mit meiner Schminke vermischt, aber als ich sah, wie Spicerius zusammenbrach, geriet ich in Panik und schüttete es in seinen Becher. Ich wollte nicht, daß Murranus beschuldigt wird.«
»Und das gleiche gilt für die beiden Pillen?« fragte Claudia, »Dacius’ Heilmittel gegen Impotenz?« »Ja, genau.« Claudia unterdrückte ihre Abscheu vor dieser heimtückischen Frau, die jetzt log, um ihr Leben zu retten. Agrippina sprang auf. Narcissus wollte sie zurückhalten, doch Claudia nickte. »Wenn du gehen willst, dann geh.« Claudia trat beiseite. Agrippina rauschte an ihr vorbei und rannte beinahe über das Gras zurück in die Taverne. »Willst du sie wirklich laufenlassen?« fragte Narcissus. Claudia zog mit dem Finger die Umrisse ihrer Lippen nach. »Ich glaube, wir brauchen gar nichts zu tun. In der Taverne sind zwei Daker. Agrippina hat nicht nur sich selbst, sondern auch den Mann, unter dessen Einfluß sie steht, überführt. Was meinst du, Valens? Sie wird zu ihm gehen und ihm erzählen, daß wir alles wissen. Ich nehme nicht an, daß Dacius das gerne hören wird.« Claudia blickte zum Himmel empor. »Ich denke, Agrippina verbringt demnächst ihren letzten Tag auf Erden.« »Das denke ich auch.« Valens erhob sich und schüttelte das Gras von seiner Kleidung. »Aber mit deiner Erlaubnis«, sagte er seufzend, »würde ich der Sache gern ein wenig nachhelfen. Ich kenne einen freundlichen Polizeikommandanten. Ich glaube, ich gehe zu ihm und erzähle ihm, was ich erfahren habe.« »Sie werden nicht genug Beweise haben, um Dacius zu verhaften.« Valens’ altes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich denke, mit Dacius werden sich andere befassen. Spicerius hatte viele Freunde. Die werden sich um ihn kümmern, wie er sich um Agrippina kümmern wird. Ich werde nur etwas nachhelfen. Dein Onkel hat von Merkur dem Boten gesprochen.« Claudia konnte Valens’ Gedankengang daraus folgen und grinste. »Ich werde Polybius alles erzählen, was hier im Garten geschehen
ist. Wenn Murranus morgen die Arena betritt, wird fast ganz Rom davon wissen.« Die Sonne brannte vom mittäglichen Himmel. Die Hitze war so drückend, daß die kaiserlichen Bediensteten das große Sonnensegel, das die Zuschauer im Amphitheater schützte, voll aufgespannt hatten; andere Männer plagten sich an den Pumpen, mit denen die Menge mit kühlem, parfümiertem Wasser besprüht wurde. Claudia saß im hinteren Teil der kaiserlichen Loge und blickte aus halbgeschlossenen Augen auf Konstantin und seine Familie. Alle waren da – der Kaiser, die Augusta Helena, Rufinus und Chrysis. Gaius Tullius stand in seiner prächtigen Paradeuniform hinter dem Kaiserthron. Ehefrauen, Freunde, Gefolgsleute und ihr Anhang schlenderten umher. Dienstboten trugen Krüge und Becher mit kalten Getränken und Silberteller mit eisgekühlten Früchten herum. Rufinus’ Frau lachte; mehr ein Wiehern, dachte Claudia, wie eine rossige Stute. Die Frau beugte sich zum Thron der Kaiserin, um ihr irgendwelchen pikanten Klatsch zu erzählen. Schreiber brachten dem Kaiser und seiner Mutter Pergamentrollen, die sie lesen und mit ihrem Siegel versehen mußten. In der kaiserlichen Loge in der Mitte des Podiums im Flavischen Amphitheater roch es stark nach Tinte, Pergament, Parfüm, Siegelwachs und natürlich nach Blut. Der eigens importierte weiche Sand, der wie Goldstaub glitzerte, wurde jetzt gewendet, gerecht, gesiebt und vom Blut gereinigt. Kleinere Fetzen Menschenfleisch landeten in Eimern mit Salzlake, die dann in die Tierkäfige tief unter dem Amphitheater gebracht wurden. Das Brüllen und Schreien der hungrigen, eingesperrten wilden Tiere hallte in den grausigen Tunnels wider. Es waren nicht mehr sehr viele übrig. Die meisten Tiger, Panther, Löwen und Bären waren am Vormittag abgeschlachtet worden. Die Zuschauer – mehrere zehntausend – auf den steilen Stufen des Amphitheaters benutzten die Pause
in dem blutigen Spektakel, um sich bei den Händlern, die schwitzend die Treppen hinauf- und hinunterliefen und dabei lautstark ihre Preise verkündeten, mit würzigem Fleisch, Früchtemus und eisgekühltem Melonensaft zu versorgen. Claudia hatte schon vor langer Zeit beschlossen, niemals etwas von ihnen zu kaufen, denn Polybius hatte ihr schreckliche Geschichten erzählt: daß das Fleisch, das Brot und das Obst stark gewürzt wurden, um den Geschmack von Schimmel und Fäulnis zu übertünchen. Die Leute spazierten in den verschiedenen Abschnitten umher, entfernten sich jedoch nie weit von ihren Sitzplätzen. Die Abschnitte waren von hohen Mauern unterteilt, die die verschiedenen Schichten der Bürger von Rom trennten. In den untersten Reihen, links und rechts von der kaiserlichen Loge, trugen die Zuschauer weiße Togen und teure Tuniken, die sie als Senatoren, Edelmänner, hochrangige Beamte, Kaufleute und Bankiers auswiesen. Über diesem weißen Rand breitete sich wie eine dunkle, schmutzige, schäumende Welle das Grün, Blau, Gelb und Braun der Rangniedrigeren aus. Die Reichen wurden von den Händlern nicht belästigt. Sie hatten ihre eigenen Sonnensegel und goldgesäumten Sonnenschirme mitgebracht und ebenso Körbe mit köstlichem Fleisch, weichem Brot und dem besten Wein. Die Zuschauer ignorierten das Blut in der Arena und begafften statt dessen die mit prächtigen Tüchern geschmückte kaiserliche Loge. Sie versuchten einen Blick auf den Kaiser und seine Mutter zu erhaschen, ferne Gestalten in purpurgesäumten Kleidern mit silbernen Lorbeerkränzen, umgeben von der Pracht und dem Pomp des Reiches. Sie starrten die Wachen in ihren Paradeuniformen an, deren prunkvolle Helme mit Federbüschen geschmückt waren und deren Brustpanzer in der Sonne glänzten, und ebenso zu beiden Seiten der Loge die Standartenträger, die in die Felle von Panthern, Bären, Löwen
und Wölfen gehüllt waren und Adler und die federgeschmückten Insignien der Legionen trugen. Vor allem aber warteten sie auf die kaiserlichen Trompeter mit ihren goldverzierten Instrumenten; diese würden Ruhe gebieten, wenn der Kaiser entschied, daß die Spiele weitergehen sollten. Die Menschenmenge wogte hin und her; die Aufregung war spürbar. Ihr Blutdurst war geweckt, alle fieberten jetzt der Krönung der Spiele entgegen: Murranus, der um sein Leben und seine Ehre kämpfen würde. Claudia aß ein Stück Granatapfel, betrachtete die römische Aristokratie und beglückwünschte sich insgeheim zu ihrem Erfolg vom Vortag. Valens hatte recht gehabt. Agrippina war verschwunden, während Dacius offenbar sehr viel zu tun hatte. Es ging das Gerücht, daß er noch am selben Abend Rom verlassen und sofort ein Schiff nach Syrakus genommen hatte, wo er irgendwelche Geschäftspartner besuchen wollte. Claudia hatte in den »Eselinnen« gewartet und gehofft, daß Murranus käme, doch ihr Onkel hatte ihr verraten, daß Murranus heimlich trainiere und sich auf den Kampf vorbereite. Polybius hatte »Entschuldigung« mit einer Botschaft in die Gladiatorenschule geschickt, doch alles, was der Junge zurückgebracht hatte, waren die drei Worte »Vergiß mich nicht« gewesen. Claudia hatte sich bemüht, nicht zu weinen. Sie hatte im Speisesaal gesessen und Merkur dem Boten zugehört, der sie alle mit der Neuigkeit unterhielt, daß Spicerius von seiner verderbten Freundin ermordet worden war und daß Dacius dabei vielleicht die Hand im Spiel gehabt hatte. Diese Nachricht hatte sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Polybius hatte sie all seinen Bekannten in den stinkenden Nebengassen und Straßen der Armenviertel ins Ohr geflüstert. Sallust der Sucher hatte ebenfalls das Seine beigetragen, während Valens alte Freunde in den verschiedenen Garnisonen rund um die Stadt besucht hatte.
Claudia hatte sich in den Schlaf geweint und war lange vor Tagesanbruch von einem Boten des Kaiserhofes geweckt worden, der ihr eine Einladung überbracht hatte, die sie nicht ausschlagen konnte: Die Augusta benötigte ihre Anwesenheit in der kaiserlichen Loge zum Beginn der Spiele zu Ehren des Geburtstages ihres ruhmreichen Sohnes. Claudia hatte sich gewaschen, angezogen und war dann durch die Straßen geeilt, in einer Hand ihren Gehstock, die andere am Dolch in ihrem Gürtel. Selbst zu dieser frühen Stunde waren ihr die Plakate und behelfsmäßigen Anschläge aufgefallen, auf denen nicht nur die Spiele angekündigt und der Stand der Wetten auf die diversen Kämpfer verlautbart wurden, sondern auch die schockierende Neuigkeit über den Mord an Spicerius. Trotz ihrer eigenen Sorgen hatte Claudia erkannt, daß dies nicht nur ein Hinweis darauf war, wie sehr man in dieser Stadt den Klatsch liebte; es zeigte auch, wie ernst das Geschäft mit den Wetten war, bei denen Vermögen aufs Spiel gesetzt wurden und Gold und Silber die Besitzer wechselten. Die kaiserliche Gesellschaft war kaum im Amphitheater eingetroffen und hatte unter Trompetenstößen, dem Scheppern von Becken und dem tosenden Gebrüll der Menge ihre Plätze eingenommen, als Helena mit den Fingern schnipste und Claudia zu sich winkte. Die Kaiserin war guter Laune und außer sich vor Freude darüber, daß das kostbares Schwert wieder da war. Sie berichtete Claudia von Timothaeus’ phantastischem Fund und warf ihr dabei einen seltsamen Blick zu. Claudia fragte sich, ob sie die Wahrheit ahnte. »Aber das tut jetzt nichts zur Sache«, sagte Helena. »Was ist dran an diesen Neuigkeiten über Spicerius? Ist das wahr? Weiß Murranus davon? Wie geht es ihm? Hat er das Gefühl, daß er siegen wird?« Claudia versuchte so direkt wie möglich zu antworten. Aufgeregt winkte Helena Rufinus herbei, flüsterte ihm rasch
etwas zu und machte mit den Fingern Zeichen. Claudia vermutete, daß die Kaiserin ihre Wetten änderte. Rufinus rief einen Schreiber herbei, der etwas in ein Buch aufnahm, und erst als der Bankier wieder weg war, wurde Claudia erneut zur Kaiserin gerufen, die ihr eine Reihe weiterer Fragen über die Morde in der Villa Pulchra stellte. Ob sie irgend etwas Neues wüßte? Ob sie Fortschritte gemacht hätte? Als Claudia mit den Achseln zuckte und eine Antwort murmelte, blitzten Helenas Augen zornig auf, doch die Kaiserin nannte sie auch ein sehr braves Mäuschen und drückte ihr als Entschädigung für ihre Mühe einen kleinen Beutel in die Hand, bevor sie sie wieder zu ihrem Hocker im hinteren Teil der Loge entließ. Rufinus war näher getreten, um mehr zu erfahren. Chrysis war ihm gefolgt. Der rundliche Haushofmeister mit dem verschwitzten Gesicht war ganz aufgeregt, und Claudia fand, daß er ein noch besserer Schauspieler war als Narcissus, den sie gerade mit einer Nachricht für Murranus zum Tor des Lebens geschickt hatte. Chrysis wedelte mit der Hand vor ihren Augen herum, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Warum«, zischte er ihr ins Gesicht, »besteht Murranus noch immer darauf, mit dem Stier zu kämpfen? Er kann doch die Beschuldigungen zurückweisen. Ich habe gehört, was passiert ist…« »Ich weiß es nicht«, flüsterte Claudia. »Ich habe Murranus Botschaften geschickt, aber er hat sich zurückgezogen. Er will sich rehabilitieren. Ich bin nicht verantwortlich für deine Wetten.« Dann holte Claudia tief Luft und streckte die Beine aus; sie mußte sich entspannen. Sie blickte sich in der Loge um. Sylvester, Athanasius und die anderen Redner waren da, drehten jedoch der Arena den Rücken zu, um öffentlich zu demonstrieren, daß sie solch blutige Spiele mißbilligten. Claudia konnte sie verstehen. Während des Spektakels am
Vormittag, bei dem verurteilte Verbrecher getötet, ihre blutüberströmten Körper von Tigern oder Panthern zerfetzt worden waren, hatte sich Claudia verborgen gehalten. Der Sand in der Arena war erblüht wie eine grausige Blume, das Blut hatte nur so gespritzt, das Gebrüll der Tiere und die Schreie ihrer Opfer hatten die Luft zerrissen. Claudia konnte nicht sagen, was entsetzlicher war – die grauenhaften Szenen in der Arena oder das völlige Desinteresse, das die Leute in der kaiserlichen Loge an den Tag legten. Konstantin plauderte mit seinen Freunden; Helena diktierte ihren Schreibern oder verlangte lautstark nach einer Schriftrolle. Claudia hatte das Gefühl, in einem Irrenhaus zu sein. Das Blut floß in Strömen, Verbrecher wurden abgeschlachtet, gefressen oder verbrannt, doch das kümmerte keinen. Aber war sie selbst etwa anders? Die Probleme, die sie beunruhigten, waren wie der Tod der Männer und Frauen in der Arena: etwas, womit man fertig werden mußte. Sie kam zu dem Schluß, daß das menschliche Herz nur ein begrenztes Maß an Angst aushielt, nur ein bestimmtes Maß an Mitgefühl empfinden konnte und sich dann wieder seinen eigenen Problemen zuwandte. Sie hatte nur einen einzigen Gedanken: Würde Murranus am Leben bleiben oder sterben? Die kommenden Stunden würden auch für ihr eigenes Leben entscheidend sein, es vielleicht für immer verändern. Vergangenheit und Gegenwart trafen sich wie Vorhänge, die rund um ein Bett gezogen wurden. Was war sie jetzt? Nicht mehr Helenas Agentin, ihre Spionin, die Nichte von Polybius, die Freundin von diesem oder jenem. Vor ihrem geistigen Auge sah sie nur noch Bilder von Felix, Murranus und Meleager. Sie wollte Sühne für Mord und Vergewaltigung, sie wollte von derartigen Gedanken befreit werden, sie wollte, daß die Geister sie losließen. Erst dann würde sie frei sein. Sie hatte das Gefühl, sich in einem ihrer Theaterstücke zu
befinden. Die Menschen um sie herum redeten und gingen umher, doch sie hatten nichts mehr mit ihr zu tun. Claudia beruhigte sich. Die Trompeter setzten ihre Instrumente an die Lippen. Konstantin hob die Hand. Narcissus kam in die Loge geschlichen und schüttelte traurig den Kopf. »Ist mit dir alles in Ordnung?« Gaius Tullius stand mit besorgter Miene vor ihr. »Ist mit dir alles in Ordnung, Claudia? Du siehst blaß aus. Willst du Wein oder Obst?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern trat an einen Beistelltisch, füllte einen Becher, kam damit zurück und drückte ihn ihr in die Hand. »Du darfst nicht denken«, flüsterte er, »nur zuschauen! Das Schicksal wird entscheiden.« Seine Worte gingen in den schrillen Fanfaren unter. Claudia hörte ein scheußliches Quietschen, trank einen Schluck Wein, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte hinunter. Die cochlea, eine riesige Pendeltür auf einem beweglichen Untersatz, wurde in die Mitte der Arena gezogen und geschoben. Zumindest hatte man sie nach dem vorherigen Massaker abgespritzt und gewaschen. Sie setzte ihren Becher ab. Man gab Murranus eine Chance; wer gegen ein wildes Tier kämpfte, konnte mit dieser Tür den Gegner ablenken, eine kleine Unterbrechung bewirken, sich kurz ausruhen. Endlich war die cochlea auf ihrem Platz. Wieder ertönten die Trompeten. Die Menschen sprangen auf, und tosendes Gebrüll stieg zum Himmel empor, als Murranus durch das Tor des Lebens trat. Claudia hörte die Leute um sich herum nach Luft schnappen und schreien und merkte, daß sie schwankte. Murranus trug weder Sandalen noch Rüstung, keinen Helm, keinen Brustpanzer und keine Beinschützer; nichts als einen fest geknoteten weißen Lendenschurz. In einer Hand hielt er
ein Kurzschwert, in der anderen einen langen, rechteckigen Legionärsschild. »Was macht der denn?« flüsterte Gaius Tullius. Murranus ging langsam zu dem Podest unter der kaiserlichen Loge und streckte seinen Schild und das Schwert zum Gruß in die Höhe. Konstantin hob als Antwort die Hand. Claudia weinte, ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Murranus – mit rasiertem Kopf und eingeöltem Gesicht – blickte mit einem zärtlichen Lächeln zu ihr hinauf, als wolle er schwimmen gehen oder durch Polybius’ Garten spazieren, um sich in den Schatten zu setzen. Sie hätte ihm gern etwas zugerufen, aber die Trompeten ertönten erneut, die große eiserne Falltür am anderen Ende der Arena wurde geöffnet, und der Kampfstier tauchte auf. Es war ein prachtvolles Tier, schwarz wie die Nacht, schlank und rank, mit langen Beinen und kräftigen Schenkeln und Schultern. Das glänzende Fell schimmerte in der Sonne, er warf den Kopf hin und her, schnaubte und brüllte. Die Hörner mit den rasiermesserscharfen Spitzen leuchteten. Eine Zeitlang war der Stier irritiert, er scharrte im Sand und wandte den Kopf vom grellen Licht ab. Die Zuschauer hatten einen Sprechchor angestimmt. Der Stier senkte den Kopf und drehte ihn von einer Seite zur anderen. Er suchte seine Beute. Murranus schlenderte durch die Arena und trat vor die cochlea. Er bewegte den roten Schild hin und her, um den Stier auf sich aufmerksam zu machen. Der Stier trabte jedoch vor und wieder zurück, schüttelte den Kopf und schnaubte, fast als überlege er, wie er vorgehen solle. Claudia sah, wie flink er sich bewegte, geschmeidig, wie ein tänzelndes Pferd; die Hufe berührten kaum den Boden. Zornig knirschte sie mit den Zähnen. Sie wußte nichts über Stiere, aber irgend jemand, vermutlich Dacius, hatte eine gute Wahl getroffen. Dieser Stier
war ein erstklassiges Exemplar und hatte wahrscheinlich schon viele Kämpfe gewonnen. Murranus tänzelte vor und versuchte den Stier zu reizen. Das Tier wich zurück. Dann schnappten die Zuschauer wie ein einziges Wesen nach Luft: Blitzschnell setzte der Stier zum Angriff an und raste direkt auf Murranus zu. Der Gladiator ließ seinen Schild fallen und zog sich hastig hinter die cochlea zurück. Die Menschen brüllten. Der Stier drehte sich ein wenig zur Seite und stieß mit den Hörnern nach dem am Boden liegenden Schild, rammte ihn mit seinem Kopf und zertrampelte ihn mit seinen Hufen. Dann wich er zurück und beäugte die cochlea, als überlege er, was das wohl sei. Die Stimmung im Amphitheater veränderte sich. Claudia merkte, wie sich die Muskeln ihrer Oberschenkel anspannten. Ein Teil der Zuschauer brach in höhnisches Johlen aus und machte sich über Murranus’ Aktionen lustig. Jetzt hatte der Stier ihn entdeckt und lief um die cochlea herum. Das Spiel ging weiter. Der Stier griff schnell an, Murranus lief weg, hob seinen Schild auf und benutzte ihn und die cochlea als Schutz. In der kaiserlichen Loge gab es hitzige Diskussionen über seine Taktik. Einige tuschelten etwas von Feigheit, während andere meinten, daß Murranus den Stier vielleicht ermüden wolle. Claudia verstand nicht, was vorging. Es sah aus, als würde Murranus schwächer – sein Körper glänzte von Schweiß, während der Stier nach wie vor ungestüm und angriffslustig war. Das einzige, was ihr auffiel, war, daß sich der Stier nicht mehr zurückzog, sondern die cochlea umkreiste, bevor er mit donnernden Hufen Muranus attackierte und dabei fast in das Hindernis hineinkrachte oder sich umdrehte, um den ramponierten Schild, den Murranus immer wieder fallen ließ, aufzuspießen. Manchmal war Murranus nicht schnell genug;
einmal stolperte er und wälzte sich im Sand, um den Hufen und den gefährlichen Hörnern auszuweichen. Der Kampf ging weiter. Die Zuschauer johlten, waren gleichzeitig verwirrt. Der Stier wirkte allmählich erschöpft, verunsichert und wütend. Seine Angriffe wurden kürzer, waren jedoch nach wie vor kraftvoll. Dann geschah es. Mit Schild und Schwert bewaffnet, stand Murranus wieder einmal vor der cochlea und reizte das Tier zum Angriff. Der Stier scharrte mit den Hufen im Sand, warf den großen schwarzen Kopf zurück und schoß blitzschnell wie ein Pfeil auf ihn los. Diesmal zog sich Murranus nicht zurück. Er ließ seinen Schild fallen und rannte auf den Stier zu. Die Zuschauer schnappten nach Luft und kreischten auf. Der Stier versuchte seinen Ansturm zu bremsen. Murranus sprang wie ein Athlet, der eine Hürde nahm, in die Luft und machte einen eleganten Salto über den Stier. Das verstörte Tier konnte nicht stehenbleiben und krachte in die hölzerne Plattform, auf der die cochlea stand. Es wirkte von dem Stoß wie benommen, torkelte und versuchte umzukehren. Murranus sprang geduckt auf den Stier zu. Er holte mit seinem Schwert aus und schlitzte das rechte Bein des Tieres auf, durchtrennte die Muskeln und Sehnen. Dann schnellte er herum und schnitt in das andere Bein, wenngleich nicht so tief und gefährlich. Der Stier brüllte vor Schmerz auf, drehte sich um, jedoch langsamer und gefährlich geschwächt. Er schien sich der Verletzungen nicht bewußt zu sein, bis er versuchte anzugreifen. Seine Hinterbeine gaben nach, und er brüllte. Wieder stürzte sich Murranus auf ihn und stach zu, diesmal auf die Vorderbeine, direkt über den Hufen. Der Stier war ernsthaft verletzt, er taumelte und schwankte. Die Zuschauer schrien, bejubelten Murranus’ Geschick und Tapferkeit. Der Gladiator hob das Schwert und drückte die Breitseite an sein Gesicht, als salutiere er vor seinem Gegner. Der Stier torkelte vorwärts und sank auf die Knie. Murranus
glitt an seine Seite und stieß das Schwert tief in den Nacken des Tieres. Blut spritzte aus der Wunde. Der Stier hustete, brüllte und brach zusammen, während das Publikum sich erhob und tosend seinen Beifall bekundete.
KAPITEL 13 »Was zu beweisen war.« Euklid, Die Elemente
»Ich wußte gar nicht, daß du ein Stierspringer bist!« Claudia saß auf der Bank in der kleinen, zellenartigen Taverne neben dem Haupttunnel unter dem Amphitheater und hoffte ihr Zittern verbergen zu können. »Ich auch nicht.« Murranus grinste. Auf Polybius’ Geheiß streckte er die Arme aus, damit der Tavernenwirt und Oceanus ihm den Schweiß abtrocknen und seinen Körper einölen konnten. Sie nahmen ihm das Lendentuch ab. Verlegen blickte Claudia zum Eingang, wo zwei stämmige Söldner Neugierige und Gratulanten am Eintreten hinderten. Der Tunnel war nur schwach beleuchtet; man sah huschende Schatten und tanzende Flammen, man hörte das gespenstische Echo ferner Stimmen, das Brüllen aus den Tierkäfigen und die Schreie der Menschenmenge, die jetzt auf den Höhepunkt des Tages wartete. Plötzlich schwoll der Lärm aus dem Tunnel an. Claudia ging zur Tür. Die Arena wurde gereinigt, der Kadaver des Stiers hinaus zum Schlachthof gezogen. Claudia kehrte zu ihrem Platz zurück. Sie war vor Erleichterung ganz schwach und fürchtete gleichzeitig den bevorstehenden Kampf gegen Meleager, der sich in einer Kammer weiter unten im Tunnel ebenfalls gerade bewaffnete. Die Zuschauer waren von Murranus’ Leistung begeistert gewesen, ehrlich erstaunt über seine raffinierte Taktik und den geschickten Sprung. Natürlich hatten manche von ihnen bereits die Stierspringer von Kreta gesehen, doch noch selten war eine
derartige sportliche Darbietung in einer Arena von Rom gezeigt worden. Selbst der Kaiser hatte sich erhoben und Beifall gespendet. Claudia war auf und ab gehüpft, und Onkel Polybius hatte einige Zeit gebraucht, bis er sie beruhigen und ihr zuflüstern konnte, daß Murranus sie sehen wolle. »Fertig.« Claudia drehte sich um. Murranus klopfte auf seinen neuen Lendenschurz. »So sauber und ordentlich«, sagte er und zwinkerte Claudia zu, »wie ein Bräutigam an seinem Hochzeitstag.« Jetzt begannen Polybius und Oceanus die Ausrüstung, die am Boden lag, auszubreiten: den mit silberner Filigranarbeit verzierten Brustpanzer, den ledernen Schurz, den rechteckigen Schild, den bestickten Schwertgürtel, den Beinschutz und einen glänzenden Armschutz. »Ist das nicht der von Spicerius?« fragte Claudia. »Stimmt«, murmelte Murranus. »Ich trage ihn heute ihm zu Ehren.« Er legte den Armschutz an. Oceanus beeilte sich, die Riemen festzuziehen. »Du scheinst dich nicht besonders für den Klatsch zu interessieren.« Polybius hob den verzierten thrakischen Helm mit dem breiten Rand und dem schweren Gesichtsschutz auf und strich mit den Fingern den prächtigen roten Busch aus Pferdehaar glatt. »Ich meine, willst du denn nicht wissen«, fragte Polybius und drückte Oceanus den Helm in die Hand, »was die Leute über Meleager sagen?« »Es interessiert mich nicht.« Murranus starrte Claudia an. »Das Geschwätz der Leute ist mir völlig egal. Was spielt das für eine Rolle, wenn ich in der nächsten Stunde getötet werde?« »Sag das nicht«, bat Polybius eindringlich. »Ich sagte, wenn.« Murranus klopfte ihm auf die Schulter. »Ich habe den Stier geopfert. Jetzt werde ich hinausgehen und
Meleager besiegen, aber, meine Herren, ich danke euch für eure Fürsorge und Aufmerksamkeit.« Er wies auf den Eingang. »Die Helden von Homer im antiken Griechenland bereiteten sich auf eine Schlacht stets mit Hilfe einer schönen Maid vor.« Polybius und Oceanus verstanden den Wink, drückten ihm die Hand, umarmten ihn, wünschten ihm viel Glück und gingen. Draußen hallte der Tunnel vom Klang der Stimmen wider. Der Herold rief, daß Meleager bereit sei. Murranus ging zu Claudia, umarmte sie sanft und küßte sie auf die Stirn. »Du Stierspringer«, flüsterte sie und lehnte sich an ihn. »Ich wollte dir nichts davon sagen.« Murranus küßte sie wieder. »Ich habe geübt. Ich wußte nicht, ob so ein Trick funktionieren würde. Ich wollte dich nicht vorher sehen, um dich nicht zu beunruhigen.« »Du darfst nicht sterben«, flüsterte sie. »Bete zu jedem Gott, zu dem du beten magst, Claudia. Ich werde den Geist von Spicerius und all die Toten anrufen, damit sie mir beistehen. In einem Augenblick wie diesem kann man seine Toten um sich herum spüren.« »Es gibt noch andere Geister.« Claudia hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie löste sich von Murranus, ging zurück zur Bank und klopfte auf den Platz neben sich, damit sich Murranus zu ihr setze. »Was ist los, Claudia?« »Es gibt hier wirklich Geister«, erklärte Claudia. »Meinen Vater, meine Mutter und vor allem den kleinen Felix. Murranus, ich werde dir jetzt etwas sagen, das ganz gewiß kein Irrtum von mir ist.« Sie nahm seine schwielige Hand. Zuerst sprach sie zögernd, doch dann flossen die Worte hitzig und schnell. Sie berichtete, wie sie Meleager kennengelernt hatte, erzählte, daß er mit Dacius befreundet und sie fest davon überzeugt war, daß er der
Mann war, der sie vergewaltigt und ihren Bruder umgebracht hatte. Murranus hörte aufmerksam zu. Nur ein Muskel, der in seiner Wange zuckte, und der kalte, tote Blick seiner Augen verrieten den Zorn, der in ihm brodelte. Als Claudia mit ihrem Bericht fertig war, nahm er sie in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Brust und strich ihr über das Haar. Sie wünschte, so verharren zu können. »Murranus, bist du bereit?« Als Gott Merkur verkleidet, stand der Herold in der Tür und ließ seinen weißen Stab durch die Luft sausen. »Murranus.« Hinter der grotesken Maske klang die Stimme des Boten hohl. »Der Kaiser wartet, die Einwohner von Rom warten.« Murranus schob Claudia sanft von sich und erhob sich. Sie half ihm mit der Rüstung und zog die Riemen fest. Als er fertig war, streckte und beugte er seine Muskeln, küßte sie noch einmal, setzte den Helm auf, nahm Schwert und Schild und trat hinaus in den Gang. Den Helm unter dem Arm, stand Meleager in ähnlicher Bewaffnung und mit glänzendem Brustpanzer bereits da und wartete. Als Murranus näher kam, setzte Meleager seinen Helm auf. Claudia fand, daß der große Busch aus Pferdehaar wie Blutspritzer über seinem Kopf wirkte. Meleager wollte Murranus die Hand geben, doch dieser schob sich an ihm vorbei, und die Organisatoren und Dienstboten stoben beiseite, um ihm den Weg frei zu machen. Murranus trat ins grelle Licht der Arena, und Meleager hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Die überrumpelten Trompeter setzten zu Fanfaren an. Die Zuschauer sprangen auf und brüllten; jetzt kam der Höhepunkt der Spiele. Claudia kehrte nicht zurück in die kaiserliche Loge. Sie blieb am Tor des Lebens stehen. Murranus und Meleager schritten über den Sand und traten vor die kaiserliche Loge, nahmen
ihre Helme ab, hoben Schwert und Schild zum Gruß und riefen den üblichen Satz: »Die Todgeweihten grüßen dich.« Konstantin hob dankend die Hand. Die Gladiatoren gingen auseinander. Murranus legte seinen Schild und das Schwert in den Sand und nahm den Helm wieder ab; das vereinbarte Zeichen, daß er sprechen wollte. Er merkte gar nicht, wie still es im Amphitheater geworden war; er wollte nur Meleagers Gesicht sehen und ihm unverblümt sagen, daß er jetzt sterben werde. »Was ist los?« Meleager nahm ebenfalls den Helm ab und wischte sich die Schweißtropfen vom Gesicht. »Willst du deine Niederlage eingestehen? Die Zuschauer werden das verstehen, besonders nach deinem Glück mit dem Stier.« Murranus lächelte träge zurück. Er wollte dieses Gesicht studieren, sich genau einprägen, wie Meleager aussah. Die Menschen brüllten jetzt, aber das war Murranus egal. Er hob seinen Helm auf und wischte den Sand aus dem Pferdehaarbusch. »Dein Freund Dacius.« An Meleagers Miene erkannte er, daß sein Gegner nur allzu gut wußte, was geschehen war. »Er ist aus Rom geflohen.« Murranus zwinkerte. »Er wird nicht dasein, um dich sterben zu sehen.« Das starre Lächeln schwand aus Meleagers Gesicht. »Und du wirst sterben«, fuhr Murranus fort. »In einem Tunnel hinter dir steht eine junge Frau, Claudia, meine große Liebe. Vor achtzehn Monaten war sie mit ihrem Bruder an einer einsamen Stelle am Ufer des Tiber. Ein Fremder hat sie überfallen, den Jungen getötet und diese junge Frau vergewaltigt. Der Mann war groß und muskulös, und auf seinem Handgelenk war ein purpurner Kelch eintätowiert, dasselbe Zeichen, das auch Dacius trägt. Du hast die Tätowierung entfernen lassen.« Murranus merkte, daß der Atem seines Gegners schneller wurde und er erstaunt blinzelte.
»Du hast die Tätowierung entfernen lassen«, wiederholte Murranus, »aber das Verbrechen kannst du nicht ungeschehen machen, und dafür wirst du nun büßen.« Murranus setzte den Helm auf und zog die Schnalle fest. Erst jetzt drangen die Schreie, Pfiffe und gelegentlichen Buhrufe der zunehmend unruhiger werdenden Zuschauer zu ihm durch. Er hatte den Zeitpunkt gut gewählt. Meleager war irritiert. Murranus war als erster wieder fertig und ging ein Stück weiter, so daß er mit dem Rücken zur kaiserlichen Loge stand. Die Neugier der Zuschauer war geweckt. Sie fragten sich, was geschehen war, und waren verblüfft über Murranus’ wütenden Angriff. Professionelle Gladiatoren tänzelten und plänkelten gewöhnlich anfangs herum, um die Behendigkeit und Stärke des Gegners zu testen. Das tat Murranus nicht. Mit hochgehobenem Schild stürmte er auf Meleager zu. Sein Schwert zuckte wie die Zunge einer Schlange und suchte den weichen Halsansatz. Überrascht sprang Meleager zurück und drehte sich dabei ein wenig, so daß der todbringende Hieb nur ein Stück Leder von seinem Schulterschutz abschnitt. Wieder griff Murranus an. Er benutzte sowohl den Schild als auch das Schwert wie einen Rammbock, wirbelte Sand auf und zwang seinen Gegner zum Rückzug. Meleager stürzte, wälzte sich im Sand und verlor sein Schwert. Murranus lief zu seinem Gegner und warf ihm mit dem Fuß die Waffe zu – eine beiläufige Geste, die nichts als Verachtung ausdrückte, als wäre ihm bereits klar, daß sein Sieg nur eine Frage der Zeit war. Die Zuschauer brüllten begeistert. Murranus drehte sich um. Sein Blick suchte die anmutige kleine Gestalt, die am Tor des Lebens stand. Er hob sein Schwert zum Gruß und fuhr dann mit seiner Attacke fort, kämpfte wie ein Besessener. Er dachte nicht mehr an Taktik. Er war nur noch auf seinen Gegner konzentriert: auf sein Ächzen, seinen Geruch, das Gesicht hinter dem Visier, seinen
gepanzerten Körper, sein Schwert und seinen Schild. Er empfand weder Schmerz noch Furcht; er war fest entschlossen, seinen Gegner zu vernichten, ihm sowohl das Leben als auch die Ehre zu nehmen. Das Ende kam rasch. Meleager, der von der Schnelligkeit und Heftigkeit des Angriffs völlig überrumpelt war, versuchte, mit einem Hieb auf Murranus’ Bein die Attacke seines Gegners zu bremsen. Dabei war seine Schulter ein paar Sekunden ungeschützt, und Murranus schlug mit dem Schwert zu. Meleager fuhr zurück und entging der vollen Wucht des Schlags, doch die scharfe Klinge von Murranus’ Schwert war tief in sein Fleisch gedrungen. Meleager ließ seine eigene Waffe fallen und taumelte davon. Murranus folgte ihm und schlug ihn mit dem Buckel seines Schildes nieder. Meleager versuchte sich davonzuwälzen, doch Murranus setzte ihm nach und stellte schließlich den Fuß auf die Brust seines am Boden liegenden Gegners. Dann beugte er sich hinunter, nahm Meleager den Helm ab und schleuderte ihn durch die Arena. Jetzt waren alle Zuschauer aufgesprungen, winkten mit Tüchern und streckten die Hände aus, um Meleagers Schicksal zu entscheiden. »Töte ihn!« und »Gib’s ihm!« riefen sie. Meleager lag reglos da und blickte aus halbgeschlossenen Augen zu Murranus auf. Er bat nicht um Gnade, während Murranus ihm nicht einmal ins Gesicht sah, sondern sich mit erhobenem Schwert zur kaiserlichen Loge umdrehte und auf den Wunsch des Kaisers wartete. Die rechte Hand und den rechten Daumen ausgestreckt, lehnte sich Konstantin über die purpurne Balustrade. Wenn er den Daumen nach unten drehte, würde Meleager sterben; ein nach oben gerichteter Daumen würde bedeuten, daß Murranus Gnade walten lassen mußte. Der Gladiator wartete. Irgend jemand sprach mit Konstantin; die Hand wurde zurückgezogen, wieder ausgestreckt und der Daumen rasch nach oben gedreht. Meleager sollte am Leben
bleiben. Murranus beugte sich vor und drückte die Spitze seines Schwertes auf den Hals seines Gegners. »Du kämpfst wie ein Affe«, zischte er, »und du wirst sterben wie ein alter Hund.« Dann trat er zurück und stieß Meleager mit dem Fuß dessen Schwert zu. »Darauf«, sagte er spöttisch, »kannst du dich stützen, wenn du aufstehst und zu deinen verkommenen Freunden zurückhumpelst.« Damit ging er davon. Claudia stand am Eingang des Tors des Lebens und beobachtete die Szene wie ein Theaterstück. Murranus hatte den Schild fallen gelassen, hielt aber noch immer sein Schwert in der Hand. Er schritt auf sie zu, wobei seine in Sandalen gekleideten Füße den Sand aufwirbelten. Die Leute in der kaiserlichen Loge waren aufgestanden; die Zuschauer schrien noch immer vor Begeisterung und jubelten dem Helden der Spiele zu. Claudia sah, daß sich Meleager bewegte. Er packte sein Schwert, das auf dem Boden lag, rappelte sich hoch und schoß gebückt, mit gezogener Waffe, auf Murranus zu. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, brachte aber keinen Laut heraus. Plötzlich drehte sich Murranus um und hob sein Schwert. Er schlug seinem Gegner den Arm ab und stieß dann sein Schwert tief in Meleagers Bauch, drehte es nach links und rechts und holte Meleager zu sich heran, um zusehen zu können, wie das Lebenslicht in seinen Augen erstarb. Erst jetzt zog er mit Hilfe seines Fußes das Schwert heraus und ließ die Leiche in den Sand fallen. Aus der Wunde in Meleagers Bauch schoß das Blut. Die Zuschauer stampften und schrien, warfen Münzen und Blumen in die Arena, die Trompeten erschallten. Murranus löste seinen Helm und warf ihn in den Sand. Mit erhobenem Schwert, von dem Meleagers Blut herabrann, drehte er sich um
und nahm den Beifall des Kaisers und der Einwohner von Rom entgegen. Claudia konnte nur dastehen und zusehen, wie sich Murranus immer wieder im Kreis herumdrehte und lauthals in das Siegeslied einstimmte, das die Menge ihm zum Ruhm grölte. Der Kaiser hatte Meleager das Leben geschenkt, und der besiegte Gladiator hatte sowohl gegen den Wunsch des Kaisers als auch gegen das einzige Gesetz der Arena verstoßen: Mut konnte einem Mann das Leben retten; auf Feigheit stand der Tod. Meleagers Angriff war heimtückisch gewesen. Hätte ihn Murranus nicht getötet, dann hätte Konstantin Soldaten geschickt, um es zu tun. Nur sehr wenige Zuschauer hatten gemerkt, wie Murranus seinen Gegner provoziert hatte, bevor er langsam davonging. Und Claudia hatte gesehen, daß er seine linke Hand gedreht hatte, um mit Hilfe von Spicerius’ Armschutz zu erkennen, was hinter ihm geschah. Sobald Meleager sein Schwert ergriffen und zu seinem letzten, feigen Angriff angesetzt hatte, war er ein toter Mann gewesen. Claudia mußte jede Hoffnung, mit Murranus allein sein zu können, rasch fahrenlassen. Kaum trat er durch das Tor des Lebens, kamen Höflinge angelaufen und teilten ihm mit, daß der Kaiser ihm befahl, in der kaiserliche Loge zu erscheinen, um den Siegerlorbeer entgegenzunehmen. Konstantin war offenbar entzückt und wollte nichts lieber, als mit diesem neuen Helden von Rom in Verbindung gebracht zu werden, wenngleich das Gedächtnis des Pöbels unberechenbar war und Murranus’ Heldentat im Laufe der kommenden Tage bald hinter irgendwelchen anderen Ereignissen bei den Spielen zurücktreten würde. Murranus umarmte und küßte Claudia. Helfer sammelten seine Waffen ein, und dann wurde er durch die Tunnel und Gänge nach oben geführt, wo Konstantin auf ihn wartete. Claudia sah ihm nach. Sie zitterte immer noch, und sie spürte, wie ihr das wenige Essen, das sie zu sich
genommen hatte, im Magen lag. Als sie zum Tunnel zurückging und Narcissus ihr aus der Dunkelheit entgegentrat, seufzte sie erleichtert auf. »Genau der Mann, den ich brauche! Hast du meinen Gehstock und meinen Umhang?« Narcissus deutete auf ein Regal hinter ihm. »Gut«, hauchte Claudia. »Ich gehe nach Hause, Narcissus, und du kommst mit mir. Ich werde Meleager vergessen und unter den Obstbäumen einschlafen, während du über mich wachst.«
Die Sonne begann bereits zu sinken, und die Brise war erfrischend kühl geworden, als Claudia von Geräuschen geweckt wurde: Polybius und Poppaoe richteten den Tavernengarten für ein »Mitternachtsfest« her, wie es ihr Onkel stolz nannte. Sie kämpfte sich aus dem Schlaf und rieb sich das Gesicht. »Ich habe jetzt keine Zeit, mit dir zu reden.« Polybius wedelte mit dem Finger. »Ich lasse die Eingangstür von Oceanus und ein paar der hiesigen Jungs bewachen, sonst haben wir halb Rom hier. Wir werden Murranus festlich bewirten, auf seinen Sieg anstoßen und uns sternhagelvoll laufen lassen.« »War Besuch für mich da?« fragte Claudia. »Besucher?« Poppaoe kam mit den Armen voller Geschirr über das Gras gelaufen. »Wo ist der verdammte Tisch?« schrie sie. »Besucher?« wiederholte Claudia. »Ich weiß es nicht«, sagte Poppaoe seufzend. »Halb Rom ist hier, und du redest von Besuch?« Claudia merkte bald, woher der Wind wehte. Für Poppaoe und Polybius war das nicht irgendeine Feier, sondern der
Ausdruck ihrer eigenen Erleichterung. Polybius liebte Murranus über alles, er betrachtete ihn als den Sohn, den er sich immer gewünscht hatte, und er redete ununterbrochen davon, was an diesem Tag in der Arena vorgefallen war. Claudia half ihrem Onkel; sie holte Kissen und Hocker, Öllampen und Kerzen heraus und ging dann in die Küche, um bei den Vorbereitungen für das »Fest für einen Kaiser«, wie ihr Onkel es bezeichnete, mit Hand anzulegen. Oceanus bewachte inzwischen die Tür und ließ nur ein paar wenige ausgewählte Gäste ein, darunter Simon den Stoiker und Petronius den Zuhälter. Sobald sie drinnen waren, schnappte Poppaoe sie und trug ihnen auf, mit anzupacken. Nach Einbruch der Dämmerung hörte man am Lärm auf der Straße, daß Murranus da war. Den Lorbeerkranz des Siegers schief auf dem Kopf, in einer Hand einen silbernen Weinbecher, in der anderen einen goldgeprägten Krug, torkelte er in den Speisesaal. »Die hat mir der Kaiser persönlich gegeben«, lallte er. »Ich werde seine Mutter heiraten!« Dann blickte er hinauf zur Decke, verdrehte die Augen und sank zu Boden. Krug und Becher flogen durch den Raum. Claudia half, ihn hinaus in den Garten zu tragen, wo man es ihm auf einem behelfsmäßigen Bett aus Kissen bequem machte. »Entschuldigung« kniete sich neben ihn und verscheuchte die Fliegen. »Er wird sich schon erholen«, rief Polybius. »Ein paar Stunden Schlaf, und er ist wieder frisch und munter.« Claudia blieb bei Murranus und plauderte mit »Entschuldigung«, bis Poppaoe Sallust den Sucher in den Garten führte. »Ich habe Neuigkeiten für dich.« Er warf einen Blick auf den ausgestreckt daliegenden Murranus. »Daß ich sie dir nicht schon eher gebracht habe, daran ist dein Mann schuld, der Held des Tages.«
Claudia ging mit Sallust hinunter zum Traubenspalier und hörte aufmerksam zu, was sein Mann in Capua in Erfahrung gebracht hatte. Als er mit seinem Bericht fertig war, bot sie ihm eine Bezahlung an, doch der Sucher schüttelte den Kopf und deutete auf die für das Fest aufgestellten Tische. »Wenn mich Polybius dazu einlädt, sind wir quitt.« Claudia sorgte dafür, und während Poppaoe Sallust in die Küche zerrte, wo er Fleisch schneiden mußte, ging sie hinauf in ihr Zimmer, nahm ihre Schreibtafel, hockte sich mit dem Rücken an die Tür und schrieb alles auf, was sie jetzt wußte. Sie war sich ihrer Schlußfolgerungen sicher, mußte sich aber überlegen, wie sie vorgehen wollte. Im Garten unter ihr begann jemand leise ein schwungvolles Lied über unerwiderte Liebe zu singen. »Das ist die Ursache«, murmelte Claudia. »Liebe, die sich in Haß verwandelt hat.« Sie traf ihre Entscheidung und holte »Entschuldigung« in ihr Zimmer. Sie drückte ihm eine Münze und ein Stück Pergament in die Hand. »Du gehst in den Palast am Palatin«, schärfte sie ihm ein. »Du suchst den Hauptmann der Wache; sein Name ist Gaius Tullius.« Claudia klopfte auf das Pergament. »Entschuldigung?« fragte der Junge. »Gaius Tullius. Sag ihm, er soll sich die Hilfe eines… Ach, egal«, fauchte sie, »du kannst die Münze behalten.« »Entschuldigung«, jammerte der Junge. »Nein, nein«, antwortete Claudia, »es ist eine komplizierte Botschaft. Ich schicke Sallust hin. Los, ›Entschuldigung‹, kümmere dich um Murranus. Wir müssen ihn für das Fest fertigmachen.« Murranus erwachte eine Stunde später und stellte fest, daß die Vorbereitungen abgeschlossen waren und er selbst der Ehrengast war. Er rappelte sich auf, streckte sich und gähnte.
Dann fragte er nach einem Krug mit frischem Wasser und bat die Musiker, doch bitte nicht so laut zu spielen. Das Bankett wurde ein Riesenerfolg. Immer wieder mußte Murranus Fragen beantworten, vor allem über seinen geschickten Salto, und nur Oceanus konnte ihn zurückhalten, als er sich erbot, ihn zu wiederholen. Sallust der Sucher kehrte vom Palatin zurück und flüsterte Claudia zu, Gaius Tullius würde morgen vormittag mit Burrus und Timothaeus in die »Eselinnen« kommen. »Ich habe ihm gesagt, es sei wichtig. Etwas Dringendes!« »Ja, ja, so ist es auch«, antwortete Claudia. »So, Sallust.« Sie drückte ihm einen Becher in die Hand. »Jetzt wird gefeiert.« Das Fest dauerte bis spät in die Nacht. Viele der Gäste schliefen auf ihren Kissen ein. Claudia war mit dem Essen und Trinken vorsichtig. Sie saß nur da und sah zu, wie Murranus gefeiert und als Sieger bejubelt wurde. Eine Frage ließ ihr keine Ruhe: Warum hatte der Kaiser Meleager Gnade gewährt? Darüber hatte sie sich immer wieder den Kopf zerbrochen, nachdem sie die Arena verlassen hatte, doch es war natürlich niemand da, der der kaiserlichen Familie nahestand und es ihr hätte sagen können; nun, zumindest nicht vor morgen. Schließlich gab sie Murranus einen Gutenachtkuß und ging hinauf in ihr Zimmer, wo sie auf dem Bett lag, mit halbem Ohr der Feier im Garten lauschte und sich alles, was sie über jene schrecklichen Morde in der Villa Pulchra gehört hatte, noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Sie hatte Agrippina eine Falle gestellt; jetzt überlegte sie, ob sie mit dem Mörder in der Villa dasselbe tun konnte. Immer wieder ging sie die Liste der Anhaltspunkte durch. »Zuerst Sisium, dann das Feuer am Himmel, drittens Stricke, viertens Capua, fünftens der Mann, der im Wald umherwanderte, sechstens lautloses, verstohlenes Vorgehen.« Diese Worte vor sich hin murmelnd, schlief sie ein.
Sie erwachte kurz nach Tagesanbruch, und als sie durch die Fensterläden spähte, sah sie, daß es ein schöner Tag werden würde. Sie wusch sich und kleidete sich an. Dann lief sie die Treppe zur Küche hinunter, wo sie Brot und Oliven aß und einen Krug Dünnbier trank. Oceanus war bereits auf den Beinen, räumte im Garten auf und weckte die diversen Gäste, die an den seltsamsten Plätzen eingeschlafen waren. In dem kleinen Weingarten lag Simon der Stoiker auf dem mit Kieselsteinen bestreuten Weg so bequem und entspannt wie auf einem Federkissen. Petronius der Zuhälter und zwei seiner Mädchen saßen an einen Baum gelehnt im Obstgarten und schliefen tief und fest. Oceanus weckte sie alle, indem er ihnen Wasser ins Gesicht spritzte und sie heftig an den Schultern rüttelte. »Wo ist Murranus?« fragte Claudia. Oceanus wies mit dem Daumen nach oben. »Der schläft im Venuszimmer. Warum?« »Ich erwarte Besuch«, vertraute sie ihm an. »O nein«, stöhnte der Exgladiator. »Polybius murrt schon, weil du seinen Garten ständig für Besprechungen benutzt.« »Nun, das ist das letzte Mal. Wenn meine Besucher kommen, bring uns Wein, Wasser, frisches Brot und geschnittenes Obst. Das alles findest du in der Küche. Danach wecke Onkel Polybius und Murranus; sie sollen sich bewaffnen.« Oceanus packte sie an den Schultern. »Nein, Oceanus, hör mir zu. Ich möchte, daß die Besucher nichts ahnen. Doch wenn du das Essen serviert hast, holst du Polybius und Murranus. Polybius hat irgendwo einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen. Die soll er suchen und sich darauf einstellen, sie zu benutzen. Und als letztes: Niemand – und ich meine, was ich sage – darf ohne meine Erlaubnis in den Garten herauskommen.«
Überrascht versprach Oceanus, zu tun, worum ihn Claudia bat. Sie ging im Garten umher, um sich zu vergewissern, daß keine weiteren Gäste hier ihren Rausch ausschliefen. Dann holte sie Kassen heraus, damit sich ihre Besucher in den Schatten der Bäume setzen konnten. Die Sonne stand inzwischen hoch, und von der Straße jenseits des Hauses war Lärm zu hören. Poppaoe kam ganz aufgeregt heraus und fragte Claudia, was los sei. Ihre Nichte küßte sie auf die Wangen, bat sie höflich, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und wiederholte, was sie zu Oceanus gesagt hatte. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, nahm einen Dolch und einen Gehstock, brachte sie in den Garten und versteckte sie unter einem Berg Kissen. Sie setzte sich mit überkreuzten Beinen hin, legte ein Leinentuch über ihre Knie, pflückte Gänseblümchen und flocht sie zu einer Kette. Die Kette war halb fertig, als ihre Gäste eintrafen. Burrus, mit Umhang und Fell, durchquerte den Garten; seine Waffen klirrten, als marschiere er durch einen schneebedeckten Wald in Germanien. Er rief allen einen dröhnenden Gruß zu und wollte Claudia schon hochheben, um sie an sich zu drücken, als er die Kette aus Gänseblümchen sah; da begnügte er sich mit einem schnellen Kuß auf die Stirn. Er wollte mit Murranus über den Kampf reden, doch Claudia befahl ihm, sich neben sie zu setzen. Timothaeus nagte an seiner Lippe, kratzte sich die unrasierten Wangen und wirkte ziemlich kleinlaut. Gaius Tullius hingegen war ruhig und gefaßt. Er trug eine rot gesäumte schneeweiße Tunika, Marschstiefel und einen Schwertgürtel, den er über die Schulter geworfen hatte. Er begrüßte Claudia mit einem freundlichen Handschlag, sah sich im Garten um, bewunderte ihn und nahm dann ihr gegenüber Platz. Oceanus kam mit einem Krug und einem Tablett mit Bechern heraus. Er sah Claudia fragend an. Sie dankte ihm und sagte, er
solle Narcissus holen, ihn, wenn nötig, aus dem Bett werfen. Dann schenkte sie Wein ein. Narcissus kam in den Garten; er gähnte und kratzte sich, rülpste leise und entschuldigte sich laut, daß er am Vorabend zuviel gegessen und getrunken hätte. Er machte es sich so bequem wie möglich. Claudia sah den warnenden Blick, den ihm Timothaeus zuwarf. »Warum sind wir hier?« Burrus schlug sich auf den Schenkel. »Es ist schön, dich zu sehen, Claudia, aber warum sind wir hier? Wo ist Murranus? Jedermann spricht von seinem heldenhaften Bravourstück. Seine Leistung wäre selbst für einen Germanen, für einen Stammesführer wie mich, nicht einfach gewesen.« Claudia legte ihre Gänseblümchenkette nieder. »Gaius«, sagte sie und beugte sich zu ihm. »Gib mir deinen Schwertgürtel.« Er schnitt eine Grimasse, reichte ihn ihr aber. Claudia gab ihn sofort an Burrus weiter. Gaius wollte protestieren, doch Claudia streckte ihm die Hand hin. »Gaius, hör zu, was ich zu sagen habe, denn ich habe dich hierher gebeten, vom Hof – sei es der Palatin oder die Villa Pulchra – weggeholt, um dich des Mordes zu beschuldigen. Du bist verantwortlich für den Tod von Dionysius, Justin und Septimus.« »Das ist Unsinn«, sagte Gaius leise. Sein Blick wanderte zu Burrus, der jetzt den Schwertgürtel fester packte. Narcissus und Timothaeus schnappten nach Luft; Burrus wirkte verwirrt, obwohl der schlaue Germane Claudia gut genug kannte, um zu wissen, daß sie keine Beschuldigung vorbringen würde, deren sie sich nicht sicher war. Claudia deutete auf die Taverne. »Da drinnen sind mein Onkel und andere Männer, alle bewaffnet. Polybius«, log sie, »ist ein sehr guter Bogenschütze, und Burrus wird natürlich sein Bestes tun, dich am Verlassen
dieses Gartens zu hindern. Du bist ein Mörder, Gaius, ein Heide, und hegst einen besonderen Haß auf die Christen, vor allem auf die christliche Gemeinde in Capua. Als ich dich kennenlernte, überbrachte ich dir Grüße von Spicerius. Ihr beide wart Jugendfreunde; ihr habt einander in der Nähe von Sisium, einem kleinen Dorf bei Capua, in den Feldern gejagt. Damals hast du abrupt das Thema gewechselt und nie wieder ein Wort darüber verloren. In der Villa Pulchra hast du einmal gesagt, du wüßtest nichts über Capua, die Christen oder die Verfolgung dort, daran erinnere ich mich genau. Das war natürlich eine Lüge, und ich kann es beweisen. Mein Freund Sallust der Sucher hat sorgfältige Erkundungen eingezogen, nicht in Capua, sondern in den Bauerngemeinden rund um die Stadt. Er hat etwas über Lucius und Octavia Quatis herausgefunden, ein kinderloses Ehepaar, das einen Waisenjungen aufnahm, den einzigen Sohn von Leuten, die für sie gearbeitet hatten. Ich glaube, sein Vater war Aufseher auf ihrem Bauernhof gewesen. Die Eltern starben an einem Fieber; ihr Sohn, der kleine Gaius, wurde von diesen gutherzigen Leuten aufgezogen und behandelt wie ihr eigenes Kind. Die Menschen dort erinnern sich noch heute daran, wie Gaius und, jawohl, Spicerius im Wald Soldaten gespielt haben. Noch als Halbwüchsiger ging der Junge zum Heer, und seither hat ihn die Gemeinde dort nicht mehr gesehen und nichts mehr von ihm gehört. Die Leute dachten, er sei im Ausland stationiert. Als er bereits einen höheren Posten innehatte, begann Diokletians brutale Christenverfolgung, und Capua wurde von den Agenten des Kaisers besonders genau durchkämmt. Die Stadt war gefährlich, weil dort nicht nur Sklaven und niedere Dienstboten Christen waren, sondern auch wichtige Leute, die die Schulen und andere Institutionen in der Stadt zu kontrollieren begannen. Es war eine Zeit des Schreckens, nicht wahr, Gaius?«
Sie hielt inne. Timothaeus und Narcissus saßen jetzt dicht nebeneinander, als würden sie Schutz beieinander suchen. Burrus hatte Gaius’ Schwertgürtel weit weggeworfen und eine Hand auf den Griff seines Dolchs gelegt. Gaius war blaß geworden; nur ein Schweißtropfen, der ihm über die Wange lief, verriet seine Erregung. »Es stimmt, ich war ein Waisenjunge«, stammelte er, »aber Capua kenne ich nicht. Ich…« »Lüg nicht«, erwiderte Claudia leise. »Du hast dir vielleicht einen anderen Namen zugelegt, aber eines muß man dem römischen Heer lassen, seine Unterlagen werden aufs penibelste geführt. Irgendwo in diesen Unterlagen werde ich deinen richtigen Namen finden und ebenso dein Alter und woher du kommst.« Sie verstummte wieder und trank einen Schluck Wein, blickte Gaius von oben bis unten an, konnte aber keine versteckte Waffe sehen. »Es war eine Zeit des Schreckens«, wiederholte sie. »In Capua und in anderen Städten wurden die Christen verhaftet; es war eine Zeit, in der Groll und Haß ein Ventil fanden. Die christlichen Gelehrten Dionysius und Septimus wurden durch Einschüchterung dazu gebracht, Namen zu verraten. Lucius und Octavia waren keine Christen, doch irgendwie gerieten sie in die Verfolgung hinein. Sie waren bloß arme Bauern, die niemanden hatten, der ihnen helfen konnte, während ihr Adoptivsohn wahrscheinlich Hunderte Meilen entfernt war. Wir wissen nicht, wer sie verraten hat und warum; vielleicht war es Dionysius oder Septimus. Ich bin sicher, du hast selbst die Unterlagen durchforstet, wenngleich Männer wie Chrysis nur allzu gern alles über jene Zeit, in der Christen wie Kanalratten gejagt wurden, vernichten würden.« Claudia nahm ihre Gänseblümchenkette und wog sie in der Hand. »Ein alter Mann und eine alte Frau«, fuhr sie fort, »die
völlig unschuldig waren, wurden nach Rom verschleppt. Und je mehr sie bestritten, etwas verbrochen zu haben, desto schlimmer wurde es natürlich für sie. Sie waren sehr freundliche Menschen, nicht wahr, Gaius? Hatten sie Christen erlaubt, sich auf ihrem Bauernhof zu treffen, oder hatten sie einem Christen Zuflucht gewährt? Was auch immer, diese armen alten Leute wurden ermordet, und ihr Bauernhof wurde vom Staat konfisziert. Es hat sicher Monate gedauert, bis du davon erfuhrst; du warst inzwischen ein ehrgeiziger Offizier, ein vertrauenswürdiges Stabsmitglied in Konstantins Armee. Diokletian dankte ab, und der Bürgerkrieg brach aus, doch du hattest es nicht vergessen.« Claudia zerriß die Gänseblümchenkette. »Du bist mit dem siegreichen Heer nach Rom zurückgekehrt und hast gründliche Nachforschungen angestellt. Als guter Soldat weißt du, wie man plant, jemanden aus dem Hinterhalt zu überfallen. Du bist nicht nach Sisium oder Capua geritten, sondern hast die Unterlagen durchsucht und dem Klatsch und Tratsch gelauscht. Du bist kein Christ, nicht wahr, Gaius?« »Ich hasse sie, ich habe sie immer gehaßt«, antwortete er leise. »Es ist eine Sekte von Sklaven und Anarchisten. Wie viele andere Offiziere glaube auch ich, daß Konstantin die falsche Wahl getroffen hat.« »Hast du das Gefühl, daß er dich betrogen hat?« fragte Claudia. »Bist du deshalb zum Verräter im Lager des Kaisers geworden? Hast du bereits deine Seele, dein Schwert und deine Loyalität an die Agenten von Licinius verkauft? Bist du so empört über den Tod deiner Zieheltern, so erbost über den christlichen Glauben, daß du dein ganzes Vertrauen in Konstantin und seine Mutter verloren hast?« Ernst erwiderte Gaius ihren Blick. »Du hast beobachtet und vor Zorn gekocht«, fuhr Claudia fort. »Du hast so viel über die grausigen Einzelheiten der
brutalen Gefangennahme und des Todes deiner Zieheltern herausgefunden, wie du konntest. Was mit ihrem Bauernhof, dem Zuhause, wo du als Kind gespielt hast, geschehen ist, war noch Salz auf deine Wunde. Er war vom Staat konfisziert worden, doch Konstantin gab ihn den Christen zurück. Es wurde immer schlimmer. Du entdecktest, daß Lucius und Octavia sogar in den Katakomben der Christen begraben waren und daß auf ihrem Grab nur ihre Vornamen standen. Die Katakomben sind jetzt verlassen; für einen Soldaten wie dich war es gewiß nicht schwierig, dich hinunterzuschleichen, das Grab aufzubrechen und ihre sterblichen Überreste zu holen, um ihnen einen würdigen Begräbnisort, wie du es wohl nennen würdest, zukommen zu lassen.« »Das wußte ich nicht«, sagte Timothaeus. »Du hast immer so tolerant gewirkt, Gaius.« »Verächtlich ist wahrscheinlich das treffendere Wort«, unterbrach ihn Claudia. »Du hast den Kaiser und Männer wie Sylvester gehaßt; du warst bereit, Licinius zu unterstützen.« »Aber er ist doch Leibwächter«, warf Burrus ein. »Er hätte den Kaiser töten können, wann immer er wollte.« »Wirklich? Wenn stets noch andere Soldaten bei ihm herumstanden? Und wenn Konstantin ermordet wird, seine Familie jedoch überlebt, vor allem die Augusta? Und außerdem wollte Gaius Tullius am Leben bleiben. Er wollte die Rückkehr eines neuen heidnischen Kaisers erleben, der sich gegen die christliche Kirche wendet. Oh, ich bin sicher, bei einer neuen Verfolgung würde sich Gaius Tullius als der eifrigste Christenjäger erweisen«, sagte Claudia mit ruhiger Stimme. »Rede nur weiter«, fauchte Gaius. »Ich höre dir zu, kleine Frau, und dann treffe ich meine Entscheidung.« »Du hast keine Wahl«, antwortete Claudia. »Dies ist vielleicht kein Gerichtshof, aber kannst du dir vorstellen, was
geschähe, wenn es einer wäre? Schließlich bist du Soldat; du kämst vor ein Militärtribunal, wo man es mit der Einhaltung der Gesetze nicht so genau nimmt.« Claudia blickte zur Taverne hinüber. Ein Fensterladen ging auf und wurde wieder geschlossen, und sie erhaschte einen kurzen Blick auf Murranus, der dort stand. Sie wandte sich wieder Gaius Tullius zu und breitete die Hände aus. »Die Astrologen behaupten, daß die Sterne und die Planeten manchmal in günstiger Konjunktion stehen. So war es bei den Ereignissen in der Villa Pulchra. Du wußtest, daß der Kaiser sich dorthin begeben würde, nicht, an welchem Tag, aber du konntest dir ziemlich genau ausrechnen, wann er in der Villa eintreffen würde; schließlich bist du einer seiner Stabsoffiziere. Du hast Licinius’ Agenten davon informiert, und die Kriegsgaleere wurde losgeschickt. Der Feind brauchte nur noch auf das vereinbarte Signal zu warten. Das würdest du von der Villa aus geben, und Licinius’ Agenten, die sich im Wald versteckt hielten, würden es weiterleiten. Doch du hast eines übersehen: den Wanderer aus dem Wald, jenen neugierigen alten Mann, der die Gegend in- und auswendig kannte. Er muß wohl gemerkt haben, daß irgend etwas nicht stimmte; er kam zur Villa und nervte Timothaeus. Du hieltest ihn für zu gefährlich, deshalb hast du ihn umgebracht!« »Das stimmt nicht!« warf Gaius Tullius ein. »Doch«, sagte Timothaeus. »An dem Tag, als der Alte gefunden wurde, hast du die Villa zeitig verlassen; du sagtest, du wollest ausreiten.« »Du hast jede Menge Komplotte geschmiedet«, fuhr Claudia fort. Sie rutschte auf dem Gras hin und her und blickte auf das Tavernenfenster. »Du wolltest nicht nur den Kaiser verraten, sondern auch die günstige Gelegenheit nutzen, um dich zu rächen. Die Christen kamen in die Villa Pulchra, die Redner aus Capua, von denen du mindestens zwei verdächtigtest,
Spitzel gewesen zu sein. Diese Redner sind einsame Männer und neigen zum Grübeln; sie sind gern mit sich allein. Es war dir eigentlich egal, wer starb, solange du deine Rachegelüste befriedigen und die Christen dem Kaiser gegenüber als so mordlustig, streitsüchtig und unversöhnlich wie seine anderen Untertanen darstellen konntest.« »Du hast einen leisen Gang«, unterbrach Burrus sie. »So hast du Dionysius umgebracht…« Gaius Tullius tat das mit einer verächtlichen Handbewegung ab. »Du hast sie getötet.« Claudia blieb dabei. »Du hast sie allein erwischt, wie Hasen in einer Schlinge. Dionysius hast du betäubt und dann zerhackt. Danach kam Septimus dran und schließlich Justin. Es muß dich gefreut haben, daß du Dionysius’ Leiche und die des alten Mannes aus dem Wald für dein Signalfeuers verwenden konntest.« »Ich war bei dir, als das Totenhaus zu brennen begann…« »Natürlich.« Claudia lächelte. »Aber du wußtest auch, daß Narcissus tief und fest schlief. Es ist ein leichtes, eine alte Schnur mit Öl zu tränken, sie mit Zunder anzuzünden und zuzusehen, wie das Feuer langsam an ihr entlangkriecht. Du hattest genug Zeit, zu mir zu kommen, bis der Brand ausbrach. Niemand kümmerte sich um das Totenhaus, Narcissus hatte zuviel getrunken; es war kein Problem.« »Warum hast du es angezündet?« fragte Narcissus vorwurfsvoll. »Wie ich schon sagte, es war ein Signalfeuer«, sagte Claudia. »Das vereinbarte Signal für den Angriff auf die Villa. Außerdem wolltest du deine Handschrift vertuschen, nur für den Fall, daß dir ein Fehler unterlaufen war. In der Art, wie du Dionysius mit Stricken festgebunden hattest, oder vielleicht auch für den Fall, daß ich die Leiche des alten Mannes untersuchen und mich fragen würde, ob auch er einem Mord
zum Opfer gefallen war. Im Grunde war es dir egal. Wäre der Angriff erfolgreich verlaufen, hätten dich Licinius’ Männer mitgenommen, zum Schein als Gefangenen, aber als einen, der später die Seiten wechseln würde.« Gaius Tullius wollte aufstehen, doch Burrus’ Hand fuhr an seinen Waffengurt, und er ließ sich wieder auf das Gras sinken. Sein Gesicht hatte ein wenig Farbe angenommen, doch sein unsteter Blick und die Art, wie er die Lippen befeuchtete, verrieten seine Erregung. »Es hat dir Spaß gemacht, sie umzubringen«, fuhr Claudia fort. »Du hast dein Bestes getan, mich zu verwirren, indem du vorgabst, Justin sei von jemandem ermordet worden, der nicht gut mit Pfeil und Bogen umgehen kann, genauso, wie du mir mit der Zeichnung an der Wand Angst einjagen wolltest oder als du mit Maske und Umhang in den Keller kamst. Als ich mich nicht einschüchtern ließ, warfst du eine Lampe in mein Zimmer. Du hattest ja das Recht, dich in den kaiserlichen Gemächern aufzuhalten; es war nicht schwer, eine Lampe unter deinem Umhang zu verbergen und, sobald der Gang leer war, die Tür zu öffnen und sie hineinzuwerfen. Die Bewohner der Villa hielten Siesta; du dachtest, ich täte das ebenfalls.« Claudia beugte sich vor und berührte Narcissus’ Hand. »Aber, Dank den Göttern, ich unterhielt mich gerade mit meinem neuen Freund!« »Als das heilige Schwert verschwand«, warf Timothaeus ein und zeigte auf Gaius Tullius, »da hast du die Verwirrung richtig genossen.« »Das hat ihm bei seinen Plänen geholfen«, pflichtete ihm Claudia bei. »Der Kaiser war müde, die Augusta machte sich Sorgen über das bevorstehende Streitgespräch, die Redner aus Capua gingen einander an die Gurgel, das heilige Schwert war verschwunden – so ein Durcheinander lenkt die Leute ab. Als ich die Sache mit den Signalfeuern herausfand, hast du
beschlossen, die Verwirrung noch größer zu machen, indem du mir den Bogen und die Brandpfeile zeigtest, die du angeblich gefunden hattest.« Claudia beugte sich näher zu ihm. »Du hattest sie angeblich nicht weit von der Mauer gefunden, die das Grundstück umgibt, erinnerst du dich?« Gaius Tullius erwiderte ihren Blick mürrisch. »Du hofftest, man würde den Brand des Totenhauses als Unfall werten oder denken, daß ihn jemand verursacht hatte, der Brandpfeile in die Luft schoß. Doch in jener Nacht«, sagte Claudia und nickte Narcissus zu, »saß ein ehemaliger Sklave mit scharfen Augen auf dem Hügel unweit der Villa und grübelte über sein zukünftiges Schicksal nach. Er hat keine Brandpfeile gesehen. Als der Kaiserhof die Villa Pulchra verlassen hatte, bin ich dorthin zurückgekehrt und habe den Wald absuchen lassen.« »Ja, ja, davon habe ich gehört«, warf Timothaeus ein. »Ich habe die Dienstboten beauftragt, nach jeder Art von Kriegswaffen zu suchen.« Claudia lächelte. »Nun, Gaius, wenn du einen Brandpfeil in die Luft schießt, erlischt die Flamme irgendwann, aber ein Teil des federbesetzten Schaftes bleibt erhalten. Doch niemand hat irgend etwas gefunden. Der Köcher, den du angeblich entdeckt hattest, war ziemlich leer; es wären mindestens vier oder fünf Pfeile nötig gewesen, um die Aufmerksamkeit von Licinius’ Agenten zu erregen.« Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. »Und da begann ich dich zu verdächtigen.« »Du hast keinen wirklichen Beweis.« Gaius Tullius wischte sich die verschwitzten Hände an seiner Tunika ab. »Nein?« versetzte Claudia. »Was ich gesagt habe, ist logisch. Wir können die Unterlagen des Heeres durchsuchen. Wir können eine enge Verbindung zwischen dir und Capua herstellen. Wir können beweisen, daß du als Offizier überall in der Villa Zutritt hattest, was du auch in Anspruch nahmst: Du
hast mir freundlicherweise die Schriftrolle gebracht, die du in Dionysius’ Zimmer gefunden hattest – dir war alles recht, was dazu beitrug, die Verwirrung zu steigern und die Rivalität zwischen deinen Feinden anzuheizen. Aber vor allem können wir dich hier festhalten, während dein Zimmer und deine Sachen durchsucht werden…« Gaius Tullius schloß die Augen und wandte sich ab, ein Zeichen, daß er seine Niederlage eingestand. »Wir werden auch etwas finden«, fuhr Claudia unbeirrt fort, »das dich mit Licinius in Verbindung bringt, etwas, das beweisen wird, daß du der Verräter bist.« »Ich bin kein Verräter.« Gaius starrte zum Himmel empor. »Zumindest nicht an Rom, aber an den Dummköpfen, die den Purpur tragen.« Er holte tief Luft. »Es ist so, wie du sagst, ein Zusammentreffen von verschiedenen Ereignissen.« Er setzte sich bequem hin und sprach leise, wie zu sich selbst. »Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Der Angriff auf die Villa war geplant. Konstantin und seine Mutter, dieses Miststück, haben meine Loyalität nicht verdient, und sie verdienen es auch nicht, den Purpur zu tragen, den Männer wie ich im Kampfgetümmel errungen haben. Dann erfuhr ich, daß die Redner kommen sollten. O ja, ich habe mir Chrysis’ Unterlagen angesehen. Sie waren allesamt Schwächlinge, die nicht einmal zu ihrem eigenen Glauben stehen konnten; Männer wie Septimus hatten die einzigen beiden Menschen, die ich wirklich liebte, verraten. Ich kam mir vor wie ein Fuchs im Hühnerstall. Ich brauchte bloß die Gelegenheit abzuwarten, Chaos zu stiften, und wäre der Angriff erfolgreich gewesen, keine Angst, Mäuschen, dann hätte ich dafür gesorgt, daß sie alle gestorben wären.« Er deutete auf die Taverne. »Beobachtet mich Murranus? Soll ich dir etwas sagen? Als Meleager zu Boden ging, habe ich dem Kaiser geraten, ihn zu verschonen. Und weißt du auch, warum?«
»Ja, ich glaube schon«, sagte Claudia mit einem matten Lächeln. »Das heilige Schwert war gefunden und der Angriff auf die Villa abgewehrt; du hast scharfe Augen, Gaius, und du bewahrst Ruhe. Du hast gesehen, wie ich in der Nacht, als ich Meleager kennenlernte, aus dem Triklinium weglief. Ich nehme an, du warst einer der wenigen im Raum, die mitbekamen, daß ich den Mann gesehen hatte, der mich vergewaltigt und meinen Bruder ermordet hat. Meleager war ebenfalls Gladiator; wie nannte er sich? Der ›größte Kämpfer einer Million Städte‹.« Claudia zählte nun die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Erstens hat Meleager in Städten im Ostreich gekämpft; man hätte ihn für einen Anhänger von Licinius halten können. Zweitens hatte er gute Gründe, mich zu fürchten, daher dein Angriff auf mich in der Villa; den hätte man Meleager in die Schuhe schieben können. Drittens hatte Meleager Verbindungen zu Capua; vielleicht hat er sich während der Christenverfolgung als Folterknecht betätigt, also hätte man behaupten können, er habe ein Motiv gehabt, Männer wie Dionysius und Septimus zum Schweigen zu bringen. Und schließlich hielt er sich zu der Zeit in der Villa auf, als all diese Morde geschahen und der Angriff stattfand. Wolltest du ihn als Sündenbock für die Morde benutzen? Du bist ein mächtiger Offizier, Gaius, es wäre so leicht gewesen.« Gaius senkte den Kopf und lachte leise. »Tu mir einen Gefallen.« Er hob den Kopf. »Nicht ans Kreuz! Ich will nicht an ein Stück Holz genagelt sterben.« Er deutete auf Burrus. »Deine Männer stehen vor der Tür. Nicht weit von hier gibt es ein Stück Ödland.« Er warf Claudia einen flehenden Blick zu. »Ich bin Soldat, ich verdiene einen besseren Tod.« Claudia sah Timothaeus an, der unmerklich nickte. »Soll er sich in sein Schwert stürzen.« Burrus erhob sich und gab Gaius Tullius ein Zeichen, er solle ebenfalls aufstehen. »Ich nehme deinen Murranus mit, als offiziellen Zeugen.«
Gaius Tullius wischte sich langsam das Gras von der Tunika, als bereite er sich auf einen Spaziergang vor. »Nun, Herrin?« Er sah Claudia an. »Geh!« Claudia nickte in Richtung Taverne. »Nehmt Murranus mit, bring es schnell hinter dich.« Gaius griff nach dem kleinen Beutel an seinem Gürtel. Er löste ihn ab und warf ihn Narcissus zu. »Kümmere dich um meine Leiche.« Dann drehte er sich rasch um und ließ sich von Burrus am Arm zur Taverne führen. Claudia saß da und lauschte. Sie hörte Polybius aufschreien. Murranus kam heraus und hob die Hand; Claudia nickte ihm zu. »Ich hätte nicht gedacht…«, begann Narcissus. »Still jetzt«, flüsterte Claudia. Sie stand auf, ging zum Spalier und betrachtete die reifenden Trauben; sie pflückte eine, drückte sie zwischen den Fingern und sah zu, wie der Saft herauslief. Sie schloß die Augen. Irgendwo, nicht weit von hier, kniete sich Gaius Tullius jetzt auf dem Ödland nieder, packte den Griff seines Schwertes und stieß es sich tief zwischen die Rippen. Sie dachte an sein hübsches, jungenhaftes Gesicht. »Soviel Blut«, flüsterte sie. Sie schlug die Augen auf und starrte wieder auf das Spalier. Aber sie war auch erleichtert. Meleager war tot. Sie hatte für sich und Felix Gerechtigkeit erlangt. Jetzt konnte sie darüber nachdenken, ihr Herz Murranus öffnen und die Horde von Geistern der Vergangenheit aus ihrem Leben verbannen. »Herrin?« Claudia drehte sich um. Narcissus stand da und sah sie bekümmert an. »Wird sich unser Leben verändern?« »Natürlich.« Claudia lächelte. »Hast du das noch nicht gemerkt? Unser Leben ändert sich ständig! Komm jetzt.« Sie nahm ihn am Arm. »Ich glaube, es ist Zeit, daß wir beide uns mit Onkel Polybius unterhalten!«