Sir Henry Rider Haggard (1856–1925), einer der be deutendsten englischen Erzähler der Jahrhundert wende, gehört zu de...
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Sir Henry Rider Haggard (1856–1925), einer der be deutendsten englischen Erzähler der Jahrhundert wende, gehört zu den Klassikern des phantastischen Abenteuerromans. Seine exotischen und farben prächtigen Fantasy-Epen spielen vornehmlich im dunklen Herzen Afrikas, das zu jener Zeit noch weit gehend unerforscht und von wilden Völkerschaften bewohnt war und Raum bot für Spekulationen über geheimnisvolle unentdeckte Reiche und legendäre uralte Zivilisationen. Der gelbe Gott, eine häßliche goldene Statue aus Afrika, ist nicht nur eine interessante, absonderlich geformte Antiquität, sondern sie verfügt angeblich über magische Kräfte. Ihr Geheimnis kennt letztlich nur der alte Jeekie, ein Neger, der einst von einem Missionar nach England gebracht wurde. Er weiß, daß es eine Darstellung der »Kleinen Bonsa« ist, einer mächtigen grausamen Göttin. Alan Vernon, der verarmte Neffe des inzwischen verstorbenen Missionars, weiß von Erzählungen Jee kies, daß die »Kleine Bonsa« nicht nur über Menschen gebietet, sondern auch über einen ungeheuren Gold schatz. Zusammen mit Jeekie bricht der junge Mann auf, um die »Kleine Bonsa« in ihre Heimat zurückzu bringen und den Schatz für sich zu gewinnen.
Von Henry Rider Haggard erschienen in gleicher Ausstattung in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Sie · 06/4130 Allan Quatermain · 06/4131 Ayesha – Sie kehrt zurück · 06/4133 Sie und Allan · 06/4133 König Salomons Diamanten · 06/4134 Die heilige Blume · 06/4135 Das Halsband des Wanderers · 06/4136 Tochter der Weisheit · 06/4137 Das Sehnen der Welt · 06/4138 Morgenstern · 06/4146 Als die Welt erbebte · 06/4147 Das Nebelvolk · 06/4148 Das Herz der Welt · 06/4149 Kleopatra · 06/4310 Der Geist von Bambatse · 06/4311 Allan Quatermain der Jäger · 06/4367 Allan Quatermain und die Eisgötter · 06/4368 Das Elfenbeinkind · 06/4369 Der Gelbe Gott – · 06/4370 Heu-Heu oder das Monster · 06/4466 Nada die Lilie · 06/4467 Weitere Ausgaben sind in Vorbereitung.
HENRY RIDER HAGGARD
Der gelbe Gott
Ein Idol Afrikas
Fantasy Roman
19. Band der Haggard-Ausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG � MÜNCHEN � Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!! �
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY � Band 06/4370 �
Titel der englischen Originalausgabe � THE YELLOW GOD � Deutsche Übersetzung von Hans Maeter � Das Umschlagbild schuf Vicente Segrelles/Norma �
Redaktion: Wolfgang Jeschke � Die englische Originalausgabe erschien im März 1909 � im Verlag Cassell, London, die amerikanische Ausgabe bereits � im November 1908 im Verlag Copples & Leon, New York
Copyright © 1987 der deutschen Übersetzung � by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG. München � Printed in Germany 1987 � Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München � Satz: Schaber, Wels � Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin � ISBN 3-453-00472-8 �
INHALT
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Sahara, Limited .......................................... Der Gelbe Gott ........................................... Jeekie erzählt eine Geschichte ................... Alan und Barbara ....................................... Barbara hält eine Rede ............................... Mr. Haswell verliert die Beherrschung .... Das Tagebuch ............................................. Das Zwergenvolk ....................................... Die Morgendämmerung ............................ Bonsa-Stadt ................................................. Die Halle der Toten .................................... Das Goldhaus ............................................. Das Bankett der Kleinen Bonsa ................ Die Mutter Jeekies ...................................... Alan erkrankt ............................................. Was die Asika Alan zeigte ........................ Das Ende des Mungana ............................. Ein Treffen im Walde ................................ Zwei Eulen .................................................. Die Botschaft der Asika .............................
7 � 27 � 52 � 75 � 91 � 108 � 130 � 147 � 171 � 192 � 211 � 232 � 245 � 265 � 287 � 305 � 324 � 344 � 362 � 381 �
1
Sahara, Limited
Sir Robert Aylward, Bart, M.P.*, saß in seinem Büro in London. Es war ein sehr prächtiges Büro in einem prächtigen Haus, sicher eines der schönsten, das in einem Umkreis von einer halben Meile des Mansion House gefunden werden konnte. Seine Mauern wa ren aus Aberdeen Granit errichtet worden, einem Material, das dazu bestimmt war, einen prospektiven Käufer mit einem Gefühl von Sicherheit zu beein drucken. Stuck- oder selbst Ziegelbauten mochten im tatsächlichen oder im finanziellen Sinne zerfallen, doch dieses felsenartige Granitbauwerk, durch eine lebensgroße Figur Justitias mit Waage und Schwert gekrönt, die von allen vier Ecken des Daches von ge schmackvollen Symbolfiguren des Handels und der Industrie bewundert wurde, würde gewiß jeden Schock überdauern. Erdbeben konnten seinen starken Fundamenten nichts anhaben; Panik und Katastro phen konnten es genau so wenig erschüttern wie die Bank von England. Das jedenfalls war der Eindruck, den hervorzurufen es entworfen worden war, und nicht ohne Erfolg. »Es kommt so sehr auf das Äußere an«, pflegte Mr. Champers-Haswell, Sir Roberts Partner, mit seiner fröhlichen Stimme zu sagen. »Jeder von uns wird da durch beeinflußt, und sei es noch so unbewußt. Be eindrucken Sie die Öffentlichkeit, mein lieber Ayl * Baronet, Member of Parliament. – Anm. d. Übers.
ward. Lassen Sie äußeren Glanz auf innere Opulenz hinweisen, und das Brot, oder richtiger, der Granit, den Sie auf das Wasser streuen, wird sich nach vielen Tagen bezahlt machen.« Mr. Aylward – denn dieses Gespräch fand statt, bevor seine Verdienste, oder die Großzügigkeit seiner Börse, mit einem Titel belohnt worden war – blickte seinen Partner auf die unbewegte Art an, für die er berühmt war, und antwortete: »Sie bringen Ihre Me taphern durcheinander, Haswell, doch wenn Sie da mit sagen wollen, daß die Öffentlichkeit aus Narren besteht, die durch Reklame beeindruckt werden müs sen, bin ich völlig Ihrer Meinung. Nur ist diese Re klame ein wenig kostspielig, und ich will nicht viele Tage auf meinen Lohn dafür warten müssen. Aber 20 000 Pfund hin oder her sind schließlich nur eine Klei nigkeit, also sagen Sie dem Architekten, er soll das Ding aus Granit bauen!« Sir Robert Aylward saß in seinem ruhigen Zimmer im rückwärtigen Teil dieses dauerhaften Bauwerks, einem überaus elegant ausgestatteten Raum, um den ihn jeder Minister beneidet hätte, und dessen Ein richtung erlesenen Geschmack verriet. Seine Wände waren mit gemasertem Teakholz getäfelt, ein dicker Teppich verschluckte das Geräusch von Schritten, ei ne antike Venus stand auf einem Marmor-Piedestal in einer Ecke, und über dem Kaminsims hing ein wun derbares Gemälde von Gainsborough, das Porträt ei ner gewissen Miss Aylward, einer zu ihrer Zeit be rühmten Schönheit, mit der sein jetziger Besitzer, wie bemerkt werden sollte, sich jedoch keinerlei wie auch immer gearteter Beziehung rühmen konnte. Sir Robert saß an seinem Ebenholztisch und spielte
mit einem Bleistift, und das Licht des hell lodernden Kaminfeuers fiel auf sein Gesicht. Es war ein auf seine Weise bemerkenswertes Ge sicht, so wie es in seinem vierundvierzigsten Jahre wirk te; sehr blaß, doch von einer natürlichen Blässe, sehr gut geschnitten, und als Ganzes eindrucksvoll. Seine Augen waren dunkel, passend zu dem schwarzen Haar und Spitzbart, und die Nase war gerade und etwas weit vorspringend. Sein Mund war vielleicht der schwäch ste Teil, denn er drückte eine gewisse Verschlagenheit aus, außerdem waren die Lippen recht dick und ein wenig sinnlich. Sir Robert war sich dessen bewußt und trug deshalb einen Schnurrbart, um diesen Ein druck zu überdecken. Ein genauer Beobachter hätte von diesem Gesicht eine Impression erhalten, wie sie der plötzliche Anblick einer Wachsmaske hervorruft. ›Wie kräftig! Wie lebensnah!‹ würde er gesagt haben, ›aber natürlich ist es nicht echt. Es mag ein Mensch dahinterstecken, oder auch geschnitztes Holz, aber es ist lediglich eine Maske.‹ Manche Menschen von gu ter Beobachtungsgabe hatten dieses Gefühl bei Sir Robert Aylward, nämlich, daß unter der Maske seines blassen Antlitzes ein anderer Mensch steckte, den sie nicht kannten und auch nicht kennen wollten. Wenn diese Menschen ihn in diesem Augenblick des Beginns unserer Geschichte sehen könnten, wür den sie denken, daß diese Weisheit ihrer Kinder ge recht wird. Denn jetzt, in der Abgeschlossenheit sei nes eleganten Büros, schien die Maske plötzlich von ihm abzufallen. Sein Gesicht zerbrach wie Eis bei Tauwetter. Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und begann auf und ab zu gehen. Dabei sprach er laut mit sich selbst.
»Gütiger Himmel!« murmelte er, »was für ein ris kantes Spiel das ist, aber ich werde es gewinnen. Ich glaube, daß ich es gewinnen werde.« Er blieb beim Schreibtisch stehen, schaltete eine elektrische Lampe an und machte mit dem Bleistift eine rasche Berechnung auf der Rückseite eines Brie fes. »Ja«, sagte er, »das ist mein Anteil: eine Million und siebzehntausend Pfund in bar und zwei Millio nen in Aktien, die man mit einem gewissen Diskont abstoßen kann – sagen wir, noch einmal siebenhun dertfünfzigtausend, plus dem, was ich bereits habe – setzen wir dafür nur zweihundertfünfzigtausend netto fest. Also alles in allem zwei Millionen, aus de nen eventuell noch mehr werden könnten, aber wahrscheinlich nicht, es sei denn, die Aktien schießen in die Höhe, da ich keine Lust habe, weiter zu speku lieren. Dies ist das Ende von zwanzig Jahren Arbeit, Robert Aylward. Und wenn man bedenkt, daß ich vor achtzehn Monaten, obgleich ich so reich schien, am Rande des Bankrotts stand – hart am Rande, mit nicht mehr als fünftausend Pfund. Was aber hat die Wende herbeigeführt? Ich frage mich: was hat die Wende herbeigeführt?« Er durchquerte den Raum, blieb vor der antiken Marmorstatue stehen und starrte sie an. »Nicht Venus, denke ich«, sagte er mit einem kur zen Lachen. »Venus hat noch nie einen Mann reich gemacht.« Er wandte sich um und ging zum anderen Ende des Raums zurück, der im Schatten lag. Dort, auf einem zweiten Marmor-Piedestal, stand ein Ob jekt, das im Halbdunkel matt glänzte. Es war etwa zehn Zoll oder einen Fuß groß, doch konnte man bei
dem Licht nicht mehr davon erkennen, als daß es gelb war und etwa die Form einer Kröte hatte. Aus ir gendeinem Grund schien Sir Robert Aylward davon angezogen zu werden, denn er blieb stehen, um es anzustarren, dann streckte er die Hand aus und schaltete eine andere Lampe ein, in deren grellem Licht das Ding auf dem Piedestal sich plötzlich iden tifizierte und aus dem Dunkel ins Licht sprang. Es war ein schreckliches Objekt, eine Monstrosität von undefinierbarem Geschlecht und unidentifizierbarer Art, doch gekrönt von einem Frauenkopf mit einem Gesicht von außergewöhnlicher, wenn auch teufli scher Schönheit, der nach hinten lehnend zwischen hohen, doch grotesk schmalen Schultern steckte, so daß sein Gesicht nach oben gerichtet war. Die Arbeit war grob, doch seltsam ausdrucksvoll. Was immer es an Grausamem, was immer es an Teuflischem, was immer es an Unmenschlichem an den finsteren Orten der Welt geben mochte, schien aus den JuwelenAugen in diesem gelben Frauengesicht zu glühen, gelb, weil seine Substanz Gold war, ein Gesicht, das nicht zu den nur embryonal entwickelten Beinen dar unter zu passen schien, denn ein Körper war nicht vorhanden, sondern der Kopf saß direkt auf den Bei nen. Eine hohle, lebensgroße Maske mit zwei winzi gen, froschartigen Beinen, das war seine Form. »Du bist eine häßliche Kreatur«, murmelte Sir Ro bert, als er diese Figur betrachtete, »aber obwohl ich an nichts glaube, weder im Himmel über uns, noch auf der Erde unter uns, außer an die abgrundtiefe Dummheit der britischen Öffentlichkeit, will ich ver dammt sein, wenn ich nicht an dich glaube. Auf jeden Fall begann von dem Tage an, als Vernon dich in
mein Büro brachte, mein Glück sich zu wenden, und nach dem Lächeln auf deinem lieblichen Gesicht zu urteilen, glaube ich nicht, daß es schon vorbei ist. Ich frage mich, was für Steine es sein mögen, aus denen deine Augen bestehen. Opale, meine ich, nach der Art und Weise zu urteilen, wie sie die Farbe wechseln. Sie haben einen ungewöhnlichen Glanz heute; ich kann mich nicht erinnern, sie jemals so hell ...« In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Sir Ro bert schaltete die Lampe aus und trat zum Kamin zu rück. »Herein!« sagte er, und während er sprach, wurde sein blasses Gesicht wieder unbewegt und aus druckslos. Die Tür wurde geöffnet, und sein Bürovorsteher trat herein, ein eindrucksvoller Mann mit eisengrau em Haar, der einen untadeligen Schwalbenschwanz rock und glänzende Lederschuhe trug. Er trat auf sei nen Herrn zu und verhielt in respektvollem Schwei gen, wartete, daß er angesprochen würde. Eine ganze Weile blickte Sir Robert achtlos über seinen Kopf hinweg, als ob er seine Gegenwart nicht bemerkte; das war so seine Art. Dann wandte er seinen Blick geistesabwesend dem Manne zu und sagte mit seiner kalten, klaren Stimme: »Ich glaube nicht, nach Ihnen geläutet zu haben, Jeffreys.« »Nein, Sir Robert«, antwortete der Bürovorsteher und verneigte sich, als ob er mit einem Mitglied des Königshauses spräche, »doch es geht um jenen Arti kel für die Zeitung Cynic.« »Presseangelegenheiten?« sagte Sir Robert und hob die Brauen. »Sie sollten mittlerweile gelernt haben, daß ich mich mit solchen Details nicht abgebe. Spre
chen Sie mit Mr. Champers-Haswell darüber, oder mit Major Vernon!« »Sie sind beide im Moment nicht zugegen, Sir Ro bert.« »Dann reden Sie, Jeffreys«, antwortete der Chef der Anlagegesellschaft mit einem resignierten Seufzen, »aber machen Sie es kurz! Ich denke gerade über et was nach.« Der Bürovorsteher verneigte sich abermals. »Die Leute von Cynic haben gerade wegen des Ar tikels, den wir ihnen sandten, telephoniert. Ich denke, daß Sie ihn gesehen haben, Sir, und mögen sich erin nern, wie er beginnt ...« Er begann von einem ma schinengeschriebenen Durchschlag abzulesen, den er in der Hand hielt, und dessen Überschrift ›Sahara Limited‹ lautete. »Wir haben nunmehr das Vergnügen, bekanntzu geben, daß dieses gewaltige Projekt, durch das eine Wüste in ein wogendes Meer verwandelt wird, über das die Güter der Nationen transportiert werden und durch das die wüsten Einöden der Erde von Men schenmassen bevölkert werden und wie Rosen erblü hen sollen, in all seinen notwendigen, wenn auch langweiligen finanziellen Aspekten abgeschlossen worden ist und innerhalb weniger Tage den zukünf tigen Investoren vorgelegt werden wird, unter denen es bereits erhebliches Aufsehen erregt hat. Diese De tails werden wir in späteren Artikeln ausführlich be handeln, können uns daher an dieser Stelle auf den Hinweis beschränken, daß uns die Basis der Kapitali sierung als eine für die Öffentlichkeit äußerst vorteil hafte erscheint, der hier die Möglichkeit geboten wird, an seiner gewaltigen Prosperität Anteil zu ha
ben. Unser heutiges Anliegen ist, von seinen natio nalen und imperialen Aspekten zu sprechen ...« Sir Robert hob vorwurfsvoll den Blick. »Wie viel mehr von diesem außergewöhnlich langweiligen und nichtssagenden Zeug wollen Sie noch vorlesen, Je ffreys?« fragte er. »Nicht mehr, Sir Robert. Wir zahlen dem Cynic dreißig Pfund, um diesen Artikel zu drucken, und jetzt sagen sie, wenn sie das von dem ›nationalen und imperialen‹ Geschäft bringen sollen, verlangen sie zwanzig Pfund mehr.« »So, Jeffreys? Warum?« »Weil, Sir Robert – ich will es Ihnen offen sagen, denn Sie wollen immer die Wahrheit hören – ihr Anzeigen redakteur der Meinung ist, daß es sich bei Sahara Li mited um einen nationalen und imperialen Schwindel handelt. Er sagt, für weniger als fünfzig Pfund wird er Nation und Imperium nicht darin verwickeln.« Ein flüchtiges Lächeln zuckte über Sir Roberts Ge sicht. »Soso«, sagte er. »Ich bin erstaunt über seine Be scheidenheit. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich mehr verlangen, denn der Stil ist in der Tat ein wenig protzig. Nun, wir wollen uns zu diesem Zeit punkt nicht mit ihnen streiten – füttern Sie die Haie. Aber Sie sind doch nicht gekommen, um mich wegen einer solchen Lappalie zu stören?« »Gewiß nicht, Sir Robert. Es gibt noch etwas, das weitaus wichtiger ist. Der Daily Judge lehnt es nicht nur ab, irgendeinen Artikel zu bringen, sondern wei gert sich auch, unser Inserat aufzunehmen und sagt, daß man unseren Prospekt mit aller Schärfe kritisie ren werde.«
»Ah!« sagte Sir Robert nach kurzem Nachdenken, »das ist wahrhaftig ziemlich ernst, da die Leute dem Judge glauben, selbst dann, wenn er sich irrt. Bieten Sie den Leuten den dreifachen Anzeigenpreis an.« »Das ist bereits geschehen, Sir, und sie weigern sich trotzdem.« Sir Robert ging in die Ecke des Raums, in der das gelbe Objekt auf seinem Piedestal hockte, und dachte eine Weile nach, so wie ein Mensch oft ein Ding stu diert, während er über ein anderes nachdenkt. Es schien ihm eine Idee zu geben, denn er blickte über die Schulter zurück und sagte: »Es ist gut, Jeffreys. Wenn Major Vernon zurückkommt, sagen Sie ihm, daß ich mit ihm sprechen möchte.« Der Bürovorsteher verneigte sich und ging so lautlos hinaus wie er hereingekommen war. »Also überlegen wir einmal«, sagte Sir Robert im Selbstgespräch. »Der alte Jackson, der Chefredakteur des Judge, war ein enger Freund von Vernons Vater, dem verstorbenen Sir William Vernon, G.C.B. Ich glaube sogar, daß er mit einer seiner Schwestern ver lobt war, die jedoch vor der Hochzeit starb, oder so etwas. Also müßte der Major ihn herumkriegen kön nen, falls irgend jemand dazu in der Lage sein sollte. Das Schlimme ist nur, daß ich diesem jungen Gen tleman nicht recht traue. Es kam uns gelegen, ihm ei nen Anteil an dem Geschäft zu geben, weil er Inge nieur ist und das Land kennt und dieses SaharaProjekt seine Idee war, eine auf ihre Weise sehr gute – wie aus anderen Gründen. Jetzt aber beginnt er, über die Stränge zu schlagen, will zuviel wissen, entwik kelt ein Gewissen, und so weiter. Als ob die Organi satoren spekulativer Gesellschaften etwas mit dem
Gewissen zu schaffen hätten. Ah! Dort kommt er.« Sir Robert setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr mit seinen Berechnungen fort, und in diesem Moment sprach eine klare, kräftige Stimme mit den Angestellten im Vorzimmer. Dann kam das Geräusch fester Schritte, die Tür öffnete sich, und Major Alan Vernon trat herein. Er war ein noch junger Mann, nicht älter als zweioder dreiunddreißig Jahre, obwohl ihm die auf Ro bustheit hindeutende rötliche Gesichtsfarbe fehlte, die für so viele Engländer seiner Klasse und seines Alters typisch ist. Eine schwere SchwarzwasserfieberInfektion, die er sich während des Dienstes in West afrika zugezogen hatte, und die jeden Mann von schwächerer Kondition getötet hätte, hatte seinem Gesicht das blühende Aussehen genommen und es blasser, aber auch interessanter, zurückgelassen, als es einst gewesen war. Denn auf gewisse Weise war dieses Gesicht interessant, und es besaß auch eine Art Charme. Es war ein gutes und ehrliches Gesicht mit einem eifrigen, ein wenig erstaunten Ausdruck, das Gesicht eines Mannes, der über Vorstellungskraft und Ideen verfügt, der nach der Wahrheit sucht, dem es jedoch nicht gelingt, sie zu finden. Was den Charme betrifft, so lag er vor allem in dem freundlichen, offe nen Lächeln und in den ehrlichen, auffallend runden, braunen Augen, die unter einer etwas zu wuchtigen, leicht hervorragenden Stirn lagen, doch es mochte auch sein, daß die bereits erwähnte Krankheit den unteren Teil des Gesichts hatte einfallen lassen. Ob wohl schlank, war er doch von kräftiger Statur, mit breiten Schultern und gut entwickelten Gliedern, und nur wenig unter sechs Fuß groß.
Dies war die äußere Erscheinung von Alan Vernon. Was seinen Geist betraf, so war der recht rege auf ei nigen Gebieten, wie auf denen der Technik und des militärischen Wissens, für die er ausgebildet worden war; er war auch offen und freundlich, doch dachte er nicht besonders schnell, vielleicht wegen seiner Ver trauensseligkeit. Alan Vernon war ein Mann, der Bö ses nur langsam erkannte, und noch langsamer bereit war, es zu glauben, selbst wenn er es zu erkennen schien – eine Schwäche, die sehr viel zur Erklärung seiner Anwesenheit im Büro jener hervorragenden und brillanten Finanziers Aylward & ChampersHaswell beitragen mag. Im Augenblick wirkte er ein wenig beunruhigt, wie ein Fisch auf dem Trockenen, oder vielmehr wie ein Fisch, welcher der Qualität des Wassers zu mißtrauen beginnt, dem etwas an seinem Geruch und Geschmack seltsam vorkommt. »Jeffreys hat mir gesagt, daß Sie mich zu sprechen wünschen, Sir Robert«, sagte er mit seiner tiefen, an genehmen Stimme, und blickte den Baronet ein we nig beunruhigt an. »Ja, mein lieber Vernon, ich möchte Sie bitten, et was zu tun, wenn Sie die Güte haben würden, ob wohl es nicht ganz zu Ihrem Aufgabengebiet gehört. Der alte Jackson, der Chefredakteur des Judge, ist doch ein Freund von Ihnen, nicht wahr?« »Er war ein Freund meines Vaters, ich kenne ihn nur flüchtig.« »Das reicht völlig. Ich nehme an, Sie haben davon gehört, daß er ein halsstarriger, alter Knochen ist, der eine Abneigung gegen unser Sahara-Projekt entwik kelt hat. Irgend jemand muß ihn dagegen aufgehetzt haben, und er weigert sich, Inserate aufzunehmen,
droht Kritik an, und so weiter. Die Opposition des Judge oder irgendeiner anderen Zeitung würde uns zwar nicht umbringen, und wir werden kämpfen, wenn es notwendig sein sollte, aber andererseits ist es immer besser, sich mit einem Gegner zu einigen, so lange die Möglichkeit dazu besteht. Um es kurz zu machen: Würden Sie ihn bitte aufsuchen und ihn auf seinen Irrtum aufmerksam machen?« Bevor Major Vernon antwortete, ging er langsam zum Fenster und blickte hinaus. »Es liegt mir nicht, Freunde der Familie um Gefal len zu bitten«, antwortete er schließlich, »und, wie Sie eben sagten, gehört dies nicht zu meinen Aufgaben. Wenn es jedoch irgend etwas mit den technischen Möglichkeiten zu tun haben sollte, bin ich natürlich gerne bereit, mit ihm zu sprechen«, setzte er hoff nungsvoll hinzu. »Ich weiß nicht, mit was es zu tun hat; das heraus zufinden, möchte ich Sie eben bitten«, antwortete Sir Robert mit einiger Schärfe. »Man kann eine Angele genheit dieser Art nicht in wasserdichte Sektoren tei len. Es trifft zwar zu, daß bei einem so wichtigen Projekt jeder von uns für sein Ressort zuständig ist, doch bleibt die Tatsache, daß wir gemeinsam für das Ganze verantwortlich sind. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das genügend bedenken, mein lieber Vernon«, setzte er mit Betonung hinzu. Sein Partner reagierte rasch; es mochte beinahe ge sagt werden, daß er erschauerte, obwohl es unsicher blieb, ob die Bewegung oder das Erschauern von dem Argument über die gemeinsame Verantwortung aus gelöst worden war oder von der Vertraulichkeit der Anrede ›mein lieber Vernon‹. Vielleicht war das letz
tere der Fall, denn da der ältere Mann ein Baronet war und der jüngere nur ein Major des Pioniercorps, der den Dienst quittiert hatte, war die gesellschaftli che Kluft zwischen ihnen, wie jeder Mensch mit eini gem Urteilsvermögen erkennen konnte, ziemlich breit. Die Sphären, in denen sie geboren waren und sich bewegten, waren grundverschieden, und es gab keine Brücke gemeinsamer Elemente oder Impulse. »Ich glaube, daß ich das sehr bedenke, besonders in letzter Zeit, Sir Robert«, antwortete Alan Vernon zö gernd. Sein Partner warf ihm einen prüfenden Blick zu, da er fühlte, daß diese Worte eine tiefere Bedeutung be saßen, sagte jedoch nur: »Das ist gut. Mein Automobil steht vor der Tür und wird Sie zur Fleet Street brin gen. Aber vorher sollten Sie Ihren Besuch vielleicht telephonisch ankündigen, und wenn Sie zurück sind, kommen Sie bitte sofort zu mir! Ich brauche heute nicht ins Parlament zu gehen, also werde ich bis zum Dinner hier sein, und auch Ihr Cousin Haswell neh me ich an. Legen Sie dieser alten Bulldogge Jackson irgendwie einen Maulkorb an. Natürlich hat er seinen Preis, wie alle anderen auch, und Sie brauchen da nicht kleinlich zu sein. Wir wollen nicht, daß er uns während der kommenden Woche oder vierzehn Ta gen an der Kehle hängt.« Zehn Minuten später hielt das prächtige, zweitau send Pfund teure Automobil vor dem Verlagsgebäu de des Judge, und der Chauffeur verneigte sich vor Major Vernon, als er ihm die Tür des etwas herunter gekommen wirkenden Eingangs aufhielt. Hinter der Tür saß ein kleiner Junge in einer Art Kasten und fragte ihn nach seinem Anliegen. Sobald er seinen
Namen hörte, sagte er, daß der ›Guv'nor‹ befohlen habe, ihn sofort hinaufzuschicken – dritter Stock, rechter Korridor, zweite Tür links. Also ging er hin auf, und als er das angegebene Ziel erreicht hatte, wurde er sofort von einem nervös wirkenden Mann in Beschlag belegt, der offensichtlich auf ihn gewartet hatte, und ihn fast mit einem Stoß durch eine Tür be förderte, hinter der sich ein großer, abgenutzter und sehr unordentlicher Raum befand. An einem Schreib tisch von enormen Ausmaßen saß ein älterer Mann – ebenfalls groß, abgenutzt und sehr unordentlich –, der einen langen Fahnenabzug hin und her schwenkte und der gerade dabei war, einen Redak teur zurechtzuweisen. »Wer ist da?« rief er herumfahrend. »Ich bin be schäftigt – kann mit niemandem sprechen.« »Ich bitte um Entschuldigung«, antwortete der Major bescheiden, »aber Ihre Leute sagten mir, ich sollte heraufkommen. Mein Name ist Alan Vernon.« »O ja, ich erinnere mich. Setzen Sie sich einen Mo ment, und – Mr. Thomas, tun Sie mir den Gefallen, diesen Quatsch wieder mitzunehmen und ihn völlig neu zu schreiben, in dem Sinne, den ich Ihnen kurz umrissen habe.« Mr. Thomas ergriff den zurückgewiesenen Artikel und verschwand durch eine zweite Tür, woraufhin sein Chef mit vernehmlicher Stimme bemerkte: »Der Mann ist ein absoluter Esel. Ein Glück, daß ich daran dachte, mir sein Zeug anzusehen. Aber was soll's? Er ist nicht schlechter als alle anderen auf dieser lang weiligen Welt.« Er lachte herzhaft, schwang sich mit seinem Sessel herum und sagte: »Und nun zu Ihnen, Alan. Was haben Sie auf dem Herzen? Eine Viertel
stunde habe ich für Sie Zeit. Mein Gott! Ich habe doch glatt vergessen, daß es mehr als ein Dutzend Jahre her ist, seit wir uns sahen; Sie waren damals fast noch ein Junge, und jetzt haben Sie die Armee verlassen, mit einem D.S.O.* und einer Gratifikation, und sind Finanzier geworden, was Ihrem alten Vater sicher nicht recht gewesen wäre. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir, damit wir miteinander reden können!« »Ich habe die Armee nicht verlassen, Mr. Jackson«, antwortete sein Besucher, »sie hat mich verlassen. Ich wurde aus Gesundheitsgründen verabschiedet. Sie sagten, daß ich nach jenem Fieber niemals wieder ganz gesund werden würde, ich habe es aber den noch geschafft.« »Ah! So ein Pech, so ein großes Pech zu Beginn ei ner vielversprechenden Karriere, denn ich weiß, daß man im Kriegsministerium große Stücke auf Sie hielt. Nun, Sie sind zu einem prächtigen Mann herange wachsen und Ihrem Vater sehr ähnlich, und auch ei nem anderen Menschen.« Er seufzte und fuhr mit den Fingern durch sein graues Haar. »Aber an sie werden Sie sich nicht erinnern können; sie ist zu früh gestor ben. Aber kommen wir zur Sache: in diesem Büro hat man keine Zeit für sentimentale Erinnerungen. Wor um geht es, Alan? Denn, wie alle anderen Menschen, wollen Sie sicher etwas von mir.« »Es geht um die Gründung der Sahara Limited, Mr. Jackson«, begann er ein wenig unsicher. Das große Gesicht des alten Zeitungsmannes ver finsterte sich. »Die Sahara Limited! Diese verfluchte ...« Er unterbrach sich abrupt. »Was haben denn Sie, * Distinguished Service Order: Verdienstorden – Anm. d. Übers.
von allen Menschen auf dieser Welt, damit zu tun? Oh, ich erinnere mich. Jemand hat mir kürzlich er zählt, daß Sie Partner von Aylward, dem Firmen gründer, geworden sind, und von dieser kleinen Ratte, Champers-Haswell, der der eigentliche Kopf des Unternehmens ist. Also gut, sagen Sie, was Sie zu sagen haben!« »Es hat den Anschein, Mr. Jackson, daß der Judge nicht nur unseren Artikel abgelehnt hat, sondern auch das Inserat der Gesellschaft zurückweist. Ich verstehe von diesem Aspekt der Angelegenheit nicht viel, doch Sir Robert hat mich gebeten, Sie aufzusu chen und Sie zu fragen, ob man da nicht zu einem Einverständnis gelangen könnte.« »Mit anderen Worten, der Mann hat Sie herge schickt, um mich zu bearbeiten, weil er weiß, daß ich mit Ihrer Familie befreundet war. Das ist ein schmäh licher Auftrag, der auch ein schmähliches Ende fin den wird. Sie können damit keinen Erfolg haben – niemand auf der Welt kann damit Erfolg haben, so lange ich auf diesem Stuhl sitze, nicht einmal die Ei gentümer dieses Blattes.« Es herrschte Stille zwischen ihnen, die schließlich durch Alan gebrochen wurde, der verlegen sagte: »Wenn dem so ist, will ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.« »Ich habe Ihnen gesagt, daß ich eine Viertelstunde für Sie habe, und Sie sind erst vier Minuten hier. Sa gen Sie mir, dem alten Freund Ihres Vaters: warum haben Sie sich mit diesen vergoldeten Schweinen ein gelassen?« Es lag ein solcher Ernst in der Frage des Mannes, daß sein Besucher nicht eine Sekunde lang daran
dachte, sich diesen scharfen Ton zu verbitten. »Es ist natürlich keine originelle Idee«, antwortete er, »aber ich hatte diesen Einfall, die Wüste zu über fluten. Ich habe vor einigen Jahren meinen Urlaub dort verbracht und diese Zeit dazu genutzt, ein paar grobe Vermessungen durchzuführen. Dann mußte ich den Dienst quittieren und lebe seit dem Tode meines Vaters in Yarleys – es gehört jetzt mir, wissen Sie, doch es bringt nichts ein, außer einer Jagd-Pacht, die gerade ausreicht, um die Reparaturen zu bezah len. Dort habe ich dann Champers-Haswell kennen gelernt, der in der Nähe lebt und ein entfernter Cou sin von mir ist – meine Mutter war eine geborene Champers – und ihm bei irgendeiner Gelegenheit da von erzählt. Er war sofort sehr davon eingenommen und machte mich mit Aylward bekannt, und das En de der Geschichte war, daß sie mir eine Partnerschaft anboten, mit einem Anteil an dem Unternehmen, da ich, wie sie sagten, genau der richtige Mann dafür sei.« »Genau der richtige Mann«, wiederholte der Chef redakteur. »Ja, der letzte der Vernons, ein Ingenieur mit einem alten Namen in diesem Lande, mit einem untadeligen Ruf und großen Fähigkeiten. Ja, Sie wa ren natürlich genau der richtige Mann für die. Und Sie haben ihr Angebot angenommen?« »Ja. Ich war finanziell am Ende und hatte nichts zu tun; ich will etwas Geld verdienen. Wissen Sie, Yar leys ist seit über fünfhundert Jahren der Familiensitz, und es käme mich hart an, ihn verkaufen zu müssen. Und außerdem ... außerdem ...« Er schwieg. »Haben Sie Barbara Champers kennengelernt?« fragte Mr. Jackson zusammenhanglos. »Ich habe sie
einmal getroffen. Ein sehr nettes Mädchen, und au ßerordentlich hübsch. Aber natürlich kennen Sie sie, da sie ihres Onkels Mündel ist und Sie nicht weit von Yarleys wohnen, wie Sie sagten. Muß auch mit Ihnen verwandt sein.« Major Vernon war ein wenig zusammengezuckt, als der Name fiel, und sein Gesicht schien sich ein wenig zu röten. »Ja«, sagte er, »ich habe sie kennengelernt, und es gibt da in der Tat eine verwandtschaftliche Bezie hung.« »Wird eines Tages auch eine reiche Erbin sein, denke ich«, fuhr Mr. Jackson fort, »falls der alte Has well nicht mit ihrem Geld durchbrennt. Ich glaube, daß Aylward das weiß; auf jeden Fall bemühte er sich sehr um sie, als ich sie traf.« Vernon zuckte wieder zusammen, dieses Mal sehr deutlich. »Ganz natürlich – daß Sie unter all diesen Umstän den in das Geschäft eingetreten sind«, fuhr Mr. Jack son fort. »Aber wenn Sie meinen Rat hören wollen, sollten Sie jetzt aussteigen, so rasch es Ihnen möglich ist.« »Weshalb?« »Weil ich sicher bin, Alan Vernon, daß Sie genauso wenig wie ich erleben wollen, wie Ihr Name in den Schmutz gezogen wird.« Er fummelte in einer Schublade und zog ein maschinenbeschriebenes Pa pier hervor. »Nehmen Sie das mit«, sagte er, »und le sen Sie es in aller Ruhe! Es ist ein Abriß der finan ziellen Karriere von Messrs. Aylward und ChampersHaswell, und eine Aufstellung der Gesellschaften, die sie gegründet oder mit denen sie in Verbindung ge
standen haben, und was mit ihnen geschah und mit denen, die ihr Geld darin investierten. Jemand hat sie mir gestern besorgt, und ich werde sie verwenden. Was dieses Sahara-Geschäft betrifft, so mögen Sie vielleicht glauben, daß es in Ordnung ist, und vom technischen Standpunkt aus mag dem auch so sein, aber Sie werden niemals auf diesem Meer segeln, das zu schaffen die britische Öffentlichkeit zur Zeichnung von so vielen Millionen aufgefordert werden soll. Hö ren Sie, wir haben nur noch drei Minuten, also will ich zur Sache kommen. Die Wüste ist türkisches Ter ritorium, nicht wahr? Von allem anderen abgesehen, beruht die Sicherheit des ganzen Unternehmens also auf einer Zustimmung des Sultans.« »Ja, Sir Robert Aylward und Mr. Haswell haben die in Konstantinopel besorgt. Ich habe das Dokument selbst gesehen.« »Tatsächlich? Und sind Sie mit der Unterschrift des Sultans vertraut? Ich weiß, daß der Potentat im letz ten Herbst, als die beiden dort waren, mit einer schweren Krankheit darniederlag ...« »Sie meinen ...« Major Vernon blickte erschrocken auf. »Ich meine, Alan, daß mir diese Sicherheit nicht ge fällt. Mehr will ich dazu nicht sagen, da es im Gesetz dieses Landes einen Verleumdungsparagraphen gibt. Aber der Judge verfügt über gewisse Informations quellen. Es mag sehr wohl sein, daß nicht sofort Ein spruch erhoben wird, da der Bakschisch ihn für eine Weile aufhalten kann, aber früher oder später wird es zum Einspruch oder zum Einschreiten kommen, und vielleicht sogar zu internationalen Schwierigkeiten – also zu einem gewaltigen Skandal. Und was das Pro
jekt selbst betrifft, so ist es schamlos überkapitalisiert, zum Nutzen seiner Initiatoren – als deren einer, den ken Sie daran, Alan, Sie erscheinen werden. Aber die Zeit ist um. Vielleicht nehmen Sie meinen Rat an, vielleicht auch nicht, doch hier ist er, gegeben von ei nem Mann von Welt und einem alten Freund Ihrer Familie. Was diesen windigen Artikel und den Pro spekt betrifft, so würde ich Sie selbst dann nicht im Judge veröffentlichen, wenn Sie mir tausend Pfund dafür bezahlen würden, wozu Ihr Freund Aylward, wie ich vermute, gern bereit wäre. Auf Wiedersehen. Kommen Sie irgendwann wieder vorbei und sagen Sie mir, was geschehen ist – und ...« – die letzten Worte wurden durch die sich schließende Tür geru fen – »richten Sie Miss Barbara meine besten Grüße aus, denn sie ist eine grundehrliche Frau.«
2
Der Gelbe Gott
Alan Vernon ging langsam die bleibelegten Stufen hinab, stieß dabei mit eifrigen Gentlemen zusammen, die hinaufeilten, um mit dem großen Chefredakteur zu sprechen, dessen Glocke bereits ungeduldig schellte, und wurde von dem aufmerksamen Chauf feur zu dem luxuriösen Automobil zurückgeleitet. An der Decke des Automobils befand sich eine elektri sche Lampe, und bei deren Licht begann er sehr be unruhigt das Papier zu lesen, das Mr. Jackson ihm gegeben hatte, und das er noch immer in der Hand hielt. Wie es sich fügte, wurden sie nahe dem Mansion House eine Viertelstunde lang aufgehalten, so daß er die Zeit fand, seinen Inhalt zwar nicht völlig zu ver stehen, doch genug davon zu begreifen, um ihm die runden, braunen Augen sehr weit zu öffnen, bevor das Automobil vor dem Granitportal seines Büros hielt. Alan verließ das Fahrzeug, das leise davonfuhr, stand einen Moment lang unschlüssig und fragte sich, was er tun sollte. Sein Impuls war, sofort in einen Omnibus zu steigen und zu seiner Wohnung oder zu seinem Club zu fahren, dem Sir Robert nicht ange hörte, doch da er kein Feigling war, verwarf er diesen Gedanken sofort wieder. Sein Schicksal hing in der Schwebe, dessen war er sich nur zu bewußt. Entweder mußte er Mr. Jacksons Warnung in den Wind schlagen, obwohl sie von vie len geheimen Ängsten und Instinkten bestätigt wur
de, gar nicht davon zu sprechen, daß es ihm nicht gelungen war, seinen Auftrag auszuführen; oder er mußte den Stier bei den Hörnern packen und mit der Firma brechen. Das zu tun, würde nicht nur eine Menge moralischen Mutes erfordern, sondern auch praktisch seinen Ruin bedeuten, während er, wenn er die erste Möglichkeit wählte, wahrscheinlich inner halb von vierzehn Tagen ein reicher Mann sein wür de. Was immer Jackson und andere in ihrer abfälligen Schrift zu sagen haben mochten, er war sicher, daß die Gründung der Sahara Limited vonstatten gehen würde, denn sie war – wenn auch unter gewissen Vorbehalten – von verantwortungsvollen Persönlich keiten unterschrieben worden; außerdem wurden die noch nicht einmal ausgegebenen Vorzugsaktien be reits mit einem hohen Aufschlag gehandelt. Abgese hen von dem ihm zustehenden Anteil als Mitglied der Muttergesellschaft würden ihm als Partner des Unternehmens gut hunderttausend Pfund zustehen. Mit anderen Worten würde er, der so viele Gründe dafür hatte, zu Geld kommen zu wollen, reich sein. Nachdem er so hart gearbeitet und so vieles über sich hatte ergehen lassen, das er als beschämend, sogar als erniedrigend empfand, warum sollte er nicht das mitnehmen, was ihm zustand, und erst dann ausstei gen? Das konnte er durchaus tun, fiel ihm ein, da sein Partnerschaftsvertrag, wahrscheinlich durch ein Ver sehen Aylwards, der solche Dinge seinen Anwälten überließ, ihn nicht für eine festgesetzte Periode band. Er konnte also zu jedem Zeitpunkt aufgelöst werden. Auf dieses Argument gab es jedoch nur eine mögliche Antwort: die seines Gewissens. Wenn er überzeugt
war, daß hier einiges nicht mit rechten Dingen zu ging, wäre es unehrlich, an dem Profit teilzuhaben. Und er war davon überzeugt, Mr. Jacksons Argu mente und sein vernichtendes Schriftstück hatten ei ne Flut von Licht auf Dinge geworfen, die er zwar vermutet, aber niemals richtig verstanden hatte. Er war der Partner von, gelinde ausgedrückt, Abenteu rern, und das Geld, das er erhalten würde, sollte arglosen Menschen aus der Tasche gezogen werden. Er würde für etwas garantieren, das ihm sehr zwei felhaft erschien und durch betrügerische Praktiken reich werden. Mit anderen Worten: er, Alan Vernon, der niemals wissentlich die Unwahrheit gesagt oder auch nur einen Halfpenny genommen hatte, der ihm nicht gehörte, würde von dem Tribunal des eigenen Gewissens als Lügner und Dieb verurteilt werden. Die Sache war unerträglich. Was immer der Preis sein mochte, er mußte sie beenden. Wenn es ihm bestimmt sein sollte, ein Bettler zu bleiben, so würde er zumin dest ein ehrlicher Bettler sein. Mit festen Schritten und erhobenen Hauptes trat er in Sir Roberts Büro, und versagte sich sogar die Förmlichkeit des Anklopfens. Er sah Mr. ChampersHaswell neben seinem Partner an dem EbenholzSchreibtisch sitzen und ein Schriftstück durch eine Leselupe examinieren, das er bei seinem Eintritt ha stig zusammenfaltete und in eine Schublade schob. Es schien, wie Alan bemerkte, ein ungewöhnliches For mat aufzuweisen und in fremden Schriftzeichen ab gefaßt zu sein. Mr. Haswell, ein rundlicher, jovial wirkender, klei ner Mann mit rosiger Gesichtsfarbe und weißem Haar, erhob sich sofort, um ihn zu begrüßen.
»Wie geht es Ihnen, Alan?« sagte er herzlich, denn als Cousin aufgrund der Ehe seiner Mutter nannte er ihn beim Vornamen. »Ich bin gerade aus Paris zu rück, und es wird Sie freuen zu hören, daß man uns von dort voll unterstützen wird; ich darf sagen, daß auch die Regierung sich an dem Projekt beteiligen wird, natürlich nicht offiziell. Sie wissen, daß die Franzosen Besitzungen entlang jener Küste haben, und sie haben nichts dagegen, wenn ihnen die Gele genheit geboten wird, ihre Hand noch ein wenig weiter auszustrecken. Unsere Probleme bezüglich der Finanzierung sind damit endgültig ausgeräumt, denn ein volles Drittel wird in Paris garantiert, und ich er warte, daß kleine Investoren und Spekulatoren noch erheblich mehr aufbringen werden. Wir werden also Sahara-Aktien für drei Millionen Pfund im sonnigen Frankreich absetzen, und das nebelige England hat für den Rest gutgesagt. Es wird ein Fall von Briefen der Zusagen und des Bedauerns werden, und des Bedauerns, Alan, und finanziell die erfolgreichste Aktienemission der letzten zwölf Jahre. Was sagen Sie dazu?« Der kleine Mann streckte vor Stolz die Brust heraus, schürzte die Lippen und stieß Luft her vor, wodurch ein Geräusch entstand, wie wenn Wind durch Telegraphenleitungen weht. »Ich weiß nicht so recht, Mr. Haswell. Wenn wir alle noch am Leben sind, würde ich diese Frage gerne in zwölf Monaten beantworten, oder noch später, wenn wir sehen, ob die Gesellschaft auch in der Pra xis ein Erfolg ist, oder nicht.« Wieder machte Mr. Haswell ein Geräusch wie durch Drähte fahrender Wind, doch diesmal war ein schrillerer Ton darin; sein weicher Klang war ver
schwunden, und es war, als ob die Luft plötzlich von Frost erfüllt wäre. »Ein Erfolg in der Praxis!« wiederholte er. »Das ist wohl kaum unsere Angelegenheit, nicht wahr? Un ternehmensgründer können sich nicht mit langfristi gen Aspekten abgeben, Alan. Die sollten der investie renden Öffentlichkeit überlassen werden, dem spe kulierenden Pfarrer und der jüngferlichen Lady, die auch einmal etwas Aufregung erleben möchte – die sen Stützen des modernen Unternehmertums. Aber was wollen Sie eigentlich damit sagen? Die Idee stammt doch von Ihnen, und Sie haben immer be hauptet, daß sie großen Profit abwerfen wird.« »Ja, Mr. Haswell, bei moderater Kapitalisierung und unter der Voraussetzung, daß wir der Mitarbeit der Hohen Pforte* sicher sind.« Mr. Haswell blickte ihn sehr prüfend an, und Sir Robert, der bisher schweigend zugehört hatte, sagte mit seiner kalten Stimme: »Ich glaube, daß wir diese Punkte schon vor langer Zeit eingehend durchge sprochen haben, und, ehrlich gesagt, bin ich ihrer et was müde, besonders, da es zu spät ist, um noch et was ändern zu können. Wie sind Sie mit Jackson zu rechtgekommen, Vernon?« »Überhaupt nicht, Sir Robert. Er will unter keiner Bedingung etwas mit der Sache zu tun haben und ist sogar entschlossen, sie mit Klauen und Zähnen zu bekämpfen.« »Dann wird er sich sehr einsam fühlen, wenn die Artikel morgen erscheinen. Natürlich ist das lästig, * Der Sultan, der Herrscher der Türken in Konstantinopel. – Anm. d. Übers.
doch wir sind stark genug, ihm eine Nase zu drehen. In Frankreich liest man den Judge nämlich nicht, und in Konstantinopel hat niemand auch nur von ihm ge hört. Deshalb haben wir nichts zu befürchten – solan ge wir zusammenhalten«, setzte er warnend hinzu. Alan fühlte, daß der Zeitpunkt der Krise gekom men war. Er mußte jetzt reden – oder für immer schweigen; Aylward sah sich bereits nach seinem Hut um. »Sir Robert und Mr. Haswell«, sagte er mit nervö ser Stimme. »Ich habe Ihnen etwas zu sagen, etwas Unangenehmes.« Er schwieg. »Dann sagen Sie es, Vernon. Ich möchte mich zum Dinner umziehen; ich gehe heute ins Theater und muß früher essen«, antwortete Aylward völlig gleichgültig. »Es geht darum, Sir Robert«, sagte Alan erregt, »daß mir die Prinzipien, auf denen diese Sache auf gebaut ist, nicht gefallen, und deshalb möchte ich meinen Anteil daran aufgeben und aus Ihrer Firma ausscheiden, wozu ich nach den Bestimmungen un seres Partnerschaftsvertrages das Recht habe.« »Haben Sie dieses Recht?« sagte Aylward. »Ich kann mich wirklich nicht daran erinnern; doch dürfen Sie, mein lieber Freund, nicht glauben, daß wir Sie auch nur eine Sekunde lang gegen Ihren Willen fest halten würden. Aber darf ich mir die Frage erlauben, ob dieser alte Puritaner, Jackson, Sie hypnotisiert hat, oder ob es sich um einen Fall plötzlichen Irrsinns nach einer Influenza handelt?« »Weder das eine, noch das andere«, sagte Alan ernst, denn obwohl er Zurückhaltung übte bei Din gen, die er nicht wirklich verstand, war er kein Mann,
der zweideutige Anspielungen oder Impertinenz hinnahm. »Es ist so, wie ich es gesagt habe, nicht mehr und nicht weniger. Ich bin auch nicht einver standen mit der Art der Kapitalisierung oder mit der Garantie, daß das Unternehmen überhaupt durchge führt werden kann. Außerdem ...« – er machte eine kurze Pause – »außerdem möchte ich etwas haben, das man mir nie gewährt hat: mehr Informationen über das Firman*, unter dem die Konzession gewährt wurde.« Ein leichtes Zittern lief über das unbewegte Gesicht Sir Roberts, während Mr. Haswell seinen WindPfeifton ausstieß, dieses Mal mit einem Ausdruck klagenden Tadels. »Da Sie Ihre Partnerschaft an der Firma formell aufgekündigt haben, sehe ich keinen vernünftigen Grund, solche Dinge mit Ihnen zu besprechen. Wir hätten Ihnen natürlich alles eingehend erläutert ...« »Mein lieber Alan«, unterbrach Haswell, der über aus erregt wirkte, »ich flehe Sie an, es sich um Ihrer selbst willen noch einmal zu überlegen. In einer ein zigen Woche würden Sie ein reicher Mann sein; wol len Sie wirklich alles nur um einer Laune willen auf geben?« »Vielleicht erinnert Vernon sich, daß e r über eintau sendsiebenhundert Aktien des Syndikats besitzt, die wir inzwischen auf einen Wert von achtzehn Pfund gebracht haben, und hält es für klüger, den greifbaren Profit mitzunehmen, was generell ein sehr gesundes Prinzip ist«, unterbrach Aylward sarkastisch. * � Firman: Verfügung eines orientalischen Herrschers. – Anm. d. Übers.
»Sie irren sich, Sir Robert«, antwortete Alan und lief rot an. »Die Art und Weise, mit der der Wert die ser Aktien künstlich hochgetrieben wurde, ist eins der Dinge, die mir am meisten mißfallen. Ich will für die meinen nur den Nennwert haben, den ich für sie bezahlt habe.« Jetzt wirkten die beiden Senior-Partner trotz all ih rer Erfahrung ziemlich schockiert. Eine solche Dummheit – oder eine solche Ehrlichkeit – war ihnen völlig unbegreiflich. Sie hatten das Gefühl, daß ir gend etwas dahinterstecken mußte. Sir Robert erholte sich jedoch sofort wieder von diesem Schock. »Also gut«, sagte er. »Es steht uns nicht zu, Ihnen Vorschriften zu machen. Sie müssen Ihr Bett machen und darin schlafen. Mit Ihnen zu diskutieren oder Ih nen Vorhaltungen zu machen, würde sehr unhöflich sein.« Er drückte den Knopf einer elektrischen Klin gel, und während er das tat, fügte er hinzu: »Wir sind uns, denke ich, darüber einig, Vernon, daß Sie als Gentleman und Ehrenmann keinen öffentlichen Ge brauch von den Informationen machen werden, die Sie während Ihrer Zeit in diesem Büro erhalten ha ben, weder zu unserem Nachteil, sei er persönlich oder finanziell, noch zu Ihrem Vorteil.« »Selbstverständlich nicht«, antwortete Vernon. »Falls nicht mein Charakter angegriffen wird und es nötig werden sollte, mich zu verteidigen, sind meine Lippen versiegelt.« »Das wird niemals geschehen – warum sollte es auch?« sagte Sir Robert mit einer höflichen Vernei gung. Die Tür öffnete sich, und Jeffreys, der Bürovorste her, trat herein.
»Mr. Jeffreys«, sagte Sir Robert, »bitte suchen Sie den Partnerschaftsvertrag zwischen Major Vernon und uns heraus und bringen Sie ihn her! Einen Mo ment. Stellen Sie auch eine Überschreibung von Ma jor Vernons Aktien des Sahara Syndikats an Mr. Champers-Haswell und mich zum Nennwert aus und bereiten Sie einen Scheck über diesen Betrag vor! Au ßerdem entfernen Sie Major Vernons Namen, wo immer er in dem Entwurf unseres Prospektes er wähnt wird, und – ja – noch etwas: Telephonieren Sie mit Specton – ich meine den Earl of Specton – und sa gen Sie ihm, daß es mir doch gelungen sei, ihm einen Platz im Vorstand und einen Block Aktien zu einem sehr günstigen Preis zu sichern, und daß sein Name in unserem Prospekt erscheinen wird, wenn er uns telegraphisch sein Einverständnis erklärt! Das ist doch auch in Ihrem Sinne, nicht wahr, Haswell? – ja –, dann ist das alles, glaube ich, Jeffreys. Aber machen Sie bitte schnell, denn ich will zum Essen!« Jeffreys, der Makellose und Unerschütterliche, ver neigte sich, warf aus den Augenwinkeln einen ra schen Blick auf Vernon, und ging hinaus. Es entstand, was man eine drückende Stille nennt; es war sogar eine sehr drückende Stille. Die Würfel waren gefallen, die Angelegenheit war abgeschlossen, was also konnten die Akteure noch tun, bis die Ratifi zierung erfolgt war, oder – ein besserer Vergleich – bis das decretum nisi als absolut erklärt wurde? Mr. Champers-Haswell bemerkte, daß das Wetter für den April sehr kühl sei, und Alan stimmte ihm zu, wäh rend Sir Robert seinen Hut nahm und ihn mit dem Jackenärmel abstaubte. Dann murmelte Mr. Haswell in stiller Verzweiflung – denn er war in Dingen von
geringerer Bedeutung ein freundlicher Mensch, der Szenen und Unannehmlichkeiten haßte – etwas da von, daß er ihn, Alan, ja als Wochenendgast auf sei nem Besitz, ›The Court‹, in Herfordshire, haben wür de. »So war es ausgemacht«, antwortete Alan direkt, »doch nach dem, was geschehen ist, legen Sie viel leicht keinen Wert darauf, daß ich dieser Einladung nachkomme.« »Oh! Warum denn nicht? Warum denn nicht?« sagte Mr. Haswell. »Der Sonntag ist ein Ruhetag, an dem wir aus Prinzip nicht vom Geschäft sprechen, und wenn wir es doch tun sollten, mögen wir alle un sere Ansichten über diese Dinge ändern. Sir Robert wird ebenfalls da sein, und es würde Ihre Cousine Barbara sicher sehr enttäuschen, wenn Sie nicht kä men, denn sie versteht überhaupt nichts von ge schäftlichen Angelegenheiten; sie sind für sie ein Buch mit sieben Siegeln.« Bei der Erwähnung des Namens von Barbara blickte Sir Robert von den Papieren auf, mit denen er sich zu beschäftigen vorgab, und Alan glaubte in sei nen Augen den Ausdruck von Herausforderung zu erkennen. Eben noch war er entschlossen gewesen, daß keine Macht der Erde ihn dazu bringen könnte, einen Sonntag mit seinen verflossenen Partnern in ›The Court‹ zu verbringen. Jetzt, auf einen Instinkt oder einen Impuls reagierend, stieß er seinen Ent schluß um. »Danke«, sagte er, »wenn wir uns über diesen Punkt im klaren sind, komme ich sehr gern. Ich werde also morgen abend von Yarleys hinüberfahren. Vielleicht würden Sie Barbara entsprechend informieren.«
»Sie wird sich freuen«, antwortete Mr. Haswell, »denn sie sagte mir neulich, daß Sie mit Ihnen über eine Freiluftbühne sprechen möchte, die sie im Juli einrichten will.« »Im Juli!« antwortete Alan mit einem kurzen Auf lachen. »Wer weiß, wo ich im Juli sein werde.« Wieder trat eine Stille ein, die sogar an Sir Roberts Nerven zerrte, denn er ließ seine Papiere liegen, durchquerte den Raum und trat vor das goldene Ob jekt, das bereits beschrieben wurde, und betrachtete es nachdenklich. »Dieses Ding gehört Ihnen, Vernon«, sagte er, »und nun, da unsere Beziehungen beendet sind, wollen Sie es sicher zurückhaben. Woher stammt es eigentlich? Das haben Sie mir nie gesagt.« »Oh! Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Alan gleichgültig. »Mein Onkel, der Missionar war, hat es vor langer Zeit aus Westafrika mitgebracht. Ich habe alles, was damit zusammenhängt, vergessen, doch Jeekie, mein afrikanischer Diener, kennt sich da genau aus, denn mein Onkel hat ihn als Jungen vor einer rituellen Opferung oder so etwas ähnlichem ge rettet, an einem Ort, wo sie diese Idole anbeten, und seitdem ist er bei uns. Es ist ein Fetisch mit magischen Kräften und allem anderen, was dazu gehört. Ich glaube, sie nennen es den ›Schwimmenden Kopf‹. Wenn man ihn ansieht, hat man doch den Eindruck, als ob der Kopf zwischen den Gliedmaßen schwim me, nicht wahr?« »Ja«, sagte Sir Robert, »und ich bewundere das schöne Scheusal. Es ist grausam und künstlerisch wie ... wie die Finanzwelt. Hören Sie, Vernon, wir haben uns zwar zerstritten und werden von nun an Gegner
sein; es ist sinnlos, sich da etwas vorzumachen, das tun nur Narren, aber auf eine gewisse Weise sind Sie schlecht weggekommen. Sie könnten auf dem Markt heute mindestens zehn Pfund für jede der Aktien be kommen, und ich zahlte Ihnen nur ein Pfund dafür. Ich verstehe Ihre Skrupel, doch gibt es keinen Grund, warum wir da nicht zu einem Ausgleich kommen sollten. Ihr Fetisch hat mir Glück gebracht, also möchte ich ihn kaufen. Lassen Sie ihn hier, und ich stelle Ih nen statt des Schecks über eintausendsiebenhundert Pfund einen über siebzehntausend Pfund aus.« »Das ist ein sehr großzügiges Angebot«, sagte Ver non. »Geben Sie mir bitte einen Moment Bedenkzeit.« Er trat ebenfalls in die Zimmerecke und betrachtete die goldene Maske, die zwischen den froschartigen Gliedmaßen zu schweben schien. Die schimmernden Augen zogen seinen Blick an, doch was er darin sah, spielt keine Rolle. Er konnte sich tatsächlich niemals daran erinnern. Aber als er sich wieder aufrichtete, war er entschlossen, sich weder für siebzehn-, noch für siebzigtausend Pfund von diesem einzigartigen Fetisch zu trennen. »Nein, vielen Dank«, sagte er. »Ich möchte den ›Gelben Gott‹, wie Jeekie ihn nennt, nicht verkaufen. Vielleicht behalten Sie ihn freundlicherweise noch ei ne Woche oder so hier, bis ich mich entschieden habe, wo ich ihn unterbringe.« Wieder stieß Mr. Champers-Haswell seinen seltsa men Pfeifton aus. Daß ein Mensch siebzehntausend Pfund für ein Stück afrikanischen Goldes ausschlagen sollte, das höchstens hundert wert sein konnte, war ihm unbegreiflich. Sir Robert schien jedoch nicht im geringsten überrascht, nur sehr enttäuscht.
»Ich habe volles Verständnis dafür, daß Sie ihn nicht verkaufen wollen«, sagte er. »Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, ihn vorderhand hier zu las sen, damit er uns durch die Gründungsperiode hilft.« Er lachte. In diesem Augenblick trat Jeffreys mit den Schrift stücken herein. Sir Robert reichte Alan den Partner schaftsvertrag, und als dieser ihn identifiziert hatte, nahm er ihn ihm wieder aus der Hand und warf ihn ins Kaminfeuer, wobei er sagte, daß er natürlich eine schriftliche Bestätigung darüber erhalten und sein Ausscheiden in der Gazette veröffentlicht werden würde. Dann wurde die Übereignung der Aktien be stätigt und der Scheck übergeben. »Also dann bis zum Samstag«, sagte Alan, als er den Scheck einsteckte, nickte beiden zu und verließ den Raum. Der Korridor führte an dem kleinen Zimmer vorbei in dem Mr. Jeffreys, der Bürovorsteher, allein saß. Als Alan ihn durch die offene Tür an seinem Schreibtisch sah, trat er hinein und drückte sie hinter sich zu. Er zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche, löste die Schlüssel für seinen Schreibtisch und den Safe vom Ring und übergab sie dem Bürovorsteher, der ihm, gewissenhaft wie immer, eine Empfangsbestätigung dafür ausstellte. »Sie verlassen uns, Major Vernon?« fragte er, als er das Papier unterschrieb. »Ja, Jeffreys«, antwortete Alan und setzte dann, ei nem Impuls folgend, hinzu: »Tut es Ihnen leid?« Mr. Jeffreys blickte auf, und Alan sah Spuren un terdrückter Emotion in seinem harten, unbewegten Gesicht.
»Was mich betrifft: Ja, Major – für Sie: nein.« »Was meinen Sie damit, Jeffreys? Ich verstehe Sie nicht ganz.« »Ich meine, daß es mir leid tut, weil Sie niemals versucht haben, irgendeine nicht ganz saubere Sache mir aufzuladen und sie mich ausbaden zu lassen; und auch, weil Sie mich immer so behandelt haben, wie man es von einem Gentleman erwartet, nicht wie eine Maschine, die man benutzt, bis sich eine bessere fin det, und die man wegwirft, wenn sie nicht mehr funktioniert.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mir das zu sagen, Jeffreys, aber ich kann mich nicht erinnern, irgend etwas Besonderes für Sie getan zu haben.« »Nein, Major, Sie können sich nicht an Dinge erin nern, die für Sie selbstverständlich sind. Aber ich und die anderen erinnern uns daran, und deshalb tut es uns leid, daß Sie gehen. Doch für Sie freut es mich, denn obwohl Aylward und Haswell eine große Sache durchgezogen haben und einen Haufen Geld verdie nen werden, ist dies kein Ort für einen Menschen wie Sie, und jetzt, wo Sie gehen, nehme ich mir die Frei heit, Ihnen zu sagen, daß ich mich schon immer ge fragt habe, was Sie hier zu suchen haben. Irgend wann, Major, kommt der große Krach, so wie er schon mehr als einmal früher gekommen ist, vor Ihrer Zeit.« »Und dann?« fragte Alan, dem daran gelegen war, die Gedanken dieses Mannes zu ergründen, den er bis dahin für sehr verschlossen gehalten hatte. »Und dann, Major Vernon, wird es Messrs. Ayl ward und Champers-Haswell, die an so etwas ge wöhnt sind, kaum etwas ausmachen und höchstens
dazu führen, daß sie ihre Partnerschaft auflösen und für eine Weile in Deckung gehen, und Leuten wie mir, die nur Angestellte sind, noch weniger. Aber wenn Sie dann noch hier wären, würde es Ihnen sehr viel ausmachen, denn es würde Ihren Namen be schmutzen und Ihnen das Herz brechen, und was nützte Ihnen dann das Geld? Ich sage Ihnen, Major«, fuhr der Bürovorsteher mit stiller Intensität fort, »obwohl ich ein Niemand und ein Nichts bin, würde ich sofort Ihrem Beispiel folgen, wenn ich mir das lei sten könnte. Aber ich kann es mir nicht leisten, da ich eine kranke Frau und gesundheitlich anfällige Kinder habe, die sechs Monate pro Jahr an der Südküste le ben müssen, gar nicht zu reden von meiner alten Mutter, und ... ich war dumm genug, mich von Sir Robert in sein letztes kleines Abenteuer hineinziehen zu lassen und habe alles verloren, was ich erspart hatte. Also verstehen Sie, Major daß ich ein wenig Geld verdienen muß, bevor die Maschine auf den Schrott geworfen wird. Doch eines können Sie mir glauben: wenn ich fünftausend Pfund zusammenbe komme, was ich mir von dieser Sahara-Geschichte erhoffe, bevor ich einen Monat älter bin – sie mußten mir schon ein paar Aktien geben, weil ich zu viel weiß –, gehe ich aufs Land, wo ich geboren wurde, und kaufe mir dort eine Farm. Dann gibt es Messrs. Aylward & Haswell für Thomas Jeffreys nicht mehr. Das werde ich tun! Leben Sie wohl, Major Vernon, ich werde mir die Freiheit nehmen, Ihnen hin und wieder zu schreiben, da ich weiß, daß Sie mich nicht verraten werden. Leben Sie wohl und Gott segne Sie, was er auf lange Sicht bestimmt tun wird, dessen bin ich si cher.« Damit ergriff er die Hand des verwunderten
Alan und drückte sie herzlich. Als er gegangen war, verließ Alan ebenfalls den Raum. Er bemerkte, daß die Schreiber, die anschei nend ein Gerücht von den Geschehnissen erreicht hatte, ihm durch die Glastüren ihrer Büros neugierig nachblickten, und, wie er glaubte, nicht ohne Bedau ern und eine Art Bewunderung. Selbst der prächtig uniformierte, ordensbehängte Portier trat aus seiner mit Schnitzereien verzierten Teak-Loge neben der Tür, legte die Hand an den Mützenschirm und fragte, ob er ein Taxi rufen sollte. »Nein, vielen Dank, Sergeant«, antwortete Alan, »ich werde den Bus nehmen. Und, Sergeant, ich habe anscheinend vergessen, Ihnen zu Weihnachten etwas zu schenken. Würden Sie dies annehmen? – ich wünschte, ich könnte mehr erübrigen.« Er reichte ihm zehn Shillings. »Ich danke Ihnen vielmals, Major«, sagte der Mann. »Zehn Shillings von Ihnen sind mir lieber, als zehn Pfund von den anderen Gentleman. Aber, Major, ich wünschte, wir wären wieder zusammen an der West küste. Es ist zwar ein stinkendes, barbarisches Loch, aber längst nicht so schlimm wie diese Stadt.« Denn die beiden Männer hatten eine Zeitlang ge meinsam gedient, und der Sergeant hatte durch Alan seinen derzeitigen lukrativen, doch ziemlich lang weiligen Posten erhalten. Schließlich war er draußen. Das massive Granit portal verschwand hinter ihm im Abendnebel, so wie ein Alptraum verschwindet. Er, Alan Vernon, der über ein Jahr lang ein Joch getragen hatte, war wieder ein freier Mann. Alle seine Träume von Reichtum wa ren zerstoben; genaugenommen war er, von der Er
fahrung abgesehen, jetzt ärmer als an dem Tage, an dem der Schatten jenes Portales zum ersten Mal auf ihn gefallen war. Aber zumindest war er sicher – sicher. Der Partnerschaftsvertrag, der ihm wie ein Skla venring um den Hals gelegen hatte, war zu weißer Asche geworden; sein Name war von dem unseriösen Prospekt der Sahara Limited gelöscht, in dem von Millionen, die irgend jemand investieren sollte, ge sprochen wurde, wie von Silber zu den Zeiten Salo mons, als etwas, das kaum zählte. Selbst der schärfste Kritiker konnte nicht behaupten, daß er auch nur ei nen Halfpenny an dem Unternehmen verdient hätte, im Gegenteil, falls es Schwierigkeiten geben sollte, mußte man ihm den freiwilligen Verzicht auf die ihm zustehenden Profite zugute halten. Er war in die eisi gen Wasser der Entsagung gesprungen und sauber herausgestiegen – wenn auch nackt. Seit seiner Kind heit hatte Alan sich nie mehr so absolut glücklich und sorgenfrei gefühlt. Nicht für eine Million würde er zurückgehen, um in diesem Mausoleum von Reputa tionen Gold zu raffen. Was die Zukunft betraf, so war es ihm völlig egal, was geschehen mochte. Es gab niemanden, der von ihm abhängig war, und auf ir gendeine Weise würde er immer sein Brot verdienen können, ein sauberes, ehrliches Brot. Er lief die Straße hinab und tanzte vor Glück wie ein Kind, ja, und als er dabei gegen einen Straßenkeh rer rempelte, drückte er ihm als Entschädigung einen ganzen Sixpence in die Hand. So gelangte er zum Mansion House, nicht ohne von der Polizei für ange trunken gehalten zu werden, und kletterte auf das obere Deck eines Busses, der mit müde und sorgen voll wirkenden Büroangestellten gefüllt war, die nach
langen Arbeitsstunden für einen Hungerlohn nach Hause fuhren. In dieser ernüchternden Gesellschaft und einer eisigen Luft verflog etwas von seinem En thusiasmus. Dieser Schritt, fiel ihm ein, bedeutete, daß Yarleys, seit Jahrhunderten das Heim seiner Fa milie, früher oder später, in höchstens einem Jahr oder zweien, unter den Hammer kommen würde. Warum hatte er Aylwards Angebot nicht angenom men und ihm diesen alten Fetisch für siebzehntau send Pfund verkauft? Es bestand da keinerlei Zu sammenhang mit dem Aktiengeschäft, und wenn ein sehr reicher Mann bereit war, einen außergewöhnlich hohen Preis für eine Kuriosität zu bezahlen, konnte er ihn ohne jeden Zweifel und ohne Scham annehmen. Zumindest würde der Betrag gereicht haben, um Yarleys zu retten, das nur mit einer Hypothek von zwanzigtausend Pfund belastet war. Er konnte es nicht sagen, selbst wenn sein Leben davon abgehan gen hätte. Er war einem Impuls gefolgt, einem sehr seltsamen Impuls, mehr konnte er darüber nicht sa gen; vielleicht hatte es damit zu tun, daß sein Onkel ihm als Junge erklärt hatte, dieses Ding sei einmalig, oder vielleicht, weil der alte Jeekie, sein afrikanischer Diener, es so sehr verehrte und schwor, daß es Glück bringe. Auf jeden Fall hatte er seine Entscheidung getroffen, und damit war der Fall erledigt. Doch eine andere und ernsthaftere Frage blieb of fen. Er hatte Reichtum erstrebt, um Yarleys retten zu können, doch noch mehr für einen anderen Zweck. Mehr als alles andere auf der Welt liebte er Barbara, seine entfernte Cousine und die Nichte von Mr. Champers-Haswell, der bis vor einer Stunde sein Ge schäftspartner gewesen war. Nun war sie jedoch die
Erbin eines großen Vermögens, und ohne eigenes Vermögen konnte er sie nicht heiraten, selbst wenn sie ihn heiraten wollte, was noch zweifelhaft war. Zum einen besaß ihr Onkel und Vormund, Haswell, laut dem Testament ihres Vaters in diesen Dingen ab solute Vollmacht, bis sie das Alter von fünfundzwan zig Jahren erreichte, und zum anderen war er selbst zu stolz. Deshalb hatte es den Anschein, daß er durch das Verlassen der Partnerschaft auch Barbara verlas sen hatte, was ihm ein schrecklicher Gedanke war. Nur um sie zu sehen, hatte er sich bereit erklärt, tags darauf ›The Court‹ aufzusuchen, obwohl das ein Treffen mit seinen verflossenen Partnern bedeutete, welche die letzten Menschen auf der Welt waren, die er so bald wiederzusehen wünschte. In diesem Mo ment faßte er den Entschluß, Barbara die ganze Ge schichte zu erzählen, bevor er sich am Sonntag von ihr verabschiedete, damit sie ihn nicht falsch beur teilte. Danach würde er fortgehen, irgendwohin – nach Afrika vielleicht. Er fühlte sich unendlich müde, so müde, als ob er eine Woche lang im Griff eines Fiebers gelegen hätte. Er mußte etwas essen und zu Bett gehen. Dieser Tag hatte ihm genügend Böses ge bracht, doch im Ganzen gesehen segnete er den Na men Jacksons, dem Chefredakteur des Judge und al ten Freund seines Vaters. Nachdem Alan das Büro verlassen hatte, wandte Sir Robert sich Mr. Champers-Haswell zu und fragte ihn abrupt: »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten?« Mr. Haswell blickte zur Decke empor und pfiff auf seine seltsame Weise, bevor er antwortete. »Ich bin mir da nicht sicher, doch scheint das Ver
halten unseres jungen Freundes darauf hinzudeuten, daß er eine Ratte gerochen hat, oder sogar, daß Jack son, dieser alte Bastard, ihm eine Ratte gezeigt hat – von der großen, türkischen Rasse.« Sir Robert nickte. »Vernon ist ein Bursche, der Ratten nicht mag; sie scheinen ihm den Schlaf zu rauben«, sagte er, »aber glauben Sie, daß er die Ratte, nachdem er sie gesehen hat, im Sack lassen wird?« »Oh, ganz bestimmt, ganz bestimmt«, antwortete Mr. Haswell unbesorgt; »der Mann ist das Ehrgefühl selbst und wird uns niemals verraten. Denken Sie doch daran, wie er sich bei diesen Aktien verhalten hat. Dennoch halte ich es für gut, daß wir ihn los sind. Zu viel Ehrgefühl ist, genauso wie zuviel Ehr geiz, bei jedem Geschäft eine sehr gefährliche Eigen schaft.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen da zustimmen kann«, antwortete Sir Robert. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht auf lange Sicht mit etwas mehr davon bes ser fahren würden. Was mich betrifft – obwohl es uns geschäftlich nicht schaden kann, da man es gar nicht zur Kenntnis nehmen wird – so tut es mir leid, daß wir Vernon verloren haben, sehr leid sogar. Ich halte ihn nicht für einen Narren, und ich respektiere seine Eigenschaften, so lästig sie oft auch sein mögen.« »Ich auch, ich auch«, versicherte Mr. Haswell eifrig, »und natürlich haben wir ständig gegen seinen Rat gehandelt, was ihn sehr verärgert haben muß. Das Projekt, so wie er es konzipiert hatte, war ein ehrli ches Geschäft, das eine Rendite von zehn Prozent ei nes geringen Kapitals abgeworfen hätte, aber was sind schon zehn Prozent für Sie und für mich? Wir
wollen Millionen, und wir werden sie bekommen. Nun, er wird ja morgen in ›The Court‹ sein, und vielleicht können wir dort die Dinge klären. Ich wer de Barbara einen Tip geben; sie hat großen Einfluß auf ihn, und Sie mögen es ebenfalls tun, Aylward.« »Miss Champers hat großen Einfluß auf jeden, der das Glück hat, ihr zu begegnen«, antwortete Sir Ro bert galant. »Doch selbst wenn sie bereit sein sollte, ihn zu nützen, glaube ich nicht, daß er in diesem Falle zum Ziele führt. Vernon hat seinen Entschluß schon vor langer Zeit gefaßt. Ich habe ihn beobachtet und bin mir dessen sicher. Heute hat er sich nur dazu auf gerafft, den Sprung zu wagen, und ich glaube nicht, daß wir ihn jemals in diesem Büro wiedersehen wer den. – Haswell«, setzte er mit plötzlicher Schärfe hin zu, »ich sage Ihnen, daß das Glück, das wir in der letzten Zeit hatten, zu schön war, um anzudauern. Der Boom, der wirkliche Boom, ist mit Vernon ein getreten, und ich bin sicher, daß er mit Vernon von uns gehen wird.« »Auf jeden Fall muß es diesmal einen schönen Bat zen bei uns zurücklassen. Aylward, mein Freund. Was auch immer geschehen mag, in spätestens einer Woche sind wir reich, wirklich reich für den Rest un seres Lebens.« »Für den Rest unseres Lebens, Haswell, ja, für den Rest unseres Lebens. Aber was ist das Leben? Eine Seifenblase, die jede Stecknadel zum Platzen bringen kann. Oh! Ich weiß, daß Sie dieses Thema nicht mö gen, doch ist es ganz gut, ihm manchmal ein bißchen Beachtung zu schenken. Ich bin kein Kirchgänger, weiß Gott, aber wenn ich mich recht erinnere, wur den wir gelehrt, den Herrn zu bitten, uns zu erlösen,
besonders ›zu Zeiten des Reichtums‹, worauf etwas von Heimsuchungen und plötzlichem Tod folgt, denn als jenes Gebet geschrieben wurde, drehte sich das Glücksrad menschlicher Schicksale genauso, wie es das heute tut. Aber lassen wir dieses Thema, bevor ich abergläubisch werde, was Menschen, die an nichts glauben, häufig sind, denn letzten Endes müs sen sie an irgend etwas glauben, vermute ich. Haben Sie Mantel und Hut? Dann kommen Sie!« Er schaltete das Licht aus, so daß der Raum in Dunkelheit ge taucht wurde, in der nur die Reste des Kaminfeuers glühten. Sein Partner knurrte verärgert, da er sich beim Umwenden die Hand an der Schreibtischkante gesto ßen hatte. »Lassen Sie mir meine einzige Sparmaßnahme, Haswell«, sagte Sir Robert mit einem kleinen Lachen. »Elektrizität ist Energie, und ich hasse es, Energie zu vergeuden. Warum stört es Sie?« fuhr er fort, wäh rend er zur Tür schritt. »Ist es der Kontrast? Zu allen Zeiten unseres Reichtums, zu allen Zeiten unserer Heimsuchungen, vor Krankheit und vor plötzlichem Tod ...« »Guter Gott, erlöse uns«, unterbrach Mr. Haswell ihn mit zitternder Stimme. »Was, zum Teufel, ist das?« Sir Robert wandte sich um und sah – oder glaubte zu sehen – etwas sehr Seltsames. Der goldene Fetisch mit dem Frauengesicht schien sich von dem Piedestal, auf dem er ruhte, zu lösen. Im Licht des vergehenden Kaminfeuers glitt er durch den großen Raum auf sie zu, nur wenige Zoll über dem Fußboden. Er kam sehr langsam, aber unaufhaltsam näher, erreichte sie und
verhielt, dann stieg er hoch, bis er die Höhe von Mr. Champers-Haswells Gesicht erreicht hatte, und blieb dort in der Schwebe. Er starrte ihm in die Augen, kaum eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt, als ob die Maske ein wirkliches Frauenantlitz wäre, das ihn aus unmittelbarer Nähe musterte. Mr. Champers-Haswell stieß einen erstickten Laut aus, halb Pfeifen und halb Stöhnen, und taumelte zu rück, bis er auf einer lederbezogenen Couch landete, die dort stand. Einen Moment lang hing die goldene Maske reglos in der Luft. Dann drehte sie sich ein wenig, stieg noch ein Stück empor und schwebte seitwärts auf Sir Robert zu, um vor dessen Gesicht innezuhalten. Aylward taumelte zum Kaminsims und fummelte nach dem Lichtschalter; in der Stille hörte das Krat zen seiner Fingernägel auf dem Holz der Täfelung sich an wie das Nagen einer Maus. Er fand den Schalter schließlich, und im nächsten Moment er strahlte das Büro in hellem Licht. Mr. Haswell, dessen sonst rosiges Gesicht totenbleich war, und dessen Hut und Regenschirm auf dem Boden lagen, war wie ein Sterbender keuchend auf die Couch gesunken, wäh rend Sir Robert an den Kaminsims geklammert stand wie ein Mensch, der gerade eine tödliche Wunde er halten hatte. Der goldene Fetisch indes thronte ruhig auf seinem Piedestal, so unbewegt und reglos wie die antike Venus am anderen Ende des Raums. Eine Weile herrschte Stille. Dann sagte Sir Robert, sich wieder fassend: »Haben Sie eben irgend etwas Un gewöhnliches bemerkt, Haswell?« »Ja«, flüsterte sein Partner. »Ich glaubte dieses gräßliche afrikanische Ding, das Vernon mitgebracht
hat, über den Fußboden gleiten zu sehen und mir mit glühenden Augen ins Gesicht zu starren, und in die sen Augen ...« »Nun, was war in den Augen?« »Ich kann mich nicht genau erinnern. Es ... es war eine Art Bild, und seine Bedeutung war plötzlicher Tod – Oh, Gott! Plötzlicher Tod. Sagen Sie mir, daß es nur eine Phantasieerscheinung war, die von Ihrem Gerede bösen Omens ausgelöst wurde.« »Ich kann Ihnen leider nichts in dieser Richtung sagen«, antwortete Aylward mit hohler Stimme, »denn ich sah dort ebenfalls etwas.« »Was?« fragte sein Partner. »Einen Tod, der nicht plötzlich ist – und andere Dinge.« Wieder herrschte Stille, die schließlich von Ayl ward gebrochen wurde. »Kommen Sie!« sagte er. »Wir sind überarbeitet – zu starke Anspannung, und dies war die Reaktion darauf. Behalten Sie diesen Unsinn für sich, sonst sperrt man uns beide ins Irrenhaus.« »Selbstverständlich, Aylward, selbstverständlich. Aber können Sie dieses entsetzliche Ding nicht fort schaffen?« »Auf gar keinen Fall, Haswell, selbst dann nicht, wenn es uns den ganzen Tag lang heimsuchen sollte. Es wird hierbleiben, bis wir am Montag die SaharaAktien auf den Markt geworfen haben, und wenn ich es in den Safe sperren und die Schlüssel in die Them se werfen müßte. Danach kann Vernon es mitneh men, wozu er das Recht hat, und ich bin sicher, daß mit ihm unser Glück aus dem Hause gehen wird.« »Dann sage ich: je eher das Glück geht, desto bes
ser«, antwortete Haswell und brachte nur einen schwachen Abglanz seines gewohnten Pfeifens her vor. »Das Leben ist wichtiger als das Glück, und – Aylward, dieser Gelbe Gott, an dem Sie so hängen, will uns ermorden. Wir werden für die Opferung gemästet, das ist alles. Ich erinnere mich jetzt, daß dies eines der Dinge war, die ich in seinen Augen sah!«
3
Jeekie erzählt eine Geschichte
›The Court‹, das Landhaus Mr. Champers-Haswells, war auf seine Art ein sehr schöner Besitz. Das heißt, es enthielt neunundzwanzig Schlafzimmer, jedes von ihnen mit eigenem Badezimmer, eine große Zahl von Wohnräumen, dazu reichlich Garagen, Stallungen und Büros, das ganze umgeben von mehreren Acres* neu angelegter Gärten. Im übrigen sah es jedoch aus wie eine Vorstadtvilla, die man durch ein Vergröße rungsglas betrachtet. Es war diese Frage des Geschmacks, die es von Sir Roberts Heim, ›Old Hall‹, unterschied, das einige Meilen entfernt lag. Nicht daß dieses Haus alt war, denn das ursprüngliche Gebäude war vor hundert Jahren zusammengefallen oder niedergebrannt. Doch Sir Robert, der eine gewisse künstlerische Begabung besaß, hatte an seiner Stelle ein kleineres, doch wirk lich schönes Haus aus weichem, grauem Stein erbaut, langgestreckt und niedrig, und im vielgiebeligen Tu dor-Stil gehalten. Dieses Haus, so schön es auch war, konnte sich je doch nicht mit Yarleys messen, dem angestammten Sitz der Vernons, der unweit davon lag. Yarleys war rein elisabethanisch, wenngleich es eine durch ein Ei chendach gedeckte Halle enthielt, die angeblich aus der Zeit von King John stammen sollte und der Rest eines früheren Gebäudes war. In Yarleys gab es kein * 1 acre = 40,47 Ar – Anm. d. Übers.
elektrisches Licht oder andere moderne Bequemlich keiten, dennoch kamen Menschen gern dorthin, we gen seiner außergewöhnlichen Schönheit und seiner historischen Beziehungen. Der Burggraben, von dem das Haus umgeben war, der rasenbewachsene Hof zwischen den Flügeln – es war auf drei Seiten eines Karrees errichtet – die geteilten Fenster, die von Tür men flankierte Toreinfahrt aus roten Ziegeln, die niedrigen getäfelten Räume, an deren Wänden die Porträts verstorbener Vernons hingen, der leicht ab fallende Park mit den herrlichen Eichen, die darin standen, einzeln oder in Gruppen, waren alle auf ihre Art perfekt. Es war eines der schönsten englischen Häuser, und, seltsam genug, seine vernachlässigten Gärten und die Aura von Verfall, die über ihm hing, trugen eher dazu bei, seinen Charme zu verstärken, als ihn zu mindern. Doch es ist ›The Court‹, mit dem wir jetzt zu tun haben, und nicht Yarleys. Mr. Champers-Haswell hatte zu einer Wochenendgesellschaft eingeladen. Es waren zehn Gäste anwesend, alles Männer, und mit Ausnahme von Alan, der, wie man sich erinnern wird, zu ihnen gehörte, alle reich und Geschäftsleute. Unter ihnen befanden sich zwei französische Bankiers und drei Juden, jeder von ihnen eine Stütze des Saha ra Syndikats und sehr an der bevorstehenden Ausga be der Aktien interessiert. Sie zu beschreiben ist un nötig, da sie in unserer Geschichte keine Rolle spie len; sie waren bemerkenswert allein schon durch ih ren Reichtum, den sie durch Methoden zusammenge rafft hatten, die zum größten Teil das Tageslicht scheuten. Der Reichtum dieser Männer war deutlich genug zu erkennen. Seit dem Morgen dieses Tages
waren sie allein oder zu zweit in ihren kostspieligen Motorkaleschen eingetroffen, begleitet von prächtig gekleideten Chauffeuren und Dienern. Ihre Pelz mäntel, ihre juwelenbesetzten Manschettenknöpfe und Ringe, und teilweise selbst ihre Gesichter spra chen von Geld, doch das war auch das einzige, das sie miteinander verband. Alan erschien erst, als es Zeit wurde, sich zum Es sen umzukleiden, da er wußte, daß Barbara nicht vorher erscheinen würde, und es war ihre Gesell schaft, die er suchte, nicht die seines Gastgebers oder der anderen Gäste. In Begleitung seines afrikanischen Dieners Jeekie – denn in einem solchen Hause war es notwendig, jemanden mitzubringen, der einem auf wartete – fuhr er von Yarleys hinüber, eine Entfer nung von etwa zehn Meilen, und traf gegen acht Uhr dort ein. »Mr. Haswell ist hinaufgegangen, um sich umzu kleiden, Major, und auch die anderen Gentlemen ha ben sich zu diesem Zweck zurückgezogen«, sagte Mr. Smith, der Butler des Hauses, »doch Miss Champers hat mich gebeten, Ihnen diese Mitteilung zu geben und Ihnen auszurichten, daß man um halb neun es sen wird.« Alan nahm das Kuvert entgegen und bat den But ler, ihm sein Zimmer zu zeigen. Dort angekommen – obwohl ihm nur fünfundzwanzig Minuten verblieben – riß er das Kuvert auf, während Jeekie seinen Koffer auspackte. Lieber Alan, las er, komm nicht zu spät zum Essen, weil ich Dir sonst nicht einen Platz neben mir freihalten kann. Natürlich wird Sir Robert mich zu Tische führen.
Die anderen sind heute noch schlimmer als sonst – finster! finster! – und ich könnte es nicht ertragen, auch zu meiner Linken einen davon zu haben. Deine – B. P.S.: – Was hast Du angestellt? Unsere verehrten Gäste, ganz zu schweigen von meinem Onkel, scheinen Deinetwegen völlig aus der Fassung zu sein. Ich habe eins ihrer Gespräche mitgehört, während ich so tat, als ob ich Blumen ordnete. Einer von ihnen nannte Dich einen ›selbstgefälligen Moralapostel und störrischen Esel‹, und ein anderer – ich glaube, es war Sir Robert – antwortete: ›Zweifellos, aber störrische Esel können ausschlagen und haben schon so manches Mal anderer Leute Karren umgestürzt.‹ Ist das Sahara-Syndikat dieser Karren? Wenn ja, dann verzeihe ich Dir. P.P.S.: – Denk daran, daß wir morgen zusammen zur Kirche gehen, aber komm zum Frühstück in Knickerbockers oder so etwas herunter, um sie irrezuführen, und ich werde das gleiche tun – ich meine, ich werde mich kleiden, als ob ich zum Golfplatz fahren wollte. Wir können uns später in Christen verwandeln. Wenn wir es nicht tun – wenn wir uns nicht so kleiden, meine ich – werden sie es erraten und alle mit zur Kirche kommen wollen, mit Ausnahme der Juden natürlich, was die Strafe des Himmels auf uns herabbringen wurde. P.P.P.S.: – Laß diesen Brief nicht herumliegen, denn der Diener, der sich um Dich kümmern soll, liest alle Briefe. Er macht sie mittels Dampf auf. Smith, der Butler, ist der einzige anständige Mann in diesem Hause. Alan lachte laut auf, als er diese seltsame und offen herzige Epistel gelesen hatte, das seinen Lebensgei stern wieder etwas Auftrieb gab, die seit dem gestri gen Tage einen ziemlichen Tiefstand erreicht hatten.
Ihre Zeilen erfrischten ihn. Sie waren wie eine kühle Brise, die durch ein offenes Fenster in einen stickigen, überheizten Raum weht. Er hätte den Brief gerne auf bewahrt, doch beherzigte er Barbaras Warnung und den neugierigen Diener, und warf ihn in die Flam men des Kaminfeuers und sah zu, wie er verbrannte. Jeekie hüstelte diskret, um seinen Herrn daran zu er innern, daß es Zeit sei, sich zum Essen anzukleiden, und Alan wandte sich um und sah ihn mit einem zer streuten Blick an. Er war es wert, angesehen zu werden, dieser Jeekie. Der Leser möge sich einen sehr großen kräftig ge bauten Neger vorstellen, mit einer Haut so schwarz wie ein auf Hochglanz polierter Stiefel, wolligem Haar, das so weiß wie Schnee war, und einem kur zen, krausen Bart, ebenfalls weiß; mit Händen wie Hammelkeulen, deren Finger überraschend feinglie derig und rosig waren und haselnußfarbene Nägel aufwiesen; mit einem resoluten und unbewegten Ge sicht, aus dem jedoch, unter einer breiten Stirn, zwei außergewöhnlich fröhliche und ausdrucksvolle Au gen blickten, die jede Emotion spiegelten, die sich hinter ihnen abspielte – das heißt, wenn er ihnen er laubte, es zu tun. So war Jeekie. »Soll ich Ihnen mit den Stiefeln helfen, Major?« sagte er mit seiner vollen, melodischen Stimme und in einem absolut perfekten, wenn auch schwerfälli gem Englisch. »Ich denke, daß in neun Minuten und einer halben der Gong ertönen wird.« »Laß ihn ertönen, zum Teufel«, antwortete Alan. »Nein, ich vergaß – ich muß mich beeilen. Jeekie, lösch das Feuer und öffne alle Fenster, wenn ich fort bin. Dieser Raum ist wie ein Treibhaus.«
»Ja, Major, das Feuer wird gelöscht und der Schlaf raum gelüftet. Den anderen Stiefel, wenn ich bitten darf.« »Jeekie«, sagte Alan, »wer sind diese Leute, die in diesem Hause zu Gast sind? Hast du etwas gehört?« »Ich habe einige der Namen aufgeschnappt, als ich die Treppe hinaufging, Major. Drei der Gentlemen haben Sie noch nie getroffen, aber ...« – er verfiel plötzlich aus seinem gestelzten, aus Büchern erlern ten Englisch in seine gewohnte Sprechweise, wie er es immer tat, wenn ihm etwas sehr ernst war – »Jeekie glaubt, sind nur finstere Menschen alle; Diebsleute. Gibt keinen guten Menschen in diesem Hause außer Ihnen und Miss Barbara und mir, Major. Jeekie hat das alles durch Korridor-Palaver von Dienstboten er fahren. Nein, nicht jetzt, andere Male, früher. Sie er zählen Jeekie, dem alten afrikanischen Dummkopf, alles, und er sieht sie nur an und sagt: ›O Himmel! Was du nichts sagst!‹ und hält seine Augen und Oh ren offen.« »Das glaub ich dir gern, Jeekie«, antwortete Alan und lachte wieder. »Dann halte sie weiter offen und gib mir die Hose!« »Ja, Major«, sagte Jeekie und fiel wieder in sein ge stelztes Englisch zurück, »ich werde weiterhin Infor mationen sammeln, die sich für Sie als vorteilhaft er weisen mögen, doch persönlich wünschte ich, daß Sie mit dem ganzen Pack nichts mehr zu tun hätten – mit Ausnahme von Miss Barbara natürlich.« »Hört, hört«, rief Alan, »das ist der Gong. Denk daran, beim Servieren zu helfen, das heißt, wenn man dich ruft.« Er zog rasch die Jacke an und ging hinab. Die Gäste waren in der Halle versammelt und
tranken Sherry mit Angostura, eine Ausschweifung, die nach Alans Meinung dem Haus einen Stempel aufdrückte. Der Gastgeber, Mr. Champers-Haswell, trat auf ihn zu und begrüßte ihn mit großer Herzlich keit. Alan bemerkte, daß er recht blaß aussah, und auch, daß er ziemlich zerstreut war, denn er stellte einen französischen Bankier als bekannten Juden vor, und den bekannten Juden als französischen Bankier, obwohl der Unterschied zwischen den beiden klar er sichtlich war und die beiden betreffenden Gentlemen die Verwechslung sichtlich übelnahmen. Sir Robert Aylward kam auf seine direkte Art quer durch die Halle auf ihn zu, als er seiner ansichtig wurde, und drückte ihm die Hand. »Freut mich, Sie zu sehen, Vernon«, sagte er und richtete einen durchdringenden Blick auf Alan, als versuchte er, seine Gedanken zu lesen. »Ein ange nehmer Wechsel von der Stadt und all diesen Ge schäften, nicht wahr? Ah! Sie denken, daß man auch hier nicht ganz vom Geschäft loskommt.« Er blickte sich unter den Gästen um. »Das ist einer der Schwä chen Ihres Cousins Haswell: er kann sich einfach niemals ganz davon lösen, gönnt sich nie eine wirkli che Entspannung. Ich wette einen Sovereign darauf, daß er in einem Nebenzimmer einen Stenographen neben einem Telephon sitzen hat, nur für den Fall, daß sich im Laufe unserer Konversation die Möglich keit irgendeiner geschäftlichen Transaktion ergeben sollte. Das ist zwar sehr umsichtig, aber nicht klug. Sein Herz hält es nicht aus, die Belastung wird ihn vor seiner Zeit dahinraffen. Hören Sie! Alle sprechen über die Sahara. Ich wünschte, ich wäre dort; zumin dest muß es dort ruhig sein. Mit dem Sand unter
meinen Füßen, und den ewigen Sternen über mir. Ja, ich wünschte, ich wäre dort«, wiederholte er mit ei nem Seufzen, und Alan bemerkte, daß sein Gesicht zwar nicht bleicher werden konnte, als es seine na türliche Farbe war, jetzt jedoch sehr abgespannt und gealtert wirkte. »Ich auch«, antwortete Alan enthusiastisch. Dann begann ein französischer Gentleman, der er fahren hatte, daß er der Ingenieur war, der das große Flutungsprojekt entwickelt hatte, ihn als ›cher maître‹ anzusprechen und so schnell in seiner Muttersprache auf ihn einzureden, daß Alan, dessen Französisch nicht gerade seine Stärke war, vergeblich versuchte, seinen Worten zu folgen. Als er sich bemühte, eine Frage zu beantworten, die er kaum verstanden hatte, öffnete sich die Tür am Ende der Halle, und Barbara Champers trat herein. Die Halle war ein langgestreckter Raum, und Bar bara stand weit entfernt, wodurch sie, die ohnehin nur mittelgroß war, klein wirkte. Dennoch war selbst auf diese Entfernung die Würde ihrer Erscheinung nicht zu übersehen. Eine schlanke Frau mit braunem Haar, fröhlichen, braunen Augen in einem gut ge schnittenen Gesicht, einer weiblich gerundeten Figur, und einer wunderbar reinen Haut: das war Barbara. Man mochte zehntausend junge Frauen finden, die genausogut oder sogar noch besser aussahen, doch war da etwas um sie, das sie von den meisten ande ren Frauen unterschied. Es lag Entschlossenheit in ih rem Schritt, und überschäumende Gesundheit und Energie in jeder ihrer Bewegungen. Ihre Augen konnten gerade in andere Augen blicken, denen sie sich gegenübersahen, nicht herausfordernd, aber
doch mit einer Art unschuldiger Furchtlosigkeit und Unternehmungslust, die viele Menschen in Verlegen heit brachte. Sie war überhaupt außergewöhnlich un schuldig, und unberührt von den üblichen weiblichen Allüren, eine Nymphe der Wälder und des Wassers, die, obwohl bereits dreiundzwanzig Jahre alt, sich noch nicht viel aus Männern machte, außer als Ge sellschafter, die sie mochte oder nicht mochte, wie ihr Instinkt es ihr eingab. Sie trug ein weißes Kleid, das mit silberner Stickerei verziert war und keinen Schmuck außer einer Halskette aus kleinen Perlen und ein paar Lilien an ihrem Busen. Barbara ging durch die Halle, ohne nach links oder nach rechts zu blicken, auf ihren Onkel zu, den sie mit einem Kopfnicken begrüßte. Dann trat sie zu Alan, reichte ihm die Hand und sagte: »Wie geht es dir? Warum bist du nicht schon gegen Mittag ge kommen? Ich wollte heute nachmittag eine Runde Golf mit dir spielen.« Alan antwortete, daß er auf Yarleys zu tun gehabt habe. »Yarleys!« antwortete sie. »Ich dachte, du seist jetzt in der Stadt und verdienst an Spekulationen, wie alle anderen, die ich kenne.« »Aber, Miss Champers«, unterbrach Sir Robert vorwurfsvoll, »ich habe Sie doch gebeten, mit mir vor dem Tee eine Runde Golf zu spielen, und Sie moch ten nicht.« »Nein«, antwortete sie, »weil ich auf meinen Cou sin wartete. Wir passen besser zusammen – beim Golf, meine ich.« Es lag etwas in ihrer Stimme, die normalerweise so sanft und angenehm war, etwas Hartes und Trotzi
ges, das Alan gleichzeitig als beunruhigend und als beglückend empfand. Aylward dagegen schien es zu verärgern, denn er warf Alan über ihren Kopf hinweg einen Blick zu, dessen Ausdruck nicht zu mißdeuten war, obwohl sein bleiches Gesicht so unbeweglich wie immer blieb. ›Ich hasse Sie. Wir sind Feinde‹, sagte dieser Blick. Wahrscheinlich bemerkte Barbara ihn auch; auf jeden Fall sagte sie, bevor einer der bei den ein weiteres Wort äußern konnte: »Gott sei Dank, endlich wird das Essen aufgetragen. Sir Robert, wür den Sie mein Tischherr sein, und du, Alan, würdest du zu meiner anderen Seite sitzen? Mein Onkel wird den anderen ihre Plätze zeigen.« Das Mahl war ausgedehnt und ausgezeichnet; der Preis eines jeden Gedecks hätte eine arme Familie ei nen ganzen Monat lang ernähren können, und von den Kosten der exquisiten Weine hätte sie ein ganzes Jahr oder länger leben können. Den letzteren wurde auch von allen lebhaft zugesprochen, mit der Aus nahme von Barbara, die Wasser trank, und von Alan, der seit seinem schweren Fieber nur sehr schwachen Whisky-Soda zu sich nahm. Selbst Aylward, ein sehr mäßiger Trinker, konsumierte eine ziemliche Menge Champagner. Als Folge davon wurde die Konversa tion recht lebhaft, und durch sie gedeckt, während Sir Robert mit seinem Nachbarn zur Linken diskutierte, fragte Barbara leise: »Worüber habt ihr euch gestrit ten, Alan? Sag es mir, ich kann nicht länger warten!« »Ich habe mich mit ihnen überworfen«, antwortete er und blickte dabei auf seinen Hammelbraten, als ob er ihn kritisierte. »Ich will damit sagen, daß ich aus der Firma ausgeschieden bin und mit dem Geschäft nichts mehr zu tun habe.«
Barbaras Augen strahlten, als sie zurückflüsterte: »Ich bin froh darüber. Es ist die beste Nachricht, die ich seit Tagen erhalten habe. Aber warum, wenn ich dich fragen darf, bist du dann hier?« »Um dich zu treffen«, sagte er verlegen. »Ich dachte, es würde dir vielleicht nichts ausmachen ...« – und in seiner Verwirrung ließ er das Messer auf den Teller fallen, das zurückschnellte und seine Hemd brust mit Bratensauce bespritzte. Barbara lachte ihr glückliches, fröhliches Lachen, anscheinend über Alans Ungeschick mit dem Messer. Ob sein Hiersein ihr etwas ›ausmachte‹ oder nicht, blieb offen. Sie reichte ihm nur ihr Taschentuch – eine kostbare, mit Spitzen umsäumte Winzigkeit – damit er sich die Bratensauce vom Hemd wischen konnte, und er griff auch danach, da er annahm, es sei eine Serviette; und als er das tat, berührte sie seine Hand mit einer kleinen, streichelnden Bewegung ihrer Fin ger. Ob das zufällig geschah oder absichtlich, blieb ebenfalls offen. Es gab Alan jedoch ein unbeschreibli ches Glücksgefühl. Und als er entdeckte, daß es ihr Taschentuch war, das sie ihm gegeben hatte, steckte er es ein, und sie bat ihn auch niemals, es zurückzu geben. Nur einmal, sehr viel später, als sie es in der Ecke eines Aktenkoffers versteckt fand, sagte sie er rötend, sie hätte nie geglaubt, daß ein Mann so kin disch sein könne. »Jetzt, wo du nichts mehr mit ihnen zu tun hast«, sagte sie, als die Prozedur des Abwischens erledigt war, »werde ich sie mir vornehmen. Ich habe mich nur um deinetwillen zurückgehalten.« Sie lehnte sich zurück und starrte zur Decke empor, wie tief in Ge danken versunken.
Kurz darauf trat eines jener Schweigen ein, wie sie manchmal bei festlichen Essen auftreten, selbst wenn der Champagner noch so hervorragend und reichlich ist. »Sir Robert Aylward«, sagte Barbara mit ihrer kla ren, wohltönenden Stimme, »würden Sie, als Experte, einen sehr unwissenden Menschen ein wenig aufklä ren? Ich hätte gerne eine kleine Auskunft.« »Miss Champers«, antwortete er, »stehe ich nicht stets zu Ihren Diensten?« Und alle warteten gespannt, über was für eine Frage ihre Gastgeberin Aufklärung wünschte. »Sir Robert«, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort, »je der der hier Anwesenden ist, wie ich glaube, das, was man mit Finanzier bezeichnet, das heißt, mit Aus nahme von mir und Major Vernon, der es nur ver sucht hat, und dem es, dessen bin ich sicher, nicht ge lingen wird, da die Natur ihn zu etwas anderem ge macht hat, zu einem Soldaten, und – zu was sonst hat die Natur dich noch gemacht, Alan?« Da er keine Antwort auf diese Frage gab, obwohl Sir Robert eine ziemlich unschmeichelhafte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorstieß, die Barba ra aber mitbekam, fuhr sie fort: »Und Sie sind alle sehr erfolgreich und wohlhabend und werden in der kommenden Woche noch erfolgreicher und noch wohlhabender sein, nicht wahr? Nun möchte ich Sie nur dieses fragen: wie macht man das?« »Wenn wir die Prämisse um des Arguments wegen akzeptieren, Miss Champers«, antwortete Sir Robert, der das Gefühl hatte, dieser Herausforderung nicht ausweichen zu dürfen, »so lautet die Antwort: durch Finanzierungen.«
»Ich tappe noch immer im dunkeln«, sagte sie. »Fi nanzierung, so wie ich sie verstehe, bedeutet die Gründung von Firmen, und Firmen werden gegrün det, um Geld für jene zu verdienen, die in sie inve stieren. Nun habe ich heute nachmittag, als ich mich langweilte, in einem Buch gelesen, das den Titel ›The Directory of Directors‹ trägt, und habe alle Ihre Na men darin gefunden, mit Ausnahme derer der fran zösischen Gentlemen, und die Gesellschaften, die Sie leiten – über die stand einiges in einem anderen Buch. Aber ich konnte nicht erkennen, daß irgendeine die ser Gesellschaften jemals Geld verdient hätte – Divi dende nennen Sie das wohl, nicht wahr? Deshalb fra ge ich mich, wie konnten Sie alle durch sie so reich werden, und warum investieren Menschen darin?« Sir Robert runzelte die Stirn, Alan wurde rot, zwei oder drei der Gäste lachten amüsiert, und einer der französischen Gentlemen, der Englisch sprach und schon mehr getrunken hatte, als gut für ihn war, sagte mit vernehmlicher Stimme zu seinem Tisch nachbarn Haswell: »Ah! Sie ist charmant. Sie berührt genau den wunden Punkt. Wie werden wir reich, und warum investieren die Menschen? Mon Dieu! Warum investieren sie? Das ist das große Geheimnis. Ich sa ge, cette belle demoiselle, votre nièce, est ravissante. Elle a d'esprit, mon ami Haswell.« Offenbar teilte ihr Onkel diese Ansichten nicht, denn er wurde rot wie ein Truthahn und sagte über den großen, runden Tisch hinweg: »Meine liebe Bar bara, ich möchte dich bitten, nicht von Dingen zu re den, die du nicht verstehst. Wir sind hier, um zu di nieren, nicht, um über Finanzen zu reden.« »Gewiß, Onkel«, antwortete sie freundlich. »Ich
bitte um Entschuldigung. Wahrscheinlich habe ich mich gründlich danebenbenommen, wie üblich, und das Schlimmste dabei ist«, setzte sie an Sir Robert gewandt hinzu, »daß ich nun genausowenig weiß wie vorher.« »Wenn Sie diese Dinge meistern wollen, Miss Champers«, sagte Aylward mit einem recht gezwun genen Lachen, »müssen Sie in die Lehre gehen und Gebete im Schrein des ...« – er wollte Mammon sagen, doch da er erkannte, daß dieses Wort einen unange nehmen Klang hatte, ersetzte er es – »des Gelben Gottes sprechen, so wie wir es tun.« Bei diesen Worten blickte Alan, der auf seinen Tel ler gestarrt hatte, rasch auf, und das rosige Gesicht ih res Onkels wurde plötzlich bleich. Doch die unerschütterliche Barbara nahm den Fa den auf. »Der Gelbe Gott«, wiederholte sie. »Meinen Sie damit Geld oder dieses Fetisch-Ding von Major Vernon mit dem schrecklichen Frauengesicht, das ich in Ihrem Stadtbüro sah? Nun gut, um das Thema zu wechseln, sag uns, Alan, was dieser Gelbe Gott ist und woher er kommt!« »Mein Onkel Austin, ein Bruder meiner Mutter, war Missionar, und er hat ihn vor langen Jahren aus Westafrika mitgebracht. Er war der erste Weiße, der den Stamm aufsuchte, bei dem er angebetet wird; ich glaube sogar, daß niemand sonst jemals dort gewesen ist. Doch von seiner Geschichte weiß ich nicht viel. Jeekie kann sie dir berichten, wenn du magst, denn er war ein Angehöriger jenes Stammes und ist damals gemeinsam mit meinem Onkel geflohen.« Da Jeekie inzwischen den Raum verlassen hatte, wollten einige der Gäste ihn holen lassen, doch Mr.
Champers-Haswell war dagegen. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiß: Alan sollte seinen Diener später herbringen lassen, wenn sie sich zu rückzogen, um Billard oder Karten zu spielen. Schließlich war das Dinner vorüber, und die Gäste, die wohl gespeist hatten, gingen zum Billardzimmer, um zu rauchen und sich auf jede gewünschte Weise zu unterhalten. Es war ein sehr großer Raum, über sechzig Fuß lang, und eine weite Fläche zwischen den beiden Billard-Tischen war mit Sitzgruppen möbliert. Als die Gentlemen eintraten, fanden sie Barbara vor dem großen Kamin in der Mitte stehen, eine kleine Gestalt in Weiß und Silber in der weiten Leere. »Verzeihen Sie mein Eindringen in Ihr Reich«, sagte sie, »und bitte rauchen Sie weiter, denn ich mag den Geruch von Tabak. Ich bin eigens aufgeblieben, um Jeekies Geschichte des Gelben Gottes zu hören. Alan, hol Jeekie herbei, oder ich gehe sofort zu Bett!« Ihr Onkel machte eine Bewegung, als ob er Alan daran hindern wollte, doch Sir Robert flüsterte ihm etwas zu, das ihn anscheinend dazu brachte, seine Meinung zu ändern, während die anderen, auf diese oder jene Weise, ihre enthusiastische Zustimmung zum Ausdruck brachten. Alle waren sie gespannt, diesen Jeekie kennenzulernen und seine Geschichte zu hören, wenn er eine zu erzählen hatte. Also wurde nach Jeekie geschickt, und er erschien in Abendklei dung, wie es in England und Amerika bei allen Stän den üblich ist. Dort stand er nun vor ihnen, weißhaa rig, ebenholzgesichtig, riesig, unerschütterlich. Es be steht kein Zweifel daran, daß seine Erscheinung eine starke Wirkung hervorrief, denn sie war ungewöhn lich und wahrlich beeindruckend.
»Sie haben nach mir geschickt, Major?« fragte er, an seinen Herrn gewandt, den er militärisch grüßte, denn er war auch Alans Diener gewesen, als dieser in der Armee gedient hatte. »Ja, Jeekie. Miss Barbara und diese Gentlemen möchten, daß du ihnen erzählst, was du über den Gelben Gott weißt.« Der Neger zuckte zusammen und rollte seine run den Augen empor, bis das Weiße sichtbar wurde, und sagte dann in seinem Schulbuch-Englisch: »Das ist ein sehr privates Thema, über das ich in dieser Öffent lichkeit nicht sprechen möchte.« Ein Chor von Protestrufen erklang, und einer der jüdischen Gentlemen trat auf Jeekie zu und drückte ihm ein paar Sovereigns in die Hand, die dieser in die Tasche gleiten ließ, scheinbar ohne sie wahrzuneh men. »Jeekie«, sagte Barbara, »enttäusch uns nicht!« »Sehr wohl, Miss, ich beuge mich Ihrem Wunsch. Der Gelbe Gott, den alle diese Gentlemen anbeten, ist ein völlig anderer als der, von dem Sie wünschen, daß ich Ihnen berichte. Sie wissen alles über ihn. Mein Gott ist weiblichen Geschlechts.« Bei dieser Feststellung brachen die Zuhörer in La chen aus, während Jeekie wieder die Augen rollte und wartete, bis sie sich beruhigt hatten. »Mein Gott«, fuhr er fort, »ich meine damit den Gott, Gen tlemen, zu dem ich früher betete, denn jetzt bin ich ein guter Christ, besitzt soviel Gold, daß ihm nicht nach mehr verlangt.« Er schwieg. »Wonach verlangt diese Göttin dann?« fragte je mand. »Blut«, antwortete Jeekie. »Sie ist eine Göttin des
Todes. Ihr Name ist Kleine Bonsa oder Kleiner Schwimmender Kopf; sie ist die Frau vom Großen Bonsa oder dem Großen Schwimmenden Kopf.« Wieder erklang Gelächter, jedoch weitaus weniger – so lachten zum Beispiel weder Sir Robert noch Mr. Champers-Haswell. Dieses Lachen schien Jeekie in Erregung zu versetzen. Auf jeden Fall brachte es ihn dazu, sein gestelztes Englisch aufzugeben und in je nes seltsame Vokabular zu verfallen, das allen Ne gern geläufig ist, gewürzt mit einem scharfen Slang der sein ganz persönliches Produkt war. »Sie wollen hören Palaver von Gelben Gott?« sagte er. »Na schön, ich erzähle Ihnen, Sie überschlauen, weißen Männer, die glauben, zu wissen alles, doch in Wirklichkeit wissen überhaupt nichts. Mein Volk, Volk der Asiki, das heißt, Volk der Geister, von denen Sie sagen, Sie nicht daran glauben, aber immer hinter Tür nach ihnen schauen, sind Menschen, die Gelben Gott anbeten, Bonsa Groß und Bonsa Klein, beten beide an und nennen eines; nur Kleine Bonsa gerade auf Reisen zu diese Land und sitzt und denkt in Stadtbüro. Gelbe Gott lebt langen Weg flußaufwärts, und dann sechs Tage lang nach links, durch dichten Wald, in dem Zwergenvolk lebt, das mit Giftpfeil schießt. Dann nach rechts, kleinen Fluß hinauf, wo viele wilde Tiere. Dann wieder links, und mit Kanu durch Sumpf, wo man am Fieber stirbt, und über See. Dann langer Marsch über Grasland und Berge. Dann durch Schlucht in Berge, wo hohe, schwarze Bäume Dach bilden, und Fluß wie Donner in Schlucht stürzt, dort sind Asiki und Goldhaus von Gelber Gott. Gan ze Berg aus Gold, voll mit Gold, und darunter Gold haus von Gelber Gott schwimmt in Wasser. Sie, die
ist wie Königin, Priesterin, lebt auch dort, immer, sehr schöne Frau, heißt Asika, mit Gesicht wie Gelbe Gott, grausam, grausam. Sie nimmt Ehemann jede Jahr neu, und jede Jahr er stirbt, weil sie immer sucht nach richtige Mann, aber niemals finden.« »Auf welche Weise tötet sie ihn?« fragte Barbara. »Oh! Nein, sie ihn nicht töten, Miss; er sich selbst töten, wenn Jahr vorbei, froh, wegzukommen von Asika und zu Geistern gehen. Solange lebt, lebt sehr gut, viel Essen, viel Frauen, feine Haus, so viel Gold, wie mag, nur nicht, wofür ausgeben kann, hübsche Halskette, hübsche Farben für Gesicht. Aber Asika, sie nach und nach essen seine Verstand. Er sehen zu viele Geister. Das Haus, wo schläft, mit tote Männer, die einst an seine Stelle, ist voll mit Geister, und jede Nacht mehr kommen, zu sitzen bei ihm. Sie sitzen um ihn herum, sehen mit große Augen an, so wie jetzt Sie mich sehen an, bis er, wenn Asika fertig, seinen Ver stand aufessen, verrückt wird; heult wie Mann in Hölle, wirft weg alles Gold, das sie ihm gegeben. Dann, kann sein, nach einer Woche, kann sein nach einem Monat, kann sein nach einem Jahr, wenn er sehr kräftig, aber niemals mehr, er läuft in Nacht hin aus und springt in Kanal, wo Gelbe Gott wohnt. Und Gott nimmt ihn, und Asika sitzt an Ufer und lacht, weil sie hungrig für neue Mann, um seine Verstand auch aufessen.« Jeekies volle Stimme erstarb zu einem Flüstern und schwieg. Es herrschte Stille im Raum, denn selbst im hellen Licht der elektrischen Lampen und durch die Nebel des Champagners entstand in manchem Be wußtsein die Vision von einem unheimlichen Wasser, in dem der Gelbe Gott wohnte, und von einem ver
rückten Wesen, das sich im Schein des Mondes in den Tod stürzte, während seine schöne Hexenfrau, die nach Männern hungerte um ihren Verstand aufzu fressen, an seinem Ufer saß und lachte. Obwohl man sich nun an die Sprache des Negers gewöhnt hatte, sie teilweise sogar lustig fand, besaß er doch die Gabe des Erzählers. Seine Zuhörer spürten, daß er von et was sprach, das er kannte, oder sogar erlebt hatte, so daß selbst die Erinnerung daran ihn in Furcht ver setzte; und deshalb versetzte er auch sie in Furcht. Wieder unterbrach Barbara die Stille, die sie als be drückend empfand. »Warum kommen in jeder Nacht mehr Geister, um bei dem Ehemann der Königin zu sitzen, Jeekie?« fragte sie. »Woher kommen sie?« »Von den Toten, Miss; sind tote Ehemänner von Asika seit Anbeginn der Welt, die sie Munganas nen nen. Außerdem bringen immer neue Opfer für Gelbe Gott. Von weit, weit entfernt arme Nigger senden Menschen, die sollen geopfert werden, damit Haus oder Stamm Glück haben. Manchmal schicken Köni ge, manchmal große Männer, manchmal Medizin männer, manchmal Frauen, die haben Zwillingsba bies. Und auch die Asiki bringen Menschen, solche, die Hexen sind oder Giftzeug getrunken haben, das Schwarze Muavi nennen, und davon nicht krank ge worden, oder vielleicht Sohn, den am meisten lieben, um Fluch von ihrem Dach zu nehmen. Alle diese kommen zu Gelbe Gott. Dann Medizinmänner von Asiki, sie halten Todespalaver. Eine Nacht, wenn Mond voll, sie schlagen Trommeln, und Trommeln machen ›Wow! Wow! Wow!‹ und Medizinmänner suchen heraus alle, die sterben sollen diese Monat.
Einmal sie suchen heraus Jeekie, oh! Gott im Himmel, suchen heraus mich!« Während er das sagte, begann er zu keuchen, und wischte mit seiner großen Hand den Schweiß ab, der sich auf seiner Stirn bildete. »Aber Gelbe Gott nicht nehmen Jeekie, ihn nicht wollen, und ich entfliehen.« »Wie?« fragte Sir Robert. »Mit meinem Herrn, Onkel von Major, Reverend Austin, er, der kommt, um machen Asiki zu Christen. Er schnippt mit Fingern, setzt kleine Maske von Gel be Gott auf, die er gestohlen, von Kleine Bonsa selbst, dieselbe, die jetzt sitzt in Ihre Büro« – dabei deutete er auf Sir Robert – »wie Kröte auf Stein. Priester, sie glauben, Gott hat sich verwandelt in Mensch, will Urlaub machen, will mich in Wald mitnehmen und dort mein Leben essen. Also sie uns lassen gehen, und wir gehen schnell, als ob Teufel uns in Hintern treten – schnell, schnell, und sehen Asiki nie wieder. Aber Kleine Bonsa ich bringe mit, für Glück, und weil nicht wagen, sie zurücklassen, weil dann böse; und jetzt sie sitzt in Ihre Büro, und ich glaube, macht Ma gie dort. Deshalb Sie werden reich, weil sie weiß, Sie sie anbeten.« »Ist das die Rede eines getauften Christen?« tadelte Barbara und setzte dann hinzu: »Aber was meinst du damit, Jeekie, wenn du sagst, daß der Gott dich nicht genommen hat?« »Meine dieses, Miss: Wenn Opfer Großer Schwim mender Kopf dargeboten, Priester ihn bringen an Ufer von Kanal, wo große Gott wohnt. Dann, wenn Gelbe Gott ihn wollen, er sich umwenden und schwimmen über das Wasser.« »Schwimmt über das Wasser? Ich dachte, du hät
test gesagt, daß er nur eine Goldmaske ist?« »Ich nicht weiß, Miss, vielleicht Mann in Maske, vielleicht Geist. Schwimmt über Wasser in Nacht, und hebt sich heraus und sieht in Gesicht von Opfer. Dann Priester ihn nimmt und tötet, mal auf diese Art – mal auf andere. Oder, wenn flieht und sie nicht tö ten, ist egal, weil er stirbt in einem Jahr, immer ster ben, niemand lebt lange, wenn Gelbe Gott im Dunkel zu ihm schwimmt und sich hebt und lächelt in sein Gesicht. Egal, ob Große Bonsa oder Kleine Bonsa, denn sie sind Mann und Frau in heiliger Ehe, und je de kann es tun.« Als diese Worte über Jeekies Lippen kamen, wurde sich Alan eines ungewohnten Geräusches links von sich bewußt, und als er den Kopf wandte, sah er, daß Mr. Champers-Haswell, der neben ihm stand, die Zi garre aus der Hand gefallen war und er, weiß wie ein Laken, hin und her schwankte. In der nächsten Se kunde wäre er zu Boden gestürzt, wenn Alan ihn nicht mit den Armen aufgefangen und gestützt hätte, bis andere zu Hilfe kamen, mit deren Unterstützung er ihn zu einem Sofa trug. Auf ihrem Wege dorthin kamen sie an einem Tisch vorbei, auf dem Flaschen mit alkoholischen Getränken und Sodawasser aufge reiht waren, und zu seiner Verwunderung bemerkte Alan, daß Sir Robert Aylward, der kaum, wenn über haupt, besser aussah als sein Partner, ein Glas zur Hälfte mit Cognac füllte, den er mit großen Schlucken hinunterstürzte. Dann herrschte ein ziemliches Durcheinander und jemand lief zum Telephon, um den Arzt zu rufen, während die tiefe Stimme Jeekies rief: »Das war Werk von Gelbe Gott – o ja, Werk von Kleine Bonsa. Jeekie guter Christ, aber kein Zweifel,
sie mächtiger Fetisch, kann alles tun, was will, mit je ne, die sie anbeten, und Sie wissen, sie sitzt in Büro von diese Gentlemen. Denke, sie macht Reverend Austin und mich sie nach England bringen, weil hat Auge auf Firma von Messrs. Aylward & Haswell. Oh, das mich nicht wundern, weil Bonsa weiß alles.« »Oh, du und dein verdammter Fetisch!« rief Alan aufgebracht. »Verschwinde, du alter Esel!« »Major«, antwortete der beleidigte Jeekie, der wie der seine steife Positur und Sprachform annahm, »nicht ich war es, der diese Geschichte blutrünstigen Aberglaubens armer Afrikaner erzählen wollte. Sie dürfen nicht dem alten Jeekie Vorwürfe machen, wenn sie christliche Gentlemen so krank macht wie ein Kanal-Dampfer.« »Verschwinde!« wiederholte Alan und stampfte mit dem Fuß auf. Also ging Jeekie hinaus, doch vor der Tür begeg nete er einem der jüdischen Gentlemen, der auch ein wenig elend wirkte. Ihm kam eine Idee, er berührte mit einem Finger sein weißes Kraushaar, wie zum Gruß, und sagte: »Sie mögen Jeekies hübsche Ge schichte, Sir? Nun, Jeekie meint, Sie machen kleine Gabe für Jeekie, wie Ihr Bruder dort drinnen. Das Gelbe Gott sehr gefallen, Sir, und Ihnen massig Glück bringen.« Jetzt wurde dieser Jude, einem ungewohnten Im pulse folgend, außerordentlich großzügig. In seiner Tasche befand sich eine Handvoll Sovereigns, die er eingesteckt hatte, um sie als Einsatz beim Bridge zu verwenden. Er nahm sie alle mit einem Griff heraus und drückte sie in Jeekies ausgestreckte Hand, wo sie sich augenblicklich zu verflüchtigen schienen.
»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Jeekie. »Jetzt ich si cher, Sie massig Glück haben, so wie Ihr Opa Jakob in Bibel, als er seinen Bruder reinlegen.«
4
Alan und Barbara
Es wurde an diesem Abend kein Bridge und kein Billard gespielt in ›The Court‹, wo es sonst immer recht hoch hergegangen war. Nachdem man Mr. Haswell in sein Schlafzimmer getragen hatte, gingen einige der Gäste, unter ihnen Sir Robert Aylward, zu Bett, da es, wie sie sagten, nichts nützen würde, wenn sie herumsäßen, während andere, die mehr Anteil nahmen, aufblieben, um auf die Diagnose des Arztes zu warten, der sechs Meilen entfernt wohnte. Als er schließlich eingetroffen war, trat Barbara ins Billard zimmer und berichtete Alan, der dort saß und rauchte, daß ihr Onkel aus seiner Ohnmacht erwacht sei und der Arzt, der über Nacht dableiben würde, versichert habe, daß er nicht in Lebensgefahr sei, sondern nur einen Herzanfall erlitten habe, der an scheinend durch Überarbeitung oder Aufregung her beigeführt wurde. Als Alan am folgenden Morgen erwachte, war das erste, was er durch das offene Fenster hörte, das Ge räusch des abfahrenden Einspänners des Arztes. Dann erschien Jeekie und berichtete ihm, daß es Mr. Haswell wieder gut ginge, er aber die ganze Nacht hindurch gezittert habe ›wie ein Gelee‹. Alan fragte, was ihm gefehlt habe, doch Jeekie zuckte nur die Achseln und sagte, das wisse er nicht – »Vielleicht hat der Gelbe Gott ihn geschüttelt«, meinte er. Zum Frühstück erschien Barbara, wie sie es in ihrer Nachricht angekündigt hatte, in einem kurzen Rock.
Sir Robert, der auch schon am Tisch saß – er wirkte sehr bleich, selbst für seine Verhältnisse, und hatte schwarze Ringe um die Augen – fragte sie, ob sie mit ihm Golf spielen wolle, worauf sie antwortete, daß sie es sich überlegen würde. Es wurde ein recht melan cholisches Mahl, und wie durch ein stillschweigendes Übereinkommen wurde Jeekies Geschichte von dem Gelben Gott nicht mit einem Wort erwähnt, und mit Ausnahme höflicher Fragen nach dem Ergehen Mr. Haswells sprach auch niemand von seinem Anfall. Als Barbara hinausging, flüsterte sie Alan, der ihr die Tür aufhielt, zu: »Wir treffen uns um halb elf im Küchengarten.« Demgemäß ging Alan, nachdem er sich unbemerkt umgezogen hatte, unter Vermeidung der Räume, in denen er von den anderen Gästen gesehen werden konnte, auf einigen Umwegen zu diesem Küchen garten, der, wie es in modernen Häusern üblich zu sein pflegt, hinter einer Baumreihe verborgen, fast ei ne Viertelmeile vom Hause entfernt lag. Hier wan derte er hin und her, bis er schließlich Barbaras Stimme hinter sich sagen hörte: »Bummle nicht so! Wir kommen zu spät zur Kirche.« Also gingen sie los, ein wenig verstohlen, wie durchbrennende Kinder. Unterwegs fragte Alan, wie es ihrem Onkel ginge. »Jetzt ist er wieder in Ordnung«, antwortete sie, »aber er hat einen bösen Schock erlitten. Die Ge schichte von dem Gelben Gott war schuld daran. Ich weiß das, weil ich bei ihm war, als er wieder zu sich kam, wie auch Sir Robert. Er sprach auf eine wirre Art über ihn und sagte, er schwimme über den Fuß boden auf ihn zu, bis Sir Robert sich schließlich über
ihn beugte und ihm recht heftig gebot, still zu sein. Weißt du, Alan, ich glaube, daß dein Fetisch sich in ihrem Büro auf irgendeine unangenehme Art be merkbar gemacht hat.« »Also wirklich! Aber wenn, dann muß es gesche hen sein, nachdem ich es verlassen hatte, da ich nie mals von so etwas gehört habe, und Aylward und dein Onkel gehören auch nicht zu den Menschen, die Gespenster sehen. Sir Robert wollte mir sogar erst vorgestern siebzehntausend Pfund für das Ding ge ben, was nicht gerade darauf hindeutet, daß er sich vor ihm fürchtet.« »Er wird dieses Angebot bestimmt nicht wieder holen, Alan, denn ich hörte ihn heute morgen mei nem Onkel versprechen, daß es sofort nach Yarleys geschafft werden würde. Aber warum wollte er es für eine so große Summe kaufen? Sag es mir rasch, Alan, denn ich komme um vor Begierde, die ganze Ge schichte zu erfahren.« Also erzählte er sie ihr, ohne irgend etwas auszu lassen, und sie lauschte aufmerksam auf jedes Wort, fast ohne ihn zu unterbrechen. Als er mit seiner Er zählung fertig war, erreichten sie die Tür der netten, alten Dorfkirche, deren Turmuhr gerade elf schlug. »Komm rein, Alan!« sagte sie leise. »Und danke dem Himmel für all seine Gnade, denn du solltest heute ein sehr dankbarer Mensch sein.« Ohne ihm Zeit für eine Antwort zu lassen, trat sie in die Kirche, und sie nahmen ihre Plätze in dem gro ßen Kirchengestühl ein, das viele Generationen von Besitzern jenes alten Hauses innegehabt hatten, das Mr. Haswell abgerissen hatte, als er ›The Court‹ er baute. Ihre Gedenktafeln befanden sich an den Wän
den, und ihre Grabplatten im Boden des Chors. Doch nun saß außer Barbara niemals jemand in ihrem Ge stühl; selbst die für das Gesinde reservierten Bänke waren leer, weil solche, die in ›The Court‹ dienten, keine Kirchengänger waren; denn ›wie der Herr, so's G'scherr‹, sagt das Sprichwort. Der freundliche, alte Pfarrer wirkte überrascht und erfreut, als er zwei der Bewohner jener palastartigen Residenz unter seinen Schäflein entdeckte, obwohl Barbara ihm seit langem Freund und Helfer war. Der einfache Gottesdienst nahm seinen Anfang; das erste Bibelwort wurde gelesen. Es beschwor Weh und Ungemach auf jene, die Haus an Haus, und Feld an Feld reihen, die Unrecht mit Banden der Eitelkeit und der Sünde befestigen; die das Böse gut und das Gute böse heißen, die Dunkel für Licht ausgeben, und Licht für Dunkel; die die Belohnung der Sünder für rechtens halten; die das Leben genießen, doch nicht der Werke des Herrn achten, und nicht des Waltens Seiner Hand, denn solchen ist prophezeit, daß ihre großen, prächtigen Häuser ohne Menschen und ver ödet sein sollen. Es war ein gutes Wort, und Alan, der aufmerksam zuhörte, dachte, daß die Weissagungen des alten Se hers, die vor Tausenden von Jahren gesprochen wor den waren, auch für die Bewohner einiger großer, prächtiger Häuser seiner Tage angemessen waren, die, was immer sie auch tun oder ungetan lassen mochten, weder der Werke des Herrn achteten, noch des Waltens Seiner Hand. Vielleicht hatte Barbara den gleichen Gedanken; auf jeden Fall erschien einoder zweimal ein trauriges kleines Lächeln auf ihrem schönen, lieblichen Gesicht, als die unsterblichen
Worte durch den Kirchenraum klangen. Der ›Friede, der das Verstehen übersteigt‹, wurde auf ihre Häupter beschworen, dann erhoben sie sich mit den anderen Mitgliedern der kleinen Gemeinde und gingen hinaus. »Wollen wir durch den Wald nach Hause gehen, Alan?« fragte Barbara. »Das ist zwar ein Weg von drei Meilen, aber wir essen nicht vor zwei Uhr.« Er nickte, und kurze Zeit später waren sie allein in jenem Wald, dem herrlichen Wald, durch den der Atem des Frühlings wehte, schritten über einen Tep pich von Sternhyazinthen, Veilchen und Primeln; völlig allein, außer den Tieren, die unverhofft ihren Weg kreuzten, in einer Stille, die nur vom Singen der Vögel und vom leisen Säuseln des Windes in den Bäumen erfüllt war. »Was meintest du damit, als du sagtest, ich sollte heute ein dankbarer Mensch sein?« fragte Alan nach einer Weile. Barbara blickte ihm auf ihre offene, unschuldige Art in die Augen und antwortete mit den Worten der Predigt. »›Wehe denen, die Unrecht mit den Banden der Eitelkeit und der Sünde befestigen, die Haus an Haus reihen‹«, und sie deutete dabei durch eine Lichtung des Waldes auf die Dächer von ›The Court‹, der auf einem der Hügel stand, und auf das Dach von ›Old Hall‹ auf einem anderen. – »›und Feld an Feld‹«, wobei sie mit einer ausholenden Geste auf das ganze, umliegende Land deutete, »›denn viele Häuser, groß und prächtig, die Musik, bei Tische haben, werden verlassen liegen‹.« Dann wandte sie sich ihm zu und sagte: »Verstehst du es jetzt, Alan?« »Ich glaube schon«, antwortete er. »Du willst damit
sagen, daß ich mich in schlechter Gesellschaft befun den habe.« »In sehr schlechter, Alan. Und einer davon ist sogar mein Onkel; doch Wahrheit muß Wahrheit bleiben. Alan, sie sind nicht besser als Diebe; all ihr Reichtum ist gestohlen, und ich danke Gott, daß du es rechtzei tig herausgefunden hast, bevor du nicht nur im Na men, sondern auch im Herzen einer der ihren wur dest.« »Wenn du damit das Sahara-Syndikat meinst«, sagte er, »so ist das Konzept absolut gesund; ich selbst bin dafür verantwortlich. Das Projekt ist durch führbar und würde große Vorteile mit sich bringen, die zu erläutern jetzt jedoch zu lange dauern würde.« »Ja, ja, Alan, aber du weißt, daß sie nicht die Ab sicht haben, es durchzuführen; sie wollen nur von gutgläubigen Menschen die Millionen kassieren. Ich lebe jetzt zehn Jahre lang bei meinem Onkel, seit dem Tode meines Vaters, und ich kenne die Hintertreppen der Geschäfte. Es hat schon ein halbes Dutzend sol cher Projekte gegeben, und wenn er und Sir Robert auch schlechte Zeiten erlebt haben, sehr schlechte Zeiten sogar, sind sie doch ständig reicher und rei cher geworden. Doch was ist mit denen geschehen, die in ihre Projekte investiert haben? Oh, laß uns auf hören mit diesem Thema! Es ist zu unerfreulich. Für mich spielt das alles keine Rolle, da ich eigenes Geld besitze, obwohl ich noch nicht darüber verfügen darf. Du mußt wissen, daß die männliche Linie meiner Familie ziemlich plebejisch ist: mein Großvater ver kaufte Tuche und hatte einen guten Geschäftssinn, mein Vater war Kohlenhändler und machte ein Ver mögen dabei. Sein Bruder, mein Onkel, dem mein
Vater immer unerschütterlich vertraute, ging in ein Gewerbe, das man ›Finanzierung‹ nennt, und als mein Vater starb, überließ er mich, sein einziges Kind, seiner Vormundschaft. Vor meinem fünfundzwan zigsten Jahr darf ich ohne seine Zustimmung nicht einmal heiraten oder auch nur über einen Halfpenny verfügen; falls ich gegen seinen Willen heiraten sollte, fällt sogar der größte Teil meines Geldes an ihn.« »Ich nehme an, daß er es bereits vereinnahmt hat«, sagte Alan. »Nein, ich glaube nicht. Ich habe festgestellt, daß ich zwar nicht darüber verfügen kann, er jedoch auch nicht. Er kann nichts von dem Konto abheben ohne meine Unterschrift, und ich habe mich immer gewei gert, irgend etwas zu unterschreiben. Immer wieder haben sie mir irgendwelche Dokumente vorgelegt, aber ich habe stets gesagt, daß ich mich mit ihnen be fassen würde, wenn ich fünfundzwanzig bin und nach dem Testament meines Vaters mündig werde. Ich bin heimlich zu einem Rechtsanwalt in Kingswell gegangen und habe ihm ein Pfund für seinen Rat ge zahlt, und er hat es mir so empfohlen: ›Unterschrei ben Sie nichts‹ hat er mir gesagt, und ich habe auch nichts unterschrieben, also kann, außer durch Fäl schung, nichts von dem Geld abgehoben worden sein. Aber sie können es dennoch irgendwie geschafft haben. Vielleicht besitze ich nichts mehr als die Klei der, die ich auf dem Leib trage, obwohl mein Vater ein sehr reicher Mann war.« »Wenn dem so ist, sitzen wir im selben Boot, Bar bara«, antwortete Alan mit einem Lachen, »denn mein derzeitiger Besitz besteht aus Yarleys, das etwa hundert Pfund im Jahr einbringt, abzüglich der Zin
sen für die Hypothek und der Unterhaltungskosten, und die tausendsiebenhundert Pfund, die Aylward mir am Freitag für meine Aktien zurückgezahlt hat. Wenn ich bei ihnen geblieben wäre, hätte ich, soviel ich verstanden habe, in einer Woche oder zweien, hunderttausend Pfund besitzen können, und jetzt stehe ich da, über dreißig Jahre alt, ohne Beruf, wegen Invalidität aus der Armee verabschiedet, und nun nachdem ich auch im Finanzgeschäft gescheitert bin, bin ich nur noch ein Stück Treibgut, ohne Hoffnung und ohne Beruf.« Barbaras braune Augen wurden sanft von Mitge fühl – oder waren es Tränen? »Du bist ein seltsamer Mensch, Alan«, sagte sie. »Warum hast du nicht die siebzehntausend Pfund für diesen Fetisch angenommen? Es wäre ein ehrlicher Handel gewesen, und er hätte dich auf die Beine ge stellt.« »Das weiß ich nicht«, antwortete er düster. »Es ging mir einfach gegen den Strich, was hat es also für einen Sinn, drüber zu reden? Ich glaube, mein alter Onkel Austin sagte mir einmal, daß ich mich nie da von trennen dürfe – nein, wahrscheinlich war es Jee kie. Dieser elende Gelbe Gott! Er taucht immer wie der auf.« »Ja«, antwortete Barbara, »der Gelbe Gott taucht immer wieder auf, besonders in dieser Gegend.« Sie gingen eine Weile schweigend, bis Barbara sich plötzlich auf den Stamm einer gefällten Eiche setzte und zu weinen begann. »Was hast du?« fragte Alan. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Es geht einfach alles schief. Ich lebe in einer Art vergoldeter Hölle.
Ich mag meinen Onkel nicht, und ich hasse die Män ner, die er ins Haus bringt. Ich habe keine Freunde, ich kenne kaum eine Frau, ich habe Kummer, den ich dir nicht erzählen kann, und ... – ich bin unglücklich. Du bist der einzige Mensch, mit dem ich reden kann, und nach diesem Streit wirst du wahrscheinlich fort gehen müssen, um irgendwo deinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Alan blickte sie an, wie sie so weinend auf dem Baumstamm saß, und das Herz wurde ihm schwer, denn er liebte dieses Mädchen seit Jahren. »Barbara«, sagte er erregt, »bitte, weine nicht; es macht mich traurig. Du bist eine reiche Erbin ...« »Was noch zu beweisen wäre«, antwortete sie. »Aber was hat das überhaupt damit zu tun?« »Es hat alles damit zu tun, zumindest, so weit es mich betrifft. Wenn es nicht darum wäre, hätte ich dich schon längst gebeten, mich zu heiraten, weil ich dich liebe, so wie ich es auch jetzt tun würde, aber natürlich ist es unmöglich.« Barbara hörte auf zu weinen, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und blickte zu ihm auf. »Alan«, sagte sie, »ich glaube, du bist der größte Narr, den ich jemals kannte – aber ein Narr ist so wohltuend, wenn man unter lauter Schurken lebt.« »Ich weiß, daß ich ein Narr bin«, antwortete er. »Wenn ich es nicht wäre, hätte ich dir nicht von mei nem Unglück erzählt, doch manchmal wird einem alles zu schwer. Also vergiß es und vergib mir!« »O ja«, sagte sie, »ich vergebe dir; eine Frau kann fast immer einem Mann vergeben, daß er sie liebt. Was immer sie auch sagen mag, ist sie doch bereit, diese menschliche Schwäche mit Nachsicht zu be
trachten. Was jedoch das Vergessen betrifft, so ist das eine andere Sache. Ich kann nicht einsehen, warum ich so darauf erpicht sein sollte, es zu vergessen, da es nicht viele Menschen gibt, die mich mögen.« Sie blickte ihn auf eine völlig neue Art an, auf eine Art, die ihm so etwas wie einen Schock versetzte, denn er hatte nicht geglaubt, daß die nymphengleiche Barba ra eines solchen Blickes fähig wäre. Sie und jede Art von Leidenschaft waren immer zwei völlig getrennte Dinge gewesen. Nun war Alan auf jeden Fall ein Mann, wenn auch ein bescheidener, mit allen Instinkten eines Mannes, und deshalb gab es Ausdrücke eines weiblichen Ge sichtes, die selbst einer wie er nicht völlig mißdeuten konnte. »Du ... willst doch ... nicht etwa sagen«, stammelte er zweifelnd, »du willst doch nicht etwa wirklich ...« Er stand ganz verwirrt vor ihr. »Wenn du deine Frage ein wenig klarer fassen würdest, Alan, wäre ich vielleicht in der Lage, dir darauf eine Antwort zu geben«, sagte sie, während das ihr eigene, kleine Lächeln in ihre Mundwinkel kroch, wie Sonnenschein durch den Regen. »Du willst doch nicht etwa damit sagen«, fuhr er fort, »daß du mich liebst, so wie ... wie ich dich seit Jahren liebe?« »Oh, Alan«, sagte sie lachend, »weshalb im Namen aller Heiligen sollte ich dich nicht lieben? Ich sage nicht, daß ich es tue, aber warum sollte ich es nicht tun? Was für eine Kluft liegt denn zwischen uns?« »Die uralte«, antwortete er, »die zwischen Dives und Lazarus – die zwischen den Reichen und den Armen.«
»Alan«, sagte Barbara und blickte zu Boden, »ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber aus ir gendeinem unbekannten und unerklärlichen Grund bin ich geneigt, Lazarus über diese Kluft zu führen – über die erste wohlverstanden, nicht über die zwei te.« Wie der Blick, der dem vorausgegangen war, war dies eine Formulierung, die selbst Alan nicht mißver stehen konnte. Er setzte sich neben sie auf den Baum stamm, während sie, die noch immer zu Boden blickte, ihn aus den Augenwinkeln heraus beobach tete. Er wurde erst rot, dann bleich, und sein Herz klopfte wie wild. Dann streckte er seine große braune Hand aus und nahm ihre kleine weiße in die seine, und als diese Vertraulichkeit keinen Protest hervor rief, gab er ihre Hand frei legte seinen Arm um sie und zog sie an sich, nicht einmal, sondern immer wieder, und mit einer solchen Kraft, daß ein Eich hörnchen, das diese Vorgänge von einem benachbar ten Baum aus verfolgt hatte, empört zur anderen Seite des Stammes sprang und nicht mehr gesehen ward. »Ich liebe dich, ich liebe dich«, sagte er heiser. »So scheint es«, antwortete sie mit schwacher Stimme. »Magst du mich?« fragte er. »Dem muß wohl so sein, Alan, da ich sonst wohl kaum ... oh! Du dummer Alan.« Und ohne Rücksicht auf ihren sonntäglichen Hut, der sich von der Miß handlung nie wieder erholte, aber als heilige Reliquie aufbewahrt wurde, ließ sie ihren Kopf an seine Schulter sinken und begann wieder zu weinen, dieses Mal vor Glück. Er küßte ihr die Tränen fort; und dann, weil ihm
nichts anderes zu sagen einfiel, fragte er sie, ob sie ihn heiraten wolle. »Das ist wohl die übliche Folge einer solchen An gelegenheit, wie ich glaube«, antwortete sie, »oder sollte es auf jeden Fall sein. Aber wenn du eine di rekte Antwort haben willst: Ja, ich werde dich heira ten, sehr bald, wenn mein Onkel seine Zustimmung gibt, was er sicher nicht tun wird, da du dich mit ihm zerstritten hast, auf jeden Fall aber in zwei Jahren, wenn ich fünfundzwanzig und meine eigene Herrin bin; das heißt, wenn wir irgendeine Grundlage für unsere Ehe haben, da man schließlich essen muß. Im Augenblick scheinen unsere irdischen Besitztümer vor allem aus einem immensen Vorrat von gegensei tiger Liebe, einer guten Ausstattung an Kleidung und einem häßlichen Gelben Gott zu bestehen, der nach dem, was gestern abend geschah, meiner Meinung nach keine zweite Chance erhält, sich in Bargeld zu verwandeln.« »Ich muß irgendwie zu Geld kommen«, sagte er. »Ja, Alan, aber ehrlich gesagt, wird das nicht leicht sein. Niemand hat Interesse an Menschen ohne Ka pital, deren einziges Vermögen aus einer verdienst vollen, aber kurzen militärischen Karriere und einer reichen Erfahrung mit afrikanischem Fieber besteht.« Alan stöhnte über diese zutreffende, doch sehr nie derschmetternde Feststellung, und sie fuhr rasch fort: »Ich habe vor, eine zweite Pfundnote für meinen freundlichen Anwalt in Kingswell auszugeben. Viel leicht wird er irgendeine Möglichkeit entdecken ...« »Selbst wenn ihm das gelingen sollte, Barbara, kann ich nicht von deinem Geld leben; es wäre nicht richtig.«
»Oh! Mach dir darüber nur keine Sorgen, Alan. Wenn ich diese vagen Tausender in die Hände be komme, wirst du bald mehr daraus machen, denn dem, der da hat, soll gegeben werden. Doch im Au genblick sind sie noch sehr vage und mögen, so weit ich weiß, durch Aktien bankerotter Gesellschaften re präsentiert werden. Kurz gesagt: die finanzielle Si tuation ist außerordentlich deprimiert, wie man so etwas im Wirtschaftsteil der Times nennt. Doch das ist kein Grund, daß auch wir deprimiert sein sollten.« »Nein, Barbara, denn auf jeden Fall haben wir ein ander.« »Ja«, antwortete sie und sprang auf, »wir haben einander. Liebster, bis daß der Tod uns scheidet, und ich glaube, daß er sich damit noch eine ganze Weile Zeit lassen wird; ich habe plötzlich das Gefühl, Alan, daß er uns nicht voneinander scheiden wird, daß du und ich unser Leben bis zu seinem natürlichen Ende vor uns haben. Was kommt es da auf alles andere an? In zwei Jahren werde ich frei sein. Und ich sage dir, wenn es hart auf hart kommt, werde ich ihnen allen trotzen« – ihr sanfter Mund wurde dabei so unnach giebig wie Stein – »und dich auf der Stelle heiraten, was ich, da ich mündig bin, ohne weiteres tun kann, selbst wenn es mich jeden Halfpenny kosten mag, den ich besitze.« »Nein, nein«, sagte er rasch, »das wäre eine Sünde – eine Sünde gegenüber dir selbst und gegenüber deinen Nachkommen.« »Gut, Alan, dann wollen wir warten, oder vielleicht wird das Glück uns zulächeln – warum eigentlich nicht? Auf jeden Fall habe ich mich in meinem gan zen Leben noch nie so glücklich gefühlt; denn, mein
geliebter Alan, wir haben gefunden, was zu finden wir geboren wurden, haben es ein für allemal gefun den, und alles andere sind lediglich Etceteras. Was wäre alles Gold der Asiki von dem Jeekie gestern abend berichtet hat, für einen von uns gut, wenn wir nicht einander hätten? Wir können ohne Reichtümer leben, aber nicht ohne den anderen, zumindest ich könnte es nicht, und ich schäme mich nicht, es offen einzugestehen.« »Nein, meine Geliebte, nein«, antwortete er und allein der Gedanke ließ ihn erbleichen, »wir könnten nicht ohne einander leben – nicht mehr. Ich weiß nicht einmal, wie ich es so lange aushalten konnte, wenn ich nicht immer die Hoffnung gehabt hätte, daß der Tag kommen würde, wo wir nicht mehr getrennt sind. Das war der Grund dafür, daß ich in dieses in fernale Geschäft eingestiegen bin: um genug Geld zu verdienen, daß ich dich bitten konnte, mich zu heira ten. Und jetzt bin ich aus dem Geschäft ausgestiegen und habe es dennoch getan, obwohl ich es nicht hätte tun sollen.« »Ja, also hättest du es genau so gut ein Jahr oder zwei früher tun können, als die Dinge vielleicht etwas einfacher waren. Nun, es ist auf jeden Fall ein gutes Beispiel für die Eitelkeit menschlichen Planens, und jetzt müssen wir heim, damit wir rechtzeitig zum Es sen da sind. Wenn wir uns verspäten, wird Sir Robert bestimmt einen Suchtrupp nach uns aussenden; ich trage mich, ob er das nicht bereits getan hat – in die falsche Richtung.« Die Erwähnung des Namens von Sir Robert Ayl ward war wie ein eisiger Wind mitten im Sommer, und für eine Weile gingen sie in Schweigen.
»Du hast Angst vor dem Mann, Barbara«, sagte Alan schließlich, als er ihre Gedanken erriet. »Ein wenig«, antwortete sie, »so weit ich noch vor irgend etwas Angst haben kann. Und du?« »Auch ein wenig. Ich denke, daß er uns Schwierig keiten machen wird. Er kann sehr bösartig und sehr einfallsreich sein.« »Einfallsreich, Alan? Das bin ich auch. Mein Ver stand kann es jederzeit mit dem seinen aufnehmen. Außer durch Mord kann er uns durch nichts vonein ander trennen, und Mord ist etwas, das nicht in sei ner Art liegt. Männer wie er brechen das Gesetz nicht; sie haben zu viel zu verlieren. Aber zweifellos wird er versuchen, dir das Leben schwer zu machen, und das aus mehreren Gründen.« Wieder gingen sie eine Weile schweigend, in Ge danken versunken, und plötzlich sah Barbara, wie das Gesicht ihres Geliebten heller wurde. »Was hast du, Allan?« fragte sie. »Etwas, das ich nur selten habe, Barbara: eine Idee. Vor einigen Minuten hast du von dem Asiki Gold ge sprochen. Warum sollten wir nicht hingehen und es uns holen?« Sie starrte ihn an. »Es klingt ... ziemlich gewagt«, sagte sie nach einer Weile, »wie eins von meines Onkels Geschäften.« »Nicht halb so gewagt, wie du glaubst. Ich habe keinen Zweifel, daß es vorhanden ist, und Jeekie kennt den Weg. Außerdem glaube ich mich zu erin nern, daß sich bei Onkel Austins Tagebüchern eine Landkarte und ein Bericht über die ganze Angele genheit befinden, obwohl, offen gestanden, der alte Knabe eine so furchtbare Handschrift hatte, daß ich
mir niemals die Mühe gemacht habe, sie zu lesen. Siehst du«, fuhr er voller Enthusiasmus fort, »das ist die Art von Geschäft, für das ich geeignet bin. Ich bin gründlich gegen das Fieber immunisiert, ich kenne die Westküste, wo ich drei Jahre lang bei der Grenz land-Kommission gewesen bin, ich habe die Eingebo renen studiert und spreche mehrere ihrer Dialekte. Natürlich gibt es ein gewisses Risiko, aber irgendein Risiko liegt in allem, und ich fürchte mich davor ge nau so wenig wie du, weil auch ich glaube, daß ein ganzes, langes Leben vor uns liegt.« »Lies diese Tagebücher, Alan, dann wollen wir weiterreden. Ich werde mir Jeekie vornehmen, der mir alles sagen wird, wenn ich ihn richtig darum bit te, und versuchen, der Sache auf den Grund zu ge hen. Aber was wirst du bezüglich meines Onkels tun?« »Mit ihm reden, selbstverständlich, und die Sache hinter mich bringen.« »Ja«, antwortete sie, »das ist der beste und der ehr lichste Weg. Natürlich kann er dich hinauswerfen, aber er kann mich nicht daran hindern, dich zu tref fen. Wenn er es tun sollte, geh nach Hause, nach Yarleys! Ich werde dich dort besuchen. So, wir sind da; laß uns durch die Hintertür hineingehen.« Sie deutete auf ihren zerdrückten Hut und lachte.
5
Barbara hält eine Rede
Während Alan und Barbara in den entscheidenden Minuten ihres Lebens auf dem gefällten Baumstamm im Walde saßen, durch den ein Hauch von Frühling wehte, fand ein Gespräch in Mr. Champers-Haswells Suite in ›The Court‹ statt, deren Einrichtung, wie er Besuchern gegenüber gern betonte, ihn zweitausend Pfund gekostet habe. Sir Robert, der zumindest einen guten Geschmack vorweisen konnte, fand sie so grauenhaft, daß er, während er auf seinen Gastgeber und Geschäftspartner wartete, mit dem er sprechen wollte, ans Fenster des Wohnzimmers trat und die Aussicht genoß, die noch niemand hatte verderben können. Schließlich erschien Mr. Haswell, in einen Morgenmantel gewickelt, und er wirkte sehr bleich und zittrig. »Freut mich, daß es Ihnen wieder gut geht«, sagte Sir Robert, während er einen Sessel zurechtrückte, in den Mr. Haswell sich fallen ließ. »Mir geht es gar nicht gut, Aylward«, antwortete er, »mir geht es überhaupt nicht gut. Habe mich noch nie in meinem Leben so aufgeregt; dachte, ich würde sterben, als dieser verfluchte Wilde uns seine entsetz liche Geschichte erzählte. Aylward, Sie sind doch ein Mann von Welt; sagen Sie mir, was hat das alles zu bedeuten? Sie wissen, was wir im Büro gesehen ha ben, und dann – jene Geschichte.« »Ich weiß es nicht«, antwortete er; »ehrlich, ich weiß es nicht. Ich bin ein Mensch, der nie an etwas
geglaubt hat, das ich nicht sehen und prüfen kann, einer dem jeder Glaube abgeht. Wenn ich die Zeit da zu fand, habe ich mich mit den verschiedenen religiö sen Systemen befaßt und sie alle als Unsinn erkannt. Ich bin überzeugt, daß wir nichts anderes als hoch entwickelte Säugetiere sind, unsere Geburt einem Zu fall verdanken, und, wenn unsere Zeit gekommen ist, ins schwarze Nichts zurückkehren, aus dem wir ka men. Alles andere, was der höhere und geistliche Teil genannt wird, schreibe ich dem abergläubischen Zu fall, dem Schrecken der entsetzlichen Lage zu, in der wir uns befinden, in der Lage von einer Art Götter, die durch einige wenige Jahre eines von Furcht und Leid beherrschten Lebens eingeschränkt werden. Aber Sie kennen meinen Standpunkt längst, warum also soll ich mich darüber auslassen? Und jetzt bin ich mit einer Erfahrung konfrontiert, die ich mir nicht er klären kann. Am Freitagabend im Büro glaubte ich wahrhaftig die Goldmaske, die eine so seltsame An ziehungskraft auf mich ausübt, daß ich Vernon sieb zehntausend Pfund dafür bot, weil ich annahm, daß sie uns Glück bringt, über den Fußboden schweben und erst in Ihr Gesicht und dann in meines blicken zu sehen. Und am folgenden Abend erzählt dieser Neger seine Geschichte. Was soll ich davon halten?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen«, antwortete Mr. Champers-Haswell mit einem Stöhnen. »Alles, was ich weiß, ist, daß es mich fast zu einer Leiche gemacht hat. Ich bin nicht wie Sie, Aylward; ich bin in einem evangelischen Hause aufgewachsen, und obwohl ich mich während der letzten Jahre kaum mit diesen Dingen beschäftigt habe – nun, wir können sie ein fach nicht von einem Tag auf den anderen abschüt
teln. Ich bin überzeugt, daß da irgendwo irgend et was ist, und als dieser schwarze Mann sprach, schien dieses Irgendetwas plötzlich ungewöhnlich klar zu sein. Es richtete sich auf und packte mich bei der Kehle, schüttelte den Atem aus mir heraus, und, ich schwöre Ihnen, Aylward, den ganzen Vormittag über habe ich mir gewünscht, daß ich ein anderes Leben geführt hätte, so wie meine alten Eltern und mein Bruder John, Barbaras Vater, der ein sehr religiöser Mensch war, es getan haben.« »Es ist ein wenig spät, sich darüber Gedanken zu machen, Haswell«, sagte Sir Robert und zuckte die Achseln. »Man trifft seine Wahl, und damit hat es sich. Ich glaube, daß wir lediglich von der riskanten und schwierigen Arbeit der Syndikatsgründung überlastet sind und so die Opfer von Halluzinationen und einem Zufall wurden. Und wenngleich ich zuge be, dieses Ding als eine Art Maskottchen betrachtet zu haben, setze ich doch keinerlei Glauben in irgend einen Fetisch. Wie kann ein Stück Gold sich bewegen, und wie kann es die Zukunft kennen? Ich habe Je ffreys geschrieben, daß er es morgen aus dem Büro entfernen soll, also wird es uns nicht mehr stören. Und jetzt möchte ich mit Ihnen über eine andere An gelegenheit sprechen, derentwegen ich eigentlich hergekommen bin.« »Nicht von Geschäften«, sagte Mr. Haswell mit ei nem Seufzen. »Das tun wir die ganze Woche über, und am Montag werden wir wieder mehr als genug davon haben.« »Nein«, antwortete Sir Robert. »Über etwas Wich tigeres; über Ihre Nichte Barbara.« Mr. Haswell blickte ihn mit seinen kleinen Augen
an, die so scharf waren, daß sie sich in die seinen zu bohren schienen. »Barbara?« sagte er. »Was ist mit Barbara?« »Können Sie sich das nicht denken, Haswell? Sie haben doch sonst ein recht gutes Gespür dafür. Na gut, es hat keinen Sinn, um den heißen Brei herumzu reden: ich möchte sie heiraten.« Bei dieser plötzlichen Eröffnung wurde sein Part ner äußerst interessiert. Er lehnte sich zurück, starrte an die reichgeschmückte Decke und stieß sein ge wohntes Wind-in-den-Drähten-Pfeifen aus. »Soso«, sagte er. »Ich habe nicht geahnt, daß Sie an der Ehe interessiert sind, Aylward, sondern, wie ich, das Junggesellenleben vorziehen, besonders, da Sie ständig dagegen predigen. Hat die junge Lady ihr Einverständnis erklärt?« »Nein, ich habe noch nicht mit ihr darüber gespro chen. Ich hatte es mir eigentlich für heute vormittag vorgenommen, aber sie ist irgendwohin verschwun den – mit Vernon, vermute ich.« Mr. Haswell pfiff wieder, doch nun in einer ande ren Tonhöhe. »Bitte, hören Sie damit auf!« sagte Sir Robert. »Es geht mir auf die Nerven, und die sind heute vormit tag ohnehin etwas angegriffen. Hören Sie! Es ist eine seltsame Sache, eine, die noch weniger verständlich ist als unser Erlebnis mit dem Gelben Gott, doch in meinem Alter von vierundvierzig Jahren habe ich zum erstenmal die Torheit begangen, das zu tun, was man ›sich verlieben‹ nennt. Es ist nicht ein Fall eines erfolgreichen Geschäftsmannes in mittleren Jahren, der sich zu ranger wünscht und sich mit einer pas senden partie zur Ruhe setzen möchte, sondern einer
von reiner, absoluter Leidenschaft. Ich liebe Barbara, und je schlechter sie mich behandelt, desto mehr liebe ich sie. Es wäre nicht so schlimm, wenn das SaharaSyndikat scheitern würde, als wenn sie mich zurück wiese. Lieber würde ich drei Viertel meines Vermö gens verlieren als sie. Verstehen Sie?« Sein Partner blickte ihn an, schürzte die Lippen, um zu pfeifen, erinnerte sich an Sir Roberts Tadel und schüttelte statt dessen den Kopf. »Nein«, sagte er. »Barbara ist ein nettes Mädchen, aber ich hätte nie geglaubt, daß sie solche Gefühle in einem Mann wecken könnte, der alt genug ist, ihr Vater sein zu können. Ich glaube, daß Sie das Opfer eines Wahns sind, von dem ich zwar gehört, den ich aber niemals selbst erlebt habe. Venus – oder ist es Amor – hat Sie erwischt, mein lieber Aylward!« »Oh! Bitte lassen Sie Götter und Göttinnen aus dem Spiel; von denen haben wir bereits genug gehabt«, antwortete Aylward gereizt. »So stehen die Dinge nun einmal, und ich möchte jetzt wissen, ob meine Werbung Ihre Unterstützung findet. Denken Sie dar an, daß ich ihr einiges zu bieten habe, Haswell; zum Beispiel ein großes Vermögen, von dem ich ihr die Hälfte überschreiben werde das ist immer von Vorteil in unserem Geschäft – und den Titel eines Baronets, der bald zu dem eines Peers erhöht werden wird.« »Wirklich? Ist das sicher?« »Ich denke schon. Innerhalb der nächsten drei Mo nate stehen Parlamentswahlen an, und bei einer sol chen Gelegenheit kommen einer Partei, die finanziell notleidend ist, ein- oder zweihunderttausend Pfund sehr gelegen. Ja, ich kann wohl sagen, daß es geregelt ist. Sie wird Lady Aylward sein, oder mag sich ir
gendeinen anderen Namen aussuchen, der ihr gefällt, und eine der reichsten Frauen Englands. Also: habe ich Ihre Unterstützung?« »Ja, mein lieber Freund, warum nicht? Obwohl Bar bara nicht auf Geld sieht, da sie davon selbst eine Men ge hat, in erstklassigen Papieren, die zu veräußern ich sie niemals überreden konnte, da sie in dieser Hin sicht sehr gerissen ist und sich weigert, irgendein Pa pier zu unterschreiben. Außerdem wird sie wahr scheinlich auch meine Erbin sein – und Aylward ...« – hier überschattete ein Ausdruck der Furcht sein Ge sicht – »ich weiß nicht, wie lange ich noch leben wer de. Dieser verfluchte Doktor hat heute morgen mein Herz untersucht und mir gesagt, daß es sehr schwach sei. Schwach war das Wort, das er gebrauchte, aber aus dem Ton, in dem er es sagte, entnehme ich, daß er mehr damit meinte. Aylward, ich glaube, daß ich je den Tag sterben kann.« »Unsinn, Haswell, das können wir alle«, antwortete sein Partner mit einem gespielten Optimismus, dem jede Überzeugungskraft fehlte. Schließlich blickte Mr. Haswell, der sein Gesicht in den Händen vergraben hatte, wieder auf, seufzte tief und sagte: »Oh! Ja, natürlich haben Sie meine Unter stützung denn Barbara ist meine einzige Verwandte, und ich würde sie gerne gut verheiratet wissen. Es ist von Vorteil, daß sie ohne meine Zustimmung nicht heiraten kann, zumindest nicht, bevor sie fünfund zwanzig Jahre alt ist, denn wenn sie es dennoch tun sollte, verliert sie ihr ganzes Vermögen, das dann wohltätigen Stiftungen zugute kommt, mit Ausnah me eines Einkommens von armseligen zweihundert Pfund pro Jahr. Sie müssen wissen, daß mein Bruder
John eine fast krankhafte Furcht vor einer unbedach ten Heirat hatte, und ein unbegrenztes Vertrauen zu mir, was, wie sich jetzt zeigt, für Sie von Vorteil ist.« »Und warum ist es für mich von Vorteil?« fragte Sir Robert. »Weil, mein lieber Aylward, falls ich mich nicht sehr täuschen sollte, noch ein zweiter Bewerber im Spiel ist, unser verflossener Partner Vernon, von dem Barbara übrigens recht angetan zu sein scheint, ob wohl das auf einer rein freundschaftlichen Basis be ruhen mag. Auf jeden Fall sind ihr seine Wünsche und Meinungen wichtiger als die meinen und die Ih ren zusammengenommen.« Bei der Erwähnung von Alans Namen zuckte Ayl ward heftig zusammen. »Das habe ich befürchtet«, sagte er, »und er ist zehn Jahre jünger als ich und Soldat, kein Geschäftsmann. Es ist sinnlos, davor die Augen zu verschließen, denn obwohl ich ein Baronet bin und bald ein Peer sein werde, und er nichts ist als ein bettelarmer LandGentleman mit einem D.S.O., gehört er zu uns, wenn auch in einer anderen Klasse, so wie sie auch, von der Seite ihrer Mutter her. Nun, ich könnte ihn ruinieren, denn, wie Sie sich erinnern werden, habe ich die Hy pothek auf Yarleys aufgekauft, und ich werde es auch tun, wenn es nötig sein sollte. Im Grunde genommen hat unser Freund nicht einen Shilling den er sein ei gen nennen kann. Deshalb, mein lieber Haswell – wenn Sie mich nicht hintergehen, was Sie sicherlich nicht tun werden, da ich ein gefährlicher Gegner sein kann«, setzte er mit drohendem Unterton hinzu, »hat Alan Vernon kaum eine Chance in dieser Richtung.« »Ich weiß nicht, Aylward, ich weiß nicht«, antwor
tete Haswell und schüttelte den Kopf. »Barbara ist ei ne sehr willensstarke Frau, und sie mag sich dafür entscheiden, den Mann zu nehmen und das Geld fah ren zu lassen, und was dann? Wer könnte sie daran hindern? Außerdem gefällt mir Ihre Idee nicht, Ver non zu ruinieren. Es ist nicht recht, und es mag auf unsere Köpfe zurückfallen, besonders auf den Ihren. Es tut mir leid, daß er uns verlassen hat, so wie es Ih nen am Freitagabend leid getan hat, denn irgendwie war er ein guter, ehrlicher Stock, auf den man sich stützen konnte, und wir brauchen eine solche Stütze. Doch ich bin jetzt müde; ich kann einfach nicht länger reden. Der Arzt hat mich vor Aufregungen gewarnt. Holen Sie sich die Zustimmung des Mädchens, Ayl ward, dann werden wir weitersehen. Ah! Dort kommt meine Suppe. Auf später.« Als Sir Robert zum Mittagessen herabkam, fand er, daß Barbara besonders strahlend und anziehend wirkte, als sie am Kopfende des Tisches saß und in ihrem besten Französisch mit den ausländischen Gentlemen plauderte, die ihr immer wieder Kompli mente machten. »Entschuldigen Sie meine Verspätung«, sagte er, »doch einmal hatte ich mit Ihrem Onkel zu reden, und dann habe ich in den heutigen Zeitungen die Artikel über unser kleines Unternehmen überflogen, das morgen gestartet werden soll. Eine erfreuliche Beschäftigung, alles in allem, denn mit einer oder zwei Ausnahmen sind sie alle positiv.« »Mon Dieu«, sagte der französische Gentleman, der rechts von Barbara saß, »wenn man bedenkt, was sie gekostet haben, ist das wahrlich kein Wunder. Ihre englischen Zeitungen sind so unwahrscheinlich teuer;
in Paris hätten wir das für die Hälfte haben können.« Barbara und ein paar der Gäste lachten frei heraus, da sie seine Offenheit amüsant fanden. »Aber wo haben Sie gesteckt, Miss Champers? Ich dachte, wir würden eine Runde Golf spielen. Die Caddies waren dort, ich war dort, die Greens sind heute früh extra gewalzt worden, aber Sie waren nicht da.« »Nein«, antwortete sie, »weil Major Vernon und ich zur Kirche gegangen sind und eine sehr schöne Pre digt über die Heiligkeit des Sabbat gehört haben.« »Sie sind sehr streng«, sagte er. »Halten Sie es für eine Sünde, wenn Männer, die die ganze Woche über hart gearbeitet haben, am Sonntag ein harmloses Spielchen spielen?« »Ganz und gar nicht, Sir Robert.« Dann blickte sie ihn an und setzte mit einem plötzlichen Entschluß hinzu: »Wenn Sie wollen, werde ich am Nachmittag neun Löcher mit Ihnen spielen und Ihnen bei jedem Loch einen Schlag Vorsprung geben. Oder wäre Ih nen ein Foursome* lieber?« »Nein, lassen Sie uns das Matsch allein austragen, und möge der Bessere gewinnen.« »Gut, Sir Robert; aber vergessen Sie nicht, daß ich eine hervorragende Golfspielerin bin.« »Mach nicht so ein Gesicht«, flüsterte sie Alan zu, als sie nach dem Essen durch den Garten spazierten; »ich muß die Dinge klären und wissen, was gegen uns steht. Ich bin zum Tee wieder zurück, und dann werden wir mit meinem Onkel sprechen.«
* Gruppe von vier Spielern – Anm. d. Übers.
Die neun Löcher waren gespielt, und Barbara hatte das Match mit einem Schlag Vorsprung gewonnen, worüber sie sehr stolz war, da sie sich alle Mühe ge geben hatte, und mit so vielen Vorteilen auf seiner Seite war Sir Robert, der sich ebenfalls alle Mühe ge geben hatte, kein leichter Gegner gewesen, selbst nicht für eine so gute Golfspielerin wie sie. »Ich bin besiegt worden«, sagte er mit einer Stim me, in der Verärgerung sich mit einen Lachen stritt, »und von einer Frau, der gegenüber ich im Vorteil war. Es ist beschämend, denn ich muß zugeben, daß ich nicht gern verliere.« »Glauben Sie nicht, daß Frauen fast immer gewin nen, wenn sie es wirklich darauf anlegen?« fragte Barbara. »Wenn sie es nicht schaffen, was oft genug vorkommt, liegt es meiner Meinung nach daran, daß ihnen nichts daran lag oder daß sie sich nicht ent scheiden konnten. Eine Frau, die etwas ernst meint, ist ein gefährlicher Gegner.« »Ja«, antwortete er, »oder die beste Verbündete.« Dann übergab er die Schläger und eine halbe Krone den Caddies, und als sie außer Hörweite waren, sagte er: »Miss Champers, ich habe mich schon seit einiger Zeit gefragt, ob es nicht möglich wäre, daß Sie für mich eine solche Verbündete werden könnten.« »Ich verstehe nichts vom Geschäft, Sir Robert; mei ne Neigungen liegen nicht in der Richtung.« »Sie wissen sehr gut, daß ich nicht vom Geschäft spreche, Miss Champers. Ich spreche von einer ande ren Partnerschaft, einer, die die Natur zwischen Männer und Frauen vorherbestimmt hat: der Ehe. Würden Sie mich zum Ehemann nehmen?« Sie öffnete die Lippen, um zu sprechen, doch er
hob die Hand und fuhr fort: »Hören Sie mich an, be vor Sie eine voreilige Antwort geben, die so schwer zurückzunehmen oder fortzureden ist. Ich kenne alle meine Nachteile: meine Jahre, die Ihnen als zu viele erscheinen mögen; mein bescheidenes Herkommen; mein Gewerbe, das Sie, nicht ganz ohne Grund, ver achten und mißbilligen. Nun, der erste läßt sich nicht ändern, doch der zweite ist bereits unter dem Gold und Hermelin von Reichtum in Titeln begraben. Was kommt es darauf an, daß ich der Sohn eines Stadt schreibers bin, der niemals mehr als zwei Pfund pro Woche verdiente und in einem Mietshaus in Battersea zur Welt kam, wenn ich jetzt einer der reichsten Männer dieses reichen Landes bin und als Lord in ei nem Palast sterben werde, unter Hinterlassung von Millionen und Ehren für meine Kinder? Was das dritte betrifft, mein Gewerbe, so bin ich bereit, es auf zugeben. Es hat seinen Zweck erfüllt, und in einer Woche werde ich den Betrag verdient haben, den ich mir vor Jahren zum Ziel gesetzt habe. Von da an – falls das Geschick mir keinen Strich durch die Rech nung macht – werde ich mich höheren Zielen zuwen den, den Zielen legitimen Strebens. So weit es meine Zeit erlaubte, habe ich bereits Anteil an der Politik genommen, bisher als Arbeitender, doch beabsichtige ich, ihn als Regierender fortzusetzen, wozu meine Gesundheit und meine Fähigkeiten mich prädestinie ren. Ich habe die Absicht, zu einem der führenden Männer dieses Imperiums zu werden, über alle diese Niemands zu herrschen, deren einziger Anspruch auf das Vertrauen ihrer Landsleute darin besteht, daß sie in einer bestimmten Klasse aufgewachsen sind, mit Geld in den Taschen und ohne die Notwendigkeit, ih
re besten Mannesjahre mit Arbeit verbringen zu müs sen. Mit Ihnen an meiner Seite kann ich all dies und noch mehr erreichen. Das ist die Zukunft, die ich Ih nen biete.« Wieder wollte sie ihn unterbrechen, und wieder hinderte er sie daran, da er die unausgesprochene Antwort auf ihren Lippen las. »Hören Sie! Ich habe Ihnen noch nicht alles gesagt. Vielleicht habe ich an den Anfang gesetzt, was an den Schluß gehört. Ich habe Ihnen nicht gesagt, daß ich Sie aufrichtig und ehrlich liebe, mit der zuverlässigen, unverbrüchlichen Liebe, die manchmal Männer mitt leren Alters überkommt, deren Gedanken niemals in diese Richtung gegangen sind. Ich will nicht versu chen, die Rhapsodien der Leidenschaft zu singen, was in meinem Alter lächerlich oder unpassend wäre; doch ist es wahr, daß ich von dieser Leidenschaft er füllt bin, die über mich gekommen ist und von mir Besitz ergriffen hat. Ich, der oft über solche Gefühle bei anderen Männern gelacht habe, bete Sie an. Sie sind die Freude meiner Augen. Wenn Sie nicht im Raume sind, erscheint dieser mir leer. Ich bewundere die Aufrichtigkeit Ihres Charakters und selbst Ihre Vorurteile, und wünsche, mein Lebensniveau dem Ihren anzugleichen. Ich glaube, daß kein Mann Sie jemals so lieben kann, wie ich es tue, Barbara Cham pers. Nun sprechen Sie bitte. Ich bin bereit, das Beste zu hören – oder das Schlimmste.« Barbara blickte ihm mit ruhigem Blick in die Au gen, wie es ihre Art war, und antwortete sanft und einfühlsam, denn der Stil dieses Mannes, sein Anlie gen vorzubringen, auch wenn er wortreich und of fensichtlich vorbereitet war, hatte sie gerührt.
»Ich fürchte, es ist das Schlimmste, Sir Robert. Es gibt Hunderte von Frauen, die mir auf jede erdenkliche Art überlegen sind und mit Freuden bereit wären, Ih nen die Hilfe und die Partnerschaft zu geben, nach der Ihnen verlangt, mit ihrem Herzen als Zugabe. Wählen Sie sich eine von denen, denn ich kann es nicht.« Er hörte ihre Worte, und zum erstenmal zerfiel sein Gesicht. Während der ganzen Zeit war es maskenhaft und unbewegt geblieben, selbst als er von seiner Lie be gesprochen hatte, doch jetzt zerbrach es, wie Eis unter dem Druck einer von unten pressenden Flut, und sie sah die Tiefen und Strömungen seiner Natur und verstand ihre Stärke. Nicht daß er sie mit Wor ten, wütenden oder bittenden, preisgab, denn die blieben ruhig und sachlich. Sie hörte nicht, sie sah, und es schien ihr unbegreiflich, daß allein die Verän derung des Gesichtsausdrucks eines Mannes so viel zu erklären vermochte. »Das sind sehr grausame Worte«, sagte er. »Sind Sie unabänderlich?« »Ja. Ich spiele nicht mit solchen Dingen, das wäre grausam.« »Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Wenn Sie sie mit nein beantworten, werde ich die Hoffnung nicht auf geben. Lieben Sie einen anderen Mann?« Wieder blickte sie ihn mit ihren furchtlosen Augen an und antwortete: »Ja, ich bin mit einem anderen Manne verlobt.« »Mit Alan Vernon?« Sie nickte. »Wann ist das geschehen? Schon vor einigen Jah ren?« »Nein, heute vormittag.«
»Gütiger Himmel!« murmelte er mit heiserer Stimme und wandte den Kopf ab. »Heute vormittag! Dann wäre es gestern abend noch nicht zu spät gewe sen, und ich hätte gestern abend mit Ihnen sprechen wollen – ich hatte es mir fest vorgenommen. Ja, wenn es nicht um die Geschichte dieses verfluchten Fetischs und den Anfall Ihres Onkels gewesen wäre, hätte ich mit Ihnen gesprochen, und vielleicht mit Erfolg.« »Ich glaube nicht«, sagte sie. Er wandte sich ihr zu, und trotz der Tränen in sei nen Augen brannten sie wie Feuer. »Sie glauben ... Sie glauben«, sagte er keuchend, »doch ich weiß! Natürlich war es nach diesem Vor mittag unmöglich. Aber Barbara, ich sage Ihnen, daß ich Sie dennoch gewinnen werde. Ich bin noch nie mals gescheitert, wenn ich etwas wirklich wollte, und ich habe nicht vor, in dieser Sache zu scheitern. Ob wohl ich Vernon auf eine gewisse Weise gemocht und respektiert habe, hatte ich doch immer das Gefühl, daß er mein Feind ist, jemand, der dazu bestimmt war, Leid und Verlust über mich zu bringen, selbst wenn er dies nicht beabsichtigt. Jetzt verstehe ich, warum dem so war, und er soll erfahren, daß ich stärker bin als er. Gott stehe ihm bei, sage ich!« »Das wird er auch tun, denke ich«, antwortete Bar bara ruhig. »Sie führen jetzt wilde Reden, und ich verstehe, warum Sie es tun, hoffe jedoch, daß Sie Ihre Worte vergessen; aber ob Sie vergessen oder sich er innern, glauben Sie nicht, daß Sie mich einschüchtern können. Männer, wie Sie, die Geld gemacht haben«, fuhr sie mit wachsender Erregung fort, »die auf ir gendeine Art zu Geld gekommen sind und mit die sem Geld irgendwie Ehren und Titel gekauft haben,
halten sich für groß, und während Ihrer kurzen Tage, Ihrer sehr kurzen Tage, die mit zehn kleingedruckten Zeilen in der Times zu Ende gehen werden, sind Sie auch groß in diesem vulgären Lande. Sie können sich kaufen, was Sie wollen, Menschen kriechen vor Ihnen und betteln Sie um Almosen und Gefälligkeiten an, und Zugschaffner sprechen Sie bei jedem zweiten Schritt mit ›Mylord‹ an. Aber Sie vergessen die Gren zen, die Ihnen in dieser Welt gesetzt sind, und in der, die über Ihnen ist. Sie sagen, Sie werden dieses oder jenes tun. Sie sollten einmal ein Buch studieren, das nur wenige von Ihnen jemals gelesen haben, jene Stelle, die Ihnen sagt, daß Sie nicht wissen können, was Sie morgen sein werden; daß Ihr Leben nur wie eine Dampfwolke ist, die für einen Moment Gestalt wird und wieder verschwindet. Sie glauben, daß Sie den Mann vernichten können, dem ich mein Herz ge geben habe, weil er ehrlich ist, und Sie unehrlich, weil Sie reich sind, und er arm ist, und weil er dort gesiegt hat, wo Sie gescheitert sind. Nun, für mich und für ihn biete ich Ihnen die Stirn. Tun Sie, wonach es Sie gelüstet, und scheitern Sie dabei! Und wenn Sie ge scheitert sind, in der Stunde Ihrer höchsten Not, erin nern Sie sich der Worte, die ich heute zu Ihnen ge sprochen habe. Wenn ich Ihnen weh getan haben sollte, indem ich Sie zurückwies, so ist es nicht meine Schuld, und es tut mir leid, doch wenn Sie den Mann bedrohen, der mich mit seiner Liebe ehrt, und den ich über alles liebe, so erwidere ich diese Drohung, und mögen die Mächte, die uns schufen, ihr Urteil zwi schen Ihnen und mir fällen, wie sie es auch tun wer den.« Sie brach in Tränen aus, wandte sich rasch um und ließ ihn stehen.
Sir Robert blickte ihr nach. »Was für eine Frau«, sagte er nachdenklich, »was für eine Frau – die ich verloren habe! Nun, sie hat die Einsätze bestimmt, und wir werden das Spiel bis zum Ende spielen. Die Trümpfe scheinen alle in meiner Hand zu sein, doch würde es mich nicht im gering sten überraschen, wenn sie dennoch gewinnen wür den, denn das Element, das ich Glück nenne, und für das sie einen anderen Namen gebraucht, mag eine Rolle spielen. Dennoch, ich habe noch nie eine Her ausforderung gescheut, und wir werden das Spiel zu Ende führen, ohne Mitleid für den Verlierer.« An diesem Abend wurde die erste Karte ausgespielt. Als Sir Robert zu ›The Court‹ zurückkehrte, bestellte er sein Automobil und fuhr, angeblich dringender Geschäfte wegen, entweder zu seinem Haus, ›Old Hall‹, oder nach London, und sagte nur, er sei durch ein Telegramm fortgerufen worden. Als der SiebzigPS-Mercedes durchs Tor glitt, wurde Mr. Haswell ei ne mit Bleistift geschriebene Notiz in die Hand ge drückt. Ich habe es versucht und habe verloren – für den Moment. Das Unglück wollte es, daß A. V. mir zuvorgekommen ist, und sogar an diesem Vormittag. Wenn ich gestern abend durch Ihre Krankheit meine Chance nicht vertan hätte, wäre es gewiß anders ausgegangen. Ich habe jedoch nicht die Absicht, mein Vorhaben aufzugeben, bei dem ich mich auf Ihre Unterstützung verlasse und sie erwarte. Behalten Sie V. im Büro oder lassen Sie ihn gehen, ganz wie Sie wollen. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie ihn dazu überreden könnten, bis nach Ausgabe
der Aktien zu bleiben. Doch wie immer Sie sich in dieser Angelegenheit entscheiden mögen, verlasse ich mich darauf, daß Sie einer Verlobung zwischen ihm und Ihrer Nichte entschieden entgegentreten und zur Erreichung dieses Zieles alle Ihre Rechte und Autorität als ihr Vormund einsetzen werden. Verbrennen Sie diese Notiz. – R. A.
6
Mr. Haswell verliert die Beherrschung
Alan und Barbara saßen in Mr. Champers-Haswells Wohnzimmer mit dem geschmacklosen Dekor, und vor ihnen, am Kaminfeuer, ruhte Mr. ChampersHaswell auf seinem Sofa. Alan hatte ihn eben mit wenigen soldatisch knappen Worten über seine Ver lobung mit Barbara in Kenntnis gesetzt. Während der Darlegung dieser interessanten Tatsache hatte Barba ra kein Wort gesagt, doch Mr. Haswell hatte mehr mals gepfiffen. Jetzt endlich sprach er, im Ton er zwungener Herzlichkeit, den er meistens gegenüber seinem Cousin anwandte. »Sie bitten um die Hand einer recht bemittelten Er bin, Alan, mein Junge«, sagte er, »doch haben Sie ver absäumt, mich über Ihre Situation zu informieren.« »Wozu soll ich Ihnen sagen, was Sie ohnehin wis sen, Mr. Haswell? Ich bin aus der Firma ausgeschie den, deshalb habe ich praktisch nichts.« »Sie haben praktisch nichts, und dennoch ... Also wissen Sie, in meiner Jugend waren die Männer ein wenig taktvoller; sie mochten es nicht, wenn man sie Mitgiftjäger nannte – aber natürlich haben die Zeiten sich geändert.« Alan biß sich auf die Lippe, und Barbara richtete sich in ihrem Sessel kerzengerade auf. Als Mr. Has well diese Reaktionen bemerkte, fuhr er eilig fort: »Wenn Sie in der Firma geblieben wären und den Betrag verdient hätten, der Ihnen in dieser Woche zugefallen wäre, anstatt uns im letzten Moment aus
irgendeiner donquichotischen, persönlichen Laune heraus zu verlassen, könnte es anders ausgesehen haben. Ich sage nicht, daß dem so wäre, sondern nur, daß dem so sein könnte, und Sie mögen sich an das Sprichwort vom Fell des Bären erinnern, der noch nicht erlegt ist. Also frage ich Sie, ob Sie geneigt wä ren, Ihren Austritt rückgängig zu machen und diese Frage später noch einmal zur Sprache zu bringen, sa gen wir, am kommenden Sonntag?« Alan dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. Wenn er Mr. Haswell richtig verstanden hatte, war dies praktisch ein Versprechen, der Verlobung unter dieser Bedingung zuzustimmen. Die Versuchung war enorm, es war die stärkste, der er sich jemals gegen übergesehen hatte. Er blickte Barbara an. Sie hatte die Augen geschlossen und gab ihm nicht das geringste Zeichen. Aus irgendwelchen, nur ihr bekannten Gründen, hatte sie beschlossen, daß er diese wichtige Entscheidung ohne die kleinste Beeinflussung durch sie treffen sollte. Und sie mußte sofort getroffen wer den, ein Hinausschieben war unmöglich. Für einen Moment zögerte er. Auf der einen Seite war Barbara, auf der anderen sein Gewissen. Nach langen Zweifeln war er zu einem bestimmten Ent schluß gelangt, von dem er genau wußte, daß er sei nen Partnern nicht passen würde. Sollte er ihn jetzt verwerfen? Sollte er versuchen, eine bestimmte Zusa ge als Preis seiner Kapitulation zu verlangen? Die Firmengründung war unterschrieben und würde wie vorgesehen erfolgen; der Skandal würde erst später eintreten, Monate oder sogar Jahre später, und er könnte lange vorher aussteigen, wie es auch die mei sten der anderen vorhatten. Nein, er konnte es nicht
tun. Sein Gewissen würde das nicht zulassen. »Ich sehe keinen Sinn darin, diese Frage noch ein mal zu erörtern, Mr. Haswell«, sagte er ruhig; »wir haben sie am Freitagabend entschieden.« Barbara öffnete die Augen und blickte zu der be malten Decke empor, und Mr. Haswell pfiff. »Dann sehe ich keinen Sinn darin, Ihre freundliche Bewerbung um die Hand meiner Nichte noch einmal zu erörtern. Hören Sie, mein Freund, ich will ganz of fen zu Ihnen sein. Ich habe andere Pläne mit Barbara, und ich verfüge über die Autorität, sie durchzuset zen, oder zumindest ihre Durchkreuzung durch Sie zu verhindern. Wenn Barbara gegen meinen Willen heiratet, bevor sie fünfundzwanzig ist, also während der kommenden zwei Jahre, geht sie ihres ganzen Vermögens, mit Ausnahme einer armseligen Jahres rente, verlustig. Das ist bestimmt ein Faktor, der Sie beeinflussen wird, da Sie nichts haben, und selbst wenn dem nicht so sein sollte, halte ich Sie nicht für so eigensüchtig, daß Sie sie in Armut stürzen wol len.« »Nein«, antwortete Alan, »das brauchen Sie nicht zu befürchten, weil es unrecht wäre. Ich verstehe, daß Sie meinen Antrag aufgrund meiner Mittellosigkeit nicht gutheißen, was unter den gegebenen Umstän den vielleicht nicht verwunderlich ist. Nun, dann liegt die einzige Möglichkeit darin, zwei Jahre zu warten, eine lange Zeit, aber nicht endlos lang, und bis dahin werde ich versuchen, meine Situation zu verbessern.« »Tun Sie, was Sie wollen, Alan«, sagte Mr. Haswell scharf, denn jetzt war alle seine faux bonhomme – Haltung verschwunden und enthüllte seinen wahren
Charakter, den eines skrupellosen Geschäftemachers, der nur seine dunklen Ziele im Auge hat. »Tun Sie, was Sie wollen, aber merken Sie sich, daß ich jede Kommunikation zwischen Ihnen und meiner Nichte verbiete, und daß ich es begrüßen würde, wenn Sie meine Gastfreundschaft, die Sie so schmählich miß braucht haben, nicht länger in Anspruch nehmen würden.« »Ich werde sofort gehen«, sagte Alan und stand auf, »bevor ich die Beherrschung verliere und Ihnen einige Wahrheiten sage, die ich später bereuen mag, denn Sie sind schließlich Barbaras Onkel. Doch eines möchte nun ich Ihnen begreiflich machen: Ich weige re mich, mir jedes Treffen mit meiner Cousine ver bieten zu lassen, die volljährig ist und versprochen hat, meine Frau zu werden.« Damit wandte er sich zum Gehen. »Warte einen Moment, Alan«, sagte Barbara, die während der ganzen Zeit geschwiegen hatte. »Ich ha be etwas zu sagen, das du hören solltest. Du hast eben gesagt, Onkel, daß du andere Pläne für mich hast, womit du wohl meinst, daß ich Sir Robert Ayl ward heiraten soll den ich, wie du sicher weißt, heute nachmittag ein für allemal abgewiesen habe. Jetzt möchte ich dir klarmachen, daß keine Macht der Erde mich dazu bringen wird, einen Mann zu heiraten, den ich verabscheue, und dessen Reichtum, der dir so wichtig ist, meiner Meinung nach auf unehrliche Weise erworben wurde.« »Was hast du gesagt?« unterbrach ihr Onkel wü tend. »Er ist seit vielen Jahren mein Partner – du be leidigst auch mich damit.« »Es tut mir leid, Onkel, aber ich nehme kein Wort
zurück. Selbst wenn Alan tot wäre, würde ich diesen Mann nicht heiraten, und vielleicht solltest du ihm das klarmachen«, setzte sie sehr betont hinzu. »Eher würde ich sterben. Du hast uns außerdem erklärt, daß du mir das ganze Vermögen wegnehmen würdest, das mein Vater hinterlassen hat, falls ich gegen dei nen Willen heiraten sollte. Onkel, diese Befriedigung werde ich dir nicht gönnen. Ich werde warten, bis ich fünfundzwanzig Jahre alt bin und mit mir und mei nem Vermögen tun kann, was mir paßt. Und schließ lich sagtest du, daß du uns verbietest, uns zu treffen oder miteinander zu korrespondieren. Ich antworte dir darauf, daß ich Alan treffen und ihm schreiben werde, so oft und wann immer ich will. Falls du ver suchen solltest, mich daran zu hindern, werde ich vor Gericht gehen und alle Fakten auf den Tisch legen, was ich, wie mir geraten wurde, jederzeit tun kann – nicht durch Alan, übrigens – alle Fakten, wie gesagt, und einen getrennten Lebensunterhalt aus meinem Vermögen beantragen, bis ich fünfundzwanzig bin. Ich bin sicher, daß das Gericht dem Antrag stattgeben und auch erklären wird, daß Alan, angesichts seiner Herkunft und seiner Verdienste, ein durchaus pas sender Ehemann für mich ist.« »Ist es das, was du zu sagen hast?« keuchte Mr. Haswell, »ist es das, was du zu sagen hast, du freches und undankbares Gör?« Plötzlich bekam er einen Wutanfall, verfiel in eine Sprache, die hier nicht wie dergegeben werden soll, und stieß eine Flut von Dro hungen und Verwünschungen gegen Alan und seine Nichte aus. Barbara wartete, bis er vor Erschöpfung innehielt. »Onkel«, sagte sie, »du solltest daran denken, daß
du ein schwaches Herz hast und dich nicht aufregen darfst; aber wenn du, nachdem du dich beruhigt hast, noch einmal auf diese Weise zu mir sprechen solltest, werde ich sofort vor Gericht gehen, denn solche Flü che lasse ich mir nicht bieten, weder von dir, noch von irgendeinem anderen Menschen. Ich muß mich bei dir entschuldigen, Alan; ich fürchte, ich habe dich in sehr schlechte Gesellschaft gebracht. Komm, Ge liebter, wir wollen gehen und deinen Einspänner vor fahren lassen.« Sie schob ihren Arm liebevoll unter den seinen, und gemeinsam verließen sie den Raum. »Ich möchte wissen, wer sie darauf gebracht hat«, keuchte Haswell, als die Tür sich hinter ihnen ge schlossen hatte. »Irgendein lausiger Advokat, wette ich. Nun, sie hat mich in der Hand, ich kann mir kei ne gerichtliche Untersuchung leisten, besonders da sich gegen Vernon nichts anderes vorbringen läßt, als daß der Wert seines Landbesitzes gefallen ist. Aber ich schwöre, daß sie ihn niemals heiraten wird, so lange ich lebe!« Er wiederholte die Worte fast schrei end, und die bemalte Kuppeldecke warf ihr Echo zu rück: »Solange ich lebe!« Und dann war es still in dem Raum, bis auf das schwere Schlagen seines Herzens. Als Alan an diesem Abend nach einer Fahrt von zehn Meilen nach Hause kam, schickte er Jeekie zu der Haushälterin, daß sie ihm etwas zu essen mache. Auf seine geheimnisvolle afrikanische Art hatte der Neger bereits eine Menge über die Ereignisse dieses Tages in Erfahrung gebracht, zumeist von dem Gesinde des Hauses, besonders aber von den beiden GoldCaddies, Söhnen des Gärtners, die offenbar, anstatt sich mit den Golfschlägern zu entfernen, in einer
dichten Hecke in Deckung gegangen waren und von dort aus mit lebhaftem Interesse alles verfolgt hatten, was zwischen Barbara und Sir Robert gesprochen worden war. Jeekie, der einsah, daß dies nicht der richtige Moment war, um seine Neugier zu befriedi gen, ging hinaus und kam wenig später mit einer Portion kalten Hammelbratens und einer Flasche Rotwein zurück. Dann kam seine Chance, denn Alan rührte den Hammelbraten kaum an und verlangte Toast und Butter. »Sehr minderwertiger Chop« – das war das west afrikanische Wort für Essen – »für einen Gentleman, Major«, sagte er, schüttelte seinen weißhaarigen Kopf und deutete auf den Hammelbraten – »besonders für einen, der so plötzlich das wunderbare Essen in ›The Court‹ verlassen hat. Warum sind Sie nicht bis nach dem Abendessen geblieben, Major?« Alan lachte über das gestelzte Englisch des Schwarzen und antwortete auf eine mehr umgangs sprachliche Art: »Weil ich hinausgeworfen wurde. Jeekie.« »Ah! Das schien heute irgendwie in der Luft zu lie gen, Major. Sir Robert Aylward, er wurde auch hin ausgeworfen, wenn der Tritt auch von einem kleine ren Schuh erfolgte.« Wieder lachte Alan, doch da es erleichternd war, über die Angelegenheit zu sprechen, und sei es auch nur mit Jeekie, fragte er ihn: »Woher weißt du das?« »Ich schloß es aus der Atmosphäre, Major: von Sir Roberts Diener, von zwei Jungen, die Sir Roberts und Miss Barbara am neunten Loch des Golf Greens spre chen sahen, von dem Fahrer von Sir Roberts Maschine, und schließlich aus seinem eigenen, edlen Angesicht.«
»Ich sehe, du bist ein guter Beobachter, Jeekie.« »Die Beobachtung, Major, ist die Kunst des Lebens. Ich sehe, daß Miss Barbaras Augen so rot sind wie der Morgenhimmel, und ich ziehe meine Schlüsse daraus. Ich sehe Sie aus dem Haus stürzen, finster wie eine Gewitterwolke, und ich ziehe meine Schlüs se daraus. Ich horche an der Tür von Mr. Haswells Zimmer und höre ihn fluchen wie einen Heiligen der Bibel, und Sie und Miss Barbara antworten, nicht so laut wie Heilige, und was Sie sagten, konnte ich nicht hören, und ich ziehe meine Schlüsse. Jeekie schließt daraus dies: Daß Sie Miss Barbara Ihre Liebe erklär ten, auf eine für einen Gentleman ziemliche, christli che Art, wie sie auch Ihr verstorbener Reverend On kel gutgeheißen hätte, und Miss Barbara, sie tut es auch, mit zehn Prozent Zinsen, aber der alte Mann, der immer pfeift, heißt es nicht gut: er sagt: ›Wo ist Geld?‹ Er sagt: ›Der vornehme Sir Robert hat viel Geld und ist an derselben Sache interessiert. Mir ist Sir Robert lieber. Hinaus mit ihnen, weil ohne Geld!‹ Ich habe so etwas oft gesehen, als Junge in Westafri ka. Oh, das ist weit verbreitet, wo immer die Sonne scheint. Ich bemerke dies alles, und ich ziehe meine Schlüsse – das ist Jeekies Art, und Jeekie irrt sich sel ten.« Alan lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Jeekie«, sagte er, »du bist ein großer Halunke!« »Ja, ja«, unterbrach Jeekie, »großer Halunke, das beste, was man in dieser Welt sein kann, Major. Der ehrenwerte Sir Robert, Bart., M.P., und Mr. Cham pers-Haswell haben das längst herausgefunden und sitzen auf der Spitze des Baums im Reiche von Opu
lenz. Jeekie ist großer Halunke, und deshalb hat er ein Sparkonto – aber reden Sie weiter, Major!« »Nun, Jeekie, wenn du auch ein Halunke bist, so bist du doch warmherzig, und weil ich glaube, daß du mich magst ...« »Oh, Major«, unterbrach Jeekie wieder, »das ist die reinste Wahrheit. Ehrenwort, ich liebe Sie, Major, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt, außer meiner alten Frau, die jetzt glücklicherweise tot ist, vergangen und begraben, in dem besten Eichsarg für vier Pfund zehn Shillings, zwar ohne Beschläge, doch sehr schön poliert, und vielleicht Ihres heiligen On kels Austin, ebenfalls gestorben und eingesargt, der mich vor dem frühen Dahinscheiden an einem dunklen Ort rettete. Major, ich mag keine Gräber. Ich habe zu viele davon gesehen, und ich kann nicht sa gen, was auf der anderen Seite liegt. Obwohl alle sa gen, daß sie es wissen, ist Jeekie da nicht ganz sicher. Vielleicht ist dort alles helles Licht und Glorienschein, vielleicht aber ein feuchtes Loch, aus dem kein Weg hinausführt. Aber dies zumindest ist wahr: daß ich Sie mehr liebe als Miss Barbara, denn die Liebe einer Frau ist eine sehr wackelige, ungewisse Sache, die schnell kommt und schnell geht. Jeekie hat das her ausgefunden – oft. Ja, wenn es nötig sein sollte ... – obwohl der Tod eine unangenehme Sache ist – wenn es nötig sein sollte, würde ich für Sie sterben, was ein sehr unerfreuliches Opfer ist.« Und Jeekie warf sich in dem ehrlichen Enthusiasmus seines warmen Herzens nach afrikanischer Art auf die Knie, ergriff die Hand seines Herrn und küßte sie. »Danke, Jeekie«, sagte Alan, »das ist wirklich sehr nett von dir. Aber so weit sind wir noch nicht, ob
wohl niemand wissen kann, was später passieren mag. Nun setz dich auf den Stuhl und schenk dir ei nen Whisky ein – aber nicht zu viel –, denn ich möchte dich um einen Rat bitten.« »Ich gehorche, Major.« Er ergriff die Whiskyflasche und schenkte sich ein Glas halbvoll, denn Jeekie hatte eine Vorliebe für Whisky. Diese Vorliebe hatte ihn be reits öfter in Konflikt mit dem Gesetz gebracht. »Gieße drei Viertel davon zurück«, sagte Alan, und Jeekie tat es. »Jetzt hör mir genau zu!« fuhr er dann fort. »Dies ist die Lage: Miss Barbara und ich sind ...« – er zögerte. »Oh! Ich weiß; so wie ich und Mrs. Jeekie einst«, sagte Jeekie und kippte etwas von dem unverdünnten Whisky. »Fahren Sie fort, Major!« »Und Sir Robert Aylward ist ...« »Diese Punkte sind alle völlig klar«, unterbrach Jeekie und blickte kummervoll auf sein Glas. »Kom men Sie zur Sache, Major!« »Nun, die Schwierigkeit besteht darin, daß ich, wie du eben sagtest, ohne Geld bin und deshalb ...« »Deshalb«, unterbrach Jeekie wieder, »stecken Sie mit Ihren ehrenhaften Absichten gegenüber Miss Barbara fest, wegen des Widerstandes von Mr. Has well, des gesetzlichen Onkels, der die Gewalt über ihr Vermögen hat, und der durch den edlen Sir Robert aufgehetzt wurde, der dasselbe Mädchen will.« »Sehr richtig, Jeekie, aber wenn du etwas weniger reden und mich mehr zu Wort kommen lassen wür dest, könnten wir rascher vorankommen.« »Ich werde von nun an schweigen, Major.« Er hob sein leeres Glas und blickte hindurch, als ob es ein Tele skop wäre, ein Wink, den Alan geflissentlich übersah.
»Jeekie, du verdammter, alter Narr, ich brauche Geld!« »Ja, Major, das verstehe ich! Major, verzeihen Sie, wenn ich das Schweigegebot breche, aber wenn fünf hundert Pfund auf meinem Sparkonto von Nutzen sind, stehen sie Ihnen zu Diensten. Und noch zwan zig Pfund dazu, die ich gestern abend von einem rei chen Juden erpreßt habe, der den Fetisch fürchtet.« »Jeekie, du alter Esel, ich will deine fünfhundert Pfund nicht; ich will sehr viel mehr, fünfzigtausend, oder fünfhunderttausend. Sag mir, woher ich die be kommen kann!« »Dazu ist die Stadt der beste Ort. Aber Sie haben die Stadt weggeworfen; Sie sind zu ehrlich; ist ein großer Fehler, Major, auf dieser Erde zu ehrlich zu sein: Das habe ich schon in Westafrika oft bemerkt.« »Vielleicht, Jeekie; aber ich habe genug von der Stadt. Wie du sagen würdest: für mich ist sie ausge löscht, erledigt.« »Ja, Major, zu viele Taschendiebe, zu viel Dreck. Ich verstehe.« »Aber was bleibt dann, Jeekie? Als du uns gestern abend deine seltsame Geschichte erzähltest, sagtest du etwas von einem Berg, der voller Gold ist, und von Häusern voller Gold bei deinem Volk. Jeekie, glaubst du ...« Er stockte und blickte ihn an. Jeekie rollte seine schwarzen Augen und schenkte sich in einem Anfall von Zerstreutheit mehr Whisky ein. »Glauben Sie, Major, daß dieser nutzlose Tand in die Münze des gnädigen Königs Edward einge tauscht werden kann? Das ist nicht zu schaffen, Ma jor, von niemandem, außer vielleicht von Major Alan
Vernon, D.S.O., und von einem gewissen Jeekie, christlicher Nachname: Smith.« »Sprich weiter, Jeekie!« sagte Alan und stellte die Whiskyflasche außer Reichweite. »Sprich weiter und erkläre!« »Es ist so, Major: Die Asiki machen sich nichts aus Gold, es hat keinen Wert für sie. Leute, die vor langer, langer Zeit dort lebten – ich weiß nicht, wann –, ha ben es ausgegraben und dort aufbewahrt und den großen Fetisch gemacht, den sie Bonsa nennen, um Feinde zu vertreiben, die es stehlen wollen. Es ist auch ein alter Brauch, daß jeder in dem Lande, der ein großes Nugget findet, oder einen hübschen Stein, wie ihn Ladies am Busen tragen, ihn als Opfer zu Bonsa bringt, so daß jetzt eine Menge von dem Zeug da ist. Aber niemand braucht es für irgend etwas, au ßer um es an die Mauern vom Haus von Asiki zu kle ben, oder um Schüsseln, Hocker, Tische oder Koch töpfe daraus zu machen. Einmal ist ein Araber zu ih nen gekommen, und ich habe gesehen, wie die Prie ster ihm eine eiserne Hacke mit Gold aufwogen, doch später haben sie ihn dann ermordet – nicht wegen des Goldes, sondern damit er ihr Geheimnis nicht verra ten konnte.« »Man kann also mit ihnen handeln, Jeekie?« Er schüttelte zweifelnd den weißen Kopf. »Ja, vielleicht, wenn Sie irgend etwas finden, das sie kaufen wollen und es nach Asiki-Land bringen können. Aber ich glaube, es gibt nur eins, was sie wollen, und das haben Sie, Major.« »Ich, Jeekie? Was habe ich denn?« Der Neger beugte sich vor, tippte seinem Herrn auf das Knie und sagte in verschwörerischem Ton: »Sie
haben Kleine Bonsa, die heiliger ist als alles andere, sogar heiliger als Großer Bonsa, ihr Ehemann, ich meine, sie ist ein größerer, mächtigerer Teufel. Diese Kleine Bonsa sitzt im vorderen Raum von Asikas Haus, und wenn Asika etwas sehen will, setzt sie sie in eine große Schüssel aus Gold, aber ich sage Ihnen nicht, in was sie schwimmt. Einmal oder zweimal im Jahr nehmen sie die Kleine Bonsa auch heraus; Asika trägt sie als Maske, und jenen, den sie treffen, töten sie als Opfer für die Kleine Bonsa, damit ihre Geister auf die Erde zurückkommen, um Priester Bonsas zu sein. Ich sage Ihnen, Major: dieser Gelbe Gott hat schon viele tausend Menschen sterben sehen.« »Wirklich ein reizender Fetisch«, sagte Alan. »Ich würde meinen, daß die Asiki von Herzen froh sein müßten, ihn los zu sein.« »Nein, nicht froh, sondern sehr traurig. Es gibt kein Glück mehr für sie, seitdem die Kleine Bonsa fort ist, aber viel Glück für jene, die sie haben. Das ist der Grund dafür, daß die Firma Aylward und Haswell so viel Geld verdient hat, seitdem Sie dort eingetreten sind und sie ins Büro gebracht haben. Sie färbt den Blick der Leute rosig, so daß sie keine Ratte riechen. Und deshalb haben Sie Glück gehabt: Sie sind nicht am Schwarzwasserfieber gestorben; Sie sind dieser Räuberhöhle in der Stadt entkommen; Sie haben die Liebe der lieblichen Jungfrau, Miss Barbara, gewon nen. Die Kleine Bonsa hat das alles für Sie getan, und sie wird noch viel mehr für Sie tun, so wie sie meinen alten Herrn, Ihren heiligen Onkel, sicher aus jenem Lande geführt hat, weil alle Asiki weggelaufen sind, als sie ihn mit ihr vor seinem Gesicht sahen, weil sie fürchteten, man würde sie als Opfer nehmen, nach
dem sie mein Leben gegessen hatte.« »Kein Wunder, daß sie weggelaufen sind«, sagte Alan lachend, denn die Vision eines Missionars mit der heidnischen Bonsa-Maske vor dem Gesicht war umwerfend komisch. »Aber komm endlich zur Sache, du alter Heide! Was, meinst du, soll ich tun?« »Jeekie ist kein Heide mehr, Major, aber es gibt ne ben der christlichen Religion viele andere Wahrheiten auf dieser Welt. Ich will nicht, daß Sie irgend etwas tun, doch ich sage Ihnen dies: Wenn Sie zu den Asiki gehen, mit der Kleinen Bonsa vor dem Gesicht und so gekleidet wie Ihr heiliger Onkel, dem Sie sehr ähnlich sind, denn er war vor dreißig Jahren etwa in Ihrem Alter, geben sie Ihnen alles Gold, das Sie wollen, wenn Sie ihnen dafür die Kleine Bonsa zurückgeben, die sie seit undenklichen Zeiten lieben und verehren, denn die Kleine Bonsa ist sehr, sehr alt.« Alan setzte sich in seinem Sessel auf und starrte Jeekie an, und Jeekie nickte ihm mit seinem großen weißen Kopf zu. »Da ist etwas dran«, sagte Alan langsam, mehr zu sich selbst als zu dem Neger, »und vielleicht ist das der Grund dafür, weshalb ich den Fetisch nicht ver kaufen wollte, denn, wie du sagtest, gibt es viele wahre Dinge auf der Welt neben denen, an die wir glauben. Aber, Jeekie, wie soll ich den Weg dorthin finden?« »Keine Sorge, Major, die Kleine Bonsa findet den Weg, weil sie nach Hause will; sie ist jetzt sehr hung rig und braucht dringend Opfer. Ich denke, es wäre gut, wenn Sie ein Schwein für die Kleine Bonsa töten würden – oder auch nur ein Lamm. Sie weiß, daß Sie Ihr Bestes tun, da Menschen in diesem christlichen
Lande nicht so leicht zu haben sind, und wird sagen: ›danke für das Leben des Schweins‹.« »Hör mit dem Unsinn auf!« sagte Alan. »Ich brau che einen Führer. Wenn ich gehe, wirst du mit mir kommen?« Bei dieser Frage verzog der Neger das Gesicht und wirkte überaus unglücklich. »Nicht gern, gar nicht gern«, sagte er und rollte die Augen. »Asiki-Land sehr komischer Ort für Eingebo rene. Aber ...«, setzte er trübe hinzu, »wenn Sie gehen, muß auch Jeekie gehen, denn ich bin ein Diener der Kleinen Bonsa, und wenn ich zurückbleibe, wird sie böse und tötet mich, weil ich ihr auf ihrem Wege nicht aufwarte. Aber vielleicht, wenn ich mitgehe und sie zum Gold-Haus zurückbringe, gefällt es ihr und sie tut mir nichts. Außerdem kann ich Ihnen dort hel fen. Ja, wenn Sie und die Kleine Bonsa gehen, gehe ich auch.« Nach dieser Erklärung stand Jeekie auf, nahm den Teller mit dem kalten Hammelbraten vom Tisch und ging zum anderen Ende des Raums. Dann kam er zu rück, stellte den Teller wieder auf den Tisch, trat vor Alan und sagte ernst: »Major, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen, nur dieses eine Mal. Jeekie glaubt, daß er mit Ihnen nach Asiki-Land gehen muß. Jeekie hatte viele schlechte Träume in letzter Zeit. Die Kleine Bonsa ist mitten in der Nacht gekommen und hat sich auf meinen Bauch gesetzt und mein Gesicht mit ih rem goldenen Bein gekratzt, und sie hat gesagt: ›Jee kie, Jeekie, steh rasch auf und bring mich zurück nach Bonsa-Stadt, denn ich bin dieses Nebels müde und habe alles erledigt, das zu tun ich hergekommen bin. Jetzt will ich wieder ein gutes Opfer haben, und zu
Hause wartet viel Arbeit auf mich, Arbeit, von der du noch nichts verstehst. Bring mich schnell zurück, oder es wird dir leid tun, Jeekie, mein Junge‹!« Er schwieg. »In der Tat?« sagte Alan. »Und hat sie dir bei die sen mitternächtlichen Heimsuchungen sonst noch etwas erzählt?« »Ja, Major, sie hat gesagt: ›Und nehme deinen wei ßen Herrn mit auf die Reise, denn ich will auf seinem Kopf nach Asiki-Land zurückkehren, und es ist je mand dort, der ihn sehen möchte, eine alte Freundin, die er vergessen hat, die aber ihn nicht vergaß. Sag ihm, daß die Kleine Bonsa bei ihr noch eine offene Rechnung hat und ihn dazu benutzen will, sie zu be gleichen. Doch wenn er nicht gehen will, ist das eine andere Sache, und dann mag er sich hüten, denn die Kleine Bonsa ist ein gefährlicher Gegner, wenn sie er zürnt wird, wie es seine verflossenen Partner eines Tages herausfinden werden.‹« »Oh, halt endlich den Mund, Jeekie! Was nützt es, wenn du mir deine Alpträume erzählst?« »Gut. Major, wie Sie wollen. Aber ich habe noch ei nen anderen Grund dafür, daß ich bereit bin, Sie zu begleiten. Jeekie will seine Mama wiedersehen.« »Deine Mama? Du hast niemals von deiner Mutter gesprochen. Außerdem muß sie längst gestorben sein.« »Nein, Major, weil auch sie im Traum zu mir kam, sehr lebendig, und mich verfluchte, weil ich ihre Decke gestohlen habe. Sie ist eine sehr zähe, alte Frau; es ist schwer, sie zu töten.« »Vielleicht hast du auch einen Vater?« meinte Alan. »Das glaube ich nicht, Major; meine Mama sagte immer, daß sie ihn vergessen habe. Sie meint damit,
daß sie nicht über ihn reden mag, weil er so groß ist. Warum ist Jeekie so stark, so klug, und hat ein so schönes Gesicht? Natürlich weil er der Sohn eines sehr bedeutenden Mannes ist. Alles das sind die wah ren Gründe, weshalb ich mit Ihnen gehen will, Major. Trotzdem macht der arme, alte Jeekie vielleicht einen Fehler; vielleicht hat er nur geträumt, weil er am Abend zu viel gegessen hat, vielleicht ist seine Mama trotz allem tot. Und wenn dem so ist, wäre es viel leicht besser, zu Hause zu bleiben – ich weiß es nicht.« »Nein«, antwortete Alan, »ich weiß es auch nicht. Zwischen der Kleinen Bonsa und diesen und jenen Dingen schwimmt mir der Kopf – wie die Kleine Bonsa im Wasser.« »Der Große Bonsa schwimmt im Wasser«, korri gierte Jeekie. »Die Kleine Bonsa schwimmt meistens in der goldenen Schüssel.« »Ob Großer Bonsa oder Kleine Bonsa, ist mir egal. Ich gehe jetzt zu Bett, und du solltest es auch tun, nachdem du hier abgeräumt hast. Und, Jeekie, wenn du auch nur ein Wort von unserem Gespräch verlau ten läßt, werde ich sehr wütend. Hast du verstan den?« »Ja, Major, ich habe verstanden. Ich weiß, die Klei ne Bonsa wird mich wie ein Löwe anspringen und mir die Kehle durchbeißen, wenn ich über ihr Ge heimnis mit irgend jemandem spreche außer Ihnen, bei dem sie in einem fremden Lande, weit von der Heimat entfernt, lebt. Keine Angst, daß Jeekie etwas von der Kleinen Bonsa verraten wird; oh! Gar keine Angst.« Er schüttelte ernst seinen weißen Kopf, nahm wieder den Teller mit dem kalten Hammelbraten auf verließ den Raum.
Ein wilder Mischmasch von abergläubischem Un sinn, dachte Alan, als Jeekie gegangen war, aber den noch mag man irgend etwas damit anfangen können. Offenbar gibt es wirklich eine Menge Gold in diesem Asiki-Lande, und wenn man die Leute zu einem Handel bewegen könnte ... Dann, da er von Jeekie und seinen Stammesgöttern genug hatte, zündete er seine Pfeife an und dachte ei ne Weile an Barbara und all die Ereignisse dieses tu multuösen Tages. Trotz seiner Zurückweisung durch Mr. Haswell und der Schwierigkeiten und Gefahren, die ihm drohten, fühlte er, daß es ein glücklicher Tag gewesen war. Denn hatte er nicht entdeckt, daß Bar bara ihn von ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebte, so wie er sie liebte? Und da dem so war, ließ ihn alles andere ziemlich kalt. Die Zukunft mußte für sich selbst sorgen; für diesen Tag reichte ihm dessen Freude. Also ging er zu Bett und schlief bald ein. Aber er schlief nicht lange ungestört, denn bald kam er ins Träumen, etwas von dem Großen Bonsa und der Kleine Bonsa, welche zu beiden Seiten seines Bettes saßen, oder vielmehr schwebten, und über ihn hin weg ein endloses Gespräch führten, während Jeekie und Sir Robert Aylward, die am Kopf-, beziehungs weise Fußende des Bettes hockten, wie die Symbole der guten und der bösen Dämonen auf einem moha medanischen Grab, als eine Art irrer Chor fungierten. Er drückte den Glockenknopf seiner Repetieruhr, es war erst eins, also versuchte er wieder einzuschlafen, was ihm jedoch nicht gelang. Noch nie zuvor war er so hellwach gewesen. Eine Stunde oder länger versuchte er vergeblich,
wieder Schlaf zu finden, schließlich sprang er aus dem Bett und fragte sich, was er tun könnte, um seine Gedanken zu beschäftigen. Plötzlich fiel ihm das Ta gebuch seines Onkels, des Reverend Mr. Austin ein, das er zusammen mit dem Gelben Gott und ein paar anderen Dingen geerbt, doch niemals gelesen hatte. Es waren mehrere Bände, die er vor fünfzehn Jahren, kurz bevor er in die Armee eingetreten war, in einer Kiste in der Bibliothek verstaut hatte, wo sie zweifel los verblieben waren. Nun, da er ohnehin nicht schla fen konnte, warum sollte er sie nicht jetzt durchsehen und sich damit für ein paar Stunden die Zeit vertrei ben? Er zündete eine Kerze an und ging zur Bibliothek hinunter, einem sehr alten und schönen Raum mit schwarzen Eichenpaneelen zwischen den Bücherre galen, die aus der elisabethanischen Epoche stamm ten. Hinter diesen Paneelen befanden sich Schränke, und in einem von ihnen stand die bewußte Kiste, die aus Teakholz gefertigt war. Auf ihrem Deckel stand in Druckbuchstaben: REVEREND HENRY AUSTIN – PASSAGIER NACH ACCRA, was zeigte, daß sie einst seines Onkels Kabinengepäck gewesen war. Der Schlüssel hing an dem Griff, und nachdem Alan weitere Kerzen angezündet hatte, nahm er sie heraus und schloß sie auf. Der Geruch von staubigen, ver gilbten Papieren, die zu dicken Bündeln zusammen geschnürt waren, schlug ihm entgegen. Er nahm ei nes nach dem anderen heraus und legte sie auf den Fußboden. Es war eine bedrückende Beschäftigung, allein dort in jenem großen, stillen Raum mitten in der Nacht, eine, die ihm bald zuwider wurde, da sie ihn irgendwie an das Berauben von Grabkammern in
einer Krypta erinnerte. Vor ihm lagen die sorgsam verwahrten Aufzeichnungen eines guten, wenn auch nicht bedeutenden Lebens, und bis zu diesem Mo ment hatte er nie die Energie aufbringen können, sie auch nur durchzusehen. Schließlich kam er zum Ende der Papierbündel und sah, daß sich unter ihnen eine Reihe dicker Schreib kladden befand, deren Rücken nach oben wiesen und mit dem Wort Tagebuch beschriftet waren, und jeweils das Jahr und manchmal auch den Aufenthaltsort des Verfassers angaben. Als e r sie mit wachsender Bestür zung anstarrte, da es ihrer sehr viele waren, fiel sein Blick schließlich auf eine mit der Aufschrift Westafrika, von denen es noch weitere gab, doch trug diese in Klammern den zusätzlichen Hinweis: Dieser Band enthält alles, was von meinen Notizen über meine und Jeekies Flucht von den Asiki-Teufelsanbetern übriggeblieben ist. Alan nahm es heraus, und nachdem er die Kiste wieder gefüllt und verschlossen hatte, nahm er es mit in sein Schlafzimmer, wo er es im Bett liegend zu le sen begann. Er stellte jedoch bald fest, daß es nicht viel zu lesen gab, da der größte Teil der eng beschrie benen Seiten so von Wasser durchweicht worden sein mußte, daß die Bleistiftschrift völlig unleserlich ge worden war. Die mittleren Teile der Kladde, die nicht durchweicht worden waren, konnten jedoch noch entziffert werden, zumindest teilweise, und auf die sen Seiten befand sich auch eine Karte, die in Tinte und offenbar zu einem späteren Zeitpunkt ausgeführt worden war, und auf ihrer Rückseite stand: Ich habe vor, bei passender Gelegenheit die ganze Geschichte meines Besuches bei dem unbekannten Volk der Asiki neu zu schreiben, da meine ursprünglichen Notizen verlorengin-
gen, als das Kanu in den Stromschnellen kenterte und wir den größten Teil unserer ohnehin geringen Habe einbüßten, mit Ausnahme dieses Tagebuches und der goldenen Fetischmaske, die Kleine Bonsa oder Kleiner Schwimmender Kopf genannt wird. Ich denke, daß ich so ziemlich alles mit der Hilfe Jeekies aus der Erinnerung rekonstruieren kann, doch da diese Angelegenheit lediglich von persönlichem und nicht von religiösem Interesse ist, weil es mir nicht gelang, das Wort unter jenen umnachteten und blutrünstigen Wilden zu verbreiten, in deren Lande, wie ich ehrlich glaube, der Teufel einen seiner Hauptwohnsitze hat, muß dieses Vorhaben warten, bis sich eine Gelegenheit dafür ergibt, wie eine Krankheit oder meine alten Tage. – H. A. P.S.: – Ich sollte voll Dankbarkeit hinzufügen, daß mir die Möglichkeit gegeben wurde, einen Brand aus den Flammen dieses Höllenfeuers zu retten, nämlich den Negerjungen Jeekie, dessen außergewöhnliche Klugheit und Treue ich das Gelingen meiner Flucht verdanke. Nach langem Zögern hatte ich schließlich das Gefühl, ihn taufen zu können, obwohl ich fürchte, daß Jeekie nach wie vor stark vom Heidentum seiner Heimat geprägt ist. So habe ich ihn erst vor knapp sechs Monaten dabei erwischt, daß er einen weißen Hahn vor dieser Maske, der Kleinen Bonsa, opferte, aus Dankbarkeit dafür, wie er zu meinem Entsetzen erklärte, daß er zum Canon ehrenhalber unserer Kathedrale ernannt wurde. Ich habe ihm gesagt, er solle diese häßliche Maske, die schon so oft in menschlichem Blute badete, zum Küchenfeuer tragen und dort – nach Entfernung der die Augen darstellenden Juwelen – einschmelzen solle, damit der Erlös den Armen gegeben werden könne.
Anmerkung: Ich sollte mich lieber selbst darum kümmern, denn wo es um die Kleine Bonsa geht, kann man Jeekie nicht trauen. Er sagt (unter einigen Entschuldigungen) daß sie magische Kraft besitze, und daß, wenn sie eingeschmolzen würde, auch er zerschmelzen würde, und genauso ich. Wie finster und lächerlich sind doch diese abergläubischen Vorstellungen der Heiden! Vielleicht werde ich das Ding, anstatt es zu zerstören, an ein Museum verkaufen und so die Gefühle jenes schwachen Gefäßes, Jeekie, schonen, der es sich sonst in den Kopf setzen könnte, zu verkümmern und zu sterben, wie es diese Afrikaner häufig tun, wenn ihre Nerven von der Angst vor ihrem Fetisch beherrscht werden.
7
Das Tagebuch
Alan überlegte, daß die Zeit Jeekie in dieser Hinsicht kaum verändert hatte, als er diese Wegekarte mit großer Sorgfalt studierte und feststellte, daß die Route in Alt-Calabar, in der Bucht von Biafra, an der Westküste Afrikas, begann, und von dort aus den Großen Qua-Fluß hinaufführte, dem sie eine weite Strecke folgte. Dann durchquerte sie, nach Norden abbiegend, ein Gebiet, das mit ›dichter Wald‹ be zeichnet war, bis sie auf einen Fluß namens Katsena stieß, an dessen Ufer entlang sie ostwärts führte. Von dort verlief sie wieder in nördlicher Richtung durch große Sümpfe und endete schließlich in einem Gebir ge namens Shaku. In der Mitte dieser Bergwelt stan den die Worte: Das Volk der Asiki lebt hier an den Ufern des Raaba-Flusses. Die Karte war grob maßstabgerecht gezeichnet, und Alan, der als Ingenieur mit solchen Dingen ver traut war, kalkulierte rasch die Entfernung dieses Ra aba-Flusses von Alt-Calabar, die in der Luftlinie etwa 350 Meilen betrug, wenngleich die tatsächlich zu rückzulegende Strecke mindestens 500 Meilen betra gen mußte. Nachdem er sich die Karte eingeprägt hatte, öffnete er das vom Wasser beschädigte Tagebuch. Während er Seite um Seite umblätterte, konnte er nur da und dort einen Satz entziffern, so wie diesen: ... also wies ich diese schöne, doch schreckliche Frau zurück. Ich, ein christlicher Missionar als Gemahl einer heidnischen Prie-
sterin! Welch ein Gedanke! Eher würde ich mich Bonsa zum Opfer bringen lassen. Es folgten einige unleserliche Seiten, und dann konnte er wieder einen kurzen Abschnitt entziffern: Sie gaben mir ›Die Bohne‹ in einem goldenen Becher, und da mir ihre Wirkung bekannt war, bereitete ich mich auf den Tod vor. Doch zu meinem Glück wies mein Magen, der von jeher empfindlich war, das Gift sofort zurück, das mich jedoch für mehrere Tage unpäßlich werden ließ. Woraufhin sie alle in die Hände klatschten und sagten, ich sei offensichtlich unschuldig und ein großer Medizinmann. Und ein Stück weiter: Noch nie hatte ich so viel Gold gesehen, ob als Staub, als Nuggets oder zu irgendwelchen Gegenständen verarbeitet. Es mußte viele Millionen wert sein, denke ich, doch zu jener Zeit war Gold das letzte, womit ich mich belasten wollte. Dieser Eintragung folgten viele absolut unleserliche Seiten. Die letzte lesbare Passage lautete: Also lief ich, geführt von dem Jungen, Jeekie, und mit der Goldmaske, Kleine Bonsa, vor meinem Gesicht, durch die Menge der Asiki, und hielt dabei Jeekie bei der Hand, als ob ich ihn gewaltsam mit mir zerrte. Ich muß einen seltsamen Anblick geboten haben, als ich, in meiner fadenscheinigen Kutte, mit nackten Beinen und mit der Goldmaske, um ihnen als einer der Teufel zu erscheinen, die sie anbeten, im Lichte des Mondes zwischen ihnen hindurch rannte und dabei brüllte wie ein Stier ... Dies war der Beginn meiner entsetzlichen, sechs Monate währenden Reise zur Küste. Abgesehen von der Gnade der Vorsehung, die mich für ihre Zwecke erhielt, hätte ich sie jedoch niemals lebend erreicht, wenn es nicht um die Kleine Bonsa gewesen wäre, da dieser Fetisch, wie ich zu meinem Erstaunen feststellte, über
Hunderte von Meilen bekannt und gefürchtet war, und das von Menschen, die ihn noch nie gesehen hatten – ja, selbst von den wilden Kannibalen. Wo immer er gezeigt wurde, erschienen Nahrung, Träger, Kanus und was immer wir sonst brauchten, wie durch Zauberei. Groß ist der Ruhm des Großen und der Kleinen Bonsa in jenem Teil Afrikas, obwohl die weiter entfernt lebenden Stämme, so seltsam es auch erscheinen mag, sie nur selten bei ihren Namen nennen. Wenn sie von einem der Fetische sprechen, welche nach ihren Vorstellungen Mann und Frau sind, bezeichnen sie sie als den ›Gelben-Gott-der-jenseits-lebt‹. Nicht ein einziges weiteres Wort dieser seltsamen Geschichte konnte Alan entziffern, und so schloß er mit brennenden Augen die stockfleckige und zer fledderte Kladde, und fiel endlich, während der neue Tag bereits zu dämmern begann, in tiefen Schlaf. Gegen elf Uhr dieses Vormittags, da er lange geschla fen hatte, erhob sich Alan vom Frühstückstisch und trat mit seiner Pfeife in die offene Tür der wunderba ren Halle von Yarleys, die, wie die Bibliothek, mit eli sabethanischer Eiche getäfelt war, für die jeder Anti quitätenhändler Hunderte von Pfund auf den Tisch geblättert hätte. Es war ein herrlicher Morgen, einer von jenen, die manchmal im April zu uns nach Eng land kommen, wenn die Luft so lind ist wie die Luft Italiens, wenn der Geruch der Erde wie der Duft von Weihrauch aufsteigt, und kleine Wolken langsam über einen strahlendblauen Himmel segeln. Als er so in der Tür stand, blickte er in den Park hinaus, wo die Ulmen bereits einen Anflug von Grün zeigten und die Eschen pechschwarze Knospen. Nur die Walnuß bäume und die hohen Eichen, manche von ihnen Rie
sen, die tausend Jahre alt waren, boten sich noch in ihrer winterkahlen Nacktheit dar. Alan war in nachdenklicher Stimmung und fragte sich, wie viele seiner Vorväter wohl in den frühen Stun den eines solchen Apriltages an dieser selben Stelle gestanden und gesehen haben mochten, wie jene sel ben Bäume vom Atem des Frühlings erweckt wur den. Nur die Bäume und das Land wußten das, jene Bäume, die bei jedem von ihnen Zeugen ihrer Geburt, ihrer Taufe, ihrer Hochzeit und ihres Begräbnisses gewesen waren. Die Männer und Frauen selbst waren vergessen. Ihre Porträts, die jeden in der Kleidung seiner Epoche zeigten, hingen da und dort an den Wänden des alten Hauses, das sie einst besessen und bewohnt hatten, doch wer erinnerte sich noch an ir gend etwas von ihnen? In vielen Fällen waren sogar ihre Namen verloren gegangen, denn da sie glaubten, daß sie, die in ihrer Zeit so überaus wichtig waren, niemals in Vergessenheit versinken könnten, hatten sie es nicht für nötig gehalten, diese auf ihren Porträts zu verzeichnen. Und jetzt stand das Ende bevor. Wenn es ihm nicht gelingen sollte, irgendeine Lösung zu finden, würde das, was von dem alten Besitz übrig geblieben war – denn die weiter entfernt liegenden Ländereien hatten längst verkauft werden müssen –, unter den Hammer kommen und das Eigentum irgendeines raffgierigen und erfolgreichen Mannes werden, der eine Familie vorweisen wollte und eines kommenden Tages viel leicht behaupten würde, daß die an diesen Wänden hängenden Porträts die seiner eigenen Vorfahren sei en, und er den Besitz gekauft habe, weil er der letzte Sproß eines anderen Zweigs dieser alten und völlig
verarmten Sippe sei. Nun, so war es nun einmal auf dieser Welt, und vielleicht mußte es so sein, doch der Gedanke stimmte Alan tieftraurig. Wenn er bei der Firma hätte bleiben können, würde es vielleicht anders aussehen. Um diese Stunde saßen seine ehemaligen Partner, Sir Robert Aylward und Mr. Champers-Haswell, zwei fellos in ihrem Bürohaus in der Stadt, vielleicht im Gespräch mit Lord Specton, der nun seinen Platz im Vorstand des großen Syndikats eingenommen hatte, dessen Aktien heute auf den Markt kamen. Zweifel los waren Bestellungen für Aktien zuhauf mit der Morgenpost und per Telegramm angekommen, und Mr. Jeffreys meldete respektvoll ihre Anzahl und die entsprechenden Beträge, während Sir Robert unbe teiligt blieb und Mr. Haswell sich die Hände rieb und fröhlich pfiff. Fast mußte er sie beneiden, diese Män ner, die inmitten von Hektik und Aufregung der harten Finanzwelt große Vermögen erwarben, wäh rend er ohne einen Penny vor der Tür stand und zu den Bäumen hinüberstarrte, und zu den Mutterscha fen, die zwischen ihnen ihre Lämmer führten, er, der trotz aller harter Arbeit nur ein Versager war. Mit ei nem Seufzen wandte er sich ab, um seine Mütze zu holen und hinauszugehen – er hatte einen Pächter, mit dem er sprechen mußte, ein unzuverlässiger, un zufriedener Mann, der ständig neue Gebäude und ei nen Nachlaß der Pacht verlangte. Wie sollte er neue Gebäude bezahlen? Er mußte die Forderungen des Mannes abweisen, selbst wenn das zur Aufkündi gung der Pacht führen sollte. In diesem Moment drang ein schrilles Geräusch an sein Ohr, das Läuten einer elektrischen Klingel. Es
kam von dem Telephonapparat, den er in Yarleys hatte installieren lassen, als er in die Londoner Firma eingetreten war – eine für seine Verhältnisse erhebli che Ausgabe –, damit er stets mit dem Londoner Büro in Verbindung war. Rufen sie mich aus alter Ge wohnheit an? fragte er sich. Er trat zu dem Apparat, der an der Wand des kleinen Raumes befestigt war, den er als Arbeitszimmer benutzte, und nahm den Hörer vom Haken. »Wer spricht dort?« fragte er. »Hier ist Yarleys. Alan Vernon.« »Und hier ist Barbara«, lautete die Antwort. »Wie geht es dir, Liebster? Hast du gut geschlafen?« »Nein, sehr schlecht.« »Die Nerven – Alan, du hast schlechte Nerven. Obwohl ich einen schlimmeren Tag hatte als du, bin ich um neun ins Bett gegangen und habe, behütet von einem absolut reinen Gewissen, bis neun Uhr mor gens fest geschlummert, genau zwölf Stunden lang. War es nicht schlau von mir, an dieses Telephon zu denken, das dir sicher nicht eingefallen wäre? Mein Onkel ist nach London gefahren, nachdem er mir ge schworen hatte, daß kein Brief von dir dieses Haus erreichen würde, aber er hat vergessen, daß es hier in jedem Zimmer ein Telephon gibt, und ich spreche in diesem Moment von einem Apparat, der sich unmit telbar neben seinem Arbeitszimmer befindet. Geseg net sei der Mann, der das Telephon erfand, das ich bisher immer für einen furchtbaren Unsinn gehalten habe. Bist du in guter Stimmung, Alan?« »Ganz im Gegenteil«, antwortete er; »ich habe mich noch nie in meinem Leben so deprimiert gefühlt, nicht einmal, als ich glaubte, innerhalb weniger Stun
den am Schwarzwasserfieber sterben zu müssen. Au ßerdem gibt es eine Menge, worüber ich mit dir spre chen muß, und das kann ich nicht am Ende dieses verdammten Drahtes tun, an dem dein Onkel mithö ren mag.« »Ich dachte es mir«, antwortete Barbara, »deshalb habe ich ja angerufen, um dir einen guten Morgen zu wünschen und dir zu sagen, daß ich mit dem Auto mobil zum Mittagessen hinüberkomme – mit meiner Zofe Snell als Anstandswauwau. Kein Widerspruch, ich komme zum Essen hinüber – ich kann dich nicht hören – mir ist es egal, was die Leute reden mögen. Ich bin gegen ein Uhr dort, also sei gefälligst zu Hau se. Bis dann! Ich mag nicht viel essen, aber laß etwas für Snell und den Chauffeur vorbereiten. Auf Wie dersehen.« Dann war die Leitung tot und alles »Hallo!« und »Bist du noch da?« von Alan vermochte ihm nicht ei ne Silbe zu entlocken. Nachdem er das beste Mittagessen geordert hatte, das seine alte Haushälterin zustande bringen konnte, verließ Alan das Haus in weitaus besserer Stimmung, die noch weiter gehoben wurde, als es ihm gelang, den Pächter zu überreden, noch ein Jahr ohne neue Gebäude zurechtzukommen. In einem Jahr, überlegte er, konnte alles mögliche geschehen. Dann kehrte er zum Hause zurück, auf einem Weg, der durch den Wald führte, wo mehrere frisch gefällte Eichen darauf warteten, entrindet zu werden. Es war dies kein er hebender Anblick; es schien so grausam, die mächti gen Bäume in dem Moment zu töten, da sie gerade ihre Knospen für einen neuen Lebenssommer durch die Rinde schoben. Doch tröstete er sich damit, daß
sie wirklich zu eng gestanden hatten und das Holz dringend gebraucht wurde. Als er zum Haus zurückkam, mit einem Strauße weißer Veilchen, die er an einer geschützten Stelle für Barbara gepflückt hatte, entdeckte er ein Automobil, das mit erheblich mehr als zulässiger Geschwindig keit die Walnuß-Allee entlangfuhr, die sein ganzer Stolz war. In ihm saßen jene junge Lady und ihre Zo fe, Snell, eine Frau mittleren Alters, mit der er auf be sonders gutem Fuße stand, da er einmal Gelegenheit gehabt hatte, ihr unter einigen Schwierigkeiten für sich selbst behilflich zu sein. Das Automobil hielt vor der Vordertür, und Barba ra sprang heraus, fröhlich lachend und so frisch und blühend anzusehen wie der Frühling selbst. »Das wird einen Skandal geben, Liebling«, sagte Alan und schüttelte den Kopf, als sie endlich allein in der Halle waren. »Natürlich wird es einen Skandal geben«, antwor tete sie. »Ich will, daß es einen Skandal gibt. Ich will, daß es jeden Tag einen Skandal gibt, wenn das not wendig sein sollte, bis sie mich in Ruhe meines We ges gehen lassen, und wenn sie es nicht tun, werde ich, wie bereits angekündigt, vor Gericht gehen und es um Schutz bitten. Oh! Ich habe dir ein Exemplar des Judge mitgebracht. Das Blatt bringt einen absolut vernichtenden Artikel über dieses Sahara-Syndikat, in dem sie auch erwähnen, daß du die Firma verlassen hättest, und dir dazu sehr herzlich gratulieren.« »Die beiden werden annehmen, daß ich ihn lanciert habe«, stöhnte Alan, als er einen Blick auf die Über schriften warf, deren scharfe Formulierung fast belei digend war, und auf die Zusammenfassung der fi
nanziellen Karrieren von Sir Robert Aylward und Mr. Champers-Haswell. »Dafür werden sie mich noch mehr hassen, und ich sage dir, Barbara, daß wir nicht zwei Jahre lang in einer Atmosphäre ständigen Kleinkrieges leben können.« »Ich kann es, wenn es nötig sein sollte«, antwortete diese entschlossene, junge Frau. »Aber ich sehe ein, daß es für dich sehr belastend werden könnte, wenn du hierbleibst.« »Darum geht es ja, Barbara. Ich kann nicht hier bleiben; ich muß fortgehen, und je weiter fort, desto besser, bis du deine eigene Herrin bist.« »Wohin, Alan?« »Nach Westafrika, denke ich.« »Nach Westafrika?« wiederholte Barbara mit ein wenig zitternder Stimme. »Um nach jenem Schatz zu suchen, Alan?« »Ja, Barbara. Aber jetzt iß erst einmal, dann werden wir darüber reden. Es gibt vieles, das ich dir sagen und zeigen muß.« Also aßen sie und sprachen dabei von anderen Dingen, da das Hausmädchen dabei war und sie be diente. Als sie gerade fertig waren, trat Jeekie ins Zimmer, mit einer Kiste und einem großen Briefum schlag, die durch Boten von dem Londoner Büro an Alan geschickt worden waren. »Was ist in der Kiste?« fragte Alan und blickte ein wenig nervös auf den Umschlag, dessen Adresse in einer ihm bekannten Handschrift geschrieben war. »Ich bin nicht sicher, Major«, antwortete Jeekie, »doch ich glaube, Kleine Bonsa; ich denke, daß ich sie durch das Holz riechen kann. Die Kleine Bonsa hat immer einen süßen Duft.«
»Dann sieh nach!« sagte Alan, während er das Sie gel des Umschlages erbrach und seinen Inhalt her auszog. Er bestand aus verschiedenen Schriftstücken, die von den Anwälten der Firma ausgestellt waren, darunter eines, das die Auflösung der Partnerschaft formell bestätigte und von ihm abgezeichnet werden mußte, bevor es in der Gazette erscheinen konnte, so wie ein zweites, durch das die Hypothek auf Yarleys in Höhe von fünfzehntausend und einigen Pfund zu rückgefordert wurde, welche von der Firma über nommen worden war, als er den Partnerschaftsver trag abgeschlossen hatte; außerdem eine Zusammen stellung verschiedener Beträge, deren Aufrechnung einen geringen Betrag zu seinen Ungunsten auswies, und schließlich eine von ihm zu unterzeichnende Quittung über die Rückgabe des Goldfetischs, der sein Eigentum sei und ebenfalls abgeliefert werden würde. »Sieh dir das an!« sagte Alan seufzend und schob Barbara die Papiere zu, die sie sorgfältig, eins nach dem anderen, las. »Ich verstehe«, sagte sie dann. »Es herrscht also Krieg bis aufs Messer. Alan, mir gefällt diese Vor stellung ganz und gar nicht, und vielleicht wäre es besser, wenn du fortgehen würdest. Solange du hier bist, werden sie dir das Leben zur Hölle machen.« Währenddessen hatte Jeekie mit einem großen Ta schenmesser und unter Zuhilfenahme des Schürei sens aus dem Kamin den Deckel von der Kiste ge stemmt. Barbara, die zufällig in seine Richtung blick te, sah, daß er auf den Knien lag und den Kopf beug te, bis die Stirn das Objekt berührte, das sich in der Kiste befand, wobei er etwas in einer unverständli
chen Sprache murmelte. »Was tust du da, Jeekie?« fragte sie ihn. »Ich verneige mich vor der Kleinen Bonsa, Miss Barbara, sage ihr, wie froh ich bin, daß sie aus der Stadt zurückgekehrt ist. Sie mag es, wenn man sie willkommen heißt. Jetzt müssen Sie herkommen und sich auch verbeugen. Die Kleine Bonsa wird das als Kompliment auffassen.« »Ich werde mich nicht verbeugen, aber ich werde sie mir ansehen, Jeekie, denn obwohl ich schon so viel von diesem Gelben Gott gehört habe, hatte ich noch keine Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten.« »Sehr gut. Kommen Sie her und sehen Sie die Klei ne Bonsa an, Miss!« Mit diesen Worten kantete Jeekie die Kiste an ein Bein des Eßtisches. Da Barbara von oben kaum etwas erkennen konnte, kniete sie sich auf den Boden, um besser sehen zu können. »Gütiger Himmel!« rief sie. »Was für ein furchtba res Gesicht – doch auch schön, auf seine Art.« Kaum waren die Worte von ihren Lippen, als aus irgendeinem unerklärlichen Grund, der wahrschein lich mit der Verlagerung des Schwerpunktes zu tun hatte, die Kleine Bonsa plötzlich aus ihrer Kiste zu gleiten oder zu fallen schien. Und sie schnellte sich direkt auf Barbara zu, die einen kleinen Schrei aus stieß und aus Furcht, daß das wertvolle Stück be schädigt werden könnte, die Maske mit ihren Armen auffing und für einen Moment an ihre Brust drückte. »Gerettet!« rief sie, erhob sich und stellte sie auf den Tisch, woraufhin Jeekie zu ihrer Verwunderung eine Art Kriegstanz aufzuführen begann. »O ja«, sagte er, »gerettet, sehr gerettet! Alles ist ge rettet! Dies ist ein wunderbares Omen. Die Lady kniet
vor Kleine Bonsa, und Kleine Bonsa springt aus Kiste, verneigt sich und hüpft in Ladys Arme. Das ist gro ßes, erstklassiges Glück für die Lady und alle ande ren. Wenn Kleine Bonsa das tut, hat man nichts mehr zu fürchten. Alles wird klar wie Sonnenschein.« »Unsinn«, sagte Barbara lachend. Dann setzte sie aus sicherer Entfernung die Betrachtung des Fetischs fort. »Sehen Sie hier!« sagte Jeekie und deutete auf die mißgestalteten winzigen Beine, die dennoch so ge formt waren, daß die Figur auf ihnen stand. »Wenn jemand Kleine Bonsa trägt, bindet er sie sich vor das Gesicht; sehen Sie, hier an den Beinen sind noch die selben, alten Lederriemchen. Jetzt werde ich sie auf setzen, denn sie mag wieder einmal getragen wer den.« Mit einer raschen Bewegung drückte er sich die Maske vors Gesicht und verknotete die fettigen, alten Lederstreifen hinter dem Kopf. So angetan wirkte der riesige Neger wahrhaft furchterregend. »Ich kann Sie sehen, Miss«, sagte er und richtete die aus opalartigen Steinen bestehenden Augen, die durch winzige Rubine wie blutunterlaufen wirkten, auf Barbara. »Ich sehe Sie, und Sie können mich nicht sehen, da diese Augen sehr schlau gemacht sind. Aber hören Sie, denn Sie können mich hören.« Und plötzlich ertönte aus der Maske, hervorgerufen durch eine darin verborgene Einrichtung, ein lautes Pfeifen, das sie erschauern ließ. »Nimm das Ding sofort wieder ab, Jeekie!« sagte Alan. »Wir wollen keine Banshees* hier haben!« »Banshees? Die kenne ich nicht, das sind vielleicht * Todesfeen – Anm. d. Übers.
armselige englische Fetische«, sagte Jeekie, während er die Maske ablegte. »Sie ist ein wirklicher, afrikani scher Gott, der alle Banshees und solches Gelichter fortpfeift. Dies ist die Kleine Bonsa, zehntausend Jah re alt oder mehr, hat viele Leben aufgegessen, so vie le, daß niemand sie zählen kann, und sie wird fort fahren, Leben zu essen, für immer und ewig, ja, bis in die dreißigste oder vierzigste Generation, wie die zehn Gebote es niederlegen zunutzen eines christli chen Menschen wie mich. Blicken Sie sie noch einmal an, Miss Barbara!« Barbara nahm das häßliche, uralte Ding in die Hände und studierte es eingehend. Niemand konnte das hohe Alter dieser Maske anzweifeln, denn das Goldblech, aus dem sie bestand, war regelrecht abge scheuert an den Stellen, wo sie die Stirnen der Hohe priester oder -priesterinnen berührt hatte, von denen sie bei festlichen Gelegenheiten oder bei Opferungen getragen worden war, was bewies, daß Hunderte und Aberhunderte sie nacheinander auf diese Weise be nutzt hatten. Das gleiche galt auch für die pfeifenarti ge Einrichtung im Mund der Maske und für die win zigen, krötenartigen Füße, auf denen sie stand. Und die Oberfläche des Goldes war außerdem da und dort verätzt, wie von Säuren oder Salzen, doch wagte sie nicht zu fragen, was für Salze das gewesen sein mochten. Dennoch war dieses Objekt von einer sol chen Kunstfertigkeit, daß das zernarbte, schöne Ge sicht der Kleinen Bonsa sie immer noch mit demsel ben teuflischen Lächeln anblickte, das sie getragen hatte, als sie die Hände ihres Schöpfers verließ, wahr scheinlich lange bevor Mohammed seinen heiligen Krieg ausrief, oder noch viel früher.
»Was bedeutet diese Inschrift?« fragte Barbara und deutete auf lange Reihen runenartiger Buchstaben auf der Innenseite der Maske. »Das weiß ich nicht, Miss; ich glaube, das ist eine tote Sprache, und die Worte wurden zu Anbeginn der Zeit eingeritzt, als schwarze Menschen schreiben konnten. Aber die Asiki-Priester schwören, daß sie jeden einzelnen Buchstaben in ihrer Erinnerung ha ben, und das ist der Grund dafür, weshalb niemand die Kleine Bonsa kopieren kann, denn sie sehen nur hinein und erkennen, ob die Zeichen richtig sind. Sie sagen, es sind die Namen all jener, die für die Kleine Bonsa sterben müssen, und wenn sie damit fertig ist, beginnt sie von vorn, denn die Kleine Bonsa stirbt nie. Aber vielleicht lügen die Priester.« »Das denke ich auch«, sagte Barbara, »aber jetzt bring die Kleine Bonsa fort, denn so glückbringend sie auch sein mag, mich macht sie nervös!« »Wohin soll ich sie bringen, Major?« fragte Jeekie, an Alan gewandt. »In die Kiste in der Bibliothek, wo sie bisher gewohnt hat? Oder in den Silberschrank, zu den Löffeln? Oder unter Ihr Bett, wo Sie sie immer in der Nähe haben?« »Oh! Leg sie zu den Löffeln!« sagte Alan irritiert, und Jeekie zog mit seinem Schatz ab. »Ich glaube, Alan«, sagte Barbara, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, »wenn ich wieder ein mal zum Essen hierher komme, werde ich mein Taufgeschenk mitbringen, denn ich kann nicht mit einem Besteck essen, das neben diesem blutbesudel ten Ding gelegen hat. Doch jetzt wollen wir zur Sache kommen: zeig mir das Tagebuch und die Landkarte!«
Liebster Alan, schrieb Barbara zwei Tage später von ›The Court‹, ich habe alles gründlich durchdacht, und da Du so darauf versessen bist, halte ich es für das beste, wenn Du nach Afrika gehst. Mir erscheint dieses Abenteuer zwar als absoluter Wahnsinn, aber ich vertraue auf unser Glück, oder, besser gesagt, auf die Vorsehung, die über uns wacht, und deshalb glaube ich nicht, daß Du, oder auch ich, zu Schaden kommen werden. Wenn Du hier bleibst, drückt es Dir das Herz ab, und jede Kommunikation zwischen uns wird zunehmend schwieriger werden. Mein Onkel ist furchtbar wütend auf Dich, und seit er entdeckt hat, daß wir über das Telephon miteinander sprechen, hat er die Drähte außerhalb des Hauses durchschneiden lassen, obwohl das für ihn erhebliche Nachteile mit sich bringt. Sein beleidigender Brief an Dich, in dem er sagt, du hättest mich ›kompromittiert‹, um Deine ›habgierigen Ziele‹ zu erreichen, geht in dieselbe Richtung. Wie also kannst Du hierbleiben und solche Angriffe über Dich ergehen lassen? Ich habe wieder meinen Freund, den Rechtsanwalt, aufgesucht, und er hat mir erklärt, daß wir selbstverständlich sofort heiraten könnten, wenn wir das wollten, doch sei das Testament meines Vaters, das er im Somerset House eingesehen hat, in diesem Punkt absolut klar, und ich würde, wenn ich es gegen den Willen meines Onkels täte, alles verlieren, bis auf eine Rente von zweihundert Pfund pro Jahr. Ich bin wirklich nicht geldgierig, aber ich will meinem Onkel nicht den Triumph gönnen, mich meines Vermögens beraubt zu haben, das uns irgendwann nützlich sein könnte. Der Anwalt erklärte mir auch, daß das Gericht keine Möglichkeit zum Eingreifen habe, so weit es das Testament meines Vaters betrifft, und auch nicht die Vormundschaft über einen Menschen wie mich
übernehmen könne, da ich volljährig sei und den Schutz der normalen Gesetze des Landes genieße. Es scheint also, als ob wir nichts anderes tun können, als uns in Geduld zu üben und zu warten, bis die Zeit den Knoten lösen wird. Falls Du währenddessen in Afrika zu etwas Geld kommen kannst, um so besser. Also geh, Alan, geh, so bald Du es willst, denn ich möchte Dich nicht länger dieser Agonie ausgesetzt wissen, und Dich Tag um Tag unter all dem leiden zu sehen, was Du zu ertragen hast. Wann immer Du zurückkehren magst, wirst Du mich hier auf Dich wartend finden, und auch wenn Du nicht zurückkehren solltest, werde ich warten, so wie Du in den gleichen Umständen auf mich warten würdest. Doch glaube ich fest daran, daß Du zurückkehren wirst. Dann folgte vieles, das nicht hätte geschrieben wer den müssen, und am Ende des Briefes stand ein Post scriptum, welches lautete: Ich war so froh, als ich hörte, daß es Dir gelungen ist, die Hypothek auf Yarleys umzuschulden, obwohl die Zinsen so hoch sind. Schreib mir, wann immer Du Gelegenheit dazu findest, an die Adresse des Anwalts, denn dann werden Deine Briefe mich erreichen, doch niemals an dieses Haus, denn hier würden sie unterschlagen werden. Ich werde dir ebenfalls schreiben, an die Adresse, die Du mir angibst. Lebwohl, mein geliebter Alan, meine wahre und einzige Liebe. Ich frage mich, wann und wo wir uns wiedersehen werden. Gott sei mit uns beiden und stärke uns, auf daß wir unser Schicksal ertragen können. P.P.S. – Ich hörte, daß die Gründung der Sahara, Li-
mited, wirklich ein Erfolg war, trotz der Angriffe des Judge. Sir Robert und mein Onkel haben dabei Millionen gemacht. Ich frage mich, wie lange sie sie behalten werden. Eine Woche, nachdem Alan diesen Brief erhalten hatte, war er auf See, mit Kurs auf die Küste von Westafrika.
8
Das Zwergenvolk
Endlich dämmerte der Morgen. Während der ganzen Nacht hatte es geregnet, so wie es in Westafrika manchmal regnen kann, und unvorstellbare Wasser massen waren mit einem zischenden Rauschen, mo noton und unaufhörlich in den weiten Fluß gepras selt. Jetzt, gegen Morgen, hatte der Regen aufgehört, und überall stieg ein sanfter, perlfarbener Nebel schleier auf, der über dem Wasser schwebte und sich wie Wollfäden um das Gezweig der am Flußufer ste henden Bäume wand. Auf einer kleinen Lichtung, die von Buschwerk freigeschlagen worden war, stand ein Zelt, und aus diesem Zelt erschien jetzt ein weißer Mann, der einen Tropenhelm, ein graues Flanellhemd und ebensolche Hosen trug. Es war Alan Vernon, der in dieser Umgebung größer und männlicher wirkte als in seinem Londoner Büro und selbst auf seinem eigenen Besitz, Yarleys. Vielleicht hatten der Schnurrbart und der braune Kinnbart, die er sich hatte wachsen lassen, etwas mit seinem veränderten Aussehen zu tun, oder seine durch die Tropen bereits gegerbte und gebräunte Haut. Doch auch seine Hal tung war anders geworden, aus der nun jede Unsi cherheit verschwunden war. Sie war jetzt die eines Mannes, der ans Befehlen gewohnt ist und seinen Platz im Leben gefunden hat. »Jeekie«, rief er, »weck diese Burschen auf und zünde den Petroleumkocher an! Ich will meinen Kaf fee.«
Worauf eine tiefe Stimme zu hören war, die in einer Eingeborenensprache rief: »Hört auf zu schnarchen, ihr schwarzen Ferkel, und auf die Beine, denn euer Herr ruft euch!« Ein Befehl, dem die Geräusche von Fußtritten und Stößen und leise Flüche folgten. Kurz darauf erschien Jeekie selbst, und auch er war stark verändert, denn nun trug er anstatt seiner ele ganten europäischen Kleidung eine lange, weiße Ro be und Sandalen, was ihm ein würdiges und patriar chalisches Aussehen verlieh. »Guten Morgen, Major«, sagte er fröhlich. »Ich hof fe, Sie haben gut geschlafen, Major, trotz dieser sehr unpassenden, fluchwürdigen Situation, was mehr wäre, als wir getan haben in einem Boot, das halb voll Wasser ist, gar nicht zu reden von dem Geruch der Schwarzen und den vielen Moskitos. Aber der Regen ist jetzt aus und vorbei, und gleich wird die Sonne hervorkommen, also könnte es viel schlimmer sein, und wir können uns nicht beklagen.« »Ich weiß nicht«, antwortete Alan mit einem Er schauern. »Ich nehme an, daß ich gegen das Fieber gefeit bin, denn sonst hätte ich es in dieser Nacht be stimmt erwischt, und – gib mir das Chinin; ich will sicherheitshalber fünf Grains davon nehmen.« »Ja, ja, sicherheitshalber«, antwortete Jeekie, öffnete die Medizinkiste und nahm das Chinin, während er verstohlen in das Gesicht seines Herrn blickte, denn er wußte, daß der Ort, an dem sie geschlafen hatten, zu dieser Jahreszeit für einen weißen Mann tödlich sein konnte. »Sie haben kein Fieber erwischt – Kleine Bonsa« – hier senkte er die Stimme und blickte auf einen kleinen Kasten, der Alan als Kopfkissen gedient hatte – »hat dafür gesorgt. Aber Chinin gibt Ihnen
Appetit auf das Frühstück. Sehr guter Chop heute morgen. Was mögen Sie lieber? Kalten Wildbraten, oder Fisch, oder eine von den Enten, die Sie gestern geschossen haben?« »Oh! Etwas von dem kalten Fleisch, denke ich. Gib die Enten den Bootsleuten; ich mag sie bei dieser Hit ze nicht. Übrigens, Jeekie, dies ist die Stelle, wo wir den Qua-Fluß verlassen, nicht wahr?« »Ja, ja, Major, genau hier. Ich erinnere mich gut an diese Stelle, weil Ihr Onkel damals eine ganze Stunde lang am Ufer gebetet hat; ich habe auch so getan, als ob ich betete, doch in meinem Herzen habe ich der Kleinen Bonsa gedankt, denn ich war noch Heide zu jener Zeit; kein guter Christ wie jetzt. Heute früh be ginnen wir mit dem Marsch durch den Wald, wo es ziemlich dunkel und kühl und angenehm ist, das heißt, falls wir keine Zwergleute treffen, vor denen uns der Herr bewahren möge.« Damit verneigte er sich vor dem Kasten, welcher die Kleine Bonsa ent hielt. »Werden die vier Träger mit uns durch den Wald gehen, wie sie es versprochen haben, Jeekie?« »Ja, ja, sie kommen mit. Gestern abend sagten sie zwar, daß sie nicht mitkommen wollen, weil sie zu viel Angst vor den Zwergen haben. Aber ich habe sie gründlich zurechtgestaucht. Ich habe ihnen eingere det, daß ich ihnen im Schlaf kleine Stücke von ihren Haaren und ihren Zehennägel abgeschnitten und die se mit einer starken Medizin vermischt hätte, und wenn sie nicht mitkämen, würde jeder einzelne von ihnen sterben, bevor er seinen Kraal erreicht, und da sie mich für einen großen Medizinmann halten, ha ben sie mir geglaubt. Vielleicht werden ein paar von
ihnen sterben, wenn sie mit uns gehen. Wenn dem so sein sollte, sage ich ihnen, das käme allein von ihren geheimen Gedanken, doch wegzulaufen, und dann halten sie mich für einen noch größeren Medizin mann. Oh! Sie kommen mit, sie kommen mit, keine Angst! Und hier ist Ihr Kaffee, Major. Trinken Sie ihn heiß, bevor Sie Ihr Bad nehmen, aber bleiben Sie im flachen Wasser, weil die Krokodile hier Frühaufsteher sind.« Alan lachte und ging zum Fluß, um ›sein Bad zu nehmen‹. Trotz der Moskitos, die ihn in dichten Wol ken umschwirrten, empfand er das Wasser als kühl und angenehm im Vergleich zu der heißen, stickigen Luft, und es schien die Mattigkeit nach der unruhig verbrachten Nacht zu vertreiben. Ein Monat war vergangen, seit sie Alt-Calabar verlassen hatten, und durch fast ununterbrochene Regenfälle war die Reise sehr schwierig gewesen. Die weißen Männer, die er in der Stadt traf, hatten ihn für verrückt gehalten, daß er in dieser Jahreszeit versu chen wollte, den Fluß hinaufzufahren. Natürlich hatte er ihnen nichts von dem Zweck seiner Expedition ge sagt, sondern nur nebenher erwähnt, daß er das Land erforschen und jagen wolle, und vielleicht nach Bo denschätzen suchen. Doch da sie wußten, daß er ein Ingenieuroffizier mit langjähriger Afrika-Erfahrung war, gelangten sie bald zu dem Schluß, daß er in ir gendeiner geheimen Regierungsmission unterwegs war, über die er nicht reden wollte. Diese Vermutung, der Jeekie hinter seinem Rücken kräftig Nahrung gab, wirkten sich für Alan sogar günstig aus, und es war ihr zu verdanken, daß er Bootsleute und Träger zu einer Jahreszeit anwerben konnte, in der er sie, hätte
man ihn lediglich für einen privaten Reisenden ge halten, nicht für viel Geld und gute Worte bekommen hätte. Seitdem war seine Reise eine lange Geschichte von Schlamm, Moskitos und Schinderei gewesen, doch auch ohne ernsthafte Zwischenfälle, wenn man davon absah, daß einer seiner Bootsmänner von ei nem Krokodil gefressen wurde, das ein besonderer ›Frühaufsteher‹ gewesen war, denn es hatte den ar men Burschen aus dem Boot gezogen, in dem er wäh rend der Nacht schlief. Nun aber begannen die wirk lichen Gefahren, da er an dieser Stelle den großen Fluß verließ und zu Fuß den Wald durchqueren mußte, begleitet von Jeekie und vier Trägern, die er teuer hatte bezahlen müssen, um sie zum Mitkom men zu bewegen. Er konnte sich nicht verhehlen, daß sein Unter nehmen ziemlich gewagt war. Doch davon stand nichts in dem langen Brief, den er in der vergangenen Nacht an Barbara geschrieben und seufzend versie gelt hatte, da er sehr wohl der letzte sein mochte, den sie jemals von ihm erhalten würde, falls die Boots leute heil nach Calabar zurückkehren und daran den ken sollten, ihn zur Post zu geben. Das Unternehmen hatte begonnen und mußte durchgeführt werden, bis zu seinem erfolgreichen Ende – oder bis zum Tode. Eine Stunde später brachen sie auf. Alan übernahm die Führung der kleinen Expedition; er trug ein dop pelläufiges Gewehr, das sowohl Kugeln als auch Schrot verschießen konnte, etwa fünfzig Patronen in Messinghülsen, die sie vor Feuchtigkeit schützten, ei nen Revolver, ein Jagdmesser, einen Regenmantel, und schließlich, auf den Rücken geschnallt wie einen Rucksack, den Blechkasten mit dem Fetisch, Kleine
Bonsa, der zu kostbar war, als daß er ihn jemand an ders hätte anvertrauen wollen. Es war dies eine ziemlich schwere Last für einen weißen Mann in die sem Klima, doch da Alan eine drahtige Figur hatte, spürte er ihr Gewicht kaum, zumindest zu Anfang. Ihm folgten, hintereinander, die vier Träger, bela den mit einem kleinen Zelt, Nahrungsmittelkonser ven und Brandy, Munition, einer Kiste mit Glasper len, Uhren etcetera als Geschenke, Decken, Reserve kleidung, und so weiter. Es waren kräftige Burschen, die den Wald kannten, doch ihre düsteren Gesichter verrieten, daß sie jetzt, da sie mit seinen Gefahren di rekt konfrontiert wurden, sich nichts sehnlicher wünschten, als irgendwoanders zu sein. Unmittelbar vor dem Aufbruch hatten sie trotz ihrer Angst vor Jeekies Medizin im letzten Moment ihre Lasten ab geworfen und versucht, zu dem ablegenden Boot zu fliehen, was jedoch von Jeekie vereitelt wurde, der mit so etwas gerechnet und am Ufer mit einer Schrot flinte auf sie gewartet hatte. Und er war dort stehen geblieben, bis das Kanu zu weit vom Ufer entfernt war, um es schwimmend erreichen zu können. Dann hatte er sie gefragt, ob sie lieber hier bleiben und ver hungern wollten, in der Gesellschaft der Teufel, die er ihnen zur Unterhaltung zurücklassen würde, oder ob sie wie ehrliche Männer zu ihrem Wort stehen wür den. Das Ende davon war, daß sie ihre Lasten wieder aufnahmen und losmarschierten, während hinter ih nen der riesige, schreckliche Jeekie folgte, beide Häh ne seiner Schrotflinte gespannt, die er gelegentlich dazu benutzte, sie ihnen ermunternd in den Rücken zu stoßen. Er war wahrlich eine abenteuerliche Er
scheinung, denn außer den Waffen, von denen er starrte, war er mit mehreren Kochtöpfen behängt, ganz zu schweigen von einer Kork-Matratze und ei ner wasserdichten Stoffbahn, die zu einem Bündel ge rollt auf seine Schultern gebunden waren, einem Ka sten, der Medizin und Nahrung enthielt, den er auf dem Kopf trug, und drauf befestigt, wie ein Helm auf einem Sarg, thronte ein riesiger Tropenhelm, der mit einem Moskitonetz vollgestopft war, dessen Zipfel herabfielen wie ein grüner Schleier. Als Alan ihm wegen der Kork-Matratze Vorhaltungen machte und ihm riet, sie wegzuwerfen, da es ihn unnötig erhitze, sie zu tragen, erwiderte er, daß er in England dreißig Jahre lang gefroren habe und es jetzt endlich wieder warm haben wolle. Da Alan vermutete, daß der wah re Grund für seine Weigerung, sich davon zu tren nen, darin lag, daß er seinen Herrn davor bewahren wollte, auf dem feuchten Boden zu liegen, sagte er nichts mehr darüber, was, wie man noch sehen wird, Jeekie zum Glück gereichen sollte. Für eine Meile oder mehr führte ihr Weg durch ein Dickicht phantastisch geformter Mangroven, die im Schlamm wurzelten und in dem Nebel wie pflanzli che Polypen wirkten, die mit ihren vielen Beinen nach Nahrung gruben, und hohem Schilfrohr, auf dem Schwärme zwitschernder Finken saßen. Dann, gerade als die Sonne strahlend über den Horizont stieg, sie mit ihren Strahlen aufmunterte und die Feuchtigkeit aufsog, erreichten sie ein Terrain, das mit spärlichem Buschwerk bestanden war, zwischen dem da und dort Palmen und große Baumwollbäume wuchsen, und gelangten schließlich zum Rande des gewaltigen Waldes.
Oh! Dunkel, dunkel war es in jenem Walde; wenn man aus dem strahlenden Sonnenlicht in ihn hinein trat, hatte man das Gefühl, plötzlich und ohne jede Vorwarnung aus dem hellen Tag, wie wir ihn ken nen, in den Hades geraten zu sein, wie die griechi sche Mythologie ihn darstellt, wo kraftlose Geister ziellos umherirren und das verlorene Licht beklagen. Überall waren die Stämme gewaltiger Bäume, die astlos kirchturmhoch gen Himmel ragten, riesige Bäume mit gerippten Wurzeln, und unterhalb von ihnen befand sich ein Dickicht hungriger, wuchern der Schlingpflanzen. Wo ein Baum im Laufe des letzten Jahrhunderts zu Boden gestürzt war, wurde er von einer dicken Schicht dieser Lianen bedeckt, deren Ranken oft den Umfang eines menschlichen Körpers aufwiesen, und die das Licht tranken, das wie durch einen Schacht auf sie herabfiel, es tranken, bevor die Äste die Lücke wieder schließen und sie aushungern würden. Wo kein Baum herausgebrochen war, blie ben diese Schlingpflanzen dünn und schwächlich; von Jahr zu Jahr kümmerten sie so dahin, auf ihre Chance wartend, doch sie lebten und harrten darauf, daß sie eines Tages kommen würde. Und sie kam immer für diese erwartungsvollen Parasiten, da im mer wieder, irgendwo in der Tiefe des Waldes, viel leicht viele Meilen entfernt, ein lautes Krachen durch die Stille hallte, das Stürzen eines Baums, der aus ei nem Samenkorn entsprossen war, als noch die Sach sen über England herrschten, oder vielleicht bevor Kleopatra Antonius verführte, und der nun sein Ende fand. Am zweiten Tag ihres Marsches durch diesen Wald wurde Alan zufällig Zeuge, als ein solcher Baum um
stürzte, und es war ein Anblick, den er niemals ver gessen können würde. Durch die immense Ausdeh nung seines Geästes, das alle unterhalb von ihm wachsenden Rivalen getötet hatte – denn er war ein sehr erfolgreicher Baum gewesen, der von seinem Vorfahr eine robuste Konstitution geerbt hatte – stand er jetzt irgendwie isoliert, so daß sein gewaltiger Stamm, der aus einer kleinen Erhebung wuchs, und das dichte Grün seiner weit ausladenden Äste eine Art Richtpunkt für die sechs Menschen bildete, die auf ihn zumarschierten wie Ameisen auf einen Schößling in einem Kornfeld zu. Dann, in der heißen Mittagssonne, als kein Luftzug sich regte, kam plötz lich das Ende. Plötzlich schien sein mächtiger Stamm zu erzittern; plötzlich wurden diese weit ausladenden Äste durcheinandergeworfen, als sie ihren Halt verlo ren, nacheinander griffen wie lebende Wesen, die Luft peitschten, in ihrem letzten Kampf aufschrien; und dann sank der Baum mit einem entsetzlichen, ächzenden Stöhnen und krachte zu Boden. Es war wieder still, und durch diese Stille hörte man Jeekies fröhliche Stimme: »Der alte Baum ist umgekippt! Schön, daß er nicht auf uns gekippt ist, dank der Kleinen Bonsa. Mach weiter, du fauler Nig ger-Hund! Wirst du dafür bezahlt, herumzustehen und zu gaffen? Geh weiter, oder ich blase dir deinen häßlichen Kopf von den Schultern!« Und er stieß die Mündungen der doppelläufigen Schrotflinte in den Rücken des armen verängstigten Trägers. So sah der Wald aus. Über die ersten vier Tage ih res Marsches durch diesen Wald gibt es nichts zu be richten. Er schien ohne jedes Leben, obwohl sie hin und wieder das Schreien von Pagageien aus dem
hundert Fuß über ihnen liegenden Geäst der Bäume hörten oder die vagen Schatten von Affen sahen, die sich dort von Ast zu Ast schwangen. Das war wäh rend des Tages, wenn sie die Sonne zwar nicht sehen konnten, aber wußten, daß sie irgendwo über ihnen schien. Doch während der Nacht hörten sie nichts, da Raubtiere nicht in Gebiete kommen, in denen sie kei ne Beute finden. Was Alan verwunderte, war der Umstand, daß durch diese undurchdringliche Wild nis ein klar erkennbarer Weg führte, dem sie folgten. Rechts und links von ihnen erhoben sich undurch dringliche Wände von Schlingpflanzen, doch zwi schen diesen verlief der Weg, ein sehr alter Weg, denn nichts wuchs auf ihm; und er wich nur selten von seiner Richtung ab, um einen Bogen um einen der mächtigsten Bäume zu schlagen, die seit undenk lichen Zeiten dort gestanden haben mußten, Bäume wie jener, den sie hatten umstürzen sehen. Er fragte Jeekie, wer den Weg angelegt hätte. »Menschen, die aus Noahs Arche gekommen sind«, antwortete Jeekie. »Ich denke, sie sind hierhergelau fen, um dem Wasser zu entkommen, und haben zwei Elefanten vorausgeschickt, die den Weg trampeln mußten. Oder vielleicht hat das Zwergenvolk ihn gemacht. Oder vielleicht Leute, die nach Asiki-Land gehen, um Opfer darzubringen, wie die alten Juden.« »Mit anderen Worten, du weißt es nicht«, sagte Alan. »Nein, natürlich weiß ich es nicht. Wer weiß schon etwas über einen Weg durch den Wald, der vor dem Beginn der Zeit gemacht wurde? Sie stellen Fragen, Major, ich antworte. Es war doch eine lustigere Ant wort, als nur den Kopf zu schütteln und die Augen
zu rollen, wie diese dummen Esel von Trägern.« Es war in der vierten Nacht, daß die Schwierigkei ten begannen. Wie üblich hatten sie ein riesiges Feuer aus abgefallenen Ästen und faulenden Baumstämmen entfacht, von denen viele auf dem Boden lagen. Es gab keinen Grund dafür, ein so großes Feuer zu ma chen, da sie wenig zu kochen hatten und die Luft heiß war, doch sie machten es so groß aus demselben Grunde, aus dem Jeekie Fragen beantwortete, auch wenn er nichts wußte: weil es lustiger war. Zumin dest gab es Licht im Dunkel, als Flammenzungen zwanzig oder dreißig Fuß hoch in die Luft schossen, und sein Prasseln war ein willkommenes Geräusch in der uralten Stille. Alan lag auf der Korkmatratze im Freien, denn es war unnötig, das Zelt aufzuschlagen; falls es regnen sollte, würde das dichte Blätterdach sie schützen. Während er seine Pfeife rauchte, amüsierte er sich damit, das zuckende Licht der Flammen an einer be sonders dunklen Stelle zu beobachten, deren Schwär ze wahrscheinlich von einem etwa zwanzig Fuß ent fernt stehenden Gebüsch hervorgerufen wurde, und plötzlich glaubte er, dort Barbaras Gesicht zu sehen, dieses charaktervolle, schöne Gesicht, wie so eine Vi sion vor einem solchen Hintergrund manchmal er scheint. Und plötzlich sah er dort, an derselben Stelle, wirklich ein Gesicht, doch war es ein völlig anderes. Es war klein, und rund, und häßlich, und hatte Ähn lichkeit mit dem eines kranken, aufgedunsenen Kin des. Aus dieser Entfernung konnte er keins seiner Merkmale erkennen, mit Ausnahme der Lippen, die breit und wulstig waren, und zwischen denen weiße Zähne hervorblitzten.
»Sieh dort!« flüsterte er Jeekie auf englisch zu, und Jeekie blickte in die Richtung. Dann riß er, ohne ein Wort zu sprechen, die Schrotflinte hoch, die wie im mer neben ihm lag, und feuerte in das Gebüsch. So fort ertönte ein lautes Quieken, wie von einem ver wundeten Tier, und die vier Träger sprangen schrei end auf. »Setzt euch hin!« befahl Jeekie ihnen in ihrer Spra che. »Ein Leopard ist dort herumgeschlichen, und ich habe geschossen, um ihn zu verscheuchen. Aber geht nicht dorthin, da er verwundet und wütend sein könnte. Holt Äste heran und macht einen Zaun um uns und das Feuer herum, für den Fall, daß noch mehr davon in der Nähe sein sollten.« Die Männer, die Angst vor Leoparden hatten und diese Tiere mit abergläubischer Ehrfurcht scheuten, gehorchten auf der Stelle, und da innerhalb eines Umkreises von einigen Yards genügend Holz her umlag, hatten sie bald einen Boma-Zaun errichtet, der, so provisorisch er auch sein mochte, seinen Zweck als Schutzwall erfüllte. »Jeekie«, sagte Alan, während sie den Zaun errich teten, »das war kein Leopard, das war ein Mensch.« »Nein, nein, Major, kein Mensch, ein kleiner Zwerg-Teufel, der vergiftete Pfeile hat. Ich habe so fort geschossen, damit er ein wenig Respekt be kommt. Ich denke nicht, daß er heute nacht zurück kommen wird, hat zuviel Angst vor dem SchrotFetisch. Aber was morgen sein wird, weiß ich nicht. Sagen Sie diesen Burschen lieber nichts davon«, meinte er mit einem Kopfnicken in Richtung der Trä ger, »weil sie sonst durchgehen könnten.« »Ich denke, es wäre besser gewesen, die Zwerge in
Ruhe zu lassen«, sagte Alan, »weil sie dann vielleicht auch uns in Ruhe lassen würden. Jetzt haben sie einen Grund zur Blutfehde gegen uns.« »Ich bin da nicht Ihrer Ansicht, Major. Die einzige Chance lag darin, ihm Feuer unter den Allerwertesten zu machen. Wenn ich nicht geschossen hätte, würde bald er geschossen haben.« Er machte ein Geräusch, das das Schwirren eines Pfeiles imitieren sollte. »Ge hen Sie jetzt schlafen. Ich bin nicht müde, ich passe auf, meine Augen sind im Dunkel ohnehin besser als die Ihren. Nur noch zwei Tage in diesem verdamm ten Wald, dann sind wir wieder in offenem Gelände, mit nur ein paar Bäumen hie und da, wohin kein Zwerg kommt, weil er Angst hat vor Löwen und Kannibalen, die ihn gerne fressen.« Da es nichts weiter zu tun gab, nahm Alan Jeekies Rat an und war bald eingeschlafen, und er erwachte auch nicht eher, als bis jenes dünne Licht, das sie mangels eines geeigneteren Namens Morgendämme rung nannten, durch das dichte Blätterdach zu ihnen herabsickerte. »Habe mich umgesehen«, sagte Jeekie, als er ihm seinen Kaffee reichte. »Habe den Zwerg-Mann getrof fen. Er hat geblutet, doch ich denke, andere haben ihn weggetragen. Jeekie guter Schütze, Stein, Speer, Pfeil oder Gewehr, alles gleich für ihn. Jetzt wollen wir aufbrechen, so schnell wie möglich, bevor die Träger die Ratte riechen. Sie essen Ihren Chop, Major, ich werde packen.« Kurz darauf setzten sie ihren Marsch durch den endlosen Wald fort, nun mit der Furcht als ihrem Be gleiter. Selbst die Träger, denen nichts verraten wor den war, schienen noch mehr Angst zu haben als
sonst, obwohl Alan nicht sagen konnte, ob das darauf zurückzuführen war, weil sie ›eine Ratte rochen‹, wie Jeekie es nannte, oder auf einen allmählichen Zu sammenbruch ihres Nervensystems. Gegen Mittag machten sie eine Essenspause, weil die Männer zu müde waren, um ohne Rast weitergehen zu können. Eine Stunde oder länger hatten sie nach einer kleinen Lichtung oder einer freien Stelle Ausschau gehalten, jedoch keine finden können. Also mußten sie auf dem schmalen von Bäumen und Dickicht gesäumten Pfad rasten. Als sie gerade mit dem Essen fertig waren und wieder aufbrechen wollten, geschah das, was Alan befürchtet hatte: von irgendwoher aus dem dichten Gebüsch des Unterholzes kam eine Salve von Schilf rohr-Pfeilen. Einer fuhr einem der Träger in den Hals, einer bohrte sich durch Alans Tropenhelm, jedoch ohne ihn zu verletzen, und nicht weniger als drei tra fen Jeekie in den Rücken und blieben dort stecken, glücklicherweise in dem Material der Kork-Matratze, die er auf den Schultern trug, und das die leichten Pfeilschäfte nicht durchbohren konnten. Alle sprangen auf, doch anstatt irgend etwas zu tun, starrten sie mit einer seltsamen Faszination auf den Träger, der in der Nähe der Jugularvene in den Hals getroffen worden war. Der Mann stellte sich langsam auf die Füße, und seine Bewegungen erin nerten Alan auf eine groteske Art an einen Redner, der plötzlich aufgerufen wird, seinen Vortrag zu hal ten und versucht, Zeit zu gewinnen, um seine Ge danken zu sammeln. Dann wandte er sich dem riesi gen Auditorium der Bäume zu, streckte in deklama torischer Geste die Hand aus, sagte mit leiser Stimme ein paar Worte und fiel tot zu Boden! Das schnellwir
kende Gift hatte sein Herz erreicht und dort sein Werk getan. Seine drei Gefährten starrten ihn einen Moment lang an, und im nächsten rannten sie vor Entsetzen schreiend davon und warfen beim Laufen ihre Lasten ab. Was aus ihnen wurde, hat man nie erfahren, denn Alan hörte nie wieder von ihnen, und das Volk der Zwerge bewahrte seine Geheimnisse. Zu jenem Zeit punkt wurde er sich ihrer Flucht nicht einmal richtig bewußt, da er anderweitig beschäftigt war. Einer ihrer abstoßend häßlichen, kleinen Angreifer, anscheinend durch den Erfolg ermutigt, lief hinter seinem Baum hervor zum nächsten und war für einen Moment ungedeckt. Alan, der sein Gewehr in der Hand hielt, riß es an die Schulter und folgte der Be wegung des Mannes mit dem Lauf. Er war ein guter und geübter Schütze, und sein Können ließ ihn auch jetzt nicht im Stich, denn gerade als der Zwerg hinter einem anderen Baum verschwand, traf ihn die Kugel, und im nächsten Augenblick sah man ihn auf der an deren Seite über den Boden rollen. »Das war gut«, sagte Jeekie nachdenklich, »wirk lich gut, aber ich denke, wir sollten doch von hier verschwinden.« »Bist du denn nicht verletzt?« fragte Alan verdutzt. »Dein Rücken steckt voller Pfeile.« »Ich fühle nichts, Major«, antwortete er. »Beste Kork-Matratze, fünfundzwanzig Shillings, drei Pence im Laden, sehr praktisch für Giftpfeile. Aber jetzt las se ich sie lieber zurück, weil sich vielleicht die Spitzen durcharbeiten, wenn ich laufe; ein Kratzer reicht.« Während er sprach, knotete er die Stricke auf und ließ die Matratze zu Boden fallen.
»Ein großer Jammer, all das Zeug zurückzulassen«, sagte Jeekie mit einem Blick auf die Lasten, die die Träger abgeworfen hatten, »aber wie sagt das Buch? Das Leben ist mehr als Kleider. Und auch, daß man nicht an den anderen Morgen denken soll. Das wer den die Zwerg-Leute schon für uns tun. Kommen Sie, Major, machen Sie schnell!« Er stürzte auf einen Beu tel mit Patronen zu, den er sich um den Hals hängte, eine geringfügige zusätzliche Last zu den anderen, und klemmte sich eine kleine Kiste unter den Arm, dann stieß er seinen Herrn mit der Mündung der ge spannten Flinte in den Rücken, als Zeichen, daß sie sich rasch auf den Weg machen müßten. »Bleib mir mit dem verdammten Ding vom Leibe!« sagte Alan wütend. »Wie oft habe ich dir gesagt, daß du Feuerwaffen nie mit gespannten Hähnen tragen sollst?« »Tausend mal ungefähr, Major«, antwortete Jeekie unbeeindruckt, »aber bei solchen Gelegenheiten ver gesse ich die Diskretion. Meine Mama ist genauso, es liegt also in der Familie, aber die Geschichte ist zu lang, um sie jetzt zu erzählen. Laufen Sie, Major, lau fen Sie wie der Teufel! Die Zwerge werden gleich zu rückkommen, aber«, setzte er keuchend hinzu, »ich denke, die Kleine Bonsa wird es ihnen eines Tages heimzahlen.« Also lief Alan, und der riesige Jeekie trottete hinter ihm drein, und das Drum und Dran, mit dem er be hängt war, klapperte wie die Hufe einer galoppieren den Giraffe. Doch schien ihm diese schwere Last nichts auszumachen. Ob es an seinem Respekt vor den Zwergen lag, oder an dem Wunsch, seinen Herrn zu retten, oder an seinem Glauben an die Macht der
Kleinen Bonsa, oder weil seine Füße wieder heimatli chen Boden berührten, Tatsache war, daß Jeekie, trotz der über fünfzig Jahre, die seine Wolle hatte weiß werden lassen, absolut unermüdlich war. Am Ende dieser gnadenlosen Hetze, die den ganzen Tag über dauerte, und auch die folgende Nacht, da sie nicht wagten, Rast zu machen, schien er noch fast so frisch wie an dem Tage, als sie von Alt-Calabar aufgebro chen waren, und es verließ ihn auch nicht für einen Moment sein Mut. Als der Morgen des nächsten Tages graute, sahen sie jedoch an mehreren Zeichen und Spuren, daß die Zwerg-Leute überall um sie herum waren. Es wurden sogar einige Pfeile auf sie abgeschossen, die sie jedoch nicht erreichten. »Puh!« sagte Jeekie, »jetzt ist alles in Ordnung, sie haben eine Menge Angst. Trotzdem ist keine Zeit für Kaffee; wir sollten lieber weitermachen.« Also machten sie weiter, bis gegen Mittag der Wald endlich dünner zu werden begann. Und jetzt, wo das Licht stärker war, konnten sie die Zwerge sehen – es schienen ihrer mehrere hundert zu sein –, die zu bei den Seiten auf einem Parallelkurs trabten, und in ei ner Entfernung, die sie für sicher hielten. »Einen Schuß werde ich versuchen, denke ich«, sagte Jeekie, kniete sich auf den Boden und feuerte auf eine dichte Gruppe der kleinen Männer, die aus einanderstoben wie ein Schwarm Rebhühner, wäh rend einer von ihnen strampelnd am Boden liegen blieb. »Ah! Mein Junge«, schrie Jeekie höhnisch, »wie schmeckt dir die Kugel in Hintern? Du weißt nicht, daß diese Büchse eine garantierte Reichweite von 260
Yards hat. Erinnere dich fürs nächste Mal daran, mein Söhnchen!« Dann gingen sie weiter, einen langen Hang hinauf. »Da ist ein Fluß auf der anderen Seite des Hangs«, erklärte Jeekie. »Ich glaube nicht, daß diese Baumaf fen uns dorthin folgen werden.« Doch die ›Baumaffen‹ schienen wütend und zur Rache entschlossen zu sein. Sie kamen nicht mehr in Reichweite der Gewehre, doch marschierten sie wei ter zu beiden Seiten der Flüchtlinge, da sie wußten, daß deren Kräfte irgendwann erlahmen würden, und dann konnten sie sich an sie heranschleichen und sie ermorden. Also ging die Hetzjagd weiter, und Alan begann sich zu fragen, ob es nicht besser wäre, dem Tod gleich ins Auge zu sehen. »Nein, nein, wenn Sie heute sterben, können Sie es sich morgen nicht anders überlegen«, keuchte Jeekie. »Hier ist Kuppe von Hügel, viel näher, als ich dachte. Oh, heiliger Strohsack! Wer sind denn die?« Er deu tete auf eine große Zahl hochgewachsener Männer, die mit Speeren bewaffnet waren und vom Ufer des Flusses den Hang heraufkamen. Im gleichen Augenblick entdeckten diese Wilden, die nicht mehr als einige hundert Yards entfernt wa ren, sowohl sie, als auch ihre Verfolger, die jetzt links und rechts von ihnen auf dem Kamm des Hangs er schienen. Als die Zwerge diese Männer erblickten, stießen sie schrille Entsetzensschreie aus und mach ten kehrt, um in den Schutz ihres Waldes zurückzu fliehen, den verlassen zu haben sie jetzt offensichtlich bereuten. Doch es war zu spät. Mit einem antworten den Schrei griffen die Speermänner, die in weit aus einandergezogener Linie heraufkamen und offenbar
nach Wild gejagt hatten, sie in voller Front an. Sie wa ren frisch und hatten lange Beine, deshalb gelang es ihnen bald, die Zwerge einzuholen und sich sogar vor sie zu setzen und ihnen den Fluchtweg in den Wald abzuschneiden. Das Ende ist leicht zu erraten: mit Ausnahme von einigen, die sie lebend gefangennah men, töteten sie sie bis auf den letzten Mann, und fast ohne eigene Verluste, da diese kleinen Waldmen schen offenbar zu sehr in Panik und zu erschöpft wa ren, um mit ihren Giftpfeilen auf sie zu schießen, und andere Waffen besaßen sie nicht. Wie Alan später erfuhr, herrschte seit vielen Gene rationen Krieg zwischen den beiden Stämmen, da alle anderen Stämme die Zwerge haßten, die sie als ge fährliche, menschenähnliche Affen betrachten, doch noch nie hatte sich den großen Männern eine solche Gelegenheit geboten, ihre Rechnung zu begleichen. Als Jeekie diese furchterregend wirkenden Einge borenen sah, schien ihn zum ersten Mal sein Mut zu verlassen. »Ogula!« sagte er stöhnend, setzte sich auf einen flachen Felsen und zog Alan neben sich. »Ogula!« wiederholte er. »Ich erkenne sie an ihrem Haar und an ihren Speeren. Jetzt sind wir am Ende; können gute Nacht sagen.« »Warum? Wer sind sie?« fragte Alan keuchend. »Kannibalen, Major, Menschenfresser, fressen uns zum Abendbrot, oder vielleicht morgen zum Früh stück, wenn wir schon abgehangen sind. Sagen Sie Ihr Gebet, Major, und sagen Sie es schnell, weil wir nicht mehr viel Zeit haben.« »Ich denke, daß ich vorher noch zwei oder drei Ogula erschießen werde«, sagte Alan finster, stand
auf und hob sein Gewehr. »Nein, nein, nicht schießen! Tun Sie so, als ob Sie keine Furcht hätten, das ist die beste Chance. Lassen Sie Jeekie denken, lassen Sie Jeekie denken!« Und er schlug sich mit seiner riesigen Hand vor die Stirn. Offenbar brachte das eine Inspiration, denn im nächsten Moment packte er Alan beim Arm und zerrte ihn in die Deckung eines großen Felsens, an dem sie gerade vorbeigekommen waren. Dann zer schnitt er mit bewundernswerter Schnelligkeit die Schnüre des Blechkastens, den Alan auf seinem Rük ken trug, und da keine Zeit war, den Schlüssel zu su chen und ihn aufzuschließen, packte er das kleine Vorhängeschloß, mit dem er gesichert war, mit Dau men und Zeigefinger, nahm all seine gewaltige Kraft zusammen und riß es mit einem einzigen Ruck ab. »Was willst du ...?« begann Alan. »Seien Sie still!« antwortete Jeekie brüsk. »Ich ma che Sie zum Gott, ich bin Priester. Die Ogula kennen Kleine Bonsa. Schnell, schnell!« Wenige Sekunden später war es getan, die Gold maske saß vor Alans Gesicht, die Lederriemchen wa ren hinter seinem Kopf verknotet. Jeekie selbst war jetzt mit dem Tropenhelm geschmückt, den er wäh rend der ganzen Zeit sorgsam gehütet hatte, und un ter ihm quoll das grüne Moskitonetz hervor, das wie ein Schleier über seine weiße Robe herabhing. »Jetzt kommen Sie raus, Major!« sagte er. »Sie müs sen Gott spielen. Brauchen nur zu pfeifen, ich mache Palaver.« Hand in Hand traten sie hinter dem Felsen hervor. Zu diesem Zeitpunkt hatte eine weitere Gruppe von Kannibalen, unter denen sich auch ihr Häuptling be
fand, den steilen Hang erklommen und tauchten jetzt etwa zwanzig Yards vor ihnen auf. Da sie die beiden Männer bereits vorher entdeckt hatten und vermute ten, daß sie sich hinter die Felsen geflüchtet hatten, kamen sie mit erhobenen Speeren heran, um sie zu töten, denn wenn ein Wilder etwas ihm Fremdes sieht, ist sein erster Impuls, es umzubringen. Sie starrten die beiden an: Und plötzlich senkten sich die erhobenen Speere. Einige der Männer warfen sich zu Boden, während andere kehrt machten und die Flucht ergriffen, von nacktem Entsetzen gepackt beim Anblick dieses selt sam gekleideten Mannes mit dem goldenen Kopf. Nur ihr Häuptling, ein riesiger, gelbzahniger Bursche, der eine Halskette aus Pavianklauen trug, blieb auf gerichtet stehen und starrte sie mit offenem Mund an. Alan blies in die Pfeife, die sich in der Mundpartie der Maske befand, und sie erschauerten. Dann sprach Jeekie sie in einer Sprache an, die ihnen vertraut war, und sagte: »Wagt ihr, Ogula, der Kleinen Bonsa und ihrem Priester Gewalt anzudrohen? Sagt, warum sollten wir euch nicht auf der Stelle töten, mit der Magie des Gottes, den sie von dem weißen Mann entliehen hat?« Dabei klopfte er auf das Gewehr, das er in den Händen hielt. »Dies ist Hexerei«, antwortete der Häuptling. »Wir sahen zwei Männer auf der Flucht, verfolgt von den Zwergen, und das vor nicht einmal drei Minuten, und jetzt sehen wir ... was wir sehen.« Er legte eine Hand vor die Augen, um dann, nach einer kurzen Pause, fortzufahren: »Was die Kleine Bonsa betrifft, so hat sie dieses Land zu Lebzeiten meines Vaters verlassen. Er hat ihr freies Geleit auf dem Kopf eines
weißen Mannes gewährt, und die Asiki-Zauberer trauern ihr noch immer nach, wie ich gehört habe.« »Du Narr«, antwortete Jeekie, »so wie sie gegangen ist, kehrt sie auch zurück: auf dem Kopf eines weißen Mannes. Dort drüben sehe ich einen alten Mann mit grauem Haar, der zweifellos in seiner Jugend von der Kleinen Bonsa gehört hat. Laß ihn herkommen, und sehen, und sagen, ob dieses der Gott ist oder nicht.« »Ja, ja«, rief der Häuptling, »geh hin, alter Mann, geh hin!« Er stieß ihm den Speer in den Rücken, und sehr widerwillig näherte der Alte sich ihnen. Er trat heran, verneigte sich, und als er direkt vor Alan stand, blies dieser ihm mit der Pfeife direkt ins Gesicht, woraufhin der Mann auf die Knie fiel. »Es ist die Kleine Bonsa«, sagte er mit zitternder Stimme, »ohne Zweifel ist es die Kleine Bonsa. Ich weiß es, weil mein Vater und mein älterer Bruder ihr geopfert worden sind und ich nur entkommen bin, weil sie mich zurückgewiesen hat. Wirf dich zu Bo den, Häuptling und zeig ihr deine Verehrung, bevor sie dich tötet!« Sofort warfen sich alle, die in Hörweite waren, auf die Erde und lagen reglos. Nun ging Jeekie zwischen ihnen auf und ab und rief mit lauter Stimme: »Die Kleine Bonsa ist zurückgekehrt und hat euch, Men schenfresser, eine fette Gabe mitgebracht, eine Gabe von Zwergenmännern, die ihr haßt, von hinterhälti gen Zwergenmännern, die euch mit ihren Giftpfeilen töten, wenn ihr den alten Waldweg entlang geht. Darum preiset die Kleine Bonsa, die euch von euren Feinden erlöst, und hört auf ihre Befehle! Schickt Bo ten zu den Asiki, die ihnen verkünden, daß die Kleine Bonsa von ihrer Reise über das große schwarze Was
ser wieder nach Hause zurückkehrt und den weißen Priester mitbringt, den sie in den Tagen ihrer Väter mit sich nahm. Sagt den Asiki daß sie eine Eskorte ausschicken sollen, damit die Kleine Bonsa und der Magier, mit dem sie fortlief, mit den ihr von Anbe ginn der Zeit an erwiesenen Ehren zu ihrem Hause geführt werde. Sagt ihnen außerdem, daß sie ein gro ßes Opfer reinen Goldes aus ihrem Vorrat bereitstel len sollen, so viel, wie fünfzig kräftige Männer tragen können, nicht eine Handvoll weniger, welches dem Weißen Magier gegeben werden soll, der den Kleinen Schwimmenden Kopf zurückbringt, denn wenn sie dieses Opfer nicht darbringen, werden er und die Kleine Bonsa für immer und ewig verschwinden, und Fluch und Verdammnis wird auf ihr Land fallen. Steh auf und gehorche, Häuptling der Ogula!« Nun sprang der Mann auf die Füße und antworte te: »So soll es getan werden, o Priester des Gelben Gottes. Morgen bei Tagesanbruch werden schnelle Boten zum Goldhaus der Asiki aufbrechen. Heute abend können sie nicht mehr loslaufen, da wir alle hungrig sind und essen müssen.« »Was müßt ihr essen?« fragte Jeekie mißtrauisch. »O Priester«, antwortete der Häuptling mit einer geringschätzigen Geste, »als wir euch sahen, hofften wir, daß es der weiße Mann und du sein würden, denn wir haben noch nie weißen Mann gekostet. Doch jetzt, fürchten wir, werdet ihr euch sicher nicht dazu bereit finden, euch essen zu lassen, und da du heilig bist und der Hüter des Gottes, dürfen wir dich nicht ohne deine Einwilligung essen. Deshalb werden Zwerge unsere Nahrung sein, von denen es jedoch reichlich gibt, sowohl für uns, als auch für euch.«
»Du Hund!« schrie Jeekie mit einer Stimme wüten der Empörung. »Glaubst du, daß weiße Männer und ihre hochgeborenen Begleiter, wie ich einer bin, dazu da sind, um eure gierigen Mägen zu füllen? Ich sage dir, daß eine Mahlzeit der tödlichen Bohne dir besser bekommen würde, denn wenn du es wagen solltest, uns, oder irgendeinen Angehörigen der weißen Rasse auch nur hungrig anzublicken, sollen deine Einge weide von Schmerzen zerrissen werden, und du und alle deines Stammes sollen sterben wie durch Gift. Außerdem rühren wir das Fleisch von Menschen nicht an, noch wollen wir sehen, wie es gegessen wird. Das ist unser Orunda, unser Gelöbnis: weder dürfen unsere Lippen es berühren, noch unsere Au gen diesen Greuel sehen. Deshalb werden wir unser Lager in einigem Abstand von dem euren ein Stück stromaufwärts aufschlagen und selbst für unser Essen sorgen. Doch morgen beim ersten Tageslicht müssen Boten ausziehen, wie wir es befohlen haben. Außer dem wirst du kräftige Männer und ein großes Kanu bereitstellen, mit dem die Kleine Bonsa heimwärts ge fahren wird, bis sie auf ihre Diener stößt, die ausge sandt wurden, um sie willkommen zu heißen.« »So soll es geschehen«, antwortete der Häuptling unterwürfig. »Alles soll nach dem Willen der Kleinen Bonsa, wie er von ihrem Priester verkündet wurde, geschehen, auf daß sie ihren Segen auf den Häuptern der Ogula zurücklasse, und nicht einen Fluch. Sag uns, wo ihr zu lagern wünscht, dann werden sofort Männer forteilen, um ein Schilfhaus zu errichten, in dem der Gott wohnen kann.«
9
Die Morgendämmerung
Jeekie blickte den Fuß hinauf und hinab und sah in seiner Mitte, etwa eine halbe Meile entfernt, eine In sel, auf der ein paar Bäume wuchsen. »Dort wird die Kleine Bonsa wohnen«, sagte er. »Geht und bereitet ihr Haus vor, entzündet ein Feuer und bringt ein Kanu, um uns hinüberzupaddeln! Und nun laßt uns allein, denn wenn ihr zu lange das Ge sicht der Göttin anseht, wird sie verlangen, daß einer oder mehrere von euch ihr geopfert werden, und es ist nicht statthaft, daß ihr seht, wo sie sich verbirgt.« Bei diesen Worten liefen die Kannibalen alle fort, und sehr schnell, einige zu den Kanus, andere, um je ne zu warnen, die damit beschäftigt waren, die Zwerge zu jagen und zu töten, daß sie es nicht wagen sollten, sich dem weißen Mann und seinem Begleiter zu nähern. Eine dritte Gruppe lief zu einer Stelle des Flußufers, die der Insel gegenüberlag, um die Vorbe reitungen zu treffen, die ihnen befohlen worden wa ren, so daß Alan und Jeekie kurz darauf allein waren. »Ah!« sagte Jeekie mit einem zufriedenen Seufzer, »das ist gut, alles bestens arrangiert. Ich wußte doch, daß die Kleine Bonsa irgend etwas tun würde, um es den scheußlichen Zwergen heimzuzahlen. Die wer den nicht zum Tee nach Hause kommen – sie bleiben, wie liebe Gäste, und speisen mit den Ogula.« »Hör mit deinem Geschwätz auf und binde mir diese entsetzliche Maske los! Ich ersticke fast darun ter«, unterbrach Alan mit hohler Stimme.
»Sagen Sie nicht ›entsetzliche Maske‹, Major: Sagen Sie ›Engelsgesicht‹. Da die Kleine Bonsa eine Frau ist, mag sie das lieber, außerdem ist sie wirklich ein En gel, wenn auch nur für dieses eine Mal, denn sie hat uns das Fell gerettet«, sagte Jeekie, während er die Le derriemchen aufknotete und den Fetisch ehrfurchtsvoll in den Blechkasten zurücklegte. »Himmel!« rief er dann, als er das schweißnasse Gesicht Alans sah, »Sie sind so rot wie eine Karotte; nun, Gold ist eine heiße Kleidung unter dem Wendekreis des Krebses. Jetzt ge hen wir ganz langsam und ruhig weiter, und ich erzäh le Ihnen alles, was ich für unsere Unterkunft und für den weiteren Erfolg unserer Expedition arrangiert ha be.« Nachdem sie den mageren Rest ihrer Habe zu sammengesucht hatten, gingen sie gemächlich den Hang hinab auf das Ufer des Flusses zu, und unter wegs berichtete Jeekie alles was geschehen war, da Ogula nicht zu den afrikanischen Sprachen gehörte, mit denen Alan vertraut war, so daß er nur hin und wieder ein Wort verstanden hatte. »Sehen Sie«, sagte Jeekie, als er fertig war mit sei nem Bericht, und deutete auf eine Gruppe von Kan nibalen, die ein paar am Leben gebliebene Zwerge vor sich her zu der Uferstelle trieben, an der ihre Ka nus auf den Sand gezogen waren. »Die Zwerge sind erledigt; erstklassiges Geschäft, denn jetzt ist der Weg durch den Wald sicher, wenn wir wieder zurückge hen; die Ogula sind die besten Freunde der Welt; das war ein sehr bemerkenswertes Entkommen aus einer brenzligen Situation.« »Wirklichsehrbemerkenswert«,sagteAlan;»ichwer de auch bald an das Glück der Kleinen Bonsa glauben.«
»Ja, Major, Sie müssen wissen, daß sie schnell nach Hause will und deshalb den Weg frei macht. Aber«, setzte er düster hinzu, »was sie tun wird, wenn sie dort angekommen ist, kann ich nicht sagen.« »Ich auch nicht, Jeekie, doch vorerst hoffe ich, daß sie uns etwas zu essen verschafft, denn mir ist fast schwindelig vor Hunger, und alle unsere Konserven haben wir verloren.« »Nahrung«, sagte Jeekie nachdenklich. »Ja, die braucht der Magen des Menschen, der unglückli cherweise so eingerichtet ist; das haben die Ogula er fahren, und das werden die Zwerge jetzt gleich erfah ren.« Dann blickte er umher, hob mit einer zerstreu ten Bewegung das Gewehr und feuerte. »Das hätten wir«, sagte er. »Die Kleine Bonsa versteht unsere kör perlichen Bedürfnisse.« Dabei deutete er auf eine fette Gazelle der Art, die in Südafrika ›Duiker‹ genannt wird, und welche seine scharfen Augen vor einem Felsen ausgemacht hatten, vor dem sie nun in den Kopf getroffen sterbend lag. »Keine Sorgen mit Essen mehr für die nächsten drei Tage«, setzte er hinzu. »Kommen Sie zum Lager, Major! Ich schicke gleich einen Wilden, um den Bock abzuhäuten und uns zu bringen.« Also gingen sie weiter, dem Ufer zu, und Alan war jetzt, da die Aufregung vorüber war, so erschöpft, daß er sich auf Jeekie stützen mußte. Als sie den Fluß erreichten, tranken sie ausgiebig, und da es an dieser Stelle flach war, wateten sie zur Insel, ohne auf das Kanu zu warten, das sie hinüberbringen sollte. Dort fanden sie eine Anzahl der Kannibalen bereits bei der Arbeit, mit ihren langen, gekrümmten Messern Schilfrohr zu schneiden, um Platz für die Hütte zu
schaffen und gleichzeitig ihr Baumaterial zu gewin nen. Ein anderer Trupp, unter dem Kommando des Häuptlings, war zur Spitze der Insel gegangen, die etwa hundert Yards entfernt lag, um Schößlinge eines weidenartigen Busches zu schlagen, die als Stützpfo sten dienen sollten. Sie alle starrten Alan entgeistert an, was nicht verwunderlich war, da sie nie zuvor das Gesicht eines weißen Mannes erblickt hatten, und fragten sich zweifellos, was aus dem uralten, schreckli chen Fetisch geworden sein mochte, den er getragen hatte. Ohne sich mit irgend welchen Erklärungen aufzuhalten, befahl Jeekie zweien von ihnen, die er legte Gazelle zu holen, die der weiße Mann, den er als ›Ehegemahl der Göttin‹ bezeichnete, ›durch Donner‹ getötet habe. Als diese Männer gegangen waren, um den Befehl auszuführen, und Jeekie den Fortgang der Bauarbeiten überwachte, setzte Alan sich auf einen umgestürzten Baum und sah zu, wie einer der Einge borenen mit einem angespitzten Stock und etwas Zunder Feuer entfachte. In diesem Augenblick erscholl von der Spitze der In sel, wo die Weiden geschnitten wurden, ein lautes Brül len und Angstschreie von Menschen. Alan ergriff sein Gewehr und lief zu der Stelle, von der die Leute ka men. Als er sich durch ein Schilfdickicht gezwängt hat te, bot sich ihm ein seltsamer Anblick. Die Ogulas, die Weiden schnitten, welche zwischen einigen Felsen wuchsen, hatten eine Löwin aufgestört, die dort ihr Lager hatte, und, da sie furchtlose Wilde waren, so fort versucht, sie mit ihren Speeren zu töten. Die Lö win hatte, durch ihre Wunden gereizt und durch das Fehlen einer Fluchtmöglichkeit, da das Wasser dort sehr tief war, sie angegriffen und den Häuptling zu
Boden geschlagen, jenen gelbzahnigen Mann, dem Jee kie seine Befehle erteilt hatte. Nun stand sie über ihm, eine riesige Vorderpranke auf seiner Brust, die sie fast zu bedecken schien, und blickte hoheitsvoll umher, während die Ogula verwirrt und laut schreiend hin und her rannten, da sie fürchteten, daß sie bei einem Angriff den Häuptling töten würde. Doch das schien die Löwin ohnehin vorzuhaben, denn als Alan eintraf, senkte sie den Kopf, um dem Mann die Kehle durch zubeißen. Alan feuerte sofort. Es war ein hastiger Schuß, doch, wie es sich erwies, ein guter, denn die Kugel traf die Löwin dicht oberhalb der Schulter ins Genick und durchschlug das Rückgrat, so daß sie über dem Kannibalen tot zusammenbrach. Eine Weile stan den seine Leute reglos vor Verwunderung. Sie mochten durch Menschen aus den Küstenregionen von Feu erwaffen gehört haben, doch da sie im Landesinneren lebten, wohin Weiße nicht zu reisen wagten, hatten sie noch nie ihre furchtbare Wirkung erlebt. »Zauberei!« schrien sie. »Zauberei!« »Natürlich«, sagte Jeekie, der inzwischen herange kommen war. »Was sonst erwartet ihr denn von dem Ehegatten der Kleinen Bonsa? Zauberei die größte aller Zaubereien. Und nun macht und rollt den Lö wen von eurem Häuptling, bevor er ihn zu Tode drückt.« Sie gehorchten, und der Häuptling richtete sich auf, ein grauenhafter Anblick, denn er war mit dem Blut der Löwin verschmiert und auch ein wenig von ihren Krallen zerkratzt, doch ansonsten unverletzt. Dann, nachdem er sich versichert hatte, noch am Leben zu sein, kroch er auf Händen und Knien zu Alan und küßte ihm die Füße.
»Aha!« sagte Jeekie triumphierend. »Die Kleine Bon sa hat wieder gesprochen. Diese Kannibalen sind von jetzt an unsere Sklaven. Ja, bis zum Jüngsten Tag. Kommen Sie, Major! Jetzt wollen wir unser Essen ko chen, in Frieden und Sicherheit.« Sie kochten ihr Abendessen und verzehrten es vol ler Dankbarkeit, denn selten hatten zwei Menschen es so nötig gehabt, und nie hatte ihnen Wild besser ge schmeckt. Als sie gesättigt waren, hatte die Dunkel heit bereits eingesetzt, und bevor sie sich zum Schla fen in die Hütte zurückzogen, die die Ogula für sie errichtet hatten, gingen sie noch einmal zur Spitze der Insel, um zu sehen, ob die Löwin abgehäutet worden war, wie sie es befohlen hatten. Dies war geschehen, und auch den Kadaver hatten die Ogula mitgenom men, um ihn zu essen. Sie stiegen auf die kleine Fels kuppe, auf dem das Tier sein Lager gehabt hatte, und blickten über den Fluß hinweg, an dessen Ufer, etwa zweihundert Yards entfernt, die Ogula ihr Lager er richtet hatten. Von diesem Lager kamen die Geräu sche eines fröhlichen Gelages, und im Lichte der gro ßen Feuer, die dort brannten, erkannten sie, daß die Wilden beim Essen waren, denn einige von ihnen sa ßen in kleinen Gruppen beieinander, während ande re, deren nackte Körper aus dieser Entfernung wie die von Dämonen der Hölle wirkten, vor dem lohen den Hintergrund der Feuer hin und her liefen und seltsam aussehende Fleischstücke an Holzspießen aus dem Feuer zogen. »Ich nehme an, daß sie die Löwin essen«, sagte Alan zweifelnd. »Nein, nein Major, nicht die Löwin; sie essen Zwerge – dutzendweise, wie Austern. Wenn es nicht
um die kleine Bonsa gewesen wäre, würden wir jetzt auch auf diesen Spießen stecken und ungewöhnlich klein aussehen.« »Bestien!« sagte Alan angewidert. »Sie machen mir ungewöhnlich übel. Laß uns zu Bett gehen! Ich hoffe, daß sie uns nicht im Schlaf ermorden, oder?« »Nein, Major, sie haben zu viel Angst. Außerdem sind wir jetzt ihre Blutsbrüder, weil wir ihnen ein erstklassiges Abendessen beschert und ihren Häupt ling vor der Löwin gerettet haben. Und Sie dürfen Sie nicht zu sehr verurteilen, Major; es sind wirklich nette Burschen mit freundlichen Herzen, und die Eßge wohnheiten werden nun mal von einer Generation zur anderen vererbt. Jeder von ihnen hat schon viele Männer in seinem Bauch, deshalb sind sie so kräftig. Die Ogula decken viele Sünder zu, wie die Wohltä tigkeit in der Bibel. Und es ist sicher von der Vorse hung so eingerichtet, um die Bevölkerungszahl ein zuschränken. Es ist nicht recht, zu schlecht von diesen armen Burschen zu denken, die, wie ich sagte, sehr nett und freundlich sind, und sehr liebevoll zu ihren Familien, außer zu den alten Frauen, die sie auch es sen, damit sie nicht von einem allzu langen Leben gelangweilt werden.« Obwohl Alan von dem abscheulichen Bild, das sich ihm bot, zutiefst angewidert war, mußte er über Jee kies Entschuldigungen für die liebenswerten Ogula lachen, die ihm als die widerwärtigsten Halunken er schienen, die er während seiner vielen Jahre der Er fahrung mit afrikanischen Wilden kennengelernt hatte. Dann, da er während dieser Nacht nichts mehr von ihnen sehen oder hören wollte, zog er sich rasch in die Hütte zurück und war kurz darauf eingeschla
fen, den Kopf auf den Blechkasten gebettet, der die Reize der Kleinen Bonsa verbarg. Als er erwachte, war es bereits heller Tag. Er stand auf und ging zum Flußufer, um sich zu waschen, und noch nie war ihm ein Bad willkommener gewesen, denn während des langen Marsches durch den Wald war dazu keine Gelegenheit gewesen. Als er zurückkehrte, fand er seine Kleidung mit trockenem Schilfrohr gebürstet und auf einem Felsen zum Lüften ausgelegt, und Jee kie, der sich in bester Stimmung befand, war dabei, das Frühstück zu bereiten, in einer Bratpfanne, die er durch alle Fährnisse ihrer Flucht gerettet hatte. »Kein Kaffee, Major«, sagte er bedauernd, »der ist im Walde geblieben. Aber das macht nichts, heißes Wasser ist ohnehin besser für die Nerven. Die OgulaBoten sind bei Tagesanbruch in einem kleinen Kanu zu den Asiki aufgebrochen. Sie werden langsam pad deln, bis sie die Zwerge verdaut haben, aber dann geht es sehr schnell. Ich habe ihnen das Löwenfell mitgegeben, als Geschenk von Ihnen für die große Hohepriesterin Asika, und auch die Krallen, um da von eine Halskette zu machen. Dort gibt es keine Lö wen, und es wird sie sehr freuen. Außerdem wird sie so den mächtigen Mann lieben, der den wilden Lö wen in seinem Lager tötete, so wie Daniel in der Bi bel. Die Liebe der obersten Frau ist ein Verbündeter erster Klasse unter tierischen Wilden.« »Das hoffe ich nicht«, sagte Alan ernst, »doch wird es zweifellos gut sein, sich mit dieser Lady gut zu stellen, wenn uns das möglich sein sollte. Wann bre chen wir auf?« »In einer Stunde, Major. Ich bin schon im Lager der Ogula gewesen, habe das beste Kanu und die kräftig
sten Ruderer ausgesucht. Der Häuptling – er heißt Fanny – ist Ihnen so dankbar, daß er selbst mitkom men wird.« »Das ist wirklich sehr nett von ihm, aber, sage mir, Jeekie, wovon werden diese Burschen sich ernähren? Das, was du ihren ›Lieblings-Chop‹ nennst, könnte ich nicht ertragen.« »Nein, nein, Major, das geht in Ordnung. Ich habe ihnen gesagt, wenn sie mit der Kleinen Bonsa reisen, müssen sie enthaltsam leben, wie die frommen ka tholischen Familien, die in der Nähe von Yarleys wohnen. Sie können jede Menge Fische aus dem Fluß fangen, und vielleicht schießen wir mal ein Stück Wild oder ein dickes Flußpferd, das sie sehr mögen, weil es schön fett ist.« Offensichtlich war der Ogula-Häuptling – er hieß übrigens Fahni nicht Fanny, wie Jeekie ihn genannt hatte – ein Mann, der sein Wort hielt, denn noch be vor die Stunde vergangen war, erschien er auf der In sel, in einem großen Kanu, das von zwölf muskulö sen Wilden bemannt war. Er sprang an Land und warf sich vor Alan zu Boden, küßte seine Füße, wie er es am vorhergehenden Abend getan hatte, und hielt eine lange Rede. »Das ist ein sehr gutes Omen«, sagte Jeekie. »Ich mag es, wenn ein Heide in der Dunkelheit seines Gei stes einem weißen Gentleman die Stiefel leckt. Er sagt, du bist sein Herr und ein großer Magier, der sein Leben gerettet hat und alle Geheimnisse der Kleinen Bonsa kennt, die zahlreich und unnennbar sind. Er sagt, er stirbt jeden Tag zweimal für Sie, wenn es nötig sein sollte, und er stirbt sowohl mor gen, als auch im kommenden Jahr. Er sagt, er bringt
Sie sicher bis zu dem Ort, wo Sie die Asiki treffen, und um Ihretwillen, obwohl er sehr hungrig ist, wird er einen ganzen Monat lang keinen Menschen essen, vielleicht sogar länger. Und jetzt brechen wir auf.« Also legten sie ab und fuhren den Fluß hinauf, wel cher Katsena genannt wurde; Alan und Jeekie saßen auf eine wahrhaft herrschaftliche Art im Heck des Kanus unter einem Sonnendach, das aus einigen Stöcken und einer Grasmatte gefertigt war. Nach ih rer schweren Plackerei und den Abenteuern im Wald erschien ihnen diese Art des Reisens höchst komfor tabel. Mit Ausnahme einiger Stromschnellen, über die hinweg oder um die herum das Boot getragen wer den mußte, war der Fluß breit und ruhig, und die Szenerie an seinen Ufern parkartig und schön. Au ßerdem schien das Land fast menschenleer, was viel leicht auf den Appetit der Ogula zurückzuführen war, und man sah große Herden aller Art von Wild tieren. Den ganzen Tag über saßen sie in dem Kanu, das von den kräftigen Ruderern fortbewegt wurde, die sehr still waren, da sie große Furcht vor dem weißen Mann hatten, und noch mehr vor dem berühmten Fetisch, den er, wie sie wußten, mit sich führte. Als es dunkelte, machten sie das Boot am Ufer fest und la gerten bis zum folgenden Morgen. Und sie litten auch keinen Hunger, denn da das Wild so zahlreich war, brauchte Alan lediglich ein paar hundert Yards zu gehen, um eine fette Elenantilope zu erlegen, oder ein Hartebeest, oder ein anderes Wild, und weil die Tiere keine Erfahrung mit Schußwaffen hatten, ließen sie ihn sehr nahe herankommen. Elefanten, Nashörner und Büffel waren ebenfalls in großen Zahlen vertre
ten, und sie sahen auch Herden von Giraffen zwi schen den vereinzelt stehenden Bäumen vorüberzie hen, doch weil sie nicht auf einer Jagdexpedition wa ren und nur über einen geringen Vorrat an Munition verfügten, ließen sie diese Tiere in Ruhe. Da sie täglich reichlich Fleisch bekamen, wie sie es liebten, blieben die Ogula-Bootsleute in bester Stim mung; ihr Häuptling, Fahni erklärte Alan sogar, daß sie, wenn sie nur solche magischen Rohre hätten, um Wild damit zu töten, den Kannibalismus gerne auf geben würden – ausgenommen an Festtagen. Er fügte bedauernd hinzu, daß sie ohnehin bald dazu ge zwungen sein würden, wenn sie nicht verhungern wollten, da in ihrem Gebiet nur noch wenige Men schen übriggeblieben seien und sie Gemüse nicht ausstehen könnten. Und sie hielten auch keine Rin der, außer einigen Kühen wegen der Milch, da die Rinderzucht bei seinem Stamm nicht üblich sei. Alan riet ihm, die Herde zu vergrößern, mit dem Anbau von Getreide zu beginnen und die Menschen in Frie den zu lassen, da, wie er ihm erklärte, ›nicht ein Hund den anderen fressen soll‹, und ein Mensch erst recht nicht einen anderen seiner Art. Der Häuptling sagte, es läge viel Weisheit in dem, was er gesagt habe, und nach seiner Rückkehr würde er alles seinen Stammesältesten unterbreiten. Zu sei ner Verwunderung mußte Alan feststellen, daß Jeekie völlig recht hatte mit seiner Behauptung, daß diese Menschen, so schrecklich ihre Lebensweise auch sein mochte, dennoch im Grunde ihres Herzens ›nett und liebenswert‹ waren. Sie machten andere Menschen zur Beute, weil das bei ihnen seit Jahrhunderten üb lich war, doch wenn irgend jemand dagewesen wäre,
der ihnen einen anderen, besseren Weg gezeigt hätte, würden sie ihn bestimmt beschritten haben, dessen war er sicher. Zumindest waren sie tapfer und treu, und auch, nachdem ihre erste Furcht vor dem weißen Mann abgeklungen war, taten sie ohne Murren ihre Pflicht. Einmal, als er ohne Waffe einherging und von einem Elefantenbullen angegriffen wurde, stürmten diese Ogula mit ihrem Speeren auf das riesige Tier zu und jagten es in die Flucht, eine mutige Rettungsakti on, die einem von ihnen das Leben kostete, da der Bulle ihn mit dem Rüssel packen konnte und tötete. So vergingen die Tage, während sie gemächlich flußaufwärts fuhren. Alan vertrieb sich die Zeit da mit, bei Jeekie Unterricht in der Sprache der Asiki zu nehmen, die er seit dem Verlassen Englands studier te. Es war dies keine einfache Aufgabe, da sie keiner lei Bücher besaßen, und selbst Jeekie nach dreißigjäh riger Abwesenheit bei vielen Details nicht mehr ganz sicher war. Dennoch, da er von Natur und Bildung her Linguist war und in der Sprache Ähnlichkeiten mit anderen afrikanischen Dialekten feststellte, die er kannte, war er jetzt imstande, sie ein wenig zu spre chen, wenn auch stockend. Am fünften Tag ihrer Reise den Fluß hinauf ge langten sie zur Einmündung eines Nebenflusses, der aus nördlicher Richtung kam, und die Ogula sagten, daß sie auf diesem weiterfahren müßten, um nach Asiki-Land zu gelangen. Dieser Fluß war schmal und träge und weitete sich da und dort zu großen Sümp fen aus, die nur schwer passierbar waren. Außerdem war dieser Distrikt so ungesund, daß mehrere der Ogula Fieber bekamen, von dem Alan sie mit großen Dosen Chinin kurierte, denn glücklicherweise hatte
seine Reiseapotheke gerettet werden können. Diese Kur wurde angewandt, nachdem ihr Häuptling vor geschlagen hatte, sie über Bord zu werfen oder zum Sterben im Sumpf zurückzulassen, da sie nutzlos sei en, mit dem Ergebnis, daß sie nun von den magischen Kräften des weißen Mannes felsenfest und jenseits allen Zweifels überzeugt waren. Tatsächlich sahen die armen Ogula ihn nun als einen Gott an, der selbst der Kleinen Bonsa überlegen war, deren Vertrauter er sein sollte. Die Fahrt durch diesen Sumpf war sehr anstren gend, da sie oft keine Stelle fanden, wo sie schlafen konnten, und die Nacht im Boot verbringen mußten, von Moskitos zerstochen und in ständiger Gefahr, von einem der Flußpferde, die dort in großen Herden lebten, gekentert zu werden. Außerdem waren sie jetzt, da es kein Wild gab, gezwungen, von diesen Tieren zu leben, sowie von Fischen, wenn sie welche fangen konnten, und von Wildgeflügel, und sie konnten oft nicht kochen, weil sie kein Feuerholz fanden. Die Ogula störte es kaum, und auch Jeekie aß das Fleisch roh, wenn er hungrig war, doch Alan mußte hungern, bis sie wieder Feuer machen konn ten. Das war jedoch nur möglich, wenn sie Treibholz oder Bruchholz fanden, da die wuchernde Vegetation zu jener Jahreszeit in vollem Saft stand. Und die schrecklichen Gewitter, die immer wieder über sie hereinbrachen und ihr Kanu innerhalb weniger Mi nuten mit Wasser füllten, durchnäßten das Schilfrohr und den Boden, auf dem es wuchs. Wie Jeekie sagte: »Diese Jahreszeit ist nur gut für Enten und für Krokodile. Menschen sollten sich der unkontrollierbaren Naturgewalten erinnern und
warten, bis der Winter kommt, wenn der Morast den Füßen Halt gibt.« Diese beredte Feststellung traf er während eines besonders schweren Gewitters. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel und schienen überall um sie her um niederzufahren, wie zustechende Feuerschwerter, und der Donner krachte und grollte, wie es vermut lich an jenem Tage geschehen mag, an dem die Erde, schließlich abgenutzt, ihrem Ende entgegentorkeln und -taumeln wird. Der Regen fiel senkrecht und mit der Gewalt eines Sturzbachs herab; die hohen Schilf rohre schwankten wie Millionen dünner, winkender Arme und gaben dabei ein lautes, stöhnendes Ge räusch von sich; Wildvögel flohen schreiend und mit rauschenden Schwingen in nach Tausenden zählen den Schwärmen über sie hinweg, nur kurz sichtbar, dann in den Regenschwaden verschwunden. Um ihr Kanu über Wasser zu halten, schöpften die nackten Ruderer, vor Kälte und Furcht zitternd, unermüdlich mit bloßen Händen oder mit Schalen aus ausgehöhl tem Holz Wasser und flehten Alan an, sie zu retten, als ob er der Herr der Elemente wäre. Selbst Jeekie war niedergeschlagen und mutlos und schien nur noch Gebete zu murmeln, doch konnte man nicht sa gen, ob diese an die Kleine Bonsa gerichtet waren oder an eine andere Adresse. Was Alan betraf, so hatte er jede Hoffnung aufge geben. Zwar hatte er bisher dem Fieber und anderen Krankheiten entrinnen können, was allein schon ein Wunder schien, doch war er bis auf das Mark durch gefroren und hatte seit zwei Tagen kaum etwas ge gessen und seit einer Woche nur sehr wenig, da sein Magen gegen halbgares fettes Flußpferdfleisch und
Wildgeflügel rebellierte. Außerdem hatten sie den durch diesen Sumpf führenden Kanal verloren und krochen ziellos durch ein Dickicht von Schilfrohr, das nur da und dort von Rinnen tieferen Wassers durch brochen wurde. Nach Meinung der Ogula hätten sie schon vor Ta gen den großen See erreichen und auf gesundem, hö her gelegenem Grund landen sollen, der bereits Teil des Asiki-Landes war. Doch dies war nicht gesche hen, und jetzt bezweifelte er, ob es jemals geschehen würde. Es war weitaus wahrscheinlicher, daß sie alle in diesem endlosen Morast den Tod finden würden, besonders da die wenigen Kugel- und Schrotpatro nen, die sie bei ihrer Flucht hatten retten können, jetzt verbraucht waren; nichts war ihnen geblieben außer den wenigen Schuß Munition in ihren Revolvern, doch die waren für die Jagd auf Wild nutzlos. Des halb war es sehr wahrscheinlich, daß sie Hungers sterben würden, denn falls es hier Fische geben sollte, gelang es ihnen nicht, sie zu fangen, und so blieb ih nen nichts, um ihre Mägen zu füllen, als Wasser schnecken, die die Bootsleute sammelten und mit ih ren kräftigen Zähnen zerbissen. Oder, vielleicht, würden die Ogula, unter dem Druck dieser Zwangs lage ihre Freundschaft vergessen und sie im Schlaf ermorden, um so zu ihrer gewohnten Nahrung zu rückzukehren. Jeekie hatte recht gehabt, er hätte an die ›unkon trollierbaren Naturgewalten‹ denken sollen. Nur ein Wahnsinniger konnte eine solche Expedition wäh rend der Regenzeit unternehmen. Kein Wunder, daß die Asiki ein geheimes und unbekanntes Volk blie ben, wenn die Grenzen ihres Landes auf der einen
Seite von einem so undurchdringlichen Sumpf ge schützt wurden, und auf der anderen, wie er gehört hatte, von unüberwindlichen Bergen. Der Regen ließ ein wenig nach, und es gelang den Bootsleuten, mehr Wasser auszuschöpfen als herein goß. Alan fragte Jeekie, ob er glaube, daß das Un wetter vorüber sei doch er schüttelte seinen weißhaa rigen Kopf, wobei ein Schauer von Wassertropfen aus seiner krausen Wolle spritzte, und antwortete: »Kann ich nicht sagen, es schüttet zwar nicht mehr wie aus Kübeln, wie man so sagt, aber ich glaube, daß noch mehr dort oben wartet.« Er deutete mit einer Kopf bewegung auf eine drohende, feuerdurchzuckte Wol ke, die über ihnen stillzustehen schien und deren schwarze Ränder sich selbst in der Dunkelheit deut lich abhoben. »Es sieht schlecht aus, Jeekie. Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen, und auch nicht diese armen Wilden«, sagte er mit einem Blick auf die verängstig ten, frierenden Ogula. »Ich beginne, daran zu zwei feln ...« »Man darf niemals zweifeln, Major«, unterbrach Jeekie erschrocken. »Wenn man zweifelt, lebt man nicht, wenn man zweifelt, wird man nicht geboren, weil es zu viel ist, an allem zu zweifeln. Ich kann nicht verstehen, also habe ich es aufgegeben. Ich sage: ›Los geht's! Und den letzten fressen die Hunde.‹ Ein sehr gutes Motto für einen Zweibeiner, der in der Tinte sitzt. Lieber hier ertrinken als in der Stadt. Aber wir werden nicht ertrinken. Wir hätten längst tot sein sollen, aber die Kleine Bonsa spielt das Spiel, sie will nicht in diesem stinkenden Morast versinken, wo sie ihrem schönen Heim schon so nahe ist. Wir werden
auch hier herauskommen, wie bei den Zwergen. Hinter jeder Wolke scheint die Sonne, Major, selbst hinter dem pechschwarzen Burschen dort oben. Oh! Bei allen Heiligen!« Der letzte Ausruf wurde Jeekie von einer plötzli chen Demonstration der ›Naturgewalten‹ entlockt, die selbst ihn entsetzte. Es schien, als ob die hinter dem ›pechschwarzen Burschen‹ verborgene Sonne plötzlich hervorbräche. Von einer Sekunde zur ande ren schien der Himmel in Flammen zu stehen. Ein Blitz fuhr kaum zehn Yards von ihrem Kanu entfernt ins Wasser, was die Ruderer dazu veranlaßte, sich vor Schreck und Angst auf den Boden des Bootes zu wer fen. Dann setzte ein Hurrikan ein, der glücklicherwei se zu stark war, als daß es wieder hätte regnen kön nen. Die hohen Schilfhalme wurden von seiner Ge walt flachgedrückt; das Kanu wurde von seinen Fäu sten gepackt und zuerst wie ein Kreisel herumgewir belt, dann wie ein Pfeil von einer Bogensehne vor wärtsgeschnellt. Nur das Gewicht der Männer und das Wasser verhinderten, daß es umstürzte. Tiefe Dunkelheit senkte sich auf sie herab, und obwohl sie keinen Stern sehen konnten, wußten sie, daß es Nacht sein mußte. Weiter und weiter rasten sie, vorange trieben von dem heulenden Orkan, und um sie her um war eine Mauer von Dunkelheit. Niemand sprach, denn sie hatten alle Hoffnung fahren lassen, und wenn sie gesprochen hätten, wären ihre Stimmen im Tosen des Sturms untergegangen. Das letzte, wor an Alan sich erinnern konnte, war das Gefühl, daß Jeekie eine Grasmatte über ihn deckte, die ihn ein wenig schützen sollte. Dann verließen ihn die Sinne, wie eine erlöschende Kerze. Er glaubte, wieder in
dem vom Jeekie so abfällig erwähnten London zu sein und ein geschäftliches Gespräch über das Tele phon zu führen, durch dessen Draht alle Geräusche der Hölle in sein Ohr dröhnten, in dem er eine Wirt schaftszeitung dazu bewegen sollte, einen Artikel über das Kleine Bonsa Syndikat zu veröffentlichen, das er gründen wollte. Er glaubte, in ›The Court‹ zu sein, bei Barbara, doch die Vögel im Geäst der Bäume zwitscherten so unnatürlich laut, daß er ihre Stimme nicht hören konnte, und sie trug die Kleine Bonsa auf dem Kopf wie einen Hut. Dann verschwand sie in ei ner grellen Flamme und ließ allein ihn und den Tod auf der Welt zurück. Alan erwachte. Über ihm brannte eine heiße Sonne, die ihn mit ihrer Wärme ins Leben zurückholte, doch vor ihm war eine undurchdringliche Nebelwand, und jenseits von ihr sah er das schroffe, hoch aufragende Felsmassiv einer Gebirgskette. Zweifellos waren diese Berge auch vorher schon in Sichtweite gewesen, doch hatte das hohe Schilf, durch das sie seit Tagen gefah ren waren, ihnen einen Blick darauf verwehrt. Er blickte hinter sich und sah die Ogula reglos um ihren Häuptling auf dem Boden des Bootes liegen, entwe der schlafend oder bewußtlos. Er zählte sie und stellte fest, daß zwei verschwunden waren, wahrscheinlich in dem Unwetter verlorengegangen, wie und wo, würde niemand jemals erfahren. Er blickte nach vorn, und es bot sich ihm ein seltsamer Anblick: im Bug des treibenden Kanus stand Jeekie, in die zerfledderten Reste seines weißen Gewandes gekleidet, mit dem zerbeulten Tropenhelm auf dem Kopf, und um seine Schulter die Fetzen des grünen Moskitonetzes. Wäh
rend Alan sich noch vage fragte, warum er sich so ze remoniell gekleidet hatte, erscholl aus dem Nebel ge dämpfter Gesang, eine wilde, feierliche Melodie. Jee kie schien darauf zu lauschen; dann erhob er seine laute, sonore Stimme und sang ebenfalls eine Passage, wie zur Antwort. Was er sang, konnte Allan nicht verstehen, doch erkannte er, daß die Sprache, die er benutzte, die des Asiki-Volkes war. Eine kurze Pause und ein verwirrtes Gemurmel, dann ertönte wieder der wilde Gesang, und Jeekie antwortete erneut. »Was, zum Teufel, tust du? Wo sind wir?« fragte Alan mit schwacher Stimme. Jeekie wandte sich um und grinste über das ganze Gesicht. Obwohl er vor Kälte und Erschöpfung schlot terte und sein Gesicht eingefallen war, strahlte er. »Sie sind wach, Major?« sagte er. »Dachte mir, daß die gute, alte Sonne es schaffen würde. Habe gerade nach Ihrem Herzen gefühlt und gespürt, daß es schlägt. Puls ist auch kräftig, obwohl Temperatur nicht normal. Und wir haben eine gute Neuigkeit heute morgen. Kleine Bonsa hat es wieder geschafft, wie immer. Drüben am Ufer sind Asiki-Priester. Ich kann sie nicht sehen, aber ich kenne ihren Gesang und habe geantwortet. Dasselbe alte Spiel wie vor dreißig Jahren. Die Asiki ändern sich nie, was sehr günstig ist, wenn man lange Zeit fort war.« »Was scheren mich die Asiki?« sagte Alan schwach. »Ich fürchte, alle diese armen Teufel sind tot.« Er deutete auf die Ruderer. »Sieht so aus, Major, aber kommt es jetzt noch dar auf an? Wenn nur Sie und ich am Leben geblieben sind. Von der Sorte gibt es jede Menge mehr. Doch
ich glaube nicht, daß sie tot sind, ich denke, sie schla fen nur; sie mögen die Kälte nicht, wie Eichhörnchen. Aber machen Sie sich keine Gedanken um diese Kan nibalen. Sie haben ihren Zweck erfüllt – wenn sie le ben, leben sie; wenn sie tot sind, sind sie tot, und Gott sei ihren Seelen gnädig – wenn Kannibalen überhaupt Seelen haben sollten. Ah! Da ist sie ja.« Aus dem sechs Zoll tiefen Wasser zog er den Blechkasten her vor, der die Kleine Bonsa enthielt, aus dem er den Fetisch, triefend, aber unbeschädigt, heraushob. »Setzen Sie sie jetzt auf, Major! Setzen Sie sie sofort auf und kommen Sie in den Bug des Kanus! Wir müs sen im richtigen Stil in Asiki-Land eintreffen. Die Priester glauben, daß Ihr Reverend Onkel zurück kehrt, so wie er fortgegangen ist. Machen Sie einen guten Eindruck.« »Ich kann nicht«, sagte Alan matt. »Ich bin völlig ausgepumpt, Jeekie.« »Oh! Reißen Sie sich zusammen, Major, reißen Sie sich zusammen!« sagte Jeekie flehend. »Nur noch ein kleines Stück, und Sie gewinnen das Rennen. Sie dür fen nicht so kurz vor dem Ziel schlapp machen. Sie müssen den Fetisch tragen und einmal in die Pfeife blasen, sobald Sie an Land sind, dann können Sie eine ganze Woche lang schlafen, wenn Sie wollen. Ich ma che schon alles andere, sage, ist alles Magie, und so weiter – daß Sie tot gewesen sind und gerade aus dem Grab kommen, oder was Sie sonst vorschlagen. Ist doch völlig egal, so lange Sie, wie verkündet, auf tauchen, und Gott segne den Hurrikan, der uns hier hergeweht hat, als wir zu sterben meinten. Kommen Sie, Major, schnell, schnell! Der Nebel zerschmilzt und sie können Sie bald sehen!« Ohne auf eine Ant
wort zu warten, drückte Jeekie die feuchte Maske vor Alans Gesicht, verknotete die Lederriemchen und führte, oder vielmehr trug ihn in den Bug des Kanus, wo er ihn auf eine Ruderbank setzte, sich hinter ihn stellte, wobei er ihn aufrecht hielt und dann mit lau ter, triumphierender Stimme zu singen begann. Der Nebel löste sich auf, hob sich wie ein Vorhang, und sie sahen am Ufer eine Anzahl von Männern und Frauen, die in weiße Gewänder gekleidet in mehreren Reihen dort standen und auf die Wasser des Sees hinaussangen. Dort, auf seinem Wasser, von der leichten Brise vorangetrieben, schwamm ein Kanu, und siehe! im Bug jenes Kanus saß ein weißer Mann, und auf seinem Kopf war der Gott, den sie vor einer Generation verloren hatten. Auf dem Kopf eines wei ßen Mannes war der Gelbe Gott davongegangen; auf dem Kopf eines weißen Mannes kehrte er zurück. Sie sahen es und fielen auf die Knie. »Blasen, Major, blasen!« flüsterte Jeekie, und Alan blies einen schwächlichen Ton auf der Pfeife, die sich in der Mundpartie der Maske befand. Es war genug, sie erkannten den Ton. Sie sprangen ins Wasser und zogen das Kanu an Land. Sie setzten Alan auf das Ufer und beteten ihn an. Sie brachten einen Jungen vor ihn, anscheinend als Opfer, denn einer der Prie ster hielt ein langes Messer über seinen Kopf, doch Jeekie sagte irgend etwas, das sie dazu bewog, den Jungen loszulassen. Alan glaubte, seine Worte so zu verstehen, daß die Kleine Bonsa jenseits des Schwar zen Wassers ihre Gewohnheiten geändert habe und kein Blut mehr wolle, nur Nahrung. Was dann geschah, konnte er nicht sagen, da sich erneut Dunkelheit über ihn senkte.
10
Bonsa-Stadt
Als das Bewußtsein zu Alan zurückkehrte, war das erste, dessen er vage gewahr wurde, die langsame wiegende Bewegung einer Sänfte. Er richtete sich auf, denn er lag ausgestreckt auf dem Rücken, und als er das tat, spürte er, daß irgend etwas auf seinem Ge sicht lag. Diese verdammte Kleine Bonsa, dachte er. Soll ich etwa den Rest meines Lebens mit ihr gemeinsam ver bringen, wie der Mann mit der eisernen Maske? Dann griff er mit der Hand danach und fühlte, daß es nicht die Kleine Bonsa war, sondern etwas, das of fenbar aus dünnem, feinem Leinen bestand und der Form seines Gesichts angepaßt war, denn es befand sich eine Nase daran, und zwei Augenlöcher, durch welche er sehen konnte, sowie eine Mundöffnung, deren Lippenpartien mit den seinen auf und ab be wegt werden konnten. »Die Alltagskleidung der Kleinen Bonsa, vermute ich«, murmelte er und versuchte sie herunterzuzie hen. Das erwies sich jedoch als unmöglich, denn sie war straff über seinen Kopf gezogen oder hinter ihm so fest verschnürt, daß er sie nicht lösen konnte. Da er noch immer schwach war, gab er den Versuch bald auf und sah sich um. Er befand sich in einer Sänfte, einer sehr eleganten Sänfte, die mit wunderbar gewebten und gefärbten Grasmatten verhängt war, und in der sich eine Art Sofa und Kissen aus weicher Wolle oder Tierhaar be
fanden, die so arrangiert waren, daß er entweder auf gerichtet sitzen oder liegen konnte. Er blickte durch einen Spalt zwischen diesen Matten hinaus und sah, daß sie sich auf einem ausgetretenen Weg oder Pfad in einer bergigen Landschaft bewegten, und daß seine Sänfte auf den Schultern einer Doppelreihe weißge kleideter Männer getragen wurde, während um ihn herum andere Männer gingen. Es schienen Krieger zu sein, denn sie marschierten in Kolonnen und trugen lange Speere und Schilde. Einige von ihnen trugen Armringe und anderen Schmuck aus einem gelben Metall, das entweder Messing oder Gold sein mochte. Als er sich umwandte, entdeckte er, daß sich auf der Rückseite der Sänfte ein Guckloch befand, so ange legt, daß ihr Benutzer hinausblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden, und er erkannte, daß seine Eskorte aus einer kleinen Armee prächtiger, doch et was finster wirkender Wilder bestand, deren Ge sichtszüge fast semitisch wirkten. Viele von ihnen hatten ein ausgesprochen raubvogelähnliches Ausse hen, und Haare, die wohl kraus, doch lang und sorg fältig zu einer Frisur arrangiert waren, die an die der alten Ägypter gemahnte. Auch sah er, daß dreißig Yards hinter ihm, durch eine Leibgarde getrennt, eine zweite Sänfte getragen wurde. Durch ein ähnliches Guckloch im vorderen Teil der Sänfte sah er weitere Krieger, und vor jenen, an der Spitze der Prozession, eine Gruppe von weißgekleideten Männern und Frauen, die seltsame Embleme und Banner trugen. Diese hielt er für Priester und Priesterinnen. Nachdem er alles, was sich in Sichtweite befand, gründlich betrachtet hatte, ließ er sich auf die Kissen zurücksinken und spürte, daß er sehr schwach und
hungrig war. In diesem Moment drang der Klang ei ner Stimme an sein Ohr. Es war die Stimme Jeekies, und er sprach nicht; er sang auf englisch nach einer Melodie, die Alan sofort als einen gregorianischen Choral erkannte, anscheinend aus der zweiten Sänfte. »O Major«, sang er, »sind Sie schon vom erfri schenden Schlafe erwacht? Wenn ja, so singen Sie bitte eine Antwort, wie ein Kirchenchor, denn denken Sie daran, daß Sie jetzt ein verdammt großer Boß sind, Gemahl der Kleinen Bonsa, und nicht reden dürfen wie ein gewöhnlicher Kerl.« So schwach er auch war, hätte Alan beinahe laut aufgelacht, doch dann, als er sich daran erinnerte, daß man ihm Lachen vielleicht verübeln mochte, sang er seine Antwort, wie Jeekie es ihm angewiesen hatte, und da er eine recht gute Tenorstimme besaß, tat er das auch mit einiger Wirkung, zum offensichtlichen Entzücken jener Männer ihrer Eskorte, die sich in Hörweite befanden. »Ich bin erwacht, einfallsreicher Jeekie und fühle starken Hunger. Kannst du etwas dagegen tun, so es dem Gemahl der Kleinen Bonsa erlaubt ist, Nahrung zu sich zu nehmen?« Sofort antwortete Jeekies tiefe Stimme: »Das ist gute Nachricht, Major. Kann nicht kommen, um Ih nen Chop zu bringen, weil auch ich großes Tier ge worden bin, der Vogel, der auf der Rose sitzt, wie der Dichter sagt. Ich werde diesen Burschen befehlen, Ih nen Futter zu bringen, das Sie ohne Bedenken essen können, da diese Asiki prima kochen.« Es folgten laute Befehle Jeekies an seine unmittel bare entourage, und einige Verwirrung. Als Folge davon wurde Alans Sänfte wenig später
abgesetzt, die Vorhänge wurden aufgezogen, und kniende Frauen reichten einen Holzteller herein, auf dem, in Blätter gewickelt, Teile eines Vogels lagen, den er für ein Huhn oder Perlhuhn hielt, und einen Goldbecher mit Wasser, das durch Beimischen ir gendeiner Essenz einen angenehmen Geschmack aufwies. Dieser Becher interessierte ihn sehr, sowohl wegen seiner Form und Gestaltung, die zwar grob war, doch eine verblüffende Ähnlichkeit mit jenen Trinkgefäßen aufwies, die in mykenischen Gräbern gefunden worden waren. Er war außerdem ein Be weis dafür, daß Jeekies Berichte über den Überfluß an diesem wertvollen Metalle nicht übertrieben waren. Wenn es nicht sehr reichlich vorhanden wäre, über legte er, würden sie kaum ihre Reisebecher aus Gold herstellen. Offenbar gab es wirklich Reichtümer in diesem Lande. Nachdem ihm das Essen gereicht worden war, wurde die Sänfte wieder aufgehoben, und die Reise ging weiter; auf seinen Kissen sitzend aß und trank er herzhaft, denn nun, da die schlimmste Erschöpfung vorüber war, hatte er einen gewaltigen Hunger. Auf eine absurde Art erinnerte dieses Mahl ihn an das Es sen, das ein Reisender in einem Eisenbahnwagen in Europa oder in Amerika aus einem Servierkörbchen zu sich nimmt. Nur daß in jenem Fall die Trinkgefäße nicht aus Gold waren, und daß es bei den Asiki keine Papierservietten oder Salz oder Senf gab, und man nicht drei Shillings und Sixpence oder einen Dollar dafür bezahlen mußte. Außerdem war das Essen, da er sich noch nicht an die Leinenmaske mit den be weglichen Lippen gewöhnt hatte, nicht gerade sehr bequem. Dieses Problem löste er schließlich, indem er
die imitierten Lippen mit einem Knochenstück aus einanderspreizte, wonach es leichter ging. Als er gegessen hatte, warf er den Holzteller und die Reste aus der Sänfte, behielt jedoch den Becher zurück, um ihn genauer zu untersuchen, und nahm seine Konversation mit Jeekie wieder auf. Dabei er fuhr er, daß sie die Stadt der Asiki, die Bonsa-Stadt genannt wurde, bei Dunkelwerden oder etwas da nach erreichen würden. Auch wurde er darüber in formiert, daß die Leinenmaske, wie er vermutet hatte, eine Art Alltagskleidung war, ohne die er sich nie mals sehen lassen dürfe, da es ein Sakrileg der schlimmsten Art sei, wenn jemand, mit Ausnahme der Asiki selbst, das unverhüllte Gesicht des Mannes sehen würde, der auf eine so geheimnisvolle Weise mit der Kleinen Bonsa verbunden war. Wie Jeekie ihm berichtete, waren sogar den Priestern, die ihm die Maske angelegt hatten, während er bewußtlos gewesen war, vorher die Augen verbunden worden. Diese Nachricht war für Alan sehr bedrückend, daß die Aussicht, für eine nicht abzusehende Periode in einer Leinenmaske leben zu müssen, nicht sehr er heiternd war. Als er sich von dem Schock erholt hat te, sang er eine Frage nach dem Schicksal der OgulaRuderer und ihres Häuptlings Fahni. »Nicht tot«, intonierte Jeekie zur Antwort, »und auch nicht zurückgegangen. Alle leben, sind irgend wo hinten. Fanny fühlt sich gar nicht wohl, weil er glaubt, daß die Asiki sie als Opfer mitnehmen, die armen Hunde.« Schließlich erkundigte Alan sich, wo die Kleine Bonsa sei, und erhielt zur Antwort, daß er selbst, als ihr gesetzlicher Hüter, auf dem Blechkasten sitze, in
dem der Fetisch verwahrt sei, wovon er sich sofort überzeugte, indem er unter den Kissen danach taste te. Danach schwieg er, obwohl Jeekie weiterhin nach wie vor von interessanten Dingen sang. Es gab so viele anderes, das seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wenn er durch die Gucklöcher oder durch Spalten zwischen den Grasmatten-Vorhängen blickte, sah er, daß sie endlich den Scheitelpunkt des Ber grückens erreicht hatten, zu dem sie seit Stunden hinaufgestiegen waren. Vor ihnen erstreckte sich ein weites fruchtbares Tal, das zum größten Teil land wirtschaftlich genutzt zu werden schien, und durch das ein breiter, ruhiger Fluß strömte. Auf der gegen überliegenden Seite dieses Tales, in westlicher Rich tung, führte eine breite Landzunge zum Fuße einer Bergkette aus kahlen, schwarzen Felswänden, die Hunderte oder sogar Tausende Fuß hoch sein moch ten, und an der Spitze dieser Landzunge ergoß sich ein mächtiger Wasserfall an der Felswand herab, der aus dieser Entfernung wie eine Dampfkaskade aus sah. Dieser Bergfluß, welcher Raaba hieß, wie er sich erinnerte, stürzte in einen kleinen See, und teilte sich dort in zwei tosende Flüsse, die ein weites, ellipsen förmiges Areal umschlossen, das so auf allen Seiten von Wasser umgeben war. An seiner westlichen Spit ze vereinigten die beiden Wasserarme sich wieder, und nachdem sie eine Weile als ein Fluß geströmt waren, teilten sie sich erneut und strömten ruhig und langsam nach Süden und nach Norden, bis über den Horizont hinaus. Aus jener so gebildeten Insel, die vier Meilen lang und zwei Meilen breit sein mochte, standen Tausende strohgedeckter, quadratisch ge
bauter Häuser mit Veranden, und zwischen ihnen verliefen von Palmen gesäumte Straßen. Auf der ihnen zugewandten Seite des Sees lag et was, das wie ein Park wirkte, denn es wuchsen dort hohe schwarze Bäume, die Alan ihrer flachen Kronen wegen für eine Abart von Zedern hielt, und in der Mitte dieses Parks, in dem sonst keine Häuser zu entdecken waren, stand ein ausladender, niedriger Gebäudekomplex mit dunklen Mauern und Giebel dächern, die wie Feuer leuchteten. »Das Goldhaus«, flüsterte Alan erschüttert. »Es ist also doch nicht nur ein Traum oder eine Lüge.« Die Details konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen, noch versuchte er es, da der allgemeine Anblick dieses wunderbaren Bildes ihn in seinem Bann hielt. Um diese Abendstunde fielen die fast waagrechten Strahlen der untergehenden Sonne in eine tiefe, vom Wasser ausgewaschene Schlucht. Sie schienen auf den Wasserfall, tauchten ihn und die über ihm hängenden Nebelwolken in hundert wun derbare Farbtöne; das schäumende Wasser schien mit Regenbogen verwoben zu sein, deren Krümmung vom Zenit der Kaskade bis zu der unterhalb von ihr gelegenen düsteren Schwärze des Sees reichte. Einen herrlichen Anblick bot auch das Tal, das im stillen Abendlicht glühte, und selbst die Eingeborenenstadt wirkte so vergoldet und glorifiziert wie ein glückli cher Hort des Friedens. Die Sonne sank rasch, und bevor die Sänfte den Fuß der Bergkette erreichte und der Weg durch das fruchtbare Tal begann, war das herrliche, goldene Licht verschwunden, und nur der Katarakt leuchtete weiß und geisterhaft durch das Dunkel. Doch noch
immer strahlte ein Licht, das aus sich selbst zu glühen schien, auf jenen goldenen Dächern zwischen den Zedern; dann ging der Mond auf, und das Gold ver wandelte sich in Silber. Alan lehnte sich auf sein Kis sen zurück, erfüllt von einem Staunen, das fast Ehr furcht war. Es war ein Wunder, daß er überlebt hatte, um diesen geheimen Ort zu erreichen, der im Herzen Afrikas verborgen lag und von Sümpfen, Bergen und Wilden verteidigt wurde, und zu dem bisher nur ein einziger weißer Mann vorgedrungen war. Das stelle man sich vor! Und dieser weiße Mann, sein Onkel, hatte es nie der Mühe für wert gehalten, einen Bericht über diese Wunder zu veröffentlichen, die ihm offen bar unbedeutend erschienen waren. Oder vielleicht hatte er befürchtet, daß man ihm nicht glauben wür de, wenn er darüber berichtete. Nun, da waren diese Wunder, direkt vor ihm und um ihn herum, und jetzt erhob sich die Frage, welches Schicksal ihn in jenem Goldhaus erwarten mochte, in dem der mächtige Fe tisch mit einer Priesterin wohnte. Ah! Jene Priesterin! Unwillkürlich erschauerte er, als er an sie dachte; es war, als ob er schon jetzt unter ihrem Einfluß stünde. Dann vergaß er sie für eine Weile, da sie das Flußufer erreicht hatten und die Sänfte auf eine Barke oder Fähre getragen wurde, auf der sich eine große Zahl bewaffneter Männer befand. Offensichtlich wurde das Goldhaus streng geschützt, sowohl von der Natur, als auch sonst. Die Fähre wurde über den Fluß gezogen oder gerudert, er konnte nicht sagen, auf welche Weise sie fortbewegt wurde, und am anderen Ufer gelangten sie durch ein Tor in die Stadt; dort und zu beiden Seiten der breiten Straßen, auf der sie weiterzogen, hatten sich Hun
derte von Menschen versammelt, um seine Ankunft mitzuerleben. Sie schienen nicht zu sprechen, und falls sie sprachen, so wurden ihre Stimmen von dem Tosen des großen Katarakts übertönt, dessen unauf hörliches, dumpfes Dröhnen die Stadt beherrschte. Alan sollte mehrere Tage brauchen, um sich an dieses Dröhnen zu gewöhnen, doch die Bewohner des Asi ki-Landes schienen es kaum wahrzunehmen; ihre Ohren und Stimmen waren darauf eingerichtet, mit seiner Lautstärke fertigzuwerden, die ihre Vorväter von Anbeginn an gekannt hatten. Schließlich lag die Stadt hinter ihnen, und sie pas sierten ein Holztor in einer inneren Mauer, die den Park umgab, in welchem die Zedern wuchsen. Bei diesem Tor, stellte Alan fest, blieben alle zurück, mit Ausnahme der Sänftenträger und einiger weniger Männer, die er für Priester hielt. Weiter zogen sie, wie Geister, unter den mächtigen Bäumen hindurch, von deren Ästen lange Moosfahnen herabhingen. Es war fast völlig dunkel dort, nur an Stellen, wo ein Ast herausgebrochen war, warf das Mondlicht weiße Lichtflecke auf den Boden. Eine weitere Mauer und ein weiteres Tor, dann wurde die Sänfte plötzlich ab gesetzt. Ihre Vorhänge öffneten sich, das Licht von Fackeln durchbrach das Dunkel, und weißgekleidete Frauen, verschleiert und geheimnisvoll, traten auf ihn zu, verneigten sich vor ihm und halfen ihm aus seiner Sänfte. Er konnte durch die Schleier den Blick ihrer Augen spüren, vermochte jedoch nicht, ihre Gesichter zu sehen. Er sah nur ihre nackten, kupferfarbenen Arme und ihre feingliedrigen Hände, die sie aus streckten, um ihm zu helfen. Alan stieg aus der Sänfte, sehr langsam und zö
gernd, denn irgendwie spürte er eine Scheu vor dem seltsamen, geschnitzten Portal, das er vor sich sah. Er wollte nicht hindurchgehen, sein Anblick erfüllte ihn mit einem unerklärlichen Schauder. Die Frauen zogen ihn weiter, ihre Hände zerrten an seinen Armen, ihre Schultern drückten von hinten gegen ihn. Er sträubte sich weiter, blickte zögernd umher, bis er, zu seiner Erleichterung, die andere Sänfte eintreffen sah, der Jeekie entstieg, den Tropenhelm auf dem Kopf, aus dem die Reste des zerfetzten Moskitonetzes heraus hingen. »So, da wären wir, Major«, sagte er fröhlich, »wie der aufgetaucht wie falscher Halfpenny, aber in merkwürdiger Umgebung.« »Einer sehr merkwürdigen«, bestätigte Alan. »Könntest du diese Dame dazu überreden, mich los zulassen?« »Weiß nicht«, antwortete Jeekie zweifelnd. »Nehme an, daß sie Ihre Frauen sind; nehme an, daß Sie viele Frauen hier haben; sie kriegen schließlich nicht jeden Tag einen weißen Mann in die Finger, also wollen sie die Gelegenheit richtig ausnutzen. Beste Möglichkeit ist, auszuschlagen und ihnen zu zeigen, wer ihr Herr ist. Stoßen Sie ihre Nasen in den Dreck, gleich zu Be ginn, damit sie gutes Benehmen lernen, das ist erst klassige Taktik bei Frauen. Ich mag mich in so deli kate Sachen nicht einmischen.« Entsetzt über diese Ratschläge nahm Alan seine Kräfte zusammen und schüttelte die Frauen ab, wor aufhin diese, anscheinend ohne es ihm zu verübeln, ein Stück zurückwichen und sich verneigten wie Automaten. Dann sprach Jeekie sie in ihrer Sprache an und fragte sie, was ihnen einfiele, diesen himmels
geborenens, mächtigen Herrn durch die Berührung ihrer Hände zu verunreinigen, worauf sie sich noch demütiger als zuvor verneigten. Als nächstes warf er die Kissen von Alans Sänfte beiseite, holte den Kasten hervor, der die Kleine Bonsa enthielt, hielt ihn mit ausgestreckten Armen vor sich und befahl den Frau en, voranzugehen. Der Marsch begann – ein verwirrender Marsch. Er war wie ein Alptraum. Verschleierte Frauen mit lo dernden Fackeln gingen vor ihnen und hinter ihnen, als Jeekie, den zerbeulten Blechkasten in den Händen, und Alan durch lange, mit Gold verkleidete Korrido re schritten, dann am Rande eines schwarzen Wassers über eine breite Promenade. Schließlich traten sie in einen großen, von Lampen erhellten Raum, dessen Decke von vergoldeten Säulen getragen wurde, und in diesem Raum standen mit Kissen überladene Di wans, mit Elfenbein eingelegte Holzstühle, große, aus irgendeinem schwarzen, harten Holz gefertigten Wasserbecken, und in seiner Mitte befand sich ein großer Steinblock, der wie ein Altar wirkte. Jeekie stellte den Blechkasten auf diesen altarähnli chen Stein, wandte sich den hereindrängenden Frau en zu und sagte: »Bringt Essen!« Sofort verschwan den sie und schlossen die Tür hinter sich. »Erst einmal waschen«, sagte Alan. »Nimm mir diese verdammte Maske ab, Jeekie!« »Das darf ich nicht, Major, das darf ich nicht. Die Priester haben mir gesagt, wenn diese Frauen Sie oh ne Masken sehen, werden sie Sie vielleicht töten. Warten Sie, bis sie nach dem Essen gegangen sind, dann können Sie sie abnehmen. Niemand darf Sie ohne die Maske sehen, außer der Asika selbst.«
Alan trat zu einem der wassergefüllten Holzbek ken, das unter einer Lampe stand, und blickte auf sein Spiegelbild. Die Leinenmaske war vergoldet, ihre Lippen grellrot bemalt, die runden Augenlöcher schwarz umrandet. »Die ist ja entsetzlich!« rief er und wich erschrok ken zurück. »Ich sehe aus wie eine Kreuzung zwi schen einem Teufel und Guy Fawkes*. Willst du mir etwa sagen, daß ich in diesem Ding leben muß?« »Ich fürchte, ja, Major, wenn immer Sie sich Men schen zeigen. Jedenfalls sagen sie das. Sie sind heilig, und es ist nicht erlaubt, Ihr schönes Angesicht zu se hen.« »Für wen oder was halten mich denn die Asiki, Jeekie?« »Sie glauben, Sie sind Ihr Reverend Onkel, der nach vielen, vielen Jahren zurückgekehrt ist. Sie müs sen wissen, Major: sie glauben nicht, daß der Onkel mit der Kleinen Bonsa weggelaufen ist; sie glauben, die Kleine Bonsa ist mit dem Onkel fortgegangen, weil sie mal etwas anderes sehen wollte oder so, und daß sie ihn jetzt, wo sie genug hat von dem fremden Lande, wieder zurückbringt. Das ist der Grund dafür, daß Sie so heilig sind: Sie sind der Favorit der Kleinen Bonsa, die während der ganzen Zeit mit Ihnen gelebt und Sie immer in gleichen Alter gehalten hat, in der Blüte der Jugend.« »Um Himmels willen«, rief Alan entsetzt, »was soll ich denn noch alles tun mit diesem uralten, häßlichen Fetisch?« * Spottfigur, die am Guy Fawkes Day öffentlich verbrannt wird. – Anm. d. Übers.
»Still!« sagte Jeekie ernst, »so dürfen Sie von ihr in ihrem eigenen Haus nicht sprechen. Die Kleine Bonsa ist viel mehr als ein Fetisch, die Kleine Bonsa lebt; zumindest ...«, setzte er zweifelnd hinzu, »sagen diese dummen Nigger das. Sie ist die Frau des Großen Bonsa, den Sie morgen vielleicht sehen werden. Aber die Geschichte ist so: Sie hat Nase voll gehabt vom Großen Bonsa und ist mit dem weißen Medizinmann durchgebrannt, der zu sagen wagte, daß sie nichts anderes sei als ein heidnisches Idol. Sie wollte ihm zeigen, ob sie nur ein Idol ist oder nicht. Das ist das Garn, das die Priester mir heute erzählt haben. Sie haben ständig am Ufer des Sees nach ihr Ausschau gehalten. Sie waren sich immer sicher, daß die Kleine Bonsa zurückkommen werde. Also sind sie jetzt gar nicht sehr überrascht. Aber weil sie Sie geliebt hat, sind Sie heilig und bleiben auch heilig; und ich bin auch heilig, dem Himmel sei Dank, weil sie mich als Diener mitnahm. Deshalb können wir ruhig schlafen, denn sie werden uns nicht die Kehle durchschneiden – zumindest vorerst nicht – obwohl ich glaube«, setzte er seufzend hinzu, »daß sie uns nicht wieder gehen lassen werden.« Alan ließ sich auf einen Stuhl fallen und stöhnte über die Aussichten, die Jeekie ihm eröffnet hatte. »Kopf hoch, Major!« sagte Jeekie mitfühlend. »Vielleicht können wir ihnen irgendwie entwischen; und bis dahin sollten wir das Beste daraus machen und das Leben in vollen Zügen genießen. Sie haben doch unbedingt nach Asiki-Land kommen wollen, obwohl ich Ihnen sagte, daß es ein lausiges Land ist, und ...«, setzte er triumphierend hinzu und machte eine weit ausholende Geste, »bei Gott! Jetzt sind Sie
hier, und ich sage Ihnen, daß sie Ihnen alles Gold ge ben werden, das Sie haben wollen.« »Was nützt einem alles Gold, wenn man es nicht fortbringen kann? Was nützt einem irgend etwas, wenn man Gefangener dieser Teufel ist?« »Das mag die Zeit erweisen, Major. Auf jeden Fall: wenn Sie Nüsse wollen, müssen Sie auch die Schalen knacken. Still! Da kommt unser Abendessen. Setzen Sie sich aufrecht hin und sehen Sie heilig aus!« Die Tür öffnete sich und vier Frauen traten in den Raum, die Tabletts und Gefäße trugen, und Trinkbe cher aus Gold, die jenem glichen, den man Alan in die Sänfte gereicht hatte. Er stellte sofort fest, daß sie ihre Schleier und Oberbekleidung abgelegt hatten – falls es dieselben Frauen sein sollten – und nun, wie die meisten Afrikanerinnen, nur leichte, vorn offene Leinengewänder, kurze Röcke und Sandalen trugen. So war ihre Kleidung, die, so knapp sie auch sein mochte, doch sehr anmutig war. So wurde das Leinengewand durch eine Brosche aus gehämmerten Golde zusammengehalten, und die Riemen der San dalen ebenfalls, während der kurze Rock mit Ketten aus Gold und Steinen in verschiedenen, leuchtenden Farben verziert war, die bei jedem Schritt seiner Trä gerin klirrten. Diese jungen Frauen waren alle bemer kenswert schön, hatten wunderbare Körper und gut geschnittene Gesichter, sanfte, dunkle Augen und langes Haar, das sie auf attraktive Art trugen. Sie traten auf Alan zu, und zwei von ihnen knieten vor ihm nieder und hielten ihm die Tabletts entgegen, auf denen sich das Essen befand. In dieser Stellung verharrten sie wie Bronzestatuen, während er aß, und sie weigerten sich auch, ihre Haltung zu verändern,
nachdem er ihnen in ihrer Sprache gesagt hatte, daß sie gehen könnten. Als sie sich in der Asiki-Sprache angesprochen hörten, schienen sie überrascht, denn ihr Gesichtsausdruck änderte sich ein wenig, doch fortgehen wollten sie nicht. Die Folge davon war, daß Alan zunehmend nervöser wurde und so hastig aß und trank, daß er kaum merkte, was er in seinen Mund steckte. Bevor Jeekie, vor dem die Frauen nicht knieten, auch nur zur Hälfte fertiggegessen hatte, er hob sich Alan und ging fort, woraufhin zwei der Frauen alles einsammelten, einschließlich der Dinge, die sie Jeekie gegeben hatten, und sie, ohne auf des sen Protest zu achten, hinaustrugen. »Hören Sie, Major«, sagte Jeekie. »wenn Sie den Chop so schnell schlucken, werden Sie krank. Ein armer Nigger wie ich kann da nicht mithalten und muß nun hungrig zu Bett gehen.« »Es tut mir leid, Jeekie«, sagte Alan lachend, »aber ich kann nun einmal nicht von lebenden Tischen es sen, besonders wenn sie einen so anstarren. Sag ih nen, daß ich morgen allein zu frühstücken wünsche.« »O ja, das will ich ihnen schon sagen, Major, aber ich weiß nicht, ob sie darauf hören werden. Sie halten es für eine große Ehrung und werden nur glauben, daß die Mädchen Ihnen nicht gefallen haben und an dere schicken.« »Hör zu, Jeekie!« sagte Alan und wandte sein mas kiertes Gesicht den beiden Mädchen zu, die zurück geblieben waren. »Wir wollen von Anfang an klare Verhältnisse schaffen. Schick sie hinaus! Sag ihnen, ich sei so heilig, daß mir die Kleine Bonsa völlig rei che. Sag ihnen, daß ich den Anblick von Frauen nicht ertragen kann, und daß ich sie opfern werde, wenn
sie bleiben. Sag ihnen, was du willst, aber schick sie weg und verschließ die Tür!« So gedrängt begann Jeekie auf die beiden Frauen einzureden, und als sie seine Worte mit hoheitsvoller Verachtung straften, packte er erst die eine und dann die andere beim Arm und schleppte sie hinaus. »So«, sagte er, »diese Bagage sind wir los, obwohl ich fürchte, daß sie mir dafür die Bohne geben wer den« (womit er die Calabar-Bohne meinte, ein be liebtes Gift der Eingeborenen). »Nun, das Essen ist fort, die Mädchen sind fort, und wir sind müde, also sollten wir am besten zu Bett gehen. Ich denke, wir haben jetzt Ruhe, obwohl man dessen im Goldhaus niemals sicher sein kann«, und mißtrauisch umher blickend fügte er hinzu: »Komisches Haus, dieses Goldhaus, überall voller Löcher, von alten Leuten vor Tausenden von Jahren gemacht, die niemand kennt außer den Bonsa-Priestern. Aber wir müssen wohl das Risiko eingehen und Ihnen das Gesicht abneh men, damit Sie sich ordentlich waschen können.« Er begann die Verschnürung der Maske am Hinterkopf Alans zu lösen. Nie war ein für einen Maskenball mit der Rüstung eines normannischen Ritters verkleideter Kontor schreiber glücklicher gewesen, aus seinem Kostüm zu steigen, als Alan es jetzt war, seine elende Maske los zuwerden. Schließlich war sie herunter, zusammen mit seiner anderen Kleidung, und nachdem er die dringend benötigte Waschung vorgenommen hatte, zog er ein bequemes Leinengewand an, das offen sichtlich für ihn bereitgelegt worden war, und streckte sich auf einem der Sofas aus, den Revolver neben sich.
»Werden die Lampen die ganze Nacht über bren nen, Jeekie?« fragte er. »Das hoffe ich, Major, da wir keine Streichhölzer haben. Ich bin kein Freund von Dunkelheit, beson ders nicht im Goldhaus«, antwortete Jeekie verschla fen. Dann begann er zu schnarchen. Alan schlief auch bald ein, war jedoch zu erregt und zu müde, um wirklich Ruhe finden zu können. Alle möglichen Träume suchten ihn heim, von denen einer ihm beim Erwachen erinnerlich blieb, vielleicht weil es der letzte war. Ihm träumte, daß er ein Ge räusch hörte, und als er die Augen öffnete, erkannte er, daß er nicht mehr allein im Raum war. Die Öllam pen waren niedergebrannt, einige von ihnen sogar ausgegangen, doch im Licht jener, die noch brannten, sah er eine hochgewachsene Gestalt, die am Rande des umgebenden Dunkels erschien, die Gestalt einer Frau. Sie schritt zu dem altarähnlichen Stein, auf dem der Blechkasten lag, der die Kleine Bonsa enthielt, und nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr, ihn zu öffnen, wodurch sie ein Geräusch verur sachte, das Alan, in seinem Traum, schließlich weck te. Eine ganze Weile blickte die Gestalt den Fetisch an. Dann schloß sie den Deckel des Kastens wieder, glitt zu seinem Diwan und beugte sich über ihn, wie um ihn genau zu betrachten. Aus den Augenwinkeln sah er sie an, während er so tat, als ob er fest schliefe. Es war die Gestalt einer Frau, die in wunderbare goldbestickte, schleierartige Gewänder gekleidet war, den Busen mit feinen Goldplättchen bedeckt, die wie Fischschuppen übereinandergriffen und die außer gewöhnliche Eleganz ihrer schlanken Figur betonten. Das matte Licht der Lampen fiel auf ihr Gesicht und
auf eine kleine Goldkrone, die auf ihrem dunklen Haar saß. Was für ein Gesicht dies war! Noch nie in seinem Leben hatte er ein Gesicht von so böser Schönheit gesehen. Die großen, trägen, mandelförmi gen Augen, die vollen, roten, bogenförmig ge schwungenen Lippen, das grausame Lächeln des Mundes, die breite Stirn mit dem tiefen Haaransatz, die elegant geschwungenen Brauen und die langen, gebogenen Wimpern, die gerundeten Wangen, so glatt wie reife Früchte, das feste, gut geformte Kinn, die schlangenähnliche Haltung des Kopfes, der lange, schlanke Hals, und das katzenartige Lächeln; all dies zusammengenommen schuf eine Traumvision, wie er sie noch niemals zuvor gesehen hatte – und, ehrlich gesagt, nie wieder zu sehen wünschte. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß ihm, wenn Satan zufällig ei ne kupferhäutige Frau habe sollte, ihr Ebenbild im Schlaf erschienen sein mußte. Sie betrachtete ihn mit geradezu leidenschaftlichem Interesse, tat einen kleinen Schritt nach links, dann nach rechts, um ihn von allen Seiten zu mustern. Sie streckte den Arm aus und hob den Rand der Decke an, um seine Hand freizulegen, die linke. Am kleinen Finger dieser Hand trug Alan einen schlichten Gold ring, den Barbara ihm gegeben hatte, und der einst der Siegelring ihres Großvaters gewesen war. Dieser Ring, auf dessen Platte ein Wappen eingeschnitten war, schien sie sehr zu interessieren, denn sie stu dierte ihn eine ganze Weile. Dann zog sie einen gol denen Ring von ihrem Finger, der wie zwei auf selt same Weise miteinander verschlungene Schlangen geformt war, und streifte ihn – so behutsam, daß er es in seinem Schlaf kaum spürte – neben Barbaras Ring
auf seinen Finger. Danach war sie plötzlich verschwunden, und Alan schlief tief und fest, bis er am Morgen durch das durch die hohen, mit Gitterwerk verzierten Fenster hereinfallende Licht geweckt wurde.
11
Die Halle der Toten
Alan richtete sich im Bett auf und reckte die Arme, und als Jeekie, der die Fähigkeit eines Hundes besaß, sofort aus offenbar tiefstem Schlaf aufzuwachen, ihn hörte, setzte er sich ebenfalls auf. »Haben Sie wohl geruht, Major? Keine Träume, eh?« fragte er neugierig. »Nicht sehr gut«, antwortete Alan, »und ich hatte einen Traum von einer Frau, die über mich gebeugt stand und dann plötzlich verschwand, wie es oft in Träumen ist.« »Ah!« sagte Jeekie. »Aber woher haben Sie den neuen Ring am Finger, Major?« Alan starrte auf seine Hand und zuckte zusammen, denn dort, neben Barbaras Ring, saß ein anderer, der wie miteinander verschlungene Schlangen geformt war, und den er in seinem Traum gesehen hatte. »Dann muß es Wirklichkeit gewesen sein«, sagte er mit leiser und etwas verängstigter Stimme. »Aber wie ist sie gekommen und gegangen?« »Komischer Ort, das Goldhaus. Habe ich Ihnen schon gestern gesagt, Major. Die Menschen kommen hier durch Löcher, wie Ratten. Man ist nie ganz si cher, allein zu sein, im Goldhaus. Aber wie sah die Frau aus?« Alan beschrieb seine Besucherin so genau, wie es ihm möglich war. »Ah!« sagte Jeekie, »ein hübsches Mädchen. Große Augen, goldene Krone, goldener Büstenhalter – sehr
elegant; eine Art Nachthemd, mit goldenen Sternen überall – bei allen Geistern, ich glaube, das war Asika selbst. Wenn dem so war – großes Kompliment!« »Ich pfeife auf das Kompliment, ich denke, es war eine große Unverschämtheit!« sagte Alan aufge bracht. »Was bildet sie sich ein, hier mitten in der Nacht einfach hereinzuspazieren und mir Ringe auf die Finger zu stecken?« »Weiß ich nicht, Major, aber vielleicht möchte sie Sie wissen lassen, daß Sie ihr gefallen. Wir werden das schon nach und nach herausbekommen. Aber tragen Sie diesen Ring, denn so lange der auf Ihrem Finger sitzt, wird niemand wagen, Ihnen etwas zu tun.« »Du hast mir doch gesagt, daß diese Asika eine verheiratete Frau ist, nicht wahr?« bemerkte Alan dü ster. »O ja, Major, immer verheiratet; der eine geht, der andere kommt. Aber sie mag ihren Mann nicht mehr, und dann macht sie ihn fertig, und er stirbt sehr schnell. Es ist eine große Ehre, Asikas Ehemann zu sein, geht aber rasch vorbei. Vielleicht ...« Er sprach den Gedanken nicht aus, sondern schlug Alan vor, ein Bad zu nehmen, während er seine Kleidung reini gen und instandsetzen würde, was sie dringend nötig hatte. Kaum hatte Alan seine Toilette beendet und das arabisch wirkende Leinengewand über seine ver schlissene Flanellsachen angezogen, und auch wieder die verhaßte Maske angelegt, die er, wie Jeekie ihn beschwor, ständig tragen müsse, als es an die Tür klopfte. Jeekie bedeutete Alan, seinen Platz auf einem der Stühle einzunehmen, und schob dann den Riegel
zurück. Wie zuvor erschienen Frauen mit dem Essen und warteten, während sie es verzehrten, was Alan, der seine Nervosität etwas überwunden hatte, jetzt mit größerer Ruhe tat. Als sie gegessen hatten, fragte eine der Frauen Jeekie – denn seinen Herrn wagten sie offenbar nicht anzusprechen – ob der weiße Herr sich nicht im Garten zu ergehen wünsche. Ohne auf eine Antwort zu warten, führte sie ihn dann zum En de des großen Raums, entriegelte eine weitere Tür, die er bis dahin nicht bemerkt hatte, welche auf einen Korridor hinausführte, hinter dem er Bäume und Blumen sah. Dann trugen sie und ihre Gefährtinnen die Reste des Frühstücks hinaus. »Komm!« sagte Alan und nahm den Blechkasten, der die Kleine Bonsa enthielt, unter den Arm, da er nicht wagte, sie unbewacht zurückzulassen, »laß uns ein wenig an die frische Luft gehen.« Also gingen sie den Korridor entlang und traten an dessen Ende durch eine Gittertür aus Kupfer oder Gold, die offensichtlich für sie offen gelassen worden war, in den Garten. Es war ein großer Garten von mehreren Acres Ausdehnung und recht gut gepflegt; es gab angelegte Wege und sogar Blumenrabatten. Auch wuchsen in ihm einige der mächtigen Zedern, die sie aus der Ferne erblickt hatten, unter deren ausladenden, dichten Kronen Dämmerlicht herrschte, während dahinter, nicht mehr als eine halbe Meile entfernt, der herrliche Wasserfall die steile Felswand herabdonnerte. Sie konnten jedoch keinen Ausgang aus diesem Garten entdecken, der auf der einen Seite von einer steilen Felswand begrenzt wurde, und an den anderen von hohen Steinmauern, hinter denen der Fluß toste, und von den Gebäuden des Goldhauses.
Eine Weile gingen sie auf den Wegen hin und her, bis schließlich Jeekie, der dieser Beschäftigung müde wurde, bemerkte: »Melancholisches Loch, Major. Er innert mich an Westminster Abbey im Londoner Ne bel, wohin Ihr Onkel gesegneten Andenkens mich oft mitnahm, um zu beten und das verstaubte Grab vom König anzusehen. Ich schlage vor, wir gehen ins Goldhaus zurück und warten, was passiert. Alles ist besser, als hier unter den alten Zederbäumen zu ste hen.« »In Ordnung«, sagte Alan, der durch die Au genöffnungen seiner Leinenmaske die Mauern über prüft hatte, um zu sehen, ob es irgendwo eine Stelle gab, an der man sie überklettern konnte, wenn es notwendig werden sollte, jedoch keine finden konnte. Also kehrten sie in den Raum zurück, der während ihrer Abwesenheit ausgefegt und aufgeräumt worden war. Kaum waren sie eingetreten, als die Tür sich öff nete und einige Asiki-Priester hereintraten, von de nen jeder unter der Last eines Fellbeutels auf den Schultern taumelte, und diese Beutel häuften sie auf den Steinaltar. Dann, wie auf ein Signal hin, öffnete jeder die Verschnürung seines Beutels, und Alan sah, daß sie mit Gold gefüllt waren, Gold in Staubform, Gold in Nuggets, Gold in Form von Gefäßen, teils in unversehrtem Zustand, teils zerbrochen; es war mehr Gold, als Alan je zuvor gesehen hatte. »Warum bringen sie all dieses Zeug hierher?« fragte er, und Jeekie übersetzte die Frage. »Es ist eine Opfergabe für den Gemahl der Kleinen Bonsa«, antwortete der oberste der Priester mit einer Verneigung, »eine Gabe der Asika. Der himmelsgebo rene weiße Mann ließ durch seine Ogula-Boten be
stellen, daß er Gold wünsche. Hier ist das Gold, das er wünschte.« Alan starrte den Schatz an, welcher letztendlich das war, was zu erlangen er hierhergekommen war. Wenn er ihn nun sicher in England hätte, wäre er ein reicher Mann und aller seiner Sorgen ledig. Aber wie konnte er ihn nach England schaffen? Hier war das Gold genauso wertlos wie Schlamm. »Ich danke der Asika«, sagte er. »Ich bitte sie um Träger, um ihre Gabe in mein Land bringen zu kön nen, da sie zu schwer ist, als daß ich und mein Diener sie allein tragen könnten.« Bei diesen Worten lächelten die Priester ein wenig, dann sagten sie, daß die Asika den weißen Herrn zu sehen und von ihm die Kleine Bonsa zu erhalten wünsche, als Gegengabe für das Gold, und daß er dann seine Bitte ihr vortragen könne. »Gut«, antwortete Alan. »Führt mich zu der Asi ka!« Sie setzten sich in Bewegung. Alan trug den Blech kasten, der die Kleine Bonsa enthielt, und Jeekie folgte ihm. Sie gingen durch Korridore und passier ten mehrere Türen, bis sie schließlich in eine lange, schmale Halle gelangten, deren Wände mit Gold platten bedeckt waren. Am Ende dieser Halle befand sich auf einem Podest ein großer Sessel aus schwar zem Holz und Elfenbein, und auf diesem Sessel, von Sonnenlicht beleuchtet, das durch eine hoch gelegene Öffnung hereinströmte, saß die Frau aus Alans Traum, wunderbar anzusehen mit ihrer Krone und ihrer glitzernden Kleidung. Auf einem Hocker zu Fü ßen des Podestes saß ein Mann, ein gut aussehender, doch melancholischer Mann. Sein Haar war hinter
dem Kopf zu einem Zopf geflochten und vergoldet, sein Gesicht mit roten, weißen und gelben Farben bemalt; er trug Ketten aus farbigen Steinen um den Hals, um seine Taille, um Hand- und Fußgelenke, und er hielt eine Art Zepter in der Hand. »Wer ist das?« fragte Alan über die Schulter. »Der Hofnarr?« »Der Ehemann der Asika, Major«, antwortete Jee kie. »Er ist kein Narr, sondern ein großer Boß, aber er sieht jetzt etwas traurig aus, weil seine Zeit bald ab gelaufen ist. Kommen Sie, Major, die Asika winkt uns! Sie müssen sich auf den Bauch werfen und krie chen; das ist hier so Brauch«, setzte er hinzu und ließ sich auf Hände und Knie nieder, wie es auch alle die Priester taten, die ihm folgten. »Ich lege mich vor niemand auf den Bauch«, ant wortete Alan entschieden, und begleitet von dem kriechenden Jeekie und dem Gefolge kriechender Priester, schritt er durch die lange Halle zum Rand des Podestes, wo er stehen blieb und sich vor der thronenden Frau verneigte. »Sei gegrüßt, weißer Mann«, sagte sie mit leiser Stimme, nachdem sie ihn eine Weile gemustert hatte. »Verstehst du meine Sprache?« »Ein wenig«, antwortete Alan, »doch mein Diener spricht sie gut und kann übersetzen.« »Das ist gut«, sagte sie. »Sag mir dann, werfen sich in deinem Land die Menschen nicht vor ihrer Königin nieder, und wenn nicht, wie grüßen sie sie?« »Nein.« antwortete Alan mit Hilfe Jeekies. »Sie grüßen sie, indem sie ihre Kopfbedeckung heben oder ihre Hand küssen.« »Ah!« sagte sie. »Nun, du hast keine Kopfbedek
kung auf, also küß meine Hand.« Damit streckte sie ihm ihre Hand entgegen, während sie gleichzeitig den Mann, von dem Jeekie sagte, daß er ihr Ehemann sei, mit dem Fuße anstieß, anscheinend, weil er ihr im Wege war. Da Alan nicht wußte, was er sonst tun sollte, trat er auf das Podest, wobei der bemalte Mann ihn finster anblickte, als er an ihm vorbeiging. Dann blieb er ste hen und sagte: »Wie kann ich deine Hand durch diese Maske küssen, Asika?« »Das ist wahr«, sagte sie, dann überlegte sie einen Moment lang und setzte hinzu: »Weißer Mann, du hast die Kleine Bonsa zurückgebracht, nicht wahr; die Kleine Bonsa, die vor vielen, vielen Jahren mit dir da vongelaufen ist?« »Das habe ich«, sagte er und überging den Rest der Frage. »Deine Boten sagten, daß du für die Rückkehr der Kleinen Bonsa eine Gabe von Gold wünschtest. Ich habe dir Gold geschickt; ist es genügend? Wenn nicht, kannst du mehr haben.« »Das kann ich nicht sagen, Asika; ich habe es noch nicht überprüft. Doch ich danke dir für das Geschenk und bitte um Träger, um es fortschaffen zu können.« »Du bittest um Träger«, wiederholte sie nachdenk lich. »Darüber werden wir sprechen, wenn du dich hier einen Monat oder zwei ausgeruht hast. Doch jetzt gib mir die Kleine Bonsa, damit sie an den ihr gebührenden Ort zurückgebracht werde.« Alan öffnete den Blechkasten, hob den Fetisch her aus und übergab ihn der Priesterin, die ihn entgegen nahm und mit einer schlangenartigen Bewegung von unerhörter Eleganz von ihrem Sessel glitt, wobei sie
die Maske mit beiden Händen über ihren Kopf hielt und dann dreimal ihr Gesicht mit ihr bedeckte. Als das getan war, befahl sie den Priestern, die Kleine Bonsa an ihren Ort zurückzubringen und im ganzen Lande zu verbreiten, daß die Göttin wieder heimge kehrt sei. Sie fügte hinzu, daß das traditionelle Ban kett der Kleinen Bonsa in drei Tagen in der Nacht des vollen Mondes stattfinden werde, und befahl, daß alle Vorbereitungen dafür getroffen werden sollten, wie es der Brauch sei. Darauf erhob sich der oberste Medizinmann auf Hände und Knie und kroch zu dem Podest, nahm den Fetisch aus ihren Händen entgegen, und er und seine Begleiter stimmten einen wilden Triumphge sang an, während sie rückwärts aus der Halle kro chen und durch die Tür verschwanden. Als die Priester fort waren, blickte die Asika den Mann zu ihren Füßen auf eine nachdenkliche Art an, und Alan blickte ihn ebenfalls durch die Augenöff nungen seiner Maske an, wobei er feststellte, daß er dieses Interesse wert war. Wie bereits gesagt, war er trotz seiner Bemalung und des grotesken Schmucks ein für einen Eingeborenen sehr gut aussehender Mann mit gut geschnittenen Zügen eher arabischen Typs. Er war groß und kräftig und weniger als drei ßig Jahre alt. Was Alan jedoch am meisten auffiel, waren weder seine Züge, noch seine Edelsteinketten oder selbst sein vergoldeter Zopf, sondern seine Au gen, die voller Angst waren. Als Alan sie sah, erin nerte er sich an Jeekies Geschichte, die dieser Mr. Haswells Gästen in ›The Court‹ erzählt hatte, welche davon berichtete, daß jeder Ehemann der Asika von Geistern in den Wahnsinn getrieben werde.
Die Asika wandte sich nun an diesen Mann und sagte: »Laß uns allein, Mungana, ich wünsche mit diesem weißen Herrn zu sprechen.« Er schien sie nicht zu hören, sondern starrte weiter Alan an. »Höre!« rief sie mit eisiger Stimme. »Gehorche und geh hinaus, oder du wirst heute nacht nicht allein schlafen, in einer gewissen Halle, von der du weißt?« Darauf erhob sich Mungana, blickte sie an, wie ein Hund einen grausamen Herrn anblicken mag, der sich anschickt, ihn zu schlagen – ja, mit genauso ei nem Ausdruck – barg einen Moment lang sein Ge sicht in beiden Händen, wandte sich dann um und verließ die Halle durch eine Seitentür, die er hinter sich schloß. Die Asika blickte ihm nach, lachte und sagte: »Es ist eine sehr langweilige Angelegenheit, verheiratet zu sein. Wie heißt du, weißer Mann?« »Vernon«, antwortete er. »Vernun, Vernun«, wiederholte sie, da sie das o of fenbar nicht aussprechen konnte. »Bist du verheiratet, Vernun?« Er schüttelte den Kopf. »Warst du verheiratet?« »Nein«, antwortete er, »doch ich werde bald heira ten.« »Ja«, wiederholte sie, »du wirst bald heiraten. Du erinnerst dich sicher, daß du auch vor vielen, vielen Jahren kurz davor standest, als die Kleine Bonsa ei fersüchtig wurde und mit dir davonlief. Nun, sie wird es bestimmt nicht wieder tun, denn zweifellos ist sie deiner inzwischen überdrüssig. Und außer dem«, setzte sie mit einem plötzlichen Anflug von Wildheit hinzu, »würde ich sie dann einschmelzen
und ihren Geist freisetzen.« Während Jeekie noch versuchte, diese geheimnis vollen Worte für Alan zu übersetzen, unterbrach die Asika mit der Frage: »Möchtest du diese Maske stän dig tragen?« »Ganz gewiß nicht«, antwortete er, woraufhin sie Jeekie befahl, sie ihm abzunehmen. Jeekie gehorchte. »Verstehe mich richtig«, sagte sie, richtete den Blick ihrer großen, trägen Augen auf ihn und sah ihn auf eine Weise an, die in ihm ein ausgesprochen unbe hagliches Gefühl erweckte, »verstehe, Vernun, daß du die Maske immer tragen mußt, wenn du hinausgehst und sie nur abnehmen darfst, wenn du mit mir allein bist.« »Warum?« fragte er. »Weil ich nicht will, Vernun, daß irgendeine andere Frau dein Gesicht sieht. Wenn eine Frau dein unbe decktes Gesicht sehen sollte, stirbt sie – auf eine nicht sehr schöne Art.« Alan starrte sie ausdruckslos an, da er nicht die passenden Asiki-Worte finden konnte, um auf diese Drohung zu antworten. Doch die Asika lehnte sich nur in ihrem Sessel zurück und lachte über seine of fensichtliche Verwirrung und Verunsicherung, bis ihr ein neuer Gedanke kam. »Deine Lippen sind jetzt frei«, sagte sie, »also küß meine Hand, wie es in deinem Land Brauch ist.« Da mit streckte sie Alan ihre Hand entgegen, dem nichts anderes übrig blieb, als ihrem Wunsche zu willfah ren. »Aber Vernun«, sagte sie, als sie dann seine Hand nahm und sie mit ihren roten Lippen berührte, »bist du etwa ein Dieb? Dieser Ring gehört mir, und du
hast ihn gestohlen. Wie hast du ihn gestohlen?« »Das weiß ich nicht«, antwortete er durch Jeekie, »ich habe ihn an meinem Finger gefunden. Ich begrei fe nicht, wie er dorthin gekommen ist. Und ich be greife nicht eins von all deinen Worten.« »Nun gut, behalte ihn, Vernun, doch gib mir im Aus tausch dafür jenen anderen Ring an deiner Hand!« »Das kann ich nicht«, antwortete er errötend. »Ich habe versprochen, ihn stets zu tragen.« »Wem hast du das versprochen?« fragte sie mit ei nem Aufflammen von Wut. »War es eine Frau? Nein, ich sehe, es ist der Ring eines Mannes, und das ist gut, denn sonst würde ich einen Fluch auf sie herab bringen, ganz gleich, wie weit entfernt sie auch leben mag. Sprich nicht mehr davon, und vergib mir mein Auffahren. Ein Versprechen ist ein Versprechen – be halte also deinen Ring. Doch wo ist der, den du in vergangener Zeit trugest? Ich erinnere mich, daß ein Kreuz auf ihm war, nicht dieser Stern und die Gestalt eines Adlers.« Nun erinnerte sich Alan, daß sein Onkel so einen Ring mit einem Kreuz besessen hatte, und wurde von Furcht gepackt, denn wie konnte diese Frau von sol chen Dingen wissen? »Jeekie«, sagte er, »frag die Asika, ob ich verrückt bin, oder ob sie es ist. Woher will sie wissen, was ich einstens getragen habe, da ich doch gestern zum er sten Mal hierher kam und ich sie gewiß nicht anderen Orts getroffen habe?« »Sie meint, als Sie Ihr Reverend Onkel waren«, sagte Jeekie und schüttelte hilflos seinen großen Kopf. »Sie denkt, daß Sie er sind.« »Was hast du, Vernun?« fragte die Asika leise, um
dann alles andere als leise Jeekie anzufahren: »Über setze, du Hund, und mach schnell!« Also übersetzte Jeekie sehr eilig, sagte ihr alles, was Alan gesagt hatte, und setzte von sich aus hinzu, daß er, der unwissende weiße Mann, natürlich nicht ver stehen könne, wie sie, die eine sehr junge Frau sei, ihn gesehen haben könne, bevor sie geboren worden war. Wenn dem so wäre, würde sie jetzt alt und häßlich sein und nicht jung und schön. »Ich habe dich noch nie gesehen, und du hast mich noch nie gesehen, dennoch sprichst du, als ob wir Freunde seien«, unterbrach Alan in seinem stocken den Asiki. »Das waren wir auch im Geiste, Vernun. Es war sie, die vor mir war, die jenen weißen Mann liebte, dessen Gesicht so war wie das deine es ist, doch ihr Geist lebt in mir fort und erzählt mir die Geschichte. Es hat viele Asikas gegeben; seit Tausenden von Jahren re gieren sie schon dieses Land, doch nur ein Geist ist in ihnen allen; er ist die Schnur, auf der die Perlen ihrer Leben aufgereiht sind. Weißer Mann, ich, die du für jung hältst, weiß alles bis zurück zum Anbeginn der Welt, bis zurück zu jener Zeit, da ich eine Affenfrau war und in den Bäumen saß, und wenn du es willst, kann ich dir davon erzählen.« »Das möchte ich wirklich sehr gerne hören«, ant wortete Alan, als er die Bedeutung ihrer Worte be griffen hatte, »obwohl es seltsam ist, daß keiner von uns anderen sich an so etwas erinnern kann. Ich möchte dir jedoch mitteilen, Asika, daß ich in mein Land zurückkehren möchte, unter Mitnahme des Goldes, das du mir gabst. Wann wirst du mir erlau ben, abzureisen?«
»Nicht so bald, denke ich«, sagte sie und lächelte ihn an. Es war ein unheimliches Lächeln, und es gibt kein anderes Wort, um es besser zu beschreiben. »Mein Geist sagt mir, daß es immer so gewesen ist. Jene Wanderer, die hierherkamen, wollten immer in ihr Land zurückkehren, wie die Vögel im Frühling. Einst kam ein weißer Mann – das war vor mehr als zwanzighundert Jahren – der aus einem Land na mens Rom kam und einen Helm trug. Er wünschte, zurückzukehren, doch meine Mutter jener Tage be hielt ihn hier, und irgendwann werde ich ihn dir zei gen, wenn du willst. Vor ihm war ein brauner Mann gekommen, aus einem Land, wo ein großer Fluß jedes Jahr über die Ufer tritt. Er war ein Fürst in seinem Lande, der vor seinem König geflohen war, und die Wüstenmenschen hatten ihn zum Sklaven gemacht, also ist er hierher gekommen. Auch er wollte nach Hause zurückkehren, denn meine Mutter jener Tage, oder mein Geist, der in ihr wohnte, zeigte ihm, daß er, wenn er nur zurückkehrte, zum König seines Lan des gemacht werden würde. Doch meine Mutter jener Tage wollte ihn nicht gehen lassen, und irgendwann werde ich ihn dir zeigen, wenn du willst.« Verwirrt, verwundert hatte Alan ihr zugehört. Of fensichtlich war diese Frau verrückt, oder sie spielte aus irgendwelchen persönlichen Gründen die Rolle der geheimnisvollen Priesterin. »Wann wirst du mich gehen lassen, Asika?« wie derholte er. »Noch nicht so bald«, sagte sie wieder. »Du bist schön, und ich mag dich.« Sie lächelte ihn an. Es lag nichts Lüsternes in diesem Lächeln – aber es ließ ihn erschauern. »Ich mag dich«, fuhr sie mit ihrer ver
träumten Stimme fort, »ich möchte dich bei mir be halten, bis dein Geist von meinem Geist aufgesogen ist, ihn stark und reich macht, so wie es alle vorher gehenden Geister getan haben, jene Geister, die mei ne Mütter von Anbeginn an liebten und die heute in mir wohnen.« Nun spürte Alan, wie Entsetzen in ihm aufstieg. »Königin«, sagte er, »gerade eben hat noch dein Ehegemahl hier gesessen; ist es denn recht, daß du so zu mir sprichst?« »Mein Ehegemahl?« antwortete sie lachend. »Dieser Mann ist lediglich ein Sklave, der die Rolle eines Ehe gemahls spielt, um einem uralten Gesetze zu genügen. Niemals hat er auch nur meine Fingerspitzen geküßt; meine Dienerinnen – jene, die euch gestern das Essen brachten – sind seine Frauen, nicht ich, und ich werde es auch niemals sein. Bald wird er aus Liebe zu mir sterben, und dann, wenn er tot ist, doch nicht vorher, darf ich einen neuen Ehemann nehmen, jeden Mann, den ich mir wähle, und ich glaube nicht, daß ein schwarzer Mann jemals mein Herr sein wird, da ich anderes, reineres Blut in mir habe. Vernun, fünf Jahr hunderte sind vergangen, seit eine Asika wirklich verheiratet war, mit einem Fremden, der einen grü nen Turban trug und sich einen Sohn des Propheten nannte, mit einem Manne, der eine Hakennase und glühende Augen hatte, und der unsere Götter ver höhnte, bis sie ihn töteten, obwohl er der Geliebte ih rer Priesterin war. Sie, die vor mir war, wollte auch jenen weißen Mann heiraten, dessen Gesicht wie dein Gesicht war, doch er floh mit der Kleinen Bonsa, oder vielmehr die Kleine Bonsa floh mit ihm. Also starb sie unverheiratet, und ich trat ihre Nachfolge an.«
»Aber wie das, wenn sie, die du deine Mutter nennst, nicht deine Mutter war?« »Was bedeutet dir das, weißer Mann?« erwiderte sie hoheitsvoll. »Ich bin hier, so wie mein Geist von Anbeginn an hiergewesen ist. Oh! Ich verstehe, du glaubst, ich lüge dich an. Dann komm! Komm mit mir, und ich werde dir jene zeigen, die seit Anbeginn die Ehemänner der Asika gewesen sind.« Sie erhob sich von ihrem Thron und nahm ihn bei der Hand. Sie schritten durch Türen und lange, mattbeleuch tete Korridore, bis sie zu einem großen Tor gelangten, das von zwei alten, mit Speeren bewaffneten Prie stern bewacht wurde. Als sie sich dieser Priester nä herten, löste die Asika einen Schal, den sie über den Brustplatten aus goldenen Fischschuppen trug, und warf das mit Goldsternen besetzte Tuch über Alans Kopf, damit nicht einmal jene Priester sein Gesicht sähen. Dann sagte sie ein Wort zu ihnen, und sie öff neten das Tor. Jeekie erklärte, daß er lieber hier zu rückbleiben würde, und sagte zu Alan, daß dieser Ort, den er nie betreten habe, ›für einen armen Nigger wie ihn viel zu heilig sei.‹ Die Asika fragte ihn, was er gesagt habe, und er er klärte ihr in ihrer Sprache, daß er es nicht wert sei, hier einzutreten. »Komm mit, Bursche!« befahl sie ihm, »um meine Worte zu übersetzen und Zeuge dafür zu sein, daß deinem Herrn kein Trick vorgegaukelt wird.« Jeekie blieb noch immer zögernd und verlegen zu rück, woraufhin sie einem der Priester ein Zeichen gab, und dieser ihn mit seinem langen Speer in die Kehrseite piekte, was Jeekie veranlaßte, aufheulend vorwärtszuspringen.
Die Asika führte sie durch eine Passage, die, wie sie sahen, in einer großen, von Lampen erhellten Halle endete. Als sie sie betraten, erkannte Alan, daß sie sich im Schatzhaus der Asiki befanden, da hier große Mengen Goldes aufgehäuft waren, Gold in Barren, Gold in Nuggets, mit Goldstaub gefüllte Steinkrüge, in Gestalt von glatten Gefäßen oder solche mit mon strösen Verzierungen, von Fetischen und von kleinen Quadraten und Scheiben, die aussahen, als ob sie als Münzen gedient hätten. Noch nie zuvor hatte er so viel Gold gesehen. »Du bist sehr reich«, sagte er, während er verwun dert diese Haufen Gold anstarrte. Sie zuckte die Achseln. »Ja, ich habe gehört, daß manche Völker solche Reichtümer schätzen. Dieses sind Opfergaben, die unseren Göttern seit Anbeginn der Zeit gebracht wurden; auch alles Gold, das in den Bergen gefunden wird, gehört den Göttern, und es ist viel davon vorhanden. Die Gabe, die ich dir schickte, kommt von diesen Haufen, doch ist es eine kleine Gabe, wenn man bedenkt, daß dieses Zeug zwar glänzt und für Becher und andere Dinge verwendet werden kann, sonst jedoch keinerlei Wert hat und den Göttern nur deshalb geopfert wird, weil es selte ner ist als andere Metalle. Sieh, diese sind hübscher als das Gold.« Sie nahm von einem Steintisch eine lange Halskette aus großen, unbearbeiteten Steinen, roten und weißen Steinen, die abwechselnd aufgefä delt waren, und die Alan für Kristalle und Spinelle hielt. »Nimm sie mit«, sagte sie, »und überprüfe sie in aller Ruhe! Sie ist sehr alt. Seit Hunderten von Jahren ist keine solche Halskette mehr hergestellt worden.«
Mit diesen Worten warf sie ihm die Halskette über den Kopf, so daß sie auf seinen Schultern hing. Alan dankte ihr, dann fiel ihm ein, daß der Mann, der Mungana genannt wurde und der Ehemann, sei es wirklich oder nur offiziell, dieser Priesterin war, ähnlich geschmückt war, und er erschauerte wie un ter einer Ankündigung des heraufziehenden Schick sals. Dennoch gab er die Halskette nicht zurück, aus Furcht, sie damit zu erzürnen. In diesem Moment wurde seine Aufmerksamkeit von den Goldschätzen abgelenkt, da er hinter sich ein lautes Stöhnen hörte. Als er sich umwandte, sah er Jeekie die Augen rollen, wie in höchster Angst. »Oh, mein Gott, Major!« stieß er hervor und deu tete auf die Wand. »Sehen Sie dort!« Alan tat es, konnte jedoch in dem trüben Licht le diglich lange Reihen schimmernder Objekte erken nen, die vom Boden bis zur Decke reichten. »Komm näher!« sagte die Asika, nahm eine Lampe vom Tisch, auf dem die Juwelen lagen, und führte ihn an den Goldhaufen vorbei zu einer Seitenwand der gewölbten Halle. Und dann sah er es, und, obwohl er es sich nicht anmerken ließ, wurde er genauso von Furcht ergriffen wie Jeekie. Denn dort, jeder in seiner eigenen Nische, nebenund übereinander, standen ganze Reihen goldener Männer mit glühenden Augen. Zunächst, bis ihre ab solute Reglosigkeit ihn eines besseren belehrte, glaubte er, daß es tatsächlich Männer seien. Dann wurde ihm klar, daß sie zwar einst Männer gewesen, jetzt jedoch Leichen waren, die man in dünne Gold folien gewickelt hatte und die goldene Masken mit Augen aus Kristall trugen, deren jede zu einem grau
enhaften Ebenbild des betreffenden Mannes gehäm mert worden war. »Alle diese waren Ehemänner meines Geistes«, sagte die Priesterin und ließ den Schein der Lampe über die unterste Reihe von ihnen gleiten, »Munga nas, die mit den Asikas der Vergangenheit verheiratet waren. Siehe, hier ist jener, der sagte, er sollte der König des reichen Landes sein, wo Jahr für Jahr der Fluß über die Ufer tritt.« Mit diesen Worten ging sie zu einer der ersten Gestalten der untersten Reihe, und löste eine Befestigung, so daß die Goldmaske an ei nem Scharniere aufklappte und das dahinter verbor gene Gesicht freilegte. Obwohl der Kopf offensichtlich mit irgendeinem Konservierungsmittel behandelt worden sein mußte, war kaum mehr von ihm übriggeblieben als ein To tenschädel, der noch mit schwarzem Haar bedeckt war, doch auf seiner Stirn saß ein glatter Reif aus Gold, von dem sich der Kopf einer Schlange erhob. Zweifellos war das ein Uräus, jenes Symbol, das nur Menschen königlichen Geblüts im alten Ägypten zu tragen wagten. Gewiß hatte dieser Mann ihn vom Nilland mit sich gebracht, oder aber er hatte ihn in Erinnerung an seinen Rang und an seine Heimat hier herstellen lassen, aus dem Gold, von dem es an dem Ort seiner Gefangenschaft so reichlich gab. Also ent sprach die Geschichte dieser Frau der Wahrheit, und ein Mann aus dem alten Ägypten war wirklich einst Ehemann der Asika jener Tage gewesen. Währenddessen war seine Führerin ein ganzes Stück an der Reihe entlanggegangen, blieb nun vor einer anderen, in Gold gewickelten Gestalt stehen und öffnete die Maske.
»Dies ist jener Mann«, erklärte sie, »der uns sagte, daß er aus einem Lande namens Rom käme. Sieh, der Helm sitzt noch immer auf seinem Kopf, obwohl die Zeit ihn stark benagt hat, und jener Ring an deinem Finger wurde von seinem Finger gezogen. Ich habe eine Kopfbekleidung, die nach dem Vorbild seines Helms angefertigt wurde, und trage sie manchmal in Erinnerung an diesen Mann, der, wie meine Seele sich erinnert, tapfer und galant war, und ein ausge zeichneter Liebhaber.« »Wahrhaftig?« murmelte Alan und betrachtete das eingesunkene Gesicht, über dem ein Kranz von Lok ken aus dem rostigen Helme quoll. »Nun, jetzt sieht er nicht mehr tapfer und galant aus, nicht wahr?« Dann blickte er zwischen dem Körper und die ihn umgebende Goldfolie und sah, daß die Knochenhand des Mannes noch immer ein kurzes, römisches Schwert hielt, erhoben, wie zum Salut. Also hatte sie auch in diesem Punkt nicht gelogen. Inzwischen war die Asika zum Ende der Halle, hinter die Goldhaufen, weitergegangen. »Da ist noch ein weißer Mann«, sagte sie, »doch wissen wir kaum etwas von ihm, denn er war wild und barbarisch und starb, ohne unsere Sprache er lernt zu haben, nachdem er eine große Zahl von Prie stern jener Tage getötet hatte, weil sie ihn nicht gehen lassen wollten; ja, er starb, als er sie mit seiner Strei taxt niedermähte und dabei ein wildes Lied seines Landes sang. Komm her, Sklave, und hock dich nie der auf Hände und Knie!« Jeekie gehorchte, und geschmeidig wie eine Katze sprang die Priesterin auf seinen Rücken, streckte die Arme empor, öffnete die Maske einer Leiche in der
zweiten Reihe und hielt ihre Lampe vor das Gesicht. »Ein Vikinger«, murmelte Alan. »Ich frage mich, wie der bis hierher gekommen sein mag.« Als Alan ihn angesehen hatte, sprang die Asika von Jeekies Rücken zu Boden und begann, mit beiden Armen gestikulierend, so schnell zu sprechen, daß Alan nicht ein Wort verstehen konnte und Jeekie bat, sie ihm zu übersetzen. »Sie sagt«, stieß Jeekie zwischen schnatternden Zähnen hervor, »daß alle diese Männer hier ziemlich armselige Typen waren, Eingeborene und so was, au ßer dem einen, der den falschen Propheten anbetete und der Asika jener Tage die Kehle durchschnitt, weil sie ungläubig war und er vergeblich versuchte, sie zu seinem Glauben zu bekehren; er hat seinen Chop aus der Kleinen Bonsa gegessen und sie ins Wasser ge schmissen. Sehr wilder Mann, jener Araber, aber die Priester haben ihn schließlich erwischt und ihn vor der Kleinen Bonsa mit flüssigem Gold gefüllt, weil er sich keinen Deut um Geister scherte. Also starb er mit dem Ruf: ›Für die Huris des Paradieses und die grü nen Felder des Propheten, und zur Hölle mit Asika und Bonsa, Groß und Klein!‹ Jetzt sitzt er dort oben, und bei Nacht ist er der schlimmste von der ganzen Geisterbande, würde am liebsten den Mungana ab murksen. Das ist alles, was sie gesagt hat, aber es ist mehr als genug. Kommen Sie schnell weiter, sie will mit Ihnen reden, und sie wartet nicht gern!« Währenddessen hatte die Asika die Runde um die Halle fast vollendet und stand jetzt vor einer leeren Nische, neben und über der sich solche befanden, die auf die übliche Art mit von Goldfolie umwickelten Toten gefüllt waren.
»Dies ist dein Platz, Vernun«, sagte sie freundlich und betrachtete ihn mit ihren sanften, dunklen Au gen. »Er ist für den weißen Mann vorbereitet worden, mit dem die Kleine Bonsa entfloh, und seitdem hat es, wie du siehst, viele Munganas gegeben, von denen einige mir gehörten; dieser hier« – sie berührte eine Leiche, deren Goldverpackung noch sehr frisch wirkte – »hat mich erst im vergangenen Jahre verlas sen. Doch wir haben immer gewußt, daß die Kleine Bonsa dich zurückbringen würde, also haben wir deinen Platz freigelassen.« »Das ist sehr nett von euch«, sagte Alan, und da er befürchtete, ohnmächtig zu werden, wenn er noch länger in dieser entsetzlichen, unheimlichen Halle verbliebe, stieß er sie recht unzeremoniell zur Seite und schritt durch das Tor in die dahinter liegende Passage.
12
Das Goldhaus
»Wie gefällt Ihnen das Asiki-Land, Major?« fragte Jeekie, der ihm gefolgt war, an der Wand lehnte und sich mit seiner großen Hand Luft zufächelte. »Komi sches Land, nicht wahr, Major? Ich habe Ihnen das gesagt, bevor Sie herkamen, aber Sie wollten es mir nicht glauben.« »Sehr merkwürdig«, antwortete Alan, »so merk würdig, daß ich schnellstens wieder hinaus will.« »Ah! Major, das sagt der Aal in der Reuse, in die er durch Köderfische gelockt wurde, aber er kommt nur raus in die Bratpfanne, nachdem der Koch ihm le bend die Haut abgezogen hat. Hier kommt der Koch – ich meine Asika. Sie ist nur zurückgeblieben, um die Kadaver einzuschließen, die alle einmal auf Kö derfische aus waren. Sehr schöne Frau, Asika, aber Gott sei Dank ist sie nicht auf mich scharf, der ich im Freien begraben werden möchte wie ein Christen mensch.« »Wenn du nicht sofort den Mund hältst, Jeekie«, erwiderte Alan mit mühsam beherrschter Wut, »wer de ich dafür sorgen, daß du da begraben wirst, wo du gerade stehst.« »War nicht schlecht gemeint, Major, entschuldigen Sie, aber mein Herz ist voll und schäumt über – das ist alles. Ich frage mich, was Miss Barbara sagen wür de, wenn sie sehen könnte, wie Sie mit dem schwarzäugigem Mädchen mit goldener Schlangen haut turteln.«
In diesem Moment trat die Asika zu ihnen, und zur Entschuldigung seiner Flucht bemerkte Alan, daß es in der Schatzkammer sehr heiß gewesen sei. »Das habe ich nicht gespürt«, antwortete sie, »doch jener, der mein Ehemann, der Mungana, genannt wird, sagt dasselbe. Der Mungana ist der Hüter der Toten«, erklärte sie, »und wenn es von ihm verlangt wird, schläft er am Ort der Schätze und gewinnt Weisheit von den Geistern jener Munganas, die vor ihm waren.« »Tatsächlich? Und gefällt ihm dieses Schlafzim mer?« »Dem Mungana gefällt, was mir gefällt, nicht, was ihm gefallen mag«, erwiderte sie hoheitsvoll. »Wohin ich ihn zum Schlafen schicke, dort schläft er. Doch komm weiter, Vernun, ich möchte dir das heilige Wasser zeigen, in dem der Große Bonsa wohnt; und auch das Haus, in dem ich mein Heim habe, in dem du mich zu jeder Zeit besuchen kannst.« »Wer hat diesen Gebäudekomplex erbaut?« fragte Alan, als sie ihn durch weitere dunkle und gewunde ne Passagen führte. »Er ist sehr groß.« »Mein Geist erinnert sich nicht, wann er erbaut wurde, Vernun, so alt ist er, doch glaube ich, daß die Asiki einst ein großes und berühmtes Volk waren, die Handel bis zu dem großen Wasser im Westen trieben, und sogar bis zu dem großen Wasser im Osten, und so kam es, daß jene weißen Männer ihre Sklaven und Munganas ihrer Königinnen wurden. Jetzt aber ist das Volk der Asiki klein und lebt allein durch die Macht und den Ruhm des Großen und der Kleinen Bonsa, und seine Zahl reicht nicht aus, um mehr als die Hälfte des Landes zu bevölkern, das ihm gehört.«
Aber, setzte sie nachdenklich hinzu und blickte ihn an, »ich glaube, dies liegt auch daran, daß in der Ver gangenheit meinem Geist Narren als Munganas auf gedrängt wurden. Was er braucht, ist die Weisheit des weißen Mannes, solche Weisheit wie die deine, Vernun. Wenn die meiner Magie hinzugefügt wird, würden die Asiki wieder groß und mächtig werden, besonders weil sie viel von dem Gold haben, das der weiße Mann, wie du mir zeigtest, so sehr liebt. Ja, sie würden groß und mächtig werden, und von einer Küste zur anderen müßten die Menschen sich vor dem Namen Bonsas verneigen und ihm ihre Söhne als Opfergabe schicken. Vielleicht wirst du so lange leben, um das zu sehen, Vernun. – Sklave«, setzte sie, an Jeekie gewandt, hinzu, »binde deinem Herrn die Maske vors Gesicht, denn wir kommen nun dorthin, wo Frauen sind.« Alan widersprach, doch sie stampfte erbost mit dem Fuß auf und sagte, es müsse sein; da er einst die Kleine Bonsa getragen habe, wie es ihr von ihren Leuten berichtet worden sei, dürfe sein unbedecktes Gesicht nicht gesehen werden. Also fügte er sich und ließ sich die häßliche Maske anlegen, und sie betraten durch einen Hintereingang das Haus der Asika. Es war ein Gebäude, das viele Räume hatte, doch alle waren allein bemerkenswert durch ihre einfache Ausstattung. Mit einer einzigen Ausnahme war nir gends Gold oder auch nur Vergoldung zu entdecken, wenngleich die Eßgeschirre hier wie überall sonst aus diesem Material bestanden. Die Räume, einschließlich derer, in welchen die Asika wohnte und schlief, wa ren mit Zedernholz ausgekleidet, das durch Alterung fast schwarz geworden war, und das wenige Mobiliar
war zumeist aus Ebenholz gefertigt. Licht fiel nur spärlich durch hoch in den Wänden befindliche, ver gitterte Fenster herein, wie es auch bei seinem Raum der Fall war. Dunkelheit und Geheimnis waren genau genommen das Grundmotiv dieses Hauses, in dessen Schatten schöne, halbnackte Dienerinnen oder Prie sterinnen geschäftig hin und her eilten oder sie aus dunklen Ecken heraus anstarrten. Die Atmosphäre schien schwer von geheimer Sünde; Alan spürte, daß in diesen Räumen seit Hunderten, vielleicht Tausen den von Jahren unsägliche Verbrechen und Grau samkeiten verübt worden waren und die Geister der Opfer hier noch immer ihr Unwesen trieben. Auf je den Fall macht es sein Blut gefrieren, noch mehr als in jener Halle der Toten und der aufgehäuften Gold schätze. »Gefällt dir mein Haus?« fragte ihn die Asika. »Nicht besonders«, antwortete er; »ich finde es zu dunkel.« »Mein Geist hat von Anbeginn an das Dunkel ge liebt, Vernun. Ich glaube, daß er zu dunkler Mitter nacht geschaffen wurde.« Sie gingen durch das Hauptportal des Hauses, das von grotesk geschnitzten Säulen flaniert wurde, und einige Stufen hinab auf einen ummauerten und über dachten Hof, wo die Schatten sogar noch tiefer waren als in dem Haus, das sie gerade verlassen hatten. Nur eine Stelle wurde durch Licht, das durch ein Loch im Dach einfiel, erhellt, wie in jener Halle, in der Alan die Asika auf ihrem Thron sitzend angetroffen hatte. Das Licht fiel auf eine goldene Säule oder ein Piede stal, das hinter einem großen Becken stand, das eben falls aus Gold gefertigt war. Die Form dieser Säule
erinnerte Alan an etwas, nämlich an eine sehr ähnli che, freilich aus anderem Material gefertigtes Piede stal, das in dem aus Granit erbauten Bürohaus von Messrs. Aylward & Haswell in London stand. Und das schien ihm nicht sehr verwunderlich, da sich auf der Säule, auf ihren Froschbeinen hockend, eine ihm bekannte Scheußlichkeit befand: die Kleine Bonsa, die endlich nach Hause zurückgekehrt war. Dort saß sie, grausam lächelnd, so wie sie von Anbeginn an gelä chelt hatte, zweifellos ohne sich an ihre Reisen durch fremde Länder zu erinnern, und um sie herum stand eine Gruppe von Priestern, die mit Speeren bewaffnet war. Gefolgt von der Asika und Jeekie trat Alan vor sie hin und blickte ihr ins Gesicht, und in seiner erregten Phantasie glaubte er zu sehen, daß sie ihn angrinste. Dann, während die Priester sich vor der Asika zu Bo den warfen, betrachtete er das goldene Becken und sah, daß sich auf seiner anderen Seite ein kleines Po dest befand, zu dem drei Stufen hinaufführten. Auf diesem ebenfalls aus Gold bestehenden Podest waren zwei flache Vertiefungen, wie sie im Laufe vieler Jahrhunderte von knienden Menschen eingedrückt worden sein mochten. Außerdem war der Rand des Beckens, der sich etwa dreißig Zoll oberhalb des klei nen Podestes befand, schartig, als ob Hunderte von Schwerthieben in das weiche Metall gefahren wären. Das Becken selbst war leer. Als die Asika sein Interesse bemerkte, erklärte sie mit Hilfe Jeekies, daß dies die Orakelschale sei, in der jene, die von ihr die Zukunft erfahren wollten, die Kleine Bonsa schwimmen ließen und durch ihre Be wegungen alles erführen, was sie wissen wollten. Sie
selbst, fügte sie hinzu, habe jedoch andere und besse re Methoden, um die vorbestimmten Dinge in Erfah rung zu bringen. »Woher kommt das Wasser?« fragte Alan beiläufig und suchte in der Schale nach einem Einlaß oder ei ner Zuleitung. »Aus den Herzen von Menschen«, antwortete sie mit einem leisen, schauerlichen Lachen. »Diese Ker ben dort stammen von Schwerthieben, und jede von ihnen bedeutet ein Leben.« Und als er sie ungläubig anblickte, setzte sie hinzu: »Warte, ich werde es dir zeigen. Die Kleine Bonsa hat so lange gefastet, daß sie durstig sein muß; außerdem gibt es einige Dinge, die ich wissen will. Kommt her – du und du!« dabei deutete sie, offenbar willkürlich, auf zwei der Prie ster, die ihr am nächsten knieten, »und du befiehl dem Henker, seine Axt zu bringen«, wandte sie sich an einen dritten. Die dunklen Gesichter der Männer wurden asch grau, doch machten sie keinen Versuch, ihrem Schicksal zu entrinnen. Einer von ihnen kroch auf Händen und Knien die Stufen empor und legte sei nen Hals auf den Rand des Goldbeckens, während der andere sich wortlos an ihrem Fuß zu Boden warf und wartete, bis die Reihe an ihn käme. Dann öffnete sich die Tür und ein großer und brutal wirkender Kerl trat herein, der in seiner Hand eine riesige Waffe hielt, halb Schwert, halb Axt. Zuerst blickte er die Asika an, die fast unmerklich nickte, dann sprang er auf das Ende des Podestes, verneigte sich vor der Kleinen Bonsa, die hinter ihm auf ihrer Säule saß, und hob sein Schwert. Jetzt begriff Alan endlich, was geschehen sollte,
daß das, was er für eine Demonstration gehalten hat te, zu einem furchtbaren Blutbad werden sollte. »Halt!« rief er. Der Henker hielt inne, die Axt erhoben; das Opfer wandte den Kopf und blickte Alan an, sichtlich ver blüfft; das zweite Opfer und die Priester, ihre Kolle gen, starrten ihn ebenfalls an. Jeekie fiel auf die Knie und brach in ein flehentliches Gebet aus, das offenbar an die Kleine Bonsa gerichtet war. Die Asika lächelte nur und tat nichts. Wieder wurde die Waffe erhoben, und da Alan spürte, daß Worte nicht mehr ausreichten, trat er in Aktion. Er sprang auf die andere Seite des kleinen Podestes, holte aus und schlug mit aller Kraft nach dem Henker. Seine Faust traf den Kerl ans Kinn und schleuderte ihn mit einer solchen Wucht zu Boden, daß er mit dem Kopf voran aufschlug und reglos lie gen blieb, entweder tot oder bewußtlos. Bei diesem Anblick brach die Asika in leises Lachen aus, dann fragte sie Alan, weshalb er den Henker niedergeschlagen habe. Er antwortete, daß er nicht tatenlos zusehen könne, wie zwei unschuldige Män ner abgeschlachtet würden. »Warum denn nicht?« fragte sie erstaunt; »wenn die Kleine Bonsa, deren Priester sie sind, sie benötigt, und ich, die ich der Mund der Götter bin, befehle, daß sie sterben sollen? Aber sie ist lange Zeit in deiner Obhut gewesen, und du magst ihren Willen kennen; also lassen wir sie am Leben, wenn du es so willst. Oder vielleicht möchtest du ein anderes Opfer?« Da bei blickte sie Jeekie an. »Oh, gütiger Himmel!« keuchte Jeekie auf englisch; »sagen Sie ihr, das soll sie lieber nicht tun, Major, sa
gen Sie ihr, das wäre nicht ratsam. Sagen Sie ihr, die Kleine Bonsa sei meine beste Freundin und würde wild wie ein Löwe, wenn man mir den Hals ab schneidet.« Alan versetzte Jeekie verstohlen einen Fußtritt, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich will keine Opfer«, sagte er, »noch will ich je mals sehen, wie das Blut eines Menschen vergossen wird – das ist für mich orunda – unheilig; ich darf kein menschliches Blut sehen, und wenn du mich dazu zwingen solltest, Asika, werde ich dich dafür hassen, weil du mich dazu zwingst, meinen Eid zu brechen.« Die Asika überlegte einen Moment lang, während Jeekie zwischen schnatternden Zähnen hervorstieß: »Gute Missionars-Worte sind das, Major. Machen Sie so weiter, Major, solange noch Zeit ist. Wenn sie ei nen christlichen Märtyrer aus Jeekie macht, wer soll Sie dann hinausbringen aus diesem verdammten Loch?« »Es soll so sein, wie du es willst«, sagte die Asika, »denn ich wünsche weder, daß du mich hassest, noch daß du sehen sollst, was deinen Augen zu sehen nicht statthaft ist. Den Banketten und Zeremonien mußt du beiwohnen, doch soll, so weit es mir möglich ist, kein Opfer in deiner Gegenwart gebracht werden, nicht einmal jener winselnde Hund, dein Diener«, fügte sie mit einem verächtlichen Blick auf Jeekie hinzu, »der, wie es scheint, fürchtet, sein Leben zum Ruhm des Gottes hinzugeben, doch der, da er dein ist, jetzt und für immer sicher sein soll.« »Das ist sehr zufriedenstellend«, sagte Jeekie und erhob sich von seinen Knien, das Gesicht zu einem breiten Grinsen verzogen, denn er wußte von früher,
daß ein Dekret der Asika nicht gebrochen werden konnte. Darauf begann er der Priesterin zu erklären, daß es nicht die Angst um sein Leben sei, die ihn be wegt habe, sondern die Gewißheit, daß dieses Ge schehen der Ethik der Kleinen Bonsa zuwiderliefe, deren ganzes Vertrauen er besäße. Ohne auf seine Worte zu achten, mit einem leichten Neigen des Kopfes vor dem Fetisch, ging sie weiter und winkte Alan, ihr zu folgen. Als er an den beiden am Boden liegenden Priestern vorbeiging, deren Le ben er gerettet hatte, hoben sie scheu den Kopf und blickten ihn voller ehrlicher Dankbarkeit an; einer von ihnen küßte die Stelle, auf die er seinen Fuß ge setzt hatte. Jeekie, der Alan folgte, gab ihm einen Tritt, um anzudeuten, daß er sich Freiheiten heraus nähme, beugte sich jedoch dann hinab und fragte den Mann nach seinem Namen. Ihm war eingefallen, daß diese geretteten Priester ihnen eines Tages mögli cherweise nützlich sein könnten. Alan folgte der Asika durch eine Art Schwingtür, die zu einer weiteren der unzähligen Hallen führte, doch als er sich dort nach ihr umschaute, war sie nir gends zu sehen. Ein Priester, der auf der anderen Seite der Tür gewartet hatte, verneigte sich und in formierte ihn, daß sie sich zurückgezogen habe und ihn am Abend wiederzusehen wünsche. Nach einer abermaligen Verneigung führte er sie durch mehrere Korridore zu dem Raum zurück, in welchem sie die Nacht verbracht hatten. »Jeekie«, sagte Alan, nachdem ihnen ihr Essen ge bracht worden war – denn es war nach der Mittags stunde – dieses Mal jedoch, wie er feststellte, durch männliche Diener, »du bist doch im Asiki-Land gebo
ren; sag mir also die Wahrheit über diese Angelegen heit. Was meint die Frau damit, wenn sie behauptet, daß ihr Geist von Anbeginn an hiergewesen sei?« »Sie meint, Major, jedesmal, wenn stirbt, geht ihre Seele in eine andere Frau über, die die Priester nach gewissen Zeichen raussuchen. Die Asika stirbt immer jung, wird nie zu einer alten Frau, aber wie sie stirbt, und wo sie begraben wird, weiß niemand außer den Priestern. Manchmal hat sie eine Tochter, die nach ihr Asika wird, aber wenn sie einen Sohn hat, töten sie ihn. Ich glaube, diese Asika ist die Tochter von der, die Ihren Reverend Onkel geliebt hat. All diese Ge schichten, daß die Mutter nicht geheiratet hat, sind gelogen, und all die Geschichten von ihr auch; sie hat oft geheiratet.« »Und was ist mit der Behauptung, daß ihr Geist zurückkommt, Jeekie?« »Ich denke, das ist auch eine Lüge, Major, obwohl sie fest daran glaubt. Die Priester lehren sie alle diese alten Lügen. Dennoch«, fügte er zweifelnd hinzu, »die Asika ist eine große Medizinfrau und weiß vie les, was wir nicht wissen – keine Ahnung, wie das kommt. Die Asika ist ein sehr komischer Vogel, Ma jor.« »Da hast du recht, Jeekie, und ich bin ganz deiner Meinung. Doch um zur Sache zu kommen: Was für ein Spiel hat sie mit mir vor?« »Oh! Major«, antwortete er grinsend, »das ist doch sehr einfach. Sie hat genug von schwarzen Männern, will mal eine Abwechslung, will Sie heiraten, sobald gesetzlich erlaubt, also, wenn der Mungana stirbt – und er wird es jetzt sehr eilig haben mit dem Sterben. Asika darf ihn nicht töten, aber sie schafft es schon,
ihn um die Ecke zu bringen, steckt ihn zum Schlafen zu den Toten, bis er wird wie ein Betrunkener und Dinge sieht, die nicht da sind, und sich ertränkt. Dann wird sie Sie heiraten. Aber bis Mungana tot sind, sind Sie sicher, so lange kann sie nur reden und schöne Augen machen – wegen dem Asiki-Gesetz, nicht weil es nach ihrem Willen wäre.« »Und wie lange wird der Mungana am Leben blei ben, Jeekie?« »Vielleicht drei Monde, Major, vielleicht nur zwei. Sicher nicht viel mehr als zwei, denke ich. Ist zwar ein kräftiger Mann, dieser Mungana, aber heute morgen sah er recht elend aus. Ich glaube, er beginnt schon Schlangen zu sehen.« »Ich verstehe, Jeekie. Jetzt hör mir gut zu! Du mußt uns innerhalb dieser zwei Monate aus dem AsikiLand hinausbringen. Wenn du es nicht schaffst, wird die Asika alles tun, um mir gefällig zu sein, und zwei fellos gibt es noch weitere Henker hier.« »Oh! Major, reden Sie nicht wie ein Narr. Jeekie ist weise geboren und kann Narren nicht ertragen – wie der heilige, erste Missionar, der Bischof. Major wissen sehr gut, daß dies kein Ort für einen christlichen Mann wie Jeekie ist, der nur hierher zurückgekommen ist, weil er Ihnen einen Gefallen tun wollte. Wir beide stek ken im selben Sack, Major; wenn ich tot bin, werden auch Sie sterben, und Miss Barbara wird in der Tinte sitzen. Ich bring Sie schon hinaus, wenn ich kann. Aber dieses Zeug macht die Sache schwierig.« Er deutete auf die Beutel mit dem Gold. »Das wollen wir doch nicht zurücklassen nach so einer beschwerlichen Reise. Nein, nein, ich tu alles, um Sie rauszubringen, doch bis dahin müssen Sie das Spiel schon mitmachen.«
»Das Spiel? Welches Spiel, Jeekie?« »Welches Spiel? Das Asika-Spiel natürlich. Wenn sie seufzt, seufzen Sie auch; wenn sie Sie anlächelt, lä cheln Sie sie auch an; wenn sie Ihre Hand drückt, drücken Sie zurück; und wenn sie Sie küßt, küssen Sie sie auch.« »Der Teufel soll mich holen, ehe ich das tue, Jee kie!« »Sie müssen es tun, Major; Sie müssen es tun, oder Sie kommen nie raus aus dem Asiki-Land. Und was macht's schon?« setzte er vertraulich hinzu. »Miss Barbara wird's nie erfahren. Jeekie petzt nicht, Jeekie tut immer nur, was man ihm antut, weil er ein so erstklassiger Christ ist; außerdem ist es sehr notwen dig in der jetzigen Lage, und Sie können nicht gehei ratet werden, bevor der Mungana tot ist. Gehört alles zum Geschäft, Major, und vertreibt auch die Zeit recht nett. Die Asika ist doch ganz annehmbar, wenn Sie ihr das Fell nicht gegen den Strich bürsten, aber wenn Sie sie zurückstoßen – oh, dann hilf uns der Himmel! Ist doch nicht so schlimm, nur zu sitzen und zu sagen: ›Oh, bei Bonsa, wie schön du bist‹, und es tut keinem weh.« »Und was ist mit dem Mungana?« fragte Alan. »Der Mungana? – Der schluckt, wie alles andere auch. Außerdem versuche ich, mich mit dem armen Teufel anzufreunden. Sage ihm, es ist alles nur Thea ter. Vielleicht er glaubt mir – bin da nicht sicher. Wenn ich Mungana wäre, ich würde nicht glauben. – Mungana«, setzte er orakelhaft hinzu, »Mungana wird sich an die Hoffnung klammern. Was ist schon dabei? In zwei Monaten ist er nichts weiter als eine Goldfigur, Nummer 2403, vielleicht, wie eine Mumie
in Museum. Jetzt will ich versuchen, meine Mama zu finden. Ich habe gehört, sie lebt hier irgendwo. Soll früher eine Pension für Bonsa-Pilger geführt haben, hat aber Chop gestohlen und gesagt, es sei die Katze gewesen, all so was. Nun haben sie sie als Diebin ein gelocht. Ich fürchte, meine Mama ist ziemlich tief ge sunken, keine feine Dame von Gesellschaft mehr. Aber vielleicht noch nützlich für uns, vielleicht ist es klug, ihr auf alle Fälle Nachricht zu schicken, ihr zu sagen, wie sehr ich sie liebe; sagen, ihr lieber, kleiner Jeekie sei zurückgekehrt, nur um ihr liebes Gesicht wiederzusehen. Weiß nur nicht, ob sie das schluckt, und ob man sie aus dem Kittchen rausläßt, wenn ich nicht für alles bezahle, was sie geklaut hat.«
13
Das Bankett der Kleinen Bonsa
Es war die Nacht des vollen Mondes und des großen Banketts zur Feier der Rückkehr der Kleinen Bonsa. Alan saß in seinem Raum und wartete darauf, geru fen zu werden, um an dieser Zeremonie teilzuneh men, und lauschte derweilen auf das Wow! Wow! Wow! der Todestrommeln, von dem Jeekie einst in England gesprochen hatte, und das selbst das ständi ge Dröhnen des Kataraktes übertönte, dessen Wasser im Rücken der Stadt an der Felswand herabstürzten. Währenddessen hatte er sich von den Strapazen der Reise erholt, und sein Körper war kräftig und gesund, was jedoch nicht von seinem Gemüt gesagt werden konnte, denn noch nie in seinem Leben hatte er sich so deprimiert gefühlt, nicht einmal als er mit Schwarzwasserfieber darniederlag, oder während seiner Zeit in London, als er ständig fürchtete, eines Morgens aufzuwachen und seinen guten Ruf zerstört zu sehen. Er war Gefangener dieses schrecklichen, düsteren Landes, wo er leben mußte wie ein zweiter ›Mann in der Eisenmaske‹, ohne jede Zerstreuung oder Betätigungsmöglichkeit außer der, die er in dem ummauerten Garten finden konnte, in dem die schwarzen Zedern wuchsen, und, so weit er es sehen konnte, ein Gefangener ohne Hoffnung auf Flucht. Außerdem konnte er sich nicht länger der Wahrheit verschließen und mußte einsehen, daß Jeekie recht gehabt hatte. Die Asika hatte sich in ihn verliebt, oder zumindest beschlossen, daß er ihr nächster Ehemann
werden sollte. Er haßte den Anblick dieser Frau und ihrer sinnlichen, bösen Schönheit, doch war es ihm unmöglich, sich von ihr zu befreien, und sie zurück zuweisen, bedeutete den Tod. Den ganzen Tag über wollte sie ihn um sich haben, und nachts schreckte er oft aus dem Schlaf und sah sie über sich geneigt ste hen und im Licht der schwach brennenden Lampen sein Gesicht betrachten, wie eine Schlange einen Vo gel betrachten mag, bevor sie zustößt. Er wagte sich nicht zu rühren oder auch nur das geringste Anzei chen zu geben, daß er sie sah. Und er sah sie auch nicht immer, da er die Augen fest geschlossen hielt. Doch selbst im tiefsten Schlummer verriet irgendein warnendes Gefühl ihm ihre Anwesenheit, und dann, durch Jeekies Schnarchen, (denn bei diesen Gelegen heiten schnarchte Jeekie immer besonders laut) hörte er ihre leisen Schritte, wenn sie, katzengleich, auf ihn zuschlich, oder das Rascheln ihres goldverzierten Gewandes, oder das Klirren der Schuppen ihrer gol denen Brustplatte. Lange stand sie dann so und betrachtete ihn gierig, und selbst die wenigen Besitztümer, die ihm verblie ben waren, starrte sie an, um schließlich, mit einem sehnsüchtigen Seufzen, fortzugleiten und in den Schatten zu verschwinden. Wie sie hereinkam und wie sie verschwand, konnte Alan nicht herausfinden. Offensichtlich benutzte sie nicht die Tür, und einen anderen Zugang zu dem Raum konnte er nicht ent decken. Manchmal glaubte er sogar, an Halluzinatio nen zu leiden, doch Jeekie schüttelte seinen großen Kopf und widersprach ihm. »Sie ist wirklich hiergewesen«, sagte er. »Sie steigt über mich weg, als ob ich ein Baumstamm wäre, und
ich rieche das Zeug, das sie ins Haar tut, aber ich denke, sie kommt und geht durch Zauberei. Die Asi ka kann zaubern, wenn sie mag.« »Ich wünschte, daß sie mir ihr Geheimnis verriete, Jeekie. Dann würde ich sehr bald aus dem Asiki-Land verschwunden sein, das kannst du mir glauben.« An jenem Tage war Alan ununterbrochen in ihrer Gesellschaft gewesen, hatte ihre endlosen Fragen über seine Vergangenheit beantwortet, über die Län der, die er besucht hatte, und besonders über die Frauen, die er gekannt hatte. Er brachte den Takt auf, ihr zu sagen, daß keine von ihnen auch nur halb so schön gewesen sei wie sie, was auf eine gewisse Wei se auch zutraf und sie offensichtlich sehr befriedigte, denn auf welche Weise sie sich auch sonst von ihnen unterscheiden mochte, mit allen anderen ihres Ge schlechtes teilte sie die Freude an Komplimenten. Von ihrer guten Stimmung ermutigt hatte er sogar zu sagen gewagt, daß er nun, da er die Kleine Bonsa zu rückgegeben und sich ausgeruht habe, glücklich wä re, mit ihren Gaben in sein Land zurückkehren zu können. Schon im nächsten Moment aber bereute er seine Worte, denn so bald sie ihre Bedeutung ver standen hatte, wurde ihr Gesicht weiß vor Wut. »Was!« rief sie. »Du hast den Wunsch, mich zu verlassen? Wisse, Vernun, daß ich dich eher töten werde, und mich ebenfalls, denn dann werden wir gemeinsam wiedergeboren und können nie wieder voneinander getrennt werden.« Und das war noch nicht alles, denn sie brach in Tränen aus, schlang die Arme um ihn, zog ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn; dann stieß sie ihn fort und sagte: »Verflucht sei dieses priesterliche Gesetz,
das uns so lange warten läßt, und verflucht sei jener Mungana, der nicht sterben will und nicht getötet werden darf! Aber er wird dafür bezahlen, und in spätestens zwei Monden, Vernun, oh! In zwei Mon den ...« – sie streckte die Arme aus, eine Geste un endlichen Begehrens, dann wandte sie sich um und eilte davon. »Herrje!« sagte Jeekie später, denn er hatte diese ganze Szene mit offenem Munde beobachtet, »Herrje! Die hat es aber eilig! Mrs. Jeekie hat nie so zu mir ge sprochen, und keine andere Frau auch nicht. Sie ist verrückt nach Ihnen, Major. Ein mächtiges Kompli ment. Wette, wenn Sie Mungana sind, wird Sie sie lange am Leben halten, fünf oder sechs Jahre viel leicht, wenn kein anderer weißer Mann hier vorbei kommt. Schade, daß Sie nicht bißchen mitmachen können, Major«, setzte er lauernd hinzu, »weil sie dann bestimmt leichtsinnig würde, und wir könnten das Goldhaus ausräumen und mit dem ganzen Krempel abhauen. Miss Barbara ist eine vernünftige Frau; wenn sie all das Gold sieht, wird es ihr egal sein; sie wird sagen: ›Bravo, alter Junge, gut gemacht, die ägyptische Frau im Land der Knechtschaft ge schröpft, wie der Jude Joseph im Alten Buch, aber Jeekie muß zehn Prozent kriegen, weil er gezeigt hat, wie man's machen muß‹.« Alan war von dieser Demonstration seiner furcht einflößenden Gastgeberin so niedergedrückt und er schüttert, daß er weder über Jeekie lachen, noch ihn zurechtweisen konnte. Er saß reglos da und stöhnte, weil er das Gefühl hatte, daß die Lage, so schlimm sie auch sein mochte, noch schlimmer werden würde.
Durch das unaufhörliche Dröhnen der Todestrom meln drangen die Laute einer wilden Musik. Die Tür flog auf, und eine Schar Priester trat herein, ihre fast nackten Körper auf eine scheußliche Art mit Farben bemalt, und vor ihren Gesichtern wahrhaft teuflisch anmutende Masken. Ein paar von ihnen schlugen Becken gegeneinander, einige bliesen in Hörner, an dere schlugen auf Trommeln den Takt, der von einer Art Kapellmeister mit einem goldenen Stab angege ben wurde. Vor ihnen, mit grell bemaltem Gesicht und in festlicher Kleidung, schritt der Mungana. »Sie kommen, um uns zur Bonsa-Anbetung zu ho len, Major«, erklärte Jeekie. »Kopf hoch, Major, sehr aufregende Angelegenheit, da man schläft nicht ein, wie in englischen Kirchen. Sieht den Gott die ganze Zeit, und keine Predigt.« Alan, der ein Leinengewand über den Resten seiner europäischen Kleidung trug, und die Maske bereits vors Gesicht gebunden hatte, erhob sich widerwillig und verneigte sich vor dem prächtigen Mungana, und der Arme antwortete ihm mit einem haßerfüllten Blick, da er wußte, daß dieser weiße Wanderer dazu bestimmt war, seinen Platz einzunehmen. Dann bra chen sie auf, in Begleitung von Jeekie, und gingen ei nen weiten Weg durch verschiedene Hallen und Kor ridore, zuerst nach links, dann nach rechts, bis sie schließlich durch eine Seitentür in eine wunderbare Szenerie traten. Der erste Eindruck, der Alans Bewußtsein erreich te, war der eines langgestreckten Wassers, sehr schwarz und sehr still, und nicht mehr als achtzig Fuß breit. Auf der ihm zugewandten Seite dieses Ka nals, auf einem erhöhten Podium in der Mitte einer
großen Fläche aus poliertem Felsgestein, saß die Asi ka, oder zumindest schloß er aus ihrer Brustplatte und dem goldbesetzten Gewand, daß sie es war, denn ihr wildes, wunderbares Gesicht war hinter et was versteckt, das ihm nur zu bekannt war: der gel ben, kristalläugigen Maske der Kleinen Bonsa. Zu ih ren beiden Seiten und hinter ihr, in Reih und Glied geordnet, standen Hunderte von Menschen, Männer und Frauen, in abstoßend häßliche Kostüme geklei det, um Dämonen darzustellen, und mit dazu pas senden Masken. Einige dieser Masken waren halb menschlich, andere wiesen eine Ähnlichkeit mit Tier köpfen auf und waren mit den entsprechenden Hör nern versehen, und ihre Träger waren mit Fellen und Schwänzen dieser Tiere geschmückt. Ihre unendliche Vielfalt zu beschreiben, wäre unmöglich; die einzige Erinnerung, die Alan mit sich nahm, war die an eine mittelalterliche Hölle, wie sie gelegentlich auf Dar stellungen der ewigen Verdammnis in alten Kirchen abgebildet wird. Auf der anderen Seite des Wassers schien sich der gesamte Stamm der Asiki versammelt zu haben; zu mindest saßen dort Tausende von Menschen auf ei nem Felshang wie in einem Amphitheater, nur mit dem gewöhnlichen, spärlichen Kostüm westafrikani scher Eingeborenen bekleidet. Dieses große Amphi theater war von einer hohen Mauer umgeben, in der sich Tore befanden, doch in dem Mondlicht war es schwierig, seine genauen Ausmaße zu erkennen. Jeekie stieß Alan an und deutete auf die Mitte des Kanals. Er blickte in die Richtung und sah dort einen riesigen und abstoßend häßlichen goldenen Kopf von etwa zwanzigfacher Lebensgröße schwimmen, des
sen große, hervorquellende Augen zum Himmel em porstarrten. Sein Aussehen hatte keinerlei Ähnlich keit mit irgend etwas anderem auf der Welt, er war häßlicher, widerlicher, grauenhafter – Mensch, Fisch und Raubtier, sie alle schienen Teil an ihm zu haben: menschlich Mund und Zähne, fischartig die Augen und die Schnauze, und der Ausdruck war der einer Bestie. »Großer Bonsa«, flüsterte Jeekie. »Genauso wie damals, als ich noch ein süßer, kleiner Junge war. Er lebt seit tausend Jahre hier.« Angeführt von dem Mungana und gefolgt von Jee kie und den Priestern, mit den Musikern als Nachhut, wurde Alan durch eine für ihn freigehaltene Gasse geleitet, bis er die Stufen erreichte, die zu dem Podi um hinaufführten, auf dem neben dem Thron der Asika zwei leere Sessel standen. Der Mungana be deutete ihm, diese Stufen hinaufzugehen, doch als Jeekie ihm folgen wollte, wandte er sich um und schlug ihm voller Verachtung ins Gesicht. Sofort wurde er von der Asika, die Alan durch die Au genöffnungen der Kleinen Bonsa Maske beobachtete, heftig angefahren. »Wer hat dir befohlen, den Diener meines Gastes zu schlagen, Mungana? Laß auch ihn heraufkommen, damit er hinter uns stehe und übersetze!« Der unglückliche Ehemann, der wußte, daß diese öffentliche Demütigung Absicht war, jedoch nicht wagte, dagegen zu protestieren, neigte schweigend den Kopf. Dann stiegen alle drei auf das Podium, während die Priester und die Musikanten unten zu rückblieben. »Willkommen, Vernun«, sagte die Asika durch die
Mundöffnung der Maske, die Alan trotz der entsetzli chen Grausamkeit ihres Ausdrucks weniger has senswert erschien als das schöne, tigerhafte Gesicht, das sie verbarg. »Sei willkommen und setz dich zu meiner Linken, da du an meiner rechten Seite nicht sitzen darfst – noch nicht.« Er verneigte sich und setzte sich auf den Sessel, auf den sie deutete, während ihr Ehemann den rechts von ihr einnahm, und Jeekie sich hinter sie stellte und sie alle mit seiner hohen Gestalt überragte. »Dies ist ein Fest für mein Volk, Vernun«, fuhr sie fort, »ein Fest, wie man es seit Jahren nicht erlebt hat, das gefeiert wird, weil die Kleine Bonsa zu ihm zu rückgekehrt ist.« »Wie geht das vor sich?« fragte er beunruhigt. »Ich habe dir gesagt, Asika, daß Blut für mich orunda ist. Ich darf es nicht sehen.« »Ich weiß, hab keine Angst!« antwortete sie. »Eine Opferung muß sein, da es der Brauch ist und wir die Götter nicht betrügen dürfen, doch sollst du sie nicht mitansehen. Erkenne daran, Vernun, wie groß mein Wunsch ist, dir gefällig zu sein.« Jetzt sah Alan, als er umherblickte, daß unmittelbar unterhalb des Podiums, zwischen ihnen und dem Rand des Kanals, seine Kannibalen-Freunde, die Ogula und ihr Häuptling Fahni, standen, die ihn nach Asiki-Land gerudert hatten, und bei ihnen die Boten, die sie vorausgeschickt hatten. Er bemerkte, daß man ihnen die Arme auf den Rücken gefesselt hatte, und daß sie von Männern bewacht wurden, die als Teufel gekleidet und mit Speeren bewaffnet waren. »Frag Fahni, warum er und seine Männer gefesselt sind, Jeekie!« sagte Alan. »Und warum sie nicht in ihr
Land zurückgekehrt sind.« Jeekie tat es und übertrug die Frage in die Sprache der Ogula, woraufhin die Männer sich umwandten und Alan anzuflehen begannen, sie zu retten, und Fahni setzte hinzu, man habe ihm gesagt, daß sie in dieser Nacht getötet werden würden. »Warum sollen diese Männer sterben?« fragte Alan die Asika. »Weil ich erfahren habe, daß sie dich in ihrem Land angegriffen haben, Vernun«, antwortete sie, »und dich getötet hätten, wenn es nicht um die Kleine Bonsa gewesen wäre. Deshalb ist es nur gerecht, daß sie sterben, als Opfer für dich.« »Ich verweigere dieses Opfer, da sie später gut zu mir waren. Laß sie frei und laß sie in ihr Land zu rückkehren, Asika!« »Das kann nicht sein«, erwiderte sie kalt. »Hier sind sie, und hier bleiben sie. Doch ihr Leben gehört dir, es ihnen zu nehmen oder zu belassen, also be halte sie als deine Diener, wenn du willst!« Damit beugte sie sich vor und erteilte einen Befehl, der au genblicklich befolgt wurde, denn die als Teufel ge kleideten Männer zerschnitten die Fesseln der Ogula und brachten sie hinter das Podium, wo sie standen und Alan in ihrer Sprache laut segneten. Dann begannen die Zeremonien mit einer Art höl lischem Ballett. Auf der glatten Fläche zwischen ih nen und dem Rand des Wassers erschienen männli che und weibliche Tänzer, die aus dem Schatten auf tauchten. Zum größten Teile waren diese als Tiere verkleidet und ahmten die Schreie der Tiere nach, die sie darstellten, wenngleich einige von ihnen kaum oder gar nicht bekleidet waren. Zu den Klängen einer
wilden Musik von Trommeln und Hörnern tanzten diese Wesen eine irrsinnige Quadrille, die alles zu suggerieren schien, was es auf Erden an Grausam keiten und Gemeinheiten gibt. Sie tanzten und tanz ten im Lichte des Mondes, bis der Irrsinn von ihnen auf die Tausende übergriff, welche auf der anderen Seite des Wassers versammelt waren, denn wenig später begannen auch viele von jenen zu tanzen. Und das war nicht alles, denn schließlich erhob sich die Asika von ihrem Sessel und mischte sich unter die Tanzenden, gemeinsam mit dem Mungana, ihrem Ehemann. Selbst Jeekie begann zu zappeln und zu schreien, so daß schließlich Alan und die Ogula allein ruhig und schweigend inmitten einer Szene und eines Lärms verblieben, und ihnen war, als sei die Hölle losgebrochen. Die Asika ließ ihren Ehemann los, sprang zu Alan hinauf und versuchte, ihn von seinem Sessel zu zie hen, wobei sie ihre Goldmaske an seine Leinenmaske drückte. Er widersetzte sich ihren Bemühungen, und nach einer Weile verließ sie ihn und kehrte zu dem Mungana zurück. Lauter und lauter dröhnte die Mu sik, wilder und wilder wurden die Schreie. Menschen brachen erschöpft zusammen und wurden ins Wasser geworfen, wo sie versanken und von der langsamen Strömung fortgetrieben wurden, als Teil eines uner klärlichen Spieles, das hier ablief. Dann, plötzlich, stand die Asika still und riß die Arme empor, woraufhin alle die Tausende ebenfalls still standen. Wieder riß sie die Arme empor, und die Menschen warfen sich zu Boden und lagen reglos, wie tot. Ein drittes Mal riß sie die Arme empor, und sie erhoben sich wieder und standen so lautlos, daß
das einzige Geräusch, das man hören konnte, ihr an gestrengtes Atmen war. Dann sprach oder vielmehr schrie sie: »Die Kleine Bonsa sei zurückgekehrt und hat den weißen Mann mit sich gebracht, den sie fortgeführt hatte.« Und ein Sprecher der Zuhörer antwortete: »Die Kleine Bonsa ist zurückgekehrt. Wieder sehen wir sie vor dem Ge sicht der Asika, wie unsere Väter sie sahen. Gib ihr ein Opfer! Gib ihr den weißen Mann!« »Nein!« schrie sie zurück, »der weiße Mann gehört mir. Ich ernenne ihn hiermit zu meinem nächsten Mungana.« »Oho!« brüllte die Menge. »Oho! Sie ernennt ihn zu ihrem nächsten Mungana. Lebe wohl, alter Mungana! Sei gegrüßt, neuer Mungana! Wann ist das Hoch zeitsmahl?« »Sag es uns, Mungana, sag es uns!« rief die Asika und tätschelte ihrem unglücklichen Ehemann die Wange. »Sag uns, wann du endlich zu sterben beab sichtigst, wie du es mußt!« »In der Nacht des zweiten vollen Mondes von heute«, antwortete er mit einem schrecklichen Stöh nen, das er aus tiefstem Herzen hervorpreßte, »in je ner Nacht wird meine Seele aufgegessen werden und mein Leben sein Ende finden. Bis dahin aber bin ich der Mann der Asika, und wenn sie es vergißt, wird der Tod ihr Schicksal sein, wie es das uralte Gesetz verlangt.« »Ja, ja«, schrie der unsichtbare Sprecher, »der Tod soll ihr Schicksal sein, und ihr Liebhaber soll geopfert werden. Stirb in Ehren, Mungana, wie alle jene star ben, die vor dir waren!« »Dem Himmel sei Dank«, murmelte Alan unhör
bar. »Für die nächsten zwei Monate bin ich vor dieser Hexe sicher.« Durch die Augenlöcher seiner Maske blickte er sie voller Abscheu und Furcht an. In diesem Moment war sie auch wahrlich kein schöner Anblick, denn in der Hitze und Erregung ih res wilden Tanzes hatte sie die goldene Brustplatte abgeworfen, so daß sie jetzt nackt war, bis auf ihren kurzen Rock und den dünnen, mit Goldsternen ver zierten Umhang um ihre Schultern, über den ihr zer zaustes, schwarzes Haar fiel. In seltsamem Kontrast zu ihrem im silbernen Mondlicht glänzenden kupfer farbenen Körper blickte die Maske der Kleinen Bonsa vor ihrem Gesicht mit ihren starren Kristallaugen und dem teuflischen Lächeln in die Runde, als sie ihren langen Hals von einer Seite zur anderen drehte. Sie sah jetzt kaum noch menschlich aus, und Alans Herz wurde von Mitleid erfüllt, als er den armen, heraus geputzten Mungana ansah, den sie gerade gezwungen hatte, den Tag seines Selbstmords bekanntzugeben. Bald aber vergaß er ihn wieder, denn ein neuer Akt des Dramas hatte begonnen. Zwei Priester, mit Tier hörnern und schwänzen geschmückt, sprangen auf das Podium und lösten, auf ein Zeichen hin, die Ver schnürungen der Goldmaske. Jetzt nahm die Asika die Kleine Bonsa von ihrem schweißnassen Gesicht und hielt sie hoch über den Kopf. Dann senkte sie sie langsam auf die Höhe ihrer nackten Brüste und schritt, sie mit beiden Händen haltend, zur Vorder kante des Podiums, woraufhin als Teufel und Dämo nen verkleidete Priester danach zu springen began nen, danach griffen und versuchten, sie ihren Händen zu entreißen. Einer nach dem anderen sprangen sie mit aller Kraft, wobei jedem drei Versuche zugestan
den wurden, und Alan bemerkte, daß dieser neuarti ge Wettkampf von allen Zuschauern mit gespanntem Interesse verfolgt wurde; zu jenem Zeitpunkt war ihm der Grund dafür jedoch noch unbekannt. Die ersten beiden, offensichtlich ältere Männer, kamen dem Ziel nicht einmal nahe. Ihr Versagen wurde mit Hohnrufen quittiert. Sie sanken erschöpft zu Boden, und an den Körperbewegungen eines von ihnen erkannte Alan, daß er weinte, während der an dere in düsterer Reglosigkeit verharrte. Dann näherte sich ein jüngerer Mann, und beim dritten Sprung hätte er den Fetisch beinahe gepackt. Er hätte es wirklich geschafft, wenn die Asika es nicht durch ei nen unfairen Trick vereitelt hätte. Als sie sah, daß er die Maske erreichen würde, hob sie sie ein wenig hö her, so daß auch er es nicht schaffte, sie zu berühren, und mit einem tiefen Stöhnen zur Gruppe der Verlie rer trat. Nun trat ein vierter Priester an, der noch scheußlicher kostümiert war als jene, die vor ihm ge sprungen waren, doch Alan bemerkte, daß seine Maske die leichteste war, sein Kostüm hauptsächlich aus Farbe bestand, und beides zusammen dem Zweck diente, ihm das Aussehen eines Totengerippes zu verleihen. Er war ein dünner, drahtiger Bursche, und die Menge der Zuschauer begrüßte ihn mit an feuernden lauten Zurufen. Ein paar Sekunden lang stand er reglos und starrte die Maske an, wie ein Wolf einen unerreichbaren Knochen anstarren mag. Dann, plötzlich, lief er los und schnellte sich in die Luft. Es war ein Sprung, wie ihn Alan noch nie gesehen hatte. Wahrhaftig, er schnellte sich so hoch empor, daß sein Gesicht auf gleiche Höhe mit dem Fetisch gelangte, den er mit beiden Händen packte und der Asika ent
riß. Als er dröhnend wieder zu Boden kam, begann er tanzend hin und her zu hüpfen und die Maske zu küssen, während die Menge schrie: »Die Kleine Bonsa hat gewählt. Welches Schicksal für die Verlierer?« Der Mann hielt in seinen Kapriolen inne, hielt den Mund der Kleinen Bonsa an sein Ohr und nickte von Zeit zu Zeit, als ob sie zu ihm spräche und er hörte, was sie sagte. Dann ging er um das Podium herum, so daß Alan ihn eine Weile nicht sehen konnte; als er wieder auftauchte, hielt er in seiner rechten Hand die Kleine Bonsa, und in der linken einen großen golde nen Becher. Stille senkte sich auf die Menge. Er trat auf den Mann zu, der als erster gesprungen war und streckte ihm den Becher entgegen. Der Mann wandte den Kopf ab, doch tausend Stimmen schrien: »Trink!« Da nahm er den Becher und trank und reichte ihn dann an seinen Schicksalsgefährten weiter, der eben falls trank und ihn an den dritten Priester weiter reichte, jenen, der die Maske fast erwischt hätte, hätte die Asika sie nicht außer Reichweite gehoben. Dieser Mann leerte den Becher bis auf den Grund und schleuderte ihn dann mit einem wütenden Schrei in das Gesicht des siegreichen Priesters, mit einer sol chen Wucht, daß der Mann zu Boden fiel und eine Weile betäubt liegen blieb. Nun begann der, welcher als erster getrunken hatte, auf eine lächerliche Art herumzuhüpfen, und kurz darauf schlossen sich die beiden anderen seiner wilden Tanzerei an. So absurd waren ihre Bewegungen und Sprünge und clownarti gen Grimassen – denn sie hatten ihre Masken herun tergerissen –, daß ein Brüllen brutalen Gelächters aus der Menge der Zuschauer ertönte, in das die Asika einfiel.
Zunächst glaubte Alan, daß dies ein Ulk sei und man die Männer lediglich trunken gemacht habe, bis er bemerkte, daß sie starke Schmerzen litten, worauf er sich empört der Asika zuwandte, um sie zur Rede zu stellen. »Sei still, Vernun!« sagte sie ungehalten. »Dein orunda ist Blut, und ich respektiere das. Deshalb wer den diese Männer, durch Dekret des Gottes, an Gift sterben.« Und wieder lachte sie über den Anblick der Opfer, die sich vor Schmerzen wanden. Alan schloß die Augen, und als er sie schließlich, von einer entsetzlichen Faszination gezwungen, wie der öffnete, sah er, daß die drei bedauernswerten Männer sich ins Wasser gestürzt hatten, wo sie sich um die eigene Achse drehten wie verwundete Del phine, bis sie schließlich untergingen und ver schwanden. Als diese Farce – denn als solche sahen sie es an – zu Ende und die Bühne wieder frei war, setzten die Zuschauer, die sich heiser gelacht hatten beim An blick der Sterbenden, sich wieder zurecht, um die Ze remonie der Einführung des neugewählten Hohe priesters der Kleinen Bonsa zu verfolgen, der inzwi schen nach dem Schlag, den der eine der Verlierer ihm versetzt hatte, wieder zu Bewußtsein gekommen war. Unter Mithilfe anderer Priester war er jetzt da mit beschäftigt, den Fetisch auf ein kleines Binsenfloß zu binden. Als das getan war, legte er sich bäuchlings auf eine breite Holzplanke, die am Rande des Was sers für ihn bereitgehalten worden war, deponierte die Maske vor sich und paddelte mit wenigen Stößen seiner Füße, die zu beiden Seiten der Planke ins Was ser hingen, in die Mitte des Kanals, wo der Gott, der
Großer Bonsa genannt wurde, schwamm oder befe stigt war. Als er ihn erreicht hatte, schob er das kleine Floß von der Planke ins Wasser und befestigt es auf eine Art, die Alan nicht erkennen konnte, an dem Großen Bonsa, so daß die beiden nun hintereinander auf dem Wasser schwammen. Dann, während die Zuschauer jubelten und schrien, daß Ehemann und Ehefrau endlich wieder vereint seien, paddelte er auf seiner Planke zum Ufer zurück, setzte sich auf den Boden und wartete. Währenddessen waren auf ein Zeichen der Asika hin alle als Teufel gekleidete Priester nach links und nach rechts abgezogen und verschwunden, vermut lich, um das Wasser auf Brücken oder mit Booten, die sich außer Sichtweite befanden, zu überqueren. Auf jeden Fall tauchten sie auf der anderen Seite wieder auf und zogen singend durch die Menge der Asiki, die auf dem Felsenhang jenseits des Kanals versam melt waren, um das grausame Schauspiel mitzuerle ben. Alan stellte fest, daß die Zuschauer das Erschei nen dieser Priester unter sich gar nicht zu schätzen und von ihnen fortzurücken schienen. Manche stan den sogar auf und versuchten wegzugehen, wurden jedoch von einer Doppelreihe der mit Speeren be waffneten Kriegern zurückgetrieben, die, wie Alan erst jetzt bemerkte, den gesamten Zuschauerraum umstellt hatten. Jetzt zeigten sich auch weitere Krie ger, und mit ihnen mehrere Männer, die wie Henker aussahen, auf dem gegenüberliegenden Ufer und verteilten sich nach links und nach rechts. »Was geschieht jetzt?« fragte Alan, an Jeekie ge wandt, über die Schulter. »Jetzt wird's ernst«, flüsterte Jeekie zurück. »Jetzt
ist der Spaß vorbei jetzt kommen sie zur Sache. Die dummen Esel vergessen das, solange sie lachen. Bei de Bonsa sind sehr hungrig, und die Asika will alte Rechnungen begleichen. Gleich werden Sie sehen, Major.« Und Alan sah es auch gleich, denn auf irgendein vorher vereinbartes Zeichen hin sprangen die Teufel spriester vor, jeder von ihnen stürzte mit einem Schrei auf einen vorher ausgewählten Menschen zu und packte ihn an den Haaren, während Helfer her beiliefen und die so Ausgewählten zum Ufer des Ka nals hinabschleiften. Hier wurden sie, hundert oder mehr, eine strampelnde, jammernde Herde, in ein Pferch gesperrt wie Schafe. Dann wurde ein Gatter geöffnet, und einem von ihnen ermöglicht, hinauszu gelangen, doch fand er sich in einer Art Laufgang, der ins Uferwasser führte. Nachdem er gezwungen war, ihn zu passieren, stand er im flachen Wasser, genau gegenüber den schwimmenden Fetischen, von mit Speeren bewaffneten Männern bewacht. Als nichts geschah, hoben sie ihre Speere, und der Mann rannte den Hang hinauf und verlor sich unter den Zuschauern. Der zweite, offensichtlich ein Mann von Rang, war nicht so glücklich. Als er vom Laufgang in den Kanal gesprungen war, stand er dort, bis zu den Hüften im Wasser, wie ein Schaf, das gewaschen werden soll. Dann sah Alan etwas Entsetzliches, denn plötzlich begann der grauenhafte, goldene Kopf des Großen Bonsa zielsicher über den Kanal zu schwimmen, wo bei er die Kleine Bonsa hinter sich herzog, bis er den Mann erreichte, sich aufzurichten schien und ihm mit seiner Schnauze vor die Brust tippte, wie es eine
Schildkröte tun mag. Dann sank er wieder aufs Was ser und schwamm langsam zurück an seinen Platz, von einem Hilfsmittel oder einer Kraft angetrieben, die Alan nicht ausmachen konnte. Bei der Berührung des Fetischs schrie der Mann wie ein verwundetes Pferd auf vor Schmerz und Angst, und Krieger, die mit wütenden Rufen auf ihn zusprangen, zerrten ihn durch einen anderen Lauf gang, auf welchem er, allem Anschein nach mehr tot als lebendig, im Dunkel verschwand. Die Hörner und Trommeln lärmten triumphierend, die Asika klatschte applaudierend in die Hände, die Zuschauer jubelten, und das nächste Opfer wurde den Laufgang hinabgetrieben, um dem Urteil der Bonsas unterwor fen zu werden, die sich auf ihn stürzten wie hungrige Hechte auf einen Frosch. Dann folgten mehr und mehr, von denen manche erwählt, andere laufen ge lassen wurden, bis die Priester schließlich der Sache müde waren und die Krieger anwiesen, die Gefange nen gruppenweise ins Wasser zu treiben, wo sie ängstlich zusammengedrängt standen und wie eine Herde von Tieren. Wenn die furchtbaren Goldmas ken herüberschwammen und nur einen von ihnen be rührten, wurden sie alle fortgeschleppt; wenn die Masken sich nicht rührten, wurden sie laufengelas sen. So ging es weiter und weiter, bis Alan es schließlich nicht länger ertragen konnte. »Asika«, sagte er, als sie ihren Beifall für einen Moment unterbrach, »ich bin müde, ich möchte schla fen.« »Was!« rief sie. »Du willst schlafen in einer so herr lichen Nacht, wenn so viele Missetäter ihre gerechte
Strafe finden? Aber meinetwegen, geh, wenn du willst, denn dann bin ich von meinem Versprechen entbunden und kann diese Angelegenheit schneller erledigen und die Sünder vor den Augen des Volkes aburteilen, wie es der Brauch ist. Gute Nacht, Vernun; wir sehen uns morgen wieder.« Sie rief einige Prie ster, um ihn fortzuführen, und mit ihm die Ogulas, die sie ihm als Diener gegeben hatte. Alan war mehr als froh, gehen zu können. Als er einen der Korridore betrat, hörte er ein entsetzliches Schreien, gefolgt von lautem, triumphierendem Ge brüll. »Jetzt, wo Sie nicht mehr da sind, töten sie alle, die Bonsa erschnuppert hat«, sagte Jeekie. »Warum wollten Sie nicht bleiben und zusehen? Sehr interes santer Anblick.« »Halt den Mund!« sagte Alan heftig. »Hast du auch so gedacht, als du seinerzeit selbst in den Pferch ge sperrt wurdest, um abgeschlachtet zu werden?« »Nein, Major«, antwortete der unbeeindruckbare Jeekie, »damals habe ich überhaupt nicht gedacht, da hatte ich zu viel Angst. Aber bei anderen Leuten zu zusehen und zu wissen, es betrifft dich nicht, ist eine ganz andere Sache.« Sie erreichten ihren Raum. Fahni und seine Männer wurden in ein nahegelegenes Quartier geführt und segneten Alan, weil er ihnen das Leben gerettet hatte. »Jeekie«, sagte er, als sie allein waren, »sag mir, was läßt jenes höllische Idol im Wasser umher schwimmen und einige Menschen aussuchen, wäh rend es andere unbeachtet läßt?« »Major, ich weiß nicht; niemand weiß das, außer der oberste Priester vielleicht und Asika. Vielleicht
der Mann darunter, vielleicht wird an Schnüren ge zogen, oder vielleicht ist der Fetisch tatsächlich le bendig und tut, was er will. Bitte reden Sie nicht schlecht über die Bonsa, Major, sonst erinnern sie sich und kommen eines Tages hinter uns her. Das könnte schlimm ausgehen.« Jeekie zitterte. »Unsinn«, sagte Alan, konnte jedoch nicht verhin dern, daß auch er zitterte. »Jeekie«, sagte er dann, »was geschieht mit den Menschen, die die Bonsas heraussuchen?« »Deren Stündlein hat geschlagen, Major. Manchmal hacken sie ihnen den Kopf ab, manchmal werden sie in die Goldwanne geworfen und erschlagen, manch mal schneidet der Priester ein Loch in den Körper, um dem Herz die Hand zu schütteln. Reine Ge schmacksfrage, Major, wie es Asika gerade gefällt. Wenn sie die Opfer mag oder ein alter Freund dar unter ist, nur Kopf ab; wenn sie jemand nicht leiden kann, dann verlangt sie Schlimmeres.« Mehr als zufriedengestellt mit dieser Information ging Alan zu Bett. Stunde um Stunde lag er in jener Nacht schlaflos, verfolgt von Erinnerungen an die furchtbaren Bilder, die er gesehen hatte, und an die schreckliche Asika, schön und halb nackt, die ihn durch die Kristallaugen der Kleinen Bonsa lie beshungrig angestarrt hatte. Als er endlich einschlief, dann zu der Heimsuchung durch einen Traum, in dem er sich allein mit dem Gott im Wasser befand, der ihn verfolgte wie ein Hai einen schiffbrüchigen Matrosen. Noch nie hatte er einen Alptraum gehabt, der auch nur halb so grauenhaft war. Nur eines konnte ihn übertreffen: die Wirklichkeit.
14
Die Mutter Jeekies
»Jeekie«, sagte Alan am folgenden Morgen, »ich sage dir noch einmal, daß ich genug habe von diesem Ort; ich will weg von hier!« »Ja, Major, so sagt die Maus, wenn sie den Käse in der Falle aufgefressen hat, nur kommt dann die Mis sus, sagt ›was für eine niedliche Maus‹, ersäuft sie aber trotzdem.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf das Haus der Asika. »Jeekie, es muß zu schaffen sein – hörst du mich? Lieber will ich bei dem Versuch sterben, als tatenlos herumzusitzen, bis die nächsten zwei Monate vorbei sind. Wenn man beim übernächsten Vollmond noch hier sein sollte, werde ich diese Asika erschießen und dann mich selbst, und du mußt sehen, wie du zu rechtkommst. Hast du verstanden?« »Verstehe, daß das dumme Spiel von Verbrechen und Mord auch schlechte Aussichten für Jeekie birgt, Major, aber ein Plan fällt mir nicht ein.« Er rieb nach denklich seine große Nase und setzte hinzu: »Fahni und seine Leute sind jetzt Ihre Sklaven, Major. Ich meine, wir sollten mit ihnen reden. Ich sage den Prie stern, sie sollen sie herbringen, wenn sie mit Früh stück kommen. Überlassen Sie die Sache mir, Major!« Alan überließ sie ihm, mit dem Ergebnis, daß die Priester nach langem Palaver ihre Zustimmung ga ben, oder sie einholten, Fahni und seine Männer zu ihnen zu bringen, und wenig später traten die Ogula herein; sie wirkten sehr niedergeschlagen und grüß
ten Alan unterwürfig. Nachdem er den anderen be fohlen hatte, sich auf den Boden zu hocken, bat er Fahni zum anderen Ende des Raums und fragte ihn durch Jeekie, ob er und seine Männer nicht nach Hause zurückzukehren wünschten. »Das wünschen wir sehr, weißer Herr«, antwortete der alte Häuptling, »doch wie können wir das? Die Asika haßt unseren Stamm, und wenn du nicht gewe sen wärst, hätte sie uns, einen nach dem anderen, ge stern nacht töten lassen. Wir sitzen in der Falle und müssen hier bleiben, bis wir sterben.« »Würden die Menschen deines Stammes euch nicht helfen, wenn sie von eurer Lage wüßten, Fahni?« »Ja, Herr, sicherlich. Aber wie kann ich es sie wis sen lassen, die uns zweifellos für tot halten? Ich kann auch keinen Boten schicken, denn dieser Ort ist be wacht, und man würde ihn auf der Stelle töten. Wir sind deinetwegen hergekommen, weil du die Kleine Bonsa hattest, einen Gott, der im Osten und im We sten, im Süden und im Norden bekannt ist, und weil du mich vor dem Löwen gerettet hast. Doch hier müssen wir nun verderben.« »Jeekie«, sagte Alan, »kannst du nicht einen Boten finden? Hast du, der du hier geboren wurdest, nicht einen einzigen Freund bei diesem Volk?« Jeekie schüttelte den weißhaarigen Kopf und rollte die Augen. Dann kam ihm plötzlich eine Idee. »Ja«, sagte er, »einen vielleicht. Meine Mama.« »Deine Mama!« sagte Alan. »O ja, ich erinnere mich. Hast du etwas von ihr gehört?« »Ja, Major. Sie ist inzwischen ein sehr altes Mäd chen, aber kräftige Beine hat sie, und eine kräftige Zunge, sagen die Leute. Ich glaube, sie geht gern an
jeden anderen Ort, weil sie hier ein öffentliches Är gernis ist; sie haben genug von ihr im Kittchen, und Arbeitshäuser gibt es nicht hier, also wollen sie Mama aussetzen und verhungern lassen, was natürlich Jee kies Herz brechen würde. Vielleicht überbringt sie die Botschaft. Ich glaube nur, daß sie Angst haben wird, ins Ogula-Land zu gehen, weil die Ogula häßliche Kannibalen sind, die sogar alte Frauen essen.« Als dies alles für Fahni übersetzt worden war, ver sicherte er Jeekie mit großem Ernst, daß nichts die Ogula dazu bringen könnte, seine Mutter zu essen; daß sie sogar um ihretwillen nie wieder hungrigen Blicks eine alte Frau ansehen würden, sei sie mager oder fett. »Nun gut«, sagte Jeekie. »Ich versuche, die Alte zu erwischen, und dann werden wir sehen. Ich bitte den Priester, den Sie neulich retteten, sie aus dem Kitt chen zu lassen, weil ich mich danach sehne, ihr an den Busen zu sinken, was sogar wahr ist, nur hatte ich so viel zu denken, daß ich bis jetzt keine Zeit hat te, mich um Familienangelegenheiten zu kümmern.« Als Alan an jenem Nachmittag von einem Spazier gang in dem bedrückenden Zederngarten zurück kehrte, drangen die schrillen Laute einer keifenden Frauenstimme an sein Ohr, und als er hineintrat, bot sich ihm ein bemerkenswerter Anblick. Ein großes, knochiges, hageres weibliches Wesen, dessen Alter irgendwo zwischen sechzig und hundert Jahren lie gen mochte, hatte mit einer Hand Jeekies Ohr gepackt und schlug ihm mit der anderen ins Gesicht, wobei sie schrie: »Du Dieb, den ich durch einen Fluch Bonsas in die Welt brachte, was hast du mit meiner Decke getan? War es nicht genug, daß du, mein ein
ziger Sohn, mich verlassen hast, so daß ich für mei nen Lebensunterhalt selbst aufkommen mußte? Mußtest du auch meine beste Decke mitnehmen, so daß ich von jenem Tage an ständig gefroren habe? Wo ist die Decke, du Dieb, wo ist sie?« »Abgenutzt, Mutter, völlig abgenutzt«, antwortete Jeekie und versuchte, sich zu befreien. »Du vergißt, hochverehrte Mutter, daß ich alt geworden bin, und du längst tot sein solltest. Wie kannst du erwarten, daß eine Decke so lange hält? Laß mein Ohr los, ge liebte Mutter, und ich werde dir eine andere Decke geben. Ich bin über die ganze Welt gereist, um dich zu finden, und ich möchte hören, wie es deinem Ehemann geht.« »Meinem Ehemann, du Dieb? Welchem Ehemann? Meinst du deinen Vater, den mit der gebrochenen Nase, der geopfert wurde, weil du mit dem weißen Mann fortgelaufen bist, den die Kleine Bonsa liebte? Du kannst dich nach ihm umsehen, wenn du in die Welt der Geister gehst, denn er sagte, er würde dort auf dich warten, mit dem dicksten Knüppel, den er finden könne. Da fällt mir ein, daß ich seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht habe, aber ich hatte nach ihm noch drei weitere Männer, die auch schlecht wa ren, aber nicht so schlecht wie er, warum also sollte ich an ihn denken? Und jetzt hat Bonsa alle genom men, und von meinen Kindern lebt auch keines mehr, und sie sagen, daß ich in der nächsten Woche aus dem Gefängnis geworfen werden soll, um zu ver hungern, da sie mich nicht länger füttern wollen, mich, die ich noch immer besser arbeiten kann als je de andere, und du ... du hast meine Decke gestohlen, du häßlicher, alter Schuft!« Unter der Last ihrer auf
gezählten Leiden zusammenbrechend, stieß die alte Hexe ein melancholisches Heulen aus. »Friede, meine Mutter«, sagte Jeekie und tätschelte ihren Kopf. »Wenn du tust, was ich dir sage, sollst du mehr Decken bekommen, als du jemals tragen kannst, und, da du noch immer so hübsch bist, auch einen neuen Ehemann, wenn du willst, und einen Garten und Sklaven, die für dich arbeiten, und viel zu es sen.« »Wie soll ich all das bekommen, mein Sohn?« fragte die alte Frau aufblickend. »Wirst du mich zu deinem Haus mitnehmen und mich ernähren, oder wird der weiße Herr mich heiraten? Man sagt mir, daß die Asika ihn zum nächsten Mungana machen will, und sie ist sehr eifersüchtig, die eifersüchtigste Asika, die ich jemals kannte.« »Nein, Mutter, er würde dich wohl gerne heiraten, wagt es jedoch nicht, und ich kann dich nicht ernäh ren, so gerne ich das auch möchte, da ich hier kein Haus oder Eigentum besitze. Du sollst dies alles be kommen, wenn du einen Spaziergang machst und deinen Mund hältst. Du siehst diesen Mann hier; er heißt Fahni und ist Häuptling eines großen Stammes, den Ogula. Er will, daß du eine Botschaft für ihn überbringst, und später irgendwann wird er dich hei raten, nicht wahr, Fahni?« »O ja, ja!« sagte Fahni. »Ich will alles tun, was sie verlangt. Niemand in meinem Land soll so reich und so geehrt sein wie sie, und um ihretwillen werden wir nie wieder eine alte Frau essen, während sie, wenn sie hier bleibt, in die Berge getrieben wird, um dort zu verhungern.« »Sagt mir, was ich tun soll«, antwortete die Mutter
Jeekies, die alles andere war als so vertrottelt, wie sie schien. Also erklärten sie ihr, was sie tun müsse, nämlich, zu den Ogula zu gehen und ihnen von der Lage, in der ihr Häuptling sich befand, zu berichten und ih nen zu befehlen, alle ihre Krieger zusammenzurufen und, sowie die Sümpfe trocken genug waren, so nahe wie möglich an die Grenze des Asiki-Lands vorzu rücken und, wenn sie es nicht angreifen könnten, dort zu warten, bis sie weitere Befehle erhielten. Das Ende der Affäre war, daß Jeekies Mutter, die wußte, wie hoffnungslos ihre Lage in diesem Lande war, wo sie in schlechtem Rufe stand, und in Anbe tracht der sich ihr bietenden Vorteile versprach, diese Reise zu unternehmen. Da sie ausgesetzt werden sollte, um ihr Ende zu finden, und dabei so viel Nah rung mitnehmen konnte, wie sie zu tragen vermoch te, konnte sie das tun, ohne Verdacht zu erregen, denn wer würde sich darum kümmern, was eine nutzlose alte Diebin unternahm? Vorerst gab Jeekie ihr eins der Gewänder, welche die Asika für Alan hatte bringen lassen, und einige anderen Dinge, die sie begehrte, und nachdem sie Fahnis Botschaft aus wendig gelernt und verkündet hatte, daß sie sich als seine ihm anverlobte Braut betrachte, verließ die ha gere Alte sie glücklich und zufrieden, nachdem sie ih ren so lange verlorenen Sohn noch mehrmals herzlich umarmt hatte. »Sie wird irgend jemandem alles ausplaudern und man wird uns die Gurgel durchschneiden«, sagte Alan pessimistisch, denn die ganze Angelegenheit er schien ihm als eine lächerliche Farce. »Nein, nein, Major. Ich ließ sie bei allen Geistern
von allen ihren Ehemännern schwören, nicht Katze aus dem Sack zu lassen, und auch bei der Kleinen Bonsa persönlich. Sie hält dicht wie Wachs, weil sie glaubt, sie kommen spuken, wenn sie redet, und ich auch, später, wenn ich tot bin. Vielleicht geht sie ins Ogula-Land, vielleicht nicht. Wenn sie nicht geht, ist das nicht zu ändern, aber kein Schaden. Mir bricht das Herz, aber es ist nur eine alte Frau weniger auf der Erde. Doch sie hält den Mund, aber die Hauptsa che, und ich bin richtig glücklich, ich habe meine Mama wiedergefunden, die ich nicht nochmal zu se hen geglaubt habe. Der Himmel ist sehr gut zu Jeekie, führt ihn an den Busen der Familie zurück«, setzte er salbungsvoll hinzu. An jenem Tage geschah nichts Aufregendes, und zu Alans unsäglicher Erleichterung ließ die Asika sich nicht blicken. Nach der Orgie von Hexerei und Blutrausch der vergangenen Nacht schien Ermattung und Stille über die Stadt gesunken zu sein. Auf jeden Fall hörte man keinen Laut, der das ständige Donnern des Wasserfalls übertönt hätte, und in dem von Ze dern verschatteten Garten, wo Alan in der Gesell schaft Jeekies und der Ogula auf und ab schritt, bis er müde wurde, war keine Menschenseele zu erblicken. Am folgenden Morgen, als er niedergeschlagen in seinem Raum saß, erschienen zwei Priester, um ihn zu der Asika zu führen. Da ihm keine andere Wahl blieb, folgte er ihnen, von Jeekie begleitet, zu ihrem Haus, maskiert wie üblich, denn ohne diese verhaßte Verkleidung durfte er sich nicht bewegen. Er fand die Asika auf einem Haufen Kissen in einem kleinen Gemach liegend, das er bisher noch nicht betreten hatte, und das besser beleuchtet war als die meisten
anderen in jenem düsteren Gemäuer und ihr als Pri vatgemach zu dienen schien. Vor ihr lag das Fell der Löwin, das er ihr als Geschenk übersandt hatte, und um ihren Hals hing eine Kette aus den Krallen der Löwin und aus Gold gefertigt, mit der sie gedanken verloren spielte. Beim Eintritt Alans blickte sie mit einem raschen Lächeln auf, das sich jedoch sofort verdüsterte, als sie sah, daß sich Jeekie bei ihm befand. »Sage, Vernun«, fragte sie ihn mit ihrer sinnlichen Stimme, »kannst du nicht einen Schritt tun, ohne daß dieser häßliche, schwarze Hund an deinen Fersen klebt? Brauchst du ihn, damit er dir den Rücken schützt? Wenn ja, so ist das völlig unnütz. Habe ich dir nicht geschworen, daß du in meinem Land sicher bist?« Alan ließ sich ihre Worte von Jeekie übersetzen und antwortete dann, daß er Jeekie bei sich haben müsse, da er nur wenig von ihrer Sprache verstünde. »Kann ich sie dich dann nicht allein lehren, ohne daß dieser Kerl alle meine Worte hört? Nun, es ist ja nicht für lange«, setzte sie hinzu und blickte dabei Jeekie auf eine Weise an, daß ihm sehr unbehaglich zumute wurde. »Tritt hinter uns, Hund! Und du, Vernun, setz dich auf diese Kissen neben mich. Nein, nicht dort, ich sagte auf die Kissen – so! Jetzt werde ich dir diese häßliche Maske abnehmen, denn ich möchte in deine Augen blicken. Ich finde sie schön, Vernun.« Ohne auf seine Erlaubnis zu warten, setzte sie sich auf und nahm ihm die Maske ab. »Ah!« fuhr sie fort, »wir werden glücklich sein, wenn wir verheiratet sind, nicht wahr? Hab keine Angst, Vernun, ich werde nicht dein Herz verzehren,
wie ich es bei jenen Männern tat, die vor dir waren. Wir werden zusammenleben, bis wir alt geworden sind, und schließlich gemeinsam sterben und ge meinsam wiedergeboren werden, und so weiter und weiter, bis zu dem Ende, das selbst ich nicht voraus sehen kann. Warum lächelst du nicht, Vernun, und sagst mir, daß du dich darauf freust und glücklich sein wirst mit mir, die dich von dem Moment an liebte, da ich dich zum ersten Mal schlafend sah? Sprich, Vernun, damit ich nicht zornig werde!« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, antwortete Alan durch Jeekie, »es ist eine zu große Ehre für mich, der ich nur ein umherziehender Händler bin, der herkam, um die Kleine Bonsa für das Gold einzutau schen, das ich benötige« – ›um meine Frau und meine Familie ernähren zu können‹, hätte er um ein Haar hinzugefügt, doch fiel ihm ein, daß diese Begründung nicht sehr beifällig aufgenommen werden mochte und sagte statt dessen: »um meine alten Eltern und meine acht Brüder und Schwestern zu unterstützen, die von mir abhängig sind und Hunger leiden müs sen, bis ich zu ihnen zurückkehre.« »Dann werden sie wohl lange Zeit hungrig bleiben, Vernun, denn solange ich lebe, wirst du nicht zu ih nen zurückkehren. So sehr ich dich liebe, würde ich dich eher töten.« Ihre Augen glitzerten, als sie das sagte. »Dennoch«, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, daß sein Gesicht sich verdüsterte, »wenn es Gold ist, das sie brauchen, sollst du es ihnen schicken. Ja, mei ne Leute sollen alles Gold, das ich dir gab, zur Küste bringen, wo es in ein großes Kanu geladen und über das Wasser gebracht werden kann. Kümmere dich um das Verpacken des Zeugs, du schwarzer Hund!«
wies sie Jeekie über die Schulter hinweg an, »und wenn es bereit ist, werde ich es zur Küste schicken.« Alan dankte ihr, obwohl er sich sagte, daß das Gold, selbst wenn sie ihr Wort halten sollte, wahr scheinlich niemals nach Alt-Calabar gelangen würde, und ganz bestimmt nicht nach England. Doch sie wandte sich von dem Thema ab, da es ihr nicht inter essant war. »Sag mir eins!« fragte sie. »Möchtest du mich an ders haben, als ich es bin? Vor allem, findest du mich schön?« »Ja«, antwortete Alan ehrlich, »sehr schön sogar, wenn du ruhig bist, wie jetzt, aber nicht, wenn du tanzt, wie in jener Nacht, und fast unbekleidet.« Als sie verstanden hatte, was er meinte, wurde die Asika tatsächlich ein wenig rot. »Es tut mir leid«, sagte sie mit einer Stimme, die für sie sehr bescheiden klang. »Ich vergaß, daß es für deine Augen sehr fremdartig sein mußte. Es war von jeher der Brauch, daß die Asika bei Banketten und Opferungen das tut, was ich getan habe, doch viel leicht ist es bei euren Frauen nicht üblich; vielleicht bleiben sie immer verschleiert, gleich den Anbeterin nen des Propheten, wie ich gehört habe, und du hast mich deshalb für unmoralisch gehalten. Es tut mir leid, sehr leid, Vernun. Ich bitte dich, mir zu verge ben, die ich unwissend bin und nur tue, was man mich zu tun gelehrt hat.« »Ja, sie gehen immer verschleiert«, stammelte Alan, doch meinte er damit nicht ihre Gesichter, und wäh rend er es sagte, fragte er sich, was Asika denken mochte, wenn sie das Ballett einer Londoner Revue sehen würde.
»Mache ich sonst noch etwas falsch?« fragte sie lei se. »Wenn ja, so sag es mir, damit ich es korrigieren kann.« »Ich mag keine Grausamkeiten oder Opferungen, Asika. Ich habe dir gesagt, daß Blutvergießen für mich orunda ist, doch bei dem Fest wurden jene Män ner vergiftet, und du hast dich über ihre Qualen lu stig gemacht; dann wurden viele Menschen fortge führt und getötet, obgleich sie keine Schuld auf sich geladen hatten.« Sie öffnete ihre wunderbaren Augen und starrte ihn an. »Aber Vernun«, sagte sie, »all das ist doch nicht meine Schuld; sie waren den Göttern darge brachte Opfer, und wenn ich nicht sie opfern würde, würde ich von den Priestern und Zauberern geopfert werden, deren Leben das Opfern ist. Ja, mich würde man zwingen, das Gift zu trinken und mich verhöh nen, während ich sterbe wie eine Schlange mit zer brochenem Rückgrat. Und selbst wenn ich der Rache des Volkes entrinnen sollte, würden die Götter selbst mich töten und eine andere an meiner Statt erheben. Gibt es in deinem Land keine Opferungen, Vernun?« »Nein, Asika, die Menschen kämpfen, wenn es notwendig wird, und töten solche, die Mord begehen. Aber sie haben keinen Fetisch, der nach Blut verlangt, und das Gesetz, das sie vom Himmel empfangen ha ben, ist ein Gesetz der Gnade.« Sie starrte ihn verständnislos an. »All das ist sehr fremd für mich«, sagte sie. »Mich hat man anderes gelehrt. Götter sind bösartig. Sie müssen zufriedengestellt werden, damit sie kein Un heil über uns bringen; Menschen müssen durch Ge walt und Furcht regiert werden, weil sie sonst rebel
lieren und das Große Haus niederreißen würden; Medizinmänner müssen die Magie erlernen, denn wie sonst könnten sie Flüche abwenden? Zauberer müssen getötet werden, denn sonst verderben die Menschen in ihrem Netz. Dürfen nicht wir, die in ei ner Hölle leben, versuchen, ihre Flammen mit der Weisheit zurückzuschlagen, welche unsere Vorväter uns hinterlassen haben? Sag es mir, Vernun, denn ich möchte es wissen!« »Ihr bereitet euch eure Hölle selbst«, antwortete Alan, als Jeekie ihre Worte übersetzt und er sie ver standen hatte. »Ich muß nachdenken. Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich tappe im dunkeln; ich werde später mit dir darüber sprechen. Doch jetzt sage mir, was ich sonst noch falsch mache.« Nun glaubt Alan eine Gelegenheit für etwas ge funden zu haben, das Jeekie ein ›ernstes Wort‹ nann te, und beging einen groben Fehler. »Ich finde, daß du deinen Ehemann, den man Mungana nennt, sehr schlecht behandelst. Warum willst du ihn in den Tod treiben?« Bei diesen Worten sprang die Asika wütend auf, und weil sie ihren Temperamentsausbruch abreagie ren mußte, schlug sie Jeekie mit aller Kraft ins Gesicht und trat ihn mit den Füßen. »Der Mungana!« schrie sie, »dieses Tier! Was habe ich mit dem zu schaffen? Ich hasse ihn, so wie ich alle anderen gehaßt habe. Die Priester haben ihn mir auf gedrängt. Er hat ausgedient, also soll er gehen. Wer den in deinem Land Frauen dazu gezwungen, mit Männern zu leben, die sie verabscheuen? Ich liebe dich, Bonsa mag wissen, warum! Vielleicht weil du
eine weiße Haut hast, und weiße Gedanken. Aber diesen Mann hasse ich. Wozu ist es gut, Asika zu sein, wenn ich mir nicht nehmen kann, was ich mir wünsche, und zurückweisen, was ich hasse? Geh jetzt, Vernun! Geh! Du hast mich in Zorn versetzt, und wenn es nicht um das wäre, was du über das neue Gesetz der Gnade gesagt hast, würde ich dir wahrscheinlich die Kehle durchschneiden.« Dabei schlug sie wieder Jeekie ins Gesicht und trat ihm an die Schienbeine. Alan erhob sich und ging unter Verneigungen rückwärts zur Tür; sie stand mit dem Rücken zu ihm und schluchzte. Als er die Tür erreicht hatte und hin ausgehen wollte, fuhr sie herum, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und sagte: »Ich vergaß, daß ich dich kommen ließ, um dir für deine Geschenke zu danken; das ...« – sie deutete auf das Fell der Löwin – »von dem man mir sagte, daß du das Tier mit einer Art Donner getötet hättest, um das Leben dieses alten Kannibalen zu retten, und dies ...« – sie riß sich die aus den Löwenkrallen gefer tigte Kette vom Hals und setzte hinzu: »Da ich zu schlecht bin, sie zu tragen, solltest du sie lieber zu rücknehmen.« Sie warf sie mit aller Kraft in Jeekies Gesicht. Da der arg mißhandelte Jeekie noch Schlimmeres befürchtete, heulte er laut auf und rannte hinaus, während Alan die Halskette vom Boden aufhob und sie ihr mit einer Verbeugung überreichte. Sie nahm sie an. »Halt!« rief sie plötzlich. »Du verläßt den Raum ohne deine Maske, und meine Frauen sind dort drau ßen. Komm her!« Sie band ihm das Ding schief vors
Gesicht und stieß ihn dann zur Tür. »Sehr schlechter Scherz, Major, wirklich sehr schlecht«, sagte Jeekie, als sie wieder in ihrem Raum allein waren. »Die Lady erklärt ihre Liebe, und Sie spielen den Tugendbold und halten der Lady Vorträ ge über heilige Bräuche Ihres Landes. Und sie klatscht mir Hand ins Gesicht, bis mir die Ohren sin gen, und tritt mich und wirft mir scharfe Krallen ins Gesicht. Bitte tun Sie das nicht wieder. Nächstes Mal, wer weiß? Stößt sie vielleicht ein Messer in meinen Hals und küßt dann Sie und sagt, es tue ihr leid und hoffe, sie habe Ihnen nicht wehgetan. Aber was hilft das dem armen Jeekie, der alle Tritte kriegt, während Sie Halfpenny kriegen?« »Oh! Halt den Mund!« sagte Alan. »Du kannst den Halfpenny gern haben, wenn du mir nur die Tritte überlassen würdest. Die Frage ist: wie soll ich diesem Dilemma entkommen? Solange sie ein schöner, wil der Teufel war, konnte man mit ihr fertigwerden, aber wenn sie jetzt menschlich wird, ist es eine völlig andere Sache.« Jeekie blickte ihn mitleidig an. »Ich habe immer geahnt, daß der weiße Mann tief in seinem Innern verrückt ist«, sagte er und schüttelte seinen großen Kopf. »Für einen dummen, schwarzen Nigger ist das alles sehr einfach. Sie müssen doch nichts anderes tun, als sie zu lieben – und abzuhauen, wenn die Gelegenheit kommt. Dann ist sie vergnügt, und Sie vielleicht auch, alles läuft wie am Schnür chen, und Jeekie kriegt keine Tritte mehr. Das christ liche Religionsgeschäft ist zwar sehr gut, aber es taugt nichts fürs Asiki-Land. Ihr Reverend Onkel hat das längst herausgefunden.«
Da Alan keine Lust hatte, weiter darüber zu debat tieren, wechselte er das Thema und fragte seinen un gehaltenen Diener, ob er glaube, die Asika habe es ernst gemeint mit ihrem Angebot, das Gold zur Küste bringen zu lassen. »Warum nicht, Major? Die Asika meint fast alles ernst, was sie sagt, und was sie tut auch.« Er fuhr sich behutsam mit den Fingerspitzen über die Kratzer, die die Löwenkrallen in seinem Gesicht hinterlassen hat ten, und setzte hinzu: »Sie weiß, was sie will, nicht mal hü, mal hott wie eine weiße Frau, die mal so, mal so sagt und tut. Wenn sie liebt, liebt sie, wenn sie haßt, haßt sie. Wenn sie sagt, sie schickt Gold, schickt sie es, obwohl es schade ist, uns davon zu trennen, weil ich denke, jemand wird es stehlen.« Alan überlegte eine Weile. »Begreifst du denn nicht, Jeekie, daß sich hier eine Chance bietet, wenn auch eine sehr kleine, eine Nach richt an die Küste zu bringen? Außerdem sollten wir uns über eines im klaren sein: falls es uns jemals ge lingen sollte, von hier zu entkommen, ist es unmög lich, das schwere Zeug mitzuschleppen, während, wenn wir es vorausschicken, zumindest ein Teil da von durchkommen mag. Auf jeden Fall wollen wir es zusammenpacken, Jeekie; das gibt uns etwas zu tun. Geh jetzt und schick eine Nachricht an die Asika, in der du sie um einige Tischler und eine Menge gut getrocknetes Holz bittest!« Die Nachricht wurde überbracht, und eine Stunde später erschienen zehn oder zwölf eingeborene Tischler mit ihren primitiven Werkzeugen und einer Ladung Bretter, die von einer Art Eisenholz- oder Ebenholzbaum geschnitten waren. Sie warfen sich
vor Alan zu Boden, dann erhob sich einer von ihnen, der ihr Meister zu sein schien, und nahm mit einem markierten Schilfrohr Jeekies Maße. Jeekie sprang er schrocken zurück und fragte, was, im Namen Bonsas, Groß und Klein, sie vorhätten. Woraufhin der Mann in aller Bescheidenheit erklärte, die Asika scheine zu glauben, daß der weiße Herr das Holz verlangt habe, um daraus eine Kiste zu machen, in der er seinen Diener vergraben wolle, da er, besagter Diener, sie an diesem Vormittag beleidigt habe, und der weiße Herr ihn sicher dafür töten oder lebendigen Leibes vergra ben wolle. »Oh, gütiger Himmel!« sagte Jeekie und zitterte, daß seine knochigen Knie gegeneinander schlugen. »Oh, gütiger Himmel! Das ist eine schöne Geschichte. Sie denkt, Sie wollen mich lebend eingraben. Das heißt, sie will Jeekie loswerden, weil er immer dabei sitzt, wenn sie allein sein will mit Ihnen. Oh, ja! Ich kenne ihr schlaues Spiel.« »Weißt du, Jeekie«, sagte Alan, der von einem so gewaltigen Lachen geschüttelt wurde, daß er beinahe seine Maske verloren hätte, »du solltest ein wenig vorsichtiger sein, denn gerade hast du mir erklärt, daß die Asika keine mal-so-mal-so-Frau ist und nie mals ihre Meinung ändert. Sag diesem Mann, er soll der Asika sagen, es läge hier ein Mißverständnis vor, und daß ich dich nicht begraben kann, so gerne ich auch ihrem Wunsche willfahren würde, da mir pro phezeit worden sei, daß an dem Tage, an dem du be graben würdest, auch ich begraben werde und du deshalb am Leben bleiben mußt.« »Gute Idee, Major«, sagte Jeekie mit großer Er leichterung. »Im Moment will sie Sie bestimmt nicht
begraben; vielleicht nächstes Jahr, aber nicht jetzt. Ich sage es ihm.« Und das tat er mit viel Nachdruck. Nachdem das kleine Mißverständnis beseitigt war, erklärte sie den Tischlern, was sie wollten. Als erstes wurde alles Gold aus den Beuteln entleert, in denen es so verblieben war, wie die Priester es gebracht hatten, und in gleichmäßige Haufen geteilt, von de nen jeder etwa vierzig Pfund wog, ein Gewicht, das zusammen mit dem der Kiste, eine vernünftige Tra glast war, wie Alan wußte. Es wurden dreiundfünf zig solcher Haufen, deren Gesamtwert Alan auf etwa einhunderttausend Pfund Sterling schätzte. Dann wurden die Tischler angewiesen, eine Modellkiste anzufertigen, was sie sehr rasch und mit großem Ge schick taten; sie schnitten das Holz mit ihren primiti ven Sägen, verzapften die Winkel, wie es auch ein zi vilisierter Handwerker tun würde und sicherten die Verbindungen schließlich mit Ebenholzstiften, die sie in zuvor mit einem heißen Eisen in das Holz ge brannte Löcher trieben. Das Ergebnis war eine Kiste, die auch der stärksten Beanspruchung standhalten würde und die, wenn ihr Deckel mit Ebenholzstiften verschlossen war, nur mit Hammer und Meißel ge öffnet werden konnte. Diese Kistenfabrikation dauerte zwei volle Tage. Während die Kisten, eine nach der anderen gefüllt und verschlossen wurden, nachdem ihr goldener In halt in Sägemehl gebettet worden war, um ein Klirren zu verhindern, amüsierte Alan sich damit, sie mittels eines Federpinsels und eines Topfes roter Farbe, wie sie von den Asiki-Priestern zur Körperbemalung ge braucht wurde, zu beschriften. Anfangs wußte er nicht, was für eine Adresse er angeben sollte, ent
schied sich jedoch schließlich für die folgende: Major A. Vernon, zu Händen von Miss Champers, The Court, nahe Kingswell, England. Und in einer Ecke setzte er: Von A. V., Asiki-Land, Afrika. Es war alles recht kindisch, wußte er, doch als er fertig war, betrachtete er das Ergebnis seiner Arbeit mit tiefer Befriedigung. Denn, so überlegte er, falls eine dieser Kisten nach England durchkommen sollte, würde die Beschriftung Barbara sehr vieles sagen, und da sie an ihn adressiert war, konnte ihr Onkel sie nicht mit Beschlag belegen. Dann dachte er daran, auch einen Brief zu schrei ben, mußte den Gedanken jedoch fallen lassen, da er weder Feder noch Bleistift, Tinte oder Papier übrig behalten hatte. Und welche Künste den Asiki auch verblieben sein mochten, die Kunst des Schreibens war nicht darunter, wenngleich, wie man sich erin nern mag, auf der Innenseite der Bonsa-Maske Zei chen eingeritzt waren, die eine Art Schrift sein mochten, und die als Beweis ihres großen Alters gal ten. Selbst zu den Zeiten, als sie den Ägypter, den Römer und andere frühe Munganas in Goldfolien gewickelt und sie in ihrem Schatzhaus aufgestellt hatten, war die Schrift ihnen offensichtlich unbe kannt, denn nicht einmal eine Hieroglyphe oder Rune war in das unverwüstliche Material der Folien einge ritzt worden. Seit jener Zeit war ihr Wissen offen sichtlich degeneriert, anstatt sich weiterzuentwickeln, so daß sie heute nur wenig aufweisen konnten – ab gesehen von jenen Relikten und einem vagen und bedeutungslos gewordenen Überdauern von Riten, die einst religiöser Natur gewesen waren und noch immer denselben alten Idolen dargebracht wurden –
das sie von anderen Stämmen zentralafrikanischer Wilder unterschied. Dennoch tat Alan etwas, denn er besorgte sich ein Stück weißes Holz, auf das er, nach dem er es, so gut es ihm möglich war, mit einem Mes ser geglättet hatte, folgende Mitteilung pinselte: Messrs. Aston, Alt-Calaber. Bitte verschiffen Sie diese dreiundfünfzig Kisten, oder solche von ihnen, die dort eintreffen, und kabeln Sie wie folgt (alle Kosten werden erstattet): Miss Champers, Kingswell, England. Gefangen von den Asiki. Derzeit keine Aussicht auf Flucht, habe jedoch Hoffnung. Jeekie und ich gesund. Habe Erlaubnis, diese Sendung abzusenden, doch vielleicht keine weitere Nachricht möglich. Lebe wohl. Alan. Gerade als Alan sein Gekritzel schweren Herzens zu Ende brachte, hörte er eine Bewegung, und als er auf blickte, sah er die Asika neben sich stehen, die er seit jenem Gespräch, bei dem sie Jeekie schlug, nicht mehr gesehen hatte. »Was sind das für Zeichen, die du auf das Holz gemacht hast, Vernun?« fragte sie mißtrauisch. Mit der Assistenz Jeekies, der einen respektvollen Abstand hielt, erklärte er ihr, daß es eine Botschaft in Schriftzeichen für die weißen Männer an der Küste sei, durch die er sie anwies, das Gold an seine dar bende Familie weiterzuleiten. »Oh!« sagte sie, »vom Schreiben habe ich noch nie gehört. Du wirst es mich lehren. Es wird uns die Zeit bis zu unserer Hochzeit vertreiben, obwohl es uns später kaum von Nutzen ist, da wir niemals wieder getrennt sein werden und Worte besser sind als Zei chen auf einem Brett. Aber«, setzte sie fröhlich hinzu,
»ich könnte deinen schwarzen Hund« – sie blickte Jeekie an – »fortschicken, damit er uns schreiben kann. Nein, das kann ich nicht, da er einen Unfall ha ben könnte, und man berichtete mir, du habest ge sagt, daß, wenn er stürbe, du auch sterben wirst, also muß er immer bei uns bleiben. Was hast du in diesen kleinen Kisten?« »Das Gold, das du mir gegeben hast, Asika, zu Traglasten verpackt.« »Eine sehr geringe Gabe«, sagte sie verächtlich; »möchtest du nicht mehr davon haben, da du das Zeug so schätzt? Nun, später einmal sollst du soviel davon schicken, wie du magst. Ich habe inzwischen die Träger bereitgestellt, fünfzig-und-drei Männer, wie du es mir hast ausrichten lassen, und zehn mehr, um die Stelle solcher einzunehmen, die auf dem Weg sterben mögen. Doch wie sie den Weg finden sollen, vermag ich nicht zu sagen, da niemand von uns je mals an der Küste gewesen ist.« Alan kam eine Idee, da er kein großes Vertrauen in Jeekies ›Mama‹ als Bote setzte. »Die gefangenen Ogula könnten ihn ihnen zeigen«, sagte er, »zumindest bis zum Wald, und von dort an werden sie sich selbst zurechtfinden. Willst du sie nicht gehen lassen, Asika?« »Wenn du es wünschst«, antwortete sie zerstreut. »Sie sollen sich bereitmachen, morgen beim ersten Licht aufzubrechen, alle außer ihrem Häuptling, Fah ni, der als Geisel hierbleiben muß. Ich traue diesen Ogula nicht, die mehr als einmal gedroht haben, uns zu bekriegen«, setzte sie hinzu, dann wandte sie sich um und befahl den Priestern, die Träger herzurufen, damit sie ihre Anweisungen erhielten.
Kurz darauf kamen sie, ausgesuchte Männer, und mit ihnen die Ogula, die sie ebenfalls herbeordert hatte. »Geht, wohin der weiße Herr euch schickt!« sagte sie mit gleichgültiger Stimme. »Und nehmt diese Ki sten mit euch! Ich weiß nicht, wohin euer Weg führen soll, doch diese Menschenfresser werden euch einen Teil des Weges führen, und wenn ihr den Auftrag nicht erfüllt, doch lebend zurückkommt, werdet ihr beim nächsten Bankett Bonsa geopfert werden, und wenn ihr weglauft, wird man eure Frauen und Kin der opfern. Man wird euch Nahrung für die Reise mitgeben, und Gold, um mehr zu kaufen, wenn sie verbraucht ist. Und jetzt, Vernun, sage ihnen, was sie tun sollen!« Alan, oder vielmehr Jeekie, sagte es ihnen, und die se Anweisungen waren so lang und ausführlich, daß die Asika es müde wurde, ihnen zuzuhören und fort ging. Als sie an dem Anführer der Träger vorbeiging, flüsterte sie ihm zu: »Denk an meine Worte, Mann! Tut eure Pflicht oder sterbt, doch verratet nichts von unserem Land und seinen Geheimnissen.« »Ich höre«, sagte der Mann und warf sich vor ihr zu Boden. An jenem Abend schickte Alan nach den Ogula und sprach zu ihnen durch Jeekie in ihrer Sprache. Zuerst erklärten sie, daß sie ihren Häuptling nicht verlassen wollten, sondern lieber bleiben und mit ihm sterben würden. »Nein«, sagte Fahni, »geht, meine Kinder, auf daß ich lebe! Geht und sammelt den Stamm, alle seine Tausende, die Männer sind und kämpfen können,
und bringt sie her, um das Asiki-Land anzugreifen und mich zu retten, so ich noch am Leben sein sollte, oder um mich zu rächen, wenn ich tot bin. Was diese Träger betrifft, so tut ihnen nichts an, sondern schickt sie zur Küste mit den Gütern des weißen Mannes!« Also sagten die Ogula schließlich, daß sie gehen würden, und als Alan am folgenden Morgen er wachte, wurde ihm gesagt, daß sie und die AsikiTräger bereits zu ihrer Reise aufgebrochen seien. Dann dachte er nicht weiter an diese Angelegenheit, denn – um ehrlich zu sein – er erwartete nicht, jemals wieder von ihnen zu hören.
15
Alan erkrankt
Nach dem Aufbruch der Boten wurde Alan von einer tiefen Melancholie ergriffen, da er sicher war, daß sich ihm keine weitere Möglichkeit bieten würde, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Er machte sich bittere Selbstvorwürfe wegen seiner Torheit, jemals in dieses verhaßte Land gekommen zu sein, um – was zu erringen? Gold im Wert von etwa einhunderttau send Pfund, das er natürlich nie besitzen würde, da es auf dem Weg zur Küste bestimmt irgendwo ver schwinden oder gestohlen werden würde. Wegen dieses Goldes hatte er sich in eine entsetzliche Lage gebracht, die ihn viel Leid kosten würde, und früher oder später sogar das Leben, da er nicht dazu bereit war, jene schöne Wilde, Asika zu heiraten, und wenn er sich weigerte, würde sie ihn in verletztem Stolz und aus Wut bestimmt töten. Tag um Tag schickte sie nach ihm, und wenn er bei ihr war, nahm sie einen neuen Charakter an, den ei ner Frau, die durch Erkenntnis des eigenen Unwis sens demütig geworden war und sich sehr bemühte, dieses Manko zu beheben. Also mußte er die Rolle des Lehrers übernehmen, ihr von zivilisierten Völ kern berichten, von deren Bräuchen und Religionen, und sie im Leben und Schreiben unterweisen. Sie hörte ihm andächtig zu und lernte eifrig, doch wäh rend der ganzen Zeit fühlte Alan sich wie jemand, der die Aufgabe hat, einen unter Drogen gesetzten Part ner abzurichten. Die Droge war in diesem Fall ihre
Leidenschaft für ihn, die absolut ehrlich zu sein schien. Doch wenn sie erlöschen würde, oder wenn er sich gezwungen sah, sie zurückzuweisen, was, so fragte er sich, mochte dann geschehen? Sorgen und die Quasi-Gefangenschaft zehrten weitaus mehr an ihm als alle Strapazen seiner Reise. Seine Gesundheit ließ nach und er fühlte sich immer elender. Dann, wie das Unglück es wollte, wurde er bei einem seiner täglichen Gänge im Zederngarten, den er nicht verlassen durfte, von dem Erreger eines Fiebers infiziert, das im Herbst in diesem giftigen Klima sehr häufig auftrat. Drei Tage später verfiel er in ein Delirium, und in der darauffolgenden Woche schwebte er zwischen Leben und Tod. Es war ein Glück für ihn, daß sein Medizinkasten intakt geblie ben war, daß er die Symptome erkannte, bevor sein Bewußtsein sich verdunkelte und in der Lage war, Jeekie genau anzuweisen, welche Medikamente er ihm in den verschiedenen Stadien der Krankheit ver abreichen sollte. Ansonsten waren seine Erinnerungen an diese schreckliche Krankheit nur sehr vage. Er hatte Visio nen von Jeekie und von einer in lange Gewänder ge hüllten Frau, die sich ständig über ihn beugten. Und er wußte, daß es die Asika war. Auch schien es ihm, als ob er von Zeit zu Zeit mit Barbara spräche, was er selbst in seinem Zustand als absurd erkannte, denn wie konnten sie über Tausende von Meilen, über Land und Meer hinweg, miteinander sprechen? Allmählich wurde sein Bewußtsein wieder klar, und er erwachte wie aus einem Alptraum in dem Raum, in dem er immer gewesen war, fühlte sich fie ber- und schmerzfrei, doch so schwach, daß es ihm
eine Anstrengung bedeutete, die Hand zu heben. Er starrte umher und sah zu seiner Verwunderung Jee kies weißhaarigen Kopf auf den Kissen eines in der Nähe stehenden Bettes unruhig hin und her rollen. »Jeekie«, sagte er, »bist du auch krank, Jeekie?« Beim Klang von Alans Stimme fuhr sein Diener auf. »Was, Major, Sie sind wach?« sagte er. »Dank sei allen Göttern, weiß und schwarz, ja, und den gelben auch, denn ich dachte, Sie werden bald abkratzen. Nein, nein, Major, ich bin nicht krank, nur die Asika sagt das. Sie liegen im Bett, also sagt sie, ich müsse auch im Bett liegen. Sie essen nicht, also muß ich auch hungern; es scheint Ihnen besser zu gehen, also stopft sie mich voll, bis ich platze. Alles nur, weil Sie ihr ge sagt haben, Sie und ich werden am selben Tag ster ben. Oh, Gott! Der arme Jeekie glaubte schon, sein Ende sei nahe, denn er weiß sehr gut, sie läßt ihn nicht zehn Minuten länger atmen, wenn Sie abkrat zen. Jeekie hat noch nie so inbrünstig für irgend je manden gebetet, wie er diese Woche für Sie gebetet hat, und, bei den Göttern, Jeekie hat es geschafft, er und das Medizinzeug, das Jeekie sehr schwer im Ma gen liegt.« Und er stöhnt unter dem Gesicht seiner vielen Leiden. So schwach Alan sich auch fühlen mochte, mußte er doch lachen, und dieses Lachen schien ihm mehr zu helfen als alles andere, und danach war er sicher, daß er wieder auf die Beine kommen würde. Doch gerade in diesem Moment hörte er Jeekie ängstlich flüstern: »Aufpassen! Die Asika kommt. Sie schlafen und sehen besser aus. Bitte, Major, sonst muß ich's ausbaden.«
Also schloß Alan die Augen bis auf einen schmalen Spalt und lag reglos. Kurz darauf beugte sich die Asi ka über ihn, und er sah, daß ihr Haar zerzaust war, und ihre Augen gerötet waren, wie vom Weinen. Sie blickte ihn eine Weile prüfend an, trat dann zu dem Bett, auf dem Jeekie lag und kniff ihn so hart ins Ohr, daß er mit den Beinen strampelte und ein unter drücktes Stöhnen von sich gab. »Wie geht es deinem Herrn, du Hund?« flüsterte sie. »Besser, o Asika. Ich glaube, die letzte Medizin hat uns gut getan, obwohl sie mich innerlich krank macht. Gerade eben hat er mit mir gesprochen und gesagt, er hoffe, daß dein Herz seinetwegen nicht schwer sei und daß er während der ganzen Zeit in seinen Träumen niemand anderes gesehen habe als dich, und an niemand anderes gedacht, o Asika.« »Wirklich?« fragte sie interessiert. »Dann verrate mir, du Hund, warum er immer nach jemandem na mens Bar-ba-ra ruft. Das ist doch bestimmt ein Frau enname.« »Ja, o Asika, es ist der Name seiner Mutter, und auch der von einer seiner Schwestern, die er, nach dir, mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt liebt. Wenn du hier bist, spricht er von ihnen, doch wenn du nicht hier bist, spricht er von niemand anderem als von dir. Obwohl er so krank ist, erinnert er sich an die Sitte der Weißen, die ihm verbietet, einer Lady schöne Worte ins Gesicht zu sagen, bevor er mit ihr verheiratet ist. Danach tun sie es ständig.« Sie sah ihn mißtrauisch an und murmelte dann: »Hier ist es genau umgekehrt. Um deinetwillen, Mann, hoffe ich, daß du nicht lügst.« Damit verließ
sie ihn, zog einen Hocker neben Alans Bett, setzte sich und untersuchte ihn sorgfältig, indem sie sein Gesicht und seine Hände mit ihren langen, dünnen Fingern abtastete. Dann, als sie sah, wie bleich er war, begann sie plötzlich zu weinen und sagte zwischen ihrem Schluchzen: »Oh! Wenn du sterben solltest, Vernun, will auch ich sterben und wiedergeboren werden, doch nicht als Asika, wie seit vielen Genera tionen, sondern als weiße Frau, damit ich bei dir sein kann. Vorher jedoch«, setzte sie hinzu und preßte die Lippen aufeinander, »werde ich jeden Zauberer in diesem Land opfern, denn sie haben durch ihre Hexe rei die Krankheit über dich gebracht, und ich werde Bonsa-Stadt niederbrennen und ihre Götter in den Flammen verglühen lassen, und den Mungana mit ihnen. Und dann, inmitten ihrer Asche, werde ich mein Leben beenden.« Und wieder begann sie er bärmlich zu schluchzen, nannte ihn bei Kosenamen und flehte ihn an, nicht zu sterben. Nun hielt Alan es für an der Zeit, aufzuwachen. Er öffnete die Augen, starrte sie mit leerem Blick an und fragte, ob es regne, wie es tatsächlich den Anschein hatte, denn ihre Tränen tropften schwer auf sein Ge sicht. Sie stieß einen Freudenschrei aus. »Nein, nein«, antwortete sie, »das Wetter ist schön. Ich bin es, die geregnet hat, weil ich glaubte, du stür best.« Sie fuhr mit dem weichen Leinen ihres Gewan des über seine Stirn und sagte: »Doch du wirst nicht sterben; sag mir, daß du für mich leben wirst, Ver nun.« Er blickte sie an, und trotz seiner Schwäche stieg die Erkenntnis seiner entsetzlichen Lage in seine See le.
»Ich hoffe, daß ich am Leben bleibe«, antwortete er. »Ich bin hungrig, bitte besorge mir etwas zu essen.« Im nächsten Moment brach ein Tumult los, und als Alan aufblickte, sah er Jeekie, nur sehr leicht beklei det, von seinem teilnahmsvollen Krankenlager sprin gen und aus der Tür stürmen. »Es wird sofort gebracht«, sagte die Asika. »Oh! Wenn du wüßtest, wie ich gelitten habe; wenn du es nur wüßtest. Jetzt wirst du, den ich sterbend wähnte, wieder gesund werden, denn dieses Fieber geht rasch vorbei, und es soll eine gewaltige Opferung geben – nein, ich vergaß, daß du Opferungen verabscheust – es wird also keine Opferungen geben, sondern eine Danksagung, und jede Frau im ganzen Land soll ihrer Bande zu Ehemann oder Liebhaber ledig sein und sich jenen nehmen dürfen, den sie begehrt, ohne Vorwurf oder Strafe zu erleiden. Ich werde tun, was man mir tut, das ist doch das Gesetz, das du mich lehrtest, nicht wahr?« Diese völlig neue Auslegung einer heiligen Dok trin, die Jeekies würdig gewesen wäre, lähmte Alans geschwächtes Gehirn derart, daß er weder eine Ant wort fähig war, noch irgend etwas tun konnte, außer sich zu fragen, was im Asiki-Land geschehen mochte, wenn dieses Dekret der Asika wirksam würde. Dann erschien Jeekie mit einem Getränk, das er mit der Gier eines Rekonvaleszenten in einem Zug austrank, und unmittelbar darauf schlief er wieder fest. Alans Genesung machte rasche Fortschritte, denn, wie es die Asika ihm gesagt hatte, war das Fieber, an dem er erkrankt war, nicht von langer Dauer, wenn ein Patient die Krise überlebte. Als sie ihn fragte, ob
er irgend etwas benötige, um wieder gesund zu wer den, antwortete er: »Ja, Luft und Bewegung.« Sie antwortete ihm, daß er beides haben solle, und am nächsten Morgen mußte er die verhaßte Maske vor das Gesicht binden, und er wurde von mehreren Priestern zu einer Tür geführt, wo eine Sänfte, oder vielmehr zwei Sänften bereitstanden, eine für ihn und eine für Jeekie, der, obwohl bei bester Gesundheit, of fiziell noch immer als krank galt und deshalb nicht auf eigenen Beinen gehen durfte. Sie stiegen in diese Sänften und wurden fortgetragen, bis sie kurz darauf einer dritten Sänfte begegneten, die besonders kost bar ausgestattet war und von maskierten Männern getragen wurde, und in der die Asika saß, mit der Krone auf dem Kopf und in ein herrliches Gewand gekleidet. In diese Sänfte, die für zwei Benutzer eingerichtet war, mußte Alan nun umsteigen, während der Mun gana, der diesen Platz bis dahin innegehabt hatte, in die von Alan verlassene Sänfte umgeladen wurde, welche, es mochte Zufall sein oder nicht, an jenem Tag nicht mehr gesehen ward. Sie zogen den Berghang hinauf zum Rand des mächtigen Katarakts und sahen die Wassermassen herabstürzen, konnten jedoch seinen Scheitelpunkt nicht erreichen. Dann ging es in den dichten Wald, der die Berghänge be deckte, und dort machten sie Rast und aßen. Erst als die Sonne sank, kehrten sie in die düstere Bonsa-Stadt zurück. Für Alan war es trotz seiner Schwäche und aller drückenden Sorgen ein wunderbarer Tag. Die Asika verhielt sich passiv, schien von anderen Stimmungen beherrscht und ließ ihn in Ruhe, außer um ihn gele
gentlich auf einen Baum oder eine Blume oder einen anderen schönen Anblick der sie umgebenden Land schaft aufmerksam zu machen. Hier, auf dem Berghang, war die Luft rein und erfrischend, und was alles andere betraf – nun, er, der dem Tode so nahe gewesen war, konnte für ein paar Stunden jenem dü steren Heim des Blutvergießens und Aberglaubens entrinnen und Gottes Himmel wiedersehen. Dieser Ausflug war der erste von vielen. An jedem Morgen warteten die Sänften und trugen sie an ir gendeinen anderen Ort, doch führte ihr Weg sie nie mals in die Stadt. Und selbst wenn sie durch eines der weit außerhalb davon gelegenen Dörfer zogen, wur de ihren Einwohnern vorher befohlen, sie zu räumen, denn sie sahen keinen Menschen dort. Die Felder la gen verlassen, und die Rinder und Schafe schrien hungrig in ihren Kraals. An einigen Tagen wurden sie, auf Alans Ersuchen, zu den Stellen gebracht, an denen das Gold in einem ausgetrockneten Bachbett gefunden wurde, das während der Regenzeit jedoch ein reißendes Wildwasser war. Er verließ die Sänfte und grub, von der Asika und Jeekie unterstützt, ein wenig in dem Kies. Und nicht vergebens, denn er fand darin mehrere Nuggets. Und weiter aufwärts, wohin sie später gingen, befand sich ein großes, vom Wasser freigespültes Quarzriff, das in vergangenen Zeiten zweifellos ausgebeutet wor den war, jedoch noch immer so viel Gold enthielt, daß eine beträchtliche Menge an seiner Oberfläche frei lag. Während Alan es ansah, dachte er an seine Zeit in London zurück und an die hunderttausend Pfund an Kapital, mit denen man dieses einmalige Unternehmen hätte gründen können. Danach wurden
sie zu den Stellen getragen, an denen die Juwelen ge funden wurden, die dort in den Lehmboden steckten wie Pflaumen in einem Pudding, obwohl jetzt nie mand mehr nach ihnen suchte. Doch alle diese Dinge interessierten die Asika überhaupt nicht. »Wozu ist Gold nütze«, fragte sie Alan, »außer, um irgendwelche Dinge daraus zu machen, oder die glit zernden Steine, außer, um damit zu spielen? Wozu ist überhaupt irgend etwas nütze, außer Nahrung zum Essen, und Macht und Weisheit, welche die geheimen Türen des Wissens der sichtbaren und der unsichtba ren Dinge öffnet und der Liebe, die dem Liebenden Glück und Selbstvergessenheit schenkt und die schreckliche Einsamkeit der Seele vertreibt, und sei es auch nur für eine kurze Weile?« Da Alan nicht in eine Diskussion über das Thema Liebe verstrickt werden wollte, bat er die Priesterin, ihm ihre ›Seele‹ zu erklären, woher sie käme und wo hin sie nach ihrem Glauben gehen würde. »Meine Seele bin ich, Vernun«, antwortete sie, »und meine Seele ist schon sehr, sehr alt. Also hat sie für Tausende von Jahren über dieses Volk ge herrscht.« »Wie ist das möglich«, fragte er, »angesichts der Tatsache, daß die Asika stirbt?« »O nein, Vernun, sie stirbt nicht; sie verändert sich lediglich. Der alte Körper stirbt, und die Seele tritt in einen anderen Körper ein, der auf sie wartet. So war ich bis zu meinem vierzehnten Jahr ein ganz ge wöhnliches Mädchens, die Tochter des Ältesten jenes Dorfes dort drüben, so jedenfalls wurde es mir ge sagt, denn an diese Zeit habe ich keinerlei Erinne rung. Dann starb die Asika, und da ich die geheimen
Male und die Schönheit aufwies, die immer ihr Eigen sind, verbrannten die Priester ihren Körper im Ange sicht des Großen Bonsa und erstickten mich, das Kind, im Rauch dieses Feuers. Doch ich erwachte wieder, und als ich erwachte, war die Vergangenheit des Kindes ausgelöscht und die Seele der Asika hatte von dem jungen Körper Besitz ergriffen, mit all ihren schrecklichen Erinnerungen, ihrer angesammelten Weisheit, ihrer Leidenschaft für Liebe und Haß und ihrer Macht, in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken zu können.« »Tust du das manchmal?« fragte Alan. »Zurückschauen, ja; voraus, sehr wenig, seit deiner Ankunft gar nicht mehr, weil mein Herz ein Feigling ist und ich fürchte, was ich dort sehen mag. Oh! Ver nun, Vernun, ich kenne dich und deine Gedanken. Du hältst mich für ein schönes Tier, das wie ein Tier liebt, das dich liebt, weil du weiß bist und anders als die Männer hier. Nun, was an Tierischem in mir ist, haben die Götter meines Volkes mir gegeben, denn sie sind Teufel, und ich bin ihre Dienerin. Doch ist noch mehr als das in mir: das Gute, das ich mir selbst errungen habe. Ich wußte, daß du kommen würdest, noch bevor ich dein Gesicht erblickte. Ich wußte, daß du kommen würdest«, fuhr sie leidenschaftlich fort, »und das ist der Grund dafür, weshalb ich dir bereits gehörte. Doch was nach deiner Ankunft geschehen mochte, wußte ich nicht und weiß ich nicht, weil ich es nicht wissen will, die ich alles erfahren kann.« Er blickte sie an, und sie sah den Zweifel in seinen Augen. »Du glaubst mir nicht, Vernun? Nun gut, heute abend wirst du es sehen, du und dein schwarzer
Hund, damit du weißt, daß ich dich nicht mit einem Trick täusche, und er mir sagen kann, was du siehst, denn da er nur ein Niedriggeborener ist, wird er die Wahrheit sagen, ohne Rücksicht darauf, ob er mir weh tut, während du freundlich bist und mich scho nen magst, und ich selbst mit einem Eid, der nicht gebrochen werden darf, geschworen habe, nicht nach unserer Zukunft zu forschen.« »Was ist mit der Vergangenheit?« fragte Alan. »Darauf wollen wir keine Zeit verschwenden, da ich alles darüber weiß. Vernun, hast du keine Erinne rungen an das Asiki-Land? Glaubst du, daß du es nie zuvor besucht hast?« »Nie«, sagte Alan; »es war mein Onkel, der herkam und mit der kleinen Bonsa vor dem Gesicht davon lief.« »Das ist wahrlich eine Neuigkeit«, antwortete sie spöttisch. »Hast du etwa angenommen, ich hätte ge glaubt, daß du es gewesen bist? Wenngleich ich zu geben muß, daß jene, die vor mir war, oder mein Geist, der in ihr lebte, für eine Stunde darauf herein fiel und glaubte, dein Narr von Onkel sei der Mann. Als sie ihren Irrtum einsah, ließ sie ihn frei und befahl dem Gott, mit ihm zu gehen, damit er ihr den vom Schicksal vorbestimmten Mann bringen würde, wie er es auch getan hat; ja, diese Kleine Bonsa, die ihn von altersher kannte, war imstande, ihn unter Millio nen Männern herauszufinden, seien sie geboren oder ungeboren, und ihn zu mir zu bringen. Deshalb hat sie auch einen jungen, schwarzen Hund ausgewählt, der noch viele Jahre leben würde, und dem Gott be fohlen, ihn mit sich zu nehmen, und ihm vom Reich tum unseres Volkes erzählt, damit er als Köder auf
dem Haken diene. Begreifst du jetzt, Vernun, daß der gelbe Staub der Köder ist, und ich – ich der Haken bin? Nun, gespürt hast du ihn schon früher, also sollte er dich nicht allzusehr stören.« Jetzt überfiel Alan eine größere Furcht als je zuvor seit jenem Tage, da er seinen Fuß auf den Boden des Asiki-Lands gesetzt hatte, denn plötzlich war diese Frau ihm zutiefst unheimlich. Er spürte, daß sie um Dinge wußte, die ihm verborgen waren. Zum ersten Mal glaubte er an sie, glaubte er, daß sie mehr war, als nur eine leidenschaftliche Wilde, die der Zufall als Herrscherin über einen blutrünstigen Stamm gesetzt hatte, daß sie wirklich jemand war, die an seinem Schicksal Anteil hatte. »Den Haken gespürt?« murmelte er. »Ich verstehe nicht.« »Du bist sehr vergeßlich«, antwortete sie. »Vernun, wir haben beide schon früher gelebt und uns geliebt, waren von Anbeginn an Zwillingsseelen. Jener Mann, der, wie ich dir einmal sagte, an dem großen Fluß lebte, der Nil genannt wird – hast du keine Erinne rungen an ihn? Nun gut, lassen wir das! Ich werde dir später davon erzählen. So, jetzt sind wir wieder beim Goldhause; heute abend, wenn ich dazu bereit bin, werde ich nach dir schicken, und dies verspreche ich dir: du wirst mich weiser verlassen, als du gekommen bist.« Als Alan und Jeekie wieder allein in ihrem Raum waren, berichtete Alan seinem Diener von der ihm bevorstehenden Unterhaltung mit einer Kristallkugel, oder was immer sonst sie zum Wahrsagen benutzen mochte, und die Rolle, die Jeekie dabei spielen sollte. »Bitte, sagen Sie das noch einmal, Major«, bat Jeekie.
Alan wiederholte es in allen Einzelheiten, an die er sich erinnern konnte. »Oh!« sagte Jeekie. »Ich verstehe. Die Asika uns zeigt Dinge, weil sie Angst hat, sie selbst zu sehen, oder wegen dem Eid, oder sowas. Sie fragt nicht Sie, was sie sehen, weil Sie zu nett sind und ihr nicht weh tun wollen, wenn es etwas Schlimmes ist. Aber Jeekie sagt es ihr, weil Jeekie so ehrlich und es ihm egal ist, ob es ihr weh tut oder nicht. Das ist in Ordnung, Jee kie wird alles sagen. Nur, Major, dürfen Sie mich nicht unterbrechen. Es ist sehr gut möglich, daß man bei diesen magischen Dingen Verschiedenes sieht. Ich sehe das, Sie sehen etwas anderes. Also sagen Sie nicht, Jeekie, das ist gelogen, und blamieren mich vor der Asika, nur weil Sie etwas anderes sehen, weil Sie mich damit in ein Dreckloch stoßen und ich es dann ausbaden muß! Versprechen Sie mir das, Major?« »Ja, gut, ich verspreche es. Aber glaubst du wirk lich, daß wir etwas sehen werden, Jeekie?« »Kann ich nicht sagen, Major.« Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist alles nur Schwindel. Aber es gibt viele seltsame Dinge auf der Welt, Major, besonders bei den afrikanischen Wilden, die sehr neugierig und immer bereit sind, Blut an böse Geist zu bezahlen. Ich hoffe, die Asika denkt nicht daran, weil niemand weiß, was passiert. Vielleicht sehen wir zu viel und kriegen furchtbare Angst, aber vielleicht ist alles nur Blödsinn.« »Das ist es: Blödsinn«, antwortete Alan, der nicht abergläubisch war. »Nun, ich denke, daß wir die Sa che über uns ergehen lassen müssen. Aber wirklich, Jeekie, ich wünschte, du könntest mir sagen, wie ich hier hinauskomme.«
»Weiß ich nicht, Major, vielleicht werden wir nie mals rauskommen; vielleicht erfahren wir es heute nacht. Wir müssen bald etwas tun, wenn wir fort kommen wollen. Munganas Zeit ist schon fast um, und dann – o weh, o weh!« Es war Nacht geworden, etwa zehn Uhr bereits, die Zeit, um die Alan gewöhnlich zu Bett ging. Keine Nachricht war gekommen, und er begann zu hoffen, daß die Asika das Vorhaben vergessen oder es sich anders überlegt habe, und wollte es gerade Jeekie mitteilen, als ein Licht hinter ihm seine Aufmerksam keit auf sich zog, und als er sich umwandte, sah er sie in einer Ecke des Raums stehen, eine Lampe in der Hand, und zu ihm herüberblicken. Ihre goldene Brustplatte und die Krone und allen anderen Schmuck hatte sie abgelegt; sie war in ein schlichtes, weißes Gewand gekleidet, das mit einer Kapuze ver sehen war, die zurückgeschlagen auf ihren Schultern lag. Über dem Arm trug sie außerdem einen dünnen Schal oder Schleier. Als sie so dastand, ohne jeden Schmuck, das lange Haar zu einem schlichten Knoten aufgesteckt, sah sie außergewöhnlich schön aus, schöner als je zuvor, fand Alan, denn die Grausam keit war aus ihrem Gesicht verschwunden, und eine Aura des Geheimnisvollen umgab sie. Sie schien kei ne natürliche Frau zu sein, und das war vielleicht der Grund dafür, daß Alan sich zum ersten Mal von ihr angezogen fühlte. Bis dahin hatte sie ihn immer abge stoßen, doch in dieser Nacht war es anders. »Wie bist du hereingekommen?« fragte er sanfter, als er normalerweise mit ihr sprach. Sie bemerkte den veränderten Tonfall und lächelte scheu.
»Dieses Haus birgt viele Geheimnisse, Vernun«, sagte sie. »Wenn du sein Herr sein wirst, sollst du sie alle erfahren, doch vorher darf ich sie dir nicht ent hüllen. Aber komm jetzt, es gibt noch weitere Ge heimnisse, die du, wie ich hoffe, heute nacht sehen wirst, und du, Jeekie, komm auch mit, denn du sollst der Mund deines Herrn sein, damit du mir sagen kannst, was er vielleicht verschweigen will!« »Ich werde dir alles sagen, o Asika, alles«, antwor tete Jeekie, streckte seine Hände aus und verneigte sich fast bis zum Boden. Sie verließen den Raum, und nachdem sie viele, lange Korridore passiert hatten, wie schon einmal – obwohl Alan nicht sagen konnte, ob es dieselben wa ren –, gelangten sie zu einer Tür, die er wiederer kannte: es war die Tür des Schatzhauses. Als sie sich der Tür näherten, wurde sie aufgestoßen, und wie von Hunden gehetzt kam der schmuckbeladene Mungana, der Ehemann der Asika herausgestürzt, Entsetzen oder Irrsinn glühten in seinen Augen. Als er seine Frau erblickte, warf er sich vor ihr auf die Knie, klammerte sich an den Saum ihres Gewandes und bat sie mit flehender Stimme um etwas, wobei er so schnell sprach, daß Alan seinen Worten nicht fol gen konnte. Einen Moment hörte sie ihm zu, dann riß sie ihm das Gewand aus den Händen und trat mit dem Fuß nach ihm. Es lag eine solche Grausamkeit in dieser Geste, so viel tödlicher Haß und Ekel, daß Alan ein tiefes Gefühl der Abscheu gegenüber der Asika emp fand. Was für eine Art Frau mußte sie sein, fragte er sich, die einen abgelegten Liebhaber in Gegenwart seines Nachfolgers auf diese Art demütigen konnte?
Mit einem stöhnenden Schluchzen erhob sich der bedauernswerte Mann und bemerkte Alan, dessen Gesicht er jetzt zum erstenmal sah, da die Asika ihm gestattet hatte, sich nicht zu maskieren, weil sie nicht erwartet hatten, jemandem zu begegnen. Sein An blick schien ihn mit wütender Eifersucht zu erfüllen; er sprang seinen Rivalen an, um ihn an der Kehle zu packen. Alan, der ihn beobachtet hatte, wich zur Seite aus, so daß der Mungana heftig gegen die Wand des Korridors prallte und halb betäubt ins Dunkel tor kelte. »Dieses Schwein!« zischte die Asika, »dieses drek kige Schwein, das es wagt, mich zu berühren und nach dir zu schlagen. Nun, seine Zeit ist bald ge kommen – ich wollte, ich könnte sie noch mehr ab kürzen! Hast du gehört, was er von mir wollte?« Alan, der keine vertraulichen Dinge hören wollte, antwortete mit der Frage, was der Mungana im Schatzhaus getan habe, worauf sie antwortete, daß die Geister, welche dort wohnten, seine Seele auf äßen, und wenn sie sie ganz verschlungen hätten, würde er den Verstand verlieren und sich umbrin gen. »Geschieht das mit allen Munganas?« fragte Alan. »Ja, Vernun, wenn die Asika sie haßt, doch wenn sie sie liebt, ist es anders. Komm, laß uns diesen Schurken vergessen, der dich hat töten wollen, wenn er es gekonnt hätte.« Damit ging sie ihnen voran in die Halle und schritt zwischen den Goldhaufen hin durch. Auf dem Tisch, worauf die Juwelenketten lagen, setzte sie ihre Lampe ab, deren flackerndes Licht, das einzige in diesem großen Raum, auf die Maske der
Kleinen Bonsa fiel, die offenbar zu zeremoniellen Zwecken hierher gebracht worden war, und kaum bis zu den grauenhaften goldenen Masken und Folien wickeln der uralten Toten reichte, die zu Hunderten herumstanden, neben- und übereinander, jeder in seiner ihm zugewiesenen Nische. Es war eine un heimliche Szene, und eine, die Jeekie sehr deprimier te, denn er murmelte Alan zu: »O je! Major, ein Fami liengrab ist ein Kindergarten gegen dieses Loch; ist wie ...« Hier kam sein Vergleich zu einem Ende, da die Asika ihm das Wort mit einem einzigen Blick ab schnitt. »Setz dich vor mich!« sagte sie zu Alan. »Und du, Jeekie, setzt dich an die Seite deines Herrn und bist still, bis ich dir befehle, zu sprechen!« Dann hockte sie sich hinter sie, warf dabei den Schal oder Schleier, den sie trug, über den Kopf und löschte auf eine Weise, die sie nicht erkennen konn ten, ihre Lampe. Sie hockten in tiefer Dunkelheit, der Dunkelheit des Todes, und in absoluter Stille, der Stille der Toten. Kein Lichtschimmer, und doch schien es Alan, als ob er das Blitzen der Kristallaugen der Kleinen Bonsa spüren könnte, und die Blicke all der anderen Augen, die in die Masken dieser vielen Toten eingelassen wa ren, welche einstmals Ehemänner dieser blutbesu delten Priesterin, der Asiki gewesen waren, bis sie, einer nach dem anderen, wenn sie ihrer überdrüssig wurde, zu Irrsinn und Tod behext wurden. In dieser absoluten Stille glaubte er zu hören, wie sie sich in ih ren goldenen Umhüllungen bewegten, oder aber es mochte sein, daß die Asika aufgestanden und zwi schen sie getreten war. Weit entfernt fiel etwas zu
Boden, ein sehr leichtes Objekt, wie ein Gesteins splitter oder eine Goldschuppe. Doch das Geräusch traf seine Nerven wie ein Donnerschlag, und die Jee kies ebenfalls, denn er fühlte ihn neben sich zusam menfahren und hörte sein entsetztes Keuchen. Was hatte die Frau an diesem entsetzlichen Orte vor? fragte er sich. Nun, das zu erraten war nicht schwer. Zweifellos hatte sie sie hergebracht, um sie zu beeindrucken und einzuschüchtern. Gleich würde eine Stimme, die eines irgendwo verborgenen Prie sters, sie ansprechen, die sie für eine Botschaft aus der Geisterwelt halten sollten, oder vielleicht würde man das Erscheinen eines Geistes arrangieren – was konnte leichter sein bei ihrer nervösen Stimmung und in dieser Umgebung? Dann hörten sie die Asika hinter sich mit ge dämpfter Stimme sprechen. Dem Tonfall nach zu schließen, schien sie zu argumentieren oder um etwas zu bitten – in einer fremden Sprache. Jedenfalls konnte Alan nicht ein Wort dessen verstehen, was sie sagte. Das Argument, oder Gebet, dauerte eine ganze Weile, mit längeren Pausen, wie für Antworten. Dann, plötzlich, verstummte ihre Stimme, und sie wurden wieder in eine unergründlich tiefe Stille ver senkt.
16
Was die Asika Alan zeigte
Alan hatte das Gefühl, einzuschlafen und zu träu men. Er träumte, daß es Spätherbst in England sei. Das Laub wurde von dem Atem eines starken, feuchten Windes von den Ästen gelöst und segelte zu Boden, oder es glitt oder trieb die Straße entlang, bis es schließlich in einem Graben verschwand oder durch einen Haufen von Steinen aufgehalten wurde, die für die Reparatur der Straße bereitgelegt waren. Die Straße war ihm wohlvertraut; er erkannte die große Ulme, unter der er auf der Kuppe eines Hügels stand. Es war die Straße, die von Mr. ChampersHaswell prächtigem Haus, ›The Court‹, zur Kirche führte; er konnte beide sehen, das Haus zur Rechten, die Kirche zur Linken, und seine Sehkraft schien sich verstärkt zu haben, da er sogar erkennen konnte, daß an beiden Orten geschäftige Tätigkeit herrschte, wie in Vorbereitung irgendeiner Zeremonie. Die breiten Torflügel von ›The Court‹ wurden geöff net, und ein Leichenzug kam hervor. Er näherte sich mit unnatürlicher Geschwindigkeit, als ob er durch die Luft schwebte, seine ganze, melancholische Prozessi on. Innerhalb weniger Sekunden war er gekommen und gegangen, und dennoch durchlitt Alan in diesen Sekunden eine entsetzliche Agonie, denn in seinen Ge danken formte sich die schreckliche Vorstellung, daß es Barbaras Begräbnis war. Er hätte sie keinen Moment länger ertragen können; er hätte am liebsten aufge schrien, wäre am liebsten selbst gestorben. Nun fuhren
die Trauergäste an ihm vorüber, die dem Sarg folgten. In der ersten Kalesche sah er Barbara sitzen, die trau rig und bedrückt aussah, sonst aber gesund schien. In einem anderen Wagen saß Sir Robert Aylward, der mit kaltem, unbewegtem Gesicht vor sich hin starrte. In seinem Traum überlegte Alan, daß er diese Kale sche ausgeliehen haben mußte, da er gewöhnlich sein Automobil benutzte, und weil die Türpaneele und das silberbeschlagene Zaumzeug die Krone eines Peers zeigten. Der Leichenzug war vorübergezogen und ver schwand durch das Tor des Kirchhofs, und Alan fragte sich, warum sein Cousin Haswell nicht an Bar baras Seite saß. Dann fiel ihm ein, daß er vielleicht verhindert war; weil vielleicht er es war, der im Sarg lag, und in diesem Moment seines Traums hörte er die Asika Jeekie fragen, was er sähe; und er hörte auch Jeekies Antwort darauf: »Ein Begräbnis in einem Land, das England heißt.« »Wessen Begräbnis, Jeekie?« Und dann, nach langem Zögern kam die Antwort: »Einer Lady, die meinen Herrn sehr liebt. Sie begra ben sie.« »Wie war ihr Name, Jeekie?« »Ihr Name war Barbara.« »Bar-ba-ra – aber du hast mir doch gesagt, das sie der Name seiner Mutter und seiner Schwester sei. Welche von den beiden wird begraben?« »Keine der beiden, o Asika. Es war eine andere La dy, die ihn sehr liebte und ihn heiraten wollte, und das war der Grund dafür, daß er nach Afrika wegge laufen ist. Doch jetzt ist sie tot und begraben – in dem Bilde.«
»Werden alle Frauen in England Bar-ba-ra genannt, Jeekie?« »Ja, o Asika, Barbara bedeutet dort ›Frau‹.« »Wenn dein Herr diese Bar-ba-ra liebte, warum ist er dann vor ihr fortgelaufen? Doch das ist ja egal, da sie jetzt tot und begraben ist, denn was immer ihr Geist fühlen mag, kein Mann liebt eine Frau, die tot ist, bis sie sich wieder mit einem Körper umkleidet. Das war eine gute Vision, für die ich dich belohnen werde.« »Ich habe keine Belohnung verdient, o Asika«, antwortete Jeekie bescheiden, »da ich dir lediglich sa ge, was ich sehe, wie es meine Pflicht ist. Dennoch, o Asika«, fügte er mit etwas ängstlicher Stimme hinzu, »warum liest du diese magischen Zeichen nicht selbst?« »Weil ich es nicht wage, oder vielmehr, weil ich es nicht kann«, antwortete sie scharf. »Sei still, Sklave, denn jetzt ist die Macht des Gottes in meiner Seele.« Der Traum ging weiter. Ein riesiger Wald tauchte auf, ein Wald, wie sie ihn durchquert hatten, bevor sie auf die Kannibalen gestoßen waren, und unter ei nem seiner Bäume stand ein Zelt, und in diesem Zelt lag Barbara, und sie weinte. Jemand zog die Zelt klappe zur Seite. Sie sprang auf, ergriff eine Pistole, die neben ihr lag, und richtete die Mündung auf ihre Brust. Ein Mann trat ins Zelt. Alan sah sein Gesicht; es war das seine. Barbara ließ die Pistole fallen und sank rücklings auf das Bett, als ob eine Kugel der Waffe ihr Herz durchbohrt hätte. Er eilte auf sie zu, doch bevor er sie erreichte, verschwand alles, und er hörte Jeekie der Asika seine Lügen auftischen. Er er zählte ihr, daß die Vision, die er gesehen habe, sie
und seinen Herrn zeigte, wie sie einander in den Ar men haltend in einem Raum des Goldhauses saßen. Ein drittes Mal senkte sich ein Traum wie eine Wolke auf Alan. Ihm war, als ob er jenseits der flam menden Grenzen der Welt getragen würde. Alles um ihn herum war neu und unbekannt, gewaltig, verän derlich, wunderbar, entsetzlich. Er stand allein auf einer perlgrauen Ebene, und der Himmel über ihm wurde von roten Monden erhellt – vielen, vielen Monden, die dort hingen wie Lampen. Geister zogen an ihm vorbei. Er konnte etwas von ihrer Majestät er ahnen, während sie mit unglaublicher Geschwindig keit an ihm vorbeiglitten; er konnte die Melodie ihres Lachens hören. Einer von ihnen erhob sich ihm zur Seite. Es war die Asika, nur tausendmal prächtiger in die Glorie der Hölle gewandet. Majestätisch neigte sie sich ihm zu, ihre glühenden Augen blickten in die seinen, der trunken machende Duft ihres Atems um fächelte sein Gesicht. Sie sprach zu ihm, und ihre Stimme klang wie ferne Glocken. »Durch viele Leben, durch viele Leben«, sagte sie, »bezahlt mit viel Blut, bezahlt mit einer Million Trä nen, habe ich sie endlich errungen, die Seele, die mei ne Seele an dem ewigen Tag trösten soll. Komm zu dem Ort, den ich dir bereitet habe, die Hölle, die der Schritt deines Fußes zum Himmel machen soll! Komm, du, durch den ich erlöst werde, und vertreib jene Götter, die mich quälen, weil ich ihre Dienerin war, damit ich dich gewinnen konnte!« So sprach sie, und obwohl seine Seele revoltierte, schien die furchterregende Kraft, die in ihr war, ihn dorthin zu ziehen, wohin sie ging. Dann leuchtete ein
Licht auf, und das Licht war das Antlitz Barbaras, und mit einer Plötzlichkeit, die fast erschreckend war, fand der bizarre Traum ein Ende. Alan befand sich wieder in seinem Raum, doch wie er dorthin gekommen war, wußte er nicht. »Jeekie«, sagte er, »was ist geschehen? Ich schien im Schatzhaus einen seltsamen Traum gehabt zu ha ben, und glaubte dich der Asika eine Menge un glaublicher Lügen erzählen zu hören.« »Oh! Nein, Major, Jeekie kann nicht lügen, dazu ist er ein zu guter Christ; er sagte ihr, was er sah; oder was er glaubte, sie sehen würde, wenn sie hinsähe. Aber«, setzte er mit einem Anflug von Vertraulichkeit hinzu, »was, zum Teufel, kommt es darauf an, was ich ihr sage, solange sie es schluckt und den Mund hält? Häßliche Dinge machen Frauen wie Asika im mer sehr fuchtig. Gib ihnen also Bonbons zu lutschen, und wenn hinterher der Magen verdorben ist, ist das nicht seine Schuld. Sie wollten Bonbons.« »So ist es, Jeekie, so ist es, nur würde ich dir raten, die Asika nicht zu oft anzulügen, damit sie dir nicht auf die Schliche kommt. Wie bin ich hierher zurück gekommen?« »Wie ein Mann, der im Schlaf spazieren geht, Ma jor. Sie ging voraus; und Sie folgten ihr wie ein Lamm.« »Jeekie, hast du wirklich irgend etwas gesehen?« »Nein, Major, eigentlich nicht, außer den Geist von Mrs. Jeekie und von Ihrem Onkel Reverend, und bei de waren sehr wütend. Magie ist doch Quatsch, Ma jor. Asika tut irgendwas in Ihr Essen, das Sie betrun ken macht, damit Sie glauben, sie sei weise. Am be
sten, nicht mehr daran denken, Major, sonst dreht man leicht durch. Wenn Jeekie nichts sieht, können Sie ruhig glauben, daß es nichts zu sehen gibt.« »Dem mag so sein, Jeekie, aber ich wünschte, ich wäre sicher, daß du nichts gesehen hast. Höre! Wir müssen weg von hier, oder ich drehe wirklich durch, wie du es nennst. Dieses Haus ist unheilig, Jeekie, unheilig, und ich glaube, daß die Asika ein Teufel ist und keine Frau.« »Das ist genau das, was die Priester auch sagen, Major, ein sehr alter Teufel – ein Teil von Bonsa«, antwortete er und blickte seinen Herrn besorgt an. »Aber keine Angst, Jeekie fürchtet sich nicht vor Teu feln! Jeekie bringt Sie rechtzeitig hier raus. Gehen Sie zu Bett und überlassen Sie alles Jeekie.« Zwei weitere Wochen vergingen, und es war der Tag vor der Vollmondnacht, in der es Alan bestimmt war, der Ehemann der Asika zu werden. Sie hatte ihn an diesem Vormittag rufen lassen und empfing ihn strahlend vor Glück. Ob sie nun Jeekies Interpretatio nen der von ihr hervorgerufenen Visionen glaubte oder nicht, es schien, als ob ihr Gemüt frei von Äng sten oder Zweifeln sei. Sie war sicher, daß Alan ihr Ehemann werden würde und hatte das ganze Volk der Asiki herbeigerufen, um der Zeremonie ihrer Heirat beizuwohnen – und nebenbei auch dem Tod des Mungana, der bei dieser Gelegenheit gezwungen werden würde, sich zu töten. Bevor sie sich trennten, sagte sie liebevoll zu Alan: »Vernun, ich weiß, daß du mich nicht so liebst, wie ich dich liebe, doch die Liebe wird kommen, da ich mich um deinetwillen ändern will. Ich werde sanft
mütig werden; ich werde kein Blut mehr vergießen; das des Mungana soll das letzte sein, und selbst ihn würde ich verschonen, wenn mir das möglich wäre, doch solange er lebt, kann ich dich nicht heiraten; es ist das einzige Gesetz, das mächtiger ist als ich, und wenn ich es bräche, würden du und ich auf der Stelle getötet werden. Du sollst mich sogar deinen Glauben lehren, wenn du es willst, denn was für dich gut ist, wird von nun an auch für mich gut sein. Verlange von mir, was du willst, und ich werde es tun, wenn es mir möglich ist, um dir zu beweisen, daß es mir ernst ist.« Alan blickte sie an. Es gab etwas, das er sich mehr wünschte als alles andere: daß sie ihn gehen ließe. Doch darum wagte er sie nicht zu bitten; außerdem würde es völlig sinnlos sein. Denn schließlich: wenn die Liebe der Asika schon schrecklich war, welche Form mochte ihr Haß annehmen? Worum also konnte er sie bitten? Mehr Gold? Er haßte allein den Namen dieses Zeugs, denn es hatte ihn hierhergelockt. Der alte Kannibalen-Häuptling Fahni fiel ihm ein, der, gleich ihm, gefangen war und täglich den Tod er wartete. Erst an diesem Morgen hatte er ihn wieder angefleht, seine Freilassung zu erwirken. »Ich danke dir, Asika«, sagte er. »Wenn deine Worte ehrlich gemeint sind, gib Fahni frei und laß ihn in sein Land zurückkehren, denn wenn er hier bleibt, wird er sterben.« »Das, Vernun, ist doch eine Kleinigkeit«, antwor tete sie lächelnd, »obwohl zu bedenken ist, daß er, wenn er sein Land erreicht, wahrscheinlich Krieg ge gen uns führen wird. Aber soll er doch, soll er doch!« Sie klatschte in die Hände und rief Priester herein,
denen sie befahl, sofort zu Fahni zu gehen und ihn aus Bonsa-Stadt hinauszugeleiten. Außerdem befahl sie ihnen, alle Sklaven, die dem Stamm der Ogula an gehörten, freizulassen, damit sie ihren Häuptling be gleiteten und die für die Reise benötigten Vorräte trügen, sowie Befehl an die Außenposten zu senden, daß Fahni und seine Männer mit einem Kanu ausge stattet würden und man sie unbehelligt außer Landes lassen solle. Als das getan war, begann sie mit Alan über viele Dinge zu reden, auch wenn er ihr kaum antwortete. Es schien, als ob sie Furcht hätte, ihn von ihrer Seite zu lassen, als ob irgendeine Vorahnung seines Verlu stes sie bedrücke. Schließlich, zu Alans großer Erleichterung, kam der Zeitpunkt, wo sie sich trennen mußten, da sie an ei ner geheimen Zeremonie der Vorbereitung oder Rei nigung teilnehmen sollte, die ›Abstreifen-derVergangenheit‹ genannt wurde. Doch obwohl sie be reits dreimal gerufen worden war, wollte sie ihn noch immer nicht gehen lassen. »Sie rufen dich, Asika«, sagte Alan. »Ja, ja, sie rufen mich«, antwortete sie und sprang auf. »Verlaß mich jetzt, Alan, bis wir uns morgen wiedersehen, um uns nie wieder voneinander zu trennen. Oh! Warum liegt mir das Herz so schwer in der Brust? Dein schwarzer Hund hat die Visionen gelesen, die ich hervorrief, jedoch selbst nicht sehen darf, und es waren gute Visionen. Sie zeigten mir, daß die Frau, die dich liebte, tot ist; sie zeigten uns als Liebespaar, und sie zeigten andere, tiefere Dinge. Si cher würde er es nicht wagen, mich zu belügen, da er weiß, daß ich ihm dann bei lebendigem Leibe die
Haut abziehen und ihn den Geiern zum Fraß vorwer fen würde. Warum also liegt mir das Herz so schwer in der Brust? Willst du mir entfliehen, Alan? Nein, du bist nicht so grausam, und es würde dir auch nicht gelingen, es sei denn, durch den Tod. Und wisse, daß du mir selbst im Tode nicht entfliehen kannst, denn ich werde dir in den Tod folgen und dich mir neh men, um den mein Geist seit Äonen gekämpft hat, und was ist stark genug, um dich meiner Hand zu entreißen?« Sie blickte ihn einen Moment lang an, dann brach sie plötzlich in Tränen aus, warf sich vor ihm auf die Knie, ergriff seine Hand und küßte sie immer wieder. »Geh jetzt!« sagte sie. »Geh und laß meine Liebe mit dir gehen, durch Leben und Tode, und durch alle jenseits davon liegenden Träume, und laß meine Lie be mit dir gehen!« Also ging er und ließ sie weinend auf den Knien liegend zurück. Während der dunklen Stunden, die nun folgten, war Alan dem Irrsinn nicht mehr fern. Was konnte er tun? Eine Flucht war absolut unmöglich. Seit Wochen hatten er und Jeekie vergebens einen Weg zu finden versucht. Selbst wenn es ihnen gelänge, aus der Fe stung des Goldhauses zu entkommen, welche Chance hatten sie, unbeschadet durch die engen Gassen der von Menschen überquellenden Stadt zu gelangen, wo, nach der Gewohnheit der Afrikaner, selbst bei Nacht ständig Leute unterwegs waren, von denen je der den weißen Mann sofort erkennen würde, ob er nun maskiert war oder nicht? Und jenseits der Stadt lagen der Fluß und die bewachten Mauern und Tore,
und jenseits davon offenes Land, wo er eingeholt und eingekreist werden würde. Nein, ein Fluchtversuch war reiner Selbstmord. Selbstmord! Das gab ihm eine Idee – warum sollte er sich nicht töten? Es wäre ein leichtes, da er noch immer den Revolver und ein paar Patronen hatte, und sicherlich war es besser, als das Leben, das ihn erwartete, als Spielzeug der Priesterin eines Stammes götzenanbetender Wilder. Doch wenn er sich tötete, was würde dann aus Barbara werden, und aus dem alten Jeekie, der dann ganz gewiß ebenfalls getötet werden würde? Außer dem war es nicht recht, und solange es Leben gibt, gibt es auch Hoffnung. Alan unterbrach sein ruheloses Auf- und Abgehen und blickte Jeekie an, der auf dem Boden saß, den Rücken an den Steinaltar gelehnt, nachdenklich seine dicke Unterlippe herabzog und sie dann wieder zu rückschnellen ließ, wie es oft die Gewohnheit der Neger ist. »Jeekie«, sagte er, »die Zeit ist um. Was soll ich tun?« »Tun, Major?« antwortete er mit gespieltem Opti mismus. »Oh! Das ist sehr einfach. Jeekie hat alles ar rangiert. Sie heiraten Asika und später, wenn Sie hier der Boß sind und sie satt haben, lassen Sie sie sitzen. Sehr interessante Situation; kein weißer Mann hat je mals so ein Glück gehabt. Die Asika ist gar nicht so schlecht, wenn sie liebt; sie ist wie ein kleines Mäd chen. Außerdem können Sie gar nichts anderes tun. Sie werden die Asika heiraten, oder wir werden ab gemurkst, was heißt, daß auch Jeekie abgemurkst wird, und«, setzte er hinzu und schüttelte seinen weißhaarigen Kopf, »das mag Jeekie nicht. Ein oder
zwei kleine Dinge gehen ihm in Kopf herum, über die er noch nicht nachgedacht hat, weil er keine Zeit dazu hatte. Er wagt hier nicht zu beten wie ein guter Christ, weil er Angst hat vor den Bonsas, und die Bonsas werden sich irgendwann rächen, weil er ein Christ ist. Also hängt der arme Jeekie zwischen zwei Hockern. Die Apostel werfen ihn aus dem Himmel, und die Bonsas werfen ihn aus der Hölle. Wohin soll der arme Jeekie denn gehen?« »Das kann ich dir auch nicht sagen«, antwortete Alan und lächelte trotz seiner Bedrückung, »aber ich denke, die Bonsas werden schon irgendeine Ecke für dich finden. Hör mir zu, Jeekie, alter Junge! Es tut mir sehr leid um dich, denn du warst mir ein guter Freund, und wir haben einander gern. Eins aber möchte ich dir klar machen: ich werde diese Frau nicht heiraten, wenn ich es irgendwie verhindern kann. Es geht gegen meine Prinzipien. Also werde ich bis morgen warten und dann einfach hinausgehen. Wenn die Wachen versuchen, mich aufzuhalten, werde ich schießen, bis die Patronen verbraucht sind. Dann werde ich weitergehen, bis sie mich töten.« »Oh! Aber sie werden Sie nicht töten, Major – nie mals; sie werfen Ihnen eine Decke über den Kopf und bringen Sie zurück zu Asika. Jeekie ist es, den sie tö ten werden, ihm lebendig die Haut abziehen und so weiter.« »Das denke ich nicht, Jeekie, weil sie glauben, daß wir am gleichen Tage sterben werden. Doch wenn es geschehen sollte; so kann ich es auch nicht ändern. Morgen früh werde ich fortgehen, und damit ist das Thema abgeschlossen. Ich bin müde und gehe jetzt schlafen.« Damit warf er sich aufs Bett, und da er vor
Erschöpfung und Sorgen am Ende seiner Kräfte war, fiel er sogleich in tiefen Schlaf. Jeekie jedoch schlief nicht, obwohl auch er sich auf seinem Bett ausstreckte. Im Gegenteil, er blieb hell wach und dachte nach, vielleicht gründlicher, als er es je zuvor getan hatte, da er sicher war, daß der Glaube an eine gegenseitige Abhängigkeit von Alans Leben und dem seinen sich inzwischen ziemlich ab genutzt hatte und seine Stunde gekommen war. Er dachte daran, Alans verzweifelten Fluchtversuch durch die einfache Methode zu vereiteln, der Asika eine Warnung zukommen zu lassen, doch war er un geachtet seiner Selbstsucht zu loyal, um diese Idee in seinem Kopf Wurzeln fassen zu lassen. Nein, er konnte nichts dagegen tun; wenn der Major fliehen wollte, so sollte er fliehen; und er, Jeekie, mußte den Preis dafür bezahlen. Nun, es geschah ihm nur recht, weil er so töricht gewesen war, auf die geheimen und drängenden Einflüsterungen der Kleinen Bonsa zu hören und ihn nach Asiki-Land zu führen. So vergingen mehrere Stunden, zumeist mit melan cholischen Vorstellungen über die exakte Art seines Ablebens, bis schließlich auch er von Müdigkeit übermannt wurde, die Augen schloß und zu schlummern begann. Plötzlich spürte er die Anwe senheit eines anderen Menschen im Raum, doch da er annahm, daß es nur die Asika sei, die auf ihre un heimliche Art umherschlich, oder vielleicht ihr Geist – denn wie ihr Körper hereingelangen konnte, ver mochte er sich nicht vorzustellen – rührte er sich nicht, sondern lag schwer atmend still und beobach tete aus den Augenwinkeln heraus. Plötzlich löste sich eine Gestalt aus den Schatten
und trat in den Lichtkreis der einzigen Lampe, die brannte, und obwohl sie völlig in einen dunklen Um hang gehüllt war, wußte Jeekie sofort, daß es nicht die Asika war. Völlig lautlos kam die Gestalt auf ihn zu, wie ein Leopard, der eine Beute beschleicht, beugte sich über ihn und starrte ihn an. Die Bewe gung ließ den Umhang ein wenig aufgleiten, und eine Sekunde lang sah Jeekie das abgezehrte, halb irre Ge sicht des Mungana, und das lange, gekrümmte Mes ser, das in seiner Hand blitzte. Gelähmt vor Angst lag er völlig reglos, da er wußte, daß bei dem geringsten Zeichen des Wachseins dieses Messer sein Herz durchbohren würde. Der Mungana blickte ihn eine Weile an, dann, überzeugt, daß er schliefe, wandte er sich um und schlich, tief gebückt, mit unendlicher Vorsicht auf Alans Bett zu, das zwölf oder vierzehn Fuß entfernt stand. Jeekie glitt zwischen seinen Decken hervor und schlich ihm nach, wobei seine nackten Füße auf dem mit Matten bedeckten Boden nicht das geringste Ge räusch machten. So konzentriert war der Mungana auf die Tat, die durchzuführen er gekommen war, daß er nicht ein einziges Mal zurückblickte und die beiden das Bett dicht hintereinander schleichend er reichten. Alan lag auf dem Rücken, seine Kehle war frei, ein leichtes Opfer. Einen Moment lang starrte der Mun gana ihn an. Dann richtete er sich auf wie eine Schlange, bevor sie zustößt, hob das lange, ge krümmte Messer und zielte auf Alans nackte Brust. Jeekie richtete sich ebenfalls auf, und als das Messer niederfuhr, packte er den Arm, der es hielt, mit der einen Hand, und umklammerte mit der anderen die
Kehle des Mörders. Der Mungana kämpfte wie eine Wildkatze, doch Jeekie war zu kräftig für ihn. Seine Finger umklammerten den Hals des Mannes wie ein Schraubstock. Er keuchte und wurde schwächer; das Messer entglitt seiner Hand. Er sank zu Boden und lag hilflos, woraufhin Jeekie sich auf seine Brust kniete, das Messer aufnahm und seine Spitze einen Zoll über das Herz des Mungana hielt. In diesem Au genblick erwachte Alan und fragte verschlafen, was los sei. »Nichts, Major«, antwortete Jeekie mit leiser, doch fröhlicher Stimme. »Eine Schlange wollte Sie beißen, und ich habe die Schlange erwischt, das alles.« Er drückte die Kehle des Mungana noch fester zu, der wild mit den Augen zu rollen begann. »Sei vorsichtig, Jeekie, sonst tötest du den Mann!« rief Alan, als er den Mungana erkannte und die Si tuation erfaßte. »Warum nicht, Major? Er wollte Sie töten, und si cher mich auch hinterher. Sünder sollst du nicht leben lassen, sagt die Bibel.« »Ich bin mir da nicht so sicher, Jeekie. Laß ihn Luft holen und mich nachdenken. Sag ihm, wenn er nur einen Ton von sich gibt, stirbt er.« Jeekie gehorchte, und die bereits verschatteten Au gen des Mungana wurden wieder hell, als er keu chend Luft in die Lungen sog. »Nun, mein Freund«, sagte Alan auf Asiki, »warum wolltest du mich erstechen?« »Weil ich dich hasse«, antwortete der Mann, »der du mir morgen meinen Platz wegnehmen wirst, und die Frau, die ich liebe.« »So wie du sie vor einem Jahr oder zweien einem
anderen weggenommen hast, wie? Aber nehmen wir einmal an, daß ich weder deinen Platz, noch deine Frau haben will.« »Was kommt es darauf an, selbst wenn es wahr sein sollte, weißer Mann, da sie dich haben will?« »Ich glaube, daß es noch jemanden gibt, den sie ha ben will, wenn sie von dieser Sache hört. Was meinst du, wie du dann morgen sterben wirst? Vielleicht nicht so leicht, wie du es dir erhoffst.« Die Augen des Mungana schienen ihm aus dem Kopf zu quellen, und sein Gesicht verzog sich vor Furcht. Der Speerstoß hatte sein Ziel getroffen. »Angenommen ich würde einen Handel mit dir ab schließen«, fuhr Alan langsam fort. »Angenommen, ich würde dir sagen: ›Mungana, zeig mir, wie ich von hier entkommen kann – was dir möglich ist – und zwar jetzt, sofort. Oder, wenn es dir lieber sein sollte, weigere dich und werde der Asika ausgeliefert!‹ Komm, komm, du bist nicht zu irre, um mich nicht zu verstehen. Antworte – und rasch!« »Würdest du mich danach töten?« fragte er. »Nein. Weshalb sollte ich dich töten wollen? Du kannst mit uns kommen und dann gehen, wohin du willst. Oder du kannst hierbleiben und sterben, wie es die Asika befiehlt.« »Ich kann dir nicht glauben, weißer Mann. Es ist nicht möglich, daß du vor so viel Liebe und Ruhm davonlaufen solltest, oder einen Mann verschonen, der dich töten wollte. Außerdem ist es sehr schwierig, aus der Stadt hinauszukommen.« »Jeekie«, sagte Alan, »dieser Bursche ist doch irre; ich glaube, du solltest lieber zur Tür gehen und nach den Priestern rufen.«
»Nein, nein, Herr!« flehte die armselige Kreatur, »ich werde dir vertrauen; ich will es versuchen, ob wohl du es bist, der irre sein muß.« »Sehr schön. Bewach ihn, Jeekie, während ich mich anziehe, und, ja, gib mir diese Maske! Und falls er sich rühren sollte, töte ihn auf der Stelle!« Alan zog sich an, dann stand er Wache über dem am Boden liegenden Mungana, und Jeekie tat das gleiche, obwohl er über die Aussichten ihrer Flucht den Kopf schüttelte. »Geht nicht«, murmelte er, »geht nicht! Selbst wenn wir an den Priestern vorbeikommen, erwischt uns die Asika mit ihrer Magie. Als ich letztes Mal mit Ihrem Onkel Reverend abhaute, hat die Kleine Bonsa alles geregelt, weil sie verreisen wollte und Sie holen. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß sie Sie diesmal raushaut, und dann leb wohl, Jeekie.« Alan befahl ihm, den Mund zu halten und zurück zubleiben, wenn er nicht mitkommen wolle. »Nein, nein, Major«, antwortete er, »ich komme schon mit. Die Asika ist sehr voreingenommen, und wenn sie Jeekie hier alleine findet – au weh! Besser wir sterben zusammen, wie es geweissagt ist. Ist schöner in Gesellschaft zu sterben, Major. Jetzt ist al les bereit. Marsch!« damit versetzte Jeekie dem un glücklichen Mungana einen furchtbaren Tritt als Auf forderung, und fügte nachdenklich hinzu: »Alles fin det schließlich seinen Ausgleich, Major. Sie erinnern sich, wie Mungana beim Bankett der Kleinen Bonsa Jeekies Kopf schlug? Nun, jetzt trete ich ihm in den Hintern.« Damit verpaßte er ihm noch einen Tritt. So völlig gebrochen war der arme Kerl, daß selbst die se Beleidigung ihn nicht zur Wut anstacheln konnte.
»Folge mir, weißer Mann«, sagte er, »und wenn du weiterleben willst, dann sei still. Zieht eure Umhänge über den Kopf!« Sie verhüllten sich, und mit dem Revolver in der rechten Hand folgte Alan und Jeekie dem Mungana. In der Ecke des großen Raums befand sich eine schmale Treppe. Auf welche Weise sie sich an jener Stelle geöffnet hatte, wo vorher keine Treppe gewe sen war, vermochten sie nicht zu erkennen, nicht einmal zu erraten, denn es war zu dunkel, doch wußten sie jetzt, auf welche Weise er der Asika mög lich gewesen war, sie nachts zu besuchen. Der Mungana stieg als erster die Treppe hinab. Jee kie folgte ihm, hielt ihn mit einer Hand am Arm ge packt und in der anderen sein Messer, bereit, ihn beim ersten Anzeichen von Verrat zu erstechen. Alan ging als letzter und hielt sich an Jeekies Umhang fest. Sie gingen zwölf Stufen hinab, bogen dann nach rechts ab und folgten einem Tunnel, dann nach links, dann wieder nach rechts. In jenen stockdunklen Gän gen überkam sie ein unheimliches Gefühl, da sie nicht wußten, wohin sie geführt wurden, und erwarteten, daß jeder Augenblick ihr letzter sein mochte. Plötz lich traten sie in helles Mondlicht hinaus. Alan blickte umher und wußte, wo sie sich befan den, nämlich an jenem Ort, an dem vor zwei Monaten das Bankett stattgefunden hatte, bei dem die drei Priester vergiftet worden waren und die Bonsas die Menschen für die Opferung ausgesucht hatten. Man hatte bereits Vorbereitungen für das große Fest ge troffen, das tags darauf begangen werden sollte, bei dem der Mungana sich ertränken und Alan mit der Asika verheiratet werden sollte. Dort, auf dem Podi
um standen die goldenen Sessel, auf denen sie sitzen sollten, und grünbelaubte Zweige, untermischt mit seltsamen Flaggen schmückten das riesige, leere Am phitheater jenseits davon. Und dort war der breite Kanal, in dessen Mitte der grauenhafte, goldene Fe tisch, Großer Bonsa, schwamm. Das Mondlicht fiel auf seine starrenden, todbringenden Augen, seine fischartige Schnauze und seine langen, fahlen Zähne. Alan blickte ihn an und erschauerte, denn das Ding war scheußlich und unheimlich, und die absolute Einsamkeit, in der es auf dem Wasser lag und zum Mond emporstarrte, schien das Grauen noch zu ver stärken. Der Mungana bemerkte seine Furcht und flüsterte: »Wir müssen über das Wasser. Wenn du einen Gott hast, weißer Mann, so bete zu ihm, daß er dich vor dem Großen Schwimmenden Kopf bewahrt.« »Weiter!« drängte Alan. »Ich fürchte diesen elen den Fetisch nicht, mich ekelt lediglich sein Anblick an. Aber gibt es keinen Weg um ihn herum?« Der Mungana schüttelte den Kopf und stieg ins Wasser des Kanals. Jeekie, dessen Zähne schnatterten, blieb zögernd zurück, doch Alan stieß ihm so hart in den Rücken, daß er stolperte und mit lautem Plat schen ins Wasser fiel. Dann folgte Alan den beiden, und als das kalte, schwarze Wasser seine Brust er reichte, blickte er wieder den Großen Bonsa an. Es kam ihm vor, als ob der Fetisch sich ein wenig gedreht hätte und ihn anstarrte. Er war fast sicher, daß seine Schnauze vor wenigen Sekunden noch in eine etwas andere Richtung gewiesen hatte. Nein, das mußte eine Sinnestäuschung sein. Er schwamm jetzt, sie alle schwammen. Alan und Jeekie hielten ihre Re
volver über die Köpfe, um sie vor Nässe zu schützen. Der Kopf des Großen Bonsa schien sich aus dem Wasser zu heben, wie es ein Reptil tut, um einen bes seren Blick auf die Vorgänge zu haben, aber zweifel los waren es die kleinen Wellen, die von den drei Schwimmern verursacht wurden, die diesen An schein hervorriefen. Aber warum ließen diese Wellen den Kopf langsam näherkommen, so vorsichtig wie einen neugierigen Fisch? Er war etwa zehn Yards von ihnen entfernt, und sie befanden sich jetzt in der Mitte des Kanals. Den Mungana ließ er unbeachtet; an Jeekie schwamm er vorbei. Dann war er auf gleicher Höhe mit Alans Kopf. Oh, gütiger Himmel! Ein plötzliches Aufschäumen des Wassers, ein Rauschen wie von einem heran schießenden Torpedo, und, zwischen zwei auswärts gekrümmten Wellen, ein Aufblitzen von Gold. Dann ein gurgelndes, unmenschliches Lachen, und ein schweres Gewicht auf seinem Rücken. Alan wurde hinabgedrückt, hinab – hinab!
17
Das Ende des Mungana
Das Mondlicht verschwand. Alan war in der Tiefe allein mit dem Teufel oder was sonst es sein mochte. Er spürte Hände und Füße, die nach ihm griffen, ihn traten, doch schienen sie nicht menschlich zu sein, da es zu viele davon waren. Außerdem waren sie sehr kalt. Er wußte, daß sein Ende gekommen war und dachte an Barbara. Dann blitzte in ihm ein Gedanke auf. In seiner Hand hielt er noch immer den Revolver. Er riß die Mündung hoch und richtete sie auf das Ding, das ihn in die Tiefe preßte, dann drückte er ab. Wieder drückte er den Abzug, und noch einmal, da es eine der neuen selbstspannenden Waffen war, und selbst hier, tief unter Wasser, hörte er die dumpfen Explo sionen der wasserdichten Messingpatronen. Seine Lungen barsten fast, sein Bewußtsein trübte sich, und ihm blieb gerade noch so viel Klarheit, um zu spüren, daß er von dem würgenden Griffe befreit war und aufwärts trieb. Sein Kopf durchbrach die Oberfläche des Wassers, und durch die Mundöffnung seiner Maske zog er die frische Luft mit tiefen Zügen in seine Lunge. Tief un ter sich sah er den gelben Kopf des Großen Bonsa im Wasser schaukeln und zittern wie ein großes Spiegel bild des Mondes, und er sah auch, daß er emporzu steigen begann. Er konnte nicht von der Stelle fort schwimmen; der Fetisch schien ihn hypnotisiert zu haben. Er hörte Jeekie aus dem flachen Wasser des
anderen Ufers nach ihm rufen, doch er trieb noch immer dort, wie ein Baumstamm, und starrte zu dem Großen Schwimmenden Kopf hinab, der unter ihm hin und her schaukelte. Jeekie stürzte sich wieder in den Kanal, erreichte ihn nach wenigen, kräftigen Schwimmzügen, packte ihn beim Arm und zog ihn uferwärts. Bevor sie es er reichten, stieß der Große Bonsa wie ein riesiger Fisch im Wasser empor und versuchte, ihnen zu folgen, was ihm jedoch nicht gelang, wie es schien. Auf jeden Fall wirbelte er nur an einer Stelle herum und herum, und eine weiße Flüssigkeit quoll aus ihm heraus, die das Wasser wie Milch färbte. Dann begann er zu wimmern und stieß ein dünnes, entsetzliches Heulen aus, das mehr dem Greinen eines leidenden Kindes ähnelte als irgend etwas anderem, das sie jemals ge hört hatten; es war ein klagender Laut, den Alan nie wieder vergessen konnte. Er taumelte ans Ufer und starrte auf die Stelle, wo dieses Wesen blutete, tor kelte und schrie, konnte wegen des milchigen Schaums jedoch in diesem schwachen Licht nichts er kennen. »Was ist das, Jeekie?« fragte er mit einem idioti schen Lachen. »Was ist das für ein Ding?« »Oh! Weiß nicht. Teufel und all so was, vielleicht. Kommen Sie weiter, Major, bevor es uns schnappt!« »Ich glaube nicht, daß es zur Zeit irgend jemanden schnappen wird. Teufel oder nicht, Hohlspitzge schosse verträgt es offenbar nicht. Soll ich ihm noch eine geben, Jeekie?« Er hob den Revolver. »Nein, nein, Major, seien Sie nicht dumm!« Jeekie packte ihn beim Arm und zerrte ihn fort. Ein kleines Stück entfernt stand der Mungana,
reglos wie gelähmt, und Alan bemerkte, daß er ihn mit so etwas wie Ehrfurcht anblickte. »Stärker als der Gott«, murmelte er, »stärker als der Gott!«, und er lief voraus. Sie folgten einem Pfad, der entlang dem Kanal ver lief, und dann ging es wieder durch einen Tunnel, bei dessen Passage sie sich aneinander festhielten, wie zuvor. Nach wenigen Minuten waren sie hindurch und liefen zwischen Zedern an der Außenwand des Goldhauses entlang, unter dem der Tunnel offen sichtlich hindurchgeführt hatte. Unter diesen Zedern huschten sie weiter wie Geister, mal im Mondlicht, mal im Schatten. Der große Wasserfall, der sich hinter der Stadt be fand, lag zu ihrer Linken, und vor ihnen war einer der Arme des Flusses, an dieser Stelle ein reißender Strom von nicht mehr als hundert Fuß Breite, von ei ner schmalen Hängebrücke überspannt, die durch zwei Seile getragen wurde. Am diesseitigen Ufer stand eine Wachhütte neben dem Brückenzugang, und zu ihrem Entsetzen sahen sie drei mit Speeren bewaffnete Männer aus der Hütte stürzen, um ihnen den Weg zu verlegen. Einer dieser Männer lief über die Brücke zu deren jenseitigem Ende, während die anderen beiden an ihrem diesseitigen Zugang Posten bezogen. Der Mungana wurde langsamer und sagte nur ein Wort: »Erledigt!« Jeekie verlangsamte seinen Lauf ebenfalls, dann wandte er sich um und deutete nach hinten. Alan blickte zurück und sah zwischen den Zedern die weißen Gewänder von Bonsa-Priestern durch Licht und Schatten huschen. Nun wurden sie alle drei
von Verzweiflung gepackt, und sie stürmten auf die Brücke zu. Jeekie erreichte sie als erster, duckte unter dem Speerstößen der beiden Wachen hindurch, stieß dem einen das Messer in die Brust und rammte dem anderen seinen großen Kopf in den Bauch, so daß er von der Brücke flog und auf die darunterliegenden Felsen stürzte. »Schnell, Major, schnell!« rief er Alan zu, der an ihm vorbeilief, als er sich wieder emporrappelte. »Jetzt ist alles in Ordnung.« Sie waren auf der schmalen, schwankenden Brücke – es war nur eine schmale Planke – Alan als erster, dann der Mungana, dann Jeekie. Als sie sich auf der Mitte der Brücke befanden, bot sich Alan ein Anblick, den er niemals vergessen würde. Der dritte Wächter am anderen Ufer begann, eines der Halteseile mit seiner Speerspitze durchzusägen. Da hingen sie nun, auf der Mitte der Brücke, fünfzig Fuß über einem tosenden Wildwasser, und der Mann hatte das Seil fast durchtrennt! Das Ufer zu erreichen, bevor es riß, war unmöglich; hinter ihnen waren die Priester, unter ihnen der brüllende Fluß. Alle drei bleiben sie stehen wie gelähmt. Alan spürte, wie et was gegen sein Bein schlug; es war sein Revolver, der an einem Lederriemen am Handgelenk hing. Er griff danach, zielte und drückte ab. Der Schuß ging dane ben, was nicht verwunderlich war angesichts des schwachen Lichtes und des schwankenden Bodens, auf dem er stand. Der Schuß ging vorbei, doch der Mann hielt für ei nen Moment mit seinem Sägen inne, da er noch nie so etwas gehört oder gesehen hatte, und starrte sie an. Dann, als er weiterzusägen begann, feuerte Alan zum
zweiten Mal, und durch einen glücklichen Umstand traf diese Kugel den Asiki irgendwo in den Körper. Er stürzte, und im Fallen packte er das fast durch trennte Tau und klammerte sich daran fest. »Sichert euch an dem anderen Tau und kommt weiter!« rief Alan, und sie liefen weiter. »Mein Gott, es reißt!« schrie er. »Festhalten, Jeekie, festhalten!« Im nächsten Moment riß das Tau, und der Mann verschwand. Die Brücke kippte zur Seite, und die schmalen Planken hingen jetzt, von dem verbliebenen Tau getragen, mit den Kanten nach oben. An diesem Tau klammerten die drei sich verzweifelt fest, ihre Füße auf der Kante der schwankenden Planken. Ein paar Sekunden lang blieben sie so hängen, wagten es nicht, sich zu rühren, dann rief Jeekie: »Weiterklet tern, Major! Weiterklettern wie ein Affe. Sieht gefähr lich aus, ist aber wirklich ganz sicher.« Da ihm nichts anderes übrig blieb, begann Alan zu klettern, schob seine Füße auf der Kante der Planke entlang und die Hände entlang dem Tau, das unter ihrem dreifachen Gewicht ächzte und sich dehnte. Es waren entsetzliche Minuten, die sich in seiner Vorstellung zu Stunden dehnten. Doch sie schafften es und standen schließlich ausgepumpt, aber sicher an jenseitigen Ufer. Der Schweiß, der über Alans Ge sicht rann, blendete ihn fast, ein Gefühl von Übelkeit krampfte seinen Magen zusammen, kalte Schauer rannen über seinen Rücken, sein Kopf dröhnte. Doch hörte er Jeekie, bei dem Aufregung sich immer in Form von Sprache entlud, rufen: »Ich denke, daß der Mann kein Lügner war, der sagte, unsere Großpapas waren Affen. Ich werde jedenfalls nie mehr auf Affen
hinabsehen. Aufwachen, Major! Diese Priester sind auch Affenmenschen, denn wir sind alle Brüder. Wartet, ich werde euch das Spiel verderben!« Er sprang auf und trennte mit einigen kräftigen Schnit ten seines gekrümmten Messers das verbliebene Tau der Brücke durch, als ihre Verfolger gerade die ande re Seite erreichten. Sie schrien vor Wut, als die lange Brücke gegen die Felswand schlug und das abgeschnittene Tau in den tosenden Fluß klatschte, und stießen drohend ihre Speere empor. Diese Demonstration erwiderte Jeekie mit Gesten der Verachtung, wie sie unter StraßenArabern Brauch sind. Dann blickte er den Mungana an, der auf dem Boden lag, ein trauriger und schäbi ger Anblick, denn der Schweiß und das Wasser hat ten streifenweise die Farbe von seinem Gesicht gewa schen und einen Teil der Färbung aus seinen Haaren, sein Umhang war durchnäßt und seine JuwelenHalskette zerbrochen. Nachdem Jeekie ihn eine Weile abschätzend be trachtet hatte, trat er ihm solange in den Hintern, bis er mühsam wieder auf die Beine kam, und forderte ihn auf, ihnen ihre Lage genau zu erklären. Der Mun gana antwortete, daß sie für eine Weile sicher seien, da der Flußarm nur auf der zerstörten Brücke über quert werden könne, denn die Strömung sei zu rei ßend, um ihn zu durchschwimmen. Die Asiki, fügte er hinzu, müßten einen weiten Umweg durch die Stadt machen, um sie verfolgen zu können, obwohl sie sie zweifellos irgendwann einholen würden. Hier unterbrach ihn Jeekie, da er mit dem ganzen Land bestens vertraut war und nur wissen wollte, ob man weitere Brücken über den Wildwasserfluß ge
baut hatte, seit er als Junge fortgegangen war. »Jetzt, Major«, sagte er, »stehen Sie auf und folgen Sie mir, denn ich kenne jeden Zoll hier, und auch eine gute Abkürzung über die Berge. Sie müssen wissen, Jeekie war stets ein sehr kluger Junge, und als er Schafe und Ziegen hütete, merkte er sich alles, und er vergißt niemals etwas. Jeekie zieht Sie raus aus diese Loch, keine Angst.« »Das freut mich zu hören«, sagte Alan, während er sich erhob. »Aber was soll aus dem Mungana wer den?« »Weiß ich nicht und ist mir egal«, sagte Jeekie; »wir brauchen ihn nicht mehr. Er kann gehen und nachse hen, wie der Große Bonsa sich fühlt, wenn er mag.« Damit streckte er, wie in einem Moment der Geistes abwesenheit, seiner Hand aus, nahm ihrem Führer die schimmernde Halskette ab und ließ sie in seinem Umhängebeutel verschwinden. Dann nahm er die vergoldete Leinenmaske, die Alan von seinem Kopf gezerrt hatte und steckte sie ebenfalls in dieses Be hältnis mit der Bemerkung: »Habe es schon immer, für eine große Sünde gehalten, etwas zu vergeuden, wo es doch so viele Arme gibt auf der Welt.« Sie setzten sich in Bewegung, und der Mungana folgte ihnen. Jeekie blieb stehen und versuchte ihn fortzuscheuchen, doch der arme Teufel folgte ihnen weiterhin, worauf Jeekie das lange, gekrümmte Mes ser zog. »Was hast du vor?« fragte Alan mißtrauisch. »Dem Pfau den Kopf abschneiden, Major, und ihm dadurch eine Menge Ärger ersparen. Außerdem ha ben wir kein Essen, und wenn wir welches finden, will er davon haben. Chop, der für zwei reicht, finden
wir vielleicht, aber nicht genug für drei. Und viel leicht will er uns einen bösen Streich spielen, also ist er besser tot.« »Unsinn«, sagte Alan, »laß den armen Teufel mit kommen, wenn er will! Eine gute Tat ist der anderen wert.« »Ganz richtig, Major; dieser Clown will uns den Hals abschneiden, also will ich seinen abschneiden – eine gute Tat ist der anderen wert, wie ein weiser Kö nig in Buch sagt, als er der Frau ein halbes Baby gibt, die es nicht haben will. Aber wie wollen, Major, be sonders, weil es keine Rolle spielt, denn er bleibt so wieso nicht lange bei uns.« »Du meinst, er wird weglaufen, Jeekie?« »Oh! Nein, er wird nicht weglaufen, dazu hat er viel zu viel Angst. Aber etwas wird mit ihm weglau fen, weil er morgen nacht sterben soll. O ja, wir wer den sehen, wir werden sehen, und Jeekie hofft, daß nicht etwas auch mit Ihnen wegläuft, Major, weil Sie um die selbe Zeit heiraten sollen.« »Das hoffe ich nicht«, antwortete Alan, und als er an den Großen Bonsa dachte, der im Wasser torkelte und schrie und weißes Blut verströmte, erschauerte er. Zu dieser Zeit hatten sie, in leichtem Trab laufend und gefolgt von dem Mungana, der ihnen wie ein Hund auf den Fersen blieb, das Buschland erreicht, das von mehreren, gewundenen Pfaden durchzogen war. Auf diesen Pfaden liefen sie Stunde um Stunde weiter, geführt von Jeekie, der nirgends auch nur eine Sekunde lang zögerte. Sie sahen keinen Menschen und hörten nichts, außer gelegentlichen, unheimli chen Lauten, die Alan wilden Tieren zuschrieb, von denen Jeekie und der Mungana jedoch behaupteten,
daß sie von Geistern hervorgerufen würden. Angeb lich war dieser ganze Dschungel von Geistern be wohnt, und kein Asiki würde ihn nächtens betreten, und auch nicht bei Tage, wenn er nicht sehr mutig und durch viele Amuletts geschützt war. Deshalb war er ein Segen für die Flüchtigen, die dringend ei nen guten Vorsprung benötigten. Schließlich begann der neue Tag heraufzudäm mern, gerade als sie den breiten Weg erreichten, der hier durch die Berge führte, von denen aus Alan auf dem Herweg den ersten Blick auf die Bonsa-Stadt geworfen hatte. Als sie vom Rand des Buschlandes hinausblickten, sahen sie neben dem Weg ein Feuer brennen, an dem fünf oder sechs Männer schlafend lagen. Ihr erster Gedanke war, sie zu umgehen, doch der Mungana, der zu Alan gekrochen kam – denn Jeekie wagte er sich nicht zu nähern – flüsterte: »Kei ne Asiki. Ogula-Häuptling und Sklaven, die BonsaStadt gestern verlassen haben.« Sie krochen näher zum Feuer heran und sahen, daß dem so war. Dann weckten sie, innerlich jubelnd, den alten Häuptling, Fahni, der im ersten Moment glaubte, daß sie Geister seien. Doch als er Alan er kannte, warf er sich vor ihm auf die Knie und küßte seine Hände, da er ihm seine Freiheit verdankte. »Keine Zeit für so was, Fahni«, sagte Alan. »Gib uns was zu essen!« Davon hatten sie, wie es sich herausstellte, sehr reichlich, denn auf Befehl der Asika war den Sklaven soviel davon aufgeladen worden, wie sie tragen konnten. Sie aßen gierig und reichlich, und während sie aßen, erzählte Alan dem alten Häuptling einen Teil der Geschichte ihrer Flucht. Fahni hörte ihm
verwundert zu, doch fragte er dann, so wie Jeekie, warum er den Mungana nicht getötet habe, da er ihn töten wollte. Alan, der keine Lust auf lange Diskussionen hatte, antwortete, er habe ihn mitgenommen, weil er viel leicht noch nützlich sein mochte. »Ja, ja, Freund, ich verstehe«, sagte der alte Kanni bale, »obwohl er recht mager ist, gibt er im Notfall doch noch eine oder zwei Mahlzeiten ab. Wahrlich, weiße Männer sind weise und vorausschauend. Wie die Ameisen denken sie an das Morgen.« Sobald sie gegessen hatten, brachen sie gemeinsam auf, denn obwohl Alan Fahni klargemacht hatte, daß er allein sicherer sein mochte, konnte er den alten Häuptling, der eine ehrliche Zuneigung zu ihm ge faßt hatte, nicht dazu bewegen, ihn zu verlassen. »Laß uns zusammen leben oder sterben«, sagte er. Jeekie verließ nun den breiten Weg und führte sie einen Bach entlang, und sie gingen im Wasser, damit sie keine Fußspuren hinterließen, bis sie in die kahlen Berge gelangten, die sich vor dem großen Sumpfland erhoben. Auf dem Kamm dieser Berge wandte Alan sich um und blickte zur Bonsa-Stadt zurück. Dort, weit jenseits des fruchtbaren Tales, lag der verhaßte, vom Fluß umschlossene Ort. Dort stürzte der mächti ge Katarakt herab, mit dessen Donnern er so viele Wochen gelebt hatte. Dort waren die schwarzen Ze dern, und dort glänzten die Dächer des Goldhauses, seines Gefängnisses, in dem die Asika und die schrecklichen Fetische hausten, deren Priesterin sie war. Ihm kam es jetzt wie die Vision eines Alptraums vor, und er vermochte kaum zu glauben, daß es Wirklichkeit war. Aber dennoch würde sie ihn zu
dieser Zeit überall suchen. In welcher Stimmung mochte die Asika sein, fragte er sich, wenn sie von seinem Entkommen und von der Art seines Entkom mens erfuhr, und wie würde sie ihn empfangen, wenn er gefangengenommen und zu ihr zurückge bracht werden sollte? Nun, er würde nicht wieder ge fangen werden. Er hatte noch ein paar Patronen für seinen Revolver, und war entschlossen, zu kämpfen bis zum Tod, und wenn er nicht getötet werden sollte, die letzte Kugel für sich aufzuheben. Niemals, nie mals würde er sich nach Bonsa-Stadt zurückschlep pen lassen, um dort zu leben und zu sterben. Sie ließen die Berge hinter sich, und am Nachmit tag sahen sie wieder den breiten Weg, der wie ein langes Band unterhalb von ihnen lag, und an seinem Ende den See. Hier rasteten sie eine Weile, und wäh rend sie aßen, hielten sie eine Beratung ab. Über den See zu gelangen, war unmöglich ohne ein Kanu. »Weißer Herr«, sagte der Mungana nach einer Weile, »gestern, als diese Kannibalen ihre Freiheit er hielten, wurde ein Bote vorausgeschickt mit dem Be fehl, daß ein gutes Boot für sie bereitgestellt und aus gerüstet werden soll, was inzwischen zweifellos ge schehen ist. Sie sollten zu dem Weg hinabgehen, und dann weiter zu jener Bucht marschieren und dort nach dem Boot fragen. Dort drüben ist eine mit Bäu men bestandene Landzunge, die in den See hinein ragt. Wir werden dorthin gehen, und nach Einbruch der Nacht kann dieser Häuptling zu ihr kommen und uns ins Kanu nehmen.« Alan sagte, das sei ein guter Plan, doch Jeekie schüttelte den Kopf und fragte, was geschehen wür de, falls Fahni, sobald er auf dem Wasser und in Si
cherheit sei, es für klüger hielte, sich nicht damit auf zuhalten, sie abzuholen. Als der alte Häuptling das hörte, forderte er Jeekie wegen dieser Diffamierung seines Charakters zum Zweikampf, doch Jeekie wies diese Herausforderung energisch zurück mit dem Hinweis, daß es im AsikiLand ohnehin schon zu viele Möglichkeiten des Ster bens gäbe und man nicht noch eine hinzufügen brau che. Darauf schwor Fahni bei seinem Stammesgott und beim Geiste jedes Menschen, den er jemals ge gessen hatte, daß er nach Einbruch der Dunkelheit zu jener Landzunge kommen würde, wenn er da noch am Leben sein sollte. Also trennten sie sich; Fahni und seine Männer schlichen zu dem Weg hinab, den sie erreichten, ohne von jemandem bemerkt zu werden, während Alan, Jeekie und der Mungana sich nach rechts wandten, um zu der Landzunge zu gelangen. Der Weg war lang und beschwerlich, und obwohl sie das Glück hatten, niemandem zu begegnen, da die wenigen Menschen, die in diesem wilden Landstrich lebten, nach Bonsa-Stadt gegangen waren, um an dem gro ßen Bankett teilzunehmen, war es fast Sonnenunter gang, als sie sie erreichten. Außerdem stellte sich her aus, daß diese Landzunge mit dichtem Dornenge strüpp bewachsen war, durch das sie sich bei zuneh mender Dunkelheit hindurchkämpfen mußten, was nicht ohne Schwierigkeiten und Kratzer abging. Doch sie schafften es und erreichten schließlich, wenn auch am Ende ihrer Kräfte, die Spitze, wo sie sich zwischen großen Steinblöcken am Ufer verbargen. Hier warteten sie viele Stunden lang, doch kein Boot kam.
»Jetzt sitzen wir in der Tinte, Major«, sagte Jeekie. »Ein alter Schurke, dieser Fanny; er ist einfach abge hauen und läßt uns hängen. Er ist fein heraus, und morgen wird die Asika uns verschlingen. Besser, wir gehen selber zur Bucht hinab, stehlen sein Boot und lassen ihn zurück, weil die Asika ihn nicht will. Das ist nur normale Logik.« Alan antwortete nicht. Er war zu müde, und ob wohl er Fahni vertraute, war es durchaus möglich, daß Jeekie recht hatte, oder vielleicht war es den Kannibalen nicht gelungen, das Boot zu bekommen. Nun, er hatte getan, was er tun konnte, und wenn das Schicksal sie jetzt einholte, war es nicht seine Schuld. Er fiel in einen leichten Schlaf, denn selbst die un mittelbare Gefahr, in der sie sich befanden, konnte nicht verhindern, daß ihm die Augen zufielen, und er schreckte wenig später auf, weil er im Schlaf glaubte, das Geräusch von Paddeln zu hören, die durch das stille Wasser des Sees gezogen wurden. Ja, dort, im Nebel nur als Umriß erkennbar, war ein Kanu, und in seinem Heck saß Fahni. Also war auch diese Gefahr vorübergegangen. Er weckte seine beiden Begleiter, die neben ihm schliefen, und sie erhoben sich lautlos und wateten ins Wasser des Sees, bis sie das Kanu erreichten und hineinstiegen. Es war kein großes Boot, sein Raum reichte gerade, um sie alle aufzunehmen, doch fanden sie irgendwie Platz darin. Dann, auf ein Zeichen von Fahni hin, begannen seine Männer zu paddeln, und sie legten sich so kräftig ins Zeug, daß eine halbe Stunde später das verfluchte Ufer des Asiki-Lands außer Sicht war, obwohl seine Berge sich in dem hel len Mondlicht klar abzeichneten.
Inzwischen hatte Fahni seine Geschichte erzählt. Als sie das Ufer erreichten, hatten sie den Asiki-Dorfälte sten und seine Leute in heller Aufregung vorgefun den. Ihm waren Gerüchte zu Ohren gekommen, nach denen jemand aus Bonsa-Stadt geflohen sei, und sie vermuteten, daß es der Mungana sein könnte. Fahni fragte den Ältesten, wer ihm dieses Gerücht zugetra gen habe, worauf dieser antwortete, es sei ihm ›in ei nem Traum‹ übermittelt worden, und nicht mehr darüber sagen wollte. Darauf verlangte Fahni das Kanu, das ihm und seinen Männern versprochen worden war, und der Dorfälteste sagte ihm, daß es bereit liege, in Übereinstimmung mit den Befehlen, die er von der Asika erhalten habe, weigerte sich je doch, es herauszugeben. Es folgte ein langer Wort wechsel darüber, in dessen Verlauf Fahni und seine Männer das Kanu einfach in Besitz nahmen, und der Älteste wagte nicht, sie mit Gewalt daran zu hindern. Gerade, als sie vom Ufer ablegten, erschien ein Bote von der Bonsa-Stadt, vor Erschöpfung taumelnd und keuchend, der ihnen zurief, daß es der weiße Mann wäre, der gemeinsam mit seinem Diener und dem Mungana entflohen sei, und deshalb – obwohl ver mutet wurde, daß sie sich noch in den heiligen Wäl dern in der Nähe von Bonsa-Stadt verbargen – nie mandem erlaubt sei das Ufer zu verlassen. Also rief der Dorfälteste Fahni zu, er solle sofort zurückkehren, doch der tat so, als ob er ihn nicht hörte und fuhr weiter, und niemand machte den Versuch, ihn zu ver folgen. Dennoch wagte er erst nach Einbruch der Dunkelheit, umzudrehen und zu der Landzunge zu rückzukehren, um Alan und die anderen aufzuneh
men, wie er es versprochen hatte. Das war alles, was er zu sagen hatte. Alan dankte ihm herzlich für seine Treue, und sie paddelten ohne Unterlaß weiter, legten Meile um Meile zwischen sich und das Asiki-Land. Er fragte sich, ob er jenes Land und seine Bewohner wirklich zum letzten Male gesehen hatte. Irgend etwas in ihm sagte, daß das nicht der Fall sei. Er war sicher, daß die Asika ihn nicht gehen lassen würde, ohne irgend einen verzweifelten Versuch zu unternehmen, ihn wieder einzufangen. So weit entfernt er auch von ihr sein mochte, schien er dennoch ihre Wut spüren zu können, die wie eine Wolke über ihm hing – eine Wolke, die sich mit einem Regen von Blut entladen würde. Zweifellos hätte sie sich bereits entladen, wenn sie nicht vermuten würde, daß er und seine Be gleiter sich noch immer im Wald verbargen. Doch dieser Irrtum mußte bald entdeckt werden, und dann würde die Verfolgung einsetzen. Er blickte zum vollen Mond hinauf, dessen Licht auf ihn herabschien, und sagte sich, daß er um diese Stunde auf dem vergoldeten Sessel gesessen hätte, um die Asika zu heiraten, oder vielmehr von ihr ge heiratet zu werden, im Angesicht vom Großen und vom Kleinen Bonsa und des ganzen Volkes. Sein Blick fiel auf den Mungana, dem bei dieser Zeremo nie ebenfalls eine herausragende Rolle zugedacht gewesen war. Er sah sofort, daß mit dem Mann ir gend etwas nicht stimmte. Eine seltsame Verände rung war in seinem ausgemergelten Gesicht vor sich gegangen. Es zuckte, wie das eines Irren. Schaum trat auf seine trockenen Lippen, seine gehetzten Augen rollten, seine mageren Hände umklammerten die
Bordwand des Kanus, und er begann zu singen, oder vielmehr zu heulen wie ein Hund, der den Mond an jault. Jeekie schlug ihm mit der Faust auf den Kopf und befahl ihm, still zu sein, doch er kümmerte sich nicht darum, selbst als Jeekie ihn noch einmal, härter, schlug. Und dann kam der Höhepunkt. Der Mann sprang auf, so daß das Kanu von einer Seite zur ande ren schwankte. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf den vollen Mond und heulte noch lauter als zu vor; er wies auf etwas, das er nahe beim Boot in der Luft zu sehen schien und stieß wirre Laute aus, wie in unbeschreiblicher Angst. Dann fixierte sein Blick sich auf das Wasser, und er starrte wie gebannt hinein, wobei sein Kopf von Sekunde zu Sekunde tiefer sank, bis er schließlich, ohne noch einen Laut von sich zu geben, über die Bordwand des Bootes kippte. Ein paar Sekunden lang sahen sie noch sein Gewand in die Tiefe sinken, dann war er verschwunden. Sie warteten eine Weile, in der Hoffnung, daß er wieder an die Oberfläche kommen würde, doch er kam nicht wieder herauf. Ein mit Grundgewichten beschwerter Leichnam hätte nicht endgültiger und vollständiger verschwinden können. Es war ein schreckliches Erlebnis, und für eine Weile herrschte Schweigen, das, wie immer, von Jeekie gebrochen wurde. »Der krumme Hund ist tot«, sagte er nachdenklich. »Alle diese alten Geister kommen zur festgesetzten Zeit und holen ihn. Es ist nicht gut, vor Geistern weg zurennen; sie reisen zu schnell; ein Sprung und sie tauchen auf, wo man sie nicht erwartet. Nun, wir ha ben seine Halskette, und es ist jetzt mehr Platz im Boot für Jeekie.« Er streckte sich auf dem leeren Sitz
bequem aus und setzte hinzu: »Ich mag den Platz von dem feinen Pinkel lieber als ihn selbst; er stieg jeden Tag in ein Duftbad und stank trotzdem unerträglich; all das Wasser kann ihn nicht sauberwaschen.« Auf diese Weise starb der Mungana, und diese Worte waren das Requiem auf den armen Teufel. Mit Schaudern dachte Alan daran, daß er, wenn es nicht um ihn und seine rasende Eifersucht gewesen wäre, jetzt gezwungen sein würde, in jenem Duftbad zu sit zen und sich das Gesicht anmalen zu lassen wie ein Clown. Nur, würde es ihm gelingen, dem Bann zu entrinnen, der seinen Vorgänger in der Zuneigung der Bonsa-Priesterin vernichtet hatte? Oder würde ir gendeine düstere Macht, wie sie den Mungana in den Tod gezogen hatte, ihn in die Arme der Asika zurück zerren, oder zu der Folterstätte des Großen Schwim menden Kopfes? Sein letzter Traum im Schatzhaus fiel ihm ein, und die Erinnerung daran ließ ihn er schauern, denn alles, was er miterlebt und gesehen hatte, machte ihn abergläubisch. Er befahl den Män nern, schneller zu paddeln, und noch schneller. Sie fuhren die ganze Nacht hindurch, wobei die Männer einander abwechselten, mit der Ausnahme von Alan und Jeekie, die zumeist schliefen und des halb am nächsten Morgen sehr erfrischt aufwachten. Als die Sonne aufging, befanden sie sich fast auf der anderen Seite des Sees, über dreißig Meilen vom Ufer des Asiki-Lands entfernt, unweit der Stelle, an wel cher der Fluß, den sie vor mehreren Monaten herab gekommen waren, einmündete. Ob es dem Zufall zu verdanken war oder Fahnis Geschicklichkeit, daß er einen so wunderbar geraden Kurs gesteuert hatte, vermochte Alan nicht zu sagen. Jetzt jedoch sahen sie
sich neuen Schwierigkeiten gegenüber, denn kaum wa ren sie in den Fluß eingefahren, als sie entdeckten, daß er zu dieser trockenen Jahreszeit an vielen Stellen zu flach war, um mit dem Kanu seine Sand- und Schlamm bänke zu überwinden. Offensichtlich blieb ihnen nur eins übrig: sie mußten es zurücklassen und über Land marschieren. Also stiegen sie ans Ufer, aßen von ihren Nah rungsvorräten und begannen einen langen und be schwerlichen Marsch. Zu beiden Seiten des Flusses lag der nun trockene Sumpf, der von zehn bis zwölf Fuß hohem Schilfrohr bedeckt war. Zweifellos lag jenseits des Sumpfes festes Land, doch um es zu er reichen, hätten sie sich einen Pfad durch den mehrere Meilen breiten Schilfgürtel schlagen müssen. Deshalb hielten sie es für sicherer, dem Flußlauf zu folgen. Sie kamen nur langsam vorwärts, da sie immer wieder Umwege machen mußten, um einen Morast oder Wasserflächen zu umgehen, auch wurden sie durch Felsblöcke und dorniges Gestrüpp aufgehalten, so daß fünfzehn oder höchstens zwanzig Meilen eine gute Tagesleistung darstellten. Dennoch kamen sie voran. Sie begegneten keinem Menschen, und als ihre Nahrungsvorräte erschöpft waren, lebten sie von Fischen, von denen sie viele in den flachen Wasserstellen fingen, und von jungen Enten, die im Schilf umherflatterten. So erreichten sie schließlich den großen Strom, in den dieser Neben fluß mündete und machten dort erleichtert Rast in der Annahme, daß jede Verfolgung, die die Asiki unternommen haben mochten, jetzt aufgegeben wor den war. Jedenfalls glaubten Alan und die Ogula das, Jeekie jedoch nicht.
Am folgenden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, weckte Jeekie seinen Herrn. »Kommen Sie her, Major«, sagte er mit ernster Stim me, »ich muß Ihnen was Hübsches zeigen.« Er führte ihn zum Fuß eines alten, knorrigen Weidenbaumes und setzte hinzu: »Und jetzt hinauf und gucken!« Also kletterte Alan auf den Baum, und von seiner obersten Astgabelung aus bot sich ihm ein Anblick, der ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Denn dort, keine fünf Meilen hinter ihnen, zu beiden Seiten des Flusses, blinkte das Sonnenlicht auf den Speer spitzen zweier endloser Kolonnen von Kriegern, die er an ihrem Kopfschmuck als Asiki erkannte. Eine Minute lang starrte er zu ihnen hinüber, dann stieg er von dem Baum herab, trat zu den anderen und fragte sie, was sie ihrer Ansicht nach tun sollten. »Abhauen! Weglaufen! Beine in die Hand neh men!« rief Jeekie mit Nachdruck. Dann beleckte er ei nen Finger, streckte ihn in die Luft, um die Wind richtung zu prüfen, und setzte hinzu: »Aber vorher die Binsen in Brand stecken und den Bonsa-Leuten ein bißchen einheizen.« Das war ein guter Vorschlag, den sie auch sofort in die Tat umsetzten. Sie nahmen rotglühende Kohlen aus dem Feuer, bliesen sie zu Flammen und entzün deten Fackeln an ihnen, mit denen sie das trockene Schilfrohr in einer Breite von mehreren hundert Yards in Brand steckten. Ein kräftiger Nordwind übernahm alles weitere; innerhalb einer Viertelstunde raste eine Feuerwand von zwanzig oder dreißig Fuß Höhe auf die Asiki-Kolonnen zu. Alan und seine Gruppe begannen ihren Marsch entlang dem Flußu fer, und sie liefen in einem leichten Trab, da sie sich
jetzt auf freiem, ebenem Grund befanden. Den ganzen Tag über liefen sie so, legten nur hin und wieder Pausen ein, um wieder zu Atem zu kommen, und bei Anbruch der Nacht machten sie Rast, weil sie sich ausruhen mußten. Als die Sonne des folgenden Morgens aufstieg, blickten sie von ei nem kleinen Hügel aus zurück und sahen die Vor huten der Asiki weniger als eine Meile hinter sich vorrücken. Zweifellos war ein Teil der Armee in den Flammen umgekommen, doch die Überlebenden, die ihre Route errieten, hatten sich einen Weg durch das Schilf erkämpft und waren querfeldein gezogen. Also begannen sie wieder zu laufen, schneller als zuvor, und während des Vormittages gelang es ihnen, ihren Vorsprung zu halten. Doch als es Nachmittag wurde, holten die Asiki auf. Inzwischen waren sie auf dem Hang eines langgestreckten Hügels, neben dem der Fluß durch eine Schlucht toste, und Jeekie, der abso lut unermüdbar schien, zog Alan an der Hand mit sich, während Fahni ihnen folgte. Zwei der Ogula waren zusammengebrochen und liegengelassen wor den, und die anderen hingen ein Stück zurück. »Es hat keinen Zweck, Jeekie«, keuchte Alan, »auf der Kuppe des Hügels erwischen sie uns.« »Niemals aufgeben, Major, niemals aufgeben!« keuchte Jeekie; »die Asiki haben auch keine Luft mehr, und wer weiß, was auf andere Seite des Hügels ist?« Irgendwie gelang es ihnen, die Kuppe des Hügels zu erreichen, und siehe! auf seiner anderen Seite war eine große Armee von Kriegern. »Ogula!« schrie Jeekie. »Ogula! Wie ich gesagt ha be, Major. Wer weiß, was jeweils auf der anderen Seite eines Hügels ist?«
18
Ein Treffen im Walde
Fünf Minuten später hatten Alan und Jeekie die Ogula erreicht, die ihren Häuptling bereits aus eini ger Entfernung erkannt hatten und ihn mit begei sterten Rufen und Händeklatschen begrüßten. Dann, da keine Zeit für lange Erklärungen war, zogen sie sich hinter einen kleinen Fluß zurück, der durch das Tal lief; es waren viertausend Mann oder mehr, und alle zum Kampf gerüstet. An jenem Abend kam es je doch zu keiner Schlacht, denn als die ersten der Asiki den Gipfel der Anhöhe erreichten und sahen, daß die Fliehenden sich im Schutz der Feinde befanden, die ihnen zahlenmäßig überlegen waren, blieben sie ste hen und zogen sich schließlich zurück. Alan und auch Fahni hofften, daß sie die Verfol gung aufgegeben hatten, doch wieder schüttelte Jee kie seinen großen Kopf und sagte: »Bestimmt nicht, Major, ich kenne die Asiki und ihre Art. Solange noch einer von ihnen am Leben ist, wagen sie nicht zu Asi ka zurückgehen ohne Sie. Major.« »Vielleicht ist sie selbst bei ihnen«, meinte Alan, »und wir können mit ihr reden.« »Nein, Major, die Asika verläßt die Bonsa-Stadt nie; das ist gegen das Gesetz, und wenn sie es doch tut, machen die Priester eine andere zur Asika und töten die alte, wenn sie sie erwischen.« Anschließend wurde Kriegsrat gehalten, bei dem beschlossen wurde, an jener Stelle das Nachtlager zu errichten, da die Position gut zu verteidigen war, falls
ein Angriff erfolgen sollte; und die Ogula hatten Furcht, auf dem Marsch mit dem Rücken zum Feind angefallen zu werden. Alan war froh, als er diesen Beschluß hörte, da er völlig ausgepumpt war und be reit, für ein paar Stunden Ruhe jedes Risiko auf sich zu nehmen. Bei dieser Besprechung erfuhr er auch, daß die Asiki-Träger mit dem Gold sicher bei den Ogula angekommen waren, die auf Befehl ihres Häuptlings ihre Krieger zusammengerufen hatten und sich auf dem Marsch nach dem Asiki-Land be fanden, als Alan auf sie gestoßen war, obwohl dieses Unternehmen ihnen überhaupt nicht gefiel. Was nun jene Asiki-Träger betraf, so waren sie mit dem Gold in den Wald marschiert, und man hatte seither nichts mehr von ihnen gehört. Als sie die Beratung verließen, fragte Alan Jeekie, ob er etwas über seine Mutter erfahren habe, die ihr erster Bote gewesen war. »Nein, Major«, antwortete er düster, »ich habe nichts über meine Mama erfahren. Ich weiß nicht, wo sie ist. Der Ogula-Kraal ist kein guter Ort, nicht ein mal für ein altes Mädchen wie sie. Wenn die keinen Chop haben und hungrig sind, fressen die alles. Aber vielleicht ist sie gar nicht hingegangen; vielleicht hat sie keine Lust für den Job gehabt und gar nicht losge gangen. Ich schnüffle mal herum, vielleicht finde ich was.« Offensichtlich hatte Jeekies ›Herumschnüffeln‹ Er folg, denn als Alan gerade am Einschlafen war, erhob sich vor seinem Unterschlupf aus Zweigen ein lautes Geschrei aus dem er deutlich die Stimme des wort gewaltigen Jeekie heraushörte. Als er hinausstürzte, sah er seinen Diener und einen großen Ogula, den er
als einen der Gefangenen wiedererkannte, die mit ihm in Bonsa-Stadt gewesen waren, und den die Asi ka befreit hatte, um die Träger zu führen, miteinan der ringend über den Boden rollen, während eine neugierige Menge ihren Kampf verfolgte. Gerade als er die beiden erreichte, gewann Jeekie – der trotz sei ner Jahre ein ungewöhnlich kräftiger Mann war – die Oberhand über den Ogula, kniete sich auf seine Brust und begann ihn zu würgen. Alan stürzte auf ihn zu, riß ihn herunter und fragte ihn, was los sei. »Was los ist, Major?« schrie der aufgebrachte Jee kie, »meine Mama im Bauch von diesem schwarzen Schurken, das ist los! Dieser dreckige Kannibale hat eine Verdauung wie ein Strauß und ißt meine Mama auf, er und paar andere, bis auf einen, der ihren Ge schmack nicht mochte und abhaute und es mir er zählte. Sie fanden meine arme Mama im Schlaf neben dem Weg, also machten sie Rast und sich ein Mittag essen, als die Asiki-Träger nicht hinsahen. Lassen Sie mich ihn fertigmachen, Major, lassen Sie mich ihn fertigmachen! Wenn ich meine Mama schon nicht be graben kann, wie man es von einem guten Sohn er wartet, will ich wenigstens ihn begraben, in dessen Bauch sie ist.« »Jeekie, Jeekie«, sagte Alan, »übe christliche Verge bung und laß Vergangenes vergangen sein. Wenn du es nicht tust, kommt es durch dich zum Streit zwi schen uns und den Ogula, und sie werden uns den Asiki ausliefern. Vielleicht hat dieser Mann deine Mutter nicht gegessen; er streitet es jedenfalls ab, wenn ich ihn richtig verstanden habe, und so, wie ich deine Mutter kannte, scheint mir das sowieso un glaublich. Auf jeden Fall hat er das Recht auf eine Ge
richtsverhandlung, und ich werde morgen früh mit Fahni darüber reden.« Also wurden die beiden voneinander getrennt, doch zu einer Verhandlung sollte es nicht kommen, denn am nächsten Morgen wurde der Ogula im Kampf getötet, gemeinsam mit zweien seiner Ge fährten, während die anderen, die bei ihm gewesen waren, verschwunden blieben. Ob Jeekies ›Mama‹ von den Ogula gegessen worden war oder nicht, konnte niemals mit Sicherheit festgestellt werden. Auf jeden Fall aber hörte man nie wieder etwas von ihr. Alan lag in tiefem Schlaf, als das Geräusch trampeln der Füße und fremder, gellender Kriegsschreie ihn aufschreckte. Er sprang auf, ergriff einen Speer und einen Schild, die Jeekie ihm besorgt hatte, und stürzte nach draußen, wo er an der Stellung des Mondes fest stellte, daß die Morgendämmerung nahe war. »Kommen Sie, Major!« rief Jeekie, »die Asiki ma chen einen Nachtangriff; sie machen alles gern bei Nacht, weil ihre Augen böse sind. Kommen Sie schnell, Major!« Er ergriff Alan beim Arm und zog ihn nach hinten. »Aber das ist die falsche Richtung«, protestierte Alan. »Der Angriff kommt von dort.« »Denken Sie, Jeekie sei ein Narr, Major, daß er das nicht weiß? Er bringt Sie dorthin, wo die Asiki nicht angreifen. Es gibt genug Ogula zum Töten, aber nicht viele weiße Männer, wie Sie, und in der ganzen wei ßen Welt gibt nur einen Jeekie.« »Du kaltschnäuziger, alter Schurke!« rief Alan, warf sich herum und lief dorthin, woher der Kamp
feslärm kam, gefolgt von seinem widerwilligen Diener. Als er die Frontlinie erreichte, die ein gutes Stück entfernt lag, war der Angriff so gut wie vorüber. Er war kurz und blutig gewesen, denn die Asiki hatten gehofft, die Ogula unvorbereitet zu finden und ihr Lager überrennen zu können. Doch die Ogula, die ih re Gewohnheiten kannten, hatten sie erwartet, so daß der Feind sich nun zurückzog, seine Verwundeten mitnahm und fünfzig Tote zurückließ. Sobald Jeekie sicher war, daß die Asiki alle fort waren, ging er, mit einer schweren Streitaxt bewaffnet, auf die gefallenen Krieger zu. Alan, der den verwundeten Ogula half, fragte sich, warum er sich so für sie interessieren mochte. Eine halbe Stunde später wurde seine Neu gier gestillt, denn Jeekie kehrte mit über zwanzig schweren, goldenen Ringen, Armreifen und Arm spangen zurück. »Woher hast du die, Jeekie?« fragte Alan. »Von armen Teufeln, die eben gestorben sind, Ma jor. Sie wissen, die Asiki-Krieger tragen diese Zeug, und da, wo sie hingehen, brauchen sie es nicht mehr, weil da alles schmilzt. Aber Jeekie, wenn er jemals hier herauskommt, will sein Alter in Würde und Frieden verleben. Also hole ich es mir. War aber eine harte Arbeit, weil die Ringe alle aus einem Stück sind, und die Asiki schwer zu zerhacken. Gucken Sie nicht so böse, Major; Sie erinnern doch, was der Apostel sagt, daß der, der nicht für sich sorgt, schlimmer ist als ein Kannibale.« In diesem Moment trat Fahni zu ihnen und berich tete, daß der Heerführer der Asiki einen Boten zum Lager gesandt habe, um seine Friedensbedingungen zu übermitteln.
»Was sind die Bedingungen?« fragte Alan. »Diese, weißer Mann: daß wir dich und deinen Diener ausliefern und dann in Frieden unseres Weges ziehen können.« »So so. Und was hast du ihm geantwortet, Fahni?« »Weißer Mann, ich habe ihn abgewiesen; doch ich muß dir sagen«, setzte er warnend hinzu, »daß meine Unterführer dafür waren. Sie sagten, daß ich sicher zu ihnen zurückgekehrt sei, und daß sie die Asiki fürchteten, daß sie Teufel seien, und keine Menschen, und sie den Fluch Bonsas auf uns bringen würden, wenn wir weiterhin gegen sie kämpften. Dennoch habe ich mich geweigert und ihnen gesagt, daß ich, wenn sie dich ausliefern sollten, mit dir gehen würde, da du mein Leben vor der Löwin gerettet hast, und später noch einmal vor den Priestern Bonsas. Also ging der Bote zurück, und, weißer Mann, wir brechen sofort auf, aber ich bitte dich, nahe bei mir zu bleiben, damit ich über dich wachen kann.« Dann begann der lange Marsch den Fluß hinab, den Alan später in seiner Erinnerung als härter empfand als irgendeine der anderen Strapazen seiner Flucht. Denn obwohl es nur wenige Kämpfe gab – lediglich Nachhut-Gefechte, genau genommen –, schickten die Asiki jeden Tag Boten mit einer Wiederholung ihres Friedensangebots unter der einzigen Bedingung, daß er und Jeekie ausgeliefert würden. Schließlich, eines Abends, erreichten sie die Stelle, an der Alan seiner zeit auf die Ogula gestoßen war, und wieder lagerte er auf der Insel, auf der er die Löwin erschossen hat te. Bei Dunkelwerden, nachdem sie gegessen hatten, suchte Fahni ihn dort auf, und Alan sah seinem Ge sicht an, daß er keine gute Nachricht brachte.
»Weißer Mann«, sagte er, »ich kann dich nicht län ger schützen. Boten der Asiki waren wieder bei uns und haben gefordert, euch bis zum Morgengrauen auszuliefern, sonst würden sie uns überholen und meine Stadt zerstören, die zwei Tagesmärsche fluß abwärts liegt, und alle Frauen und Kinder töten, und danach uns zur Schlacht stellen. Deshalb bestehen meine Männer darauf, daß ich euch ausliefere, und wenn ich es nicht täte, würden sie einen anderen zum Häuptling ernennen und es selbst tun.« »Dann wirst du einen Toten ausliefern, Fahni.« »Freund«, sagte der alte Häuptling mit leiser Stimme, »die Nacht ist dunkel, und der Wald nicht weit entfernt. Außerdem habe ich keine Wachen am anderen Flußufer aufgestellt, und Jeekie vergißt nie einen Weg, den er einmal gegangen ist. Schließlich habe ich gerade eben sagen hören, daß ein paar ande re Weiße und Soldaten am Waldrand lagern. Wenn du am Morgen nicht mehr hier bist, wie kann ich dich dann ausliefern?« »Ich verstehe, Fahni. Du hast für mich getan, was du tun konntest, und nun, gute Nacht. Jeekie und ich werden einen Spaziergang machen. Du wirst manchmal an die Monate denken, die wir zusammen in der Bonsa-Stadt verbracht haben, nicht wahr?« »Ja, und auch an dich, weißer Mann, so lange ich lebe. Geh schnell und weit, denn die Asiki sind gute Spurensucher! Gute Nacht, Freund, und dir, Jeekie der Gerissene, auch gute Nacht. Ich gehe jetzt, um meinen Leuten zu sagen, daß ich euch beim Morgen grauen ausliefern werde.« Ohne ein weiteres Wort entschwand er ihren Blicken und aus ihrem Leben. Währenddessen war Jeekie, der Thema und Aus
gang dieses Gesprächs erahnt hatte, bereits damit be schäftigt, ihre geringe Habe zusammenzupacken, ein schließlich der Goldreifen, etwas Nahrung und eines Eingeborenen-Kochtopfes, und alles in zwei Decken gewickelt, zu einem Bündel zu verschnüren. »Kommen Sie, Major!« sagte er, reichte Alan einen Speer und nahm selbst auch einen. »Der alte, dreckige Kannibale hat recht, es ist eine sehr schöne Nacht für einen Spaziergang. Kommen Sie, Major, der Fluß ist sehr flach hier. Ich dachte, daß es so kommt, und ha be es schon probiert, bevor es dunkel wurde. Folgen Sie nur Jeekie, das ist alles, was Sie tun müssen – aber warten wir zwei Minuten, bis ich den Bonsa-Fluch auf Fanny und alle Ogula herabbeschworen habe, der sie eines Tages heimsuchen wird.« Jeekie vollführte eine perfekte Pantomime der Verwünschung, auf die Alan nicht achtete, da er mit anderen Dingen beschäftigt war. Sie ließen das Feuer vor ihrem Unterschlupf aus Ästen und Zweigen brennen, durchwateten den Fluß und stiegen am ge genüberliegenden Ufer an Land, ohne einem Men schen zu begegnen. Trotz der Dunkelheit schien Jee kie keinerlei Schwierigkeiten zu haben, den Weg zu finden, denn, wie Fahni sagte, ein Eingeborener ver gißt niemals einen Pfad, den er einmal gegangen ist. Die ganze Nacht hindurch gingen sie in ziemlich ra schem Tempo, und als der Morgen dämmerte, sahen sie den Waldrand vor sich. »Jeekie«, sagte Alan, »was meinte Fahni damit, als er etwas von Weißen sagte?« »Weiß nicht, Major; vielleicht hat er nur gelogen, damit Sie Hoffnung haben. Himmel! Was ist das?« Während er das sagte, erreichte ein entferntes Echo
ihre Ohren, das Echo eines Gewehrschusses. »Ich denke, Fahni hat doch nicht gelogen«, fuhr Jeekie fort, »das war ein Gewehrschuß, scharfer Knall, rauchloses Pulver – das muß ein Weißer sein. Aber ich frage mich, wie er hierherkommt? Doch das werden wir gleich erfahren. Kommen Sie weiter, Major!« Trotz ihrer Müdigkeit begannen sie zu laufen; die Aussicht, wieder einen Weißen zu sehen, verscheuchte ihre Erschöpfung. Nach einer halben Meile etwa ent deckten sie die Gestalt eines Mannes, der offensicht lich zwischen den Bäumen Wild beschlich, wie sie an seinen vorsichtigen Bewegungen erkannten. »Ein Weißer, Major!« sagte Jeekie, und Alan nickte. Sie gingen lautlos und vorsichtig weiter, da sie nicht wußten, was dieser weiße Wanderer vorhaben mochte, wobei sie einen dicken Baum zwischen sich und diesem Mann hielten, bis sie schließlich, nach dem sie um seinen Stamm herumgeschlichen waren, ihn plötzlich vor sich sahen, keine fünf Schritte weit entfernt. Trotz seines ungewohnten Tropenanzugs und des von der Sonne kupferfarbene verbrannten Gesichts erkannte Alan ihn auf den ersten Blick. »Aylward!« keuchte er. »Aylward! Sie hier?« Der Mann fuhr zusammen. Er starrte Alan an. Dann veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts. Seine beherrschte Ruhe zerbrach, wie es in Momenten tiefer Gefühlsbewegung bei ihm häufig der Fall war. Es wurde absolut bösartig, als ob ein Dämon des Hasses und der Eifersucht hinter ihm wüteten. Die dünnen Lippen zitterten, die Augen stierten, und oh ne ein Wort oder eine Warnung riß er sein Gewehr an die Schulter und feuerte auf Alan. Die Kugel verfehlte ihn, da er zu hoch gehalten hatte. Sie fuhr über Alans
Kopf hinweg und zog eine gerade Furche durchs Haar Jeekies, der direkt hinter ihm stand. Im nächsten Moment sprang Jeekie ihn an wie ein Löwe. Die Wucht des Sprunges riß Aylward rück lings zu Boden, und dort lag er, von Jeekies Gewicht festgehalten. »Warum tun Sie das?« rief der empörte Jeekie. »Warum schießen Sie einem ehrenwerten Nigger in die Wolle, Sir Robert Aylward, Baronet? Jetzt erwür ge ich Sie, Sie dreckiges Wildschwein. Es gibt hier im Zwergenwald kein Gericht.« Damit begann er, seine Worte in die Tat umzusetzen. »Laß ihn los, Jeekie! Nimm sein Gewehr und laß ihn los!« sagte Alan, der bis dahin vor Verwunderung kein Glied hatte rühren können. »Es muß ein Irrtum sein; ich kann mir nicht vorstellen, daß er mich er morden wollte.« »Ich weiß nicht, was er wollte, aber seine Kugel ging durch mein Haar, Major; er hat mir glatt einen neuen Scheitel gezogen«, knurrte Jeekie, während er gehorchte. »Natürlich war es ein Irrtum, Vernon – Sie sind doch Vernon, nicht wahr?« sagte Aylward, als er sich erhob. »Ich kann verstehen, daß Ihr Diener wütend ist, doch Ihr plötzliches Auftauchen hat mich in Panik versetzt, und ich habe instinktiv geschossen. Wir le ben hier in äußerster Gefahr, und meine Nerven sind nicht mehr so gut wie früher.« »So so«, antwortete Alan. »Nein, Jeekie wird Ihr Gewehr tragen, ja, und die Pistole auch, denn jede Unze Gewicht erschwert ja das Gehen in einem hei ßen Klima, und ich erinnere mich, daß Sie mit Feuer waffen schon immer recht leichtsinnig umgingen. So,
jetzt haben Sie es bequemer. Und nun: Wen meinen Sie mit ›wir‹?« »Ich meine Barbara und mich«, antwortete er lang sam. Alan starrte ihn an, und er zitterte am ganzen Kör per. »Barbara und Sie!« Sagte er schließlich. »Soll ich das so verstehen ...« »Besser, Sie verstehen nichts, Major«, unterbrach Jeekie. »Glauben Sie kein Wort, das diese Schweine hund sagt. Wenn die Miss ihn geheiratet hätte, würde er Sie nicht erschießen wollen; er würde Sie zum Tee bitten, damit Sie seine Frau sehen und wie sehr sie ihn liebt. Jetzt gehen wir weiter und besuchen Miss Barbara und hören, was los ist. Sie gehen voraus, Sir Robert Aylward, Baronet, und zeigen Sie uns den Weg!« »Ich habe nicht vor, Sie und Ihren impertinenten Diener in meinem Lager zu empfangen«, sagte Ayl ward zähneknirschend. »Dafür haben wir volles Verständnis, Sir Robert Aylward ...« »Lord Aylward, wenn ich bitten darf, Major Ver non.« »Ich bitte um Verzeihung – Lord Aylward. Ich habe von dem beabsichtigten Kauf dieses Titels gewußt; mir war jedoch nicht bekannt, daß er vollzogen wur de. Ich wollte gerade hinzufügen, daß wir dennoch zu Ihrem Lager gehen werden, und Sie sich, falls man uns bei der Annäherung Feindseligkeit zeigen sollte, daran erinnern, daß Sie in unserer Hand sind.« »Ja, edler Lord«, setzte Jeekie mit einer Verbeugung hinzu, »und daß Affen nichts ausplaudern, Lord, und
daß hier keine zwölf ehrenwerte Gentlemen über der Leiche eines unglücklich Verstorbenen sitzen und das Urteil vom Coroner reinbringen und sagen, ob der Tod rechtmäßig oder unrechtmäßig war, wie die Be weise zeigen, wenn man welche hat, guter Lord. Also weiter! Wir haben noch nicht gefrühstückt. Nein, nicht da lang, hier nach links, wo ich glaube, einen Kessel singen zu hören.« Da Aylward nichts anderes übrig blieb, ging er weiter und marschierte zwischen den beiden, ohne ein Wort zu sagen. Als sie einige hundert Yards ge gangen waren, hörte Alan ebenfalls etwas, und es klang, als ob ein Mensch vor Schmerzen schrie. Nachdem sie einige riesige Bäume umgangen hatten, erreichten sie eine Lichtung mit einer Quelle, an die Alan sich erinnerte. Auf dieser Lichtung war das La ger angelegt, das von einer Boma, einer Palisade aus rohem Holz, umgeben war, und aus zwei Zelten und mehrere Eingeborenen-Hütten aus Ästen und Gras bestand. Außerhalb dieses Lagers bot sich ihnen ein seltsamer und sehr unschöner Anblick. An einen dünnen Baum war ein Mann gefesselt, den Alan aufgrund seiner Haartracht als Angehöri gen eines Stammes an der Küste erkannte, während zwei kräftige Burschen, offensichtlich von einem an deren Stamm, ihn erbarmungslos mit Lederpeitschen schlugen. »Ah!« rief Jeekie, »das also ist der Kessel, den ich singen hörte. Ich denke, wir sollten ihn lieber vom Feuer nehmen, mein gnadenvoller Lord, oder er kocht über in eine bessere Welt. Außerdem scheinen seine Brüder diese Musik nicht zu mögen.« Er deutete auf eine Anzahl weiterer Männer, die herumstanden
und die Szene mit finsteren Blicken beobachteten. »Eine Frage der Lagerdisziplin«, murmelte Ayl ward. »Dieser Mann hat sich meinen Befehlen wider setzt.« Jeekie schrie den beiden Eingeborenen etwas in ei ner Alan unbekannten Sprache zu, die sie jedoch zu verstehen schienen. Jedenfalls hörte das Auspeitschen auf, und die beiden Burschen schlichen davon, wäh rend die anderen Männer auf Alan zugelaufen ka men. »In Ordnung, Major«, rief Jeekie mit fröhlicher Stimme. »Sie bleiben bitte einen Moment hier bei dem hohen Lord, ehemals Baronet, von der blutigen Hand. Ein paar von diesen Niggern sind Freunde von mir; ich traf sie in Alt-Calabar, als wir zur letzten Regen zeit losmarschierten. Jetzt halte ich ein kleines Palaver mit ihnen, weil ich ein paar Dinge rausfinden möch te.« Aylward plusterte sich auf und sagte etwas von Einmischung in seine Angelegenheiten und so weiter. Jeekie wandte sich ihm zu, mit einem sehr häßlichen Grinsen, das alle seine weißen Zähne zeigte, wie es seine Gewohnheit war, wenn er wütend wurde. »Bitte um Verzeihung, ehrenwerter Lord«, sagte er, oder schnarrte er vielmehr. »Sie tun, was Jeekie sagt, nur um ihm eine Freude zu machen. Jeekie ist zwar ein Niemand in England, aber hier ist Jeekie auch ein verdammt großer Lord, ein berühmter Medizinmann und ein Busenfreund von der Kleinen Bonsa. Sie er innern sich an die Kleine Bonsa, eh? Diese Leute den ken, es ist eine große Ehre, Jeekie zu treffen, also, Major, wenn die edle Lordschaft sich regt, schießen Sie ihn durch den Kopf, bitte; Jeekie ist dafür verant
wortlich, nicht Sie. Oder wenn Sie es nicht selbst tun wollen, komme ich zurück und mache es selbst, und ich glaube nicht, daß diese Leute viel weinen wer den.« Es war etwas in Jeekies Art, das Aylward mit Furcht erfüllte. Er begriff zum ersten Mal, daß sich unter all der grotesken Redeweise des Negers ein un erschütterlicher, eiserner Wille verbarg, wie Mut un ter seiner gespielten Feigheit, und unter seiner Tün che von Selbstsucht Treue. Jedenfalls blieb er bei Alan, der neben ihm stand, in der Hand den Revol ver, den Jeekie Aylward abgenommen hatte. Jeekie, der das inzwischen neu geladene Gewehr bei sich hatte, ging zu den Eingeborenen, die etwa zwanzig Yards entfernt standen. »Wir haben einander nie gemocht, Vernon«, sagte Aylward, »aber ich hätte nie geglaubt, daß der Tag kommen würde, an dem Sie mich in meinem eigenen Lager ermorden wollen.« »Seltsam«, antwortete Alan, »doch mir ging gerade ein sehr ähnlicher Gedanke durch den Kopf. Ich hätte nie geglaubt, Lord Aylward – so skrupellos Sie auch in finanziellen Dingen sein mögen –, daß der Tag kommen sollte, wo Sie versuchen würden, einen un bewaffneten Mann in der afrikanischen Wildnis nie derzuschießen. Oh! Vergeuden Sie nicht Ihren Atem für Lügen; ich habe gesehen, wie Sie mich erkannten, zielten und feuerten, um anschließend Jeekie mit dem anderen Laufe zu erledigen, und wer wäre dann da gewesen, um darüber zu reden, Lord Aylward?« Aylward antwortete nicht, doch Alan spürte: wenn Wünsche töten könnten, würde er nicht viel länger leben. Sein Blick fiel auf einen länglichen, frischen
Erdhügel unter einem Baum. Er kalkulierte seine Länge und stellte mit entsetztem Schaudern fest, daß er zu klein war für einen ausgewachsenen Neger. »Wer ist dort begraben?« fragte er. »Sehen Sie doch selbst nach«, antwortete Aylward mit einem hämischen Grinsen. »Keine Sorge, Lord Aylward; ich werde alles zu seiner Zeit herausfinden.« Das Gespräch zwischen Jeekie und den Eingebore nen dauerte an; sie steckten die Köpfe zusammen, und ihre Stimmen klangen freudig erregt. Sie schie nen zu irgendeiner Entscheidung zu kommen. Einer von ihnen lief zu dem Mann, der an den Baum ge bunden war, und zerschnitt seine Fesseln; er trat taumelnd zu den anderen und deutete auf seine Wunden. Kurz darauf kamen die beiden, die ihn aus gepeitscht hatten, in Begleitung von acht anderen Männern des gleichen Typs – es schienen Soldaten zu sein, denn sie trugen Gewehre – in überheblicher Haltung auf die Gruppe von Eingeborenen zu, mit der Jeekie sprach. Sie bestand aus dreiundzwanzig Mann. Jeekie schlug den anderen etwas vor, was die se nach kurzem Zögern zu akzeptieren schienen, denn sie nickten und traten ein wenig auseinander. Jeekie trat vor und stellte den Bewaffneten eine Frage, die sie mit verächtlichen Schreien erwiderten. Dann hob er, ohne ein Wort der Warnung, Aylwards Expreß-Gewehr, feuerte erst den einen Lauf ab, und dann den anderen, und erschoß die beiden an der Spitze gehenden Männer. Die anderen blieben er schrocken stehen, doch bevor sie ihre Gewehre in An schlag bringen konnten, fielen Jeekie und die anderen über sie her, stachen mit Speeren auf sie ein und hie
ben mit Knüppeln. Drei Minuten später war alles vorbei, ohne daß noch ein Schuß abgefeuert worden wäre. Einige von ihnen waren getötet worden, die anderen hatten ihre Gewehre weggeworfen und wa ren verwundet in den Wald geflüchtet. Unter lauten Jubelschreien begannen nun einige der Männer, die Toten fortzuschleifen, während an dere die Gewehre einsammelten. Ein paar von ihnen, angeführt von Jeekie, kamen auf Alan und Aylward zu und schwenkten ihre blutbesudelten Speere. Alan starrte ihnen schweigend entgegen, da er nicht im ge ringsten begriff, worum es bei diesem Vorkommnis ging, doch Aylward, der sehr bleich geworden war, wandte sich Jeekie zu und sagte: »Ich vermute, daß du gekommen bist, um auch mich zu ermorden, du schwarzer Schurke.« »Aber nein, erhabenster Lord«, antwortete Jeekie höflich, »nicht jetzt. Außerdem ist das ein falsches Wort; exekutieren muß es heißen, nicht ermorden, genau das, was Sie mit ein paar von diesen armen Teufeln gemacht haben.« Er deutete auf die Träger. »Außerdem darf ich keinen heiligen weißen Mann töten. Die schwarzen Burschen sind nicht wichtig, davon gibt es viele. Ich denke, wir sollten jetzt alle Miss Barbara besuchen. Sie kommen auch mit, My lord, doch ist es vielleicht besser, wenn wir Ihnen erst die Hände auf den Rücken binden; wenn Sie sich am Kopf kratzen wollen, tue ich es gern für Sie. Das ist nur gerecht, denn Sie haben mir heute morgen den Kopf gekratzt.« Einige der Eingeborenen fielen auf ein Wort von Jeekie über Aylward her und fesselten ihm die Hände auf den Rücken.
»Ist Miss Barbara am Leben?« fragte Alan Jeekie mit einem ängstlichen Flüstern und deutete dabei mit einem Kopfnicken auf das Grab, das so unheilver kündend kurz war. »Hoffe ich, denke ich, diese Burschen sagen so, aber Gott allein weiß«, antwortete Jeekie. »Gehen wir und sehen nach, das ist die beste Art, es herauszufin den.« Sie traten durch einen schmalen Torweg, der durch einen V-förmig gebogenen Baumast gebildet wurde, in das Lager und gingen zu der Stelle, an der hinter einer zweiten Abzäunung die beiden Zelte standen. Eins dieser Zelte stand offen, während das zweite ge schlossen war. Da das offene Zelt leer war, wie sie er kannten, gingen sie zu dem zweiten, und Jeekie löste die Verschnürung der Klappe. Es war ein mühseliges Geschäft, da sie sehr sorgfältig von ihnen verknotet zu sein schien. Schließlich verlor Jeekie die Geduld und zerschnitt die Schnüre mit dem gekrümmten Messer, mit dem der Mungana versucht hatte, Alan zu töten. Alan durchlitt Höllenqualen, da er überzeugt war, daß Barbara nicht mehr lebte und in dem frischen Grab unter den Bäumen lag. Er konnte nicht spre chen, er konnte sich kaum auf den Beinen halten, und doch begann sich in seinem benommenen Gehirn ein Bild abzuzeichnen. Er sah sich in dem dunklen Schatzhaus in der Bonsa-Stadt sitzen; er sah eine Vi sion vor sich in der Luft. Siehe! Die Zeltklappe öffnete sich, und jene Vision erschien wieder vor ihm. Dort saß die Barbara weinend auf dem Bett. Wieder sprang sie auf, als er hineintrat, ergriff den neben ihr
liegenden Revolver und richtete seine Mündung auf ihre Brust. Dann erkannte sie Alan, und der Revolver sank herab, bis er ihrer kraftlosen Hand entglitt und zu Boden fiel. Sie warf die Arme empor und sank lautlos zusammen, und sie wäre zu Boden gestürzt, wenn Alan sie nicht aufgefangen hätte.
19
Zwei Eulen
Barbara hatte sich erholt. Sie saß auf ihrem Bett in dem Zelt, und neben ihr saß Alan und hielt ihre Hand, während vor ihnen Aylward stand, wie ein Gefangener vor seinen Richtern, und hinter ihm der bewaffnete Jeekie. »Erzähl mir, was geschehen ist, Barbara«, sagte Alan, »und so knapp wie möglich, da ich nicht mehr viel davon ertragen kann.« Sie blickte ihn an und begann mit langsamer, ruhi ger Stimme zu sprechen. »Nachdem du fortgegangen warst, Liebster«, sagte sie, »gingen die Dinge ein paar Monate lang ihren normalen Gang. Dann kam der große Zusammen bruch der Sahara-Company. Als erstes gab es Ge rüchte, und die Aktien begannen zu fallen. Mein On kel kaufte sie zu zehn- und hunderttausend Stück auf, um den Kurs zu halten. Natürlich wußte er nicht, daß Lord Aylward – ich vergaß, dir zu sagen, daß er es inzwischen auf irgendeine Weise zum Lord ge bracht hat – einer der größten Verkäufer war; er soll es bestreiten, wenn er das kann. Schließlich ließ die Regierung des Ottomanischen Reiches durch den englischen Botschafter ein Dementi der Konzession veröffentlichen, die eine Fälschung zu sein schien, die mein Onkel in Konstantinopel hatte anfertigen lassen oder gekauft hatte. Es gab einen entsetzlichen Skan dal. Mein Onkel sollte unter Anklage gestellt werden, doch bevor es dazu kam, starb er plötzlich an Herz
schwäche. Ich war bei ihm, als er starb, und er sagte immer wieder, er sähe jene Goldmaske, die Jeekie Bonsa nennt, und die du nach Afrika mitnahmst. Er bekam ein ehrenvolles Begräbnis, denn das, was er getan hatte, war nicht bekannt geworden, und als sein Testament eröffnet wurde, stellte ich fest, daß er seinen Besitz mir hinterlassen hatte, dieser jedoch von Lord Aylward treuhänderisch verwaltet werden sollte, bis ich fünfundzwanzig Jahre und damit voll handlungsfähig werden würde, wie es das Testament meines Vaters bestimmt. Alan, zwinge mich nicht, dir zu erzählen, was für eine Art Vormund er für mich war; außerdem gab es kein Vermögen mehr, es war alles verschwunden; und auch ich hatte nur noch we nig Geld, denn auch mein Vermögen war zum größ ten Teil verschwunden. In seiner Verzweiflung hatte mein Onkel Papiere gefälscht, um an mein Erbe her ankommen zu können, damit er die Aktien des Saha ra Syndikats stützen konnte. Doch gelang es mir auf grund der verbliebenen fünftausend Pfund – dies war eine von dem übrigen Vermögen unabhängige Sum me, an die er nicht herankommen konnte – etwa zweitausend von jenem kleinen Rechtsanwalt zu bor gen, und, Alan, ich habe es dazu verwendet, herzu kommen, um dich zu suchen. Lord Aylward folgte mir; obwohl alle anderen rui niert sind, blieb er reich, sehr, sehr reich sogar, wie man sagt, und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten; außerdem glaube ich, daß es für ihn in England etwas ungemütlich geworden war. Es ist eine lange Geschichte, doch bin ich schließlich hierher gekommen, mit fünfundzwanzig Trägern und Snell, meiner Zofe, an die du dich erinnern wirst. Dann er
krankten wir beide an einem schrecklichen Fieber, und wenn nicht diese guten Schwarzen gewesen wä ren, ich würde nicht mehr leben, denn ich war auf den Tod krank, Alan. Doch sie pflegten mich, und ich wurde wieder gesund. Es war die arme Snell, die starb, vor ein paar Tagen haben sie sie begraben. Ich dachte, daß sie auch durchkommen würde, doch sie bekam einen Rückfall. Als nächstes erschien Lord Aylward, mit zwölf Soldaten und ein paar Trägern, die, wie ich glaube, inzwischen weggelaufen sind – oh! Was dann geschah, kannst du dir vorstellen. Er wollte, daß meine Leute mich fortbrächten, an die Küste, vermute ich, doch sie hielten treu zu mir und weigerten sich. Dann setzte er seine Soldaten dafür ein, sie zu mißhandeln. Sie haben mehrere von ihnen erschossen und andere bei jeder Gelegenheit ausge peitscht; gerade vorhin haben sie wieder einen von ihnen geprügelt, ich habe es gehört. Schließlich ließen die armen Männer mich wissen, daß sie es nicht län ger ertragen könnten und tun müßten, was er von ih nen verlangte. Deshalb, Alan, da ich völlig hoffnungs- und hilflos war, beschloß ich, mich zu töten, in der Hoffnung, daß Gott mir vergeben und ich dich irgendwo wie derfinden würde, vielleicht nachdem ich eine Weile geschlafen hatte, denn es war besser zu sterben, als in der Gewalt dieses Mannes zu sein. Ich dachte vorhin, daß er jetzt käme, um mich zu holen und wollte ein Ende machen, doch du warst es, Alan, du, und gera de zur rechten Zeit. Das ist die ganze Geschichte, und ich hoffe, du wirst nicht sagen, daß ich sehr töricht gehandelt habe, doch ich tat es zu unserem besten. Wenn du nur wüßtest, was ich erlitten habe, Alan,
was ich auf die eine oder die andere Weise durchma chen mußte, würdest du mich nicht zu hart verurtei len, dessen bin ich sicher; außerdem träumte ich im mer wieder, daß du in Schwierigkeiten seist und wolltest, daß ich zu dir käme, und natürlich wußte ich, wo du warst und hatte jene Karte. Schick ihn fort, Alan, denn ich bin noch immer ziemlich schwach und kann den Anblick seines Gesichts nicht ertragen. Wenn du alles wüßtest, würdest du das verstehen.« Alan wandte sich an Aylward und fragte ihn mit kalter, ruhiger Stimme, was er zu dieser Geschichte zu sagen habe. »Ich habe dazu zu sagen, Major Vernon, daß es ei ne raffinierte Mischung von Wahrheit und Lüge ist. Es trifft zu, daß Ihr Cousin, Champers-Haswell, nachweislich mehrere schandbare Untaten begangen hat. Zum Beispiel hat er jene Zusicherung des Sultans gefälscht, oder vielmehr fälschen lassen, was ich je doch nicht wußte, bevor es öffentlich zur Fälschung erklärt wurde. Es stimmt auch, daß er aus Angst vor einer Enthüllung völlig den Kopf verlor und nicht nur sein eigenes großes Vermögen aufbrauchte, um die Sahara-Aktien zu stützen, sondern auch das von Miss Champers. Ich gebe fernerhin zu, daß ich viele hunderttausend jener Aktien auf dem üblichen Weg verkauft habe, da ich beschlossen hatte, mich ganz aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen, als ich zum Peer erhoben wurde. Ich gebe ebenfalls zu, was Sie bereits früher wußten, daß ich Miss Champers vereh re und sie heiraten wollte. Warum auch nicht, beson ders, da ich einer Lady, die, wie sich herausstellte, fast kein Vermögen besitzt, eine Menge zu bieten ha be?
Was alles andere betrifft, so brach sie heimlich zu dieser irrsinnigen Reise nach Afrika auf, wohin ich zu folgen mir sowohl meine Pflicht als ihr Vormund, als auch meine Zuneigung geboten. Ich fand sie hier von einer Krankheit genesend vor, und da sie dieses Thema erwähnte, muß ich Ihnen zu meiner Rechtfer tigung erklären, daß alles, was zwischen uns gesche hen ist, mit ihrem vollen Einverständnis und ihrer Ermunterung geschah. Natürlich meine ich damit nur jene Zärtlichkeiten, wie sie üblich sind zwischen zwei Menschen, die die Absicht haben zu heiraten, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet.« Bei dieser Erklärung fuhr die arme Barbara zu sammen und lehnte sich gegen das Kissen. Alan stand schweigend, doch seine Lippen waren bleich, während Jeekie seinen großen Kopf durch die Ein gangsöffnung des Zeltes steckte und zum Himmel emporstarrte. »Was suchst du dort draußen, Jeekie?« sagte Alan irritiert. »Ich brauche frische Luft, Major, und will außer dem sehen, ob die Wolken herunterfallen. Ich glaube, besonders dicke Lügen führen manchmal dazu. Bitte, reden Sie weiter, Lord der Lords, denn Jeekie will frühstücken.« »Was die Exekution von zweien von Miss Cham pers' Trägern angeht, und die Bestrafung einiger an derer, so wurden diese notwendigen Maßnahmen vollzogen, weil die Gefahr einer Meuterei bestand«, fuhr Aylward fort. »Es war dringend geraten, Miss Champers zur Küste zurückzubringen, doch ich fand heraus, daß ihre Leute sie gemeinsam im Stich lassen wollten und auch meine Diener aufstachelten, des
halb sah ich mich gezwungen, scharf durchzugrei fen.« »Bestimmt kommen die Wolken jetzt herunter«, murmelte Jeekie, »oder mindestens passiert sonst et was.« »Ich habe nur noch hinzuzusetzen, Major Vernon, daß ich, falls Sie mich nicht vorher beseitigen sollten, was Sie sicher tun werden, sofort nach Rückkehr in die Zivilisation Sie und diesen Burschen wegen der kaltblütigen Ermordung meiner Männer unter An klage stellen lassen werde, und hoffe, Sie dafür hän gen zu sehen. Inzwischen aber habe ich das Vergnü gen, meine Verlobung mit Miss Champers zu lösen, die sie, was immer Sie Ihnen in England gesagt haben mag, in Afrika mit Freuden eingegangen ist, da hier, wie ich gehört habe, das Klima häufig den morali schen Charakter unterhöhlt.« »Hört, hört!« rief Jeekie, »endlich sagt er Wahrheit; rein zufällig, denke ich, wie ein Schwein, das eine Perle im Dreckhaufen findet.« »Halt den Mund, Jeekie!« sagte Alan. »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten, Lord Aylward, oder Ihnen irgend etwas anzutun ...« »Ich auch nicht«, unterbrach Jeekie, »alles, was ich tue, Mylord, ist nur zu Mylords Bestem; wer ist denn Jeekie, daß er einem edlen britischen Aristokraten et was antut?« »Aber ich werde verhindern, daß Miss Champers sich noch mehr von Ihren Beleidigungen anhören muß«, fuhr Alan fort, »und dafür sorgen, daß Ihr Gewehr nicht noch einmal losgeht, wie es heute mor gen geschah. Also, Lord Aylward, bis wir entschieden haben, was wir tun werden, nehme ich Sie in Arrest.
Bring ihn zu seinem Zelt, Jeekie, und stell ihn unter Bewachung!« »Jawohl, Major, gewiß, Major. Rechts um, marsch! Mylord, und ein bißchen dalli wenn ich bitten darf, weil der arme, ungeadelte Jeekie sich nicht die schwarzen Finger schmutzig machen will, wenn er Sie anfaßt.« Aylward gehorchte, doch bevor er aus dem Zelt trat, wandte er sich um und starrte Alan mit unver hohlenem Haß an. »Das Glück ist im Moment auf Ihrer Seite, Major Vernon«, sagte er, »doch wenn Sie klug sind, werden Sie sich erinnern, daß Sie mir nie gewachsen waren und es auch nie sein werden. Ich bin sicher, daß das Glück sich wenden wird, und dann gnade Ihnen Gott, denn lassen Sie sich gesagt sein, daß ich ein bösartiger Feind bin!« Alan antwortete nicht, doch zum ersten Mal sprang Barbara auf und sprach. »Sie meinen, daß Sie ein bösartiger Mensch sind, Lord Aylward, und auch ein Feigling, denn sonst hätten Sie mich nicht so grausam gequält, wie Sie es getan haben. Als es mir unmöglich war, Ihnen zu entkommen, bis auf die eine Art, wurde ich auf eine andere gerettet, von der ich nie zu träumen gewagt hätte. Jetzt sage ich Ihnen, daß ich Sie nicht mehr fürchte. Doch ich glaube«, setzte sie langsam hinzu, »daß Sie gut daran täten, für sich selbst zu fürchten. Ich weiß nicht, woher dieser Gedanke kommt, aber ich sehe in meinem Bewußtsein daß Sie, wenngleich weder Alan noch ich einen Finger gegen Sie rühren werden, sich vor vielem zu fürchten haben. Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen sagte, als Sie wütend
wurden, weil ich mich weigerte, Sie zu heiraten. Ich glaube, daß sich das alles verwirklichen wird, Lord Aylward.« Dann wandte Barbara ihm den Rücken zu, und das war das letzte Mal, daß sowohl sie als auch Alan sein Gesicht sahen. Er war fort, und Barbara, den Kopf an die Schulter ihres Geliebten gelehnt, ihre sanften Augen mit Trä nen des Glücks und der Dankbarkeit gefüllt, begann ihm alles zu berichten, was ihr geschehen war, als sie plötzlich ein lautes Husten vor dem Zelt hörten. »Das ist dieser verwünschte Jeekie«, sagte Alan und rief ihm zu, hereinzukommen. »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte er verär gert. »Frühstück, Major. Seine Lordschaft hat eine Men ge guter Sachen. Habe etwas von ihm geborgt und ihm eine Quittung gegeben. Kommt in einer Minute: heißer Kaffee, Räucherhering, gebratener Schinken speck, und auch Butter – beste dänische – und Bath Oliver Bisquits.« »Sehr gut, Jeekie«, sagte Alan, doch Jeekie rührte sich nicht. »Sehr gut, Jeekie«, wiederholte Alan. »Nein, Major, nicht sehr gut, sonder sehr schlecht. Ich wußte doch, daß diese Lügen die Wolken herun terbringen werden.« »Was meinst du damit, Jeekie?« »Ich meine, Major, daß die Asiki ums Lager herum schnüffeln. Ein Träger, der Wasser holen ging, hat welche gesehen. Er glaubt auch, daß sie den Rest die ser Soldaten erwischt und erledigt haben, weil man Schreie gehört hat.«
Alan sprang mit einem erregten Ausruf auf. In sei nem wiedergefundenen Glück hatte er die Asiki völ lig vergessen. »Nicht den Kopf verlieren, Major!« sagte Jeekie fröhlich. »Ich glaube nicht, daß sie jetzt angreifen. Wir haben noch reichlich Zeit für das Frühstück. Wenn sie kommen, heizen wir ihnen ordentlich ein, jetzt haben wir viele Gewehre und Patronen.« »Können wir nicht fliehen?« fragte Barbara. »Nein, Miss, wir können nicht weglaufen; wir müs sen hierbleiben und hoffen, daß es gut geht. Aber das Lager ist fest gebaut, ringsherum offen. Ich glaube nicht, daß sie es nehmen können. Überlassen Sie alles Jeekie, er holt Sie raus, aber vielleicht wollen Sie lie ber draußen frühstücken, wo Sie alles sehen, was pas siert.« Barbara war es wirklich lieber, doch wurde es ih nen vergönnt, in Ruhe zu essen, da kein Asiki auf tauchte. Sobald sie ihr Mahl beendet hatten, kehrte Barbar in ihr Zelt zurück, während Alan und Jeekie sich daran machten, die Verteidigungsanlagen des kleinen Lagers zu verstärken, soweit ihnen das mög lich war, und Waffen und Munition auszugeben. Gegen Mittag meldete ein Mann, den sie in der Krone eines Baums postiert hatte, der innerhalb des Lagers stand, daß der Feind anrücke, und kurz dar auf stürmte eine Horde von Asikis über die offene Lichtung auf das Lager zu, begrüßt von einer Salve, die mehrere Männer tötete oder verwundete. Diese Demonstration geheimnisvoller Macht – denn keiner dieser Krieger hatte jemals das Krachen von Feuer waffen gehört, noch ihre Wirkung gesehen – veran laßte sie, sich eilig zurückzuziehen, wobei sie Schreie
der Enttäuschung ausstießen und ihre Toten und Verwundeten mit sich nahmen. »Glaubst du, daß sie genug haben, Jeekie?« fragte Alan besorgt. Jeekie schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht, Ma jor. Ich denke, sie haben jetzt Angst vor unserem Ku gelzauber und konsultieren ihre Priester. Außerdem war nur ein kleiner Teil von ihnen hier. Der Rest kommt später und greift morgen früh vor der Däm merung an. Das ist Brauch bei den Asiki.« »Was sollen wir dann tun, Jeekie? Weglaufen oder hierbleiben?« »Ich denke, wir müssen hierbleiben, Major. Wenn wir türmen, müssen wir Miss Barbara tragen, weil sie nicht viel laufen kann, und die Asiki folgen der Spur und erwischen uns. Besser ist es, auf der Innenseite von diesem Zaun zu bleiben und abzuwarten, was passiert. Außerdem, wenn wir draußen sind, laufen die Träger vielleicht weg und lassen uns sitzen.« Da sie nichts anderes tun konnten, blieben sie und arbeiteten den ganzen Tag über an einer Verstärkung der Umzäunung, bis die Boma aus Ästen und Dor nengestrüpp und aufgeschütteter Erde, so hoch und stark war, daß sie durch die Lücken feuern konnten, es jedoch für Männer, die nur mit Speeren bewaffnet waren, sehr schwierig sein würde, sie zu erstürmen. Es war ein schwerer und bedrückender Tag für Alan, der nun auch an Barbaras Sicherheit denken mußte, und die Arbeit ließ ihm keine Zeit, sich Barba ra selbst zu widmen. Bei Sonnenuntergang war er so erschöpft, daß er sich kaum noch auf den Beinen hal ten konnte. Jeekie, der den ganzen Nachmittag über ungewöhnlich still und nachdenklich gewesen war,
musterte ihn kritisch und sagte dann: »Nehmen Sie einen kräftigen Schluck Whisky und schlafen Sie etwas, Major. Es ist hier eine hübsche kleine Hütte neben dem Zelt von Miss Barbara, da können Sie ihre Hand halten, wenn Sie wollen, wenn Sie Ihre Hand unter der Zeltleinwand durchstrecken, was doch sehr schön ist, und doch völlig korrekt. Jee kie wird niemals müde. Er hält scharfen Ausguck und sagt Ihnen Bescheid, wenn was passiert, und dann springen Sie ganz frisch auf und kämpfen wie ein Kater, der in die Ecke gedrängt ist.« Anfangs wollte Alan nichts davon wissen, doch als Barbara sich mit ihren Bitten denen Jeekies anschloß, gab er nach, nahm den Whisky, den Jeekie ihm be reits eingegossen hatte, in seine Hütte, und schlief zehn Minuten später so fest, wie er nie zuvor in sei nem Leben geschlafen hatte. »Halten Sie ein Auge auf ihn, Miss Barbara, und ru fen Sie mich, wenn er erwacht. Ich bringe jetzt dem edlen Lord der Lords sein Abendessen und sehe nach, ob er es gemütlich hat. Jeekie hat viel zu tun heute abend, wie damals, als der Major in Yarleys die Dinner-Party gab und die alte Köchin sich in Küche betrank.« Wenn Barbara Jeekie während der nächsten Stun den beobachtet hätte, hätte sie zugeben müssen, daß er sehr beschäftigt war. Als erstes ging er zu Ayl wards Zelt, wie er es angekündigt hatte, brachte ihm das Abendessen und eine halbgefüllte Flasche Whis ky aus dessen Beständen, die er nie aus den Augen gelassen hatte, damit sich die Träger nicht darüber hermachten, wie er sagte. Aylward aß jedoch nur we nig, da seine Arme an den Zeltpfosten gefesselt wa
ren und Jeekie sich neben ihn setzte und ihn wie ein Kind fütterte, wobei er ihn auf das freundlichste un terhielt, indem er ihm, unter anderem, erklärte, daß er gut daran täte, ein ›Großes Gebet‹ zu sprechen, da die Asiki ihm möglicherweise vor dem Morgen die Kehle durchschneiden würden. Aylward, der sich in einem Zustand dumpfer Wut befand, antwortete ihm kaum und sagte auf die letzte Feststellung lediglich, das Tröstliche daran sei, daß sie dann Jeekie und seinem Herrn ebenfalls die Kehle durchschneiden würden. »Ja, Lord«, antwortete Jeekie, »das ist absolut wahr, also trinken Sie auf unser nächstes Treffen, obwohl ich glaube, daß Sie an einen anderen Ort gehen als ich, und wenn Sie einen Schwanz haben und ich Flü gel, reden wir natürlich nicht mehr viel miteinander.« Er hielt einen Becher mit Whisky und Wasser – viel Whisky und wenig Wasser – an die Lippen des Ge fangenen. Aylward trank ihn leer, da er das Gefühl hatte, die se Anregung seiner Lebensgeister zu brauchen. »So«, sagte Jeekie und drehte den Becher um, »Sie haben jeden Tropfen getrunken und nicht einen dem armen, alten Jeekie angeboten. Aber macht nichts, Jeekie ist jetzt Antialkoholiker. Gute Nacht, großer Lord, ich rufe Sie, wenn die Asiki kommen.« »Wer sind die Asiki?« fragte Aylward müde. »Oh! Das wollen Sie wissen? Ich werde Ihnen da von erzählen.« Und er begann eine lange, umständli che Geschichte. Bevor er zu ihrem Ende kam, war Aylward zur Seite gesunken und fest eingeschlafen. »Herrje!« sagte Jeekie, während er ihn prüfend be
trachtete, »der Whisky war aber sehr stark, obwohl auf der Flasche steht, daß es der gleiche sei, wie ihn die Mitglieder des Unterhauses trinken. Dieser Whis ky ist so stark, denke ich, daß man den Rest lieber weggießen sollte.« Und das tat er auch, bis zum letz ten Tropfen, und dann machte er sich sogar die Mü he, die Flasche mit Wasser auszuspülen. »Jetzt kannst du keinen mehr in Versuchung führen«, sagte er an die Flasche gewandt und sah sie mit einem sonderba ren Lächeln an, »und wenn du es doch versuchst, ist das ganz harmlos, wie ein Kuß durchs Telephon!« Er legte die Flasche behutsam neben Aylward und ver ließ das Zelt. Draußen wurde er von dreien der Träger, die Freun de von ihm waren, erwartet, und mit diesen Männern führte er ein leises und ernstes Gespräch. Nachdem sie zu irgendeiner Übereinkunft gekommen zu sein schienen, die durch einen feierlichen Schwur und seltsames Verschränken ihrer Hände und andere von westafrikanischen Geheimgesellschaften verwende ten Gesten bekräftigt wurde, machte Jeekie eine Run de durchs Lager, um zu kontrollieren, ob jeder auf seinem Posten war. Dann tat er etwas, das die mei sten Menschen für absolut irrsinnig und gefährlich gehalten hätten: er kletterte über die Boma und ver schwand zwischen den Bäumen des Waldes, aus dem man kurz darauf den dunklen Ruf einer Eule hörte. Etwas später antwortete eine zweite Eule aus der Ferne, und als die drei Träger diesen zweiten Ruf hörten, stießen sie einander zufrieden an. Vielleicht hatten sie solche Eulenrufe schon früher gehört, und vielleicht wußten sie, daß Jeekie, der ›Bonsa entkom men war‹, nur allein durch einen direkten Befehl Bon
sas zu Schaden kommen konnte, den der Gott durch den Mund der Asiki gab. Dennoch mochten sie an der nächtlichen Unterhaltung dieser beiden Eulen interessiert sein, die, wie bei diesen magischen Vö geln in Westafrika üblich, menschliche Gestalt ange nommen hatten, die Gestalt Jeekies und die Gestalt eines Asiki-Priesters, der zufälligerweise ein Bluts bruder Jeekies war. »Sehr gut, Bruder«, sagte Eule Nr. 1; »alles, was ihr verlangt, ist also dieser weiße Mann, den die Asika zum Ehemann haben will. Ich habe wirklich für ihn getan, was ich tun konnte, aber ich muß jetzt an mich und an die anderen denken, und ihn erwartet schließlich großes Glück. Ich habe ihm etwas gege ben, das ihn tief schlafen läßt; du wirst gleich mit acht Männern – nicht mehr, oder wir werden euch töten – zur Umzäunung des Lagers kommen, wo wir euch den weißen Mann Vernun, übergeben werden, damit ihr ihn zu der Asika zurückbringen könnt, die euch dafür eine wunderbare Belohnung geben wird, eine solche Belohnung, wie ihr sie euch niemals erträumen würdet. Nun laß mich deine Antwort hören.« Daraufhin antwortete Eule Nr. 2: »Bruder, ich gehe den Handel im Namen aller Krieger ein und be schwöre das bei dem Doppelten Schwimmenden Kopf Bonsas. Wir werden kommen und den weißen Mann Vernun, welcher der Mungana werden soll, mit uns nehmen und ihn fortbringen. Als Gegenleistung dafür versprechen wir, dir und den anderen Leuten des Lagers nicht zu folgen und niemandem zu nahe zu treten. Warum sollten wir das auch, die wir nicht den Wunsch haben, von der furchtbaren Magie getö tet zu werden, die ihr besitzt, einer Magie, die don
nert und unsere Körper aus der Ferne durchbohrt? Wie lauteten die Worte der Asika? ›Bringt Vernun zu rück oder sterbt. Alles andere ist mir egal. Bringt Vernun zurück, damit er mein Ehemann werde.‹« »Gut«, sagte Eule Nr. 1, »in einer halben Stunde wird Vernun für euch bereit sein.« »Gut«, antwortete Eule Nr. 2, »in einer halben Stunde werden acht von uns am östlichen Teil der Umzäunung bereit stehen, um ihn in Empfang zu nehmen.« »Lautlos?« »Lautlos, mein Bruder in Bonsa. Falls er schreien sollte, werden wir ihn knebeln. Fürchte nichts, nie mand wird von deiner Rolle bei dieser Angelegenheit erfahren.« »Gut, mein Bruder in Bonsa. Übrigens, wie geht es dem Großen Bonsa? Ich fürchte, daß der weiße Mann, Vernun, ihn schwer verletzt hat. Das ist nämlich der Grund dafür, daß ich ihn euch ausliefere: wegen sei nes Sakrilegs.« »Als ich die Stadt verließ, war der Gott sehr krank, und alle Menschen trauerten, doch zweifellos ist er unsterblich.« »Zweifellos ist er unsterblich, mein Bruder; er hat nur ein kleines hartes Stück Magie im Magen – falls er einen haben sollte – und das kann ihm nicht viel an haben. Lebe wohl, lieber Bruder in Bonsa, ich wünschte, an deiner Stelle zu sein, um die große Be lohnung zu empfangen, welche die Asika dir geben wird. Lebe wohl, lebe wohl!« Dann flogen die beiden Eulen in entgegengesetzter Richtung davon, bis jede von ihnen ihr Lager erreichte.
Jeekies hockte im Zelt und nahm an dem schlafenden Aylward beim Licht einer einzigen Kerze eine seltsa me Toilette vor. Aus seinem Umhängebeutel zog er die mit Gold überzogene Leinenmaske, die Alan zu tragen gezwungen worden war, und befestigte sie si cher vor Aylwards Gesicht, wobei er murmelte: »Sie haben immer das Gold geliebt, Mylord Aylward, und Jeekie verspricht Ihnen, Sie werden jetzt große Men gen davon sehen.« Dann machte er sich daran, seiner Lordschaft Jacke, Weste, Hose, Socken und Stiefel auszuziehen und diese europäischen Kleidungsstücke durch seine eigenen, durchgelaufenen Asiki-Sandalen und sein eigenes, stark verschmutztes Asiki-Gewand zu ersetzen. »So«, sagte er dann zufrieden, »denke, das reicht.« Er musterte ihn gründlich beim Licht der Kerze. »Sel be Größe, selbe Hautfarbe, selbe dreckige, alte Kla motten, und da die Asiki niemals das Gesicht des Majors sahen, weil er draußen immer eine Maske trug, sind sie gleich wie zwei Erbsen auf einem Löffel. Ja! Jeekie ist ein schlauer Bursche, Jeekie ist ein teuf lisch schlauer Bursche. Aber wenn die Asika ihm die Maske abnimmt, um ihm einen liebevollen Kuß zu geben – AU WEH! Ich frage mich, was dann passiert. Ich denke, die ganze Bonsa-Stadt explodiert; denke, der große Wasserfall wird rückwärts laufen; denke, der mächtige Lord findet sich in einer verdammt dummen Lage; denke, Jeekie kann froh sein, wenn er an der Küste ist; denke, Jeekie wird nie mehr nach der Bonsa-Stadt zurückkehren. Nein, bestimmt nicht! Er bleibt in England und geht sonntags zweimal in die Kirche.« Er preßte seine großen Hände auf den Bauch und bog sich in lautlosem Gelächter.
Dann schrie wieder eine Eule, unmittelbar außer halb der Umzäunung; Jeekie blies die Kerze aus, öff nete die Klappe des Zeltes und tippte dem Träger, der draußen stand, auf die Schulter. Der kroch hinein, und zu zweit hoben sie den bewußtlosen Aylward auf und trugen ihn zu dem V-förmigen Durchlaß der Boma, der sich direkt gegenüber dem Zelt befand und seltsamerweise halb offenstand. Hier hatten zufällig die beiden anderen Träger, mit denen Jeekie sich ab gesprochen hatte, Wache, während alle anderen in si cherer Entfernung aufgestellt waren. Jeekie und der Träger gingen durch die Öffnung wie Männer, die ei nen Leichnam zu einem mitternächtlichen Begräbnis bringen, und wenig später hörte man aus dem Dun kel zwei Eulen schreien. Nun wurde Aylward auf eine Bahre gelegt, die für ihn angefertigt worden war, und acht weißgekleidete Asiki-Träger starrten in dem matten Sternenlicht auf seine Goldmaske. »Ich hoffe, er ist nicht tot, Bruder«, sagte Eule Nr. 2 zweifelnd. »Nein, Bruder«, antwortete Eule Nr. 1, »fühle doch sein Herz und seinen Puls. Nicht tot, nur völlig be trunken. Er wird bei Tagesanbruch erwachen, und dann solltet ihr bereits ein gutes Stück von hier ent fernt sein. Seid gut und freundlich zu dem weißen Mann Vernun, welcher mein Herr war. Paßt aber auch auf, daß er euch nicht entkommt, denn, wie du weißt, ist er sehr kräftig und schlau. Sag der Asika, daß Jeekie, ihr Diener, sich vor ihr verneigt und hofft, sie wird viele, viele glückliche Jahre mit dem Ehe mann erleben, den Jeekie ihr schickt, und daß sie ihn, den sie, wie sie sich erinnern mag, den ›schwarzen
Hund‹ nannte, und dessen Gesicht sie oft schlug, in ihre Gebete an die Götter und Geister unseres Volkes mit einschließen möge.« »Das soll getan werden, Bruder, doch warum kehrst du nicht mit uns zurück?« »Weil, Bruder, ich Bindungen jenseits des Schwar zen Wassers habe – liebe Kinder, fast weiß, die ich so sehr liebe, daß ich sie nicht verlassen kann. Lebet wohl, Brüder, aller Segen der Bonsas sei mit euch, und möget ihr fett und reich werden in der Liebe und der Gnade unserer Herrscherin, der Asika.« »Lebe wohl«, murmelten sie zur Antwort. »Das Glück sei dein Bettgenosse.« Einen Moment später hatten sie die Bahre aufgeho ben und verschwanden mit ihr in schwingendem Trott im Schatten der Bäume. Jeekie kehrte ins Lager zurück und befahl den drei Männern, seinen Zugang wieder mit Dornengestrüpp zu sperren, und während sie es taten, murmelte er in ihre Ohren: »Denkt daran, Brüder: ein Wort davon, und ihr sterbt, ihr alle, wie solche sterben, die ihren Eid brechen.« »Haben wir nicht bei dem Roten Leoparden ge schworen?« flüsterten sie und gingen auf ihre Posten zurück. Jeekie stand eine Weile vor dem leeren Zelt, und wenn jemand dagewesen wäre, der ihn hätte sehen können, mochte der bemerkt haben, daß ein Schatten wie von Reue über das ausdrucksvolle, schwarze Ge sicht fiel. »Wenn er aufwacht, weiß er nicht, was los ist«, überlegte er, »und wenn er nach der Bonsa-Stadt kommt, wird er sich fragen, wo er ist, und wenn er Asika trifft ... – aber er ist ein großer Schurke; ver
suchte, den Major zu ermorden, den Jeekie als Baby auf den Knien hielt, den einzigen Menschen, den Jee kie liebt – außer Jeekie; er hat versucht, Miss Barbara Gewalt anzutun, als er sie allein in Wald antraf, was kein faires Spiel ist. Jeekie selbst ist kein so großer Schurke wie dieser Lord aus der Gosse; Jeekie hat noch nie jemanden ermordet – nicht ganz; Jeekie hat nie faule Aktien an Freunde verkauft; Jeekie hat nie versucht, ein Mädchen zu nehmen, das ihn nicht will – hatte es nicht nötig, hatte immer so viele, die ihn wollten, daß er sie wegscheuchen mußte, wie ein gu ter Christ. Mrs. Jeekie hat dafür gesorgt, solange sie lebte. Ist schon besser, wenn ein böser weißer Mann weggeht und die Bonsas besucht, als daß dem Major und Miss Barbara und allen Trägern und Jeekie – be sonders Jeekie – die Kehle durchgeschnitten wird. Nein, nein, Jeekie braucht sich nicht zu schämen, Jee kie hat heute gute Arbeit getan, aber Jeekie wird dichthalten wie Wachs, weil die Weißen seltsame Leute sind, und wenn der Major wütend wird, kann er sehr fuchtig sein und sieht alles umgedreht. Aber jetzt ist alles gut und prächtig, und Jeekie ist sehr müde, also geht er jetzt und sagt sein Nachtgebet auf und schläft. Nein, lieber nicht im Zelt, auch wenn es dort gemütlicher ist. Der Major könnte aufwachen und die Nase reinstecken, und wenn er ein schwarzes Gesicht sieht statt ein weißes, stellt er nur ungemütli che Fragen, die Jeekie, wenn er halb schläft, nicht schön und sauber beantworten kann. Dennoch, er hat die Dinge so arrangiert, daß sie jetzt ganz gut ausse hen. Ja, heute nacht ist alles gut und prächtig, ganz anders als morgen, denn da war die Zukunft noch schwarz wie ein Sonntagshut.«
20
Die Botschaft der Asika
Als die Dämmerung in den Wald kroch, erwachte Alan in seiner Hütte aus Ästen und Zweigen und streckte sich. Er hatte die ganze Nacht hindurch fest geschlafen, so fest, daß der unschuldige Jeekie sich fragte, ob er vielleicht seinen Whisky am vergange nen Abend ebenfalls aus jener bestimmten Flasche getrunken habe. Aber Menschen, die nach langer Ab stinenz Whisky trinken, neigen dazu, tief und lange zu schlafen, sagte er sich dann. Alan kroch aus der Hütte und blickte liebevoll das Zelt an, in dem Barbara schlief. Gott sei Dank war sie bis jetzt sicher, da die Asiki aus irgendwelchen unbe kannten Gründen, ihren Angriff aufgeschoben hatten. In diesem Moment hörte er erregtes Rufen, und dann sah er Jeekie auf sich zukommen, mit einer Hand aufgeregt winkend, während er mit der anderen ei nen der Träger mit sich zerrte, der um Gnade flehte. »Das ist eine schöne Geschichte, Major«, rief er Alan zu. »Dieser edle Mylord, er ist geflitzt und ab gehauen. Dieser dumme Esel sagt, er hörte vor drei Stunden, wie etwas durch den Zaun bricht, und denkt, es ist nur eine Hyäne, die stehlen will, also kümmerte er sich nicht darum. Aber diese Hyäne ... Sie erraten, wer sie war? Kommen Sie, sehen Sie, Major, und dann binden wir diesen Burschen an ei nen Baum und prügeln ihn durch.« Alan lief zu Aylwards Zelt und fand es leer. »Sehen Sie«, sagte Jeekie, der ihm gefolgt war, »se
hen Sie, wie er es gemacht hat, diese schlaue Hyäne.« Er deutete auf eine zerbrochene Whiskyflasche und ein paar durchgeschnittene Schnüre. »Sehen Sie, er hat eine Flasche zerbrochen und die Fesseln am scharfen Glas gerieben, bis sie durch waren. Dann spielte er die Hyäne und haute ab.« Alan untersuchte die hinterlassenen Reste, ohne daß auch nur der Schatten eines Mißtrauens in ihm aufkam. »Das hat er sehr geschickt gemacht«, sagte er, »besonders für einen Mann, der in London aufge wachsen ist, aber, Jeekie, was mag er vorhaben?« »Oh! Wer soll das wissen, Major? Das Gehirn eines Menschen ist sehr seltsam und kompliziert; vielleicht konnte er es nicht ertragen, Sie und Miss Barbara zu sammen zu sehen; vielleicht will er zur Küste, die Richter beschwatzen, bevor Sie mit ihnen reden kön nen; vielleicht sitzt in einem Baum, um Sie zu er schießen; vielleicht machte sein böser Charakter ihn wahnsinnig. Jedenfalls ist er fort, und ich hoffe, der arme Kerl stößt nicht auf Asiki denn wenn er auf Asi ki trifft, wer weiß? Vielleicht schlagen sie ihm auf den Kopf, oder wenn sie denken, das seien Sie, dann wer den sie ihn gefangennehmen und sehr lange behalten, bevor sie ihn wieder gehen lassen.« »Gut«, sagte Alan, »er ist freiwillig gegangen, also haben wir keine Verantwortung dafür, und ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, ihn nicht mehr zu se hen, zumindest vorläufig. Laß den armen Kerl los, Jeekie! Es scheint hier genug geprügelt worden zu sein, und außerdem kann man ihm keine großen Vorwürfe machen.« Jeekie gehorchte, anscheinend sehr widerwillig, und in diesem Augenblick sahen sie einen ihrer Leute
ins Lager laufen. »Ich fürchte, er sagt uns, daß die Asiki kommen und uns angreifen«, sagte Jeekie kopfschüttelnd. »Ich hoffe, sie lassen uns vorher Zeit fürs Frühstück.« »Du hast zweifellos recht«, sagte Alan nervös, da er das Ergebnis des Angriffs fürchtete. Dann hatte der Mann sie erreicht und begann atemlos seine Meldung hervorzustoßen, die Alan mit Erleichterung erfüllte und auf Jeekies breitem Gesicht einen Ausdruck absoluter Verblüffung hervorrief. Der Mann berichtete, daß er auf einen hohen Baum gestiegen sei wie man es ihm befohlen habe, und vom Wipfel dieses Baumes aus im ersten Licht des Mor gens, mehrere Meilen entfernt auf der Ebene jenseits des Waldes, die Armee der Asiki im geschlossenen Abmarsch gesehen habe. »Gott sei gedankt!« rief Alan. »Ja, Major, aber das ist eine sehr komische Geschich te. Jeekie kann sie nicht schlucken in einem Stück. Er muß rausgehen und nachsehen, daß keiner von ihnen zurückgelassen worden ist. Vielleicht ist alles nur Trick, aber wenn sie wirklich fort sind, dann nur, weil die Gewehre ihnen so große Angst machen. Ich denke immer wieder, das Pulver ist doch eine großartige Er findung, besonders, wenn der Feind es nicht hat, und jetzt bin ich ganz sicher. Jeekie irrt sich selten, sehr selten. Ich glaube beinahe«, setzte er mit einem plötz lichen Anflug von Selbstvertrauen hinzu, »daß Jeekie überhaupt niemals irrt. Er sucht so lange nach der Wahrheit, daß er sie schließlich immer findet.« Etwas mehr als ein Monat war vergangen, und Major und Mrs. Vernon, die letztere nun völlig wiederher
gestellt und wunderschön als frisch verheiratete jun ge Frau, standen auf dem Deck des Dampfschiffes Benin, und als die Sonne versank, blickten sie zum letzten Mal zur Küste Westafrikas hinüber. »Ja, Geliebte«, sagte Alan zu seiner Frau, »es war vom Anfang bis zum Ende eine sehr seltsame Ge schichte, doch ich glaube, die Tatsache, daß wir trotz allem das Asiki-Gold bekommen haben, war eines ih rer ausgefallensten Kapitel; und auch so ungewöhn lich günstig bei der Entwicklung der Dinge.« »Nämlich, daß du ein armes Aschenbrödel zur Frau bekommen hast, statt einer reichen Erbin, Alan. Doch erzähl mir noch einmal von diesem Gold. Ich hätte während der letzten Tage an so viele andere Dinge zu denken« – sie errötete –, »daß ich es nicht wirklich registriert habe.« »Weißt du, da gibt es nicht viel zu erzählen. Als der Reedereiagent, Mr. Aston, erfuhr, daß wir in der Stadt wären, kam er zu mir und informierte mich, daß er in seinem Lager etwa fünfzig kleine Kisten ha be, die etwas sehr Schweres enthielten, wahrschein lich Erzproben, wie er annahm, die für mich unter deiner Adresse in England bestimmt seien und, die er gerade mit der Benin verschiffen wolle. Ich sagte ihm, daß dies in Ordnung sei, und hielt es für besser, ihn über den wahren Inhalt nicht aufzuklären. Dann fragte ich, auf welche Weise sie bei ihm eingetroffen wären, und ob nicht eine Mitteilung dabei gewesen sei. Er antwortete, daß eines Morgens, bevor der La gerschuppen geöffnet wurde, Eingeborene sie mit ei nem Kanu gebracht, vor die Tür des Schuppens ge worfen und dem Wächter erklärt hätten, von anderen Eingeborenen, die sie weit flußaufwärts getroffen
hätten, dafür bezahlt worden zu sein, sie dort abzulie fern. Dann seien sie fortgegangen, ohne irgend eine Mitteilung oder Nachricht zu hinterlassen. Nun, ich dankte Aston und bezahlte die Frachtgebühr, und das war das Ende der Geschichte. Diese dreiundfünfzig Kisten befinden sich jetzt im Frachtraum, als Erzpro ben deklariert. Ich habe sie selbst überprüft und bin sicher, daß sich niemand an ihnen zu schaffen ge macht hat, also besitzen wir, neben der Juwelenkette, die ich von der Asika erhielt, einhunderttausend Pfund als Startkapital für unsere Ehe, plus einiger Dinge für den alten Jeekie, und ich meine, daß wir damit sehr gut zurechtkommen sollten.« »Ja, Alan, sehr gut sogar.« Dann überlegte sie eine Weile, denn die Erwähnung von Jeekies Namen schien sie nachdenklich gemacht zu haben, und setzte hinzu: »Alan, was, meinst du, ist mit Lord Aylward geschehen?« »Das weiß ich wirklich nicht, Jeekie und ich und einige der Träger haben mit den Beamten in AltCalabar gesprochen und eidesstattliche Erklärungen über die Umstände seines Verschwindens unter zeichnet. Mehr können wir doch nicht tun – oder?« »Nein, Alan. Aber glaubst du, daß Jeekie richtig begreift, was ein Eid ist? Ich meine, es kommt mir so seltsam vor, daß wir auch nicht die geringste Spur von Aylward gefunden haben. Und noch etwas, Alan; ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast: wie kam es, daß Jeekie an jenem Morgen Lord Aylwards Socken und Stiefel trug?« »Er sollte sich mit Eiden auskennen, schließlich hat er genügend davon geschworen, wenn er in London vor dem Polizeirichter stand, doch was die Stiefel be
trifft, so kann ich wirklich nichts dazu sagen«, ant wortete Alan beunruhigt. »Da kommt er gerade, wir werden ihn fragen.« »Socken und Stiefel?« antwortete Jeekie mit einen Ausdruck höchster Überraschung. »Aber, Mrs. Major, wenn der gute Lord den Verstand verlor und sie zu rückließ, als er in den Wald abhaute. Natürlich zog ich sie an, da er sie nicht mehr brauchte, und ver brannte die alten dreckigen Asiki-Fetzen und Sanda len. Sie sollten nicht in der feuchten Kälte sitzen, Mrs. Major, sonst kriegen Sie wieder Fieber. Sie gehen am besten runter und ziehen sich an fürs Abendessen, das halb nach sechs ist. Ich komme gerade, Ihnen das zu sagen.« Also ging Barbara fort und ließ die beiden allein, die nun über verschiedene Dinge sprachen, da sie völlig allein auf Deck waren, nachdem alle anderen Passagiere, von denen sich nur recht wenige an Bord befanden, in ihre Kabinen hinabgegangen waren. Die kurze afrikanische Dämmerung war angebro chen, eine Art sanft-blauer Dunst, der das Schiff ge heimnisvoll und unnatürlich wirken ließ. Ihr Ge spräch erstarb allmählich. Sie verfielen in Schweigen, das schließlich von Alan gebrochen wurde. »Woran denkst du, Jeekie?« fragte er. »Ich denke an die Asika, Major«, antwortete er ängstlich flüsternd. »Scheint mir, als ob sie hier ir gendwo wäre, so wie plötzlich in dem Raum in Goldhaus auftauchte; es scheint mir, als ob ich sie auf dem Rücken spürte, und auch im Haar, das aufrecht steht.« »Es ist wirklich merkwürdig, Jeekie«, antwortete Alan, »doch mir geht es genauso.«
»Das kein Wunder, Major. Ich nehme an, sie denkt an uns, besonders an Sie, und wirft Gedanken nach uns, so wie ein Junge Steine nach einem Vogel wirft, der aus dem Käfig entwischt ist und wegfliegt. Asika kann das tun, wissen Sie, denn sie ist nicht ganz menschlich, Sie ist voller Bonsa-Teufel, von einer Ge neration zur anderen, amen! Vielleicht hat sie etwas herausgefunden, das sie wütend macht.« »Was könnte sie nach all dieser Zeit herausfinden, Jeekie?« »Oh, weiß nicht. Wie soll ich das wissen? Jeekie kann es nicht erraten. Vielleicht hat sie herausgefun den, daß Sie Miss Barbara geheiratet haben. Vielleicht ist sie wütend, daß sie Sie für diese Mal verloren hat. Vielleicht ist sie dabei sich zu töten, damit sie bei Ih nen sein kann. Vielleicht wartet sie, daß sie wieder geboren wird. Vielleicht, vielleicht. Asika kann all sowas tun, wenn sie will, Major.« »Barer Unsinn«, antwortete Alan nervös, denn Jee kies Worte waren für ihn höchst beunruhigend. »Ich glaube nicht an diesen Aberglauben.« »Ganz recht, Major, Jeekie auch nicht. Aber Sie er innern sich noch, was die Asika uns im Schatzhaus zeigte: das Begräbnis von Mr. Haswell, eh? Miss Bar bara im Zelt, eh? Und welche Geister kommen erst auf uns zu, wenn Sie tot, eh? Oh! Gütiger Himmel, Major, sehen Sie hinter sich und sagen Sie, daß Sie, nichts sehen, bitte!« Die Augen Jeekies wurden groß wie Orangen, während er mit schnatternden Zähnen über die Reling deutete. Alan wandte sich um und sah. Und das war es, was er sah, oder zu sehen schien: Die Gestalt der Asika, in ihren Gewändern und ihrer
goldenen Brustplatte, stand dort in der Luft, gerade jenseits des Schiffes, als ob sie keinen Fuß darauf set zen dürfe. Ihr gewelltes schwarzes Haar fiel um ihre Schultern, doch der kräftige Wind bewegte es nicht, noch bauschte er ihr weißes Gewand, und auf ihrem schönen Antlitz stand ein Ausdruck rasender Wut und unerträglichen Schmerzes, der Schmerz über Verrat und Verlust. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Messer, und aus einer Wunde in ihrer Brust rann ro tes Blut über das Weiß ihres Gewands. Sie deutete mit dem Messer auf Jeekie, sie öffnete ihre Arme für Alan, wie in unbeschreiblichem Sehnen, dann hob sie sie langsam empor, dem vergehenden Licht des Himmels entgegen – und war verschwunden. Jeekie setzte sich auf das Deck und trocknete seine Stirn mit einem roten Taschentuch, während Alan sich in einem plötzlichen Schwächeanfall an der Re ling festhielt. »Ich sage Ihnen doch, Major, diese Asika kann all sowas tun. Man weiß nie, wo man sie als nächstes findet. Ich nehme an, sie wird in England bei uns le ben und uns ab und zu einen Besuch abstatten, wenn es dunkel ist. Ich sage Ihnen, sie ist ein sehr schwieri ger Kunde, und ich denke, es wäre vielleicht besser gewesen, dort zu bleiben und sie zu heiraten. Nun, sie ist jetzt weg, Bonsa sei Dank! Scheint in Meer ge plumpst zu sein, und ich hoffe, sie bleibt drin.« »Jeekie«, sagte Alan, der sich wieder gefangen hat te, »hör mir zu! Dies alles ist Unsinn; wir haben eine Menge durchgemacht und unsere Nerven sind nicht die besten. Wir glaubten, etwas zu sehen, was wir in Wirklichkeit nicht sahen, und wenn du auch nur ein Wort davon zu deiner Herrin sagst, drehe ich dir den
Hals um. Hast du verstanden?« »Ja, Major, ich denke schon. Alles Unsinn, unsere Nerven sind nicht bestens; wir sehen nicht, was wir sahen, und sagen nichts zu Mrs. Major; aber wenn ei ner doch was sagt, dreht der andere ihm den Hals um. Das ist in Ordnung, habe verstanden. Das ist so einfach, daß man es nicht falsch verstehen kann. Noch etwas, Major?« »Ja, Jeekie. Wir haben ein paar wunderbare Aben teuer erlebt, aber die sind jetzt vorbei und erledigt, und je weniger wir über sie sprechen oder auch nur an sie denken, desto besser, denn es gibt da vieles, das ziemlich schwierig zu erklären ist, und das, wenn es erklärt werden sollte, sicher nicht geglaubt werden würde.« »Ja, Major; zum Beispiel ist es sehr schwierig, Mrs. Barbara zu erklären, warum die Asika Sie so liebt, wenn Sie ihr nur die ganze Zeit sagen: ›Geh weg, geh weg!‹ wie der alte heilige Gentleman zu dem hüb schen Mädchen mit den langen Haaren auf dem Bild. Vielleicht riecht sie eine Ratte.« »Halt deinen vorlauten Mund!« sagte Alan scharf. »Anstatt dich über alles lustig zu machen, tätest du besser daran, der Vorsehung zu danken, daß sie uns lebend und unbeschadet aus furchtbaren Gefahren errettet hat. Und jetzt werde ich mich zum Abendes sen umkleiden.« Mit einem nervösen Blick aufs Meer und in die zunehmende Dunkelheit wandte er sich um und ging davon. Jeekie stand allein auf dem leeren Deck, wiegte seinen großen Kopf von einer Seite zur anderen und mur melte im Selbstgespräch: »Ich frage mich, ob der Ma
jor sieht, was unter den Füßen der Asika lag, als sie dort über dem dunklen Wasser stand. Ich glaube nicht, daß ich etwas sagen sollte. Der edle Lord sah nicht gut aus, nachdem die Asika mit ihm fertig war. Nein, das war vielleicht eine Privatvorstellung für Jeekie allein, Freikarte und nichts zu bezahlen, und Jeekie hofft, sie kommt nie wieder, wenn er zu Bett geht. Der Major weiß nichts davon, also konnte er es nicht sehen, aber Jeekie weiß es. Ich hoffe, Aylward schreibt keine Briefe nach Hause, um sich zu verab schieden, oder wenn er welche schreibt, hoffe ich, niemand bringt sie zur Post. Ein Geist ist schlimm genug, aber Mord – o ihr Heiligen!« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »Jeekie wird für Bonsa ein großes Opfer bringen, wenn er nach Yarleys kommt. Er holt nachts ein Lamm in die hintere Küche, oder, wenn die Geister kommen, ein Kalb in den Wald draußen. Nicht steh len, richtig bezahlen. Und ich denke, dann wird Jee kie Katholik; beichtet seine Sünden. Sie sagen, die Priester dürfen nicht petzen, und wenn sie seine Sün den von ihm genommen haben, nehmen sie sich auch die Bonsas und Asika vor.« Er stöhnte mehrmals reuig und drehte sich dabei langsam um die eigene Achse, um sicher zu sein, daß nichts hinter ihm war. In diesem Moment brach der Vollmond durch eine Wolkenbank, und während er höher stieg und die Welt mit seinem Licht überflutete, hoben sich auch Jeekies Lebensgeister. »Asika kommt nie, wenn Mond scheint«, sagte er, »das ist nicht ihr Spiel, das ist gegen die Regeln, und schließlich, was hat Jeekie Schlechtes getan? Er ist ei gentlich ein guter Kerl. Aylward war ein großer
Schurke, geschieht ihm nur recht, wenn die Asika ihn abmurkst; das ist nicht Jeekies Schuld. Was Jeekie tat, tat er nur, um den Major zu retten, und die Missus, die der Major liebt. Tat nichts für Jeekie selbst, jeden Tag war er bereit zu sterben. Aber ich werde nicht davon sprechen, auch wegen dem Major nicht und der Missus, weil sie die Geschichte nicht mögen wür den. Denn wenn sie sie wüßten, bliebe ein schlechter Geschmack im Mund wie von einer faulen Auster. Außerdem hat Jeekie alles gut gemacht, brachte den Major sicher ins Bonsa-Land (weil die Kleine Bonsa ihn zwang), machte ihm dort eine sehr interessante Zeit, besorgte ihm einen Haufen Gold, pflegte ihn, als er krank war, haute Mungana zu Boden, brachte ihn wieder heraus, fand Miss Barbara, erwischte den ver haßten Rivalen und führte die ganze Asiki-Armee an der Nase herum, brachte das glückliche Paar zur Kü ste, damit sie heiraten, und arrangierte erstklassige Flitterwochen auf dem Schiff – Jeekie hat all das getan und Menge mehr, was er nennen könnte, wenn er ei tel wäre und nicht ein armer, bescheidener Nigger.« Wieder machte er eine Pause, verloren in Gedan ken an seine wunderbare Bescheidenheit und seine hervorragenden Tugenden, dann fuhr er fort: »Dies ist eine sehr undankbare Welt. Der Major sagt nicht: ›Danke vielmals, Jeekie. Jeekie, du bist ein großer, wundervoller Mann, ein tapferer Jeekie, ein kluger Jeekie. Jeekie, du bist schlau wie ein Fuchs, machtest die ganze Welt glauben, was du willst, bist sogar zu schlau für die Asika selbst.‹ Nein, nein, der Major sagt nicht so was. Er sagt, ›danke Vorsehung‹, nicht ›danke Jeekie‹, als ob die Vorsehung all das gemacht hätte. Die weißen Leute denken, sie seien sehr klug,
doch in Wirklichkeit sind sie große Narren und wis sen nichts. Die Vorsehung auf ihre Weise schön und gut, vielleicht, aber die Vorsehung kann Jeekie nicht das Wasser reichen. Hallo! Der Mond versteckt sich hinter einer Wolke, und da läutet die Glocke fürs Essen! Ich denke, Jeekie geht jetzt runter und wartet auf sein Abendbrot; es ist zu einsam hier oben, und ich bin sicher, die Asika kann das elektrische Licht nicht vertragen.«