BUZZI * DER GEIST DES FALKEN
GERHARD Buzzi
DER
G E IS T
DES
FALKEN
Scaned by Jingshen
wird herausgegeben von ...
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BUZZI * DER GEIST DES FALKEN
GERHARD Buzzi
DER
G E IS T
DES
FALKEN
Scaned by Jingshen
wird herausgegeben von Hans Christian Meiser.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahine
Buzzi, Gerhard:
Der Geist des Falken / Gerhard Buzzi. - Kreuzungen ;
München : Hugendubel, 2001
(Atlantis)
ISBN 3-7205-2253-9
© Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzungen/München 2001
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Zembsch'Werkstatt, München
Produktion: Maximiliane Seidl
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer,
Germering
Druck und Bindung: Huber, Dießen
Printed in Germany
ISBN 3-7205-2253-9
»Willst du ein Stück mit mir fliegen?«, fragte der Falke. »Gerne«, antwortete ich und schwang mich auf den Rü cken des wunderbaren Greifvogels. »Wohin geht die Reise?«, wollte ich wissen, während der Falke seine Flügel ausbreitete und sich in die Lüfte erhob. »Wir reisen an einen Ort, an dem Träume Wirklichkeit und Seelen zu Regentropfen werden«, sagte er und seine Stimme bekam einen Hauch von Traurigkeit. »Warum die Trauer in deinem Herzen?«, fragte ich verwun dert. »Träume, die zu Leben werden, sind Geschenke des wah ren Glücks.« »Das Glück geht oft dornige Wege«, antwortete der Falke. »Es bedarf einer gewissen Zeit, bis es in unsere Herzen Ein zug hält.« »Wo ist dieser geheimnisvolle Ort, an dem Träume Wirk lichkeit werden?« »Wir befinden uns mitten in ihm«, antwortete der Falke.
Schrittes wanderte Red Hawk durch das Langsamen Gras der Prärie. Es war dunkel geworden und der alte Mann musste vorsichtig gehen, denn seine müden Augen taten sich schwer, den Schleier der beginnenden Nacht zu durchdringen. Der Medizinmann konnte sich die Unruhe nicht er klären, die ihn seit Tagen verfolgte — wie ein Schatten aus der Finsternis, unsichtbar und doch immer zu spü ren, wie ein Windhauch, der säuselnd um seinen Kör per strich. Red Hawk schaute sich von Zeit zu Zeit um, blieb stehen, hielt den Atem an, horchte. Er blickte hinauf zu den Blättern der schmalen Birke, die im Takt der Ele mente dem Schamanen ein Lied sang. Red Hawk kannte die Stimmen der Prärie und des Waldes, sie waren ihm so vertraut wie seine eigene. Er konnte die Zeichen seiner geistigen Helfer deuten, ja er musste sie deuten können, das wurde von ihm erwartet, denn schließlich gehörte das zu den Aufgaben eines Medizinmannes. Aber diesmal sang die Birke ein Lied, das ihm nicht vertraut war, es klang wie fernes Wehklagen, das schwach, aber unaufhörlich vom Wind getragen durch die Äste säuselte. »Die Büffel gehen in die andere Welt, die Mutter hat es gesagt, die Mutter hat es gesagt. Die Hirsche gehen in die andere Welt, l
der Vater hat es gesagt,
der Vater hat es gesagt.
Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt,
die Winde haben es gesagt.«
Das Lied flößte dem alten Indianer Angst ein. Sein Blick wanderte hoch in den wolkenverhangenen Him mel, er suchte nach den Sternen, die sich ihm heute nicht zeigen wollten. Eine Schar Fledermäuse flatterte aufgeregt zwischen den Bäumen hin und her, unruhig, getrieben von einer Hast, die Red Hawk so nicht kannte. Er blieb erneut stehen und horchte in die aufkom mende Finsternis. Er konnte die Gefahr fühlen, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, um sich zu gegebener Zeit wie ein unsichtbarer Mantel um seine Schultern zu legen. >Sie ist zum Greifen nahAuch sie ist in Sorgeaber sie will mit mir nicht darüber sprechen.< Der Junge ging zu seinem Lagerplatz zurück, legte sich behutsam auf das große, schwere Büffelfell und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Er be obachtete den Rauch, der langsam und träge nach
oben stieg, magisch angezogen von der kalten, klaren Nachtluft. >Der Rauch ist wie mein LebenEr bewegt sich wie eine Schnecke, so langsam und be häbig. Ich möchte ein starker und gefürchteter Krieger werden, wie es Vater früher war. Nicht irgendwann, schon morgen will ich gegen den Feind kämpfen und ihm die besten Pferde stehlen.< Little Bear schloss die Augen. Er sah sich als stolzer Reiter über die Prärie galoppieren. Sein Pferd Shuunka berührte mit den Hufen kaum den Boden, es fegte wie Tate, der Wind, über die Graslandschaft. Little Bear konnte nicht verstehen, dass sein Vater von ihm Geduld forderte. »Du bist noch ein Kind«, sagte Red Hawk, »vertraue der Zeit, sie weiß, wann es recht ist, aus dir einen Krieger zu machen.« Mit dem Bild des stolzen, furchtlosen Reiters schlief Little Bear ein.
»Den vier Winden sende ich meine Stimme, den vier Winden sende ich meine Stimme, Großer Geist, schaue in mein Herz, Großer Geist, schaue in mein Herz.«
Er hörte nicht mehr, wie Red Hawk das Tipi betrat. Der Medizinmann versuchte die Unruhe, die sich tief in seinem Herzen eingenistet hatte, vor seiner Frau zu verbergen. Er ging zu seinem Lederbeutel, der an ei nem Holzgestänge hing. In dem Beutel aus geschmei digem Hirschleder bewahrte Red Hawk seine heiligen Dinge auf. One Star hatte ihn mit bunten Perlen und Stachelschwein-Borsten bestickt. Der Medizinmann entnahm ein Bündel Salbei. Er zündete es an und blies behutsam die Flammen aus, bis sich eine zarte Glut durch die getrockneten Blätter fraß. Der aufsteigende Rauch roch würzig. Schnell ver teilte sich der wohltuende Duft im Rundzelt. Red Hawk fächerte sich den heiligen Rauch zu, rei nigte Kleidung und Körper, dazu betete er:
»Du trägst große Sorgen mit dir«, sagte One Star ohne Umschweife. Sie hatte ihren Mann aus den Augenwin keln beobachtet, sah das Unbegreifliche, das er nicht verstehen konnte. Jemand hatte es in seine Seele ge brannt. »Die Geister sind gegen mich«, sagte Red Hawk mit leiser Stimme. »Sie flüstern mir Botschaften ins Ohr, die ich nicht verstehe, sie singen mir Lieder, die mir Angst machen. Eine dunkle Macht bedroht unser Volk und ich sehe kein Licht, das mir den Weg aus der Finsternis zeigt. Eine große Gefahr lauert vor den Toren unserer Tipis und ich kann sie nicht vertreiben.« Red Hawk wandte sich zu One Star, die noch immer vor dem Feuer saß. Flehend schaute er seiner Frau in die Augen. »Sieh mich an«, bat er, »bin ich schon so alt, dass ich mein Volk nicht mehr beschützen kann?« Seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Er nahm die linke Hand von One Star und drückte sie fest an sich. »Fühlst du die Stimme meines Volkes?«, fragte er. »Wakan Tanka, der Große Geist, legte die Schöpfung in mein Herz, er gab mir seine Liebe in Obhut, ich sollte sie hüten und an die Menschen verteilen, wenn die Zeit gekommen ist. Aber wie kann ich Wakan Tanka dienen, wenn er mir Lieder schickt, die ich nicht ver stehe?« One Star spürte die Verzweiflung in Red Hawks Stimme. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte sie sanft. »Wakan Tanka, der Große Geist, würde es nicht zulas
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sen, dass unserem Volk Böses geschieht. Die Spirits ha ben dich nicht verlassen, sie spielen dir einen Streich. Du weißt, da, wo heilige Dinge geschehen, muss auch das Lächeln einen festen Platz in unserem Herzen ha ben — daran wollen dich die Geistwesen erinnern. Du hast viele Tage und Nächte nicht gelacht, die Sorge um unser Volk trieb dich in die Arme der Finsternis. Lache, und die Spirits schicken dir wieder fröhliche Lieder.« Red Hawk lauschte den Worten von One Star. >Sie ist eine weise Frauich sollte mehr auf sie hören. Ihre Worte sind wie reines, klares Quellwasser, das tief aus dem Schoß von Mutter Erde kommt. Ich gehe morgen früh die Sonne begrüßen und mit dem ersten Strahl, der meine Wangen berührt, werde ich tanzen und singen und lachen.< »Du hast Recht«, sagte er zu ihr, »ich mache mir zu viele Sorgen. Der Große Geist liebt unser Volk, er schickte den Büffel, der die Prärie bevölkert. Es sind so viele Tiere, wie Wolken am Himmel, niemand kann sie zäh len. Unser Volk ist mutig und tapfer, die Feinde furchten uns; wir sind die Kinder des Großen Geistes.« Red Hawk nahm seine Frau in den Arm. »Du bist die klügste aller Frauen«, flüsterte er ihr ins Ohr, »ich bin sehr stolz auf dich.« Er strich seiner Frau zärtlich über ihr langes, pechschwarzes Haar und der Duft von Minze und Salbei umschmeichelte die Nase des Medi zinmannes. Er schloss die Augen und ließ die Bilder von damals vor seinen Augen vorbeiziehen. One Star war fast noch ein Kind und er, Red Hawk, schon der Medizinmann seines Dorfes. Seine erste Frau war ge storben, als eine Hand voll Crows über die Tipis der Sioux herfielen. Die Krieger waren nicht zu Hause, nur 12
die Frauen mit ihren Kindern und die Alten hüteten das Feuer.Viele starben im Pfeilhagel der Feinde. One Star war die Tochter des Häuptlings. Die Augen des Vaters glänzten voller Stolz, wenn sie erhobenen Hauptes über den Dorfplatz schritt. Ihr Haar berührte beinahe den Boden. Sie trug ein Kleid aus hellem Reh leder, das über und über mit Hirschzähnen bestickt war. Die jungen Krieger verdrehten jedesmal ihre Köpfe, wenn One Star aus ihrem Tipi schritt, um Wasser aus der Quelle zu holen. Einige der jungen Männer schwangen sich dann auf ihre Pferde, um im Höllentempo an One Star vorbeizu galoppieren. Sie stießen dabei wilde, markerschütternde Schreie aus, rissen nach wenigen Metern ihre Pferde in den Stand, machten kehrt und fegten im Galopp auf das anmutige Mädchen zu, um im letzten Moment nach links oder nach rechts auszuweichen. Jeder von ihnen hoffte auf einen anerkennenden Blick von One Star, aber sie schritt stolz und ohne Angst an den wilden Horden vorbei, ohne einen der Reiter zu würdigen. Das junge Mädchen hatte nur Augen für Red Hawk, den Medizinmann, der seine wilden Jahre längst den Winden übergeben hatte, die seine Heldentaten bis weit hinter den Horizont trugen, um sie dem ewigen Eis und dem Wüstensand zu erzählen. Sie liebte seine ruhige, besonnene Art, sein Herz war klar und rein, sie konnte darin lesen wie in ihrer eige nen Seele. Er spürte ihre Blicke, er konnte ihr Herz po chen hören, wenn sie in seiner Nähe war. Dem alten Mann schmeichelte die Liebe der Jugend und eines Ta ges fasste er allen Mut zusammen und bat den Häupt ling um die Hand seiner Tochter. 13
Die Aufregung im Dorf war groß, schließlich kam es nicht alle Tage vor, dass ein Medizinmann, der mehr als vierzig Winter erlebt hatte, die junge Tochter des Häuptlings zur Frau nahm. Viele der jungen Krieger gingen an diesem Tage hinaus in die Prärie, um zu trau ern. Zwanzig Winter waren inzwischen vergangen und die Liebe zwischen Red Hawk und One Star war nie erloschen, das Feuer in ihren Herzen brannte lichterloh und wärmte ihre Seelen, wenn außerhalb ein kalter Sturm blies. Little Bear war vor zwölf Wintern auf die Welt gekommen und hatte das Glück des Medizinman nes vollkommen gemacht. Langsam löste sich Red Hawk aus der Umarmung und ging zu seinem Sohn, der schlummernd unter dem dicken Fell lag. Er küsste ihm die Stirn und sagte leise, mit Stolz in der Stimme: »Und du wirst der Tapferste aller Krieger werden.« Red Hawk war müde geworden. Er schlug sein wär mendes Büffelfell zur Seite und legte sich nieder. Der alte Mann schloss die Augen. Er reiste in Gedanken in das Zentrum des Lichts, das tief im Süden lag, dort, wo die Spirits ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Aber statt des Lichts, das sein Herz und seine Gedanken reinigen sollte, drang eine Stimme an sein Ohr, die ihm vertraut war. Der Nordwind sang ihm ein Lied. Zum Schrecken von Red Hawk war es wieder das der Birke. »Die Büffel gehen in die andere Welt,
die Mutter hat es gesagt,
die Mutter hat es gesagt.
Die Hirsche gehen in die andere Welt,
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der Vater hat es gesagt,
der Vater hat es gesagt.
Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt,
die Winde haben es gesagt.«
Der Medizinmann hatte keine Kraft mehr, sich gegen den Freund und Verbündeten zu stemmen, er ließ den Nordwind das Lied vollenden, auch wenn es sein Herz in Stücke schnitt. »Die Brüder gehen in die andere Welt,
die Winde haben es gesagt, die Winde
haben es gesagt.«
Der Indianer wurde von der Unheil bringenden Bot schaft in den Schlaf getragen. >Sind die Spirits gegen mich oder bin ich gegen sie?Die Gefahr, hinter welcher Maske sie sich auch im mer verbergen mag, mein Tipi hat sie noch nicht er reichte, stellte er erleichtert fest. >Sie schleicht um das 15
Dorf, irgendwo zwischen den Zelten der anderen, ich muss mein Volk warnen. < Red Hawk zog seine Hose aus Hirschleder über und schlüpfte in die bunt bestickten Mokassins. Immer wie der hielt er kurz inne, um zu lauschen. >Warum ist es so ruhig draußen?Keines der Pferde wiehert, die Hunde bellen nicht und selbst die Winde schlafen, es ist mir unheimlich,< Red Hawk schlich aus dem Zelt und lief in gebück ter Haltung durch die Nacht. Hastig sah er sich nach al len Seiten um, er wollte dem unheimlichen Feind, der sein Herz so viele Tage lang gequält hatte, ins Auge se hen, er wollte ihn niederringen und in den Staub wer fen. Der Indianer huschte wie ein Puma über die Gras landschaft, lautlos, beinahe unsichtbar. Er durfte sich keinen Fehler leisten, das Leben seines Volks stand auf dem Spiel. Red Hawk sah am Horizont das erste Licht des Tages die Nacht durchdringen, zaghaft noch, schüchtern wie ein junges Reh. Aber wie konnte das möglich sein? Die Zelte seiner Leute erstreckten sich bis zum Horizont, das zarte Licht des Morgens war zwischen den mächti gen Tipis sonst kaum auszumachen und jetzt konnte er jeden noch so zarten Schimmer am Himmel erkennen. Red Hawk blieb wie vom Blitz getroffen stehen, un fähig sich zu bewegen, die Angst schnürte ihm die Keh le zu. Die Zelte waren verschwunden. Wo gestern abend noch die vielen Hundert Tipis gestanden hatten, klaffte jetzt ein schwarzes Loch. >MeinVolk ist ohne uns weitergezogen^ dachte der Medizinmann im ersten Au genblick. >Es hat uns in der Wildnis zurückgelassen, ich bin ein Geächteter.
Dieses Feuer hat vor vielen Wintern gebranntund es ist kein Feuer, das von einem Lakota entfacht wurde. Kein Indianer würde in der Wildnis ein so gro ßes Feuer machen.< Von seinem Volk fehlte jede Spur. >Wo sind die Alten und die Kinder geblieben, die Frauen und die Krieger, die Pferde und die Hunde? Sie können sich nicht in Luft aufgelöst haben, hier müssen böse Mächte im Spiel gewesen sein.< Red Hawk hatte inzwischen die Hügelkette erreicht. Er stieg auf die höchste Erhebung, dort, wo er in glück lichen Tagen morgens die Sonne begrüßte. Es war sein heiliger Platz. Der Medizinmann hatte einen Kreis aus Steinen gelegt, in der Mitte war eine kleine Grube aus gehoben, in der ein mächtiger Büffelschädel lag. Die zwei Hörner waren mit bunten Bändern geschmückt, in den Augenhöhlen lagen Salbeibüschel und der Schädel knochen war mit bunten Kreisen, Vögeln und Schild kröten bemalt. Wer an diesem heiligen Ort saß, konnte in der Ferne die Büffelherden ziehen sehen, die am Horizont Staub aufwirbelten. Hier hielt Red Hawk Zwiesprache mit den Geistwesen und mit Wanblee Gleshka, dem ge fleckten Adler, dem heiligsten aller Tiere. Er zog über dem Haupt des Medizinmannes seine Kreise, wenn dieser unter dem Schutz der Spirits für das Wohler gehen seines Volk betete und Mutter Erde für ihre Güte dankte. Aber an diesem Morgen hielt Red Hawk umsonst Ausschau nach den Büffeln und nach Wanblee, dem stolzen Adler, sie waren aus dieser Welt verschwunden, wie sein Volk und die vier Winde. 18
Der Medizinmann lief den Hügel hinunter und steu erte auf den großen Wald zu, der die Heimat vieler Tiere war. Hier lebten der Hirsch und der Habicht, zwei Brü der im Geiste, mit denen sich Red Hawk im Herzen ver bunden fühlte. Sie wollte er fragen, was geschehen war. Keuchenden Schrittes tauchte der Indianer in den Wald ein, die Bäume legten ihre Äste und Zweige um den verzweifelten Mann, boten ihm Schutz. Nun fühlte sich der Medizinmann wohl und geborgen. Er setzte sich auf einen großen Stein und rief nach Bruder Hirsch. »Mein Freund«, sagte er, »ich habe gro ße Sorgen, Schmerz und Kummer lasten auf meiner Seele. Es sind Dinge geschehen, die ich mir nicht erklä ren kann, die Spirits haben mich im Stich gelassen. Er kläre mir, dem unvollkommenen Menschen, was pas siert ist. Du bist klug und stark, deinen Rat habe ich stets befolgt und deine Weisheit bewundert. Ich folgte deinen spirituellen Pfaden, du gabst mir die Kraft zum Heilen und Handeln.« Oft war der Hirsch in Red Hawks Träumen erschie nen, um dem Medizinmann in schwerer Stunde zur Seite zu stehen. Das Tier mit dem mächtigen Geweih warnte den heiligen Mann vor drohender Gefahr, und wenn der Mensch an seinen Fähigkeiten zu Zweifeln begann, teilte der Hirsch gerne seine Kraft und seine Ausdauer mit dem Bruder im Geiste. Red Hawks Blick fiel auf die kleine Quelle, die unter dem bemoosten Stein aus der Erde sprudelte. Er wollte sich hinunterbeugen, um aus ihr zu trinken, um seinen Durst zu stillen. Aber das Wasser schmeckte schal und abgestanden, es war nicht rein und klar wie sonst, es roch nach Tod und Verwesung. 19
R e d H a w k w a r, a ls h ö rte e r d u m p fe s G e m u rm e l, d a s a u s d e r T ie fe d e r E rd e z u ih m d ra n g. E s w a r e in W e h k la ge n , w ie e s d e r In d ia n e r in d ie se m W a ld n o c h n ie ge h ö rt h a tte . D a n n v e rn a h m e r d e u tlic h d ie W o rte : »Die Hirsche gehen in die andere Welt,
der Vater hat es gesagt, der Vater hat es
gesagt.«
D e r M e d iz in m a n n sp ra n g m it e in e m S a tz h o c h , e in e d u m p fe V o ra h n u n g m a c h te sic h b re it, d e r S c h m e rz w ü te te w ie e in W irb e lstu rm in se in e m H e rz e n . E r b e ga n n z u la u fe n . Z w e ige p e itsc h te n ih m in s G e sic h t. S ie h in te rlie ß e n a u f d e r H a u t b lu tige S trie m e n . »Die Hirsche gehen in die andere Welt«, riefen die Bäum e u n d sc h lu ge n m it ih re n A ste n im T a k t a u f d e n In d ia n e r e in . W ie a u f e in e T ro m m e l, a u f d e r m it d u m p fe n S c h lä ge n d a s E n d e d e r M e n sc h h e it e in ge lä u te t w u rd e . D e r In d ia n e r h a s te te d e n k le in e n B a c h e n tla n g , d e r sic h gu rge ln d se in e n W e g d u rc h d a s D ic k ic h t b a h n te . D a s W a sse r w a r ro stb ra u n u n d R e d H a w k k o n n te d a s B lu t d a rin rie c h e n , fü h le n u n d sc h m e c k e n . »M e in L e h re r u n d B ru d e r im G e iste «, sc h rie d e r G e p ein igte, »w as h ab en sie d ir an getan ? « E r sah sch o n vo n w eitem d as U n h eil, d as ü b er d en W ald h erein geb ro ch en w ar. D e r H irs c h la g im e n g e n B a c h b e tt, d ie U n te rs e ite se in e s K ö rp e r w a r a u fge risse n , d ie G e d ä rm e sc h a u k e l ten im W asser, m it jed er klein en W elle klatsch ten sie an e in e n S te in , w ie im T a k t, a ls w ä re n o c h L e b e n in ih n e n . D e r K o p f d e s e in st so sto lz e n T ie re s h in g h a lb a b ge tre n n t z u r S e ite , d ie A u ge n b lic k te n R e d H a w k sta rr e n tge ge n .T ra u e r la g in ih n e n , a ls w o llte n sie d e n M e d i 20
zin m an n fragen : > W aru m h ast d u m ir n ich t geh o lfen ? W aru m w arst d u n ich t h ier, als d as B ö se E in zu g h ielt in unsere friedliche W elt?< D e r K ö n ig d e r W ä ld e r, d a s G e ist- u n d S c h u tz tie r d e s M e d iz in m a n n e s R e d H a w k v o m S ta m m e d e r L a k o ta , v e re h rt u n d ge lie b t v o n d e n L e b e n d e n , w a r in d ie a n d ere W elt gegan gen . E s w ar n iem an d d a, d er ein letztes G e b e t fü r d e n B ru d e r im G e iste sp ra c h . N ie m a n d , d e r m it d e r a u s tre te n d e n S e e le d ie P fe ife ra u c h te u n d s ie u m V e rz e ih u n g b a t, d a m it sie d e n W e g ü b e r d ie R e ge n b o ge n b rü c k e fin d e n k o n n te , d ie in s L a n d d e r T a u se n d Z e lte fu h rt. R e d H a w k w a r ta u b v o r S c h m e rz . E r s tie g in d e n B a c h , u m a rm te d e n to te n H irsc h u n d w e in te b itte rlic h . D ie T rän en sto lp erten ü b er d as m it B lu t verkru stete F ell u n d v e rm isc h te n sic h m it d e m trü b e n W a sse r. D e r M e d iz in m a n n h o lte se in gro ß e s M e sse r a u s d e r m it b u n te n P erlen verzierten S ch eid e. M it lan gsam en B ew egu n gen sc h n itt e r d e n sc h a rfe n S ta h l d u rc h d ie H a u t se in e r U n terarm e — bis das B lut herausquoll. E s w ar seine A rt, der T ra u e r A u sru c k z u v e rle ih e n , u m d e n se e lisc h e n S c h m e rz a u c h p h y sisc h z u sp ü re n u n d S ü h n e z u tu n fü r d ie Q u a le n , d ie se in e m L e h re r a n ge ta n w o rd e n w a re n , v o n w e m a u c h im m e r. »Die Hirsche gehen in die andere Welt,
der Vater hat es gesagt, der Vater hat es
gesagt.«
D e r M a n n stre c k te d ie b lu te n d e n A rm e d e m H im m e l e n tge ge n u n d b e te te : »B ru d e r H irsc h , d u h a st m ic h D e m u t u n d D a n k b a r k e it g e le h rt. D u w a rs t e s , d e r m ic h g ro ß u n d s ta rk im 21
Geiste machte. Ich bin deinen spirituellen Pfaden ge folgt, die mich in Höhen führten, von denen ich nicht zu träumen wagte. Du hast mich Wakan Tanka, dem Großen Geist nahe gebracht, durch dich konnte ich sei ne Liebe und Größe spüren. Du nahmst mir die Angst mit ihm zu reden, dafür danke ich dir. Du führtest mich in die Welt der Geistwesen, dort wo die ewige Liebe zu Hause ist. Durch dich, Bruder Hirsch, lernte ich Getan den Habicht, Mato den Bären und die vielen anderen Tiere kennen, die mich auf meinem roten Pfad beglei teten. Nimm mein Blut als Gabe. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, da du in die andere Welt gegangen bist. Gib mir die Kraft weiterzuleben und an das zu glauben, das unser Leben verbunden hat. Wir sehen uns im Land der Tausend Zelte, dort, wo die Ahnen ihre Tipis aufgeschlagen haben. Die Welt wird einsam sein ohne dich mein Lehrer, Führer und Beschützer. Ich be weine dich wie einen Vater, der aus meinem Herzen gerissen wurde.«
>Was mag mit den beiden geschehen sein, welche Macht hat sie ihm aus den Armen entrissen? Vielleicht sind sie in das Lager zurückgekehrt und suchen mich verzweifelt?< Der Medizinmann lief den Weg zurück, er wollte das Tipi vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Der alte Lagerplatz lag vor ihm, einsam und leer, so, wie er ihn morgens vorgefunden hatte. Sein Volk war nicht zurückgekehrt. Der Medizinmann suchte nach dem Tipi seiner Fa milie.>Irgendwo muss der Schein des Lagerfeuers doch ZU sehen seinOne Star und Little Bear, ich habe euch im Stich ge lassen, wie mein Volk, das ich verloren habe.
Es muss ein furchtbarer Sturm gegangen seindas Tipi steht nackt da, es ist ohne Bespannung.< Vorsichtig schlich er sich an seine Behausung heran. Der Krieger in ihm flüsterte: »Sei auf der Hut, hier sind böse Mächte am Werk, der Feind könnte nahe sein. Die Falle ist ausge legt und du bist der Köder.« Mit vorsichtigen Schritten trat der Indianer in das Innere des Rundzeltes. Auf den ersten Blick war es leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier einmal Menschen gelebt hatten, dass hier gelacht und geliebt wurde. Von One Star und Little Bear fehlte jede Spur, sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Red Hawk schaute sich im Inneren des Tipi um. Er suchte nach den alten Schlafplätzen und fand sein gro ßes Büffelfell, das ihm One Star zur Hochzeit geschenkt hatte. Es war das Fell eines großen, mächtigen Büffels, das Haar war lang und kräftig, das Leder weich und an schmiegsam. Zwei Menschen konnten sich darin mühe los einrollen und den kältesten Schneestürmen trotzen. Das Fell lag unter einem wild wuchernden Gestrüpp, halb zugedeckt mit Erde, auf der die ersten zarten Grä ser wuchsen. Der Medizinmann versuchte es hochzu heben. Er musste kräftig daran ziehen, um es Mutter Erde aus der Umarmung zu entreißen. Das gute Stück zerfiel beinahe in seinen Händen, so brüchig war das Leder geworden. Die Haare rieselten zu Boden, dünn und kraftlos, wie die Nadeln einer Lärche, die sich auf den Winterschlaf vorbereitete.
Red Hawk legte das Fell behutsam auf den Boden zurück, wie einen Toten, der auf dem Schlachtfeld ge fallen war und voller Dankbarkeit noch einmal die Lie be eines Lebenden gespürt hat. Ein paar Schritte weiter hing an einem morschen Ast der traurige Rest des bestickten Lederbeutels, in dem Red Hawk seine heilige Pfeife aufbewahrt hatte. >Die Pfeife, wo ist meine heilige Pfeife gebliebenOh ne meine Pfeife bin ich kein Medizinmann mehr, sie ist das Zentrum meiner Spiritualität, ihr Rauch verbindet mich mit Wakan Tanka, dem großen Geist. Ohne die Pfeife verliert mein Volk seinen Halt im Universum. Wir sind wie lose Blätter, die vom Sturm durcheinan der gepustet und in verschiedene Richtungen getragen werden. Ohne Pfeife sind wir ohne Glauben und Reli gion, ohne Halt und Werte. Ohne Pfeife hört das Volk der Lakota auf zu atmen, zu leben.< Hastig tastete Red Hawk den Boden nach seiner Pfeife ab. Er suchte unter jedem Stein, bog jeden Gras halm zur Seite. Sie war nicht mehr da. Dafür stieß er in der Mitte des Zeltes auf die Feuerstelle, an der One Star noch am Abend zuvor gesessen hatte, um Fleisch zu kochen. An das glühende Herz inmitten der Be hausung erinnerten nur noch ein paar Steine, die er ahnen ließen, dass sie einmal in einem Kreis um das Feuer gelegen hatten. Und dort, wo noch gestern das Holz inmitten von lodernden Flammen sein Leben gab und die Hitze das Gesicht von One Star zart er glühen ließ, hatte sich eine Pfütze aus schmutzigem Wasser gebildet, auf der verkohlte Holzstückchen schwammen.
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Red Hawk kroch auf allen Vieren die nähere Umge bung der längst erloschenen Feuerstelle ab. Noch immer keimte in ihm die Hoffnung, etwas von seiner geliebten Frau zu finden. Vielleicht eine versteckte Botschaft, die er deuten konnte. Da ertasteten seine Hände einen Ge genstand, den er kannte. Er schälte ihn aus der lehmigen Asche, bis er in seinen schmutzigen Händen lag. Es war die Haarspange seiner Frau, die er selbst aus dem Kno chen eines Büffelkalbes geschnitzt und liebevoll bemalt hatte — der Lieblingsschmuck von One Star. Red Hawk drückte den kalten, abgenagten Knochen an sein Herz. Er war von der Sonne ausgebleicht, die zarten Pinselstriche darauf nur noch blasse Erinnerung. »One Star, warum hast du mich verlassen?«, schluchzte Red Hawk. Von Schmerz gepeinigt, setzte er sich auf den ehemaligen Schlafplatz seiner Frau, ihre Haarspange hielt er weiter an sein Herz gedrückt. »Ich habe keine Kraft mehr«, sagte er. »Ich möchte sterben, hier und jetzt.Wakan Tanka, Großer Geist, hole mich nach Hause, welchen Sinn hat mein Leben auf dieser toten Welt? Ich weiß nicht, was meinem Volk und meiner Familie widerfahren ist, erkläre es mir.«
Etwas abseits des Tipi saß eine alte Frau, eingehüllt in Lumpen, die grauen Haare hingen in Strähnen von ih fem schmalen Kopf. Die Haut war fahl und eingefallen, sie spannte sich wie Pergament um die Knochen der Finger. Die alte Frau wiegte ihr Haupt von rechts nach links und summte dabei unaufhörlich dieses Lied: »Die Brüder gehen in die andere Welt,
dir Winde haben es gesagt,
die Winde haben es gesagt.
Die Brüder gehen in die andere Welt,
Red Hawk hat es so gewollt,
Red Hawk hat es so gewollt.«
Red Hawk schreckte hoch, als er das Lied hörte. »One Star, bist du hier?«, schrie er und sprang auf die Beine. Sein Lebenslicht war in diesem Augenblick eine mäch tige Flamme, entfacht von Hoffnung und Sehnsucht. Er lief in die Richtung, aus der die Worte an sein Ohr gedrungen waren. Er musste nicht lange suchen.
Der Medizinmann kam neugierig näher, als er seinen Namen aus dem zahnlosen Mund der alten Frau hörte. •Was habe ich gewollt?«, fragte er und sah ihr forschend ins Gesicht. Red Hawk hatte Angst, dieses alte Weib könnte One Star, seine hübsche Frau sein. Im ersten Licht der sich ankündigenden Sonne konnte der Medi zinmann die Augen der Fremden nur schwer ausma chen. >Es ist nicht One StarSie muss wirklich sehr alt seinEigenartigihr Lied konn te ich klar und deutlich hören, als wollte sie mich damit anlocken, und jetzt spricht sie so leise, dass ich ihre Worte kaum verstehen kann. Wer ist diese unheimliche Alte?< »Du fragst dich, wer ich bin?«, entgegnete die Frau. »Ich will es dir sagen. Ich bin die Zeit und es ist lange her, da ich so jung und hübsch war wie deine Frau One Star. Du hast mich so alt und schrecklich hässlich gemacht. Ich müsste dich dafür hassen, aber dein Herz weint ge nug bittere Tränen über den Verlust deiner Familie und die toten Augen des Hirsches sind ein Teil von dir selbst geworden. Tot und gebrochen, vergänglich, wie dein Volk und deine Pfeife, die nicht mehr heilig ist. Selbst der Büffel ist dem Menschen nicht mehr heilig genug. Er hat Mutter Erde verlassen, um sich aufzumachen in eine Welt, in der die Zeit noch unverbraucht ist.« Red Hawk lauschte atemlos den Worten der alten Frau. >Sie kann nicht verrückt seindafür weiß sie zu viel.< »Erzähle mir mehr über mein Volk und meine Fami lie«, bat er die Alte. »Du weißt, welchen Weg sie einge schlagen haben und wo ich sie treffen kann. Mein Herz weint nicht nur bittere Tränen, ich habe mein Liebstes 28
auf dieser Welt verloren. Mein Leben ist sinnlos gewor den, der Große Geist hat mich verstoßen.« Die alte Frau wiegte erneut ihren Oberkörper hin und her, wie ein dünner Baum, mit dem die Winde ih re verbotenen Spielchen trieben. »Mein Leben ist sinnlos, der Große Geist hat mich verstoßen«, wiederholte sie die Worte des Medizinman nes. »Du hast dein Volk und deine Familie ins Verderben geführt«, sagte sie und ihre Stimme wurde um eine Tonlager schriller und höher. »Sie sind an mir vorbeige zogen, hier, direkt vor meinen Füßen. Dein Sohn sah »ich nach dir um, er hatte gehofft, du würdest ihm und One Star folgen, aber du hattest eine Verabredung mit mir. Du konntest deinem Volk nicht helfen. Die Lakota sind von dieser Erde gegangen und mit ihnen die Spi rits und alle Gedanken und Worte, die ihnen heilig wa ren. Sie haben nichts zurückgelassen, bis auf ein brüchi ges Büffelfell und eine von der Sonne ausgebleichte Haarspange. Andere Menschen werden kommen und euren Platz einnehmen. Die Tage, in denen die Zeit noch unschul dig war und das Leben deines Volkes dahinschwebte wie die Flaumfeder des Adlers, sie sind gezählt. Du hast die Zeichen, die ich dir schickte, nicht erkannt, du hast mich so alt gemacht.« Ihre letzten Worte endeten in einem hysterischen Luchen. Es schwoll an wie ein Bach, den der Regen zu einem reißenden Fluss werden ließ. Das kreischende Gelächter schmeckte nach Blut und Rache, nach Ver geltung, Trauer und Tod. Schwarze Wolken türmten sich am Himmel auf, Donner grollten, Blitze fuhren in die Erde. Die alte Frau begann sich im Kreise zu drehen, schneller und 29
schneller. Eine gewaltige Kraft packte Red Hawk, schleuderte ihn hoch in die Lüfte. Von oben konnte er sehen, wie das Weib seine menschliche Gestalt verlor und zu einem wirbelnden Orkan wurde. Die Windhose ergriff den hilflosen Mann und riss ihn mit. Die Zeit hatte aufgehört zu existieren, sie ver schwand in einer Welle der Vernichtung am Horizont, folgte den Spuren der Lakota, hinüber in die andere Welt. »One Star, Little Bear, mein Volk - für immer verlo ren. Ich liebe euch.« Red Hawk schloss die Augen und erwartete den Tod.
ken, dass er das Tipi verließ. Es war noch dunkel draußen. Die Nacht umfing den Jungen, der mit großen Schritten zum Versammlungs platz eilte. Dort wartete bereits sein Freund Running Bird auf ihn. Die beiden Indianerjungen hatten sich verabredet. Sie waren Blutsbrüder, Kolas, Freunde fürs Leben. Jeder war bereit, das Leben für den anderen zu opfern. Sie wollten an diesem Tag heimlich das Lager verlas sen und ihre erste Heldentat begehen — die Pferde ihrer Feinde, der Ute, stehlen. Viele Monde lang hatten sie darüber gesprochen und Pläne geschmiedet. Es war ein gefährliches Unterneh men. Die Ute lagerten einige Tagesritte entfernt im Sü den, keiner der beiden Jungen kannte den genauen Weg durch das Feindesland. Sollten sie von den Ute beim Diebstahl ertappt werden, war ihnen ein schmerzvoller Tod sicher. Little Bear und Running Bird hatten sich in einer versteckten Senke außerhalb des Lagers ein Vorratsde pot angelegt. Getrocknetes Büffelfleisch und süße, in Fett getauchte Beeren. Sie stopften ihre Packtaschen voll. Ein letzter Blick auf das Lager, dann schwangen sie sich auf die Rücken ihrer Ponys und jagten im ge streckten Galopp hinaus in die endlose Prärie. Die Jungen waren nur leicht bewaffnet. Jeder von ihnen
Bear schlich sich leise aus dem Zelt. Seine Little Eltern schliefen tief und fest, sie sollten nicht mer 30
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trug ein Messer und um die Schulter baumelte der Bogen. Seitlich im Lederköcher steckten eine Hand voll Pfeile. »Unsere Familien werden sich Sorgen machen«, sagte Running Bird, nachdem sie eine Weile geritten waren. Little Bear streckte seine Brust nach vorne und antwor tete: »Sie empfangen uns mit Jubelschreien, wenn wir mit den Pferden der Ute nach Hause kommen. Wir müssen unsere Heldentaten am Feuer erzählen, wie es die Krieger unseres Volkes tun. Die Alten sitzen im Kreis und nicken anerkennend mit den Köpfen. Sie rei chen uns die Pfeife, damit wir schwören, dass es so pas siert ist.« Glutrot schob sich die Sonne aus der Tiefe des Hori zonts in den Himmel über der Prärie. Ein neuer Tag war angebrochen für zwei kleine Helden, die furchtlos ihren Weg gingen, um tapfere Krieger zu werden. Little Bear ritt vorneweg, Running Bird musste sein Pony immer wieder antreiben, um dem Tempo seines Freundes folgen zu können. Pferde stehlen war für die Lakota keine Straftat, vielmehr ein heiliger Akt, den die Geistwesen wohlwollend begleiteten. Die beiden Indianerjungen waren bereits Stunden unterwegs. Die Sonne stand als glühender Feuerball über ihnen am Himmel, Tier und Mensch wurden mü de. Little Bear suchte nach einem geeigneten Lager platz. Er fand ihn am Rande eines kleinen Hügels, der sich aus der Weite der Steppe erhob. Dort gab es Wasser und zahlreiche Bäume, die den Reisenden wohltuenden Schatten spendeten.
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Die Jungen stiegen von ihren schweißnassen Ponys. Sie luden die Packtaschen ab und pflockten die Tiere an. Little Bear und Running Horse sprachen dabei kein Wort, diese Arbeit war ihnen längst zur Routine ge worden. Anschließend legten sie sich ins Gras. Die grü nen Halme empfingen die müden Körper, betteten sie weich und sanft, um ihnen einen erholsamen Schlaf zu ermöglichen. Little Bear wusste, dass sein Pony ihn sofort wecken Würde, sollte Gefahr drohen. Deshalb schloss der Junge ermattet die Augen und schlief sofort ein. Er träumte von einer weißen Wolke, die vom Him mel herabschwebte. Kurz bevor sie die Erde berührte, verwandelte sich die Wolke in einen Falken. Der Vogel letzte sich auf den Ast einen Baumes und beobachtete •ine Zeit lang die schlafenden Indianerjungen. »Willst du ein Stück mit mir fliegen?«, fragte der Fal ke Little Bear. »Gerne«, antwortete dieser und schwang lieh auf den Rücken des wunderbaren Greifvogels. »Wohin geht die Reise?«, wollte er wissen, während der Falke seine Flügel ausbreitete und sich in die Lüfte erhob. »Wir reisen an einen Ort, an dem Träume Wirk lichkeit werden«, sagte er und seine Stimme bekam ei nen Hauch von Traurigkeit. »Warum die Trauer in deinem Herzen?«, fragte Little Bear verwundert. »Träume, die zu Leben werden, sind Geschenke des wahren Glücks.« »Das Glück geht oft dornige Wege«, antwortete der Falke. »Es bedarf einer gewissen Zeit, bis es in unsere Her zen Einzug hält.« Er schraubte sich mit kräftigen Flügelschlägen hoch in den Himmel, wo sie gemeinsam dem Horizont ent 33
gegenschwebten, getragen von den vier Winden, be gleitet von den guten Wünschen des Universums. »Wo ist dieser geheimnisvolle Ort, an dem Träume Wirklichkeit werden?« »Wir befinden uns mitten in ihm«, antwortete der Falke. »Sieh nach unten und du wirst meine Worte ver stehen.« Little Bear blickte in die Tiefe und erschrak. Unter sich sah er viele Menschen, die wehklagend dem Ho rizont entgegenmarschierten. Geschundene Indianer ohne Heimat, verfolgt und gedemütigt. »Das ist mein Volk«, sagte Little Bear erschrocken, nachdem der Falke an Höhe verloren hatte und der Junge in die Gesichter der weinenden Kreaturen schau en konnte. »Ich erkenne meine Familie«, schrie der Jun ge aufgeregt. »Sie sind in Lumpen gehüllt, die ich nicht kenne, wo ist ihre festliche Kleidung?« »Es ist ein Marsch der Tränen«, antwortete der Falke. »Dein Volk verlässt Mutter Erde. Die Lakota gehen in die andere Welt, zu den Ahnen, die bereits auf deine Lieben warten.« »Warum? Wir müssen meinem Volk helfen. Bitte, lass uns sie aufhalten, ich muss meine Familie retten«, flehte Little Bear. »Eine fremde Macht nistete sich in die Herzen der Menschen ein«, sagte der Falke. »Die alten Werte wur den vergessen, Neid und Hass hielten Einzug in die Zelte, in denen einmal die Liebe zu Hause war.« Little Bear hörte kaum auf die Worte des Falken. Er sprang von dessen Rücken und landete inmitten der Menschen, die ihm einst so vertraut waren. Der Junge versuchte sie aufzuhalten. Er stellte sich den Frauen und Männern in den Weg, doch die beachteten den ver
zweifelten Jungen nicht. Little Bear war für sie wie ein Geist, sie gingen durch seinen Körper hindurch. »Komm«, sagte der Falke zu dem Jungen, »ich muss dir noch etwas zeigen«. Little Bear schwang sich erneut auf den Rücken des Vogels. Sie flogen zu dem nahen Wäldchen, in dem Little Bear mit Running Bird den Erdhörnchen nachstellte. »Siehst du dort unten den verzweifelten Mann, der den ermordeten Hirsch beweint?«, fragte der Falke. »Es ist dein Vater Red Hawk. Selbst er, der starke Medizin mann, ist machtlos gegen die Kälte, die Einzug gehalten hat in dem Land, das dem roten Mann geweiht war.« Little Bear beobachtete durch die Wipfel der Bäume, wie sein Vater das tote Tier umarmte, um es anschlie ßend in den Schoß von Mutter Erde zu legen. Der Jun ge sah die Verzweiflung und die Angst in den Augen von Red Hawk. »Warum kann ich nicht zu ihm?«, fragte der Junge. »Warum bin ich wie ein Geist für die Menschen, dass sie mich nicht sehen und hören können?« »Wir befinden uns in einem Traum«, erwiderte der Falke. »Die alltägliche Wirklichkeit ist aufgehoben. Es ist der Traum deines Vaters, der uns einlud, durch Zeit und Raum zu fliegen, um das zu erleben, was ihr Men schen die Zukunft nennt. Red Hawk hat mit seinem Traum diese Zukunft aus dem Schlaf gerissen. Er hat sie zum Leben erweckt und damit das Schicksal deines Vol kes und das der heiligen Dinge besiegelt.« Untätig musste Little Bear mit ansehen, wie sein Va ter zerschunden und blutig in das ehemalige Lager sei nes Volkes zurückkehrte. Er sah ihn verzweifelt nach der heiligen Pfeife suchen und hörte das irre Lachen der alten, zahnlosen Frau.
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»Das ist nun der Ort, an dem Träume Wirklichkeit werden«, sagte Little Bear mit bebender Stimme. »Ich hatte mir diesen Ort glücklicher vorgestellt.« »Das Glück geht oft dornige Wege«, antwortete der Falke. »Wir müssen lernen Vertrauen zu haben, das Glück stellt die Menschen oft auf eine harte Probe. Wer Geduld und Vertrauen aufbringt, dem fliegt es zu und weicht nicht mehr von seiner Seite.« »Wie kann ich Glück empfinden, wenn ich sehe, wie das Schicksal meines Volkes durch einen Traum grausa me Wirklichkeit wird?«, entgegnete Little Bear. »Träume sind Gedankenbilder«, antwortete der Vogel. »Sie entspringen deiner inneren Welt, aus der du deine individuelle Realität gestaltest. Schön und anmutig oder düster und traurig. Du hast die Möglichkeit den Traum von Red Hawk ungeschehen zu machen.« »Ich kann mein Volk und die heiligen Dinge vor dem Untergang retten?«, fragte Little Bear. »Erzähle mir, was habe ich zu tun, um meine Familie wieder glücklich zu machen?« Der Falke blieb dem Jungen die Antwort eine Weile schuldig, ehe er sagte: »Du musst nach dem ewigen Licht suchen. Finde die Flamme, die nie erlischt, sie ist der Schlüssel für deine Sehnsucht.« »Ich mache mich gerne auf, nach diesem Licht Aus schau zu halten, wenn du mir sagst, wo ich mit der Su che beginnen soll«, meinte Little Bear. »Blicke über den Rand des Canons«, belehrte ihn der Vogel. »Mutter Erde ist von Wüsten, Eis und Meeren bedeckt, die Menschen leben auf den Gipfeln der höchsten Berge. Das ewige Licht vermag in der kleins ten Hütte ein Feuer zu entfachen, so hell und strahlend, dass die größten und schönsten Paläste in seinem Schat 36
ten verschwinden. Du musst die weisen Frauen und Männer aufsuchen, die mit den Geheimnissen des Uni versums vertraut sind. Sie können dir sagen, wohin der Weg dich fuhren soll.« Little Bear überlegte lange. Die Worte des Falken be unruhigten ihn. »Ich soll meine Familie und das Land meiner Ahnen verlassen, um das ewige Licht zu fin den?«, fragte er voller Zweifel. »Wer seinem Volk und den heiligen Dingen dient, wird Großes vollbringen«, antwortete der Vogel. »Ver traue dem Lauf des Lebens, die Geistwesen haben auf deinen Wegen Blumen gestreut. Suche die Flamme und befreie deinen Vater von einer Last, die schwer auf sei ner Seele lastet. Warte nicht auf das Unvermeidliche, das Leben zeigt dir den Weg zu vielen Toren. Öffne sie und trete ein in das Reich der Sehnsüchte und Wünsche. In meinem Schatten darfst du gefahrlos wachsen.« Der Falke flog zurück in die Welt der Phantasie, die Little Bear mit seinen Gedanken gemalt hatte. »Dies ist dein Traum«, sagte der Vogel. »Bewahre ihn in deinem Herzen, er wird dir auf deinen weiteren Reisen noch dienlich sein.« »Wirst du mich begleiten?«, fragte der Junge den Fal ken. Dieser antwortete: »Mein Geist hat dein Herz um Einlass gebeten. Beherberge ihn gut und rufe, wenn du meine Hilfe benötigst.«
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Bear erwachte aus einem kurzen Schlaf. Er Little schaute sich um und beobachtete die Ponys, die friedlich neben ihm grasten. Sie fühlten keine Gefahr. Er weckte seinen Freund Running Bird. Der Junge war sofort hellwach. Er sprang auf, sattelte sein Pferd und war wenig später bereit weiterzuziehen. Verwundert blickte er auf Little Bear, der im Gras saß und mit großen Augen in den Himmel starrte. »Los«, sagte er, »wir müssen weiter. Der Tag ist noch hell, die Spuren der Ute sind nicht zu übersehen, wir folgen ih nen bis zur Quelle. Ich habe den Duft ihrer Pferde be reits in meiner Nase, riechst du ihn auch?« »In meinem Herzen hat sich der Geist eines Falken eingenistet«, antwortete Little Bear. »Er hat mich auser koren unser Volk zu retten, ich darf mit dir nicht wei terreiten. Ich muss nach dem ewigen Licht suchen.« Running Bird schaute seinen Freund ungläubig an. »Hat mein Bruder zu lange in der Sonne gelegen?« »Ich kann dir das nicht erklären, ich weiß, das ist sehr schwer zu verstehen. Reite bitte nach Hause zu unse rem Volk und sage meinem Vater, dass ich gesehen habe, wie er den Hirsch beweinte und ihn in den Schoß von Mutter Erde legte. Erzähle ihm, dass ich mich aufma che, den Traum zurückzuholen, um unser Volk und die heiligen Dinge zu retten. Red Hawk wird mich verste hen.« Nur zögerlich schwang sich Running Bird auf sein Pony. »Reite, so schnell du kannst«, sagte Little Bear zu 39
ihm, »schone dein Pony nicht. Sage meinen Eltern, dass ich wiederkommen werde.« Running Bird stieß einen lauten Schrei aus, wendete sein Pferd und jagte den Weg zurück, den sie her gekommen waren. Little Bear blickte der Staubwolke nach, die Running Bird hinter sich herzog. »Zweifle nicht an deiner Aufgabe«, sagte eine Stimme, die Little Bear schon einmal gehört hatte. >Der Falke, es gibt ihn wirklichEs war also kein Traum. < »Mein Geist ist zu deinem Herzschlag geworden«, entgegnete der Falke. »Wir sind mehr als Brüder, ich bin ein Teil von dir, deine Seele ist meine Seele, dein Blut ist mein Blut. Du besitzt die Kraft und die Schnel ligkeit eines Falken, behüte und denke an sie voller Dankbarkeit.« »Bin ich auch in der Lage, die Lüfte zu erobern wie ein Falke?«, wollte Little Bear wissen. Die Frage löste in ihm eine gewisse Heiterkeit aus. Ein Mensch, der zum Vogel wird — das gab es nur in den Erzählungen der Alten. Sein Vater hatte ihm die Geschichte eines heiligen Mannes erzählt, der sich in einen Vogel verwandeln konnte. Er stieg hoch in die Lüfte und überquerte Wüsten und Ozeane. »Dieser Mann war wie ein Geist«, hatte Red Hawk gesagt. »Den Menschen begegnete er zur selben Zeit an zwei verschiedenen Orten. Er sprach mit ihnen und heilte sie von ihren Krankheiten.« Little Bear hatte den Erzählungen seines Vaters wenig Glauben geschenkt, sie waren jedoch schön anzuhören. Darum überraschte ihn die Antwort des Falken, als die ser sagte: »Wir, die Vögel waren es, die den Menschen ihre Seele eingehaucht haben. Der Große Geist gab uns 40
den Auftrag dazu. Unser Atem machte sie zu Bruder wesen und verlieh ihnen große Kräfte. Sie ruhen in dir, rufe und aktiviere sie — und du kannst fliegen.« Little Bear lauschte den Worten des Falken. Er spürte, wie sein Blut pulsierte und die letzten Zweifel aus sei nem Herzen gewaschen wurden. Eine Woge des Glücks durchströmte seinen Körper. Er war bereit, die Suche nach dem ewigen Licht aufzunehmen. Ausgelöscht war der wilde Krieger, der den Ute die Pferde stehlen woll te. Der Indianerjunge wusste nun um die Bedeutung seiner Mission, das Volk der Lakota und ihre heiligen Dinge vor dem Vergessen zu bewahren. Er stieg auf sein Pony und machte sich auf den Weg.
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Bear war seit vielen Monden unterwegs. Er Little hatte den Weg nach Süden eingeschlagen, in der Hoffnung, hier auf einen weisen Mann zu stoßen, der ihn zum Ziel seiner Reise fuhren würde. Koter Sand hatte die Prärie mit ihrem saftigen Gras abgelöst. Nur vereinzelt wuchsen Büsche und Sträucher aus dem ausgetrockneten Boden. Es waren keine Blätter an den dürren Ästen und Little Bear fragte sich, wie es die Pflanzen schafften, am Leben zu bleiben. »Sie lieben Mutter Erde«, belehrte ihn der Falke. »Diese Sträucher fristen ihr karges Dasein in Demut und Hingabe mit den Naturgewalten. Sie sind zufrie den. Ein Busch in der Wüste kann kein kraftstrotzender Baum in den Wäldern deiner Heimat werden.« »Was hindert ihn daran?«, wollte Little Bear wissen. Der Falke antwortete: »Er hat Vertrauen zu sich selbst und er liebt die Einsamkeit. Dieser Busch ist ein Ere mit, der die Weisheit in sich selbst sucht und der erfah ren hat, dass wenige Tropfen Wasser das größte Glück auf Erden bedeuten.« Erneut ging ein Tag zur Neige. Little Bear blickte mit Staunen auf die mächtigen Felsen, die sich wie Don nerwesen aus der staubigen Landschaft erhoben. Die Sonne hatte sie in glutrote Farbe getaucht. Die Steine leuchteten wie die Seele eines Feuers. Little Bear suchte nach einer geeigneten Unterkunft für sich und sein tapferes Pony, als er in der Ferne ein 43
fremdartiges Tipi bemerkte. Neugierig ritt der Lakota Junge näher. Es war ein Haus, gebaut aus Holz und Erde. Zwei alte Frauen saßen davor und unterhielten sich. Sie blickten kurz hoch, als Little Bear vor ihnen sein Pony anhielt und abstieg. Die Frauen spürten, dass von diesem jungen Mann keine Gefahr ausging. »Suchst du Futter und Wasser für dein Pferd?«, fragte die eine und lächelte freundlich. Sie trug ein Kleid aus Wolle, an dem kleine blaue Steinchen in der untergehenden Sonne funkelten. Auf fällig war die schwere glänzende Kette, die um ihren Hals lag. In sie waren ebenfalls blaue Steine eingearbei tet. »Ja«, antwortete Little Bear, »der Ritt war lange und staubig und meine Wasservorräte sind aufgebraucht.« »Führe dein Pferd hinter das Haus und gehe den Pfad entlang, da findest du Wasser und frisches Gras«, sagte die Alte und fügte hinzu: »Großvater wartet bereits auf dich.« >Frisches Gras in dieser kargen LandschaftIch bin zu hochich muss tiefer kommen, damit ich sie aus nächster Nähe sehen kann.< Im Nu war Little Bear den beiden so nahe, dass er je des einzelne Haar auf ihren Köpfen erkennen konnte. >Ich bin wie ein Geist mit den Augen eines FalkenWas mag geschehen, wenn dieser Junge die Felswand hinunterstürzt und mit zerschmettertem Körper liegen bleibt?Bin ich, sein Geist, ebenfalls dem Tode geweiht oder besitzen Gedanken eine Seele, die sie weiterleben las sen? Ist eine Seele in mir, die mich unabhängig von diesem schmächtigen, gebrechlichen Körper macht — bin ich unsterblich? Ist dieser Junge mein zweites Ich oder bin ich lediglich ein Gedanke, der sich aufmachte, andere Welten zu entdecken? Schickte er mich los oder habe ich mich losgerissen aus seiner Seele, die mir ein goldener Käfig war? Warum dieser Freiheitsdrang, diese Sehnsucht nach der Unabhängigkeit, dort, wo die alltägliche Wirklich keit Flügel bekommt? Ist die Welt der Geistwesen die bessere Welt? Fliehe ich vor der Wirklichkeit, weil sie mir feindlich gesinnt ist und ich nach der Freiheit trachte, oder fliehe ich vor dem Unbequemen, weil ich nicht den Mut habe, das Leben mit seinen Grenzen und Gesetzen zu akzeptieren? Kann dieser Junge ohne mich überleben? Ich fühle mich für ihn verantwortlich. Ich kehre zu ihm zurück und löse mich in seiner Seele auf. Nicht für die Ewigkeit, denn meine Grenzen sind wei ter gesteckt als die des Jungen.
Sie werden mich tötenSie wer den Rache dafür nehmen, dass ich ihre beiden Küken aus dem Nest holen wollte. Hier endet also meine Reise auf der Suche nach dem ewigen Licht. Welche Ironie des Schicksals. Ich zog aus, um mein Volk und die heiligen Dinge vor dem Vergessen zu retten. Und ausgerechnet der heilige Adler, den wir Wanblee Gleshka nennen, wird meinem Leben ein Ende setzen und dem Traum meines Vaters neue Nahrung geben.< Die beiden Küken beobachteten den Jungen mit neugierigen Blicken. Little Bear hob die Hände gegen
Süden und betete: »Wakan Tanka, Großes Geheimnis, erbarme dich meiner. Ich weiß, ich habe Unrechtes ge i.in. Aber hilf mir, den tödlichen Fängen der Adler zu entfliehen.« Dann wandte er sich dem Horst zu und sagte zu den beiden Jungvögeln: »Ich habe euch fangen und töten wollte. Es ist nicht recht, aus Habgier junges Leben aus /ulöschen. Sollte ich hier mein Leben lassen, werde ich als Vogel weiterleben und diese Botschaft den Men schen bringen. Es ist nie zu spät für die Wahrheit.« Little Bear fühlte sich erleichtert und gestärkt. Da war ein Vertrauen, das er so noch nie gespürt hatte.Vor sichtig tastete er sich an den Horst heran. Die jungen Adler rückten zur Seite und Little Bear setzte sich in das riesige Nest, das mit Zweigen, Gras und Federn ausgelegt war. »Ich werde dem Tod mutig entgegenblicken«, sagte der Junge laut. »Ich habe keine Angst«, schrie er und der l lall des Echos trug seine Stimme ins Land. Es dauerte nicht lange, da erfüllte ein Rauschen und Pfeifen die Luft. Die Eltern waren von der Futtersuche zurückgekehrt. Während das Männchen über dem Nest kreiste und laute Schreie ausstieß, landete das Weibchen im Horst. Little Bear erwartete sein Ende. Das Herz raste, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. An den Tod denken ist eine Sache, ihn vor Augen haben aber die größte seelische Folter. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er jede Bewegung des großen Vogels. Das Weibchen hatte FutUT, einen kleinen toten Vogel für ihre Brut im Schna bel. Aufgeregt hüpfte sie am Rand des Horstes von ei nem Bein auf das andere. Sie drehte ihren Kopf unruhig hin und her, dabei ließ sie Little Bear keine Sekunde
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aus den Augen. Er fühlte sich von dem Blick des Vogels wie an den Marterpfahl gebunden. Nach einiger Zeit legte der Adler seinen Küken den Kadaver zum Fraß vor. Die beiden Jungvögel drehten ihre Köpfe zu Little Bear. Sie gaben ihm zu verstehen: »Wir möchten unser Futter mit dir teilen.« Zögernd rückte der Junge näher an die Vögel heran. War es bloß eine Finte? Das Muttertier blieb ruhig, als Little Bear seine Hand nach dem Fleisch ausstreckte. Das Menschenkind wur de von den beiden Jungvögeln als Bruder angenom men. Sie waren nun Kolas, Freunde fürs Leben. Die Alten adoptierten den Jungen, nahmen ihn wie einen Sohn auf. »Wie kommst du Menschenkind in unser Horst?«, fragte der alte Adler. Little Bear erzählte von dem Traum seines Vaters und von dem Falken, der ihm den Auftrag erteilte, die heiligen Dinge vor dem Vergessen zu be wahren. »Auch ihr Adler seid heilig und in großer Gefahr«, sagte Little Bear mit trauriger Stimme. »Sollte ich das ewige Licht nicht finden, wird mein Volk untergehen und ihr werdet die Menschen auf ihrem letzten Weg in die Welt der Ahnen begleiten. Mein Vater hat den Hirsch beweint, der ihm ein weiser Lehrer war. Ich werde die Adler beweinen, die mich aufnahmen wie einen Sohn.«
Seine Brüder waren zu stattlichen Adlern herange wachsen. Sehnsüchtig blickte Little Bear ihnen nach, wenn sie sich in die Lüfte erhoben, um den Himmel zu erobern. »Sucht nach dem ewigen Licht«, rief er ihnen nach. Sein Herz wurde traurig und schwer. Er sehnte sich nach den Menschen. »Ich will leben«, sagte er seinen Brüdern, »nehmt mich bitte mit.« In seiner Verzweiflung griff er nach den Beinen der Vögel und ließ sich von ihnen aus dem Horst fliegen. Die Adler trugen schwer an der Last ihres Bruders. Sie mussten ihre gesamte Kraft aufbringen, um Little Bear sicher zur Erde zu tragen. »Ich danke euch«, sagte er. »Ich komme wieder und bringe als Geschenk das ewige Licht, damit die heiligen Dinge nicht untergehen und ihr weiterleben könnt, das ist ein Versprechen. Ich lasse meine Gedanken zurück, mit dem Blut des Herzens und den Tränen der Seele. Lebt wohl meine Brüder.« Little Bear schaute seinen Kolas nach, bis sie als win zige Punkte am Himmel verschwanden. »Mutter Erde hat mich wieder«, jubelte der Junge und begann zu tanzen. Er drehte sich im Kreise und stampf te mit den Füßen auf den Boden. Erst zaghaft, dann schneller und fester, bis die Erde unter seinen Tritten erzitterte. Er tanzte ohne Unterlass, selbst als die Nacht hereinbrach.
Die Monde vergingen. Wenn der Indianerjunge im Horst schlief, legten seine beiden Brüder ihre Schwin gen über ihn. Little Bear lebte das Leben eines Adlers. Es war ihm jedoch nicht möglich die Flügel auszubrei ten und in die Freiheit zu fliegen.
Und erneut machte sich sein Geist auf, der Enge des Körpers zu entfliehen. Little Bear sah den Jungen un ter sich tanzen. Doch dieses Mal war er ihm nicht fremd. >Ich empfinde Liebe und Zuneigung für dieses
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Das Bild des tanzenden Jungen wurde zu Farben durchflutenden Trommelschlägen. Dieser Teil der Reise endete dort, wo sie begonnen hatte, im Tipi des Groß vaters vom Stamme der Diné. Little Bear schlug zaghaft die Augen auf und betrach tete den Alten, der ihm freundlich zulächelte. Sanft ver stummte die Trommel. Die Nacht hatte sich längst verabschiedet. Die Sonne wanderte bereits auf die Mitte des Tages zu. »Habe ich so lange Zeit in deinem Zelt zugebracht?«, fragte Little Bear den Alten. »Mit dem heiligen Mahl lösen sich Raum und Zeit auf«, antwortete der Medizinmann. »Alle Kraft geht von diesem Geiste aus, der aus der Frucht kommt, die du auf heilige Art eingenommen hast. Wir erfahren da durch die grenzenlose Weite unseres Daseins. Dieser Geist zeigt dir Bilder von damals und erzählt Geschich ten von Tagen, die kommen werden. Erzähle mir von deiner Reise in die Welt der Spirits.« Little Bear schilderte die Begegnung mit dem Jun gen, der zu ihm selbst wurde, von seinem Leben als Ad ler und von der Erkenntnis, dass der Geist sich nach Freiheit sehnt, die er im Körper nicht findet. Der alte Mann lauschte aufmerksam den Worten des Jungen. Er lächelte, als Little Bear sagte: »Ich nehme
von meiner Reise viele Erinnerungen mit, von denen ich in einsamen Stunden zehren werde. Dem ewigen Licht bin ich jedoch nicht näher gekommen. Ich habe es nicht im Horst der heiligen Adler leuchten sehen, ich werde weiter danach suchen müssen. Ich danke dir für das heilige Mahl und die Gastfreundschaft, die du mir entgegenbrachtest.« l )er alte Mann erhob sich und trat mit steifen Kno chen vor das Zelt. Er blinzelte in die Sonne und sagte zu Little Bear: »Bevor du weiter den Weg der Erkennt nis gehst, sei mein Gast. Die Frauen haben frisches Heisch gekocht, mit Wurzeln und Früchten. Deine Reise in die Welt der Spirits hat Kraft gekostet, du musst dich stärken, ehe du aufbrichst.« Little Bear fühlte den Hunger, der sich in seinen Ein geweiden breit machte. »Diese Einladung nehme ich gerne an«, antwortete er. Der Junge rief nach seinem Pferd, das sofort angelau fen kam. Es hatte Little Bear vermisst. Freudig rieb das Tier seinen Kopf an der Schulter des Jungen. Die Frauc-n warteten bereits auf Großvater und seinen jungen Gast. In dem großen Kessel über dem Feuer dampfte es und der Duft von frisch gekochtem Fleisch löste bei Little Bear nie gekannte Glücksgefühle aus. Das Essen schmeckte köstlich und der Junge aß sich wohlig satt. Auch Shuunka bekam eine Extraportion Mais ab. Nachdem Little Bear seine Vorräte aufgefüllt hatte, verabschiedete er sich von den freundlichen Men srlien. Er bestieg sein Pferd und wollte los, als der Alte zu ihm sagte: »Vergiss deine Brüder nicht. Du hast versproi'hen ihnen ein Geschenk zu bringen. Gelübde sind wakan, heilig, du musst sie erfüllen.«
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menschliche Tempel, der dener Käfig, Ich vermag des Körpers fen. Dies zu der Adler.
Wie erkenne ich das ewige Licht?Ist es ein Feuer wie dieses, ange facht durch den Wind? Wer hat die Flamme entzündet und warum brennt sie ewig? Was unterscheidet dieses Licht von meinem Feuer, das mich wärmt und die Nacht erhellt? Vielleicht brennt es in einer Höhle, tief unter der Erde, wo kein Regenschauer es auslöschen kann. Und wie komme ich da hin?< Shuunka riss den Jungen jäh aus seinen Gedanken. Das Pferd wieherte aufgeregt, es scharrte mit den Hu fen und tänzelte unruhig hin und her. Little Bear sprang auf. Vorsichtig schlich der Junge zu seinem Pferd. Er strich ihm zärtlich über die Nüstern und sprach beru higend auf Shuunka ein. »Braves Tier, hast du dich erschreckt? Die Nacht ist durchflutet mit den guten Gedanken unserer Freunde, die Angst ist unnötig. Dennoch werde ich über uns wa chen.« Das Pferd wurde ruhiger, sein unruhiger Blick jedoch verriet, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Little Bear kehrte zur Feuerstelle zurück. Er wollte die Flammen löschen, als er einen Blick auf die Decke warf.
Erschrocken fuhr der Junge hoch. Er hatte Besuch von einer riesigen Klapperschlange bekommen. Sie schien sich am Feuer wärmen zu wollen. Little Bear tastete nach einem Stock. Er wollte kein Risiko eingehen und das Tier töten. Mit dem Knüppel in der Hand schlich er an die Schlange heran. »Verzeih, wenn ich dich töten muss«, sagte er leise. »Mein Pferd und ich haben noch einen langen Weg vor uns und ich kann es mir nicht leisten, von dir gebissen zu werden. Ich bete für deine Seele.« Da sprach die Klapperschlange: »Warum willst du mich töten? Ich bin ein Geschöpf des Großen Geistes, wie du auch. Ist mein Leben weniger wert als das dei ner Brüder, für die du Tränen der Liebe vergießt?« »Die Adler haben mein Leben gerettet«, antwortete Little Bear. »Ihre Eltern sind meine Eltern, ich bin ein Sohn von Wanblee Gleshka, dem gefleckten Adler.« »Ich trage kein Federkleid und kann nicht fliegen, bin ich deswegen in deinen Augen ein minderwertiges Geschöpf?«, wollte die Schlange von dem Jungen wis sen. »Gehe mit mir und lebe das Leben einer Klapper schlange. Werde mein Kind, aber töte mich nicht. Menschen, die die Schlangenkraft in sich spüren, ver fugen über einen starken Zauber. Sie tragen die Energie der Schöpfung in sich, für sie gibt es keine Geheimnis se. Es ist die Kraft der weiblichen Energie, es ist die Kraft der Vergebung und der reinen Liebe. Krieger ver gessen oft, dass sie die Güte der Frau in ihren Herzen tragen. Deine Tränen sind Perlen, geformt aus dem feuchten Atem der Frau in dir.« Beschämt legte Little Bar den Stock zur Seite. Er setzte sich ans Feuer und betrachtete die Schlange. Ihre Worte hatten ihn tief berührt.
>Sie sprach die WahrheitWir sind Kinder von Mutter Erde, Geschöpfe des Großen Geis tes. Wer mag behaupten, dass der Büffel und der Hirsch heiliger sind als diese Klapperschlange? Wer gibt mir das Recht, sie zu töten und die Adler zu lieben und zu be weinen? Ist mein Herz groß genug, eine Schlange zu lieben?< »Ich würde mich geehrt fühlen, wenn du die Nacht in meinem Lager verbringen würdest«, sagte der Junge zu der Klapperschlange. »Schlafe an meiner Seite, ich werde über dich wachen und das Feuer hüten.« »Ich danke dir«, erwiderte die Schlange. »In deiner Nähe fühle ich mich sicher und geborgen. Du hast ein großes Herz, in dem die Güte ihren Tempel gefunden hat.« »Ich bin auf der Suche nach dem ewigen Licht«, sagte Little Bear. »Im Traum meines Vaters zieht mein Volk in die Spiritwelt, die Welt der Ahnen. Der Falke gab mir den Auftrag, diese Menschen und die heiligen Dinge vor dem Untergang zu retten. Ist dir die Flamme auf dem Weg deiner Wanderschaft irgendwo begegnet?« »Viele Monde von hier entfernt liegt das große Was ser«, entgegnete die Schlange. »Reite zu ihm und lau sche den Wellen, die das Festland besingen. Es sind heilige Lieder. Die Boten des Meeres haben die Kraft von vielen Büffeln und die Spannweite ihrer Flügel übertrifft die der Adler. Lasse dich von ihnen tragen und du wirst dem ewigen Licht einen Schritt näher kommen.« Little Bear schlief vor dem Feuer. Er träumte von ei ner Flamme, die mitten auf dem Wasser tanzte und ihn einlud zu ihr zu kommen. Eine riesige Schlange be schützte das Feuer und stieß den Jungen immer wieder
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an das Ufer zurück. Das ewige Licht war für Little Bear greifbar nahe und doch unerreichbar. Als er am nächsten Morgen erwachte, war die Klap perschlange verschwunden. Er suchte nach ihr. Im fei nen Sand entdeckte er ihre Spuren, die nach Norden führten. Filigrane Linien, wie von einem Künstler in die Natur gezeichnet. Little Bear folgte der Schlangen fährte. Sie führte ihn bis an den Rand einer Steppe mit spärlichem Graswuchs. Dort verlor er die Spur aus den Augen. >Die Fährte fuhrt ins Nichtsals wären der Schlange Flügel gewachsene Der Junge fand lediglich Fußspuren eines erwachsenen Menschen. >War die Klapperschlange die Feuerhüterin aus mei nem Traum?Aus welchem Grund zeigt sie mir den Weg zum Meer und verteidigt die Flamme mit ihren Giftzähnen, welches Geheimnis verbirgt sich dahinter?< Der Junge räumte das Lager, verwischte die Spuren und sattelte Shuunka. »Auf zum großen Wasser«, sagte er, »ich möchte den Wellen lauschen, wenn sie das Fest land besingen, und der Schlange die Flamme entreißen, die auf dem Wasser tanzt.«
Mond wanderte als Sichel über den Himmel, Derwuchs zu einem feuerroten Kreis und verlor wieder
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an Größe, als Little Bear müde und abgekämpft den Ozean erreichte. Schon von weitem hörte er lautes Donnergrollen. Es waren mächtige Wellen, die sich schäumend ihren Weg aus dem ewigen Wasser bahnten und an den Felsen zerschmetterten, wo sie in einer Wo ge aus Gischt in sich zusammenfielen und als funkelnde Diamanten ihren Weg zurück ins Meer fanden. Dieses grandiose Naturschauspiel beobachtete der Junge mit großen Augen. Er hatte noch nie zuvor so viel Wasser gesehen. Als Kind schwamm er mit seinen Freunden in einem See, der hoch in den Bergen lag. Sie konnten das andere Ufer sehen, und dennoch erschien ihnen dieser See unendlich weit zu sein. Unbesiegbar für die kleinen Schwimmer. Selbst im Kanu reichten ihre Kräfte nicht aus, das andere Ufer zu erobern. Der Junge musste lachen, wenn er die Bilder seiner Kindheit vor Augen sah. »Ich war wie ein Käfer, der die grüne Wiese für den Nabel der Welt hielt. Nicht nur Gedanken sind grenzenlos, auch jeder Schritt kann mich der Erkenntnis näher bringen, dass es keine Gren zen gibt. Ich möchte, hier die Nacht verbringen und morgen weiterziehen«, sagte er zum Falken. »Dieses Meer beflügelt meine Sehnsucht nach dem Ende der Welt. Ich möchte das Wasser rauschen hören und mir vorstellen, die Wellen tragen mich in ein Land, das jen seits aller Vorstellungen liegt.«
Ein geeigneter Lagerplatz war schnell gefunden. Eine Mulde, die von kleinen Felsen unigeben war. Auch Shuunka fand vereinzelte Grasbüschel auf dem stei nigen, sandigen Boden. Genügend Futter für eine Nacht. Little Bear machte es sich in der Mulde bequem. Ein warmer Wind strich aus dem Landesinneren in Rich tung Meer. Der Junge holte seine letzten Fleischreser ven aus dem Beutel. Die Früchte schmeckten bereits leicht säuerlich und das Fleisch war zäh. Aber das störte den Jungen wenig. Er schloss die Augen und lauschte dem Lied der Wel len, das sich stetig wiederholte. Das Anrollen des Wassers glich dem dumpfem Klang einer mächtigen Pow-WowTrommel, die auf den Tanzfesten der Lakota von sechs Männern geschlagen wurde. Das monotone Getöse löste in Little Bear eine Leichtigkeit des Seins aus. In Ge danken flog er mit seinen Brüdern durch die Lüfte. >Frei sein wie ein Vogelwarum sind die Menschen ständig Gefangene ihrer Grenzen und Tu genden? Wenn ich das ewige Licht gefunden und die heiligen Dinge vor dem Vergessen bewahrt habe, werde ich die Menschen lehren, freier in ihren Gedanken und in ihrem Handeln zu sein.
Ich muss in einer riesigen Sandkiste gelandet seinDieses Land muss die Heimat von schrecklichen Dä monen seinIch kann mir nicht vorstellen, dass hier Menschen leben. < Er wischte sich den Sand aus den Augen und starrte
ungläubig in die Ferne. Im tiefsten seines Herzen hatte er gehofft, die öde Wüste sei lediglich eine kurze Prü fung, die ihm von Unbekannten auferlegt worden war. Doch dieser Anblick ließ ihn verzweifeln. Sanddüne reihte sich an Sanddüne, schäumende Wel len des Ozeans im Tode erstarrt, vergessen von den Le benden. »Wie die heiligen Dinge«, murmelte Little Bear. »Werden die Pfeife, der Büffel, der Hirsch und der Adler auch zu Sand, wenn die Menschen sie vergessen haben? Ist dieses Land etwa der Friedhof der heiligen Dinge? Könnte diese öde Wüste das Ende des Traumes sein, den mein Vater zum Leben erweckte? Lassen mich die Geist wesen teilhaben am Untergang von Mutter Erde?« Dieser Gedanke machte Little Bear traurig. Seine Trä nen wuschen die letzten Sandkörner aus den Augen und fielen mit ihnen zu Boden. Der Atem der Seele ver dunstete im Nu auf dem sengend heißen Untergrund. Verzweifelt dachte Little Bear nach. >Es muss einen Ausweg aus dieser Gluthölle geben. Ich werde meine Brüder, die Adler rufen, sie sollen mir den Weg in die Freiheit zeigen. »Kolas, Freunde, hier stehe ich, Little Bear, und benö tige eure Hilfe«, rief er laut. Holt mich aus diesem Tal der Trauer und der Einsamkeit. Fliegt mich zurück zu meinen Eltern, die auch eure Eltern sind. Lieber lebe ich als Adler im Horst, als hier, im Traum meines Vaters, mit den heiligen Dingen zu Staub zu werden.« Ein leichter Wind nahm die flehende Stimme des Jungen auf und trieb sie vor sich her. »Lieber lebe ich als Adler im Horst, als hier, im Traum meines Vaters, mit den heiligen Dingen zu Staub zu werden«, flüsterte die Wüste.
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Little Bear horchte in die Stille. Da vernahm er ein Pfeifen über seinem Kopf. Er blickte hoch und sah zwei Adler, die ihre Kreise am Himmel zogen. >Meine Brü der, sie haben mein Flehen erhört, sie sind gekommen, um mich zu holenHier endet also mein LebenDer Friedhof der heiligen Dinge wird auch meine Grabstät te. Ich folge der Pfeife und dem Büffel, die zu Staub wurden, verlassen von meinen Brüdern und Freunden gehe ich in die Welt der Ahnen.< Er schloss die Augen und sang ein Lied, um den Tod willkommen zu heißen.
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»Ich grüße dich,
die Ahnen haben es gesagt.
Ich grüße dich,
die Tiere haben es gesagt.
Ich grüße dich,
Mutter Erde hat es gesagt.
Ich grüße dich,
sei willkommen in meinem Herzen.«
Wind kam auf. Er blies den feinen, gelben Sand über den Körper des Jungen, der ihn bedeckte wie ein fein gesponnenes Leichentuch. >Ist Geist vergänglich, kann er sterben wie ein menschlicher Körper, der von seiner Seele verlassen wurde? Gedanken verdursten in der Wüste.
Wie schön sie istDie Stimme des Falken kennt mein Geheimnis nicht, das ich am Herzen trageGibt es Din ge, die er nicht weiß? Wie sich Liebe anfühlt, oder wie es ist, den Duft eines Mädchens einzuatmen, das hinter dir auf einem Büffel sitzt und sanft deine Haut berührt. Die wahre Liebe bleibt dem Falken verborgen, weil er ein Vogel ist und ich ein Mensch. Ist ein Falke fähig zu lie ben, einzutauchen in dieses Gefühl aus Sehnsucht und Leidenschaft? Wohl kaum. Ich werde ihm nichts von Wüstenblume erzählen, er würde es nicht verstehen.< Zwei Monde blieb Little Bear in Gesellschaft des Mee res, ehe er seine verzweifelte Suche fortsetzte. Der Jun ge lenkte sein Pferd in Richtung Norden. »Das ewige Licht«, flehte er Shuunka an, »bringe mich zu ihm. Meine Kräfte und mein Glaube an das Gute schwinden. Ich habe Sehnsucht nach meinen El tern, ich vermisse die Fürsorge von One Star und den väterlichen Rat von Red Hawk. Ich habe Angst, dass mein Volk mich vergessen hat.« Tränen der Sehnsucht bahnten sich aus seiner kindli chen Seele. »Running Bird«, schrie Little Bear, »hast du mich vergessen? Begegne ich dir in deinen Träumen oder hast du die Erinnerung an deinen Kola so tief ver graben, dass sie den Weg in dein Tipi nicht mehr fin det?« Seine Worte gingen in ein Wehklagen über. »Ich habe versagt«, schluchzte er. »Wie konnte ich mir anmaßen, den Traum eines Medizinmannes in Frage zu stellen? Ein Kind versucht die heiligen Dinge vor dem Verges sen zu retten, wie töricht ich doch war! Mein Volk betrat vor langer Zeit diese Erde. Es stieg aus den Schwarzen Bergen ans Tageslicht, wo es im 80
Winter seine Tipis aufschlug. Die weiße Büffelkalbfrau brachte den Lakota die Pfeife, warum sollte ausgerech net ich das Göttliche bewahren? Ich werde meine Su che abbrechen und nach Hause zurückkehren. Lieber komme ich mit leeren Händen und ertrage den Hohn und den Spott meines Volkes, als dass ich hier in der Fremde an den Tränen meiner Sehnsucht und Schwä che ersticke. »Bringe mich nach Hause«, flüsterte der Junge sei nem Pferd ins Ohr. »Du kennst den schnellsten Weg, trage einen zahnlosen Krieger zum Schlachtfeld seiner Unzulänglichkeiten.« Little Bear gönnte Shuunka wenig Ruhe, er trieb das Tier ständig an, ohne jedoch auf den Weg zu achten. Er vertraute dem Instinkt seines Pferdes, das er als Fohlen von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Shuunka war für den Jungen mehr als ein treuer Wegbegleiter, er war ihm Freund und Spielgefährte, Retter und Tröster in schwierigen Stunden. Erschöpft und hungrig erreichten Pferd und Reiter ein Dorf. Die Häuser waren aus Erde und Lehm gebaut, sie standen in einem großen Kreis und in der Mitte des Platzes brannte ein Feuer. Frauen und Kinder liefen von einer Seite des Platzes zur anderen, es herrschte re ges Treiben und das Gewirr von unzähligen Stimmen lag in der Luft. Hundegebell kündigte die unerwarteten Gäste an. Auf seinem Pferd war Little Bear eine imposante Er scheinung, zumindest für die Menschen in diesem Dorf, die von kleinerem Körperwuchs waren. Die Kin der flüchteten in die Häuser oder versuchten sich hin ter ihren Müttern zu versteckten. 81
Das Kläffen der Hunde lockte auch die Männer aus den Hütten, die mit neugierigen Blicken den jungen Mann beobachteten, als er von dem Pferd stieg. Da er keine Waffen bei sich trug, begegneten ihm die Men schen mit freundlichen Blicken und Gesten. »Du siehst müde aus«, brach eine Frau das Schwei gen. »Wir wollen gerne unser Mahl mit dir teilen, sei unser Gast.« Ein Mädchen löste sich aus der Gruppe. Es nahm Shuunka am Zügel und führte ihn wortlos auf eine na he Wiese, auf der Tiere weideten, die Little Bear noch nie gesehen hatte. Sie waren groß wie Hunde und hat ten ein weißes, lockiges Fell. Die Kinder verloren langsam ihre Scheu vor dem fremden Jüngling. Ein Mädchen kam nahe an ihn heran und gab ihm einen Stoß. Mit großen Augen wartete sie auf seine Reaktion. Little Bear kannte die Spiele der Kinder. Er schnitt eine Grimasse und taumelte rück wärts, als hätte ihn der Prankenhieb eines Bären von den Beinen geholt. Das Mädchen lachte vor Vergnügen und bald war Little Bear von den Kindern des Dorfes umringt. Jedes wollte ihn zu Boden stoßen und mit ihm seine Kräfte messen. Der Junge genoss den Trubel um seine Person, er at mete das Lachen der Mädchen und Jungen ein wie pu re Lebensenergie. >Wie habe ich diesen Rummel vermisstBin ich am Ziel meiner Reise angelangt?Die einsa me Hütte, die alte Frau, die sich in eine Klapperschlan ge verwandelt — finde ich hier das ewige Licht? Brennt die Flamme, die nie erlischt in diesem Erdhaus?< »Darf ich deine Mutter besuchen?«, fragte Little Bear und es fiel ihm schwer, seine Aufregung zu ver bergen. Er sah das Erstaunen in dem Gesicht der Frau. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du willst meine Mutter besuchen?«, fragte sie ungläubig. »Diese verwirrte Großmutter, nach der die Kinder mit Steinen werfen, die verhöhnt und verspottet wird?« »Ich weiß, dass sie auf mich wartet«, entgegnete Little Bear mit sanfter Stimme. »Unsere Herzen schlagen in
einem Takt. Sie besitzt einen Schatz, den ich seit langem suche.« »Ich darf dir das nicht erlauben«, erwiderte die Frau, du musst unseren Häuptling Tonto fragen, er wird da rüber entscheiden.« »Führe mich zu ihm«, bat der Junge. Der Häuptling war ein kleiner drahtiger Mann. Sein langes schwarzes Haar bändigte er mit einem Tuch, das er um den Kopf gebunden hatte. Little Bear sagte zu dem Mann: »Ich danke dir für den warmherzigen Emp hing und für die Gastfreundschaft, die mir dein Volk entgegenbrachte. Ich möchte nicht unhöflich erschei nen, aber darf ich meinen Dank auch der Bewohnerin der einsamen Hütte dort entgegenbringen? Ich habe ein kleines Geschenk für sie.« Der Häuptling musterte den Jungen. »Es ist für Fremde gefährlich, sich der Hütte von Schlangenfrau zu nähern«, erwiderte Tonto. »Sie ist der schwarzen Magie mächtig und die dunklen Geister sind ihre Begleiter. In den Nächten, in denen der Mond sein volles Licht auf die Erde wirft, verwandelt sich die Alte in eine Klapper schlange. Ich kann nicht zulassen, dass sie dich tötet, um an deine Seele zu gelangen. Ich bin der Häuptling, wa rum willst du mir dein Geschenk nicht übergeben?« Little Bear antwortete: »Mein Vater ist ein angesehener Medizinmann vom Stamme der Lakota. Er sagt, Menschen, die ihren Geist auf Reisen schicken, erfah ren die Gnade des Großen Geistes.Wer sie ehrt und ih nen mit Demut und Respekt begegnet, dem sind die Spirits wohlgesonnen. Mit meinem Geschenk an die Großmutter möchte ich dir, Häuptling Tonto, deinem Dorf und den Menschen, die hier leben, Glück und Reichtum bescheren.«
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Der Mann dachte lange über die Worte des Jungen nach. »In dir steckt die Seele eines weisen Lehrers«, sagte er. »Gehe zu Schlangenfrau, überreiche ihr dein Ge schenk und wir werden sehen, was passiert.« »Ich danke dir«, antwortete der Junge. Inzwischen hatte es sich im Dorf herumgesprochen, dass Little Bear die Hütte von Schlangenfrau aufsuchen wollte. Erwachsene und Kinder hatten sich am Platz eingefunden. Sie sahen dem Jungen nach, wie er sich langsamen Schrittes dem Haus der Zauberin näherte. Little Bear spürte ihre Blicke in seinem Rücken. Die Behausung der alten Frau war in einem erbärm lichen Zustand. Wände und Dach waren notdürftig mit Holz und Erde abgedichtet. Die Hütte stand leicht schräg in einer Grube, in der sich Regenwasser ange sammelt hatte. >Wie kann Tonto es zulassen, dass eine Großmutter so unwürdig hausen muss