Seewölfe 12 1
Davis J.Harbord 1.
Der Wind orgelte von Süden heran. Er hatte Sturmstärke und stieß die Wassermassen in ...
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Seewölfe 12 1
Davis J.Harbord 1.
Der Wind orgelte von Süden heran. Er hatte Sturmstärke und stieß die Wassermassen in den Plymouth Sound, jagte sie vor sich her und schmetterte sie mit ungeheurer Wucht gegen die Hafenbollwerke. Sie ächzten und stöhnten, als litten sie Folterqualen. Es war eine gespenstische kalte Nacht — eine jener rauhen Nächte im Oktober 1576, in denen die Herbststürme wie entfesselte Reiterscharen über den Atlantik tobten. Und es schien, als hätten sie zum Ziel, diesen lächerlichen Zipfel Cornwall an der südwestlichsten Ecke Englands wie ein dünnes Hemd zu zerfetzen. Die Leute von Plymouth kannten das. Die Ängstlichen unter ihnen zogen sich die Bettdecke über die Ohren; beteten, bereuten ihre Sünden und lauschten dem Fauchen des Sturms, der durch die engen Häuserzeilen mit den vorgekragten Dächern fegte. Sie kannten diese Stürme — und doch zuckten sie jedesmal zusammen, wenn mit peitschenartigem Knall ein Fensterladen aufsprang und gegen eine Hauswand krachte. Doch nicht alle zitterten um ihr Leben, nicht alle beteten zu Gott oder verkrochen sich im Bett. Zumindest nicht jene, die dem Teufel schon einige Male ein Ohr abgesegelt hatten und gegen den Wind spuckten, wenn er ihnen zu mickrig erschien. Philip Hasard Killigrew betete nicht. Im Gegenteil, es war eine Nacht ganz nach seinem Geschmack, und er ließ sich vom Sturm keineswegs in die „Bloody Mary“ wehen. Diese Kneipe stand unmittelbar an der Ecke Millbay Road und St. Mary Street, die direkt vor den Great Western Docks zusammenstießen. Natürlich hätte die Schenke auch „St. Mary“ heißen können, denn mit ihrer einen Hälfte bildete sie das südliche Ende der St. Mary Street. Indes war der Großvater von Nathaniel Plymson, dem Wirt der „Bloody Mary“, alles andere als ein frommer Mann gewesen. Böse Zungen behaupteten, der Alte habe an der
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Küste von Cornwall die Strandräuberei betrieben und mit dem solchermaßen „verdienten“ Geld die „Bloody Mary“ aus der Taufe gehoben. Sein Enkel Nathaniel hütete das Erbe, das ihm in den feisten Schoß gefallen war. Er scherte sich einen Dreck darum, daß die scheinheiligen Bürger von Plymouth die „Bloody Mary“ als Sündenpfuhl und Lasterhöhle bezeichneten. Für ihn war die „Bloody Mary“ eine wahre Goldgrube. Hier versoffen die Seeleute ihren letzten Penny samt Hemd und Hose. Und wenn sie wieder aufwachten, war Plymouth samt seiner „Bloody Mary“ nur noch ein ferner Traum hinter der Kimm, und der fette Plymson war wieder einmal um zwei Pfund reicher. Der Jahreslohn eines Zimmermanns, der sich redlich mühte, betrug gerade sieben Pfund. So gesehen kassierte Plymson für den „Verkauf“ eines betrunkenen Seemanns eine horrende Summe. Dazu kamen noch Erlöse für bestimmte Beutewaren, die über oder unter der Theke der „Bloody Mary“ ihren Besitzer wechselten und dank Plymsons Beziehungen über allerlei dunkle Kanäle weiterbefördert und in klingende Münzen verwandelt wurden. Der Sturmstoß, mit dem Philip Hasard Killigrew in die „Bloody Mary“ platzte, wirkte wie ein brettharter Scheuerlappen, der den Zechern um die jäh geduckten Köpfe geschlagen wurde. „Tür zu!“ schrie Plymson. „Ist zu.“ Plymson hielt die ordinäre Schwarzhaarperücke fest, die ihm der Sturmstoß schier von der Glatze gefegt hätte. Der mumifizierte Stör über dem Tresen schaukelte sanft hin und her. Er war so lang wie ein kräftiger Männerarm und hatte sein Maul weit aufgerissen. An dem rohen Holztisch hinten im Gewölbe kicherte jemand. Plymson starrte den großen, breitschultrigen Mann, der die Tür verdeckte und grinsend zwei Reihen weißer Zähne zeigte, strafend an. Philip Hasard Killigrew nahm keine Notiz davon. Sein Gang war wie der einer
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Wildkatze. Als er an der Theke stand, mußte Plymson den Kopf in den Nacken legen um zu ihm hochzuschauen. Er blickte in zwei eisblaue Augen. Es waren junge Augen in einem Gesicht, das Härte verriet und bereits unauslöschlich von Wind, Wetter und Sonne gezeichnet war. Ein junges und doch schon altes Gesicht, braungebrannt und wild. Über Plymsons Rücken huschte ein kalter Schauer. Aber er hätte nicht Plymson sein dürfen, wenn er nicht bereits im Geist überschlagen hätte, daß dieser gutaussehende Fremde mehr wert war als die üblichen zwei Pfund. Unter Brüdern vielleicht sogar drei Pfund. Seine Finger rückten erregt die schmierige Perücke zurecht. „Ein wirklich hübsches Exemplar“, sagte Philip Hasard Killigrew. „Meine Perücke?“ fragte Plymson irritiert. Killigrew lächelte. „Die natürlich auch”, sagte er. „Nein, ich meinte den Stör da oben.“ „Ein Erbstück“, sagte Plymson; Mit einemmal tanzten tausend Teufel in Killigrews eisblauen Augen. „Die Perücke?“ „Nein, der Stör“, erwiderte Plymson gereizt. „Sieht meine Perücke vielleicht nach einem Erbstück aus?“ Der junge Riese hob die breiten Schultern. „Ich -weiß nicht, wie ein Erbstück aussieht. Mein Alter lebt noch.“ „Wer ist Ihr Alter?“ „John Killigrew.“ Plymson starrte den jungen Mann an. Zwei Männer, die allein an einem Tisch hinter einem Pfeiler saßen, horchten auf. „Sagten Sie John Killigrew, Sir?“ Der junge Riese nickte gleichgültig. „John Killigrew aus Falmouth?“ fragte Plymson, der seine Erregung nun kaum noch verbergen konnte. Sein Blick suchte die beiden Männer hinter dem Pfeiler. Er konnte sie sehen, und er wußte, daß ihnen kein Wort der Unterhaltung entging. Philip Hasard Killigrew sah sie nicht. Er nickte wieder, auch diesmal gleichgültig. Dennoch fragte er sich, was diesen feisten
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Wirt so heftig erregte. Daß die Killigrews aus Falmouth - voran Sir John gewinnträchtig zur See fuhren, sollte auch in Plymouth bekannt sein. „Ich habe da einen spanischen Wein, Sir mhmm!“ Plymson verdrehte seine wäßrigen Äuglein, die schier im Fett verschwanden, und küßte verzückt die Spitzen seiner kurzen Finger. Dann flüsterte er: „Beuteware. Und umsonst für jeden, der zum erstenmal die ,Bloody Mary’ besucht.“ „Süß?“ fragte Philip Hasard Killigrew. Plymson schien um mindestens zwei Fingerbreiten zu wachsen. Er wischte seine Perückenlocke aus der Stirn und starrte in die eisblauen Augen. „Süß? So süß wie die Lippen einer feurigen Andalusierin!“ Sehr sachlich fragte Philip Hasard Killigrew: „Woher wissen Sie das?“. „Woher weiß ich was?“ fragte Plymson verdutzt. „Das mit den feurigen Lippen.“ „Oh“, sagte Plymson und drohte mit dem Finger, „Sie sind ja ein Schelm!“ „Bestimmt“, sagte Philip Hasard Killigrew. „Nun, das werden Sie bald selbst feststellen“, sagte Plymson bedeutungsvoll. Dann grinste er, und dieses Grinsen gefiel dem jungen Mann plötzlich überhaupt nicht mehr. Hier war ein Spiel im Gange, bei dem er unvermittelt zur Hauptperson ernannt worden war. Der Wirt tauchte unter den Tresen und schien in einem Regal herumzugrapschen. Jedenfalls war eine Zeitlang nur sein beschwerliches Ächzen und Schnaufen zu hören. Als er wieder hochkam, schwenkte er eine verstaubte Flasche. „Dunkel wie eine andalusische Nacht.“ Er schenkte den öligen Wein in einen Zinnbecher. Von der St.-Andrew-Kirche hallten Glockenschläge durch die Sturmnacht. Im Schankraum war es kühl und so finster, daß man nur wenige Schritte weit sehen konnte. „Probieren Sie mal, Sir.“
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Plymson schob den Zinnbecher über den Schanktisch. Philip Hasard Killigrew stand ganz still und starrte auf den Becher mit dem rubinroten Wein. Er schien zu überlegen. „Da fehlt noch ein Becher“, sagte er schließlich, ohne den Kopf zu heben. „Ich möchte mit Ihnen anstoßen.“ Plymson kicherte. “Denken Sie ...“ „Ja“, sagte Philip Hasard Killigrew hart. „Genau das denke ich.“ „Sie sind wirklich ein Schelm, Sir Killigrew.“ „Und was für einer. Den ,Sir` können Sie sich von mir aus sparen.“ Plymson lächelte wie ein Faun und schenkte einen zweiten Zinnbecher voll. Er hob ihn an die Lippen. „Zum Wohl, Killigrew. Bis zur Neige!“ „Bis zur Neige.“ Sie leerten die Becher, und Plymson schenkte sofort nach. Er blickte nun wieder recht zufrieden drein. „Ein sehr guter Wein“, sagte Killigrew, „fast zu gut?“ „Zu gut? Für was zu gut?“ „Für einen Schelm wie mich.“ „Nicht doch“, widersprach Plymson. „Sie sind mein Gast, und es ist mir eine Ehre, meinen besten Wein einem Killigrew anbieten zu dürfen. Setzen Sie sich, und genießen Sie Plymsons ,Andalusische Nächte’. Ich habe noch ein paar Flaschen.“ „Vorsichtig“, sagte Philip Hasard Killigrew, „im Saufen war ich noch allemal besser als der alte John.“ „Nur im Saufen?“ „Nein, auch im Entern“, sagte Killigrew, nahm die Flasche und den Becher und tigerte auf einen leerstehenden Tisch in einer Mauernische zu. Hinter seinem Rücken warf Plymson einen schnellen Blick zu den beiden Männern hinüber, die bei dem Pfeiler saßen. Er nickte ihnen kaum merklich zu und winkte in einer drängenden Geste zur Tür hin. Als sich Killigrew mit dem Rücken zur Wand setzte und zu ihm hinüberschaute, widmete Plymson sich intensiv seiner Nase. Eine graue Katze strich schnurrend um Killigrews Beine. Er nahm sie auf und
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streichelte sie. Ihr linkes Ohr war von wilden Kämpfen auf den Dächern von Plymouth zerfleddert und zernarbt. Als er den Zinnbecher vollschenkte, setzte sie mit einem eleganten Sprung auf den Tisch. Sie schnupperte, stellte den Schwanz hoch und tunkte das Mäulchen in den Wein. „He, he!“ protestierte Philip Hasard Killigrew verblüfft. Die Katze schlabberte, leckte sich die Barthaare und starrte ihn mit einem rätselhaften Blick an. „Noch ein Schelm“, sagte Philip Hasard Killigrew. Sie tranken abwechselnd — die Katze und er. Sie immer nur, wenn er wieder vollgeschenkt hatte. Plymson hantierte mit Bechern und Flaschen und wischte geschäftig mit einem Lappen über den Schanktisch. Draußen jammerte der Sturm sein Lied. Ganz so wild klang es nicht mehr. Zwei Männer tauchten hinter einem Pfeiler auf und schlenderten zum Tresen. Der eine hatte einen Ring im linken Ohrläppchen und blickte scheinbar gleichgültig weg, als Philip Hasard Killigrew ihn angrinste. Sie tuschelten mit dem dicken Plymson. Der redete gestenreich mit den Händen, verdrehte die Augen und schob seine Perücke auf der Glatze hin und her. Er schüttelte ein paarmal den Kopf, blies die dicken Backen auf, pochte auf die Theke und deutete auf seinen Bizeps, auf seine Schultern und tippte sich schließlich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Verrückt, dachte Philip Hasard Killigrew. Der Mann neben dem Kerl mit dem Ohrring zog einen Ledersack aus dem Wams und stellte ihn auf den Schanktisch. Dort blieb der Beutel nur ein paar Sekunden stehen, dann hatte ihn der dicke Plymson weggezaubert. Nur ein bißchen geklingelt hatte es —so wie Münzen klingelten. Die beiden Männer marschierten hintereinander zur Tür, schauten weder nach rechts noch nach links und schon gar nicht zu dem einsamen Zecher mit der Katze. Die Tür prallte ihnen entgegen, und
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wieder fegte ein Sturmstoß durch die „Bloody Mary“. Der dicke Plymson watschelte hastig zur Tür und rammte sie hinter den beiden Männern dicht. Philip Hasard Killigrew schüttelte die Flasche und stellte sie auf den Kopf — leer. Die paar Tropfen leckte die Katze vom Tisch. Sie war putzmunter, streckte den geschmeidigen Rücken und starrte Hasard erwartungsvoll an. „Du bist dem Suff verfallen“, sagte Hasard zu ihr. „Mal sehen, vielleicht kriegen wir noch eine. So war es. Nathaniel Plymson brachte die zweite Flasche. „Kusch!“ sagte er zu der Katze. Die fauchte, stellte den Buckel hoch und fegte mit einem Satz unter Hasards Stuhl. Der dicke Plymson gebärdete sich ziemlich wütend. Seine Wabbelkinns zitterten erregt. Er rückte ganz dicht an Hasards Stuhl und bolzte mit seinem Stiefel nach der Katze. „Hau ab, du Mistvieh!“ Er roch nach Schweiß, und Hasard drehte seine Nase weg. Weiß der Teufel, er mochte diesen Geruch nicht. Männer, die Angst hatten, rochen wie dieses fette Mastschwein. Die Katze unter seinem Stuhl fauchte erbittert. Ihre rechte Pfote zuckte hervor, blitzartig und wild, und hieb die gespreizten Krallen mit den winzigen Dolchspitzen in das Hosenbein des Dicken. Plymson quiekte wie ein Ferkel .und sprang zurück. Aus dem zerrissenen Hosenbein sickerte Blut. „Wer eine Katze tritt, hat selbst schuld“, sagte Hasard und schenkte aus der neuen Flasche Wein in den Zinnbecher. Nathaniel Plymson wankte zum Tresen zurück. Er jammerte und verschwand durch die Tür, die zur Küche führte. „Brav“, sagte Hasard, nahm den Zinnbecher, bückte sich und stellte ihn zwischen seine Beine auf den Steinboden. Das Katzenköpfchen erschien und schlabberte.
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Und kurz darauf sank das Katzenköpfchen zur Seite und stieß dabei den Becher um. Der Wein lief blutrot über den Boden. Das Kätzchen schnaufte, rollte sich zusammen und fing tatsächlich an zu schlafen. Philip Hasard Killigrew runzelte die Stirn und saß ganz still. Er starrte auf das Kätzchen hinunter und dachte, so ist das also. Andalusische Nächte! Na warte, du Bastard! Er nahm den Zinnbecher auf, schenkte sich einen kleinen Schluck ein und kostete vorsichtig. Der Wein war süffig wie zuvor, und dennoch hatte er jetzt einen kaum wahrnehmbaren bitteren Nachgeschmack. Hasard stand auf, griff sich Flasche und Becher und schlenderte durch die „Bloody Mary“. Aus der Küche klang die wütende Stimme von Nathaniel Plymson. Vor einem Tisch hinter dem Pfeiler blieb Hasard stehen und schaute den beiden Männern zu, die miteinander würfelten und abwechselnd den ledernen Becher auf die Tischplatte droschen. Ihre Krüge mit Dünnbier waren leer. „Verzeihung“, sagte Hasard. „Darf ich mir erlauben, Sie zu einem andalusischen Schluck einzuladen?“ „Was ist denn das?“ fragte der eine. Er sah ziemlich verludert aus, trug einen mehrfach geflickten Kittel, Kniehosen und Stulpenstiefel. „Spanischer Wein“, sagte Hasard. „Schenk ein“, sagte der Mann und schob seinen Humpen über den Tisch. „Mir auch“, sagte der andere, ein dünnes Männchen. Mit einem Zickenbart. Er sah nicht ganz so verludert aus, trug Schnallenschuhe, zerschlissene Seidenstrümpfe, Kniehose und Wams, den eine schmuddelige Halskrause zierte. Hasard schenkte ein. „Wer bist’n du?“ fragte der erste und griff nach dem Humpen. „König Artus“, sagte Hasard todernst. Das Männchen mit dem Zickenbart kicherte. Sein Kumpan riß die Augen auf. „Lebt’n der noch?“ „Er war nie tot“, erwiderte Hasard.
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„Was du nicht sagst!“ Der Mann schüttete mit einem gewaltigen Zug den andalusischen Wein in die Kehle. „Ahh!“ Er wischte sich über den Mund. „Der geht einem richtig runter.“ Der Zickenbärtige trank ebenfalls. Hasard drehte sich um und blickte zur Theke. Nathaniel Plymson stand dort. Er hatte sichtliche Mühe, nicht umzufallen. Er hielt sich an der Schanktischkante fest und hatte hervorquellende Augen. Dabei schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Hasard grinste ihn freundlich an und wandte sich wieder dem Tisch zu. Der Zickenbärtige schlief bereits. Sein Kopf hing nach rechts. Der andere blickte Hasard aus verträumten Augen an, hatte den Mund halb offen und wurde auf dem Stuhl zusehends kleiner. Dann verdrehte er die Pupillen nach oben und entschlummerte. „Ts, Ts“, machte Hasard und schritt zum nächsten Tisch. Der Mann, der dort saß, hatte ein liederliches Frauenzimmer auf dem Schoß und seine Hand dort, wo sie ein Gentleman nicht haben sollte, nämlich bis zum Ellbogen im Halsausschnitt des liederlichen Frauenzimmers. Hasard war taktvoll genug, ihn nicht zu stören. Vielleicht hatte der Mann dort unten, zwischen, am oder über dem Busen des Frauenzimmers etwas verloren und suchte es jetzt. Das Frauenzimmer schien jedenfalls ob der Suche sehr glücklich zu sein. Aber da sagte der Mann: „He, Langer! Gibst du uns einen aus?“ „Gern“, erwiderte Hasard. Zwei Minuten später versteinerte das Paar zu einem schlafenden Denkmal. Es war, als habe sie ein Zauberstab berührt. Die Hand des Mannes, der kein Gentleman war, befand sich immer noch dort, wo sie nicht sein sollte. Philip Hasard Killigrew schritt zur nächsten Tat, aber da hing der dicke Plymson an seinem Arm und zerrte daran. „Bitte, Sir, nicht mehr“, sagte er weinerlich.
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Hasard wischte die feiste Hand von seinem Arm und schob den Dicken zur Theke zurück. Der Wirt humpelte und hatte einen prächtigen Verband am Bein. „So, Freundchen“, sagte Hasard und rammte den dicken Plymson gegen die Theke, „jetzt mal heraus mit der Sprache. Wieviel hast du für mich kassiert?“ „Ich -nichts“, stammelte Nathaniel Plymson, „wirklich.“ „Du hast die Wahl“, sagte Hasard mit einer sehr leisen und gefährlichen Stimme. „Entweder rückst du den Ledersack heraus, oder ich stopfe dir deine dreckige Perücke in den Hals. Such’s dir aus.“ „Ogottogott“, jammerte Nathaniel Plymson. Hasard fackelte nicht lange. Mit einem kurzen Griff schnappte er sich die Perücke des Wirtes. „Na?“ sagte er. „Ich - ich hol den Ledersack“, stieß Nathaniel Plymson hervor. „Wo ist er denn?“ „In - in der Schublade unter dem Schanktisch.“ Hasard umkreiste die Theke, fand die Schublade, öffnete sie und holte den Ledersack heraus. Er steckte ihn ein und warf dem Dicken die Perücke zu. „Nun weiter“, sagte er mit seiner leisen, gefährlichen Stimme. „Angenommen, ich schliefe jetzt. Wie sollte die Sache weitergehen?“ Nathaniel Plymson schluckte. Er schien plötzlich eine dicke Kröte in seinem Hals zu .haben. Dann zwang er sich ein vertrauliches Lächeln ab und schaute mit gesalbtem Blick zur Decke hoch. „Ich - ich hätte sie natürlich schlafen lassen, Sir.“ „Gewiß“, sagte Hasard und zeigte seine weißen Zähne, „das war ja auch der Zweck des andalusischen Schlaftrunks, du alter Betrüger. Fragt sich nur, wo ich aufgewacht wäre. Was meinst du?“ „Oh!“ Wieder der gesalbte Blick. „Aufgewacht? Im Bett natürlich, wo denn sonst?“ Hasard packte ihn an dem groben Leinwandhemd und zog ihn zu sich heran.
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„Dicker, sag die Wahrheit, sonst frißt du doch noch deine Perücke.“ Nathaniel Plymson schrumpfte unter dem eisblauen Blick Hasards zusammen. Schweiß sammelte sich auf seiner Glatze und perlte über seinen feisten Nacken. Wenn dieser verdammte Killigrew seine Zähne zeigt, dachte er, sieht er aus wie ein Seewolf. „Na?“ fragte Hasard. „Sie - sie warten draußen“, flüsterte Nathaniel Plymson und wischte sich mit der Perücke den Schweiß von der Stirn. In den blauen Augen leuchtete es auf. Ohne jedes weitere Wort wandte sich Hasard ah und glitt mit wenigen Schritten zur Tür. Nathaniel Plymson hastete zur Küchentür. Rechts neben dem Türstock hing eine starke Kordel, an der er dreimal zog. Die Kordel lief über mehrere Rollen in ein Nebengemach und hatte die sinnvolle Funktion, dort vor einem kleinen Fenster eine Holzblende auf und ab zu bewegen. Das Fenster führte zur Millbay Road hinaus. Natürlich war das Gemach erleuchtet. Das dreimalige Ziehen Nathaniel Plymsons warf drei Lichtblinke auf die Millbay Road. Nach dem dritten Kordelzug brüllte Nathaniel Plymson los und bewaffnete sich mit einem Knüppel, den er unter der Theke hatte. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Philip Hasard Killigrew bereits vor der „Bloody Mary“. 2. Sie kamen zu fünft. Zwei schlichen von der Millbay Road heran - von links, und zwei näherten sich von der St. Mary Street - von rechts. Der Kerl mit dem Ohrring steuerte das Opfer direkt von vorn an. Er stieß den Kopf vor und glotzte verblüfft. Der Riese schwankte ja noch nicht einmal. Der stand da, etwas geduckt, sein schwarzes Haar flatterte in den Böen, wild und verwegen sah er aus und gefährlich. Hinter Philip Hasard Killigrew schrie Nathaniel Plymson Zeter und Mordio, und
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in der „Bloody Mary“ wurden die Zecher rebellisch. Die Katze, die beiden Männer und der Kerl mit dem liederlichen Frauenzimmer schliefen weiter. Nur die Hand des Kerls im Ausschnitt des liederlichen Frauenzimmers zuckte etwas. Und das liederliche Frauenzimmer stöhnte ein bißchen. Der Kerl mit dem Ohrring stieß einen wüsten Fluch aus und fischte ein Messer aus dem Stiefelschaft. Messer waren Hasard zuwider. Messer waren Waffen, die hinterrücks und aus dem Dunkel zustießen. „Weg mit dem Messer!“ Seine Stimme war so scharf und schneidend wie das Messer selbst. Sie lähmte den Mann mit dem Ohrring für einen entscheidenden Augenblick. Er empfing einen Tritt unter das Handgelenk, das Messer klirrte über die Pflastersteine, und dann explodierte sein Kopf. Diese Faust war aus Eisen. Er flog hinter seinem Kopf her und verschwand hinter der Kaimauer. Ein Aufklatschen verriet, daß er ein kühles Bad nahm. Die beiden von der Millbay Road nahm Philip Hasard Killigrew geschlossen an. Er stieß ihre Köpfe zusammen und beförderte sie mit zwei. kräftigen Fußtritten in den Hintern quer über die Millbay Road. Sie schrammten über die buckligen Katzenköpfe und blieben benommen liegen. Hasard hörte die Schritte der beiden anderen von der St.Mary Street und fuhr herum. Sie griffen nicht Schulter an Schulter an, sondern umkreisten ihn vorsichtig. Der Mann mit dem Ohrring planschte hinter der Kaimauer im Wasser und brüllte, er könne nicht schwimmen, und sie sollten ihn, verdammt noch mal, herausholen. In der Millbay Road wurde ein Fensterladen aufgestoßen. Ein Topf eindeutigen Inhalts klatschte auf die Straße. Die beiden Kerle, deren Köpfe Hasard malträtiert hatte, schossen hoch wie kleine Teufelchen aus der Kiste und brüllten infernalisch.
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Der Inhalt des Topfes hing teils in ihren Haaren, teils bahnte er sich einen Weg in die Ausschnitte ihrer Hemden. Aber sie waren auch davor keineswegs peinlich sauber gewesen. Hasard schnüffelte angewidert. Der Mann, der Topf samt Inhalt auf die Millbay Road gekippt hatte, hing mit dem Oberkörper aus dem Fenster und schrie: „Mörder! Halsabschneider! Trunkenbolde!“ Und aus der „Bloody Mary“ quollen die Zecher, aufgestachelt von dem hysterischen Geschrei Nathaniel Plymsons, der lamentierte, der blauäugige Teufel aus Cornwall habe ihm die Geldkatze geklaut. An der Ecke Millbay Road und St.Mary Street entwickelte sich eine jener Schlachten, von denen Großväter ihren Enkeln zu erzählen pflegen - nie bedenkend, daß solcherlei Erzählungen in den Gemütern der unschuldigen Kleinen zwar einiges Erschauern, aber keineswegs Abschreckung hervorriefen. Im Gegenteil. Denn in jener stürmischen Nacht entstand die Legende vom Seewolf. Es war Nathaniel Plymson, der den Kriegsnamen Philip Hasard Killigrews aus der Taufe hob. Die Zecher hatten ihn eingekeilt und schwemmten ihn mit nach draußen vor die „Bloody Mary“, Dort schlug er mit dem Knüppel um sich und brüllte -eingedenk der weißen Zähne, die ihn angegrinst hatten -, der „Seewolf“ sei los und räubere unter den braven Bürgern von Plymouth. Der Sturm pfiff dazu sein Lied. Seewolf! Das peitschte die Zecher in die richtige Stimmung. Vielleicht auch hatte ihnen der Sturm ein paar Flöhe unter die Hemden gepustet, und jetzt juckte ihnen das Fell. Prügeln macht Spaß, und jetzt wurde Dampf abgelassen. Ein Bulle von Kerl rannte mit gesenktem Kopf einfach los und rammte ihn dem Seewolf ins Kreuz. Damit war die Partie eröffnet. Hasard fiel nicht um. Er langte lässig hinter sich, schnappte den Bullen am Kragen und warf ihn über die Millbay Road ins Wasser. Jetzt hatte der
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Ohrringmann Gesellschaft, und sie brüllten im Duett. Gebrüllt wurde überhaupt sehr viel. Der nächste sprang wie ein Affe auf die breiten Schultern des Seewolfes, klammerte sich dort fest, lachte wie ein Irrer und zerrte an Hasards schwarzen Haaren. Das war eine hundsgemeine Art zu kämpfen. Aber vielleicht wollte der Affe feststellen, ob der Seewolf eine Perücke trug. Er hätte es nicht tun sollen. Er hätte ihn ja auch fragen können, und Hasard, höflich, wie es seine Art war, hätte ihm Rede und Antwort gestanden. So aber explodierte er. Das heißt, er warf sich zurück und quetschte den Affen an die Außenmauer der „Bloody Mary“. Der Affe vergaß sehr schnell, noch weiter an Hasards Haaren zu ziehen. Auch sein verrücktes Lachen brach abrupt ab. Wie ein Mehlsack rutschte er an der Mauer nach unten und fiel auf die Katzenköpfe. Unfreiwillig stellte er Nathaniel Plymson ein Bein. Er hatte Hasard gerade den Knüppel über den Kopf dreschen wollen. Nathaniel Plymson stolperte und ruderte über die Millbay Road. Er fiel einem der beiden Männer, die nicht nach Rosen dufteten, um den Hals. Zwar fand er Halt, aber dabei griff er in etwas Weiches. Der Duft sagte ihm, was es war. Von Jubel war Nathaniel Plymsons Entsetzensschrei weit entfernt. Die Kämpfer zuckten für einen Moment zusammen, stürzten sich aber sofort wieder mit erneutem Ungetüm in wirbelnde Fäuste, Kopfstöße, Magenhiebe und Knierammen. Jeder kämpfte gegen jeden. Da krachten Fäuste unter Kinnladen, bohrten sich in weiches Fleisch, da wurde geknurrt und geächzt und gestöhnt, da zerbrachen Nasenbeine, schwollen Beulen, wurden Augen dichtgehämmert. Hasard war schwer in Aktion. Mit dem einen der beiden Männer von der St.Mary Street fuhr er Karussell - das schaffte Raum um ihn herum und senste alles von den Füßen, was ihm zu dicht auf die Pelle gerückt war. Er hatte den Mann bei den Stiefeln gepackt und drehte sich immer
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schneller im Kreise. Männer stürzten oder wurden einfach hinweggefegt. Etwa bei der dreizehnten Umdrehung, als Hasard so richtig in Schwung war und überlegte, ob er jetzt loslassen sollte, da passierte das Unglaubliche. Der Mann war plötzlich weg. Hasard merkte es daran, daß jählings das Gegengewicht fehlte. Sein eigener Schwung riß ihn herum. Er hatte nur noch zwei Stiefel in den Fäusten. Der Mann, der zu ihnen gehörte, war verschwunden. Hasard schwankte und stieß mit einem anderen Kerl zusammen. Kurz und hart drosch er ihm beide Stiefel über den Schädel. Von oben. Der Mann seufzte und ging kerzengerade in die Hocke. Dort gurgelte er, weil er sich die eigenen Knie in den Hals gerammt hatte. Und dann kippte er zur Seite. Der stiefellose Mann bohrte sich - Kopf voran - durch einen Fensterladen. Holz splitterte berstend, und dann waren auch die Strümpfe nicht mehr zu sehen. Begleitet hatte er seinen Flug mit einem Schrei, der erst abbrach, als der Fensterladen zerbarst. Etwas Eigentümliches legte sich über die Kampfszene – jene momentane Stille, wie sie im Auge, dem Zentrum eines Wirbelsturms, herrschte. Das Zentrum bildete der schwarzhaarige, blauäugige Riese, der verblüfft auf die Stiefel in seinen Fäusten starrte. Verdammt, dachte Hasard, der Kerl ist mir doch glatt aus den Stiefeln gerutscht. Dann wurde ihm die Stelle bewußt, und er mußte grinsen, als er sich umblickte. Sie standen oder lagen um ihn herum und glotzten auf die Stiefel in seinen Fäusten, auf das runde Loch im Fensterladen und wieder auf die Stiefel. Sie sahen alle aus, als seien sie selbst mit den Köpfen gegen den Fensterladen gedonnert. Als Zeugen eines nicht alltäglichen Kraftaktes spiegelten ihre Mienen ungläubiges Verwundern, Erstaunen, Furcht, Neid, Betroffenheit - und Wut. Der Schrei aus dem Raum hinter der zerbrochenen Fensterlade zerstörte die
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Stille. Er war spitz und hoch, drückte aber keineswegs Entsetzen oder Angst aus. Das Haus bewohnte die Witwe Abigail Adelaide Drummer, zweiundvierzig Jahre alt, adrett, mollig und seit anderthalb Jahren ungetröstet, aber durchaus nicht mehr trauernd, denn der verblichene Archibald Drummer war zeit seines Lebens eine glatte Null gewesen. Der bestrumpfte, aber stiefellose Mann hatte seinen Flug dort beendet; wo Archibald Drummer sehr zum Kummer von Abigail Adelaide mehr zum Schnarchen als zur nächtlichen Kurzweil geneigt hatte. Hasard hatte den stiefellosen Mann auf die eheliche Bettstätte katapultiert. So lag denn wieder ein Mann bei Abigail Adelaide, und sie war mehr entzückt, als erschrocken. Er lag zwar mit seinen Strümpfen bei ihrem Kopf, weil Abigail Adelaide mit dem Kopf zum Fenster schlief, aber vorsichtig tastend holte sie dieses Geschenk einer mitternächtlichen Straßenschlacht zu sich herum, und dabei stieß sie ihren spitzen Schrei aus. Für den stiefellosen Mann war der Szenenwechsel zu abrupt. Benommen, wie er war, spürte er sehr viel Weiches, dem sich hinzugeben nichts entgegenstand - vor allem nach der wirbelnden Karussellfahrt. So sank er an den wogenden Busen von Abigail Adelaide. Indessen hatte der spitze Schrei der Witwe vor allem die Gemüter der Wütenden wieder erhitzt, und einer von ihnen fand es an der Zeit, dem Riesen eine Lektion zu erteilen. Er brüllte urig und ließ die Fäuste wirbeln. Hasard empfing ihn. Den Wert der Stiefel hatte er erkannt. Er war mit den Händen hinein gefahren wie in einen Handschuh und verpaßte nun - nur so versuchsweise - dem heranstürmenden Brüller einen Tupfer auf die Nase. Der Stiefelabsatz war benagelt. Die Nase des Mannes hatte dem nichts entgegenzusetzen, nur ein Nasenbeinknochen. Und der ging kaputt. So blieb wieder einer vor Hasard liegen. Der Kampfeslärm schwoll wieder an.
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Von den fünf Kerlen, die angenommen hatten, mit Hasard infolge des andalusischen Schlaftrunkes leichtes Spiel zu haben, lag einer im Bett von Abigail Adelaide und beschäftigte sich in sündiger Art, während der Ohrringmann hysterisch im Wasser herumplanschte und auf seinen bulligen Mitschwimmer zu steigen versuchte. Die drei anderen hatten sich vereint und hielten abseits der kämpfenden Masse Kriegsrat. Zu ihnen stieß Nathaniel Plymson, der dicke Wirt. „Du Bastard!“ sagte jener Mann, der Nathaniel Plymson den Ledersack mit dem klingelnden Inhalt über den Tresen geschoben hatte. „Du hast uns aufs Kreuz gelegt. Dieser Killigrew ist noch schlimmer als ein Seewolf.“ Und damit feuerte er dem feisten Nathaniel Plymson die Rechte unter das wabbelnde Kinn und die Linke in den Magen. Nathaniel Plymson suchte die Katzenköpfe auf. Seine Perücke verschwand im Kampfgetümmel und wurde rücksichtslos zertrampelt. Und links und rechts von dem Seewolf, der mit dem Rücken zur Wand kämpfte, knickten die Männer zusammen oder segelten über die Pflastersteine. Die Stiefel leisteten ganze Arbeit, klatschten in Gesichter, zerdroschen Nasen, rammten sich in zusammen gekrümmte Leiber. „Unfaßbar“, murmelte der Mann, der Nathaniel Plymson zu Boden geschickt hatte. Und dann erstarrte er. Neben dem Seewolf, ebenfalls mit dem Rücken zur Wand, war ein schmales Bürschchen aufgetaucht, blondhaarig, vielleicht sechzehn- oder siebzehnjährig, ja, schmal schon, aber wild. „Arwenack!“ brüllte das Bürschchen begeistert und stach die Rechte vor. Einem Zecher flog der Kopf zurück, und er ging in Knie. „Arwenack!“ brüllte auch der Seewolf und drosch einem Angreifer den rechten Stiefel auf den Kopf. „Wieso Arwenack?“ fragte der Mann.
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„Da hausen die Killigrews“, erwiderte einer der beiden, über die sich der Topf ergössen hatte. „Verdammt, dann hat er jetzt Verstärkung“, sagte der Mann, „aber wir schnappen uns das Bürschchen auch. Dann haben wir gleich zwei von der Sorte.“ „Und wie?“ „Von oben, du Idiot. Dort vorn Fenster aus. Ich kenne Plymsons Bude.“ Die drei Männer umkreisten die Kämpfenden und huschten in die „Bloody Mary“. Zwei Minuten später öffnete sich über Hasard ein Fenster. Zwei Männer zwängten sich auf das Fensterbrett. Sie hatten abgebrochene Stuhlbeine in den Fäusten, nickten sieh zu und ließen sich wie Säcke nach unten fallen. Der eine sprang Hasard genau ins Kreuz und ging mit ihm zu Boden. Der andere setzte neben ihnen auf, federte hoch und knallte Hasard das Stuhlbein an die Schläfe — einmal, zweimal und ein drittes Mal. Da erst erschlaffte der Seewolf. Der dritte Mann krachte auf den blonden Jungen und begrub ihn unter sich. Das Bürschchen war fast genau so zäh wie der Seewolf. Es schnellte hoch, warf den Mann ab und brüllte: „Arwenack!“ Die zwei anderen machten ihn fluchend mit ihren Stuhlbeinen fertig. Über Hasard brach er Wütend zusammen. Inzwischen standen Millbay Road und St. Mary Street in heller Aufruhr. Aus den Fenstern beugten sich die Bürger und schrien um die Wette. Einige Mutige hatten die Häuser verlassen und bewegten sich auf die „Bloody Mary“ zu. Fackeln erleuchteten die wilde Szenerie. Bei der Kaimauer stieg eine triefende Gestalt mit baumelndem Ohrring neben einem Poller hoch. Ein bulliger Kerl folgte. Andere Gestalten lagen zusammengekrümmt oder ausgestreckt, blutend Und ächzend oder sehr still auf den Pflastersteinen. Andere wiederum keilten noch immer aufeinander los und wurden wieder wild, als sich die Fackeln näherten und frische Kämpfer die Lust zum Bolzen verspürten.
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„Nichts wie weg!“ stieß der Mann hervor, der für Hasard bezahlt hatte. Sie schnappten sich die beiden bewußtlosen Kämpfer aus Cornwall und schleiften sie über die Millbay Road in eine Seitengasse. Hinter ihnen stießen die empörten, aus dem Schlaf gescheuchten Bürger der Millbay Road und St.Mary Street in den keilen- den Häufen vor der „Bloody Mary“, und der Kampf setzte sich mit erneuter Wucht fort. Zwar stand nicht mehr der Seewolf im Zentrum des Kampfgeschehens, aber zwei neue Fronten zeichneten sich ab: Millbay Road gegen St. Mary Street. Die Bewohne; der beiden Straßen waren sich von jeher spinnefeind gewesen. Die Leute von der St. Mary Street behaupteten, die MillbayRoader seien allesamt Tagediebe und Hurensöhne. Und die Millbay-Roader hatten einen Piek auf die Leute von der St. Mary Street, weil die sich einbildeten, sie seien der Nabel von Plymouth. Das alles sowie alte Fehden und Händel zwischen den Familien der beiden Straßen war Anlaß genüg, aufeinander loszugehen. Der Ohrringmann, den Fluten entronnen, starrte verständnislos auf das Kampfgetümmel. Der Bulle neben ihm genauso. Was da im Gange war, hatte ja bereits die Ausmaße einer Straßenschlacht. Der Bulle grunzte, denn ihm fiel ein, daß sich der Ohrringmann vorhin im Wasser wie ein Sack an ihn gehängt und ständig versucht hatte, ihn unter Wasser zu treten. Und bei den Steigeisen an der Kaimauer hatte er ihn weggerissen, war als erster hochgeentert und hatte ihn noch dazu mit dem Stiefelabsatz eine Kopfbeule verpaßt. Kalte Wut stieg in ihm hoch. Er packte den Ohrringmann an der Schulter, zog ihn zu sich herum und feuerte ihm die Pranke zwischen die Zähne. „Dir zieh ich die Haut vom Hintern“, blaffte er den Ohrringmann an. Der spuckte ihm einen Zahn aufs rechte Auge, trat ihm vors Schienbein und zahlte zurück. „Mir die Haut vom Hintern ziehen, wie?“ sagte er und spie einen Strahl Blut durch die Zahnlücke. Seine beiden Schwinger
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hatten den Bullen ziemlich durchgeschüttelt. Er setzte nach und ging zum Nahkampf über. „Da - und da“, sagte er, und jedesmal empfing der Bulle eine brettharte Faust. „Ich bin London-Jack, verstehst du?“ sagte der Ohrringmann. „Und solche Brummer wie dich hab ich schon als Säugling zum Frühstück verschluckt - da!“ Seine Faust krachte auf die Luftröhre des Bullen. Der Bulle schnappte nach Luft und griff nach den Sternen, aber an denen konnte er sich nicht festhalten. Mit einem Tritt in den Unterleib segelte er zu Boden. Über die Pflastersteine kroch Nathaniel Plymson auf der Suche nach seiner Perücke. Der Ohrringmann hievte ihn am Kragen hoch und schüttelte ihn. „Du dreckige Wanze! Wo ist der Killigrew-Seewolf?“ „Weiß - weiß ich nicht.“ Nathaniel Plymson war völlig derangiert und verfluchte diese stürmische Nacht und seine Idee, diesen Seewolf an die Preßgang verhökern zu wollen. „Du hast uns beschissen!“ sagte LondonJack grimmig und spie wieder einen Blutstrahl aus - gezielt auf die Glatze von Nathaniel Plymson. „Der hat gar nicht von deinem Wein gesoffen, du fettes Warzenschwein!“ „Das ist es ja“, jammerte Nathaniel Plymson, „diese dämliche Katze ist schuld, die ...“ Der Ohrringmann griff in Nathaniel Plymsons Hemd und zog ihn zu sich heran. „Katze? Sagtest du Katze? Du denkst wohl, ich bin blöd, he?“ „Wirklich, er hat’s an der Katze gemerkt bitte, nicht schlagen!“ „Wo ist das Geld? Wo hast du (Yen Ledersack?“ „Den hat - hat der Seewolf.“ Nathaniel Plymson stand dicht vor einem Nervenzusammenbruch, aber vor dem rettete ihn der Ohrringmann, der ihm eine krachende Rechte unter das Kinn hieb. Nathaniel Plymson träumte, er fahre zwischen blitzenden Sternen gen Himmel, und Petrus habe einen Ohrring und eine dicke Lücke zwischen den oberen
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Schneidezähnen. Und Petrus sagte: „Sieh einer an, das alte Schlitzohr Nathaniel! Du hast dich in der Tür geirrt, mein Sohn. Zum Bruder Luzifer geht’s rechts um die Ecke.“ Vor Nathaniel Plymsons Nase wurde das Himmelstor mit einem Donnerschlag geschlossen. Das war der Augenblick, in dem Nathaniel Plymson zum zweiten Male voller Schmerzen mit. den Katzenköpfen der Millbay Road zusammenstieß. Der Ohrringmann mit dem beziehungsreichen Namen London-Jack blies sich über die Handknöchel seiner Rechten, trat Nathaniel Plymson ziemlich sinn- und nutzlos zwischen die Rippen und erhielt dafür von einem Unbekannten ein Stuhlbein hinterrücks über den Schädel. Es war das Stuhlbein, mit dem der Seewolf niedergeschlagen worden war. * London-Jack wachte erst in einem Hospital wieder auf — und da fehlte ihm jegliche Erinnerung. In wirren Sätzen faselte er etwas von einem „Seewolf“, der Schiffe samt Masten, Takelage und Besatzung auffresse und demnach ein Monster sein mußte. Zweifelsohne hatte er einen Klaps, und die frommen Schwestern bekreuzigten sich, wenn sie ihn versorgten und dabei seine Schauermärchen hörten. Die „Marygold“, zu deren Preßgang er als harter Schläger gehört hatte und auf der er laut Musterrolle Rudergänger gewesen war, lief am nächsten Morgen ohne ihn aus. Und ebenso wurde in der Musterrolle Tom Smith gestrichen, der nicht wieder an Bord fand, weil er an Bord des so lange verwaisten Ehelagers der Witwe Abigail Adelaide Drummer zwar auch stürmisch, aber weitaus angenehmer zuging als an Bord der „Marygold“. Immerhin aber hatte die Preßgang als Ersatz zwei andere Fische gefangen, von denen der „Seewolf“ ein ganz dicker zu werden versprach, während das blonde Bürschchen, das mit ins Netz gegangen
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war, auch nicht so ganz ohne zu sein schien. Außerdem hatte der Vormann der Preßgang, der Segelmacher Patrick Evarts, die Taschen des Seewolfs gefilzt und sich den Ledersack zurückgeholt. Unterbemannt war die „Marygold“ keineswegs. Die Preßgang hatte in den Tagen zuvor bereits zehn Kerle aufgesammelt — zum Teil mit Hilfe des Plymsonschen Schlaftrunkes, vor allem aber ohne jeweilige Straßenschlacht. * Die Kunde von dieser Straßenschlacht durcheilte Cornwall und gelangte auch nach Arwenack, der Stammfeste der Killigrews über dem Hafen von Falmouth. Seufzend soll Sir John Killigrew gesagt haben: „Dieser Bengel ist der letzte Nagel in meinem Sarg.“ Und dabei muß er an jene Szene gedacht haben, bei der Philip Hasard, siebzehnjährig, seine letzte Ohrfeige von Sir John kassiert und darauf mit jäh zupackender Wildheit reagiert hatte. Sir John hatte bei der Kunde über die Geschehnisse vor der „Bloody Mary“ sinnend auf das Hirschgeweih geblickt, das seit über hundert Jahren den Kamin in der Halle von Schloß Arwenack zierte. Denn Sekunden nach der Ohrfeige hatte Philip Hasard zugelangt und den Alten in das Hirschgeweih über dem Kamin gehängt. Und seine drei Brüder, die den zappelnden und brüllenden Alten hatten herunterholen wollen, waren von dem Jüngsten der Sippe nach allen Regeln der Kunst verdroschen worden. Am nächsten Morgen hatte Philip Hasard Killigrew vor versammelter Familie verkündet, daß er künftig jedem die Knochen zerbrechen werde, der es noch einmal wage, ihn anzufassen. Das gelte auch für den „Alten“, hatte er gesagt und dabei seine Zähne gezeigt. Von da ab war Frieden auf Arwenack gewesen. Eindeutig war Philip Hasard Killigrew intelligenter, kampfstärker, gerissener,
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tollkühner, aber auch charakterfester als seine drei Brüder. Dazu hatte er einen Charme, bei dem die alten Weiber von Falmouth wieder jung wurden, und die jungen Weiber wünschten, älter zu sein, um diesen schwarzhaarigen, blauäugigen, hartgesichtigen Teufel an die Brüste und unter die Bettdecke zu kriegen. Geschafft hatte es keine. Sie alle hörten bewundernd die Kunde vom Seewolf Killigrew, der ausgezogen war, um hinter die Horizonte zu schauen. Nur wußte die Kunde nicht zu berichten, was weiter geschehen war. Denn Philip Hasard Killigrew war spurlos verschwunden. Niemand hatte ihn mehr gesehen. 3. Das Knarren der Rahen und Blöcke wär vertraut genauso wie die rollenden und stampfenden Bewegungen des Schiffes, das Klatschen der Wellen gegen die hölzerne Bordwand, das Trampeln nackter Füße über Deck, die Kommandos. Der Seewolf richtete sich auf und betastete seine Schläfe. Die fühlte sich an wie rohes Fleisch. „Hallo, Sir!“ sagte eine Stimme neben ihm. Sie klang. so, als wisse sie noch nicht, ob sie sofort oder erst eine Woche später in eine tiefere Tonlage umsteigen solle. Überrascht wandte der Seewolf den Kopf etwas zu schnell, denn der Schmerz zuckte bis in die Zehenspitzen. Aber der Junge, der ihn angrinste, sah auch nicht viel besser aus - was dessen Kopf betraf. Hasard grinste zurück. „Hallo“, sagte er. „Du kennst mich?“ „Wer in Falmouth geboren ist, kennt Philip Hasard Killigrew, hinter dem die Weiber wie der Teufel hinter der armen Seele her waren.“ Der Bengel feixte so breit, daß er sich fast die Ohrläppchen abbiß. Hasard räusperte sich. Der Bengel feixte weiter. „Mein Alter ist bei Sir John gefahren oben in der Irischen See. Bei einem Gefecht mit einer schwedischen Kogge fehlte ihm plötzlich ein Bein. Sir John
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bestellte ihm bei dem verdammten Sargtischler von Falmouth ein neues. Kennen Sie die Geschichte, Sir?“ „Ist dein Vater etwa Donegal Daniel O’Flynn?“ Der Junge nickte. „Ist er, und mit dem verdammten Holzbein hat er mir jeden Tag einen Tritt in den Hintern verpaßt, egal was anlag. Und dann sollte ich bei dem verdammten Sargtischler in die Lehre gehen. .Da bin ich ausgerissen. Fein, daß ich Sie getroffen habe. Ich hab’s leider zu spät gemerkt, daß Sie das in der ,Bloody Mary’ waren, sonst wäre ich den Kerlen eher an die Gurgel gesprungen. Ich heiße übrigens wie mein Alter, Donegal Daniel, genannt Dan.“ „Danke, Dan - für die Hilfe bei der ,Bloody Mary’, Hat’s dich schlimm erwischt?“ Der Junge, der sitzend mit dem Rücken an einem Holzquerschott lehnte, richtete sich etwas auf. „Ich bin doch ein O’Flynn, Sir. Und mein Alter hat sein Holzbein auch manchmal abgeschnallt und es mir um die Ohren geschlagen. Mit Holz klopft mich keiner mehr weich.“ Hasard lächelte. „Ich dachte immer, O’Flynn mit dem Holzbein hätte nur sechs Söhne gehabt.“ „Ich bin Nummer sieben, Sir. Nur hat mich der Alte immer unterschlagen. Ich sei zu dämlich, um in der Öffentlichkeit gezeigt zu werden, hat er gesagt. Finden Sie das auch, Sir?“ Aus dem Halbdunkel des Schiffsraums äffte eine Stimme: „Sir - Sir! Wenn ich den Scheiß schon höre. Euer Gequatsche geht mir allmählich unters Hemd. Zeig mal deine Schnauze, Sir, damit ich sie dir stopfen kann, Sir.“ Ein breitschultriger Mann tappte aus dem .Halbdunkel heran. Hinter ihm begannen andere Stimmen zu murmeln. „Los, gib’s ihm, Blacky, gib’s dem Sir. Und der Rotznase bei ihm versohl auch gleich die Jacke, damit das Bübchen weiß, woher hier der Wind weht.“ Der breitschultrige Blacky grunzte und stieß Hasard mit dem Stiefel an.
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„Steh auf, Sir, damit du etwas davon hast, wenn du dich wieder schlafen legst.“ „Soll ich ihm ein Ding auf die Nase verpassen, Sir?“ wisperte Donegal Daniel O’Flynn, genannt Dan. Seine Stimme war scharf und zischend und verkündete, daß er vor Wut kochte. „Das besorg ich, Dan“, sagte Hasard ruhig. „Bleib sitzen, mein Junge, und paß genau auf, wie man mit Idioten wie diesem Holzklotz das Deck aufwischt, zu mehr taugt er nämlich nicht.“ en ölte Blacky ächzte. „Sagtest du Holzklotz?“ Hasard schob sich an der Wand hoch, sehr langsam und sehr betulich. Als er stand, mußte er den Kopf einziehen, um nicht an die Decksbalken zu stoßen. Der Breitschultrige mußte zu ihm hochstarren. „Ich hab dich was gefragt, Sir.“ „Du bist ein Idiot und ein Holzklotz“, sagte Hasard, „und wenn du dir weh tust, fang nicht an zu jammern.“ Blacky nahm Maß und schlug zu. Er holte so richtig aus - von rechts unten nach links oben, dorthin, wo das weiße Gebiß ihn angrinste. Als seine Faust landete, hielt das Schiff für einen Moment den Atem an - so schien es wenigstens. Und dann splitterte Holz. Blackys Faust steckte in einer Querplanke des Vorkastells. Immerhin war die Planke aus solidem Eichenholz. Hasard stand einen halben Schritt daneben, die Arme über der Brust verschränkt. „Ja, ja“, sagte er. „Gib’s ihm, Blacky!“ sagte eine Stimme aus dem Halbdunkel. Blacky brüllte und zerrte an seiner Rechten. Hasard half ihm. Er umfing den breitschultrigen Mann von hinten, zog mit, und als er ihn aus der Planke hatte, schleuderte er ihn herum und warf ihn zwischen die murmelnden Männer. „Von hier weht der Wind“, sagte er, „falls sich das noch nicht herumgesprochen hat.“ Blacky brüllte, als würde er am Spieß gebraten. Die Männer schrien durcheinander.
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Der Seewolf setzte sich neben Donegal Daniel O’Flynn, genannt Dan, und lachte leise. „Ich glaube, hier kriegen wir noch viel Spaß“, sagte er. „Hast du gut aufgepaßt, Dan?“ „Sie haben ihn auflaufen lassen, nicht wahr?“ „He!“ erwiderte Philip Hasard Killigrew. „Du bist ja gar nicht so dämlich. Dein Alter muß dich völlig verkannt haben. Ja, ich hab Blacky auflaufen lassen, aber vorher hab ich ihn ein bißchen gekitzelt. Und dann mußt du natürlich schnell sein, schneller als so ein Holzklotz. Ist das klar?“ „Jawohl, Sir. Von Ihnen lern ich noch ‘ne Menge. Vor der ,Bloody Mary`, Mann, das war die Spitze. Verzeihung, Sir.“ „Meine Brüder nannten mich Hasard, Dan, laß den ,Sir’ Wenn du ‚Mann’ sagst, ist das genauso gut.“ „In Ordnung“, sagte Dan, und wieder war seine Stimme, als wisse sie noch nicht recht, ob sie sich für die hohe oder tiefe Tonlage entscheiden solle. „Wie alt bist du, Dan?“ „Siebzehn“, sagte Donegal Daniel O’Flynn mit Grabesstimme. „Oder sechzehn?“ „Vielleicht auch sechzehn“, sagte Donegal Daniel O’Flynn. „Mit den Jahren hängt einem das Zählen zum Halse heraus, verstehst du das?“ „Versteh ich“, sagte Hasard, „mir geht’s auch nicht anders.“ Er lauschte dem Knarren der Takelage. „Weißt du, in was für einem Kasten wir hier hocken?“ „Keine Ahnung.“ „Ich wollte zu Drake“, sagte der Seewolf leise und verfluchte still seinen Übermut, fünf Kerle vor der „Bloody Mary“ angegangen zu haben. „Mann, zu Drake?“ fragte Dan entgeistert. „Zu dem würde ich auch gern, und jetzt sind wir hier gelandet. Weißt du was? Wir jumpen einfach außenbords, wenn wir an Oberdeck sind.“ „Kannst du schwimmen?“ „Ich bin ein O’Flynn“, sagte das Bürschchen empört. „Wir O’Flynns lernen
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schon das Schwimmen, wenn wir in den Windeln mit dem Wasser kämpfen.“ „Das ist zwar auch salzig“, sagte Hasard erheitert, „aber dieses Wasser hier hat keine Windeln, und wenn es welche hat, kriegst du sie um die Ohren geschlagen. Nein, gejumpt wird nur, wenn Land in Sicht ist. Ist das klar?“ „Jawohl, Sir“, erwiderte das Bürschchen. Es war keineswegs dämlich, sondern sehr helle. „Vielleicht sollten wie diesen Kahn einfach wieder mit der Schnauze nach Plymouth drehen und Mister Francis Drake zur Verfügung stellen. Du hast doch bei Sir John gelernt, wie man einen solchen Kasten segelt, oder?“ „Und ob“, sagte der Seewolf und dachte daran, wie der Alte ihn geschliffen hatte. Er war nur einmal seekrank geworden -mit sechs Jahren. Da hatte ihn der Alte vorn bei der Galion festgebunden und sich zehn Stunden halb totgelacht, als sich Philip Hasard Killigrew die Seele aus dem Leib gekotzt und die Seefahrt verflucht hatte bei einem handfesten Sturm wohlgemerkt, den Sir Johns Karacke nur beigedreht überstanden hatte. Die Galle war das Letzte gewesen, das Philip Hasard in die kochende See gespuckt hatte - trotzig und voll berstender Wut auf Sir John, das salzgewässerte Rauhbein. Und als er von dem Alten losgebunden worden war - mehr tot als lebendig -, da hatte er ihn kräftig ins Handgelenk gebissen, und der Alte hatte ihm fluchend eine gescheuert. Hasard lächelte vor sich hin. Und im Hirschgeweih über dem Kamin hast du dann später gezappelt, Sir John, dachte er. Aus dem Halbdunkel tauchten plötzlich drei Kerle auf. Sie hatten Mühe, bei dem rollenden Schiff die Balance zu halten. Einer torkelte etwas näher, aber nicht zu nahe. Er schielte auf die langen Beine von Hasard und fragte sehr sanft: „Wollt ihr abhauen?“ „Und wenn?“ fragte der Seewolf. „Ja“, sagte der Kerl, „dann möchten wir gern mit dabei sein.“ „Blacky auch?“ fragte der Seewolf.
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„Klar“, sagte Blacky im Hintergrund, „aber meine Rechte ist am Arsch, ich bin nicht mehr in Form.“ „Dann schlag links, du Holzklotz“, sagte der Seewolf brutal, „oder brauchst du die Linke, um am Daumen zu lutschen?“ „Pah!“ sagte Blacky und verdaute die Beleidigung. „Ja“, sagte der Kerl, der vor Hasard stand, „wir möchten nämlich auch gern wieder nach Plymouth zurück. Die Hunde haben uns, vor zwei Tagen eingesackt. Ich weiß auch nicht, wie. Plötzlich bin ich eingeschlafen ...“ „In der ,Bloody Mary’ ?“ fragte Hasard. „Ja.“ „Bist du Seemann?“ „Nein“, sagte der Kerl. „Kutscher bei Sir Anthony Abraham Freemont.“ „Sir?“ fragte Hasard gedehnt. „Na ja“, sagte der Kerl verlegen, „er ist studiert. Mister Freemont braucht mich. Er ist Arzt. Ich fahre ihn immer zu den Kranken.“ „Und jetzt fährst du zur See“, sagte Hasard, „da sind andere Gesetze gültig. Wer meutert, wird an der Rah aufgeknüpft, bis sein Hals doppelt so lang ist. Bist du auf einen solchen Hals scharf?“ „N-nein, Sir.“ Der Seewolf zeigte seine Zähne. „Sir?“ sagte er gedehnt. „Ich bin kein ,Sir`. Rutsch mir den Buckel herunter, Mister.“ Der Mann hielt mühselig sein Gleichgewicht und ruderte mit den Armen. „Ich - ich vertrag das alles nicht, Sir - eh, Mister. Mir - mir ist so furchtbar schlecht. Ich bin - ja, ich bin todkrank. Ich möchte wieder zu Mister Freemont, ich .. .“ Das Querschott sprang auf, und ein Mann stand breitbeinig in dem Durchlaß. Licht flutete in den Raum des Vorkastells. „Ihr Affenärsche“, sagte der Mann sehr deutlich und sehr langsam. „Alle wohlauf und ausgeschlafen? Na denn! Wer zur See fährt, muß arbeiten. Ohne Arbeit kein Fleisch in der Suppe. Oder wollt ihr eure Affenärsche frühstücken? Wie, was? Seid ihr noch nicht an Oberdeck? Weiter hier herumpennen, wie? Hopphopp, hoch mit
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euch, jetzt geht’s rund, alle Mann an die Brassen. He, glotz nicht so blöd, Mann!“ „Ich bin krank, Sir“, sagte der Kutscher, „und ich weiß auch gar nicht, was Brassen sind.“ Der Mann starrte den Kutscher verblüfft an, dann lachte er röhrend, drehte den Kopf und rief über die Schulter: „He, Männer! Habt ihr das gehört? Er ist krank, sagt er, und er weiß nicht, was Brassen sind!“ Hinter ihm standen muskulöse Gestalten, barfüßig, in grobleinenen Hosen und Hemden. Der Wind zerrte in ihren Haaren. Sie lauerten, grinsten, stießen sich an. „Verdammte Landratten“, sagte einer, „wird Zeit, daß du ihnen die Haut vom Hintern ziehst, Profos“ Der Schiffsprofos Edwin Carberry, ein Mann mit einem Kinn wie ein Amboß, einem zernarbten Gesicht und einem Brustkasten wie ein Bierfaß, ruckte wieder herum und blickte ins Vorkastell. „Habt ihr’s gehört, ihr Rübenschweine? Seid ihr noch nicht an Deck? Oder wollt ihr die Neunschwänzige kennenlernen, wie, was?“ Der Kutscher zog den Kopf zwischen die Schultern und trottete nach draußen. Er war grün im Gesicht und sah aus, als nehme er an seinem eigenen Begräbnis teil. Die beiden anderen Kerle folgten ihm ebenfalls mit Leichenbittermienen. Dann humpelte Blacky aufs Mitteldeck. Der Profos stieß den Kopf vor. „He, was ist denn mit dir los, was, wie?“ Blacky hob seine Rechte. „Bin -bin wo gegen gerannt, Sir.“ „Gegen was?“ „Holz, Sir.“ „Selbstverstümmelung, was, wie?“ Blacky stierte den Profos ratlos an. Allem Anschein nach wußte er mit dem Begriff „Selbstverstümmelung“ nichts rechtes anzufangen. „Eh?“ sagte er. Der Profos schnippte mit den Fingern. „Eine Pütz Seewasser für dieses Rübenschein. Tunkt seine Pfote ordentlich ins Wasser. Salz heilt, was, wie?“ „Weiß ich nicht“, sagte Blacky.
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„Aber ich“, sagte der Profos grimmig, griff sich Blacky und schob ihn zu den derb zupackenden Seeleuten. Die stauchten ihn etwas zusammen, aus der einen Pütz Seewasser wurden zehn, denn sie badeten ihn gleich, und dann zogen sie ihm die Holzsplitter aus der verschwollenen Rechten, die mit Salzwasser eingeweicht wurde. Immerhin mußten zwei starke Männer den tobenden Blacky bei dieser Prozedur festhalten. „Sollen wir kämpfen?“ flüsterte Dan hastig Hasard zu. „Nein, geh mit den anderen aufs Mitteldeck, Junge.“ „Und du?“ „Ich bleib hier noch ein bißchen und ärgere den Profos.“ „O Mann“, sagte das Bürschchen begeistert, „kann ich ihn nicht mitärgern’? Ich bin bestimmt gut.“ „Nein“, sagte der Seewolf, „raus mit dir.“ Donegal Daniel O’Flynn stand maulend auf und schloß sich den anderen an, die nach draußen drängten. Hasard blieb allein zurück. Er zog die Beine an Und faltete die Hände über den Knien. „Alle raus?“ schrie der Profos. „Nein“, sagte Philip Hasard Killigrew. Der Profos schob sich ins Vorkastell und starrte auf Hasard hinunter. „Du brauchst wohl ‘ne Extraeinladung, was, wie?“ Hasard schaute zu ihm hoch. In seine blauen Augen schlich sich ein gefährliches Funkeln. Er zeigte nur seine Zähne, aber er sagte nichts. Der Profos trat einen Schritt zurück, als spüre er plötzlich die Gefahr, die von diesem jungen Riesen ausging. „Mister Evarts soll kommen!“ schrie er nach draußen. „Aye, aye, Profos!“ Vier Minuten später erschien Patrick Evarts, der Segelmacher, im Vorkastell. „Ist das der Seewolf?“ fragte der Profos und deutete auf Philip Hasard Killigrew. Evarts zuckte zusammen, sagte kurz und knapp „ja“ und flitzte wieder aufs
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Mitteldeck, als sei der Teufel hinter ihm her. „Steh auf”, sagte der Profos. „Nein“, sagte Hasard ruhig. „Mir hat keiner etwas zu befehlen. Ich wollte nicht auf dieses Schiff. Und was ich nicht will, zwingt mir auch keiner auf. Hau ab, du Rübenschwein, was, wie?“ Der Profos lief blaurot an. Sein Faß von Brustkasten hob und senkte sich, als stünde es unter einem ungeheuerlichen Druck und müßte jeden Moment platzen. „Hau ab!“ wiederholte der Seewolf und wedelte mit der Rechten. „Und vergiß nicht, Luft zu holen. Ich bleib noch ein bißchen hier. Vielleicht schau ich mir nachher mal den Kasten an, ob er mir gefällt. Und bestell deinem Kapitän einen schönen Gruß von mir. Wenn er was von mir will, darf er sich bei mir melden. Vergiß auch nicht, Mister Evarts meine Empfehlung auszurichten. Sag ihm, daß er vermeiden solle, mir über den Weg zu laufen -er und die beiden anderen. Ich hab was gegen Kerle, die mich von hinten anspringen und nicht ehrlich kämpfen. Hau ab, Rübenschwein!“ Jetzt war der Profos Carberry weiß wie eine gekalkte Wand. Sein Mund war ein schmaler Strich über dem Amboßkinn. Er schlich geduckt näher, seine Arme mit den klotzigen Fäusten pendelten wie Dreschflegel links und rechts an seinem massigen Körper. Seine Stimme war heiser und bebte vor unterdrückter Wut. „Du bist wohl lebensmüde ...“ „Was, wie?“ unterbrach ihn der Seewolf höhnisch. Der Profos brüllte auf und federte mit einem Riesensatz heran. Er prallte gegen die vorschnellenden Beine Hasards und flog zurück. Da war Hasard schon wie der Blitz hoch, packte den Profos am Hosenbund und Kragen und schleuderte ihn durch das Querschott nach draußen aufs Achterdeck. Der Profos schlitterte über die Planken und krachte gegen die Nagelbank. Er war ein harter Mann, alles was recht ist. Spätestens nach zwanzig Sekunden war er wieder
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hoch und riß einen Koffeynagel aus der Nagelbank. Der war aus Hartholz und gut über einen Fuß lang -eine mörderische Waffe. Hasard erschien in dem Querschott und trat auf das Mitteldeck. Er blickte prüfend am Großmast hoch, schaute nach dem Flögel und Stand des Großsegels und schüttelte den Kopf. Mehr zu sich selbst sagte er: „Könnte noch härter gesegelt werden, dieser Waschzuber.“ Der „Waschzuber“ hieß „Marygold“ und segelte über Backbordbug am Wind südlichen Kurs. Rings um die „Marygold“ lag die graue Weite des Atlantik, dessen mächtige Seen unaufhörlich heranrollten. Die „Marygold“ nahm sie eine nach der anderen, kletterte an ihnen hoch, bis ihr Bugspriet in den Himmel ragte, neigte sich dann noch weiter nach Backbord über, glitt dabei talwärts und schob sich an der nächsten See hoch. Durch die steifstehenden Luvwanten und Pardunen pfiff der Wind. Hasard stand breitbeinig auf dem Mitteldeck und atmete tief durch. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Profos, der sich wie eine Katze heranschlich. Die Männer der Besatzung wichen zurück bis zum achteren Deck. Die Männer, die gepreßt worden waren, standen wie eine verlorene Hammelherde auf der Backbordseite. Nur das Bürschchen genoß die Szene. Es schaukelte auf einer Webleine der Hauptwanten, die Zunge spitz zwischen den Lippen und sichtlich begeistert, daß der Profos bereits einmal die Planken hatte aufsuchen müssen. „Weg mit dem Belegnagel, Profos“, sagte der Seewolf. „Hier wird mit den Fäusten gekämpft. Wirf ihn weg, oder ich schlag dir die Zähne in den Hals.“ Die Männer stöhnten auf, als der massige Carberry lossprang und den rechten Arm mit dem Koffeynagel hochschwang und niedersausen ließ. Der Seewolf blockte den furchtbaren Hieb mit dem linken Unterarm ab, dann fuhr seine Hand blitzschnell zurück, umschloß das Handgelenk Carberrys, drückte dessen
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Arm nach unten und begann ihn mit erbarmungsloser Härte umzudrehen. Der Profos kämpfe verbissen gegen die Drehung an. Er knickte in der Hüfte ein und wand sich. „Laß fallen“, sagte der Seewolf, „oder ich dreh dir den Arm aus der Schulter, du Miststück!“ Edwin Carberry keuchte. Der Riese da vor ihm würde es mit seiner barbarischen Kraft tatsächlich schaffen, seinen Arm in einen Korkenzieher zu verwandeln. Er ließ den Koffeynagel fallen. Hasard stieß ihn mit dem Fuß weg, trat etwas zurück, ließ aber noch nicht los, sondern schlug dem Profos die Rechte zwischen die Zähne. Ächzend sank der Profos in die Knie. Hasard hielt ihn fest, hievte ihn wieder hoch und schlug noch einmal auf den Punkt. Erst dann ließ er los. Edwin Carberry stöhnte, spuckte zwei abgesplitterte Zähne auf die Decksplanken, blickte mit glasigen Augen auf den Seewolf, wankte, riß sich zusammen und stürzte sich Hasard entgegen. Hasard riß nur das rechte Knie hoch und rammte es dem Profos unter das Amboßkinn. Carberrys Kopf flog zurück, seine Beine gaben nach, er vollführte eine Halblinksdrehung, torkelte und hielt sich an der Nagelbank zum Großmast fest. Dort blieb er gebückt stehen und spuckte Blut. Sein Kopf schaukelte hin und her. Hasard glitt geschmeidig zum Schanzkleid. Dort stand noch eine Holzpütz voll mit Seewasser. Er griff sie sich, umrundete den Großbaum und klatschte sie von unten in das niederhängende blutige Gesicht Carberrys. „Aufpassen, Hasard“, sagte das Bürschchen scharf. „Hinter dir!“ Der Seewolf fuhr herum. In der Kombüsentür auf der Steuerbordseite des Vorkastells stand ein schmieriger Mann mit einem schmierigen Grinsen, schmierigen Augen, schmierigem Haar, schmierigem Hemd und schmierigen Hosen. Seine Zähne, die er zeigte, wirkten zwar nicht schmierig, dafür aber waren sie schwarz und verfault. Er sah insgesamt so
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freundlich aus wie eine vergammelte Trosse aus Kokostauwerk. Keineswegs schmierig aber war die Radschloßpistole, die er in beiden Fäusten hielt und auf Hasard gerichtet hatte. „Was denn“, sagte Hasard und lächelte freundlich, „funktioniert der Kracher auch?“ „Worauf du einen Furz lassen kannst“, sagte der schmierige Kerl. Hasard glitt langsam näher. „Vorsichtig“, sagte der schmierige Kerl, „bleib lieber da, wo du bist. Das Loch, das dieses Ding pustet, flickt kein Arzt mehr zusammen.“ „Oh“, sagte der Seewolf. Und dann ruckte sein Kopf plötzlich hoch, und er starrte mit entsetzter Miene zum Vorkastell. „Geh da weg, Onkel!“ schrie er. Der schmierige Mann riß den Kopf herum und spähte über die Schulter hoch zum Vorkastell. Aber da war gar kein „Onkel“. Und ihn selbst bewegte im selben Augenblick eine unsichtbare Kraft schwebend zurück durchs Kombüsenschott. Er segelte über den breiten Herd mit dem Holzkohlenfeuer, spürte die Hitze und zog den Abzug durch. Die Kugel durchschlug glatt die beiden Wandungen eines Kupferkessels und bohrte ein Loch in einen Mehlsack. „Gordon Brown“, sagte der Koch mißmutig und schielte auf das Loch, aus dem Mehl rieselte, „steig vom Herd runter, ich brauch die Platte jetzt. Ich hab dir gleich gesagt, daß dich das da draußen nichts angeht. Du mußt noch Speck schneiden, und die Rüben sind auch noch nicht geputzt.“ Unter Gordon Browns Hintern stiegen Rauchwolken auf, und es roch gar nicht gut. Aber der schmierige Mann rührte sich nicht. Der Koch schnüffelte, schüttelte den Kopf und zog Gordon Brown von der Herdplatte. Einfach so. Der schmierige Mann kippte mit rauchender Hose zu Boden. Über die glimmenden Ränder goß der Koch eine Kelle Wasser. „Blöder Hund“, murmelte er. Das Geschrei und Getrampel draußen störte ihn nicht im geringsten. „Fressen, saufen, huren,
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prügeln“, setzte er sein Selbstgespräch fort und schüttelte wieder den Kopf, „was ist das nur für eine Welt!“ Auf dem Mitteldeck ging Hasard mit fliegenden Fahnen unter. Carberry hatte seine Gehilfen mobilisiert. Gegen Musketen und Pistolen hatte selbst ein Seewolf keine Chance. Die einen hielten ihn in Schach, die anderen fielen wie die Wölfe über ihn her. „Arwenack!“ brüllte das Bürschchen verzweifelt, aber da war der Holzklotz Blacky, der Donegal Daniel O’Flynn mit eiserner linker Hand zurückhielt, sich ins Gefecht zu stürzen. „Hat keinen Zweck, Junge“, flüsterte Blacky und hatte direkt menschliche Züge. „Die verarbeiten dich zu Haferbrei.“ Donegal Daniel O’Flynn schluchzte auf, als Philip Hasard Killigrew den Lauf einer Muskete auf den Kopf kriegte und in die Knie brach. Noch ein Hieb brachte ihn endlich zu Boden. Zum zweiten Male innerhalb von vierundzwanzig Stunden tauchte der Seewolf in tiefe Bewußtlosigkeit. Er spürte nicht mehr, wie sie auf ihm herumtrampelten. Der Profos sah zu. Er lehnte auf der Steuerbordseite am Schanzkleid und hatte die Arme um die Luvhauptwanten geschlungen, um nicht in die Knie zu gehen. Er hatte Mühe, klar zu denken, spie Blut durch die Zahnlücken und grübelte darüber nach, ob er diesen Teufelsbraten von Seewolf gleich an der Rah aufknüpfen oder noch eine Weile schmoren lassen sollte. Eins stand fest. Er hatte ihn, den Profos, den Zahlmeister an Bord der „Marygold“, zu einem Nichts degradiert, seine Autorität zerschlagen, ihn herabgewürdigt. Was würde der Kapitän dazu sagen? Der Profos fluchte still vor sich hin, fuhr mit der Zunge über die blutenden Zahnlücken und zischte wieder einen Blutstrahl außenbords — nach Luv, benommen wie er war, und prompt stäubte ihm der Wind das Blut zurück ins Gesicht. Er sah aus, als hätte er auf einer Schlachtbank geschlafen.
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Einer seiner Gehilfen schlingerte über das Deck und baute sich vor ihm auf. Sein rechtes Auge schimmerte schwarzblau und begann sich unter der Schwellung zu schließen. „Wohin mit ihm?“ fragte er. Er schniefte und wischte sich das Blut von der Nase. „Hängt ihn an die Rah!“ stieß der Profos hervor. „Aye, aye, an die Rah“, sagte der Mann und wandte sich um. „Du bist wohl nicht bei Trost“, sagte Patrick Evarts, der Segelmacher, und löste sich aus der Gruppe der Seeleute. „Erstens habe ich den Killigrew-Seewolf vor der ,Bloody Mary’ aufgesammelt und bei dieser Sache ein Wörtchen mitzureden, denn wir haben ihn umsonst gekriegt, und zweitens muß das der Kapitän entscheiden.“ „Umsonst?“ fragte der Profos empört. „Ihr habt London-Jack und Tom Smith dabei an Land zurückgelassen ...“ „Und dafür zwei Ersatzleute mitgebracht“, unterbrach ihn Patrick Evarts. Der Profos spuckte verächtlich aus. „Ersatzleute? Der eine ist schlimmer als ein reißender Wolf, und der andere noch nicht trocken hinter den Ohren. Außerdem steckt er mit dem Killigrew unter einer Decke. Was heißt hier überhaupt Killigrew? Dieser schwarzhaarige Bastard ist kein Killigrew, da freß ich meine Hose auf.“ „Und warum ist er kein Killigrew?“ „Weil die alle rothaarig, grünäugig und dicke Bullen sind, deswegen. Ich kenn die Sippe aus Falmouth. Schau dir doch mal diesen Bastard an - der ist so lang wie eine Großrah, schwarzhaarig und blauäugig. Die Killigrews sind zwar auch von der wilden Sorte, aber der da ist auf einer Kanonenkugel gezeugt worden. Nein, das ist kein ...“ „Er ist ein Killigrew, verdammt noch mal!“ Das Bürschchen stand vor den beiden, hochrot im Gesicht, mit blitzenden blauen Augen. „Verpiß dich“, sagte der Profos wütend.
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„Hasard hat’s Ihnen wohl richtig besorgt, was, wie?“ fauchte das Bürschchen kampflustig. Blacky hatte einen Moment nicht aufgepaßt, und da war ihm Donegal Daniel O’Flynn entwischt. Blacky stöhnte, verließ die Hammelherde auf der Backbordseite und stieg das schräggeneigte Deck nach Steuerbord hoch. „Komm, Junge“, sagte er besänftigend und zerrte an Dans Schulter. „Ob Killigrew oder nicht, hier sind wir Affenärsche und Rübenschweine und haben nichts zu melden.“ „Ich schon“, sagte das Bürschchen patzig. „Und wenn sie Hasard aufknüpfen wollen, können sie mich gleich daneben hängen. Aber vorher schlag ich diesem Großmaul noch ein paar Zähne ein, so wahr ich ein O’Flynn bin.“ Der Profos schob den blutigen Kopf vor. „Ist dein Alter O’Flynn mit dem Holzbein?“ „Genau der“, sagte das Bürschchen. „Vielleicht was dagegen?“ Der Profos verdrehte die Augen zum Himmel. „O Gott“, sagte er „ein verkappter Killigrew und diese O’Flynn-Wanze an Bord — da können wir auch gleich mit dem Teufel zur See fahren und dessen Gesellschaft wäre noch besser.“ „Affenarsch“, sagte die O’Flynn-Wanze. „Pack dich“, sagte der Profos grimmig. „Dein Hasard wird nicht aufgeknüpft, aber er kriegt Feuer unter das Hemd, das garantier ich dir.“ „Sie sind ein Gentleman, Mister Profos“, sagte das Bürschchen. „Ich hab’s sofort gewußt, als ich Sie sah.“ „Soll er nun aufgeknüpft werden oder nicht?“ fragte der Mann mit dem schwarzblau verschwollenen Auge. „Nein, du Hammel, was, wie? Legt ihm Manschetten an und packt ihn in die Vorpiek. Ist das klar?“ „Aye, aye“, sagte der Mann. 4. Die Vorpiek war der Eingang zur Hölle — ein finsteres Loch im untersten Bugraum,
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allerdings nicht vorgeheizt, wie es sich für einen Eingang zur Hölle geziemt, dafür aber feucht, muffig und mit jenen Gerüchen angereichert, die einem den Magen zuoberst kehren. Unter der Gittergräting schwappte stinkendes Bilgewasser und folgte sinnig den Rollund Stampfbewegungen der „Marygold“. Wenn sie ihren Bug auf der Talfahrt schräg nach unten richtete, rauschte das Bilgewasser schäumend und gurgelnd voraus und stieg über die Gräting in die Vorpiek. Schob sich der Bug wieder nach oben, flutete das Bilgewasser achteraus. So wurden die Räume über dem Kiel ständig bewässert — mit jener Brühe, in der tote Ratten, Exkremente und sonstiger Abfall herumschwammen und eine kloakenähnliche Suppe bildeten. Deswegen stank es so infernalisch. Paradoxerweise standen auf der Backbordund Steuerbordseite der Vorpiek je weiß riesige Fässer mit Süßwasser. Die Fässer waren mit Brooktauen festgezurrt, die wiederum fest in solide eiserne Augbolzen verspleißt waren. Zwischen den Fässern in dem schmalen Durchgang lag Philip Hasard Killigrew in einer Stellung, die einer Kreuzigung nicht unähnlich war. Er lag auf dem Rücken. Seine Arme, etwas höher als waagerecht gespreizt, waren mittels Kette mit je einem Augbolzen links und rechts verbunden. Eine eiserne Manschette als Endstück der Kette umschloß je ein Handgelenk. Wie lange der Seewolf in diesem Höllenloch bereits lag, wußte er nicht. Er lebte in einem Alptraum, dessen hervorstechendste Merkmale Finsternis, bestalischer Gestank und die gefolterten Arme waren. Irgendwann war er aufgewacht. Da hatte die „Marygold“ sich gerade auf einem steil abwärtsführenden Husarenritt in ein Wellental befunden, und die stinkende Bilgebrühe war über seinem Kopf zusammengeschlagen. Er hatte sich aufgebäumt, die Arme fast aus den Schultergelenken gerissen, das stinkende Wasser ausgespuckt und nach Luft geschnappt.
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Seitdem lauerte er auf jede Talfahrt, bereit, sich aufzubäumen, um nicht abzusaufen. Der Profos wußte, wie man einen aufsässigen Kerl kleinkriegte. In der Vorpieke der „Marygold“ wurden Männer zu zitternden Jammerbündeln, und das Logbuch wies fünf Fälle auf, die als „ertrunken“ bezeichnet wurden. Es war eine barbarische Methode, Männern das Rückgrat zu brechen. Aus dem Alptraum fand Hasard allmählich in die Wirklichkeit zurück und registrierte bewußter, was mit ihm war und um ihn herum geschah. Schon aus dem Ansatz, wie sich das Schiff in die Talfahrt neigte, vermochte er bald abzulesen, wie hoch das Wasser in der Vorpiek steigen würde. Seine Beine waren nicht gefesselt. Sie halfen ihm, den Körper samt Kopf hochzudrücken, wenn es wieder soweit war. Eigenartigerweise stieß die „Marygold“ bei fast jeder fünften Talfahrt steiler nach unten als sonst. Auch das Meer schien seine bestimmten, unveränderlichen Gesetze zu haben. Hasard grübelte darüber nach. Er stellte sich die heranrollende See vor - vier Wellenberge mit ihren Tälern und hinter ihnen bereits mächtiger aufragend der fünfte Wellenberg. Wenn man an Oberdeck stand, mußte man das doch erkennen können, verdammt. Warum war ihm das noch nicht früher aufgefallen? Hasard erschien es ungeheuer wichtig, darüber mehr zu erfahren. Wie war das, wenn weniger Seegang herrschte? Automatisch zählte er dabei die Talfahrten und wappnete sich rechtzeitig zur fünften. Es war ein grimmiges Spiel, das Hasard allerlei abverlangte, aber er gab nicht auf. Sein Geist arbeitete unaufhörlich und beschäftigte ihn. Er wußte, daß er sich tief unten im Vorbauch des Schiffes befand. Die Wasserlinie mußte mindestens fünfzehn Fuß über ihm verlaufen. Er lauschte dem Knacken und Ächzen der Verbände und dem Gurgeln des Wassers außenbords. Das Schiff segelte immer noch über Backbordbug. Irgendwann hörte er das
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Schmatzen und Saugen der Pumpen, und tatsächlich verringerte sich der Wasserstand des Bilgewassers. Waren Stunden vergangen? Tage? Er hatte Hunger - und vor allem Durst. Daß er sich zwischen vier Wasserfässern befand, wußte er nicht. Und wenn, es hätte ihm auch nichts genutzt. Sie hatten ihn so angekettet, daß er nicht an sie heran konnte. Das Licht, das zwischen der Unterkante des Vorpiekschotts und der Schwelle auf der Gräting hindurchschimmerte, sah er zuerst. Dann hörte er Schritte und das Zurückrasseln zweier Riegeln. Das Vorpiekschott schwang auf. Hasard kniff die Augen zusammen und blinzelte in den Schein der Öllampe. Undeutlich sah er hinter der Lampe die Um risse einer Gestalt. Die Öllampe schwenkte zur Seite und wurde auf ein Faß gestellt. Jetzt erkannte Hasard, wer vor ihm stand. Es war der schmierige Kerl, der ihn mit der Radschloßpistole bedroht hatte. „Hast du Durst, Mister?“ fragte der Kerl und zeigte grinsend seine Stummelzähne. „Alle haben Durst wenn sie hier mehr als zehn Stunden zugebracht haben.“ „Na und“, sagte Hasard. Der Kerl trat näher, beugte sich zu dem ersten Faß an der Backbordseite, drehte den Zapfhahn auf und hielt eine Muck, einen einfachen Becher, darunter. Wasser plätscherte. verlockend. Der Kerl schielte auf Hasard. „Schau mal, Mister, schönes, klares, sauberes Trinkwasser.“ Er hielt den Muck hoch und trank. „Ah“, sagte er dann, „kühl und frisch das Wässerchen!“ Er goß den Rest achtlos auf die Gräting. „Du hast was vergessen“, sagte Philip Hasard Killigrew freundlich. „Was denn?“ „Etwas zu gurgeln und dein stinkiges Gebiß auszuspülen.“ Gordon Brown duckte sich und starrte den Seewolf tückisch an. Dann wechselte sein Ausdruck plötzlich und wurde geradezu frömmelnd.
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„Sie sagen, du seist einer von den Killigrews aus Falmouth.” Hasard erwiderte nichts. Gordon Brown faßte das als Zustimmung auf. „Ihr habt viel Geld, wie?“ „Massenhaft“, sagte Philip Hasard. Gier flackerte in den schmutzigen Augen Gordon Browns. „Was zahlst du für eine Muck Trinkwasser?“ „Nichts“, sagte der Seewolf. „Verdufte, du dreckige Ratte!“ Gordon Brown zuckte zurück wie von einer Schlange gebissen. Die Maske der Frömmelei war wie weggeputzt. Die Visage, die stattdessen erschien, war ein Fratze voller Wut, Haß und Gemeinheit. „Du hast mir den Hintern verbrannt!“ stieß er hervor. Hasard grinste breit. „Freut mich, das zu hören“, sagte er. „Dir – dir dreh ich den Hals um, du Hund!“ „Dann komm her“, sagte Hasard, „eine bessere Gelegenheit wirst du nie wieder kriegen.“ Gordon. Brown war dumm genug, es zu versuchen. Aber in der Enge zwischen den vier Fässern gab es nur einen Weg, um an den Hals von Hasard heranzukommen: er mußte an dessen Füße vorbei. Hasard zog die Beine an und trat zu, und zwar mit voller Wucht. Gordon Brown segelte durchs Schott und krachte auf die Gräting. Die Flüche, die er kurz darauf ausstieß, waren so ziemlich das Unflätigste und Gemeinste, was Hasard jemals gehört hatte. Aber sie paßten zu Gordon Brown wie die Faust aufs Auge. Er erschien wieder im Vorpiekschott und angelte nach der Öllampe. Von den Beinen des Seewolfs blieb er weit genug weg. „Du kriegst die Neunschwänzige, hat der Profos gesagt“, stieß er zischend heraus. „Und weißt du, wer sie schwingen wird?“ „Vermutlich du“, sagte Hasard gleichgültig, und dann setzte er hart hinzu: „Vergiß dabei aber nicht, daß ich bisher immer zurückgezahlt habe. Dein
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verbrannter Hintern war da nur ein bescheidener Anfang.“ Gordon Brown fluchte wieder und rammte das Schott dicht. Die Riegel rasteten ein, und dann war da nur noch die Finsternis. Aber nicht lange. Ein scharrendes Geräusch ertönte vor dem Schott, und wieder schimmerte Licht durch den Spalt zwischen Gräting und Vorpiekschott, allerdings nicht so hell wie zuvor. Die beiden Riegel wurden vorsichtig zurückgeschoben. Hasard zog die Beine an. Man konnte nie wissen. Das Schott schwang auf, eine Kerze erschien, und dahinter tauchte die schmale Gestalt von Donegal Daniel O’Flynn auf. „He!“ sagte Hasard. „Pst, nicht so laut“, wisperte das Bürschchen. „Ich bin vorhin der Ratte gefolgt und hab alles mit angehört. Dieser Mistkerl!“ „Dan“, sagte der Seewolf sanft, „tu mir einen Gefallen und verschwinde. Wenn sie dich hier erwischen, bist du reif.“ Empört sagte das Bürschchen: „Ich laß doch meinen alten Freund Hasard Killigrew nicht sitzen, verdammt noch mal. Jetzt ist Mitternacht, und bis auf die Wache pennen alle. Aus der Kombüse hab ich Speck geklaut. Ich muß dich wohl füttern, wie? Mann, haben die dich hier festgezurrt. Aber erst kriegst du Wasser, warte mal.“ Er praktizierte die Kerze auf eine Tonne und zog eine Muck unter dem Hemd hervor. Dann zapfte er Wasser ab, beugte sich über den Seewolf und gab ihm zu trinken. Hasard trank mit tiefen Zügen. . Donegal Daniel O’Flynn schnüffelte und sagte: „Mann, stinkt das hier. Wie hältst du das nur aus?“ „Nicht Weiter schlimm“, sagte Hasard. „wenn man nachdenkt, vergißt. man alles andere um sich herum. Spürst du die Schiffsbewegungen?“ Das Bürschchen nickte. „Sie haben einen ganz bestimmten Rhythmus“, sagte Hasard. „Ich bin darauf gestoßen, daß jede fünfte Talfahrt steiler und tiefer als die vier vorigen ist.“
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Dan riß die Augen auf und staunte.. „Mann“, sagte er „und wie kommt das?“ „Eben das möchte ich auch wissen“, erwiderte der Seewolf, „und darüber habe ich die ganze Zeit nachgedacht. In der Bewegung der Wellen liegt eine bestimmte Gesetzmäßigkeit, die man ergründen müßte. Die Frage lautet: warum bauen sich die Wellen so und nicht anders auf? Hängt das mit der Wassertiefe zusammen, mit dem Druck des Windes?“ „Mann, Mann“, flüsterte das Bürschchen, „du hast vielleicht Nerven. Hier - nimm mal die Speckscheibe.“ Er stopfte sie Hasard in den Mund und zapfte erneut Wasser in die Muck. Hasard kaute und fand, daß es ihm eigentlich recht gut ginge - bis auf die beiden Ketten, die seine Arme auseinanderzerrten. Aber man konnte eben nicht alles haben. „Die Maden habe ich vorher herausgepult“, sagte Donegal Daniel O’Flynn. „Was?“ „Die Maden in dem Speck“, erläuterte das Bürschchen. „Du brauchst also keine Sorge zu haben, daß du jetzt Maden frißt.“ „Danke“, sagte der Seewolf und mußte grinsen. Dieser O’Flynn-Sohn war eine Marke für sich. Dann fiel ihm etwas ein, und er fragte: „Hat sich der Kapitän von diesem Kasten schon mal auf dem Achterdeck gezeigt?“ Dan schüttelte den Kopf. „Nicht die Bohne. Die tun alle so geheimnisvoll. Ben Brighton, das ist ein Bootsmann, hat uns heute nachmittag in die Masten gescheucht und mit uns rumexerziert. Die Kanonen hat er uns auch erklärt. Bald würde scharf geschossen, hat er gesagt. Der Brighton ist ein feiner Kerl die anderen sind es eigentlich auch, bis auf Gordon Brown.“ „Gordon Brown?“ „Die Ratte, der Kerl, den du in die Kombüse gefeuert hast. Er hilft doch dem Koch.“ Er schob Hasard wieder Speck zwischen die Zähne. „Hast du vor morgen Angst, Hasard?“ „Ich? Wieso?“
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„Du sollst morgen vor versammelter Mannschaft ausgepeitscht werden -von Gordon Brown.“ „Ach so.“ Hasard lächelte. „Wenn man den Willen aufbringt, kann man Schmerzen ignorieren. Das ist alles.“ Dan nickte wichtig. „Also habe ich einen Willen. Früher habe ich immer gebrüllt, wenn der Alte mich mit seinem Holzbein verdrosch, aber später habe ich dann die Zähne zusammengebissen und keinen Ton herausgebracht. Und weißt du warum? Weil der Alte sich grün ärgerte, wenn ich nicht mehr brüllte, und die Lust verlor, mich zu verdreschen. Hier, trink noch mal!“ Hasard trank und kriegte anschließend noch eine Speckscheibe in den Mund gestopft. „Der Profos hat eine Stinkwut auf dich“, sagte Donegal Daniel O’Flynn, „erst hatte er dich an der Rah aufknüpfen wollen, aber Patrick Evarts, der Segelmacher, war dagegen. Sie brauchen uns wohl, weil zwei Kerle von dem Preßkommando an Land geblieben sind. Sie sprechen alle von dir wegen der Keilerei vor der ,Bloody Mary`, und weil du den Profos zusammengeschlagen hast. Das hat noch keiner geschafft.“ „Na ja“, sagte Hasard, „viel hat’s mir auch nicht eingebracht.“ „Doch, sagte Dan. „Die meisten stehen hinter dir. Wenn wir wollen, können wir den ganzen Kasten auseinandernehmen. Was meinst du?“ „Abwarten“, erwiderte der Seewolf. „Ich könnte doch versuchen, die Manschetten an deinen Handgelenken aufzubrechen“, schlug Donegal Daniel O’Flynn vor. „Womit denn? Die sind aus Eisen, und der Profos hat den Schlüssel. Laß den Unsinn, Dan. Ich stecke morgen meine Prügelstrafe ein und damit basta. Was dann wird, werden wir sehen. Und dann verbiete ich dir, für m ich Kopf und Kragen zu riskieren. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir. Ich meine ja auch nur ...“
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Drei Minuten später verschwand Donegal Daniel O’Flynn und riegelte das Vorpiekschott wieder ab. * Irgendwann in der Nacht wurden die Stampf- und Schlingerbewegungen der „Marygold“ geringer und zu einem sanftem Wiegen. Philip Hasard Killigrew entspannte sich, soweit das überhaupt ging. Jedenfalls brauchte er nicht mehr zu befürchten, wie ein Katze ersäuft zu werden. Das stinkende Bilgewasser schwappte nur noch träge unterhalb der Gräting. Dann erschienen die Ratten. Zu sehen war nichts, aber da war das Pfeifen. Und dann spürte es der Seewolf. Ein länglicher Körper huschte über seinen Fuß, etwas scharrte an seiner Hose, und plötzlich stach ein nadelscharfer Schmerz durch sein rechtes Bein. Philip Hasard Killigrew krümmte das Bein und schleuderte es - den Oberkörper qualvoll hochgebogen - wieder in die Streckung zurück. Etwas quiekte schrill auf, klatschte gegen das Schott und fiel auf die Gräting. Noch einmal quiekte es und erstarb. Unzählige Pfeiftöne schnitten durch die Finsternis, an dem Schott wimmelten Leiber durcheinander, die sich scharrend und kratzend und fiepend bewegten. Der Seewolf hämmerte seine Stiefel auf die Gräting und ließ seine Beine wirbeln, fegte mit ihnen über die Gräting, trat und stieß zu. Wenn die Bestien an ihm vorbeihuschten und sich in seinen Hals verbissen, dann würde er in diesem Loch elend verrecken. Unkontrollierte Angst schoß in ihm hoch. Er tobte und riß an den Ketten, zog sich hoch, wälzte sich herum, trat mit den Füßen um sich, schnellte vor und zurück, wand sich, schleuderte den Kopf hin und her. Es war sinnlos, aber er gewann mit der Toberei seine Beherrschung zurück. „Du Narr“, sagte er laut vor sich hin, „du dreimal verdammter Narr! Legst dich mit
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dem Profos an und erhältst jetzt die Quittung. Ratten!“ Er hing erschöpft an den Ketten und lauschte. Da waren nur das Schwappen und Plätschern des Bilgewassers, das Knarren der Holzwände, das gurgelnde Vorbeiströmen und Klatschen des Seewassers draußen an den Bordwänden. Er tastete den Raum vor sich mit den Füßen ab. Nichts. Er war so schlapp wie ein Rahsegel bei Flaute. Genauso fühlte er sich. Schweiß strömte über seinen Körper, biß in seine Augen. Seine Lungen pumpten nach Luft, in seinem Kopf hämmerte der Schmerz. Seine Handgelenke unter den eisernen Manschetten waren wundgescheuert. Er spürte das glitschige Blut. Ihm fiel ein, daß die beiden Ketten links und rechts zu den Augbolzen führten, die in das massive Spantholz eingelassen waren. Wenn es ihm gelang, die Kette an sich zu drehen, müßte auch der Augbolzen dem Drehdruck folgen. Er atmete tief durch. Die Manschette ließ ihm genug Spielraum. Er probierte es zuerst rechts, verdrehte das Handgelenk so weit wie möglich nach links, bis seine Hand fast unter der Kette lag, packte zu und versuchte mit aller Kraft, die noch in ihm steckte, die Kette herumzudrehen, und zwar nach rechts. Die Kettenglieder schoben sich zusammen, bildeten Minken, verkürzten sich und rissen ihm fast den Arm aus. Verbissen drehte er weiter. Dort, wo der Augbolzen im Spantholz saß, knackte es. Das Holz knarrte und ächzte. Das ist gut, dachte der Seewolf, das ist sogar sehr gut. Er hielt einen Moment inne und entspannte sich. Er spürte, daß er am ganzen Körper zitterte. „Du bist ein Waschlappen“, sagte er laut vor sich hin, „ein dreimal verdammter Narr und noch dazu ein Waschlappen.“ Er lauschte seiner Stimme. Und da war plötzlich wieder das widerliche Pfeifen. Die geben auch nicht auf, dachte er.
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Wut schoß wie ein Stichflamme in ihm hoch. Er packte erneut zu, umkrallte die Kette, biß die Zähne aufeinander und stellte sich vor, ein paar Ratten am Hals hängen zu haben. Mit einer berstenden Kraftanstrengung verdrehte er die Kette nach rechts, dann nach links, wieder nach rechts, nach links. Der Augbolzen quietschte mißtönend in seiner Holzbettung. Das war Musik in den Ohren des Seewolfs. Irgendetwas splitterte. Hasard zerrte wie ein Berserker, und dann prallte er plötzlich mit dem Rücken auf die Gräting. Fast staunend beugte er den rechten Arm. Ja, er konnte ihn frei bewegen. Die Kette klirrte an der Manschette. Er tastete an den Gliedern entlang und stieß an den Augbolzen. Also hatte er es geschafft. Aber da war noch etwas - verdammt, das untere Brooktau, das in den Augbolzen eingespleißt war und das Wasserfall im unteren Teil absicherte. Daran hatte er nicht mehr gedacht. Bei schwererem Seegang konnte das gefährlich werden. Und frei war sein Arm immer noch nicht. Über den Augbolzen war er jetzt mit dem Brooktau verbunden. Aber er hatte mehr Spielraum. Hasard zog die Beine an, schob sich an dem Wasserfaß zur Linken hoch und setzte sich auf. Er lehnte sich an die Dauben und genoß die sitzende Stellung. Sein Herz hämmerte von der Anstrengung und pumpte das Blut mit hektischen Stößen durch die Adern. Sie huschten heran und stießen mit ihren spitzen Schnauzen an seine Füße. Ihr Fiepen trieb ihn hoch und zur Raserei. Er konnte gebückt. stehen, soviel Platz ließ ihn die linke Kette. Mit der rechten Kette schlug er zu. Samt Augbolzen und Brooktau klirrten sie über die Gräting. Er peitschte sie dahin und dorthin und spürte mit grimmiger Befriedigung, wie sie traf und Knochen zerbrach. Sie pfiffen schrill und schienen wieder den Rückzug anzutreten. Spürten die Biester, daß ihre Chancen, an ihm herumzunagen, geringer geworden
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waren? Hatten sie ihre toten Artgenossen mitgenommen? Hasard tastete mit der Rechten die Gräting vor sich ab. Seine Finger stießen gegen einen dünnen Schwanz. Angewidert zuckte er zurück, angelte mit dem Stiefel nach der toten Ratte und stieß sie in Richtung Schott. Dann versuchte er, mit beiden Händen die linke Kette in sich zu drehen, um auch diesen Augbolzen herauszubekommen. Aber obwohl er jetzt die doppelte Armkraft einsetzen konnte, rührte sich das verdammte Ding nicht von der Stelle. Er fluchte, probierte es noch zweimal und gab dann auf. Es hatte keinen Zweck. Immerhin aber hatte er jetzt genügend Bewegungsfreiheit und war den Ratten gegenüber nicht mehr ganz wehrlos. Er beugte sich zu dem Zapfhahn des linken Fasses, drehte ihn auf, hielt den Mund unter den Hahn und trank. Dann legte er sich unter den Hahn und ließ sich das Wasser über Kopf und Gesicht laufen. Als er den Hahn wieder zudrehte, fühlte er sich erfrischt. Er wartete auf die Ratten. Aber sie schien endgültig genug zu haben. Vielleicht hatten sie auch die Bäuche voll - mit ihren toten Artgenossen. Ratten waren auf jedem Schiff. Sie lebten von dem Abfall in der Bilge, nagten sich zu den Vorratsschapps durch und waren nicht auszurotten. Wenn sie nichts mehr fanden, zerrissen sie sich untereinander. Nur die Stärksten überlebten. Nur wenn ein Schiff die letzte Reise in die Tiefe antrat, soffen sie mit ab oft genug die letzten Lebewesen, die sich an die Wrackteile krallten, bis die unersättliche See auch sie verschlang. Philip Hasard Killigrew rollte sich auf die linke Seite und schlief ein. Er schlief tief und fest, aber er war sofort wach, als die beiden Riegel zurückklirrten. Mehrere Öllampen warfen ihr Licht in die Vorpiek. Der Seewolf blinzelte in das Licht und richtete sich langsam auf. Der Profos stand im Vorpiekschott, hatte die Lampe angehoben und leuchtete den Raum ab. Der Schein wanderte von den
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beiden toten Ratten zu seinen Füßen nach rechts, dann nach links, verharrte auf der Stelle, wo sich einmal der Augbolzen befunden hatte, wanderte die Kette entlang über die Manschette, den Arm und richtete sich auf das Gesicht des Seewolfes. Hasard starrte in das Licht, ohne mit der Wimper zu zucken. Schweigen. Der Profos senkte die Lampe und beleuchtete noch einmal die beiden Ratten. Hasard hatte ihnen das Rückgrat zerschmettert. Zersplitterte Knochen ragten aus blutig-zerrissenem Fell. Die spitzen Schnauzen klafften auf, unter den hochgestülpten Lefzen schimmerten nadelspitze Zähne. Es sah aus, als grinsten die Biester. „Unglaublich“, murmelte der Profos fassungslos. „Sollte ich mich vielleicht anknabbern lassen?“ fragte der Seewolf freundlich. „Schließlich hat jeder Mann das Recht, zu kämpfen, solange noch ein Funken Leben in ihm ist. Hast du schon mal gegen Ratten gekämpft, Profos - ich meine, mit gefesselten Händen?“ „Nein.“ „Tut mir leid, daß ich den Augbolzen abmontiert habe. Aber es läßt sich wohl etwas tiefer wieder einschlagen: Das Faß muß abgesichert werden, sonst geht’s bei Seegang auf die Reise und zertrümmert womöglich die anderen Fässer.“ „Jawohl“, sagte der Profos und hätte fast noch „Sir“ hinzugefügt. Er biß sich auf die Lippen und starrte in die eisblauen Augen. Widerwillig wurde ihm bewußt, daß er diesen Mann bewunderte. Der war in der Vorpiek nicht weichzuklopfen, niemals, der war unzerstörbar und spuckte selbst dem Tod noch in die Zähne. Und wenn, dann mußte man ihn dreimal totschlagen, und beim viertenmal würde der Sensenmann die Flucht ergreifen. Er schüttelte den Kopf, betrachtete die Platzwunden an der Schläfe und die Schwellungen auf dem Schädel des großen Mannes, entdeckte das durchblutete rechte
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Hosenbein und sagte fast entschuldigend: „Es ist soweit.“ „Was?“ fragte der Seewolf, obwohl er es wußte. „Dreißig Schläge mit der Neunschwänzigen wegen versuchter Meuterei.“ „Ich würde Meuterer an der Rah aufknüpfen“, sagte der Seewolf. „Der Kapitän hat anders entschieden.“ „Oh“, sagte Hasard, „warum diese Milde?“ „Weiß ich nicht“, erwiderte der Profos brummig. Er beäugte den lächelnden Hasard mißtrauisch. „Bist du bereit oder gibt’s wieder Ärger?“ „Ich bin bereit.“ Hasard streckte die Hände vor. Der Profos trat an ihn heran und schloß die Eisenmanschetten, auf. „Ich muß dir aber jetzt die Hände auf den Rücken fesseln.“ „Bitte sehr“, sagte der Seewolf, „aber es ist wirklich nicht nötig. Wenn ihr mich nachher an die Wanten fesselt, genügt das. Den Gang bis dahin würde ich gern ungefesselt gehen.“ „In Ordnung“, sagte der Profos und mußte sich wieder auf die Lippen heißen, um nicht „Sir“ hinzuzufügen. Edwin Carberry, eisenharter Mann und Zuchtmeister auf der „Marygold“, geriet in Verwirrung. Fing er an, auf seine alten Tage weich zu werden? Mitleid? Nein, das war es nicht. Dieser unbeugsame Riese brauchte kein Mitleid, der nicht. Der würde höchstens in seiner unnachahmlichen Art amüsiert lächeln. Was war es dann? Verdammt, was war es? Und als Carberry es begriff, verfluchte er sich, darüber nachgedacht zu haben. Denn er hatte begriffen, daß für diesen Mann, den sie Seewolf nannten, andere Gesetze galten. Das Zuchtmittel mit der Neunschwänzigen war völlig sinnlos. Ja, genau das war es, es war sinnlos. Genauso gut konnte man versuchen, einen Sturm mit einer Muskete aufhalten zu wollen. Auch der Sturm folgte seinen eigenen Gesetzen. Sturm war etwas, vor dem Carberry den gebührenden Respekt des gesalzenen Seemanns hatte, Respekt und
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Achtung. Man konnte mit ihm kämpfen, aber man mußte höllisch aufpassen. Und dieser Seewolf war wie ein Sturm. „Gehen wir“, sagte Hasard lächelnd - so, als gelte es, zu einem verrückten Tanz in einer Schenke aufzuspielen. Der Profos nickte und marschierte hinter dem Riesen her, der gebückt - um nicht an die Decksbalken zu stoßen - und dennoch geschmeidig voranging, vorbei an den sechs anderen Männern, die ihre Öllampen hochhielten und sich dann anschlossen. Hasard enterte den Niedergang hoch und trat an Oberdeck. Geblendet schloß er die Augen. Das Wasser glitzerte und spiegelte Milliarden Lichtreflexe. Eine sanfte Dünung wiegte sich unter einem beständigen Nordwest, der die „Marygold“ mit Backstagsbrise über Backbordbug liegend unaufhaltsam nach Süden schob. Die Sonne, ein flammender Ball, stand im Südosten und bewegte sich auf den Mittag zu. Hasard atmete tief durch, roch in den Wind und reckte sich auf. Ja, das war die salzige See - gestern von tobender, elementarer Zerstörungswut und heute ein sanftes Liebkosen. Eine Möwe segelte mit schrillem Schrei über das Schiff, ließ sich mit ausgebreiteten Schwingen treiben und äugte nach unten. Hasard sah ihr mit zusammengekniffenen Augen nach und beneidete sie, wie sie in die Sonne hochstieg, immer weiter, bis sie in der gelbflammenden Glut nicht mehr zu erkennen war. Sie hatten alle Segel gesetzt: vorn unter dem Bugspriet die Blinde, am Vormast Fock und Vormarssegel, am Großmast Großsegel und Großmarssegel und am Besanmast das fast dreieckig geschnittene Lateinersegel mit der riesigen Gaffel. Auf dem Deck des Achterkastells standen mehrere Gentlemen und starrten zu ihm hinüber. Unter ihnen auf der Kuhl, dem Deck zwischen Großmast und Vormast, drängte sich die Besatzung. Auf der Steuerbordseite bei den Hauptwanten lauerte Gordon Brown, die
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Neunschwänzige in der Rechten, ein schmieriges, gemeines Grinsen im Gesicht. Hasard ging langsam auf ihn zu, den Blick fest auf ihn gerichtet. Hinter sich hörte er den Profos und die sechs anderen Männer. „Er ist nicht gefesselt!“ brüllte Gordon Brown entsetzt und wich zurück. „Auch nicht nötig“, sagte der Profos hinter Hasard wütend. „Halt’s Maul, du Schreihals!“ Der Seewolf blieb vor Gordon Brown stehen und wartete. Er stand völlig zwanglos und frei, die Beine leicht gespreizt auf dem nach Backbord geneigten Deck. Die sanften Bewegungen des Schiffes balancierte er sieh wie immer aus. Sie waren ihm von klein auf vertraut. Der Profos stieg den Niedergang zum Achterkastell hoch und blieb vor einem untersetzten, rotbärtigen Mann stehen. „Der Delinquent ist bereit, Sir“, meldete er. Der rotbärtige Mann nickte. „Dann tun Sie Ihre Pflicht, Profos.“ Hasard starrte zum Achterkastell hoch und glaubte zu träumen. Dieser untersetzte Mann dort oben mit dem scharfgeschnittenen kühnen Gesicht und den grauen Augen war niemand anderes als Francis Drake, der legendäre Drake, der den machthungrigen Spaniern seinen privaten Krieg erklärt, in der Karibik seine tollkühnen Raids durchgeführt und spanische Schatzschiffe gekapert hatte. Dort oben stand er und schaute kühl und gelassen auf den Seewolf hinunter. Hasard hätte sich in den Hintern beißen können, aber er tat etwas anderes, und es durchdrang das ganze Schiff vom Heck bis zum Bug und stieg hoch zu den Segeln und Masttoppen. Er legte den Kopf in den Nacken und schickte eine donnernde Lachsalve auf die Reise. Sie drang von tief unten aus seinem mächtigen Brustkasten und grollte wie eine Sturmflut über das Deck der „Marygold“. Die Seeleute standen mit glotzenden Augen und verblüfften Gesichtern da. Francis Drake runzelte die Stirn, wirkte etwas konsterniert und wandte sich an den Profos. „Muß das sein, Carberry?“
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Der zuckte hilflos mit den Schultern und verstand überhaupt nichts mehr. „Soll - soll ich ihn mal fragen?“ fragte er lahm. „Fragen Sie ihn.“ Hasard wischte sich die Tränen aus den Augen und schnappte japsend nach Luft, als der Profos den Niedergang hinunterstiefelte und sich vor ihm aufbaute. Dieser lange Kerl gab ihm Rätsel über Rätsel auf. Er blickte hoch in die lachenden blauen Augen und sagte: „Bist du übergeschnappt, was, wie? Sollst die Neunschwänzige kriegen und lachst dich vorher halbtot. Ist das eine Art? Der Kapitän verlangt eine Erklärung - und jetzt laß dir was einfallen, du Himmelhund!“ Hasard deutete eine Verbeugung an und lächelte. „Meine Empfehlung an Sir Francis Drake, und ich bitte um sein Verständnis. Ich kam nach Plymouth, weil ich gehört hatte, daß der Kapitän Männer braucht. Ich wollte bei ihm anheuern und mich zur Verfügung stellen. Jetzt bin ich hei ihm an Bord, wurde zweimal dafür zusammengeschlagen und stehe noch dazu unter der Anklage wegen versuchter Meuterei!’ Er knuffte dem Profos die Rechte in die Seite und schrie: „Ist das ein Witz, Profos, oder ist das keiner?“ Der Mund Carberrys zuckte, wurde breiter, immer breiter, in seine Augen trat ein heiteres Funkeln - und dann lachten die beiden Männer aus vollem Hals und schlugen sich abwechselnd auf die Schultern. Der nächste, der loskicherte, war Donegal Daniel O’Flynn. Er steckte die anderen an, und die „Marygold“ geriet aus den Fugen, als der Lachchor der Männer einsetzte. Von allen Schiffen, die auf den Weltmeeren fuhren, war die „Marygold“ in diesen Minuten sicherlich das fröhlichste Schiff, das es je gegeben hatte. Francis Drake hielt sich den wackelnden Bauch und stöhnte. Nur einer lachte nicht: Gordon Brown.
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Und noch einer - ein dunkler Mann mit dunklen Augen und dunklen Haaren. Er stand gleichgültig zwischen den Seeleuten, denn er war taubstumm und konnte nicht verstehen, warum die anderen lachten und sich wie wildgewordene Affen aufführten. Als das Gelächter und Lachen verebbte, trat der Kapitän drei Schritte vor und stützte die Hände auf die Schmuckbalustrade, die den Querabschluß des Decks auf dem Achterkastell bildete. „Das Urteil wird revidiert“, sagte er. In seinen grauen Augen blitzte Heiterkeit. „Fünf Schläge mit der Neunschwänzigen als Lektion, daß ein Mann sein Ziel gerade und nicht auf Umwegen ansteuern soll.“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Profos. „Aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Sir, er wollte doch freiwillig in Ihre Dienste ...“ „Tun Sie Ihre Pflicht, Profos“, sagte der Kapitän knapp. „Aye, aye, Sir.“ Hasard hatte bereits sein Hemd ausgezogen und es Donegal Daniel O’Flynn zugeworfen. „Er muß noch gefesselt werden“, nörgelte Gordon Brown. „Er wird nicht gefesselt!“ fuhr ihn der Profos an. „Und jetzt bring es hinter dich, du bist doch so wild darauf.“ Hasard drehte sich ruhig zum Steuerbordhauptwanten und legte die Hände auf die Webleine. Sein Rücken war straff und gespannt. Und Gordon Brown schlug zu. Er hatte die Neunschwänzige mit beiden Händen gepackt und drosch sie mit sadistischer Lust auf den breiten nackten Rücken gezielt fünfmal auf dieselbe Stelle, die bereits beim zweiten Mal als blutigen Band aufplatzte. Das Blut brachte ihn zur Raserei, und er holte zum sechsten Hieb aus, ein irres Grinsen im Gesicht. Der Profos sprang dazwischen und rammte ihn zur Seite. „Fünf Schläge!“ stieß er hervor. „Und keinen mehr, oder hattest du die Absicht, gegen den Befehl des Kapitäns zu handeln?“
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Gordon Brown keuchte und wischte sich über das schweißige Gesicht, das wieder eine Grimasse aus Wut und Haß war. „Hol Mac Pellew, du Wanze!“ raunzte ihn der Profos an. „Er soll Salbe und Verbandszeug mitbringen.“ „Etwa für den da?“ maulte Gordon Brown, Der Profos ballte seine Rechte. Sein narbiges Gesicht lief dunkelrot an. Gordon Brown wandte sich rasch um und trottete zur Kombüse. Mac Pellew, Koch auf der „Marygold“, konnte nicht nur Geflügel rupfen, Schweine abstechen, Brei kochen oder Kakerlaken jagen. Er war der Feldscher und Bader an Bord, zog Zähne, amputierte Knochen, nähte zerfetzte Hautlappen mit dünnem Kabelgarn und versorgte Verletzte und Kranke. Er war ein Genie - auf seine Art, aber durch und durch grämlich. Er schlurfte heran, und wie immer hatte sein Gesicht jenen Ausdruck, der verkündete, daß alle Bürde dieser Welt ausschließlich auf seinen Schultern lastete. Hasard hatte sich längst ein paar Kübel Salzwasser über den Rücken gegossen. „Salz heilt, was, wie?“ sagte er zu dem Profos und grinste. Und der grinste zurück. 5. Fünf Tage danach war Philip Hasard Killigrews Rücken völlig verheilt. In diesen fünf Tagen war der Mann aus Cornwall, den einige respektvoll „Seewolf“ nannten, Decksältester geworden, das heißt, er war unumschränkter Herrscher .über das Schiffsvolk. Diese Position barg unter Umständen mehr Macht, als sie der Kapitän hatte. Titel und Rang eines Deckältesten waren in keiner Musterrolle vorgesehen, aber auf jedem Schiff gab es im Vordeck einen Mann, der dort das Regiment führte. Allzu oft war es derjenige, der die härtesten Fäuste hatte und sich mit ihnen den nötigen Respekt verschaffte. Der bisherige Deckälteste war ein solcher Mann, aber er hatte kampflos kapituliert.
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Wer einen Carberry zusammenschlug, gegen den war kein Kraut gewachsen. Smoky - so hieß der Mann - hatte nicht die Absicht, sich die Knochen zerbrechen zu lassen. Hasard wuchs in die Stellung des Decksältesten hinein, ohne sie angestrebt zu haben. Es ergab sich ganz von selbst. Er verfügte über Autorität, ohne sich dessen bewußt zu sein. Bei den Segelmanövern war er der erste an Deck, in den Wanten kletterte er wie ein Affe - geradezu schwerelos -, und an den Rahen hangelte er sich spielerisch entlang, wenn dies oder jenes klariert werden mußte. Die Männer auf der „Marygold“ erkannten neidlos an, daß dieser Seewolf der beste Seemann war, dem sie jemals begegnet waren. Wenn er das Ruder auf seiner Wache übernahm, lief die „Marygold“ wie Samt und Seide. Er hatte ein Gespür für Wind und Welle und steuerte die „Marygold“, als sei sie ein rohes Ei. Stand er am Ruder - ein Auge auf die Segel gerichtet, das andere auf Kurs und Kompaß, dann blieb hinter dem breiten Heck der „Marygold“ ein Kielwasser zurück, das wie mit dem Lineal gezogen zu sein schien. Manchmal stiefelte Francis Drake mit auf den Rücken verschränkten Händen auf dem Achterdeck h in und her und warf ab und zu einen nachdenklichen Blick auf den großen Mann am Ruder. Und wenn er die schnurgerade Spur des Kielwassers betrachtete, die sich achteraus in der Unendlichkeit der See verlor, dann nickte er vor sich hin, aber er sagte nichts. Seit der „Lektion“ hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, und Hasard würde den Teufel tun, den Kapitän anzusprechen. Er war dort, wo er hingewollt hatte - Arwenack war ein ferner Traum hinter dem Horizont. Daß er sein Leben nicht als Decksmann beschließen würde, war für Hasard so selbstverständlich wie seine jetzige freiwillige Unterordnung an Bord der „Marygold“.
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Nur einmal hatte der Kapitän erwogen, ihn als Gefechtsrudergänger in die Musterrolle aufzunehmen. Er hatte das mit Ben Brighton, dem Bootsmann, besprochen, der achtern Wache ging, während der Seewolf am Ruder stand. „Verzeihung, Sir“, hatte Hasard gesagt, „an den Kanonen oder beim Entern tauge ich bestimmt mehr als am Ruder.“ „Und wo oder bei wem, mein junger Freund, sollten Sie dieses Handwerk gelernt haben?“ hatte Francis Drake gefragt und dabei etwas spöttisch, wie es seine Art war, gelächelt. „Bei meinem Vater, Sir.“ „Und wer ist Ihr Vater?“ „John Killigrew aus Falmouth, Sir.“ Die spöttische Miene war sehr schnell weggewesen und Überraschung gewichen. „Etwa Sir John Killigrew von Arwenack?“ „Genau der.“ „Hm.“ Der Kapitän hatte sich geräuspert und noch etwas gesagt, was nun wiederum Hasard in Erstaunen versetzte. „Merkwürdig“, hatte er gesagt. Was daran merkwürdig sein sollte, kapierte Hasard nicht, aber er verbiß sich die Frage und war damit zufrieden, daß der Kapitän die Sache mit dem Gefechtsrudergänger auf sich beruhen ließ. Er war wieder schweigend auf dem Achterdeck hin und her marschiert, anscheinend tief in Gedanken versunken. Am achten Tag nach ihrem Auslaufen aus Plymouth fiel der Mann, der sich an Bord als Kutscher von Sir Anthony Abraham Freemont vorgestellt hatte und so auch allgemein genannt wurde, von der Großsegelrah und klatschte brüllend ins Wasser. Der Rudergänger hatte nicht aufgepaßt und Vergessen, anzuluven, als eine Bö in die Segel gefahren war und die „Marygold“ fast flachgelegt hätte. Sie hatte sich nach Backbord geneigt, und der Kutscher war an der Rah, an der ein Fall klariert werden sollte, entlang gerutscht, hatte sich für einen Augenblick noch an der Rahnock zappelnd festhalten können und war dann wie ein Mehlsack in die Tiefe gestürzt.
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Hasard stand nicht am Ruder, er hatte Freiwache und war gerade mit grimmiger Miene damit beschäftigt, einen Riß in der Hose von Donegal Daniel O’Flynn zu nähen. Als der Schrei ertönte und die „Marygold“ nach Backbord krängte, saß er vor der Kombüse auf einer umgestülpten Pütz. Dan hatte zugeschaut, um die Bootsmannsnaht zu lernen, mit der Hasard die Hose flickte. Hasard war mit einem Satz auf den Beinen, mit drei Sprüngen am Schanzkleid, sah den Kutscher mit rudernden Armen nach achtern wegtreiben und jumpte mit einem Hechtsprung über das Schanzkleid ins Wasser. Hinter ihm an Bord schrillten Kommandos, die Mannschaft der Wache eilte an die Schoten und Brassen, Und die „Marygold“ ging hoch an den Wind klar zum Wenden. Hasard schwamm wie ein Hund, allerdings mit abwechselndem Armschlag. Seine Beine schlug er dabei gestreckt auf und ab. Auf diese Art schwamm er bereits seit seinem fünftem Lebensjahr. Von Bord der „Marygold“ sah es aus, als schlängle sich ein planschender Aal durchs Wasser, ein Aal mit zwei Armen, die wirbelnd abwechselnd weit nach vorn griffen und den langen Körper durchs Wasser zogen. Der Profos und der Kapitän standen mit offenen Mündern an der Heckgalerie und starrten dem durchs Wasser schießenden Riesen nach, der direkt auf den wild um sich schlagenden Kutscher zusteuerte. „Wie der schwimmt“, murmelte der Kapitän, „haben Sie so etwas schon mal gesehen, Carberry?“ Der schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Aber bei dem Seewolf wundert mich nichts mehr.“ „Seewolf?“ „Sie nennen ihn so - seit er vor der ,Bloody Mary’ mit Evarts’ Leuten förmlich Ball gespielt hat. Evarts erzählte, dieser Himmelhund habe London-Jack nur mal so eben mit dem kleinen Finger ins Hafenwasser befördert, und mit Tom Smith sei er im Kreis gerannt. „Im Kreis gerannt?“ Der Profos nickte.
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„Ja, Sir. Er hatte Tom Smith an den Beinen fest im Griff. Dann hat er sich immer schneller im Kreis gedreht und mit Tom Smith alles um sich herum weggesäbelt. Und dann ist ihm Tom Smith aus den Stiefeln gerutscht und davongeflogen wegen des Schwungs, verstehen Sie, Sir? Da muß soviel Kraft dahintergesteckt haben, daß Tom Smith glatt mit dem Kopf voran durch einen Fensterladen gerast ist .. .“ „Carberry“, sagte der Kapitän, und seiner Stimme waren die Zweifel anzuhören. „Bestimmt, Sir, dieser Seewolf ist ein ganz verdammter Satansbraten. Unten in der Vorpiek hat er mir doch glatt einen Augbolzen aus dem Spantholz gewuchtet. Mit dem Ding und der Kette hat er dann die Ratten bearbeitet, da lagen zwei ...“ „Carberry“, mahnte der Kapitän. „Was ist denn mit Ihnen los? Bewundern Sie den Mann?“ Der Profos räusperte sich und starrte über das Wasser. Die „Marygold“ war Überstag gegangen. Die Stimme des Bootsmanns schallte über das Deck. „Schrickt weg die Schoten, ihr Bastarde willig, willig, Mann, gib doch lose in den verdammten Tampen, hopp-hopp ...“ „Ja“, sagte der Profos sehr leise, „ich bewundere ihn.“ Er beugte sich weit über die Galerie, um den Mann voraus im Wasser beobachten zu können. Die „Marygold“ war in einem weiten Bogen herumgeschwungen und segelte raumschots auf die beiden Männer im Wasser zu. „Na bitte“, sagte er und deutete voraus. Hasard hatte den Kutscher erreicht, und der schnellte sich gerade wie ein zappelnder Fisch aus dem Wasser, umarmte den Seewolf und verschwand mit ihm unter der Oberfläche. Sekunden später tauchte der Kopf des Seewolfes wieder auf. Er schien nach unten zu greifen, etwas festzuhalten, dann legte er sich auf den Rücken, zog zwischen den Beinen den Kutscher zu sich heran und schob ihn sich auf die Brust. „So sicher wie ein Säugling an der Mutterbrust“, sagte der Profos vor sich hin.
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Diesmal räusperte sich der Kapitän und verfolgte, wie Hasard den Kutscher mit dem linken Arm festhielt und mit dem rechten rückwärts schwamm - auf die „Marygold“ zu. „Lassen Sie beidrehen, Profos“, sagte der Kapitän. „Aye, aye, Sir.“ Carberry verschwand von der Heckgalerie, raunzte den Rudergänger an, jetzt, verdammt noch mal, Kurs zu halten und brüllte vom Achterkastell Ben Brighton zu, die Segel gegen zubrassen, um das Schiff zum Stehen zu bringen. Ben Brighton zeigte klar und lüftete seine Decksmannen an, Vor- und Großsegel back zubrassen. Auf diese Weise wurde die Vortriebskraft der Segel aufgehoben, die „Marygold“ verlor an Fahrt und trieb schließlich seitwärts, und zwar so, daß sie Hasard mit dem Kutscher auf ihrer Leeseite hatte. Hasard schwamm mit dem Kutscher dichter an die „Marygold“ heran und griff nach der Jakobsleiter, die Brighton über die Leeseite hatte wegfieren lassen. Der Bootsmann wollte hinuntersteigen, um Hasard zu helfen, aber der winkte ab. Er griff nach dem untersten Querholm, zog sich heran, wartete eine Welle ab, die ihn anhob, und enterte mit dem Kutscher unter dem linken Arm an der Jakobsleiter hoch. Das geschah so mühelos, als habe Hasard sein ganzes Leben nichts anderes getan, als tagtäglich halbbesoffene Kerle an Bord zu hieven. Er stieg mit dem Kutscher über das Schanzkleid, sprang mit ihm an Deck, legte ihn übers Knie und schüttelte ihn wie einen Bettsack. Der Kutscher ächzte und hustete, spuckte Wasser, röchelte und brüllte schließlich, daß Hasard aufhören solle. Hasard stellte den Mann auf die Füße und blickte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Hör zu, Kutscher“, sagte er. „Wenn man oben im Mast ist, hält man sich mit der einen Hand fest. Die andere ist für die Arbeit da. Wer diese Regel außer acht läßt,
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ist entweder ein Trottel oder lebensmüde. Ist das klar?“ Der Kutscher hustete und spuckte über das Schanzkleid. „Lebensmüde bin ich eigentlich nicht“, sagte er. „Dann bist du ein Trottel“, sagte Hasard. „Außerdem hat einer, der schwimmen kann, bessere Chancen, zu überleben, wenn er mal ins Wasser fällt. Aber wem sag ich das!“ Der Kutscher nieste, und das enthob ihn einer Antwort. Außerdem stieg der Profos aufs Mitteldeck. Unter dem Arm hatte er eine Flasche. „Vom Kapitän“, sagte er, ohne Hasard direkt anzusehen. „Ohne dich wäre der Kutscher ja wohl abgesoffen, was, wie?“ Hasard sagte gar nichts. Er schielte auf die Flasche, dachte an den andalusischen Schlaftrunk von dem feisten Nathaniel Plymson und wurde mißtrauisch. Der Profos verfolgte Philip Hasards Blick zur Flasche und streichelte sie. „Schottischer“, sagte er und kriegte lüsterne Augen, „der Kapitän hat da so seine Quellen.“ Er spähte hastig über die rechte Schulter. Aber auf dem Achterdeck stand nur Ben Brighton. Der Kapitän war nicht zu sehen. „Soll ich mal probieren?“ flüsterte er hoffnungsvoll. „Ich meine, das Zeug ist bestimmt gut, und der Kapitän will euch bestimmt nicht vergiften, ganz bestimmt nicht, aber vielleicht sollte ich doch ...“ „Sauf!“ sagte Hasard kurz und bündig. Das wüste Narbengesicht strahlte vor Entzücken und war drauf und dran, die Moral zu untergraben. Die Decksleute glotzten begehrlich. Hasard sah es noch rechtzeitig und räusperte sich. „Kommando zurück“, sagte er. „Vielleicht sollten wir drei mal in der Kombüse nachsehen, was Mac im Topf hat.“ Carberry starrte ihn verblüfft an, dann begriff er und nickte hastig. „Aye, aye, Sir!“ Diesmal sagte er es tatsächlich und merkte es noch nicht einmal. Und dem Bootsmann rief er zu: „Zurück auf den alten Kurs, Ben, oder
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dachtest du, wir wollen beigedreht hier überwintern, was, wie?“ „Aye, aye“, sagte Ben Brighton, „zurück auf den alten Kurs.“ Der Profos schnaufte und marschierte über das Deck zur Kombüse. Hasard und der Kutscher folgten ihm und zogen eine nasse Spur über das Oberdeck. „Verschwinde!“ sagte der Profos zu Gordon Brown, der damit beschäftigt war, ziemlich sinnlos in einem Kessel herumzuscheuern, der bereits blank wie der Mond war. „Mac hat gesagt, ich soll den Kessel scheuern“, erklärte Gordon Brown giftig. „Soll ich den nun scheuern, oder was soll ich?“ Der Profos zog Gordon Brown von der Backskiste, auf der er gesessen hatte, und schob ihn nach draußen.. „Melde dich heim Stückmeister“, sagte er. „Die Kanonen müssen gereinigt werden. Da kannst du auch scheuern. Laß den Kessel hier, du Idiot. Den brauchst du bei den Kanonen nicht.“ Gordon Brown kehrte wieder um und knallte den Kessel auf die Backskiste. Sein Gesicht war Gift und Galle. Hasard stoppte ihn. Mit seiner leisen, gefährlichen Stimme sagte er: „Vergiß nie, was ich dir unten in der Vorpiek angekündigt habe. Irgendwann zahle ich zurück, und dann wirst du erkennen, daß dein verbrannter Hintern das Paradies war.“ Gordon Brown zischte ab wie eine Rakete. Mac Pellew rührte miesgrämig in einem Topf und sagte über die Schulter: „Der Brown ist ein blöder Hund, außerdem quatscht er dauernd auf den Taubstummen ein.“ „Der versteht doch gar nichts“, sagte Carberry verdutzt. „Eben“, sagte der Koch. „Was heißt das?“ fragte der Profos grollend. „Das heißt, daß er einen gefunden hat, der ihm nie widersprechen wird, wenn er seinen Quatsch faselt“, sagte der Koch mit einer Miene, die allen Jammer dieser Welt
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ausdrückte. „Was wollt ihr hier überhaupt?“ „Einen zwitschern“, erwiderte der Profos, „Und die beiden Wasserleichen trocknen.“ „Wer einen zwitschert, ist des Teufels“, sagte der Koch. „Mann, hör auf mit dem Gejammere. Außerdem zwitschern wir mehr als einen, also sind wir nicht des Teufels.“ Er zog den’ Korken heraus und schnüffelte an der Flaschenöffnung. „Das ist was“, murmelte er, leckte sich die Lippen, bezwang sich aber und reichte Hasard die Flasche. „Hier, du Sohn einer Kanonenkugel, nimm einen zur Brust.“ Hasard gab die Flasche dem Kutscher, der klappernd und zitternd an dem breiten Herd stand, etwas weiß um die Nase, und sichtlich überfordert schien. Er hatte den Schluckauf, und als er die Flasche an den Mund setzte, schepperte das Glas gegen seine Zähne. „Ach du meine Güte“, sagte der Profos und half ihm, die Flasche zu halten. „Nun mal hinein mit dem Schottischen, hopphopp!“ Der Kutscher trank, schluckte, trank, schluckte. Als er die Flasche absetzte, blies er die Backen auf, wurde hochrot und kriegte Froschaugen. „Gleich platzt er“, sagte der Profos gemütlich, „in dem Schottischen sind nämlich Feuer und Eisenspäne drin.“ „Uiiii!“ sagte der Kutscher und platzte nicht, sondern holte tief Luft. Und dann wurden seine Froschaugen weniger quellend, dafür aber begehrlich. Der Profos nahm ihm schnell die Flasche weg und drohte mit dem Finger. „Langsam, Junge, langsam. Jetzt ist erst Hasard dran. Schließlich hat er dich ja rausgefischt, was, wie?“ Er hielt dem Seewolf die Flasche hin. „Und jetzt ran an den Schottischen, du Satansbraten.“ Hasard gurgelte und spürte das Feuer, das ihm in den Magen rann und Wärme verbreitete. Als nächster trank der Profos, dann Mac Pellew, der ein alter Heuchler war und mehr als drei Schlucke soff, dann wieder der Kutscher, dessen Kopf zu glühen begann, darauf Hasard, der zu der Ansicht
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gelangte, es könnten ruhig noch ein paar mehr außenbords, fallen, und wieder der narbige Carberry. Die Flasche kreiste zwischen den vier Männern. Der Schrei Donegal Daniel O’Flynns, der als Ausguck im Großmars hockte, war grell und mißtönend. „Segel ho! Steuerbord voraus!“ Der Profos war wie der Blitz aus der Kombüse. Hasard verkorkte die Flasche und verstaute sie unter seinem Hemd. „Lösch das Kombüsenfeuer, Mac“, sagte er zu dem Koch. „Jetzt geht’s rund!“ Der nickte griesgrämig. „Immer die gleiche Scheiße. Wenn man mal einen zwitschert, kommt der Don dazwischen.“ „Was für’n Don?“ fragte der Kutscher und bremste einen Schluckauf. „Der Don ist der Spanier“, sagte der Koch. „Jetzt werden gleich Messer gewetzt, und das Pulver wird auf die Pfannen geschüttet.“ „Kämpfen wir jetzt?“ fragte der Kutscher begierig. „Was der fragt!“ Mac Pellew blickte gottergeben zur Decke hoch. „Meinst du, wir segeln hier herum, um Möweneier zu sammeln? O nein, der alte Francis sammelt Prisen —schöne, fette spanische Prisen. Und weißt du, warum?“ „Nein“, sagte der Kutscher. „Weil er ein wilder Hecht ist und Silber braucht, um neue Schiffe auszurüsten. Denn gegen die Dons kämpft man nicht mit einem Schiff, sondern braucht eine Flotte. Verstehst du das, du Sohn eines Hammels?“ „Verstehe“, sagte der Kutscher und rülpste donnernd. 6. Die „Mary gold“ wurde klar zum Gefecht gemacht. Das Kombüsenfeuer war erloschen. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, ein riesiger Kerl mit Schultern so breit wie ein Rahsegel, verschalkte Luken und Niedergänge, ließ Sandsäcke aus dem Bauch des Schiffes an Deck mannen,
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stellte Pützen bereit und strich wie ein grollender Geist durchs Schiff. Die Geschütze hinter den Pforten auf dem Mitteldeck waren klar, um ausgerannt zu werden — drei an der Backbordseite, drei an der Steuerbordseite. Es waren sogenannte Minions —Vierpfünder mit gegossenen Bronzerohren. Vorn auf der Back vor dem Vorkastell standen noch zwei leichte Serpentinen in drehbaren Gabellafetten und auf dem Achterdeck zwei Falkons-Drei-Pfünder. Ein Schlachtschiff war die „Marygold“ keineswegs, und ihre Armierung war eher lächerlich. Aber sie war schnell, wendig und hervorragend ausgetrimmt. Außerdem wurde sie von einem Kapitän geführt, der zäh, verwegen und von einer rücksichtslosen Härte war. Rechnete man noch seine seemännischen Qualitäten hinzu, mit der er ein Schiff wie die „Marygold“ zu handhaben verstand, dann war es gleichgültig, ob der Gegner größer und besser armiert war. Bei aller Verwegenheit, die Francis Drake auszeichnete, berechnete er kühl und sachlich seine Chancen, und wenn er ins Gefecht ging, dann durfte eins als gesichert vorausgesetzt sein: der taktische Vorteil. An diesem Tag riß Francis Drake seine erste Beute. Die Segel, die Dan vom Hauptmars aus gesichtet hatte, wuchsen aus der Kimm hoch. „Eine Galeone!“ schrie Dan aufs Deck hinunter. „Ein gottverdammter Spanier!“ „Woher will dieser Furz das wissen, was ein gottverdammter Spanier ist?“ murmelte der Profos. „Er hat doch bestimmt noch nie einen gesehen.“ Laut brüllte er zurück : „He! Wieso ein Spanier? Woher weißt du das?“ „An seinem Bugspriet baumelt ein Holzkreuz!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn. „Führen das vielleicht die Franzosen oder Holländer oder Schweden? Nein, nur die Spanier, also ist es einer, verdammt noch mal, ich hab doch Augen im Kopf.“ Hasard lächelte vor sich hin. Er stand an der vorderen Steuerbordkanone als
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Geschützführer und spähte über das Schanzkleid. Auch er hatte scharfe Augen, aber das Kreuz konnte er noch nicht erkennen. Dan O’Flynn mußte tatsächlich Raubvogelaugen haben. Francis Drake trat an die Schmuckbalustrade des Achterkastells. „Männer!“ rief er über das Deck. „Wir werden entern! Das heißt, ich will diesen Don so haben, daß er kein Trümmerhaufen ist, wenn er die Flagge streicht. Schlagt also nicht alles kurz und klein, wenn ihr ihm an die Gurgel geht. Tut eure Pflicht. Gott möge euch behüten. Stückmeister!“ „Sir?“ Der Stückmeister Barry Burnaby trat ans Achterkastell und schaute zu dem Kapitän hoch. „Glauben Sie, daß Sie es schaffen, mit einer der beiden Serpentinen vorn auf der Back dem Don einen Achterstich verpassen zu können? Und zwar müssen Ruderkopf oder Pinnenbaum getroffen werden.“ Es war klar, was der Kapitän wollte. Wenn das Ruder ausfiel, war der Spanier manövrierunfähig. Andererseits war ein Ruderkopf oder Pinnenbaum mit Bordmitteln vom Schiffszimmermann ohne weiteres wieder zu reparieren. Barry Burnaby zögerte, dann sagte er: „In die Heckgalerie setz ich ihm bestimmt ‘ne Kugel, Sir, aber ob ich dabei den Ruderkopf erwische ...“ Er schielte zu Hasard zurück und druckste herum. „Was ist los, Burnaby?“ fragte der Kapitän scharf. „Ich — ich bin zwar Stückmeister, Sir“, sagte Burnaby, „aber so ein Schuß ist doch verdammte Glückssache.“ Er holte tief Luft und spuckte es aus: „Der Seewolf ist besser als ich, Sir, das wollte ich damit sagen.“ Die scharfen grauen Augen blitzten zu Hasard hinüber, der unbeteiligt über die See starrte und den Spanier beobachtete. „Killigrew!“ „Sir?“ „Trauen Sie sich einen solchen Schuß zu?“ „Aye, aye, Sir. Ich schlage aber vor, nicht den Ruderkopf zu zerschießen, sondern
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etwa zwei Handbreit darüber zu halten.“ „Darüber?“ Erstaunen spiegelte sich im Gesicht des Kapitäns. „Aye,.Sir.“ Hasard grinste unverschämt. „Dann fällt der Rudergänger um, aber der Ruderkopf bleibt heil.“ „Und die Pinne wird vom nächsten Rudergänger besetzt, wie?“ „Nicht doch, Sir. Erst mal wird im Ruderhaus des Dons ein heilloses Durcheinander herrschen — Zeit genug, daß die ,Marygold` von achtern aufläuft, wir längsseits gehen und entern. Das war doch Ihr Plan, oder?“ „Exakt“, sagte der Kapitän. „Haben Sie diesen Trick. bei Sir John gelernt?“ „Bei wem sonst, Sir?“ Hasard hatte wieder sein unverschämtes Grinsen. „Das alte Rauhbein war in dieser Beziehung ein Genie.“ Jetzt lächelte auch der Kapitän. „Gut, besetzen Sie vorn die SteuerbordSerpentine. Ich werde den Don so ansteuern, daß wir hinter ihm im Kielwasser hochluven. Dann folgen wir ihm, und sie feuern bei etwa fünfzig bis sechzig Yards Entfernung. Dann gehen wir noch höher an den Wind und fallen von der Luvseite über ihn her. Alles klar?“ „Aye, aye, Sir.“ „Ausguck!” rief der Kapitän zu Dan hoch. „Sir?“ „Noch irgendwelche Segel in Sicht?“ „Nichts, Sir.“ „Den Don genau im Auge behalten. Alles melden, was er tut. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir, alles melden, was er tut. Zur Zeit hält er stur Kurs.“ Der Spanier lief über Steuerbordbug von Westen heran. Er segelte mit halbem Wind, der sich etwas gedreht hatte und jetzt aus der Nordrichtung wehte. Die „Marygold“ segelte fast platt vor dem Wind und rauschte von Norden mit voll geblähten Segeln wie ein wütender Schwan auf den Spanier zu. Der Stückmeister hatte - nach der Entscheidung des Kapitäns den Spanier zu entern - aus der Waffenkammer Handwaffen an die Entermannschaft verteilt: langklingige Entermesser,
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Kurzsäbel, Pistolen,. Äxte, Dolche, dazu Enterhaken mit scharf und spitz gekrümmten ankerförmigen Eisenteilen, die an langen Tampen befestigt waren, sowie Hellebarden. Hasard hatte sich einen Kurzsäbel geschnappt, der gut in der Faust lag und zweiseitig geschliffen war. Die beiden Schneiden waren rasiermesserscharf. Dann hatte er die Steuerbordserpentine überprüft und gleichfalls die Waffe auf der Backbordseite. Man konnte nie wissen. Die Lunten waren klar, beide Serpentinen Vorderlader - hatten ihre Pulverladung und davor im Rohr eine zweipfündige Eisenkugel. Smoky, der ehemalige Decksälteste, und Blacky, der seine Rechte bei der Auseinandersetzung mit dem Seewolf in das Querschottholz gehämmert hatte, waren bei ihm - und Barry Burnaby, der Stückmeister, der so aufgeregt war wie eine Jungfrau vor der Hochzeitsnacht. „Wenn du vorbeiballerst“, sagte er, „reißt mir der Alte den Kopf ab.“ „Mir auch“, sagte Hasard gleichmütig und peilte dabei über das Geschützrohr. Dann zog er die Flasche mit dem Schottischen unter dem Hemd hervor, reichte sie Burnaby und grinste. Burnaby kriegte Stielaugen, langte zu und soff. „Blacky und Smoky auch“, sagte der Seewolf. Die Flasche wanderte wieder — wie vordem in der Kombüse — von Hand zu Hand. Die beiden Schiffe segelten inzwischen aufeinander zu - das heißt, die „Marygold“ lag auf einem Kurs, der den der spanischen Galeone fast schnitt. Hasard sagte: „Geit die Blinde auf, ich hab sonst kein Schußfeld.“ Burnaby zögerte. „Aber ...“ sagte er. „Aufgeien“ befahl Hasard kurz und scharf. Blacky, Smoky und der Stückmeister machten sich über die Geitaue her und holten die Blinde, das Segel unter dem Bugspriet hoch.
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Von achtern brüllte Ben Brighton: „Geit die Blinde auf !“ Hasard grinste die anderen an. „Na bitte“, sagte er, „man muß immer um eine Idee schneller als die anderen sein dann ist man vorn.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Burnaby mit Inbrunst und war weit davon entfernt, Hasard als einen Decksmann zu betrachten. Hier vorn, vor dem Bugkastell, hatte der Seewolf das Kommando. „Ist noch was in der Flasche drin?“ fragte Hasard. Smoky hatte sie und peilte den Pegel. „Glaube ja“, sagte er. „Sauf sie aus“, sagte Hasard und blickte ihn scharf an. „Wenn ich den Rudergänger weggeputzt habe, luvt der Kapitän an. Das heißt, daß wir hier auf der Back als erste den Don querab haben. Und was tun wir dann, Smoky?“ „Wir springen rüber und räumen den Don von achtern auf.“ „Exakt“, sagte Hasard, „und zwar springe ich als erster, und du, Smoky, jumpst sofort hinter mir her und halst mit den Rücken frei. Barry und Blacky folgen links und rechts von mir - und decken unsere Flanke.“ „Und du?“ fragte Smoky atemlos. „Ich säble mich zu dem Kapitän durch und kitzle seinen Hals, damit er schön friedlich wird.“ „Mann“, sagte Smoky, „dann entern nur wir vier den Don?“ „Klar“, erwiderte der Seewolf, „wenn wir vier das Achterkastell im Griff haben, braucht der Kapitän nur noch die Leinen herüberzugeben und kann bequem an Bord steigen.“ „Exakt“, sagte Smoky und leerte die Flasche. Mit Weitem Schwung holte er aus, um sie in die See zu werfen. Hasard langte zu und griff nach der Flasche. „Nicht doch“, sagte er und zeigte sein Gebiß. „Die brauche ich noch.“ Er klemmte sie unter seinen Gurt. „O Mutter Maria“, sagte Burnaby, „wenn das nur gut geht.“ „Bist du ein Katholischer?“ fragte Hasard.
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„Ja.“ „Barry“, sagte Hasard, „die Mutter Maria war bestimmt nicht die Stammesmutter der Dons, die waren zu der Zeit noch gar nicht auf der Zeitrechnung. Sie ist die Mutter aller Christen, also auch unsere. Laß sie aus dem Spiel, wenn wir zur See fahren. Hier sind wir Freie. Hier gibt’s keinen Weihrauch und fromme Sprüche. Hier sind wir alle gleich ob Katholiken oder nicht. Hier regiert die See, und der Wind ist ihr Diener. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir“, sagte der Stückmeister Barry Burnaby, der seit fünf .Jahren bei Francis Drake fuhr und über zehn Jahre älter als der Seewolf war. „Na denn“, sagte Hasard und spähte voraus. „Ich glaube, in einer Viertelstunde können wir’ dem Don das Fürchten beibringen. „Deck!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn aufgeregt vom Hauptmars herunter. „Der Don luvt an und geht höher an den Wind!“ Die Männer der „Marygold“ starrten über die See. Auf der spanischen Galeone einem dickbauchigen Schiff mit Fockmast, Großmast, Besanmast und LateinBesanmast - waren die Segel angebraßt worden. Ihr Bugspriet schwenkte herum und zeigte das baumelnde Holzkreuz, das die meisten Schiffe Philipps II. von Spanien als Symbol der Christenheit über die Meere trugen. Daß es an den Gestaden der Neuen Welt dann keineswegs christlich zuging, merkten die Bewohner meistens erst, wenn es zu spät war und Feuer und Schwert unter ihnen gewütet hatten - ganz abgesehen von den Beutezügen in bester Raubrittermanier. Die Galeone war ein Einzelfahrer, da sie nicht im Geleit segelte, was an sich üblich war, um die Beute aus der Neuen Welt sicher über den Atlantik zu bringen. Das ließ drei Schlüsse zu. Entweder waren ihre Frachträume leer, oder sie war vom Geleit abgekommen, oder sie war so schwer bewaffnet, daß sie keinen Geleitschutz brauchte. Das erstere schien nicht zuzutreffen, denn sie lag ziemlich tief im Wasser. Hingegen waren allmählich deutlich ihre
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Stückpforten zu erkennen, und die reichten, um so manch braven Mann auf der „Marygold“ die Haare zu Berge stehen zu lassen. Das Bürschchen im Hauptmars indessen verkündete lauthals und völlig respektlos: „Auf der Backbordseite hat der Don nur dreißig Kanonen.“ Er sagte „nur“ - was bei den Hartgesottenen wie dem Profos und dem Riesen Ferris Tucker Heiterkeit hervorrief, während so mancher junge Kampfhahn doch erst mal den Kloß im Hals herunterschlucken mußte. Auf der „Marygold“ breitete sich Stille aus -die Ruhe vor dem Sturm. Nur halblaut gab der Kapitän seine Anweisungen an den Rudergänger. Da der Spanier hoch an den Wind gegangen war - er segelte jetzt fast nordöstlichen Kurs -, verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Schiffen zusehends. Achthundert Yards Abstand! Auf der Galeone fielen die Stückpforten, und sie zeigte ihre Zähne - beachtliche Zähne ziemlichen Kalibers. Francis Drake reagierte prompt. Er ließ anbrassen und wich nach Steuerbord aus. Mitdrehen konnte der Spanier nicht - es sei denn, er wendete. Aber er segelte seinen Kurs weiter. Sofort fiel der Kapitän auf den alten Kurs zurück und zeigte dem Spanier die schmale Silhouette. Eine Breitseite konnte ihn nicht mehr kratzen. Der Spanier hatte die Gelegenheit zum Kernschuß verpaßt, denn jetzt begann Francis Drake langsam nach Backbord hochzudrehen und in einem Halbkreis das Kielwasser des Spaniers anzusteuern. Hasard grinste vor sich hin und reichte dem Stückmeister die Lunte. „Anzünden“, sagte er knapp. Er kniete seitlich von der Serpentine und peilte über das Geschützrohr. Zwei Kanonen im Heck der Galeone wummerten, spuckten Feuer und Pulverqualm, und zwei runde Brocken segelten heran. Ihre Flugbahn war deutlich zu erkennen. Fünfzig Yards vor dem Bug
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der „Marygold“ war die Luftreise der beiden Brocken zu Ende. Sie klatschten ins Wasser und zauberten zwei weiße Schaumkronen auf die Oberfläche. „Pff“, machte Hasard. „Die schießen wie alte Waschfrauen. Mal sehen, wie lange sie brauchen, bis sie ihre Stücke wieder klar zum nächsten Schuß haben.“ Die „Marygold“ lag jetzt genau im Kielwasser der Galeone und jagte hinter ihr her. Ihr Bugspriet senkte sich sanft, stieg wieder hoch, senkte sich. Hasard beobachtete ihn, während er gleichzeitig weiterpeilte. Das war wichtig. Er durfte nicht zu hoch und nicht zu tief abkommen. Im Direktschuß -dem Kernschuß - mußte seine Visierlinie eine direkte Gerade zum Ziel bilden. Das Ziel lag, wie er gesagt hatte, etwa zwei Handbreiten über dem Ruderkopf. Der Ruderkopf war der oberste Abschluß des Ruderblatts. Seine waagerechte Verlängerung bildete der Pinnenbaum, der im Ruderhaus endete. Dort stand der spanische Rudergänger. Hasard konzentrierte sich voll und ganz auf das imaginäre Ziel, registrierte die Stampfbewegungen der „Marygold“, korrigierte die Seiten- und Höhenrichtung’ der Serpentine, die in der Gabellafette drehbar gelagert war, setzte sie dann fest und war bereit. Der Abstand zwischen der „Marygold“ und der Galeone, schmolz zusammen. Unterarmiert war sie, die gute „Marygold“, aber sie war schnell, unheimlich schnell. Sie lag leicht nach Steuerbord über und nahm die See wie ein rassiges Rennpferd. Die Galeone vor ihr, dickbäuchig mit breitem Heck, walzte wie eine Kuh durchs Wasser - behäbig, satt, fast träge. Ihre Bestückung allerdings war scharf, eine segelnde Festung mit schwerer, mittlerer und leichter Artillerie. Auf ihrem Achterkastell tauchten Gestalten auf, montierten an Gabelstützen, auf denen Handfeuerwaffen lagerten. Der Kapitän hatte vorgesorgt. Vom Vorkastell krachten Musketenschüsse. Die Scharfschützen des Kapitäns traten i j Aktion.
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Zwei Spanier brachen neben ihren Gabelstützen zusammen. Ein dritter ruderte armschwenkend und taumelnd auf die Steuerbordseite, prallte gegen die Zierreling, knickte über ihr zusammen und kippte außenbords. Sein Kopf verschwand im Wasser, tauchte wieder auf, eine Welle packte ihn und schwemmte ihn achteraus. Als die „Marygold“ luvwärts an ihm vorbeisegelte, schien er bereits bewußtlos zu sein. Er trieb in der See, ohne sich zu bewegen - sie würde ihn zu sich nehmen, das war sicher. Die anderen Gestalten auf dem Achterkastell der spanischen Galeone waren nach den Musketenschüssen der „Marygold“ sehr schnell in Deckung gegangen. Kampfgeist hin, Kampfgeist her, sehr wild schienen die Dons nicht zu sein. Die Stimme des Kapitäns schallte über die Decks: „Gut das Vorkastell! Haltet sie unter Beschuß, damit der Seewolf Ruhe zum Zielen hat!“ Der Seewolf! Hasard hatte es gehört und fragte sich, ob er diesen Namen, den er zum erstenmal vor der „Bloody Mary“ gehört hatte, nun akzeptieren oder verwünschen solle. Seewolf! Raubfisch im nördlichen Atlantik — kurzköpfig und mit einem wüsten Gebiß ausgestattet. Er blickte kurz zu Burnaby nach rechts, der eine rauchende Lunte in der Hand hielt. „Seh ich wie ein Seewolf aus?“ fuhr er ihn an. „Ja“, sagte Burnaby prompt. „Danke“, sagte Hasard erbittert und fügte ziemlich unlogisch hinzu: „Ich dachte, ich sähe wie ein Mensch aus.“ „Ja - ja“, sagte Burnaby verwirrt, „wie ein Mensch natürlich auch ...“ „Ich bin ein Mensch und kein Fisch!“ fauchte ihn Hasard an. „Aye, aye, Sir“, sagte der Stückmeister, „Entschuldigung, Sir.“ „Verrückt“, murmelte Hasard und peilte über das Geschützrohr. Die „Marygold“ holte auf. Etwa hundert Yards lagen noch zwischen ihr und der Galeone. Vom Vorkastell hinter Hasard
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krachten unaufhörlich Musketenschüsse und zwangen die Spanier in die Deckung. Hasard duckte sich lauernd zusammen und streckte die Hand nach rechts aus. „Her mit der Lunte!“ Burnaby drückte sie ihm in die Hand. „Vorsicht, Sir, sie brennt!“ Hasard erlaubte sich noch einen Blick auf den Stückmeister und schüttelte den Kopf. „Das soll sie doch, oder?“ „Aye, aye, Sir.“ Hasard seufzte, vergaß den Stückmeister, der ein Kind zu kriegen schien und in den Wehen lag, lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das Bodenstück, peilte, wartete, wurde eins mit der Serpentine. „Heilige Mutter Maria“, flüsterte Burnaby. Hasard hörte es nicht. „Mannmann“ keuchte Smoky. Hasard hörte es nicht. „Himmel-Arsch!“ sagte Blacky. Hasard hörte es nicht. Zwei Handbreiten über dem Ruderkopf befand sich das Ziel. Der Ruderkopf sackte nach unten weg, erschien wieder, wanderte durch die Ziellinie nach oben, verharrte dort, sackte nach unten, verschwand. Hasard wartete und war so kalt wie ein Eisblick. Langsam glitt seine Rechte mit der Lunte zur Zündpfanne, deren schmaler Kanal zur Pulverladung im Bodenstück der Serpentine führte. Noch sechzig Yards. Die drei Männer neben und hinter ihm stöhnten. Über ihnen auf dem Vorkastell wummerten und krachten die Musketen. Fünfzig Yards. Hasard sah den Ruderkopf von unten nach oben wandern. Die „Marygold“ bewegte sich umgekehrt - sie raste in ein Wellental. Jetzt! Hasards Hand führte die Lunte auf die Pfanne. Er warf sich nach links. Bruchteile von Sekunden später spie die Serpentine Feuer und Rauch und ruckte zurück. Mehrere Dinge passierten gleichzeitig. Zwei Handbreiten über dem Ruderkopf der Galeone prangte ein dunkles Loch.
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Die „Marygold“ legte sich scharf nach Steuerbord über, scherte aus dem Kielwasser der Galeone aus und luvte an. Und Burnaby tanzte wie ein Irrer auf der Back herum und brüllte: „Treffer! Treffer! Er hat dem Don eine verplattet!“ Bei dem „Don“ herrschte sichtlich Zustand. Die Galeone zackte kurz nach Backbord, und ihre Segel begannen zu schlackern und zu killen. Scheinbar steuerlos fiel sie jäh nach Lee ab, und Hasard sah, wie das Ruderblatt jede Bewegung nachvollzog ein Steuerelement ohne Funktion, weil der Rudergänger fehlte. „Klar zum Entern!“ stieß er hervor und schnappte sich den Kurzsäbel, der hinter ihm gelegen hatte. Er warf ihn in die Linke und zog die Flasche hervor. Die „Marygold“ schob ihren Bugspriet an der Achterkante des Hecks der Galeone vorbei. Hasard duckte sich, faßte einen der vier Spanier, die sich über die Reling des Achterkastells beugten und wild gestikulierten, ins Auge und schleuderte die Flasche hoch. Sie zerplatzte auf dem Schädel des Spaniers und schleuderte ihn zurück. Genau in diesem Moment sprang Hasard wie eine Katze auf den hölzernen Wulst, der unterhalb des Kastells wie ein Gurt das Heck umschloß, griff mit der Linken in die Reling und säbelte mit der Rechten, die inzwischen den Zweischneider hielt, einmal kurz nach links und nach rechts. Das waren genau drei Schritte in Höhe der Kinnladen der drei Spanier, die zu neugierig gewesen waren. Blut schoß über die Bordwand. Links und rechts neben Hasard klatschte es kurz hintereinander links von ihm tauchte das verschwitzte Gesicht von Smoky auf, rechts keuchte Blacky. Burnaby sprang Hasard fast ins Kreuz. Sie starrten an der steil aufragenden Bordwand hoch und hatten wilde Gesichter. „Auf sie!“ brüllte Hasard. „Arwenack !“ schrie das Bürschchen mit überschnappender Stimme vom Hauptmars und fiel vor Begeisterung fast von der Plattform.
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Und vier Männer enterten auf das Achterkastell. Wie ein Keil stürzten sie von der Reling zwischen die auseinanderstiebenden Spanier. Hasard war die Spitze, links und rechts schräg hinter ihm folgten Blacky und der Stückmeister. In Hasards Kielwasser wütete Smoky. Diese vier Männer bildeten eine klingenwirbelnde Einheit, die zielbewußt auf den Mann zustieß, der mitten auf dem Deck des Achterkastells herumtanzte, Befehle brüllte und mit einem zierlichen Degen herumfuchtelte. Er war in Seide gekleidet, hatte einen bombastischen Hut auf der gelockten Perücke, eine Goldkette um den Hals und funkelnde Diamantringe an den Fingern beider Hände. Links und rechts von Hasards Gruppe sanken Spanier zu Boden. Einige - den Seewolf vor Augen - fanden sogar Zeit, sich zu bekreuzigen, bevor sie das Deck aufsuchten. Ja, jetzt war er der Seewolf - ein um sich schlagender Teufel mit grellblauen, wilden Augen, einem wilden Lachen, einer wilden, ungestümen Kraft. Der Don mit dem Degen wurde weiß im Gesicht, als dieser tobende Riese auf ihn zuwirbelte. Er ließ den Degen fallen und reckte die Arme in die Höhe, als wolle er kundtun, daß er wehrlos sei. Smoky, Blacky und der Stückmeister fegten das Deck des Achterkastells leer, als seien sie Schnitter in einem Kornfeld. Der Senor Captain jammerte und wurde fast grün im Gesicht, als ihm Hasard die Spitze des Kurzsäbels auf die Gurgel drückte. „Streich die Flagge, Don Philipp!“ schrie ihn der Seewolf mit rollenden Augen an. „Oder ich piek dich!“ Dem Captain schlotterten die Knie. Er verstand zwar kein Englisch, aber er begriff so ungefähr, was dieser barbarische Riese von ihm forderte. Er nickte hastig und haspelte ein Stakkato spanischer Kommandos herunter. Das wirkte.
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Alle Männer an Bord der Galeone standen plötzlich steif wie die Ölgötzen - mit gesenkten Waffen und glotzenden Augen. Hasard stieß den Captain an und deutete auf das riesige Tuch im Großtopp, das mit den Farben und dem Wappen der spanischen Krone geziert war. „Weg mit dem Lappen!“ befahl er. Dabei kitzelte er ein bißchen die Kehle des Captains. Der gurgelte einen Befehl. Eine Viertelstunde später sank das schwere, doppelt gefütterte seidene Tuch am Mast nach unten. Der Spanier hatte endgültig kapituliert. Ein Begeisterungsschrei brandete über das Deck der „Marygold“, die längsseits der spanischen Galeone lag und ihre Segel auf gegeit hatte. Bord an Bord trieben die beiden Schiffe mit dem Wind. Der Kapitän stieg herüber, breit lächelnd, zwei Pistolen im Gürtel, einen Degen in der Faust. Hinter ihm folgte die Entermannschaf t der „Marygold“, ergoß sich über das Deck des Spaniers und entwaffnete die Dons. Sie wurden zum Vorkastell getrieben und eingeschlossen. Der Kapitän stieg den Niedergang zum Achterkastell hoch, erwies dem spanischen Captain seine Reverenz, indem er chevaleresk mit dem Degen grüßte, und wandte sich an den Seewolf. „Sie sind doch ein ganz verdammter Teufelsbraten, Killigrew“, sagte er. „Meinen Respekt für den hervorragenden Schuß und Ihr blitzartiges Enterunternehmen.“ „Danke, Sir“, sagte Hasard, „gelernt ist eben gelernt.“ „Bei Sir John, wie?“ „Bei Sir John“, bekräftigte Hasard und zeigte sein Raubtiergebiß. „Erstaunlich“, murmelte der Kapitän, wandte sich dann an den Stückmeister und sagte: „Meinen Dank auch Ihnen, Burnaby, und Ihnen, Smoky und Blacky.“ Er räusperte sich. „Der Profos wartet drüben auf euch vier. Ich habe ihm noch eine Flasche von meinem - hm - schottischen
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Beständen für euch gegeben. Laßt sie euch schmecken!“ „Aye, aye, Sir!“ sagten die vier Männer im Chor. Eine Flasche vom Schottischen des Kapitäns war soviel wert wie ein Orden. Sie war eine Auszeichnung, zumal der Kapitän ein äußerst sparsamer Mann war und die Flaschen aus Schottland wie seine Augäpfel hütete. Hasard hatte einen neuen Rekord aufgestellt. Innerhalb seiner kurzen Zeit an Bord der „Marygold“ hatte er bereits zwei „Auszeichnungen“ errungen - was so viel bedeutet, daß der große Francis Drake ihm mehr als nur Wohlwollen entgegenbrachte. Allerdings war das Hasard zu dieser Zeit noch nicht so recht klar. Er kannte eben seinen Kapitän noch nicht. Die vier Männer verließen das Achterkastell, und der Kapitän wandte sich dem Spanier zu. Hasard sprang von der Kuhl des Spaniers auf das Mitteldeck der „Marygold“ hinunter. Drakes Schiff nahm sich neben dem Spanier wie ein Windhund neben einem Elefanten aus. Erst jetzt wurde es Hasard so richtig bewußt, was für ein tolldreistes Stück es gewesen war, diesen Brocken anzugreifen. An der Nagelbank des Großmastes lehnte der Taubstumme, eine Pistole in der Faust. Er blickte Hasard entgegen, und in seinen dunklen Augen glühte ein mörderisches Funkeln. Er sah aus, als wolle er dem Seewolf an die Gurgel springen. Hasard stutzte und sah ihn scharf an. „Was ist denn mit dir los?“ fragte er, und im selben Moment fiel ihm ein, daß der Mann weder hören noch sprechen konnte. Keiner wußte, wie er hieß. Er arbeitete bei Patrick Evarts, dem Segelmacher, lebte in seiner eigenen, schweigenden Welt und war - laut Evarts - mehr wert als die ganze verdammte Gilde der Segelmacher in Plymouth, die zwar Segel zuschnitt und nähte, aber sich besser mit der Fabrikation von Bettsäcken beschäftigen solle. Also war er laut Evarts ein guter Mann. Warum denn diese Augen, in denen soviel Hall funkelte? Der Taubstumme begegnete
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dem eisblauen Blick des Seewolfes, drehte sich abrupt um und schlenderte auf die Backbordseite der „Marygold“ hinüber. Dort. blieb er stehen und starrte über die See - ein einsamer Mann, der von der Welt ausgeschlossen war und vielleicht deswegen Haß empfand. Hasard wollte ihm nachgehen und auf die Schulter klopfen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es das dreckige Grinsen Gordon Browns, das ihn ansprang und zum zweiten Male stutzen ließ. Gordon Brown, schmuddelig, schmierig wie eh und je, hockte auf einer Stufe des Niedergangs, der zum Achterkastell hoch führte, und spielte mit einem Stilett. Sein Grinsen zeigte die verwüsteten Zähne und entblößte wieder ein Gesicht, das Hasard zutiefst verabscheute. „Na, du großer Held?“ sagte Gordon Brown. „Na, du Wanze?“ sagte der Seewolf angewidert. „Der Kapitän hält große Stücke auf dich, wie?“ „Mag sein“, erwiderte Hasard. „Was dagegen?“ „Ich mag keine jungen Hüpfer“, sagte Gordon Brown und hob das Stilett. Nur Zehntelsekunden später flog es über das Schanzkleid und verschwand in der See. Hasard hatte kurz und hart zugetreten. Gordon Brown starrte auf seine leere Rechte, rieb sein Handgelenk mit der Linken und sah feige und dennoch mörderisch aus. Seine Stummelzähne verschwanden zwischen zusammengepressten Lippen, als er zu Hasard hochstarrte. „Du Ratte“, sagte Hasard kalt, „vergiß nicht, daß du noch eine Rechnung zu begleichen hast.“ Edwin Carberry, der Profos, stampfte wie ein wütender Stier über das Deck und fuhr dazwischen. „Gordon Brown!“ fauchte er und hielt ihm die geballte Rechte unter die Nase. „Du bist zwar gut, um mit der Neunschwänzigen Dresche zu verteilen, aber wenn du meinst, hier an Bord der „Marygold“ gute Männer anstänkern zu
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müssen, dann schlag ich dir deine verdammten Stummelzähne in den Hals, und du hast morgen Verdauungsstörungen, ist das klar, wie; was?“ „Scheiße“, sagte Gordon Brown. Und darauf zeigte der narbige Carberry, warum er zum Profos auf der „Marygold“ aufgestiegen war. Seine Rechte krachte unter das Kinn Gordon Browns, lüftete den sitzenden Mann an und beförderte ihn im Überschlag rückwärts einen Yard höher auf das Deck des Achterkastells. Es war ein furchtbarer Hieb. Gordon Brown landete mit ausgespreizten Armen und Beinen wie eine plattgeschlagene Scholle auf dem Achterdeck. Dort blieb er still liegen. „Ha“ sagte Carberry zufrieden und rieb sich über die Handknöchel seiner Rechten, „das tut gut.“ Über die Flasche mit dem Schottischen, die er vorsichtigerweise am Schanzkleid abgestellt hatte, war Burnaby bereits hergefallen. Und dann Smoky. Und Blacky hatte hinter dem breiten Kreuz von Carberry begeistert dessen Boxhieb natürlich in die Luft - mitgeschlagen und sich um seine eigene Achse gedreht, weil seine Faust keinen Widerstand fand. So stand er keuchend, mit abgeschwungener Faust, vor Hasard und sagte: „Ist das schön!“ „Was ist schön?“ fragte Hasard. „Alles“, sagte Blacky, „diese ganze Scheißseefahrt, die Dons, der alte Drake und daß jemand Zunder kriegt, der nach Verwesung stinkt.“ Nach Verwesung stank Gordon Brown zweifelsohne. Und dann soffen sie den Schottischen aus. Nicht nur Hasard und Burnaby, Blacky und Smoky. Carberry und die Männer der „Marygold“ danken mit, weil vier von ihnen den „Don“ im Handstreich gekapert hatten. Dieser Don barg in seinen Frachträumen Truhen mit indianischem Schmuck, dessen Silber- und Goldwert das Schätzvermögen der Drake-Männer glatt überforderte. Der größte Teil davon würde in den Schatzkammern der königlichen „Lissy“ -
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Elisabeth L von England - verschwinden. Den anderen Teil erhielten die Eigner der „Marygold“ und jenes Konsortium hoher Herren, deren vornehmste Aufgabe es war, als sogenannte „Privateers“ - private Unternehmer - jene kühnen Kaperzüge zu finanzieren und für Schiffe, Mannschaften, Ausrüstung und Bewaffnung zu sorgen. Das geschah natürlich mit geheimer Billigung Ihrer Majestät, der Königin, die indessen offiziell die Klagen des spanischen Botschafters über das räuberische Unwesen auf See jedesmal dahin abtat, da ß die Schuldigen ganz bestimmt keine ihrer Untertanen seien — allenfalls Englisch sprechende Schotten, aber man werde die Verbrecher, wenn man ihrer habhaft werde, ganz bestimmt einer rechtmäßigen Bestrafung zuführen. Ausreden hatte die kluge „Lissy“ immer bei der Hand. Die spanische Galeone wurde als Prise von Kapitän John Thomas, einem Freund Francis Drakes, nach Plymouth gesegelt. Und mit ihm fuhren zehn Männer der „Marygold“ als Prisenmannschaft. Die Spanier blieben als Gefangene an Bord der Galeone. Nur ihr Capitan in blieb als persönlicher Gefangener Drakes an Bord der „Marygold“. Die Galeone segelte eine Stunde später nordwärts. Die „Marygold“ stieß indessen nach Südwesten zu den Azoren vor. 7. Zwei Tage später begannen merkwürdige Dinge an Bord der „Marygold“. Zunächst verschwand eines nachts ein Mann der Besatzung auf Nimmerwiedersehen. Er hatte’ seine Mitternachtswache noch angetreten, dann hatte ihn niemand mehr gesehen. Das ganze Schiff wurde durchsucht, aber der Mann blieb verschwunden. Vielleicht war er über Bord gegangen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Bei Tage auf Gegenkurs zu gehen und die See nach ihm abzusuchen, entsprach etwa der Suche nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Bei Nacht traf das erst recht zu.
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Mac Pellew, der Koch, unkte in seiner miesgrämigen Art was von geheimnisvollen Seeungeheuern, die nachts an Bord stiegen und brave Männer verspeisten. Worauf Carberry, der Profos, ihn aufsuchte, er solle sich lieber darum kümmern, einen besseren Fraß zu kochen. Und überhaupt, was Mac da von geheimnisvollen Seeungeheuern schwafele, das sei hirnrissige Spinnerei, wie was? Am nächsten Tag schlurfte Mac Pellew mit Leichenbittermiene zum Achterkastell und meldete, er habe für die Kombüse Trinkwasser gebraucht und sei unten in der Vorpiek gewesen. „Na und?“ fuhr ihn der Profos an. „Alle vier Fässer sind leer“, sagte Mac Pellew mit Grabesstimme. „Hier geht ein Geist um.“ „Was denn - leer? Alle vier Fässer leer?“ „Sag ich doch“, erwiderte Mac Pellew brummig. „Das ist doch gar nicht möglich“, sagte Carberry fassungslos. „Die saufen wir doch nicht mal in einem Monat leer.“ „Sie sind aber leer, verdammich.“ Der Profos überquerte die Kuhl und stieg in die Vorpiek hinunter. Er öffnete den ersten, den zweiten, den dritten, den vierten Zapfhahn - nichts, kein Wasser, nicht mal ein Tröpfchen. Unsinnigerweise hämmerte er mit der Faust gegen die Fässer. Sie klangen hohl, also waren sie leer. Carberry fluchte wild und stieg wieder an Deck. In einem der Räume unter dem Achterkastell befanden sich zwei Reservefässer. Er kontrollierte sie. Sie waren voll. Er riegelte den Raum ab und sicherte ihn mit einem riesigen Schloß. Dann meldete er dem Kapitän, daß die vier Wasserfässer in der Vorpiek auf unerklärliche Weise entleert worden seien. „Meinen Sie, jemand habe die Zapfhähne absichtlich aufgedreht?“ fragte der Kapitän scharf.. Carberry zuckte m i 1, den Schultern.
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„Eins hätte ein Leck haben und auslaufen können, aber nicht alle vier, Sir.“ „Und was ist mit den beiden Fässern hier unter dem Achterkastell?“ „Die sind noch voll. Ich habe den Raum abgeschlossen.. „Hm.“ Die grauen Augen bohrten sich in Carberrys Augen. „Haben Sie einen bestimmten Verdacht?“ „Nein, Sir. Die Leute sind alle in Ordnung. Nur ...“ Er verstummte und kratzte sich den Nacken. „Was? Heraus mit der Sprache!“ „Na ja, ich dachte gerade an John Johns, der gestern nacht verschwunden ist. Ich dachte, ob da ein Zusammenhang besteht. Vielleicht hat er die Zapfhähne geöffnet und ist dann über Bord gesprungen.“ „Unsinn“, sagte der Kapitän knapp. „Können Sie mir mal verraten, was er davon gehabt haben sollte? Außerdem war John Johns ein guter Mann, so etwas Verrücktes würde ich ihm nie zutrauen.“ Er schüttelte den Kopf und dachte nach. Nach einer Weile sagte er: „Die tägliche Wasserration wird auf die Hälfte herabgesetzt. Bei der nächsten Prise ergänzen wir unseren Wasservorrat. Oder wir laufen die Azoren an und übernehmen. von Land Wasser. Ich kenne da eine Stelle, wo wir keinem Portugiesen oder Don gleich auf die Füße treten. Also kein Grund zur Aufregung. Verdursten wird schon keiner. Aber halten Sie die Augen offen, Carberry. Ich möchte auch, daß Sie das dem Seewolf sagen. Er ist Decksältester und erfährt mehr über die Stimmung im Vordeck, als wir je zu hören kriegen.“ Etwas leiser fügte er hinzu: „Fast halte ich ihn für den besten Mann an Bord der „Marygold“. Dem konnte der Profos nur zustimmen, obwohl er Hasard immerhin zwei Zahnlücken zu verdanken hatte. Allerdings war der eine der beiden Zähne sowieso reif zum Abbruch gewesen. Na also. Gegen Mittag gab’s dann einen handfesten Krach im Vordeck. Die beiden Männer, die den Backschaftsdienst versahen, hatten den Kessel mit der Kohlsuppe aus der Kombüse geholt und auf die aufklappbare
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Eßbank gestellt. Die Leute der Freiwache drängelten bereits und klapperten unisono mit den Löffeln gegen die Wandungen ihrer zinnernen Kummen. Der eine Backschafter lüftete den Deckel und rührte kräftig mit einer Kelle in dem Kessel herum. Dann schöpfte er den ersten Schlag heraus und goß ihn in die bereitgehaltene Kumme von Smoky, der jetzt stellvertretender Decksältester war. Hasard hatte Wache und stand am Ruder. Smoky und der Backschafter sahen es gleichzeitig. Smoky quollen die Augen aus dem Kopf, und der Backschafter, ein Mann namens Grotjan - ein blonder Holländer kriegte flatternde Augenlider. In der Kumme schwamm eine tote Ratte. Smoky stellte die Kumme schweigend auf die Eßbank, griff mit zwei spitzen Fingern hinein und zog die Ratte am Schwanz aus der Kohlsuppe. Er betrachtete sie von allen Seiten und stellte mit fachmännischem Blick fest, daß sie ein gebrochenes Genick hatte. Woraus logisch zu folgern war, daß die Ratte nicht von selbst in der Kohlsuppe ersoffen war, sondern da ß sie jemand bereits tot - in die Suppe praktiziert hatte. Aber wer? Smoky behielt die Ratte am Schwanz und ließ sie kreisen. Dabei blickte er G rotjan schweigend und grimmig an. „Ich - ich war’s nicht“, sagte Grotjan hastig, „pfui Teufel, ich tu doch keine Ratte in die Suppe.“ Smokys Blick wanderte zu dem anderen Backschafter. „Ich war’s auch nicht“, sagte der, „ich bin doch nicht verrückt.“ „Hol Mac!“ sagte Smoky mit leiser und gefährlicher Stimme. Der Backschafter lief los und kehrte mit Mac Pellew zurück. Die Männer, die einen Kreis um Smoky gebildet hatten und alles andere als fröhlich aussahen, ließen Mac durch und schlossen den Kreis wieder. Smoky ließ die Ratte kreisen. Mac Pellews Augen kreisten mit. Er schob den dünnen Hals vor und beäugte mit rollenden Augen das tote Vieh, von dessen Fell die Kohlsuppe an Deck tropfte. Smoky sagte: „Na, Mac?“
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Mac Pellew schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte. „Ist das ein Ding“, sagte er. „Auf halber Wasserration sind wir schon“, sagte Smoky drohend. „Kriegen wir jetzt auch noch Ratten, statt Fleisch zu fressen, du Geier? Oder was soll das? Dann zieh dem Biest doch wenigstens vorher das Fell ab. Ich sollte dir die verdammte Ratte ins Maul stopfen, du Hurensohn.“ So leicht ließ sich Mac Pellew allerdings nicht in die Pfanne hauen. Er war zwar ein alter Miesgram, aber Mumm hatte er. „Sag mal, du Blödmann”, blaffte er Smoky an, „meinst du vielleicht, daß auf meiner heutigen Menükarte Kohlsuppe mit Ratteneinlage steht, he? Meinst du das? Die Kohlsuppe wurde vom Kapitän angeordnet, weil sie gleichzeitig als Flüssigkeitsration dienen soll.“ Er knallte die rechte Faust in die linke Handfläche. „Jetzt ist die Suppe von dieser verdammten Ratte versaut, so ein Scheißkram.“ „Jawohl“, sagte Smoky, „da geb ich dir recht. Aber wenn du keine Ratten an uns verfütterst, wer dann, wie?“ „Gordon Brown“, sagte Mac Pellew prompt. „Diesem Schweinehund ist so was zuzutrauen. Ich war einmal weg aus der Kombüse, um den Abfalleimer außenbords zu kippen. In der Zeit kann er dies Mistdings in die Suppe geworfen haben.“ „Gordon Brown“, sagte Smoky sehr langsam und gedehnt. „Schau einer an.“ Und hart und knapp setzte er hinzu: „Hol ihn!“ Mac Pellew holte ihn. Der Kreis der Männer schloß sich wieder. Ihre Mienen waren ziemlich finster. Gordon Brown starrte auf die Ratte, die Smoky am Schwanz hochhielt. „Was soll’n das?“ fragte er. „Die schwamm in der Kohlsuppe“, sagte Smoky. „Weißt du vielleicht, wie sie da reingeraten sein könnte?“ „Die ist reingefallen“, sagte Gordon Brown. „Klar“, sagte Smoky tückisch. „Und erst hat sie sich das Genick gebrochen, und dann ist sie in den Kessel gestiegen, um ein
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Bad zu nehmen. Du mußt dir schon was Besseres einfallen lassen.“ „Die hat dieser Killigrew reingetan“, sagte Gordon Brown giftig. Smoky wippte auf den Fußballen. „Wie denn? Der Seewolf steht seit drei Stunden am Ruder. Wenn mich nicht alles täuscht, befindet sich das Ruder im Ruderhaus des Achterkastells. Von dort aus eine Ratte gezielt in den Topf auf den Kombüsenherd zu werfen, schaffte allenfalls einer, der mit des Teufels Großmutter versippt ist.“ „Dann war’s dieser Lümmel aus Falmouth.“ „Donegal Daniel O’Flynn befindet sich ebenfalls seit drei Stunden auf Wache, und zwar als Ausguck oben im Großmars. Schön. Er fängt eine Ratte, bricht ihr das Genick, steckt sie in die Tasche, steigt zum Großmars hoch und wirft sie von dort durchs obere Kombüsenluk in den Topf. Pech ist nur, daß der Herd nicht unter dem Luk steht. Was sagst du jetzt’?“ „Leck mich doch“, sagte Gordon Brown. Smoky übte eine bewundernswerte Geduld. „Könnte es nicht sein, daß du die Ratte in die Suppe getan hast?“ „Ich?“ „Das sagte ich. Mac erzählt uns nämlich, er habe die Kombüse mal verlassen, um den Abfall außenbords zu kippen.“ „Er lügt!“ schrie Gordon Brown. Blacky mischte sich ein. Er trat aus dem Kreis der Männer einen Schritt vor und sagte drohend: „Er lügt nicht, ich habe nämlich gesehen, wie er die Pütz mit dem Abfall in die See gekippt hat. Oder willst du etwa behaupten, daß ich Tomaten auf den Augen habe, wie?“ Gordon Brown blickte sich gehetzt um. Erstarrte in gnadenlose Gesichter. „Haltet ihn fest“, befahl Smoky und grinste zufrieden. „Wir werden ihm das zu kosten geben, was wir fressen sollten - die Ratte ...“ „Nein!“ schrie Gordon Brown und schlug um sich. Sie hatten ihn sehr schnell gebändigt. Vier Männer hielten ihn eisern fest. Er konnte
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nur noch den Kopf bewegen und warf ihn hin und her. „Schrei mal“, sagte Smoky sanft. Gordon Brown fiel darauf herein und brüllte tatsächlich los. Smoky stopfte ihm blitzschnell die Ratte in den aufgerissenen Mund. Gordon Brown kriegte ihn nicht mehr zu, es sei denn, er biß die Ratte durch. Smoky drückte und stopfte mit dem Handballen. Gordon Brown würgte, seine Augen quollen aus den Höhlen, er lief rot. an. Zuletzt hing nur noch der Rattenschwanz aus seinem Mund. Seine Wangen waren ausgestopft, als habe er dort Pfannkuchen gehamstert. Die Männer ließen ihn los. Smoky hievte ihn hoch und beförderte ihn mit einem Tritt in den Hintern aufs Mitteldeck hinaus. Dort krachte er auf die Planken, rappelte sich auf und stürzte zum Schanzkleid der Leeseite. Würgend erbrach er sich und schickte die Ratte zu den Fischen. Zehn Minuten später erbrach er sich immer noch, aber da spie er nur noch Galle. Auch nach fünfzehn Minuten hing er noch über dem Schanzkleid. Smoky erschien auf dem Vordeck und schleppte den Kessel mit der Kohlsuppe zu ihm hin. Er stemmte ihn hoch und stülpte ihn samt Inhalt über den Kopf von Gordon Brown. Als Smoky wieder im Vordeck verschwunden war, tobte Carberry den Niedergang vom Achterkastell hinunter und donnerte Gordon Brown zusammen, was das für eine verdammte Sauerei auf dem Deck und am Schanzkleid sei. Und dann mußte Gordon Brown mit Seewasser Deck und Schanzkleid schrubben, und damit hielt ihn der Profos für drei Stunden erbarmungslos in Trab. Mac Pellew hatte den Profos bereits vorher über die Geschichte mit der Ratte informiert, und Carberry hatte nur darauf gewartet, Gordon Brown in die Mangel zu nehmen, wobei er nach altem Brauch allerdings den Männern vom Vorkastell den Vortritt lassen mußte. Das war ungeschriebenes Gesetz. Solche Dinge mußten die Männer unter sich aushandeln.
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Aber mit der Ratte in der Kohlsuppe riß die Serie der unerklärlichen Zwischenfälle keineswegs ab. Am nächsten Tag frischte der Wind auf, wehte aber stetig aus Nordost. Sie hatten auch die Blinde, das Rahsegel unter dem Bugspriet gesetzt und rauschten mit brausender Fahrt vor dem Wind südwestwärts. Gegen zehn Uhr vormittags brach der Bugspriet mit einem peitschenartigen Knall. Der achterliche Wind fuhr unter die Blinde, hob sie samt Schoten, Geitauen und Brassen in die Luft, beutelte sie wie ein Bettlaken, das ausgeschüttelt wird. Sie flatterte hoch und stieß plötzlich wie ein abstürzender Drachen samt Rah, Vorstag, Bugspriet und einem Gemengsel von Tauen in die Bugsee, wurde vom Bug überrannt und auf der Backbordseite hochkommend wie ein riesiger Treibanker mitgeschleppt. Fast abrupt verlangsamte die „Marygold“ ihre Fahrt, lief aus dem Ruder, schwoite nach Backbord herum und hing buchstäblich an diesem Tohuwabohu von Hölzern, Segeltuch und diversen Tauen. Gleichzeitig - mit dem Herumschwenken schlugen die Segel am Vormast, Großmast und Besanmast back, Fallen quarrten, Braßtaue und Schoten quietschten schrill, sämtliche Hölzer, ob Rahen oder Masten, stöhnten mißtönend und protestierten gegen die Vergewaltigung. Es war überhaupt ein Wunder, daß nichts von oben herunterkam. Hasard, Freiwächter und demzufolge pennend in einer Hängematte im Vordeck, schoß aus dem frei aufgehängten Schaukelbett heraus, durchs Schott des Vorkastells und auf die Back. Mit einem Blick sah er, was passiert war, brüllte nach einem Enterbeil, das ihm zwei Minuten später jemand in die Hand drückte, und hieb den Gordischen Knoten von Fallen, Brassen, Schoten und Geitauen mit wenigen, aber wüsten Schlägen durch. Die „Marygold“ atmete direkt auf. Das heißt, sie sackte, von dem erzwungenen Treibanker befreit, achteraus. Francis Drake, längst auf dem Deck des
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Achterkastells, peitschte mit seiner scharfen Stimme Segelkommandos über das Deck. Die „Marygold“, befreit von ihrem Ballast, drehte vor den Wind und zurück auf alten Kurs. Hasard starrte auf die Bruchstelle, dorthin, wo der Bugspriet weggeknackt war. Er starrte noch dorthin, als neben ihm der Kapitän auftauchte, sich bückte und die Bruchstelle mit den Fingern abtastete. „Verdammt“, sagte der Kapitän. Hasard versuchte, dieses „verdammt“ noch etwas härter auszudrücken. Er hätte gerne „verdammte Scheiße“ gesagt, aber er verkniff sich diese Bekräftigung. Der Kapitän deutete auf die Bruchstelle. Erbittert sagte er: „Da hat jemand mit einem scharfen Messer herumgesäbelt. Dieser Jemand hat eine Kerbe in das Holz geschnitten, und zwar ziemlich geschickt. Der Bugspriet mußte wegkrachen, sobald mehr Winddruck auf der Blinden stand als bisher.“ Er starrte in die eisblauen Augen des Seewolfs. „Möchte wissen, wer dieser Schweinehund ist-ein Mann außenbords, vier Wasserfässer leer, eine tote Ratte in der Kohlsuppe und jetzt dies hier.“ Hasard nickte. „Das möchte ich auch wissen“, sagte er. „Aber vielleicht ist das gar nicht Jemand. Vielleicht sind da mehr Leute im Spiel. Darf ich Sie etwas fragen, Sir?“ „Fragen Sie.“ „Bei Patrick Evarts in der Segelkammer arbeitet der Taubstumme. Wie lange ist er schon an Bord?“ Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Seit knapp einem Jahr. Evarts sagte, dieser arme Mann sei besser als alle Gehilfen, die er jemals beschäftigt habe. Er bezog das nicht nur auf dessen Geschicklichkeit, sondern auch auf sein Wissen und seinen Fleiß. Der Taubstumme ist völlig integer.“ Hasard blickte vielsagend auf die Schnittstelle. „Unser .Jemand hat genau gewußt, wo er das Messer anzusetzen hat. Hier, genau knapp hinter den Zurrings, die den Bugspriet gegen die schräg von oben wirkenden Kräfte festhalten, hat er seine
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Kerbe angebracht. Und bitte“ - er beugte sich vor -, „die Zurrings sind ebenfalls angeschnitten worden.“ Er blickte den Kapitän an. „Wie ist denn der Taubstumme an Bord der „Marygold“ gekommen - auch über die „Bloody Mary“?“ Der Kapitän stutzte. „Nein. Gordon Brown hat ihn angeschleppt. Der Taubstumme war halb verhungert und suchte eine Heuer.“ „Gordon Brown, sagte Hasard gedehnt, „ausgerechnet Gordon Brown, diese Ratte. Als ich unten in der Vorpiek meinen Zwangsaufenthalt verbrachte, kreuzte er in der Nacht auf und bot mir eine Muck Trinkwasser an - gegen Bezahlung. Vorher hatte er wissen wollen, ob wir Killigrews von der Feste Arwenack Geld hätten. Ich ließ ihn abfahren.“ „Und das haben Sie verschwiegen, als Sie ausgepeitscht wurden?“ fuhr ihn der Kapitän an. Hasard lächelte. „Wer bei mir Schulden hat, zahlt sie irgendwann zurück, Sir.“ „Habe ich bei Ihnen Schulden?“ fragte der Kapitän prompt: „Nein - keiner hier an Bord, nur Gordon Brown. Und Sie können sich darauf verlassen, daß ich von jetzt ab - auch nachts -hören werde, ob die Flöhe husten. Und irgendwann werde ich Ihnen jemanden oder noch einen auf einem silbernen Tablett präsentieren.“ Das Gesicht des Kapitäns blieb unbewegt. „Sagen Sie, Killigrew, warum haben Sie Arwenack verlassen?“ „Weil ich zu Ihnen wollte, Sir. Außerdem hat sich der Alte zu einem biestigen Ekel entwickelt. Wäre ich noch länger auf Arwenack geblieben, hätte ich ihm irgendwann den Hals umgedreht.“ „Ihrem Vater?“ „Meinem Vater“, sagte Hasard hart. „Väter, die ihre Söhne derart schikanieren, wie er es getan hat, denen springt man eines Tages an die Gurgel.“ Ein verhaltenes Lächeln glitt über die scharfgeschnittenen Züge des Kapitäns. „Da kann ich nicht mitreden, ich habe noch keine Söhne, die mir an die Gurgel springen könnten.“
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„Aber Sie waren einmal Sohn eines Vaters“, sagte Hasard schlagfertig. „Wollten Sie Ihrem Vater nie ...“ „Du lieber Gott“, sagte Francis Drake, „mein Vater war ein protestantischer Pfarrer. Ich hätte nie gewagt, wider den Stachel zu löcken.“ „Und eines Tages sind Sie auf und davon, nicht wahr?“ „Ja“, sagte der Kapitän überrascht und räusperte sich. „Sie müssen wohl immer das letzte Wort haben, wie?“ „Manchmal“, erwiderte Hasard und grinste charmant. „Nur manchmal, Sir. Außerdem habe ich gelernt, daß niemals etwas endgültig oder „letztes Wort“ ist. Die Welt würde stehenbleiben, wenn es so wäre.“ „Die Welt“, sagte der Kapitän versonnen. Abrupt richtete er sich auf und fügte im Weggehen hinzu: „Das Gespräch bleibt unter uns, Killigrew.“ „Aye, aye“, erwiderte der Seewolf. Ferris Tucker tauchte auf, musterte den abgebrochenen Stummel des Bugspriets, sagte ebenfalls „verdammt“, als er erkannte, was den Bruch des Bugspriets hervorgerufen hatte, und ging an die Arbeit. Am Nachmittag hatte er einen neuen Sprietteil angelascht. und den Bugspriet wieder völlig aufgerichtet, so daß eine andere Blinde gesetzt werden konnte. Natürlich wußte jeder an Bord der „Marygold“ innerhalb kürzester Frist, daß der Bugspriet nicht von allein weggebrochen war, sondern jemand ihn angekerbt hatte. Und nun ging auf der „Marygold“ das Mißtrauen um und vergiftete die Atmosphäre. Die Männer wurden gereizt, belauerten sich gegenseitig und verdächtigten alles und jeden. Jene, die zum Aberglauben neigten — und das waren nicht wenige —, deuteten die Geschehnisse als ein Wirken magischer Teufelskräfte und verstiegen sich zu der Behauptung, an Bord gingen Wassermänner um und trieben ihr Unwesen. Was Hasard zu der Bemerkung veranlaßte, da seien ihm vollbusige Nixen schon lieber. Und ob die verehrten Gentlemen
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denn schon mal Wassermänner gesehen hätten? „Das ist es ja gerade“, sagte Mac Pellew mit der Miene eines Sargträgers, „sie sind unsichtbare Geister der Hölle.“ „Quatsch“, sagte Hasard resolut, „zumindest bei der Sache mit der Ratte warst du der Meinung, Gordon Brown sei der Schuldige. Ist der nun ein Wassermann oder Gordon Brown?“ „Beides.“ „Aber sichtbar, wie?“ fragte Hasard ironisch. „Eben sagtest du, Wassermänner seien unsichtbare Geister der Hölle.“ „Papperlapapp“, sagte der Koch wütend. Hasard grinste ihn an, und sehr freundlich sagte er: „Mac, hör auf, hier Unsinn zu verzapfen. Du machst die Männer nur noch kribbeliger, als sie es ohnehin schon sind. Es gibt keine Wassermänner. Ist das klar?“ „Aber ...“ begann Mac Pellew. „Kein Aber“, unterbrach ihn Hasard schärf. „Wenn du weiter Unsinn faselst, muß ich annehmen, daß du darauf aus bist, den Unfrieden hier noch anzuheizen.“ „Ich?“ sagte Mac Pellew empört. „Jawohl, du. Ende der Diskussion. Noch ein Wort über Wassermänner, und ich falte dich zusammen und stopf dich ins Feuerloch deines Kombüsenherdes.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Mac Pellew erschrocken. * Während der Mitternachtswache war es Hasard, der merkte, daß wieder etwas passiert war. Er hatte dem Kapitän zwar gesagt, daß er das Flöhehusten hören werde, aber das war wohl doch etwas zu schwierig, wenn man am Ruder stand, Kurs zu steuern hatte und auf den Stand der Segel aufpassen mußte. Jedenfalls spürte er gegen zwei Uhr nachts, daß die „Marygold“ immer träger aufs Ruder reagierte. Zuerst registrierte er es mehr unbewußt. Dann plötzlich war da noch etwas: Die bisherigen Roll- und Stampfbewegungen der „Marygold“ veränderte sich. Sie brauchte eine beängstigend lange Zeit, sich aus der
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jeweiligen Krängungslage wieder aufzurichten. Die Erkenntnis durchzuckte Hasard wie ein Blitzstrahl. Wasser im Schiff! „Ferris!“ brüllte Hasard Mit einer Stimme, die sämtliche Schläfer auf der „Marygold“ hochfahren ließ. Der riesige Schiffszimmermann war eine Viertelstunde später bei ihm. „Schnell, laß die Pumpen besetzen!“ stieß Hasard hervor. „Wir haben Wasser im Schiff. Und dann kontrolliere die Räume unter der Unterwasserlinie. Da muß irgendwo ein ganz verdammtes Leck sein.“ Ferris Tucker verschwand wie ein Geist. Seine Stimme schallte über Deck. Plötzlich quietschte die Pumpe, die auf der Backbordseite in Höhe des Großmastes stand. Ein saugendes Geräusch ertönte, dann plätscherte Wasser aufs Deck und floß durch die Speigatten ab. Öllampen flammten auf und beleuchteten die Szenerie an Deck. Männer schrien durcheinander, die scharfe Stimme des Kapitäns fuhr dazwischen. „Geit Vorsmars- und Großmarssegel auf, weg mit der Blinden, beeilt euch, Männer, hurtig, hurtig!“ Richtig, dachte Hasard, weg mit dem Segeltuch, das belastet jetzt nur. Zwei Männer, halbnackt, arbeiteten wie die Irren an der Pumpe. Der Pumpenschwengel, jeweils auf einer Seite bedient, ging auf und nieder. Und als die beiden Männer erlahmten, wurden sie von zwei anderen abgelöst, die mit frischen Kräften loslegten. Ein dicker Wasserstrahl schoß aus dem Pumpenrohr. Es wurde ein mörderischer Kampf gegen das steigende Wasser im Schiffsrumpf. Es stand bereits über der Bilgegräting. Ferris Tucker planschte und watete durch die unteren Decks auf der Suche nach dem Leck, peilte immer wieder den Wasserstand und stellte fest, daß das Wasser zwar immer noch stieg, aber nicht mehr derart rapide. Die Pumpe beförderte saugend und schmatzend Mengen von Wasser aus dem Rumpf, aber doch schien es irgendwie ein ewiger, nie endender
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Kreislauf zu sein - oben an Deck schoß der Wasserstrahl in die See und irgendwo zwischen Kiel und Wasserlinie drang das Wasser wieder ein. Der Kapitän ließ sämtliche Segel bergen, den Steuerbordbuganker mit achtzig Yards Trossenlänge auswerfen und legte auf diese Weise die „Marygold in den Wind. Sie benahm sich jetzt manierlicher, hing an Trosse und Anker und trieb langsam mit dem Wind südwestwärts. Alle Hände waren frei, um gegen das eindringende Wasser zu kämpfen. Durch die vordere Luke der Kuhl wurde eine Kette ins Unterdeck gebildet und das Wasser mit Pützen hochgemannt. Die Pützen wanderten von Hand zu Hand - die vollen außenbords, die leeren zurück in den Schiffsbauch. Sie kämpften Stunde um Stunde - je zwei Männer an der Pumpe, die anderen in der Kette. Ferris Tucker, ein besonnener, ruhiger Mann, suchte verzweifelt nach dem verdammten Leck, tauchte sogar in die stinkende Brühe und tastete Zoll für Zoll die Innenplanken ab. In den Morgenstunden erreichten sie einen Stillstand des steigenden Wassers und hielten ihn verbissen. Nur - und das war jedem klar - konnte das nicht bis in alle Ewigkeit weiter« gehen. Das Leck mußte gefunden werden, oder sie würden bis ans Ende ihres Lebens pumpen und Wasser hochmannen müssen, und das war eine Utopie. * Philip Hasard Killigrew wurde gerade von Blacky an der Pumpe abgelöst, als die Sonne im Osten hinter der Kimm hochkroch und den Spiegel der leichtbewegten See rot überhauchte. Dann wechselte die Farbe in glühendes Gelb. Der neue Tag brach an. Hasard reckte die mächtigen Schultern, auch er war halbnackt, und blickte zum Achterkastell hoch in das eiserne, beherrschte Gesicht des Kapitäns.
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„Sir“, sagte er, „ich habe an der Küste von Cornwall viel getaucht. Wenn Ferris Tucker von innen das Leck nicht findet, sollten wir zumindest den Versuch unternehmen, die Außenbeplankung mal zu kontrollieren. Ich bin überzeugt, daß ich das Leck finde. Es von außen zu stopfen, ist außerdem bestimmt leichter und auch sinnvoller - wegen des Wasserdrucks.“ Er grinste. „Haben Sie etwas dagegen, daß ich ein Bad nehme?“ Das Gesicht des Kapitäns blieb unbewegt, aber seine Augen lächelten. Und nur Hasard sah, daß der Kapitän wie befreit aufatmete. „In Ordnung“, sagte der Kapitän. „Aber ich möchte nicht, daß Sie allein ins Wasser steigen Das Bürschchen schob sich neben Hasard, reckte den Kopf zum Kapitän hoch und sagte: „Ich begleite den Seewolf“ „Du?“ fragte der Kapitän, und jetzt lächelte er offen. „Kannst du denn schwimmen?“ Noch bevor das Bürschchen frech werden konnte, sagte Hasard schnell: „Er ist ein O’Flynn, Sir.“ „Und was besagt das?“ „Sein Vater ist bei meinem Vater gefahren — oben in der Irischen See. Die O’Flynns sind ziemlich harte Brocken, Sir, sie lernen bereits das Schwimmen, wenn sie noch in den Windeln mit dem Wasser kämpfen.“ „Jawohl“, sagte Donegal Daniel O’Flynn und nickte wichtig. „Gut“, sagte der Kapitän und drehte sich um, weil er sich das Lachen verkneifen mußte. Hätte es das Bürschchen gesehen, wäre es vielleicht beleidigt gewesen. „Los, Hasard“, sagte Donegal Daniel O’Flynn begeistert und zappelte ungeduldig. „Springen wir vorn oder achtern rein?“ „Langsam“, sagte Hasard. „Geh zum Bootsmann und hol zwei Tampen in Wurfleinenstärke. Wir steigen mit einer Sicherheitsleine runter, und zwar an einer Strickleiter, verstanden?“ „Aye,aye.“ Und weg war das Bürschchen. Er kehrte mit Ben Brighton zurück, der zwei lange, in Buchten aufgeschossene
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Tampen mitbrachte. Hasard nahm sie in Empfang. „Ben, du nimmst Dan an die Angel, wenn wir runtergehen“, sagte er. „Wenn Dan dreimal kräftig zieht, hievst du ihn sofort hoch. Für mich gilt das gleiche. „Und wer nimmt dich an die Angel?“ „Ich“, sagte Carberry, der bei der Pumpe gestanden hatte. Er blickte über die Schulter zurück. „Pumpt weiter, ihr Rübenschweine, noch ist nicht Feierabend. He, Smoky! Hol die Strickleiter aus der Segellast, hopp-hopp!“ „Aye, aye“, brummte Smoky, lief los und stolperte über das ausgestreckte Bein Gordon Browns. Er landete auf den Planken, fluchte und war wie eine Katze wieder auf den Beinen. Hatte Gordon Brown das Bein absichtlich ausgestreckt? Niemand hatte es gesehen. Ob absichtlich oder nicht, Smoky war das gleichgültig. Das Bein war plötzlich dagewesen, und er war lang hingeschlagen. Er schlich auf Gordon Brown zu. „Die Ratte hat dir wohl noch nicht gereicht, wie?“ sagte er und knurrte dabei wie ein gereizter Kettenhund. Carberry fuhr dazwischen: „Schluß! Hol die Strickleiter, Smoky!“ „Er hat mir ein Bein ...“ „Weiß ich!“ pfiff ihn Carberry an. „Und daß er ein hirnrissiges Rübenschwein ist, weiß ich auch. Aber dafür haben wir jetzt keine Zeit. Wenn ihr euch prügeln wollt, besorgt das später im Vordeck - falls wir nicht alle absaufen. Zisch ab!“ Smoky trollte sich grollend. Carberry knurrte jetzt Gordon Brown an und sagte: „Ran an die Pumpe, du Saftsack! Und paß auf, daß mir nicht zufällig deine stinkenden Quanten im Weg stehen!“ Gordon Brown gehorchte widerspruchslos. Hasard knüpfte sich die Leine um den Leib und schob sie unter die Achseln. Er überprüfte den Sitz von Dans Leine und nickte ihm zu. „Wir nehmen uns jeder eine Schiffshälfte auf der Steuerbordseite vor. Du die vordere, ich die achtere. In der Mitte bei der Strickleiter treffen wir uns wieder.
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Haben wir nichts gefunden, untersuchen wir die Backbordseite. Vergiß nicht, bis zum Kiel zu tauchen. Paß auf Muscheln auf, die sich eventuell schon angesetzt haben, sie können höllisch scharf sein. Taste das Holz ab und halt die Augen offen. Alles klar?“ „Alles klar“, erwiderte das Bürschchen. Smoky .brachte die Strickleiter. Sie wurde auf der Steuerbordseite mittschiffs an einer massiven Holzklampe belegt und nach unten gelassen. Hasard schwang sich als erster über das Schanzkleid und kletterte hinunter. „Gib genug lose, Ed!“ rief er nach oben.. Carberry beugte sich weit über das Schanzkleid und fierte die Leine weg. Donegal Daniel O’Flynn folgte dem Seewolf und grinste Ben Brighton an, der seine Leine führte. „Halt mich ja schön fest, Bootsmann“, sagte er. „Vielleicht find ich ‘ne Seejungfrau und zwick sie in den Popo!“ „Untersteh dich“, sagte Ben Brighton. Hasard ließ sich ins Wasser sinken und gab die Strickleiter frei. Dan ließ sich einfach ins Wasser plumpsen, verschwand und tauchte prustend wieder auf. Seine borstigen Blondhaare standen wie die Stachel eines Igels ab. „Ah, da tut gut!“ schrie er. „Vergiß nicht, warum wir hier sind“, sagte Hasard, warf sich hoch, knickte im Leib ein und schoß wie ein Fisch in die grüne Tiefe. Das Leck mußte ziemlich tief sitzen, sonst hätte es Ferris Tucker längst gefunden. Vielleicht befand es sich direkt an einem Querspant über dem Kielgang, an den der Schiffszimmermann schlecht herankam, um die Plankengänge zu untersuchen. Hasard stieß bis zum Kiel vor und tastete sich an ihm entlang. Unter dem Schiffsleib war es dunkel, kleine Seepocken hatten sich bereits an die Planken gesetzt. Hasard konnte sie fühlen. Hinter sich spürte er Bewegung im Wasser. Es war Dan, der am Kiel
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angelangt war und in Stevenrichtung zu suchen begann. Hasard fand das Leck bei seinem ersten Tauchgang und stieß überrascht die Luft aus, die in sprudelnden Blasen hochstieg. Er war auf eine endlose Suche gefaßt gewesen und begriff im ersten Moment gar nicht, daß er das Leck gefunden hatte. Aber an der Stelle waren die Seepocken abgeplatzt, und das hatte ihn stutzig werden lassen. Er spürte unter den Pocken Holzsplitter und den Sog des Wassers, das in ein kreisrundes Loch von der Dicke eines dünnen Kinderhandgelenks strömte. Mit seinem Zeigefinger tastete er das Loch ab, um den Durchmesser genau zu ermitteln, nahm die anderen Finger zu Hilfe und steckte sie in das Loch. Zeige-, Mittel- und Ringfinger paßten nebeneinander hinein. Er blies den letzten Rest seiner angehaltenen Luft aus und tauchte genau in Höhe des Lecks um den gewölbten Rumpf herum wieder auf. Etwa zehn Yards rechts von ihm schoß Dan aus dem Wasser und schnappte nach Luft. „Hast du’s?“ schrie das Bürschchen. „Ja!“ rief Hasard zurück. „Ehrlich?“ „Was dachtest du denn?“ „Mann!“ Das O’Flynn-Kerlchen wurde richt ig fucht ig und klatschte die Rechte aufs Wasser. „Kannst du mich nicht auch mal ‘ne Heldentat vollbringen lassen’?“ „He!“ sagte der Seewolf. „Du bist wohl scharf auf schottischen Whisky?“ „Und ob“, sagte das Bürschchen. „So jung und schon ein Säufer. Was soll nur aus dir werden, O’Flynn?“ „Ein Kapitän“, sagte das Bürschchen. „Was ist?“ schrie Carberry vom Schanzkleid herunter. Links und rechts neben ihm standen die Männer Kopf an Kopf und starrten nach unten. Ihre Gesichter waren voller Hoffnung. Beim Achterkastell beugte sich der Kapitän über die Reling. „Haben Sie das Leck gefunden, Killigrew?“ rief er.
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„Aye, aye, Sir.“ Die Männer schrien begeistert los. Hasard schwamm an die Strickleiter heran und enterte hoch. Er drängte sich an den tobenden Männern vorbei zu Ferris Tucker und sagte leise: „Schneide einen Rundkeil zurecht, Ferris, vorn leicht zugespitzt, etwa so breit wie meine drei Finger hier.“ „Geht klar“, sagte Ferris Tucker und verschwand unter Deck. Carberry brüllte: „Wollt ihr wohl an die Arbeit, ihr Affenärsche - ihr verlausten, dreimal von euren Großmüttern im Linksgalopp an die Wand geschissenen Waldameisen! Ist hier Betstunde, was, wie? Noch wird gepumpt und gepützt, bis euch das Wasser im Hintern kocht! Grinst nicht so dämlich. Hier ist heute nicht eher Feierabend, bis die Bilge knochentrocken ist, habt ihr mich verstanden?“ „Aye, aye“, erklang es im Chor. Die Männer eilten .wieder an die schweiß treibende Arbeit. Aber sie hatten neue Kraft geschöpft. Bald würde die Schinderei zu Ende sein und der Alptraum des Absaufens verblassen. Nur Carberry und Ren Brighton blieben am Schanzkleid. Der Kapitän trat hinzu. „Was ist das für ein Leck?“ Hasard warf einen Blick auf die arbeitenden Männer, die versuchten, mit einem Ohr bei dem Gespräch zuzuhören und etwas aufzuschnappen. Er kniff ein Auge zu und sagte gleichgültig und leise: „Ach, nur so das Übliche, Sir.“ „So so, das Übliche“, wiederholte der Kapitän und fragte nicht, warum man für das „Übliche“ einen runden Holzkeil brauchte. Beim „Üblichen“ wurden nämlich die Nähte zwischen den Planken kalfatert, das heißt, man drückte dünnfaseriges Hanftauwerk oder Werg zwischen die Nähte und Fugen und verschmierte sie mit Pech oder Teer. Ferris Tucker brachte den gewünschten Holzkeil und gab ihn dem Seewolf. Auch sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Hasard nahm mit den drei Fingern Maß und nickte. Sehr leise sagte er: „Kontrolliere mal deine Holzbohrer,
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Ferris. Das Loch ist kreisrund gebohrt und hat den Durchmesser meiner drei Finger.“ „Verdammt“, murmelte der Schiffszimmermann, als er begriff, was Hasards Worte bedeuteten. „Verdammt“ hatte er auch gesagt, als er erkannt hatte, daß der Bugspriet angekerbt worden war. Hasard blickte den Kapitän an und sagte: „So ist das also, Sir. Leider hatte ich die Mitternachtswache und stand am Ruder. Da konnte ich die Flöhe nicht husten hören.“ „Verstehe“, sagte der Kapitän zwischen zusammengepreßten Lippen. Hasard blickte den Kapitän an und sagte: „So ist das also, befindet sich dicht über dem Kiel auf der Steuerbordseite, etwa einen Schritt hinter der Mastspur vom Großmast. Der Zugang dorthin sollte für die nächste Zeit abgeschlossen werden.“ Er grinste. „Um niemanden in Versuchung zu führen, nicht wahr?“ „Ein Verrückter“, flüsterte Ferris Tucker erschüttert. „Vielleicht“, sagte Hasard und schwang sich wieder über das Schanzkleid. „Spätestens in fünf Minuten ist das Leck dicht.“ Unten auf der letzten Sprosse der Strickleiter stand das Bürschchen und blickte zu ihm hoch. „Darf ich mit?“ „Klar, Dan. Hier, nimm den Holzkeil. Wir tauchen zusammen hinunter.“ Dan fing den Holzkeil auf Lind staunte. „Mann, so ein Loch? Hat da jemand gebohrt?“ „Ja“, sagte Hasard hart und knapp. „Mach Platz.“ Das Bürschchen ließ sich ins Wasser gleiten und wartete, bis Hasard neben ihm schwamm. „Weißt du schon, wer’s ist?“ „Nein, noch nicht, aber ich werde es herausfinden. Komm mit.“ Hasard schwamm etwas zurück, peilte nach oben, nickte Dan zu und tauchte weg. Dan holte tief Luft und tauchte hinterher. Hasard erreichte den Kiel, hielt sich fest und drehte sich um. Dan erschien wie ein Schatten neben ihm. Hasard deutete auf das Leck und den Holzkeil. Dan O’Flynn
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tauchte tiefer, tastete mit der Hand, führte die andere mit dem Holzkeil heran und rammte ihn, Spitze voraus, in das Loch. Hasard schob ihn sanft beiseite und trat kräftig mit dem Fuß auf den Keil. Dann legte er sich auf den Rücken, den Belegnagel in beiden Fäusten, und hämmerte das schwere Eisen gegen den Holzkloben, wieder und wieder. Das Wasser hemmte seine Bewegungen, aber der Holzkeil drang tiefer ein, bis er noch eine Fingerbreite über die Beplankung herausragte. Hasard wies mit dem Daumen nach oben, und Donegal Daniel O’Flynn entschwand wie ein aufsteigender Frosch. Der Keil saß fest, das stand außer Frage. Hasard tastete noch einmal über die Stelle, dann tauchte er auch auf und schwamm zur Strickleiter, auf der Dan bereits hochenterte. Er folgte ihm, und als er über das Schanzkleid stieg, meldete Dan gerade: „Das Leck ist dicht, Sir. Hasard und ich haben die Lappalie geregelt, Sir. War wirklich Puppenkram, Sir, nicht der Rede wert, nur’n bißchen kalt, Sir. Nixen war’n auch keine da, die uns hätten wärmen können, Sir. Schottischer wärmt besser, Sir, ich meine ...“ „Donegal Daniel O’Flynn sagte Hasard warnend, „halt die Klappe und red nicht soviel, vor allen Dingen nicht von Nixen. Und wenn du frierst, dann trockne dich ab und arbeite an der Pumpe, da wird’s dir wieder warm -ohne Nixe, klar?“ „Aye, aye“, sagte das Bürschchen und feixte von einem Ohr zum anderen, denn der Kapitän hatte bereits Carberry in Marsch gesetzt, um ihn den „Orden“ holen zu lassen, der so feurig und dennoch herrlich durch die Kehle rann. Hasard verfluchte insgeheim die Manier des „Alten“, besondere Taten mit schottischem Whisky zu honorieren. So etwas gab Stunk, zumindest würden sich die Neidhammel regen. Außerdem hatte die ganze Besatzung eine Extraration verdient, denn alle hatten sie wie die Kesselflicker Stunde um Stunde gegen das Wasser angekämpft und taten es jetzt noch,
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um die „Marygold“ wieder leer und damit manövrierfähig zu kriegen. Und das Bürschchen stand da wie ein Feldherr nach siegreich geschlagener Schlacht, die Brust herausgereckt, die Fäuste in die Hüften gestützt, pitschnaß und glücklich. Aber seine Besatzung vergaß der Kapitän keineswegs. Er ließ von Mac Pellew ein Weinfaß anzapfen und den Wein austeilen. Sie tranken ihn wie Wasser. Erschöpft, ausgepumpt, übermüdet, wie sie waren, wirkte der Wein wie ein Stimulans: Sie lebten, nur das zählte. Die See hatte sie zu sich ziehen wollen, aber sie hatten gesiegt. Die Leckstelle war absolut dicht. Nach einer Stunde lag die „Marygold“ unter Segeln wieder auf dem alten Kurs, ihre Bilge war leergelenzt. Niemand außer Hasard und der Kapitän erfuhr, was Ferris Tucker festgestellt hatte. Der Holzbohrer, von dem Hasard gesprochen hatte, befand sich zwar noch in der Werkzeugkiste, aber nicht an der Stelle, wo ihn der Schiffszimmermann zu deponieren pflegte. Jemand hatte ihn benutzt und nicht wieder dorthin zurückgelegt, wo er hingehörte. „Irren Sie sich auch nicht?“ fragte der, Kapitän den riesigen Schiffszimmermann. Ferris Tucker stand mit Hasard und dem Kapitän auf der Heckgalerie, wo ihnen niemand zuhören konnte. „Nein, Sir“, erwiderte Ferris Tucker. „Meine Werkzeuge haben seit Jahren ein und denselben Platz. Sie wissen, wie schnell ich manchmal im Notfall ein bestimmtes Werkzeug zur Hand haben muß. Da darf ich nicht erst lange suchen. Ein Irrtum ist völlig ausgeschlossen. Außerdem paßt der Bohrdurchmesser haargenau in die Leckstelle. Ich habe es überprüft, nachdem die Bilge leer war.“ Die drei Männer blickten sich stumm an und dachten alle das gleiche. Da war jemand an Bord oder waren es mehrere? der die Absicht zu haben schien, das Schiff zu zerstören. In der Wahl seiner Mittel war er keineswegs zimperlich. Ja, er war sogar rücksichtslos genug, das eigene Leben dabei zu riskieren.
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Der Kapitän sagte: „Sie werden keine Wache mehr gehen, Killigrew.“ Hasard blickte ihn überrascht an. Der Kapitän verzog das Gesicht und fügte hinzu: „Ich mag den Ausdruck nicht, aber ein besserer fällt mir nicht ein. Sie werden als Schießhund Wache gehen. Ist Ihnen klar, was ich damit meine, Sir. Aufpassen, wachsein, schnüffeln, zupacken, Standlaut geben.“ „Genau“, sagte der Kapitän. 8. Philip Hasard Killigrew hatte einen Verdacht, und danach bestimmte er seine Taktik, die sehr einfach war und darin bestand, einen Mann ständig zu beobachten. Dieser Mann war Gordon Brown. Gordon Brown pflegte in der Kombüse zu schlafen, wenn, er nachts keine Wache ging. Also legte sich Hasard auf dem Kombüsendach dicht an der Luke auf die Lauer. Nach der Schinderei der letzten Nacht schliefen die Männer der Freiwache wie die Toten. Hasard war in der Dunkelheit unbemerkt auf das Kombüsendach gestiegen und hatte sich flach hingelegt. Eins war ihm ziemlich klar: Bereits in dieser Nacht konnte wieder etwas passieren. Der Versuch, das Schiff absaufen zu lassen, war fehlgeschlagen. Also war zu erwarten, daß er wiederholt würde. Vielleicht würde man bei einem erneuten Versuch nicht das Schiff anbohren, aber man konnte zum Beispiel Feuer anlegen oder ein bißchen mit Pulver spielen. Allerdings waren Pulver- und Waffenkammer abgeschlossen, wovon Hasard sich überzeugt hatte. Aber wer die Nerven hatte, ein Loch in die Planken zu bohren, der fand auch Mittel und Wege, die Pulverkammer zu knacken. Mit Gordon Brown war etwas nicht in Ordnung. Ob er jedoch allein diese Schandtaten ausführte, das bezweifelte der Seewolf. Ein solches Kaliber war der Mann nicht. Vielleicht mußte er aufpassen, während der andere zu Werk ging. Das war
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durchaus denkbar. Nur das Motiv war ein Rätsel. War jemand so wahnsinnig, das Schiff und damit unter Umständen sich selbst zu vernichten? Fast sah es so aus. Nur hatte diese Überlegung den Haken, daß Hasard Gordon Brown zwar jede Gemeinheit zutraute, aber nicht den Mut zur Selbstvernichtung. Hasards Gedanken drehten sich im Kreis. Sie beschäftigten ihn und hielten ihn wach. Unter ihm schnarchte Gordon Brown, und Hasard fragte sich, ob er sich mit seinen Überlegungen nicht auf dem Holzweg befand. Aber sein Instinkt sprach dagegen. Die Gestalt huschte wie ein flüchtiger Schatten über die Kuhl, verschmolz mit dem Vormast, löste sich wieder und glitt zur Kombüse. Sie bewegte sich völlig lautlos und geschmeidig. Hasard preßte sich flach auf das Kombüsendach und Wartete voller Grimm, was sich weiter tat. Die Kombüsentür knarrte, schwang auf und wurde wieder leise geschlossen. Gordon Brown hatte Besuch erhalten. Als die Gestalt zur Kombüsentür gehuscht war, hatte Hasard sie erkannt. Es war der Taubstumme. Aber er war weder taub noch stumm. „Wach auf, Gordon“, flüsterte der Mann. Er sprach Englisch, aber mit einem fremden Akzent. „Wach auf, Amigo.“ Amigo? In Hasards Kopf klickte es. Verdammt, der Kerl war ein Spanier - ein Spanier an Bord eines englischen Schiffes, das von Francis Drake geführt wurde! Mein lieber Mann, dachte Hasard, das ist ja heiter. Gordon Browns Schnarchen war inzwischen abgebrochen. Hasard hörte, wie er gähnte und sich die Brust kratzte. Dann schien er wütend zu werden. „Mann, bist du wahnsinnig?“ zischte er. Ein leises Lachen ertönte. „Hast du Angst, Amigo?“ „Ich hab die Schnauze voll, du armer Irrer. Erst erstichst du John Johns, weil er uns bei den verdammten Wasserfässern erwischte, dann muß ich dir bei dem Bugspriet helfen - das ging ja noch -, aber wozu ich dir den Holzbohrer klauen sollte,
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das habe ich leider zu spät kapiert. Mann, wir wären beinahe abgesoffen.“ „Die Golddublonen hast du gern eingesteckt, nicht wahr, Amigo?“ sagte der Spanier sanft. „Scheiß auf die Golddublonen. Wenn ich absaufe, habe ich nichts mehr davon. Als ich dich an Bord brachte, hattest du gesagt, du wolltest weiter nichts, als Drake abservieren. Das sei dein Auftrag. Und was tust du? Leerst Wasserfässer, säbelst am Bugspriet rum und bohrst den Kasten an.“ „Und wie war das mit der Ratte?“ fragte der Spanier scharf. „Hier bestimme ich. Laß die Finger von solchen Spielereien. Sie schaden uns nur. Ja, ich wollte das Schiff absaufen lassen, nachdem mein erster Plan, Drake beim Enterkampf zu erschießen, nicht geklappt hatte. Leider war dieser Killigrew schneller. Er ist ein sehr gefährlicher Mann.“ „Bring ihn doch auch noch um“, sagte Gordon Brown gehässig. „Einen größeren Gefallen kannst du mir gar nicht tun.“ „Vielleicht“, sagte der Spanier dunkel. „Aber erst ist Drake dran. Sobald er sich auf das nächste spanische Schiff stürzt, erhält er eine Kugel, die bereits für ihn gegossen ist. Im Durcheinander wird niemand bemerken, wer der Schütze ist. Dazu mußt du mir aber den Rücken freihalten, Amigo. Wenn Drake tot ist, haben wir es geschafft. Niemand wird mehr kämpfen wollen, und dann werden meine Landsleute die ,Marygold` entern.“ „Und mir die Kehle durchschneiden, wie?“ „Du stehst unter meinem Schutz. Mein König wird dir ein Landgut schenken. Du wirst leben wie ein Grande, die Senoritas werden dir zu Füßen liegen und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen ...“ Na, na, dachte Hasard, jetzt trägst du aber ziemlich dick auf, mein Freund, zu dick, als daß es wahr sein könnte. Aber Gordon Browns Mißtrauen schien wie Schnee in der Sonne wegzuschmelzen. Hasard hörte, wie er keuchte.. „Senoritas, sagtest du?“ „Senoritas“, bestätigte der Spanier, „so viele du willst und eine hübscher und
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rassiger als die andere. Sie werden vor dir tanzen und die Hüften schwenken...“ „Nackt?“ fragte der schmierige Gordon Brown hechelnd. „Verschleiert“, erwiderte der Spanier, „aber ein Schleier nach dem anderen wird fallen.“ „Ah!“ Es klang widerlich, und Gordon Brown schmatzte noch dazu wie ein Ferkel an den Zitzen der Muttersau. Hasard hatte genug gehört. Er überlegte, ob er das aufschlußreiche Gespräch brutal unterbrechen und die beiden Kumpane weichklopfen oder damit noch warten solle. Er entschloß sich, abzuwarten. Zumindest bis zur nächsten Gefechtsberührung waren Schiff, Besatzung und der Kapitän nicht gefährdet. Der Spanier hatte wohl eingesehen, daß seine Sabotageunternehmungen sinnlose Kraftakte waren. Zumindest hatten sie ihn seinem eigentlichen Ziel, Drake zu ermorden, nicht nähergebracht.. Hasard verließ leise wie eine Katze das Kombüsendach und schlüpfte ins Vordeck. Er schlief in dieser Nacht fest und ruhig. Es war tatsächlich so, wie es Hasard vermutet hatte. Die Tage vergingen, ohne daß noch etwas passierte. Hasard verfluchte seine Untätigkeit und fragte sich immer wieder, ob er nicht doch schon die Bombe platzen lassen sollte. War es überhaupt richtig, daß er dem Kapitän nichts von dem erlauschten Gespräch sagte? Schließlich war er der Schiffsführer - und das Gesetz. Aber der Seewolf hatte seinen eigenen Kopf. Das Ge- sprach war ein klarer Beweis für das Komplott. Aber der Spanier und Gordon Brown konnten es ableugnen.. Der Spanier hatte noch dazu den Vorteil, „taubstumm“ zu sein. Und der Kapitän hielt ihn für einen guten Mann. Nein, Hasard wartete auf seine Chance, und sie kam nach sechs Tagen, nachdem er das Gespräch belauscht hatte. * Die „Marygold“ kreuzte südwestlich der Azoren auf jener Route, auf der die spanischen Schatzschiffe aus der Neuen
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Welt zurück nach Spanien segelten. Häufig liefen sie die Azoren an, um dort Frischwasser und Proviant zu übernehmen, bevor sie nach Cadiz weitersegelten. Immerhin waren sie etwa zwei Monate unterwegs, und die Azoren oder die Kanarischen Inseln waren dann die ersten festen Stützpunkte nach langer Fahrt. Immerhin auch erfuhren die Spanienfahrer dort, ob sich Seeräuber in der Gegend herumtrieben, vor allem, auf welchen Positionen sie vermutet wurden. Daß wieder ein Wolf die See abstreunte, um Beute zu reißen, konnte man auf den Azoren nur vermuten, falls man das Einlaufen einer bestimmten spanischen Galeone erwartete, aber Tag und Tag verging, ohne daß sie eintraf. Daß sich diese Galeone allerdings auf der Fahrt nach Plymouth befand, konnte noch nicht bekannt sein. Sonst war die „Marygold“ noch niemandem begegnet. Sie hatte um sich die freie See und stand nun in ihrem Jagdgebiet, bereit, die von Westen heransegelnde Beute vor den Azoren oder den Kanarischen Inseln abzufangen. Das kalte Herbstwetter des heimatlichen Hafens war längst vergessen. Die Männer arbeiteten mit nacktem Oberkörper an Deck, waren braungebrannt und vermißten nichts -es sei denn mehr Trinkwasser oder die weichen Arme einer Frau. Wieder war es Donegal Daniel O’Flynn, der im Ausguck bewies, was für scharfe Augen er hatte. Es war genau in der Mittagszeit, als sein Ruf vom Hauptmars hinunter über das Deck schallte. „Segel ho! Genau voraus!“ Die „Marygold“ segelte genau Westkurs, der Wind stand gleichmäßig von Norden. Ein glitzernder Schimmer lag über der See, der sich in der Unendlichkeit der Dünung verlor. Aber hinter dieser Dünung wirkte die Kimm bei der klaren Sicht dieses Sonnentages wie eine scharfe Kante gegen den Himmel. Die Mastspitze, die zunächst sichtbar wurde, stand wie eine feine, fast durchsichtige Nadel an der Kimm.
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Die Stimme des Kapitäns knallte wie ein Peitschenhieb über das Deck. „Klarschiff zum Gefecht ! Neuer Kurs Nordwest! Lassen Sie die Segel anbrassen, Bootsmann, wir gehen höher an den Wind!“ „Aye, aye, Sir“, sagte Ben Brighton. Alles, hundertmal geübt, lief wie am Schnürchen. Barry Burnaby, der Stückmeister, verteilte die Waffen, die Kanonen wurden schußklar gemacht, Pützen mit Seewasser bereitgestellt, das Kombüsenfeuer gelöscht. Carberry tobte in seiner gewohnten Art über das Mitteldeck, drohte jedem, der nicht spurte, fürchterliche Strafen an, die darin gipfelten, Affenärschen die Haut abzuziehen und an die Kombüse zu nageln, und schrie sich die Kehle heiser. Und prompt geriet er sich mit Mac Pellew in die Haare, der zurück schrie, er solle sich die Häute der Affenärsche gefälligst selbst auf den Hintern nageln, aber nicht an die Kombüse. Er hätte keine Lust, in einer Kombüse zu kochen, die mit solchen Häuten benagelt sei, verdammt. Und dann brüllten sich die beiden zum Gaudium der Mannschaft wie die Gossenjungen an, hielten sich gegenseitig die Fäuste unter die Nasen, mit denen sie sowieso schon fast zusammenstießen, weil sie beide ihre Köpfe vorgestreckt hatten, und belegten sich mit Schimpfnamen und Flüchen, die selbst den Abgebrühtesten unter ihnen zu einem wohligen Erschauern verhalf. Das heizte so richtig die Kampfstimmung an. Francis Drake stand mit steinerner Miene auf dem Achterdeck und starrte angelegentlich in die Segel. Er würde den Teufel tun, die beiden Kampfhähne zur Räson zu bringen. Sie waren genau die richtige Medizin, die Männer fürs Gefecht anzustacheln. Er kannte seine Leute. Hasard hörte amüsiert zu und lernte eine Menge. Gleichzeitig beobachtete er den Spanier, der den Taubstummen spielte, unbeteiligt über die See starrte und seine Gefechtsstation an der achteren Kanone auf der Backbordseite hatte.
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Sieh an, dachte er. Denn auch Gordon Brown hatte dort seine Gefechtsstation. Der ahnungslose Burnaby hatte die beiden Kumpane genau an die Stelle eingeteilt,von wo aus sie am besten das erhöhte Achterdeck erreichen konnten. Denn hinter ihnen führte ein Niedergang zum Achterkastell hoch. Gordon Brown war sichtlich nervös. Er fummelte an einem Fleischermesser herum, das er in einer Gürtelscheide trug, blickte sich ständig um, als werde er verfolgt, und hatte Schweißperlen auf seiner Stirn. Der Spanier, nun ja, er war ja „taubstumm“, bewies, daß er die besseren Nerven hatte. Aber die mußte ein solcher Mann, der von der spanischen Krone den Auftrag erhalten hatte, Francis Drake zu ermorden, wohl auch haben. Hasard beging nicht den Fehler, einen Gegner zu unterschätzen. Dieser Mann mußte über kämpferische Qualitäten verfügen - und seine Rücksichtslosigkeit hatte er bereits unter Beweis gestellt. „Könnt ihr mal eure verdammten Schnauzen dort unten halten!“ schrie das Bürschchen wutentbrannt vom Mars herunter. „Ich hab dem Kapitän was zu melden!“ Den beiden Kampfhähnen blieb der Mund offenstehen, sie starrten nach oben. Alle starrten nach oben. Das Bürschchen feixte und schrie: „Ein Spanier, Sir! Das Kreuz erkenne ich ganz deutlich. Drei Masten hat er. Außerdem hat er ebenfalls angeluvt. Wie ich das sehe, Sir, werden sich unsere Kurse kreuzen.“ „Danke, Dan!“ rief der Kapitän nach oben und lächelte. „Sofort melden, wenn er den Kurs ändert.“ „Aye, aye, Sir.“ Die Rahen knarrten ächzend, Wellen. klatschten gegen die Bordwand, Gischt sprühte in feinen Schleiern über das Vorschiff. Carberry zischte dem Koch einen letzten Fluch ins Gesicht, der nicht unbeantwortet blieb, dann trat wieder Stille ein, wie sie sich vor jedem Gefecht einzustellen pflegte, und in der sich die Männer darauf vorbereiteten, dem Gevatter
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Tod zwischen die grinsenden Zähne zu springen. Hasard schlenderte über das schräg geneigte Deck und setzte sich auf eine Stufe des Niedergangs zum Achterkastell. Gordon Brown fuhr herum, musterte ihn wütend und biß sich auf die Lippen. Hasard lächelte nur und verschränkte die Arme über der Brust. Er saß völlig entspannt auf der Stufe und tat so, als sei dieser Tag voll des Frohsinns und der Freude. Der Spanier drehte sich um und blickte den sitzenden, lächelnden Mann an. Er hatte sich völlig in der Gewalt, wandte sich, ohne eine Miene zu verziehen, wieder um und starrte weiter über das Schanzkleid auf die See. Gordon Brown trat von einem Fuß auf den anderen. „Du hast noch Schulden bei mir“, sagte Hasard laut und deutlich und sehr freundlich. „Vergiß sie nicht, Gordon Brown.“ Alle Männer - einschließlich Francis Drake - schauten überrascht zu dem sitzenden Mann. Nur zwei Männer begriffen, was er jetzt sagte. Er sagte zu Gordon Brown: „Ich werde wie ein Schießhund aufpassen, daß du deine Schulden bezahlst.“ Dann stand Hasard wieder au f, blickte kurz zum Kapitän hoch und schlenderte auf die Steuerbordseite hinüber. Das Aufblitzen in den grauen Augen des Kapitäns hatte er bemerkt. Und ebenso sah er das Erkennen in der Miene des Schiffszimmermanns, der an der Nagelbank des Großmastes lehnte. Unmerklich nickte er ihm zu, und Ferris Tucker nickte zurück. „Burnaby“, sagte der Kapitän vom Achterkastell herunter, „heute sind Sie wieder dran. Ich möchte, daß Sie dem Don mit der Serpentine den Fockmast wegschießen. Daraufhin wird er zumindest in den Wind gehen. Liegt er im Wind, sind wir bereits bei ihm längsseits und entern. Carberry, sorgen Sie dafür, daß die Entermannschaft bereit ist. Brighton, lassen Sie die Segel aufgeien, sobald der
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Don in den Wind geht. Ist alles klar, Gentlemen?“ „Aye, aye, Sir“, erklang es im Chor zurück. „Gott sei mit euch“, sagte der Kapitän. „Und tut eure Pflicht.“ Burnaby eilte nach vorn auf die Back und hantierte an der Backbordserpentine. Die Entermannschaft verteilte sich auf der Backbordseite entlang des Schanzkleides und ging in Deckung. Ben Brighton pflanzte sich zwischen Großmast und Fockmast auf. Die beiden Schiffe segelten auf sich kreuzenden Kursen aufeinander zu, der Spanier über Steuerbordbug, die „Marygold` über Backbord. „Peilung steht!“ rief das Bürschchen vom Mars herunter. Das bedeutete, daß die beiden Schiffe auf Rammkurs lagen. Der Kapitän nickte und befahl dem Rudergänger, um knapp einen Strich unmerklich abzufallen. „Peilung wandert aus!“ rief das Bürschchen. Jetzt zielte der Bug der „Marygold“ auf das Achterschiff des Spaniers, der noch etwa vierhundert Yards entfernt war und seine Stückpforten geöffnet hatte. Verbissen hielt der Spanier seinen Kurs durch. Zweifelsohne riskierte der Kapitän eine ganze Menge, denn er durchbrach die eiserne Regel, ein Gefecht nur aus der Luvposition heraus zu beginnen. Er war wenn auch nur knapp einen Strich abgefallen, gab also Höhe auf und geriet mehr und mehr in den Leebereich des Gegners. Aber seine Segel standen voller, und die „Marygold“ segelte schneller als der Spanier, was bedeutete, daß sie manövrierfähiger war. Bei dem Spanier blitzten vorn auf der Back zwei rote Flammenzungen auf, Schußdonner rollte grollend über die See, Pulverschwaden stiegen hoch. Der Spanier hatte das Gefecht eröffnet. Zwei kleine Wassersäulen stiegen Backbord voraus aus der See und fielen sofort wieder zusammen. Saubere Schießkunst war das keineswegs, allenfalls eine Demonstration.
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Die „Marygold“ fiel auf Befehl des Kapitäns noch weiter ab, und als sie dann langsam hochluvte, feuerte Burnaby seine Serpentine bei einer Entfernung von etwa achtzig Yards ab. Wütendes Musketenfeuer setzte auf die Spanier ein. Gebannt starrten die Männer der „Marygold“ hinüber zu dem Spanier. Fiel der verdammte Fockmast, oder hatte Burnaby vorbeigeschossen? Er fiel. Es sah aus, als vollführe er eine elegante Verbeugung. Er knickte in sich ein, neigte sich immer weiter nach vorn und krachte dann splitternd aufs Vorkastell. Als er auf die Steuerbordseite herüberrutschte, wischte er drei Männer außenbords. Der Wind, der jetzt nur noch auf den Segeln des Großmastes und dem achteren Lateinersegel stand, schob den Spanier wie es der Kapitän gesagt hatte herum und in den Wind. Das war der Moment, in dem die „Marygold“ bereits in den Wind gegangen war und mit ihrer auslaufenden Fahrt an der Steuerbordseite des Spaniers vorbeischor. Ihre Segel waren aufgegeit, ihre Rahen längsschiffs gebraßt. Die Männer des Enterkommandos warfen Enterhaken hinüber, die beiden Schiffsleiber prallten Bord an Bord gegeneinander, Schreie, Flüche, Schüsse ertönten. „Vorwärts!“ brüllte der Kapitän. „Vorwärts, Männer der „Marygold“! Gebt’s den Dons! Auf sie!“ Der grimmige Carberry setzte wie ein reißender Wolf mit einem Riesensatz auf den Spanier über. Zwischen den Zähnen hatte er ein Messer, in der linken Faust eine Pistole, in der rechten einen krummen Türkensäbel. Mac Pellew, der dürre Koch, folgte ihm mit verzerrtem Gesicht. Er schwang einen Morgenstern eine fürchterliche Nahkampfwaffe. Wie Katzen kletterten die Männer der „Marygold“ über das Schanzkleid des Spaniers und stürzten sich wild brüllend in das Getümmel. Stahl blitzte, Klingen wurden gekreuzt, Schüsse flammten auf.
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Hasard war unbemerkt aufs Achterkastell der „Marygold“ geentert und blieb abwartend in der Deckung des Besanmastes stehen. Der Kapitän, einen Degen in der Faust, befand sich vier Schritte von ihm entfernt an der Backbordreling und drehte ihm den Rücken zu. Pulverqualm wälzte sich hoch und quoll über das Achterdeck. Und in ihm tauchte urplötzlich der „Taubstumme“ auf. Seine Augen waren wie feurige Kohlen. Hasard stieß sich ab und fuhr wie ein Blitz zwischen die beiden Männer. Mit der Linken stieß er den Kapitän um, dann glitt er einen Schritt nach rechts, Bruchteile von Sekunden später zuckte sein Fuß hoch und prellte dem Spanier die Pistole, die er bereits auf den Kapitän angeschlagen hatte, aus der Hand. Der Schuß löste sich krachend, die Kugel strich an Hasards Kopf vorbei und stieg in den Himmel. Die Pistole polterte über die Decksplanken. Der Spanier stieß einen Wutschrei aus und warf sich auf den Seewolf. Jetzt kämpfte er um sein Leben. Hasard duckte sich, unterlief ihn, packte ihn um die Taille, stemmte ihn hoch, legte ihn in der Luft quer und warf ihn über die Heckreling außenbords. Dort stand der riesige Ferris Tucker, hob in aller Ruhe eine Muskete, zielte und feuerte. Mit zerschmettertem Kopf versank der Spanier in den Fluten. Hasard wirbelte herum — genau im richtigen Augenblick. Gordon Brown flog wie ein Geschoß an ihm vorbei, um sich auf den Kapitän zu stürzen, der sich gerade benommen aufgerichtet hatte. In der erhobenen Rechten Gordon Browns blitzte das Schlachtermesser. Hasards Hände fuhren hoch, krallten sich um das Handgelenk Gordon Browns, rissen es nach unten und drehten es um. Gordon Brown schrie auf. Das fürchterliche Messer klirrte an Deck. Wahnsinn flackerte in den Augen des schmierigen Mannes. „Du Hund!“ keuchte er. „Du verdammter Hund! Ich mach dich fertig!“
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„Nur zu“, sagte der Seewolf und feuerte ihm die Rechte unter das Kinn. Gordon Brown hob sich auf die Fußspitzen, er drehte eine Spirale, torkelte zu Ferris Tucker hinüber und empfing dort einen Faustschlag auf die Schädeldecke, der wie ein Hammer wirkte. Gordon Brown brach ächzend in die Knie und war bereits bewußtlos, als er auf die Planken kippte. „Das war also das Schwein“, sagte Ferris Tucker. „Er und der ‚Taubstumme’, der gar nicht taubstumm war“, sagte Hasard und wandte sich zu Francis Drake um. „Verzeihung, Sir, daß ich Sie umgestoßen habe.“ Er grinste den Kapitän an. „Aber als Schießhund darf man nicht zimperlich sein.“ Der Kapitän, sonst immer eisern beherrscht, hatte einige Mühe, seine Fassung zurückzugewinnen. Er fragte nichts. Seine Sorge galt dem Schiff, dem Kampf. „Vorwärts!“ sagte er knapp, schwang sich über die Reling und sprang auf das spanische Schiff hinüber. „Los, Ferris! Paß auf ihn auf“, sagte Hasard. „Ich muß diesen Mistkerl hier fesseln.“ Ferris Tucker nickte und setzte mit einem riesigen Satz dem Kapitän nach, der sich bereits auf dem Achterkastell des Spaniers mit einem Don duellierte und die Klingen kreuzte. Hasard schleppte den bewußtlosen Gordon Brown zum Besanmast, hievte ihn dort hoch und band ihn fest. Dann hob er das Fleischermesser auf, betrachtete es kopfschüttelnd und stieß es über dem Kopf von Gordon Brown in das Holz des Besanmastes. Neben ihm tauchte plötzlich das Bürschchen auf und drückte ihm einen Kurzsäbel in die Hand. „Ich hab alles gesehen“, sagte Donegal Daniel O’Flynn. „Du hast es mal wieder allein geschafft. Aber ich hätte dir geholfen, wenn etwas schiefgegangen wäre. Entern wir jetzt den Don?“ „Wir beide?“
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„Wir beide“, sagte das Bürschchen und umklammerte das Entermesser. „Vorwärts“, sagte Hasard, setzte über die Reling und sprang auf das feindliche Achterdeck. „Arwenack!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn mit gellender Stimme und stürzte hinter dem Seewolf her. Der riesige Mann und der Junge aus Falmouth räumten zusammen mit dem Schiffszimmermann das Achterdeck des Spaniers auf. Für den Kapitän blieb kaum etwas zu tun - allenfalls das, die Übergabe des spanischen Captains entgegenzunehmen, der die Waffen streckte, als er nur noch allein auf dem Achterdeck kämpfte. Die Galeone hieß „Santa Barbara“ und hatte Gewürze und chinesische Seidenstoffe geladen. Sie hatte Amerika umsegelt, die Kanarischen Inseln umgangen und wollte die Azoren anlaufen. Die Männer der „Marygold“ hatten wie Wölfe gewütet. Es gab nur einen Gefangenen, den Captain. Der andere Captain erhielt Gesellschaft. Francis Drake befahl seiner Mannschaft, sich auf dem Mitteldeck der „Marygold“ zu versammeln. Er winkte Hasard zu, mir ihm aufs Achterdeck zu kommen. Erstaunt sahen die Männer den an den Besanmast gefesselten Gordon Brown, über dessen Kopf ein Fleischermesser im Holz steckte. Gordon Brown war wieder bei Besinnung und blickte sich mit irren Augen um. Er lallte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf mit den Schmierigen Haaren. Der Kapitän trat an die Zierbalustrade, deutete mit ausgestrecktem Arm auf den gefesselten Mann und sagte: „Seht ihn euch an, Männer der ,Marygold`. Er hat das Schändlichste versucht, was ein englischer Seemann tun kann. Er hat versucht, mich, den Kapitän dieses Schiffes, zu ermorden.“ Ein dumpfes Murren stieg aus den Kehlen der Männer. „Ein Mann hat diesen Mordversuch verhindert“, fuhr der Kapitän fort, „jener, den ihr den Seewolf nennt. Ich hatte ihm
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den Auftrag erteilt, den mysteriösen Dingen, die an Bord der ,Marygold` passiert waren, nachzugehen. Wie es scheint, hat er diesen Auftrag erfüllt. Bitte, Mister Killigrew, äußern Sie sich dazu.“ Hasard trat an die Balustrade und blickte zu den Männern hinunter, die ihn mit offenen Mündern anstarrten. Ruhig erklärte er: „Es ist, wie der Kapitän sagt. Aber es ist nicht alles. Vor sechs Tagen belauschte ich nachts ein Gespräch, das Gordon Brown und ein anderer Mann in der Kombüse führten. Dieser andere Mann war jener, der von euch der ‚Taubstumme’ genannt wurde. Er war weder taub noch stumm, sondern sehr gesprächig. Er nannte Gordon Brown ,Amigo`…“ Der Kapitän fuhr herum. „Ein Spanier?“ „Jawohl, Sir, ein Spanier. Er hatte von der spanischen Krone den Auftrag, Sie zu ermorden. Gordon Brown wurde von ihm mit Golddublonen bestochen.“ „Das ist ja ungeheuerlich“, murmelte der Kapitän. „Er hatte den Plan“, fuhr Hasard fort, „diesen Mord während eines Enterkampfes zu begehen - so wie er es heute versucht hat. Bei unserer ersten Prise war ihm das mißlungen, weil ein eigentlicher Kampf nicht stattfand. Daraufhin beschloß der Spanier, auf andere Weise vorzugehen. Zuerst entleerte er die vier Wasserfässer in der Vorpiek - zusammen mit Gordon Brown. Dabei wurden sie von John Johns überrascht. Der Spanier erstach ihn. Die Sache mit der Ratte geht allerdings allein auf das Konto Gordon Browns. Als nächstes kerbten sie den Bugspriet an. Das Leck wiederum war das Werk des Spaniers. Gordon Brown war dabei insofern Helfershelfer, als er aus der Werkzeugkiste von Ferris Tucker den Holzbohrer entwendete. Der Versuch, das Schiff zu versenken, schlug fehl, wie ihr alle wißt. Wahrscheinlich begriff der Spanier zu diesem Zeitpunkt, daß er auf diese Weise nicht weiterkam. Die Gefahr einer Entdeckung war zu groß. Er kehrte zu seinem ursprünglichen Plan zurück. Tatsächlich passierte ja auch von diesem
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Zeitpunkt ab nichts mehr. Aber heute war der Tag, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich brauchte weiter nichts zu tun, als Gordon Brown und den Spanier zu beobachten, Ihr Anschlag auf den Kapitän ist mißlungen.“ Eine fast atemlose Stille folgte. Die Blicke, die an Hasard gehangen hatten, wanderten zu dem gefesselten Mann und wurden mörderisch. „Ich - ich bin unschuldig!“ schrie Gordon Brown. „Der Spanier hat mich dazu gezwungen. Er wollte mich ermorden, wenn ich ihm nicht gehorchte!“ Hasard glitt zu ihm und griff ihm von oben ins Hemd. Er zog einen Lederbeutel hervor, riß ihn vom Hals des schreienden Mannes, öffnete ihn und fischte eine goldene Münze heraus. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er sie hoch. „Der Judaslohn“, sagte er ruhig. „Er wurde keineswegs gezwungen, sondern bestochen.“ „Mein Geld!“ schrie Gordon Brown. „Gib mir mein Geld, du verdammter Hund! Es gehört mir, mir, mir ...“ Hasard warf ihm den Beutel ins Gesicht und wandte sich angewidert ab. „Profos!“ sagte der Kapitän knapp und hart. „Walten Sie Ihres Amtes. Als oberster Gerichtsherr an Bord der ,Marygold` erkläre ich Gordon Brown der ihm zur Last gelegten Verbrechen für schuldig und befehle, ihn zu Tode zu bringen. Er soll an der Rah hängen.“ „Nein!“ schrie Gordon Brown. „Nein! Gnade! Ich bin unschuldig! Der Spanier hat mich verführt - ah ...“ „Du Stinktier!“ fuhr ihn der Profos an. „Du hundsgemeines dreckiges Stinktier! Jetzt stirb wenigstens wie ein Mann!“ Er band den brüllenden Gordon Brown los und stieß ihn zum Mitteldeck hinunter. Kräftige Fäuste packten zu. Sie fierten die Großrah weg, legten dem tobenden Mann eine Schlinge um den Hals, befestigten sie an der Nock und hievten die Rah hoch. Das Brüllen brach abrupt ab.
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Gordon Brown hatte seine Schulden bezahlt. Eine halbe Stunde später wurde er der See übergeben. Wasserfässer wurden an Bord der „Marygold“ gehievt. Ferris Tucker stieg mit einigen Männern auf die „Santa Barbara“ über, beseitigte die ärgsten Schäden und begann den vorderen Mast zu reparieren. Hasard wollte aufs Mitteldeck hinunterspringen und wurde von Francis Drake zurückgehalten. „Einen Moment, Mister Killigrew“, sagte er. „Da ist noch einiges zu besprechen.“ „Sir?“ Die grauen Augen blickten ihn durchdringend an. „Sie hätten mir bereits vor sechs Tagen melden müssen, was Sie gehört hatten.“ Hasard nickte. „Mag sein, Sir. Aber war das belauschte Gespräch ein Beweis? Zwei Aussagen hätten gegen meine Aussage gestanden - in dem einen Fall allerdings die Aussage eines ‚Taubstummen’ Diesen Mann hielten Sie für völlig unbescholten, wie Sie sich erinnern werden. Nein, ich wollte den ganz klaren Beweis. Darum wartete ich ab.“ „Und wenn es schiefgegangen wäre?“ Hasard lächelte seinen Kapitän mit jenem Charme an, der manche für frech hielten. „Sir, diese ,Wenns` existieren in meinem Wortschatz nicht.“ „Typisch“, sagte der Kapitän. „Sie sind ein frecher Kerl, Hasard. Sind Ihre Brüder auch so frech?“ „Nicht ganz“, erwiderte der Seewolf. Völlig unvermittelt sagte der Kapitän: „Mister Killigrew, Sie werden die „Santa Barbara“ nach Plymouth segeln.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Hasard fast automatisch, und dann erst begriff er im vollen Umfang, welchen Auftrag ihm der Kapitän erteilt hatte, und was das bedeutete. Er war nicht mehr der Mann im Vordeck, er hatte sich das Achterdeck erobert und würde ein Schiff als Kapitän führen.
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„Na?“ sagte der Kapitän und jenes versteckte Lächeln er schien in seinen Augen. „Danke, Sir“, sagte Hasard etwas lahm. „Jetzt bleibt Ihnen wohl die Spucke weg, wie?“ „Jawohl, Sir, absolut.“ „Endlich mal hab ich das letzte Wort“, sagte der Kapitän, und jetzt lächelten sich die beiden Männer an. „Haben Sie besondere Wünsche, wen Sie mit an Bord nehmen wollen, Hasard? Ich werde Ihnen fünfzehn Männer unterstellen. Reicht Ihnen das?“ „Das reicht, Sir. Ja, wenn ich Wünsche äußern darf — ich möchte Ferris Tucker und Ben Brighton, den Bootsmann mitnehmen. Außerdem Donegal Daniel O’Flynn, Blacky, Smoky und den Kutscher.“ Der Kapitän wiegte den Kopf. „Tucker und Brighton gebe ich Ihnen ungern. Aber vielleicht haben Sie recht,
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wenn Sie zwei erfahrene, zuverlässige Männer wünschen. Gut. Ich bin einverstanden. Suchen Sie auch die anderen Männer nach Ihrer Wahl aus. Sobald die ‚Santa Barbara’ wieder seeklar ist, trennen wir uns. Melden Sie sich in Plymouth bei Kapitän John Thomas, der alles Weitere regeln wird. Dann sollten wir uns wohl noch eine Seekarte ansehen, damit Sie wissen, wo wir jetzt stehen. Hat Sir John Sie auch in der Navigation unterwiesen?“ „Jawohl, Sir. Seine Ausbildung war perfekt.“ „Erstaunlich“, murmelte der Kapitän. Hasard folgte ihm in die Kapitänskammer. * Am Spätabend segelte die „Santa Barbara“ unter Führung Philip Hasard Killigrews, des Seewolfes, nordwärts. Das große Abenteuer begann...
ENDE