TERRA ASTRA 406
Der Fluch der Unsterblichen von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Menschendenker Vastabis – L...
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TERRA ASTRA 406
Der Fluch der Unsterblichen von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Menschendenker Vastabis – Leiter der Mutantenforschung. Bulgin – Er ist dazu verdammt, durch die Zeit zu treiben. Geau Fergeaulant und Meau Fergeaulant – Zwillinge mit dem Talent der Ideokinese. Georg Warner alias das Genie – Eine Gefahr für die Erde. Der Koloß – Meister der Mutanten. Viacenter – Ein Mutant mit katalytischen Fähigkeiten.
1. Sie war unsterblich wie alle Menschen – und ebenso erbärmlich. Denn die Unsterblichkeit lastete seit Jahrhunderten als Fluch auf ihnen, hatte den Frauen ihre Fruchtbarkeit genommen, den Männern ihre menschlichen Gefühle. Und sie alle verdankten der Unsterblichkeit die geistige Umnachtung! Sie hatten ihr Erinnerungsvermögen eingebüßt. Schon über 600 Jahre waren sie unsterblich, aber bei keinem Menschen reichte die Erinnerung weiter zurück als zwanzig Jahre. Je weiter die Geschehnisse in der Vergangenheit lagen, desto verschwommener lebten sie in ihnen. Die Unsterblichen wußten nicht mehr, wie es zu dieser verhäng-
nisvollen Entwicklung gekommen war. Sie lebten und haßten und vergaßen. Ja, und sie konnten auch sterben; auf vielerlei Arten. In den Ruinen und den undurchdringlichen Wäldern lauerten Tod und Verderben; Haß und Gewalt regierten und bezwangen alle jene, die nicht noch haßerfüllter waren und noch gewalttätiger. Und dann gab es noch die Vampire ... Die Erde war ins finsterste Mittelalter zurückgefallen. Der Aberglaube blühte. Die Menschen siechten dahin, lieb- und gefühllos. Aber ganz waren die reinen Gefühle nicht verschwunden. Sie glommen im Innern der Menschen. Kamen sie jedoch einmal zum Durchbruch, wurden sie verkannt und nährten den leidenschaftlichen Haß, der sich gegen jene richtete, die man für die Unsterblichkeit verantwortlich machte. Zu solchen Zeitpunkten scharten sich die Unsterblichen zusammen, vergaßen ihre eigenen unbedeutenden Händel und dachten nicht mehr an die Vampire – jene drohende Gefahr in ihrem Rücken. Die Unsterblichen stürmten dann die Festung der letzten Menschen! Aber noch war es nicht soweit. Es war Nacht, Hulga lag in der Höhle und schlief. Vor dem Eingang hatte sie ein Feuer angefacht, das die wilden Tiere und die Vampire fernhalten sollte. Ein Felsspalt sorgte für die nötige Luftzirkulation. Hulga hatte schon oft in dieser Höhle übernachtet; sie war gern hier, weil sie sich sicher fühlte. Sie war eine Jägerin. Vor zwei Tagen hatte sie einen Braunbären erlegt, jetzt schützte sein Fell sie vor der nächtlichen Kälte. Ihr kräftiger Körper war zusammengerollt, ihre knochigen Hände umspannten Pfeil und Bogen. Die Nacht ging ihrem Ende zu. Pünktlich wie eine Uhr würde Hulga um sechs erwachen. Sie erwachte früher. Nur eine Sekunde lang umflackerte das Feuer eine springende Gestalt – dann stand der Vampir auf zitternden Beinen in der Höhle. Er
witterte warmes, pulsierendes Blut. Jede weitere Vorsicht außer acht lassend, schrie er auf. Seine Hände formten sich zu Klauen und holten zum entscheidenden Stoß aus. Genau in diesem Augenblick traf ihn Hulgas Pfeil ins Herz. Ein, zwei Schritte taumelte er noch vorwärts und wirbelte um seine eigene Achse, dann fiel er und blieb reglos liegen. Hulga war nicht besonders betroffen von diesem Vorfall; solche Szenen erlebte sie beinahe jeden Tag. Aber dennoch gab es ihr zu denken, daß hier ein Vampir auf sie gestoßen war. Denn die Ausläufer der Voralpen wurden sonst von den Blutsaugern gemieden. Irgendein besonderer Umstand hatte den Vampir also in diese Gegend gelockt. Und ein Vampir kam selten allein. Hulga spürte eine seltsame, wenn auch nicht unbekannte Erregung in sich aufkommen. Sie kniff die Lippen fest zusammen. Ihr Blut begann schneller durch die Adern zu pochen; da waren sie wieder, die Verbitterung und der Haß, diese Gefühle, denen man sich kaum entziehen konnte. Schlaf würde sie keinen mehr finden, also machte sich Hulga auf den Weg. Sie bündelte das Bärenfell, trat das Feuer aus, schnallte Bogen und Köcher um und nahm ihre schwere Tasche auf. Als sie zum nächsten Bach kam, wusch sie sich Hände und Gesicht und griff instinktiv nach ihrem Messer, um es ebenfalls zu reinigen. Und erst jetzt kam ihr in den Sinn, daß sie es versäumt hatte, den Vampir zu köpfen. Nun war es zu spät, um dies nachzuholen. Wahrscheinlich hatte der Vampir den Pfeil schon ausgeschieden und war über alle Berge. Sie überquerte den Bach und suchte einen der ausgetretenen Pfade, dem sie folgte. Als sie den Kamm des letzten Hügels erreichte, kam die Sonne eben über den östlichen Horizont und zauberte ein eindrucksvolles Lichtmuster über das Ruinenfeld. Welch riesige Stadt mußte das einmal gewesen sein! Hulga versuchte, die Stadt vor ihrem geistigen Auge erstehen zu lassen, mit dem breiten, goldenen Strom, der sie in der Mitte teilte ... Aber es war nur ein schwacher
Versuch, denn der Haß und die Verbitterung erstickten jedes andere Gefühl im Keim. Ihre Mundwinkel zogen sich herab. Ja, in den Ruinen war neues Leben entstanden, schmutziges, erbärmliches Leben. Einige tausend Menschen hatten sich hier zusammengeschart, ihre Hütten gegen Mauerreste gebaut und dieses Ergebnis Stadt genannt. Die Stadt hatte auch einen Fürsten, der ihr den Namen Osteria gegeben hatte. Osteria lag günstig. Im Westen schützten die Hügel vor den Stürmen, und im Osten hielt der Strom die immer wieder heranstürmenden Barbaren ab. Südlich der Stadt lag fruchtbares Ackerland. Und noch tiefer im Süden ... Hulga atmete schwer, und sie unterdrückte den aufkeimenden Haß nur teilweise. Sie sah zu den schneeweißen Berggipfeln hinüber, die der morgendliche Nebel noch teilweise verbarg. Auf einem dieser Berge stand die Festung jener, die an all diesem Unglück schuld waren. Bis jetzt war die Festung uneinnehmbar gewesen, aber Hulga vertraute auf die Stärke und die Beharrlichkeit des Menschen und wußte: Eines Tages würde diese Festung fallen. Dann konnten die Unsterblichen aufatmen, sie würden frei sein von allem Zauber. Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zu den Ruinen hinunter. Die Stadt war bereits zu klein für die vielen Menschen, die aus allen Teilen des Kontinents hergekommen waren, dem Ruf zum Sturm auf die Hexenburg folgend. Sie kamen zu Pferd, mit eindrucksvollen Droschken und zu Fuß, in festlichen Gewändern und in Lumpen, hatten teure Waffen, aber auch nur primitive Keulen, waren Arme und Reiche, Ehrliche und Diebe, aber eines hatten sie alle gemeinsam – den Haß gegen die Hexer in den Bergen. Hulga erinnerte sich an den letzten Feldzug, der vor vier Wintern stattgefunden hatte, und lächelte. Osteria feierte ein rauschendes Fest. Als Hulga über die Zugbrücke in die Stadt kam, wurde sie mit hineingerissen in den Wirbel der Freude und Ausgelassenheit, trank aus Krügen, die ihr gereicht wurden, stimmte in Lieder ein und war beschwingt.
Endlich kam sie zu Bulgins Laden. Bulgin hatte das Geschäft erst vor drei Jahren übernommen, als der vorangegangene Besitzer einem Vampir zum Opfer gefallen war. Hulga verstand sich gut mit ihm, und weil er nie versuchte, sie bei einem Tauschgeschäft zu übervorteilen, trug sie ihre Felle immer hierher. Außerdem strahlte er eine seltsame Anziehungskraft aus. Als sie die Tür öffnete, zeigte ein Klingeln ihr Eintreten an. Der Laden war düster. Die vier Wände wurden von Stellagen eingenommen, die unter dem Gewicht der auf ihnen lagernden Dinge fast zusammenbrachen. Da waren rohe und gegerbte Felle übereinandergeschichtet, und alle nur erdenklichen Gebrauchsgegenstände füllten die Lücken. Ein Gerücht sagte, daß Bulgin gut ein Dutzend Schußwaffen in seinem Haus versteckt habe, die aber so gut verborgen seien, daß sie selbst von den Schergen des Fürsten bei einer Hausdurchsuchung nicht entdeckt werden könnten. Wie dem auch war, Hulga fühlte sich hier wohl – aber nur bis zu dem Augenblick, da ihr Blick auf einen präparierten Vampirkopf fiel, der in einer dunklen Ecke seinen Platz hatte. Sie konnte nicht sagen, warum sie sich fürchtete. „Bulgin?“ rief sie in die Stille hinein. Aber niemand antwortete ihr. Sie wartete noch eine Weile, dann schaute sie durch die angelehnte Tür in den hinteren Raum. Sie war noch nie hier gewesen, und vor Staunen blieb ihr der Mund offen, als sie die Leuchte von der Decke hängen sah, die ein freundliches, helles Licht verbreitete, ohne die geringste Rußentwicklung zu zeigen. Sie staunte weiterhin, als sie Dinge sah, die für sie keinerlei Bedeutung hatten, aber trotzdem faszinierend auf sie wirkten. Sie ergriff einen Spiegel, und als sie hineinblickte, erkannte sie, daß er nicht im mindesten verzerrte. Sie legte den Spiegel abrupt weg. Warum erschrak sie nur vor sich selbst? „Bulgin?“ Keine Reaktion. Dann sah sie die glatte Tür und hörte im selben Augenblick dahinter ein Geräusch. Noch einmal rief sie, aber es kam keine Antwort.
Entschlossen öffnete sie die Tür und blickte in einen Arbeitsraum, der ebenfalls von dem rauchlosen Licht ausgeleuchtet wurde. Weitere Einzelheiten erkannte sie nicht, denn sie starrte fassungslos auf das Phänomen. Mitten im Raum schwebte Bulgin. Er war körperlos hier und war es aber auch wieder nicht. Denn Hulga konnte durch ihn hindurchsehen. Jetzt machte er mit dem Arm eine Bewegung, als schiebe er einen Gegenstand beiseite, obwohl keiner zu sehen war. Seine Lippen formten Worte, die nicht zu hören waren. Hulga war zu keiner Bewegung fähig. Sie hätte schreien wollen, davonrennen oder irgend etwas anderes tun, aber sie stand nur da und sah, wie sich Bulgins Gestalt verdichtete. Dann verließ ihn die Kraft, die ihn in der Schwebe gehalten hatte. Er fiel auf den Boden und fing den Sturz elastisch ab. Endlich löste sich der befreiende Schrei aus Hulgas Kehle. Bulgin war ein Besessener! Blitzschnell griff sie nach ihrem Bogen und setzte einen Pfeil auf die Sehne. Der Pfeil löste sich und traf Bulgins Brust. Er taumelte einen Schritt zurück und streckte abwehrend die Hände aus, als Hulga ihn mit dem Messer ansprang. Gerade im letzten Augenblick konnte er den tödlichen Stoß abwehren. Es gab einige Sekunden lang ein stummes, aber erbittertes Ringen, bis es ihm gelang, ihr einen schweren Gegenstand über den Schädel zu schlagen. Keuchend starrte er auf die Bewußtlose, während er sich den Pfeil aus der schnell heilenden Wunde zog. Nachdem nur noch ein kleiner, blaßrosa Fleck von der Einschußstelle zeugte und Bulgin wieder bei Kräften war, setzte er die Bewußtlose auf einen Stuhl und band sie fest. Dann wartete er, bis sie zu sich kam. Sie schlug die Augen auf und wunderte sich darüber, warum er sie nicht getötet hatte. Ungestüm begann sie an ihren Hand- und Fußfesseln zu zerren, aber umsonst. Sie tobte, schrie und bedachte ihn mit
Schimpfworten. Nichts konnte ihn erschüttern. Er wartete, bis sie ermattet in den Sessel zurückfiel. Dann sprach er auf sie ein. Er sprach in Worten, die sie noch nie gehört zu haben glaubte, die sie aber dennoch verstand. Er ließ Bilder in ihrem Geist erstehen, Bilder einer traumhaft schönen Zukunft, einer glorreichen Vergangenheit und zeigte damit um so mehr die schreckliche Gegenwart auf. Er sprach von der Dummheit und zeichnete ein erbärmliches Bild des Unsterblichen. Sie lauschte gebannt, ohne zu wissen, daß er jene Gefühle in ihr wachrief, über die sie sich noch nie hatte klarwerden können. Und plötzlich löste er ihre Fesseln und gab ihr Pfeil und Bogen zurück. Sie war nicht fähig, ihre Waffe gegen ihn zu richten. „Kann es so nicht immer sein?“ fragte sie. „Warum ist die Welt so schrecklich, so ohne ... ohne ...“ „Ohne Liebe“, half ihr Bulgin weiter. „Liebe?“ „Ja, Liebe.“ Sie wiederholte das Wort. Es hatte eine magische Kraft. Sie saßen beim offenen Kamin, zwei Menschen, die versuchten, den Kerkern ihrer Welt für einige Zeit zu entgehen. Er führte sie, und sie folgte ihm bedenkenlos. „Beinahe hätte ich mir deinen Kopf geholt“, sagte Hulga schaudernd. „Jetzt weiß ich, daß ich es bereut hätte. Mir ist es egal, von welchem Dämon du besessen bist.“ „Sprich nicht so“, meinte er. „Wenn es mir nur gelänge, dich von deinem Aberglauben zu befreien. Aber ich weiß, es ist schwer. Mir ging es nicht anders, bevor ich meine Fähigkeit entdeckte.“ Sie zögerte, ehe sie fragte: „Welche Fähigkeit ist es, die dich befallen hat?“ „Eine Fähigkeit befällt einen nicht“, gab er geduldig zurück. „Eine Fähigkeit entwickelt man. Mich schaudert, wenn ich daran denke, daß Träger wertvoller Talente von den Menschen gejagt werden, ge-
hetzt bis in den Tod. Nur das Unverständnis unserer Zeit stempelt die Armen zu Teufeln, Hexen und Besessenen.“ „Und was kannst du?“ fragte sie ungeduldig. „Ich kann durch die Zeit gehen.“ Sie starrte ihn ungläubig an. Er versuchte, es zu erklären. „So wie du durch die Wälder streifst“, fuhr er fort, „oder von einem Haus zum anderen gehst, kann ich in die Vergangenheit gehen oder in die Zukunft. Viele Gegenstände in meinem Haus stammen aus der Vergangenheit. Hier bieten sich unerschöpfliche Möglichkeiten. Das rauchlose Licht, das du so bewunderst, habe ich ebenfalls aus der Vergangenheit geholt. Im Keller befindet sich ein Stromaggregat ... aber das sind doch nur leere Worte für dich.“ „Und was hast du aus der Zukunft geholt?“ „Nichts.“ Er biß sich auf die Lippen. „Wieso?“ Er war sehr ernst geworden. „Es ist eigentlich komisch. Ich glaube an die Zukunft, aber ich scheue mich, sie zu besuchen. Ich weiß nicht, weshalb ich Angst habe. Wahrscheinlich befürchte ich, daß sich meine Hoffnungen nicht erfüllen und die Zukunft noch grauer aussieht als die Gegenwart. Außerdem ist da noch etwas.“ „Was?“ „Ich beherrsche die ETP, die Extratemporäre Perzeption, nicht völlig, sie entgleitet mir manchmal, und ich erscheine ganz woanders, als ich eigentlich möchte. Ich habe auch Angst davor, daß ich einmal nicht mehr die Kraft für eine Rückkehr besitze.“ „Dann höre auf damit.“ Sie, sah ihn bittend an. „Das habe ich mir auch schon überlegt, aber ... Du wirst es nicht verstehen, warum ich weiterhin in der Vergangenheit forsche. Du hast nicht jene fröhlichen Menschen gesehen, die jedem neuen Tag voll Freude entgegensehen – wie sie leben! Ich glaube daran, daß dies alles nicht für immer verloren ist. Mein Talent könnte einem neuen Anfang dienen.“ „Wie sagtest du, heißt deine Krankheit?“
Nachsichtig lächelnd, antwortete er: „ETP. Extra-temporäre ...“ Sie winkte ab. „Dann meine ich etwas anderes. Jedenfalls sah ich einmal, wie sie einen Mann hinrichteten. Dieser Mann konnte die Gedanken anderer lesen. Stelle dir vor, es gäbe viele von solchen Gedankenlesern! Wie furchtbar, keine Gedankenfreiheit mehr zu haben! Ich kann es verstehen, wenn man Besessene tötet. Aber ...“ Sie sah ihn groß an. „Ich möchte nicht, daß dir etwas passiert.“ Sie unterhielten sich noch eine Weile über Dinge, die Bulgin in der Vergangenheit erfahren hatte. Hulga kam aus dem Staunen nicht heraus, aber er bemerkte, wie ihr Interesse immer mehr erlahmte. Plötzlich richtete sie sich kerzengerade auf. Ihre Augen glänzten fanatisch, als sie ihn fragte: „Wirst du morgen an meiner Seite kämpfen?“ Zögernd nickte er. „Ich danke dir. Deine Nähe wird mich stärken. Ich fühle es, diesmal werden wir die Hexenburg nehmen.“ Glücklich schlief sie auf seinem Schoß ein. Aber Bulgin würde nicht kämpfen. Er wollte in die Festung, um den Menschen darin seine Hilfe anzubieten. Denn er wußte, daß die Festungsbewohner an einer besseren Zukunft arbeiteten, und darin wollte er sie vorbehaltlos unterstützen. Drohend stand die Hexenburg auf dem Felsgipfel. Die Zinnen und Schießscharten waren wie ausgestorben. Nichts regte sich dahinter. Ein eisiger Wind pfiff um die mächtigen Mauern, Schnee wurde aus den Felsrinnen aufgewirbelt und trieb in glitzernden Wolken dahin. Zu Tausenden hatten sich die Unsterblichen um die Hexenburg geschart und starrten haßerfüllt zu den Türmen und Erkern hinauf. Sie warteten auf das Angriffszeichen. Nur mühsam bändigten sie ihre Ungeduld. Sie hatten keinen bestimmten Angriffsplan, niemand stand hinter ihnen, der ihnen eine Taktik beigebracht hätte, aber diese mangelnde Ausbildung wollten sie mit ihrer zahlenmäßigen Übermacht wettma-
chen. Sie hofften, daß sie die Hexenburg diesmal einfach überrennen würden. Die Bogenschützen waren bereit, die Nahkämpfer ebenfalls. Die drei Meter hohen Steinschleudern waren in Stellung gebracht. Beim Flakgeschütz wurden die letzten Vorbereitungen getroffen. Es war die Geheimwaffe der Umnachteten, von einem fernen Fürstentum zur Verfügung gestellt. Die einzige mitgelieferte Granate wurde eben in die Kammer geschoben. Es gab nur einen Kanonier, der mit der Bedienung des Geschützes vertraut war, und dieser wußte nicht, daß neben ihm ein gedungener Kopfjäger stand. Der Fürst, der das Geschütz geliehen hatte, wollte kein Risiko eingehen. Das letzte Licht des Tages verblaßte, um einer mondlosen Nacht zu weichen. Hulga lag in der vordersten Linie der Angreifer. Ihre Augen brannten vor Haß. Dort oben wohnten die Teufel, die jenes Leben zunichte gemacht hatten, von dem Bulgin schwärmte. Vielleicht gab es noch eine Chance, aber vorerst mußte die Hexenburg dem Erdboden gleichgemacht werden ... Die Unsterblichen schossen die Granate ab. Pfeifend durchschnitt sie die Luft, schlug gegen die Festungsmauer und explodierte in einem grellen Blitz. Metall wurde zerfetzt, Felsquader barsten, und als sich die Explosionswolke verzogen hatte, klaffte ein ausgezacktes Loch in dem meterdicken Wall der Festung. Dies war das Zeichen zum Angriff! Hulga stürmte los, mit gespanntem Bogen, von dem Loch in der Festung magisch angezogen. Sie erreichte es, sprang hindurch und – dann ließen die Festungsbewohner ihre Schrecken los. Hulgas Lungen füllten sich mit giftigen Gasen, sie taumelte und sank in tiefe Bewußtlosigkeit. Nun erwachte die Hexenburg zum Leben. Maschinengewehre ratterten, Granatwerfer schickten ihre Ladung hinein in den Nachthimmel. Die Unsterblichen fielen, von Kugeln und Granatsplittern getroffen. Wie leblos lagen sie eine Zeitlang da, aber nur so lange, bis die Regeneration ihrer Zellen abgeschlossen
war. Als wäre nichts Außerordentliches geschehen, standen sie wieder auf und warfen sich mit unvermindertem Eifer in die Schlacht. Nach einer Woche war der Kampf entschieden. Geschlagen, aber abreagiert, zogen sich die Unsterblichen zurück. Verzweifelt suchte Hulga nach Bulgin, sie fand ihn nicht. Tagelang wartete sie in seinem Laden auf ihn. Er kam nicht zurück. Noch vor Beginn der Schlacht war er in der Zeit zurückgegangen und in dem Zeitabschnitt angekommen, in dem die Burg noch nicht gestanden hatte. Bulgin kletterte durch die Schneeverwehungen zum Gipfelkreuz hinauf. Der Wind zerrte an ihm und schüttelte ihn durch. Zähneklappernd ließ er sich jetzt vom Zeitstrom in die Zukunft tragen. Bald hüllte ihn Düsternis ein, und er befand sich wieder innerhalb der Festungsmauern. Er ließ die Zeit langsamer ablaufen. Dann wollte er den Zeitablauf vollkommen stoppen, aber er versagte. Der Wille war da, aber nicht die Kraft. Mit panischem Schrecken erkannte Bulgin, daß er nicht mehr Herr über seine Fähigkeit war. Als hilfloses Menschenbündel hing er im Zeitstrom. Als seine Umgebung sah er einen Wehrgang. Ein Blinklicht fiel durch ein geöffnetes Fenster und tat seinen Augen weh. Erst nach einiger Zeit erkannte ‘er, daß es sich um den schnellen Wechsel von Tag und Nacht handelte. Mit letzter Anstrengung versuchte er, langsamer zu werden und sich dem normalen Zeitablauf anzupassen. Es gelang ihm tatsächlich. Er war allein im Wehrgang, aber er konnte ihn nicht tatsächlich betreten. Eine Tür öffnete sich, und ein Junge, der höchstens vierzehn Jahre alt sein konnte, kam in den Wehrgang. Er sah die flimmernde Gestalt, die in der Schwebe hing, und zog seine Pistole. Er gab nur einen Schuß ab, dann flüchtete er. Das Projektil ging durch Bulgin hindurch und schlug klatschend in die dahinterliegende Wand.
Bulgin war instinktiv zur Seite gewichen und – stieß gegen das Gipfelkreuz. Ihm war gleichzeitig warm und kalt. Die Luft im Wehrgang war wohltemperiert, um das Gipfelkreuz strich ein eisiger Wind. Als Bulgin die volle Wahrheit erkannte, vermeinte er im ersten Augenblick, wahnsinnig zu werden. Aber er konnte den emotionalen Schock ausgleichen, das rettete ihn. Die Wahrheit war niederschmetternd! Bulgin befand sich gleichzeitig in der Gegenwart und Vergangenheit! Er atmete kalte und warme Luft, berührte den glatten Wehrgangboden und stand im Schnee, und er sah die Festung und den nackten Berggipfel. Und er spürte, wie die Zeitströme die Energie aus seinem Körper sogen. Er mußte sich beeilen, wenn er die selbstgestellte Aufgabe noch bewältigen wollte.
2. Als Menschenkämpfer Hoervin vor der bewußten Tür stand, schlug sein Herz bis zum Hals. Seine Aufregung war verständlich, wenn man bedachte, daß er erst siebzehn war und vor zwei Wochen vom Dienst als Menschendiener suspendiert wurde, um der Kampftruppe zugeteilt zu werden. Er hatte eine spartanische Ausbildung seit dem zehnten Lebensjahr genossen, und ihm waren nie Bevorzugungen zuteil geworden. Aber heute war er sicher, daß er die Einladung des Superlativus einer Protektion verdankte. Zum erstenmal in seinem jungen Leben sollte er dem Superlativus gegenüberstehen. Dabei wußte Hoervin, daß einem diese Ehre erst zuteil wurde, wenn man zum Menschenwächter avancierte. Bis es mit ihm aber soweit war, mußten noch mindestens zwei Jahre vergehen.
Obwohl erfreut, verwirrte es ihn, daß man ihn in das „Heiligtum“ gerufen hatte. Er sprach sich Mut zu, als er, allein und verloren, auf dem mit bunten Mosaiken ausgelegten Gang stand. Seine Hand zitterte, er schluckte noch einmal, dann pochte er schüchtern gegen die hohe Eichentür. Lautlos schwang sie auf, und Menschendoktor Sylber stand in ihr. Sein Gesicht war ausdruckslos, und das in der Mitte gescheitelte Haar und die schmucklose, enganliegende Uniform gaben ihm eine strenge Würde. Ehrfürchtig senkte Hoervin die Lider, als ihn der Menschendoktor hereinbefahl. Stille und Dämmerlicht beherrschten den Raum. Nachdem sich Hoervins Augen an das fahle Licht gewöhnt hatten, sah er die reichverzierte, hölzerne Liegestatt, über die sich ein Gazedach spannte. Drei Schritte davor stand ein uralter, abgewetzter Kniestuhl. „Senke das Haupt vor deinem Superlativus“, kam die gedämpfte Aufforderung des Menschendoktors. Hoervin kniete auf dem Brett nieder und legte seine Stirn in den schalenförmigen Lederwulst. Er hoffte innigst, daß die vor kurzem einstudierten Bewegungen auch richtig von ihm ausgeführt wurden. Er zitterte immer noch ein wenig vor Aufregung. „Lassen Sie uns allein, Doktor“, kam eine schwache Stimme durch die Gaze. Dieser Aufforderung des Superlativus folgte ein diskretes Räuspern. Dann zeigte ein schwacher Luftzug an, daß die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Wieder herrschte die feierliche Stille, die nur durch die regelmäßigen Atemzüge des Superlativus unterbrochen wurde. „Zucht und Ordnung“, sagte der Superlativus. Hoervin hob den Kopf nicht, denn das wäre ein sträfliches Vergehen gewesen. Die schwache Stimme fuhr fort: „Während meiner dreißigjährigen Amtsperiode mußten sich meine Untergebenen daran halten. Ihr Gehorsam, verbunden mit einer ausgeklügelten Organisation, haben uns
sehr nahe an das Endziel gebracht. Kennst du die Prognosen, Kämpfer Hoervin?“ Hoervin hob den Kopf nicht, als er sagte: „Ja, Ehrwürden.“ Und ohne eine Aufforderung abzuwarten, zählte er die Prognosen auf. „Das erste Teilziel ist erreicht, wenn ein Raumschiff zur Venus fliegt; das wird sein im Jahre 710 Neue Ära. Das zweite Teilziel ist erreicht, wenn jener Erreger entdeckt ist, der die Unsterblichen in die Umnachtung verbannt hat; das wird sein im Jahre 800 Neue Ära. Das Endziel ist zweiseitig: Entweder können die Unsterblichen aus der Umnachtung gerettet werden, oder das reine, sterbliche Menschentum emigriert zur Venus; das wird sein in den unmittelbar folgenden Jahren des Datums 800 Neue Ära.“ „Ja“, sagte der Superlativus, „das sind die Prognosen, die im Jahre 200 aufgestellt wurden. Sie sind überholt. Denn wir schreiben erst das Jahr 633, und das erste Raumschiff zur Venus ist bereits unterwegs. Das sind achtzig Jahre, die wir gewonnen haben. Und die neuesten Prognosen zeigen, daß wir das Endziel oder eines der beiden Endziele in spätestens fünf Jahren erreicht haben. Schade, ich werde es nicht mehr erleben. Aber du schon. Du wirst dabei sein, wenn die Erde wieder erblüht und der Aberglaube der Vergangenheit angehört.“ Wieder herrschte Schweigen. Hoervin, der nur ein einfacher Soldat war und sich streng an die Menschengesetze hielt, spürte, daß das Verhalten des alten Mannes eine seelische Spannung in ihm schürte. Nein, ermahnte sich Hoervin, nenne ihn nicht alter Mann, er ist schließlich der Hüter der Menschen! „Ich habe immer gegen den Aberglauben angekämpft“, fuhr der Superlativus fort, „denn er ist eines der größten Übel.“ Plötzlich senkte sich der Tonfall der Stimme, wurde beinahe vertraulich. „Was weißt du über den Flug des Venusschiffs? Sylber, dieser Narr, sorgt sich um mein Leben, und um mich zu schonen, verschweigt er mir alles, was um mich vorgeht. Er widersetzt sich mir. Ist das nicht paradox? Ich bin sein Superlativus, und er ignoriert meine Befehle! Aber du kannst dir das nicht erlauben, hast du gehört?“
„Ich gehorche“, sagte Hoervin demütig, „aber ich habe keine Informationen, denn ich bin Soldat, nur Kundschafter.“ „Ja, natürlich.“ Der alte Mann verbarg seine Enttäuschung nicht. „Du hast keine Ahnung, daß du dich am Venusprojekt beteiligst. Du brauchst dich um nichts zu sorgen, was die Organisation anbelangt. Menschendenker Vastabis hat den nötigen Befehl schon erhalten. Es hängt jetzt alles von dir ab. Du wirst hart an dir arbeiten müssen, weil du bis jetzt Soldat warst und dich plötzlich den Wissenschaften widmen mußt. Aber du wirst es schaffen.“ „Ich danke, Ehrwürden.“ Hoervin war schockiert und angewidert. Sein ganzes Leben hindurch war er gedrillt worden, hatte Strafen hingenommen und war auch sonst den strengen Grundsätzen einer menschlichen Ausbildung treu geblieben. Nie hatte er im Sinne der Menschengesetze gesündigt – Zucht und Ordnung, das war für ihn keine leere Phrase gewesen. Und mit einemmal, von einer Sekunde zur anderen, war diese Welt für ihn zusammengebrochen. Wie sollte er noch seinen Glauben bewahren können, wenn sich der Superlativus, der als Inkarnation der Menschengesetze galt, als weicher, sentimentaler Greis entpuppte. Hoervin war verbittert und begann jene zu hassen, die dieses verwerfliche Lügengebilde für die junge Generation aufbauten. „Du wirst mein Erbe antreten“, sagte der Superlativus feierlich. Hoervin hörte ihm kaum zu. „Du wirst weise und gerecht sein, keine Kampfmaschine, wie bis jetzt.“ Der Alte wechselte wieder das Thema und sagte in verbindlichem Konversationston: „Du bist also einer der Kundschafter, die uns die Berichte über die Lage außerhalb der Festung bringen. Dann hast du sicher auch etwas über das Genie gehört.“ Hoervin haßte ihn jetzt. Von seinem Superlativus erhoffte man sich Machtbewußtsein und uneingeschränkte Strenge, aber keine Verbindlichkeiten. Die donnernde Stimme des Alten riß ihn aus seinen Gedanken.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ „Ja, Ehrwürden.“ „Dann sieh mich an und sage mir, was du über das Genie weißt!“ Nein! Hoervin bäumte sich auf; er glaubte nicht daran, daß er dies wirklich alles erlebte. Er träumte! „Sieh mich an!“ Die Stimme bebte vor Zorn. Hoervin hatte gehofft, der Alte würde diesen Befehl zurücknehmen, aber er hatte sich geirrt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Hüter der Menschen in die Augen zu sehen. Er hob den Kopf und sah mit verschwommenem Blick eine magere Hand, welche die Gaze zur Seite schob. Dahinter schimmerte weiß ein knochiges Gesicht, verrunzelt, unsagbar alt. „Und jetzt sage mir, was du über das Genie weißt“, forderte der schmallippige Mund. „Über das Genie selbst wissen wir nur wenig; es ist eine Mutation mit unbekannten Fähigkeiten“, schrie Hoervin ungehalten. „Aber es rottet die Unsterblichen zu einem Angriff auf unsere Festung zusammen ...“ Hoervin konnte es nicht mehr ertragen. Er konnte nicht mehr in die wäßrigen, unsteten Augen blicken. Er soll aufhören! Aber gnadenlos fragte der blutleere Mund: „Und?“ „Die mathematische Auswertung hat ergeben, daß unter der Führung des Genies die Festung fällt!“ Hoervin hatte diesen Satz wie einen Schrei hervorgestoßen. Er konnte den Anblick des Superlativus nicht mehr ertragen. Sollten sie ihn bestrafen; töten oder den Vampiren vorwerfen! Er sprang auf und rannte hinaus auf den Mosaikgang – gerade in die Arme des Menschendoktors. „Du hast ihm von dem bevorstehenden Angriff erzählt“, brüllte ihn Sylber an. „Wenn er stirbt, dann hast du ihn auf dem Gewissen.“ Hoervin riß sich verzweifelt los, rannte den Gang hinunter, die Bastion entlang, bis er in den Vorraum der Kemenate stolperte. Keuchend und schluchzend taumelte er in das Gemach seiner Mutter und barg
sein Gesicht in ihrem Schoß. Beruhigend strich sie mit ihren zarten Händen über seinen bebenden Kopf. „Es war schrecklich“, murmelte er. „Er hat zu mir wie zu einem Freund gesprochen, ungeachtet seines hohen Amtes. Ich rannte ganz einfach davon ... Was habe ich getan!“ Mutter Orvinia war erschüttert. Superlativus Phaneonis war immer rückhaltlos für Zucht und Ordnung gewesen, daß schon dem heranreifenden Kind die härteste Lebensschule zukommen müsse, um später aus ihm einen wertvollen Menschen zu machen. Diese Methode war sicher fruchtbar, wenn man sie mit der nötigen Zeit anwandte. Aber Orvinia wußte von Sylber, daß die Festung aufgegeben wurde, und wo sollte die Zeit hergenommen werden, um den jungen Menschen schonend die Wahrheit beizubringen? Man konnte nicht hingehen und ihnen sagen: „So, ihr habt lange genug auf Brettern geschlafen, seid genug bestraft worden, und nicht mehr der unbedingte Gehorsam ist eure Leitlinie fürs Leben, sondern das menschliche Einfühlungsvermögen macht euch zu wertvollen Mitgliedern unserer Gemeinschaft.“ An diesem plötzlichen Umschwung würden die jungen Männer unweigerlich zerbrechen, vielleicht nicht alle, aber ein Großteil. Und ausgerechnet ihr Sohn, Hoervin, war das erste Opfer. Sie versuchte zu retten, was noch zu retten war, dann müßte Sylber zu Rate gezogen werden. „Hat Phaneonis es dir nicht gesagt?“ fragte sie ihren Sohn. „Was gesagt?“ Sie seufzte. „Also weißt du es nicht. Vielleicht wärst du verständnisvoller, wenn er es dir gesagt hätte. Aber wahrscheinlich hatte er den Mut nicht dazu, er ist schon alt. Du mußt ihm verzeihen !“ Ungläubig richtete sich Hoervin auf und sah seiner Mutter in die Augen. Er zitterte. „Ich hätte dem Superlativus etwas zu verzeihen? Wie könnte ich mir so etwas herausnehmen!“ „Weil er dein Vater ist.“
* Menschendenker Riodar stand an der Nordbastion, nahe dem Scharwachturm, und blickte über die Zinnen hinunter auf die schneeverwehten Felsklüfte. Es war Sommer, aber das machte keinen Unterschied, denn hier oben herrschten immer winterliche Temperaturen. Von rechts kamen die schweren Schritte des Wachtpostens, der sich die Füße vertrat, anstatt hinter dem Maschinengewehr zu kauern. Aus dem Scharwachturm drangen die Stimmen der anderen Posten, die sich die Zeit bis zur Ablösung vertrieben. Riodar hatte die Wachmannschaft vor einer Woche verdoppeln lassen, denn obwohl aus dem zusammengetragenen Material hervorging, daß die Unsterblichen nicht vor drei Wochen angreifen würden, wollte man kein Risiko eingehen. Anfangs hatte Riodar nicht glauben wollen, daß die Situation so ernst war, aber als er die Berechnungen, die anhand der einlaufenden Informationen angestellt worden waren, eingesehen hatte, wußte er, daß sich dieser Angriff von allen anderen grundsätzlich unterschied. Ein Unbekannter hatte die Führung der Unsterblichen übernommen. Er nannte sich das Genie! Man hatte sich in der Menschenfestung den Kopf darüber zerbrochen, um was für ein Wesen es sich handelte. Aber es gab keine Einzelheiten über das Genie, und deshalb blieb seine Persönlichkeit im dunkeln. Nur die Unsterblichen erzählten sich phantastische Geschichten über dämonische Fähigkeiten und über eine scheinbar unbegrenzte Macht. Allein die Tatsache, das das Genie nicht von den Unsterblichen als Besessener verfolgt wurde, sprach für sich. Im Gegenteil, die abergläubischen Unsterblichen schlossen sich ihm noch an. Wahrscheinlich würden die Geheimnisse um das Genie nie gelöst werden. Das spielte auch keine Rolle mehr, denn es stand fest, daß
das Genie unstillbare Machtgelüste hatte und in der Lage war, die Festung zu nehmen. Das war niederschmetternd genug. Die Festungsbewohner hatten die Konsequenzen gezogen und bereiteten alles für die große Flucht vor; die Bastion der letzten Menschen befand sich im Aufbruch. War es ein Zufall oder der Fingerzeig eines gnädigen Gottes, daß man in diesem Augenblick der höchsten Not die Existenz einer anderen Festung festgestellt hatte? Dorthin würden die Bewohner der Menschenfestung flüchten. Sie würden all ihr Wissen mitnehmen und es dem Wissen der anderen Festungsbewohner hinzufügen. Dies konnte nur fruchtbar sein, und vielleicht würde man die Endziele noch schneller erreichen. Daß Superlativus Phaneonis Einspruch gegen die Flucht erhoben hatte, machte weiter nichts aus. Er würde bald sterben. Seine Gedanken waren schon wirr, und im Menschengesetz stand, daß er in diesem Zustand seiner Macht enthoben werden konnte. Riodar schritt über die Freitreppe hinunter. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln, als er sich dem Bunker inmitten des inneren Burghofs näherte. Ein Posten öffnete für ihn die schwere, metallene Tür und schloß sie wieder hinter ihm. Im Inneren des Bunkers führte ein Schacht mit einer Steigleiter ins technische Herz der Festung. Alle wissenschaftlichen Anlagen, die in drei Etagen aufgeteilt waren; und zweihundert Meter tiefer stand in einer natürlichen Höhle die Abschußrampe für das Venus-Schiff. Aber Riodar dachte nicht weiter daran, das ging ihn nichts an. Als Befehlshaber des Militärs würde er in der Festung zurückbleiben und den verzweifelten Kampf gegen das Genie aufnehmen. Was ging es ihn an, ob die Venus bewohnbar war oder nicht. Er erreichte die erste Etage. Als er an der geschlossenen Tür der Funkzentrale vorbeikam, verlangsamte er seinen Schritt. Er wußte, daß pausenlos Funksprüche an die zweite Menschenfestung gesandt wurden, aber auch das ging ihn nichts an. Ihn interessierte es auch nicht weiter, daß sich bereits fünf Planwagen auf dem Weg zur ande-
ren Festung befanden; auch mit ihnen stand man in Funkverbindung... Riodar hatte andere Aufgaben. Er gehörte zu jener kleinen Gruppe von Menschendenkern, die der jungen Generation über die Hürden der militärischen Ausbildung hinweghelfen sollte. Ein beinahe aussichtsloses Unternehmen. Er schritt den Gang entlang, bis er vor einer Tür stand. Er öffnete sie lautlos und trat in das dahinterliegende Dunkel. Riodar setzte sich in die hinterste der fünf Stuhlreihen und versuchte, den Geschehnissen zu folgen, die auf einem drei mal zwei Meter großen Bildschirm abrollten. Es war eine Direktübertragung von der Behandlung Hoervins durch Doktor Sylber. Über einen getrennten Bildschirm liefen die Symbole für das Archiv. Sie waren aber auch dafür gedacht, daß die Beobachter im Vorführraum mitschrieben und Vergleiche mit den Erfahrungen aus ihren eigenen Praktiken zogen. Riodar schrieb nicht mit. Er lehnte sich bequem zurück und konzentrierte sich auf die Geschehnisse auf dem Bildschirm. Der junge Hoervin saß Sylber in einem weichen Polstersessel gegenüber. Er fühlte sich sichtlich wohl in der gemütlichen Atmosphäre, und seine Augen begannen zu flackern, während er dem Psychoanalytiker antwortete. „Natürlich verabscheue ich ihn. Es macht keinen Unterschied, daß er mein Vater ist.“ „Ich will dir das Recht auf Haß nicht absprechen.“ Sylber machte eine Pause, in der er nach einem Kästchen griff, dem er eine Zigarette entnahm. Nachdem er sie entzündet hatte, sagte er durch den aufsteigenden Rauch: „Du hast noch nie geraucht, oder?“ „Nein.“ „Hast du gewußt, daß Unsterbliche auch nicht rauchen? Allerdings kennen wir den Grund dafür nicht. Jedenfalls rauchen sie nicht. Nur wir Sterblichen tun es und verkürzen unser ohnedies zu kurzes Le-
ben. Man könnte sagen, daß wir dem Sensenmann damit noch entgegenkommen.“ Sylber lachte und betrachtete dabei sein jugendliches Gegenüber. Hoervin blieb ernst. „Du hast für schwarzen Humor nichts übrig?“ fragte er dann. Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Nein, du bist gänzlich humorlos. Du bist auch überhaupt nicht tolerant. Glaubst du mir, daß das Fehlen dieser beiden Eigenschaften schuld an deiner Angst ist?“ „Ich bin nicht ängstlich“, brauste Hoervin auf. „Sei still“, wies ihn der Psychoanalytiker barsch zurecht. „Bist du dir darüber im klaren, daß du eben gegen ein grundlegendes Gesetz verstoßen hast? Widerspruch gegen einen Akademiker! Aber ich sehe einstweilen von einer Bestrafung ab. Vielmehr will ich dir beweisen, daß du mindestens bei einer Gelegenheit Angst gezeigt hast. Abgesehen davon hast du allein Angst davor, Angst zu zeigen! Erinnerst du dich eines Vorfalls vor knapp drei Jahren, als du vom Wachdienst zurückkamst und in einem Korridor plötzlich einer flimmernden Gestalt gegenüberstandest? Warum hast du sofort geschossen?“ Hoervin war blaß geworden, seine Gesichtsmuskel zuckten. „Doch nicht aus Angst“, gab er verzweifelt zurück. „Es war eine außergewöhnliche Situation, und wie mir später erklärt wurde, gab es in der Festungsgeschichte kein ähnliches Phänomen.“ „Das erklärt nicht, warum du geschossen hast!“ Etwas ruhiger antwortete Hoervin: „Ich habe eben sehr schnell reagiert und bin dafür auch gelobt worden.“ „Angstreaktion!“ Sylber sagte es ironisch. „Du hast geschossen, weil du den Kopf verlorst. Deine Handlungsweise hätte fatale Folgen haben können. Wenn Bulgin materialisiert wäre, hätte ihn deine Kugel getroffen, und wahrscheinlich hättest du ihn anschließend kurzerhand getötet. Ohne Bulgin wäre es uns nicht möglich gewesen, das Venusschiff in dieser kurzen Zeit zu bauen, ja, vielleicht wäre es überhaupt nicht möglich gewesen. Er hat uns aus der Vergangenheit sämtliche Pläne beschafft.“
„Das konnte ich damals nicht wissen“, verteidigte sich Hoervin. Riodar verzeichnete befriedigt: Hoervin verliert immer mehr von seiner anerzogenen Disziplin. Auch Sylber war sichtlich zufrieden. Schneidend sagte er: „Du hättest zu diesem Zeitpunkt jedenfalls schon viel mehr Wissen haben können. Du warst vierzehn, seit einem Jahr hattest du also schon die Möglichkeit, Schulstunden zu nehmen. Hättest du davon Gebrauch gemacht, dann wäre dein Allgemeinwissen viel größer gewesen und dadurch auch die Angst vor dem Übernatürlichen viel kleiner.“ „Ich habe mich nicht gefürchtet!“ „Doch, es war eine ganz primitive Angst.“ „Nein, nein !“ Sylber schöpfte tief Atem, dann bellte er: „Dein Gehorsam läßt sehr zu wünschen übrig. Du widersprichst immer wieder, selbst bei Dingen, die ich dir eindeutig beweise. Es hat den Anschein, als seist du der Meinung, daß ich ein Lügner bin.“ „Ich widerspreche absichtlich“, schrie Hoervin. „Ich erniedrige Sie beinahe mit jedem Wort, aber Sie lassen es sich gefallen. Warum geben Sie mir nicht die gebührende Strafe? Verstehen Sie, ich suche nach der Würde! Aber die gibt es anscheinend nicht mehr. Bis gestern wurde mir eingehämmert, welche Zucht und Ordnung in unserer Welt herrschen und daß wir ohne sie nicht bestehen könnten. Dieser Meinung bin ich auch. Jetzt sehe ich, daß unsere Führung verweichlicht ist. Ihr seid alle feige, sterbende Greise, und nur deshalb haben wir gegen das Genie keine Chancen ... Was muß ich Ihnen denn noch alles sagen, bis Sie mich bestrafen?“ „Nichts mehr“, meinte Sylber trocken. „Du wirst bestraft. Jetzt gehe.“ Der Bildschirm zeigte eine Großaufnahme von Hoervins Gesicht: hektische Flecken, funkelnde Augen, aber die verbissene Miene wich einer ungläubigen Ratlosigkeit. Hoervin erhob sich und verschwand aus dem Blickfeld. Nachdem er gegangen war, erschien Sylber auf dem Bildschirm. Er blickte genau in die Optik, und es hatte den An-
schein, als sehe er die unsichtbaren Zuschauer im Vorführraum direkt an. „Meine Herren“, sagte er mit überlegenem Lächeln, „vielleicht haben Sie erkannt, daß ich Hoervin absichtlich nichts über die Art und den Zeitpunkt der Bestrafung gesagt habe. Er gehört zu den Schablonen-Typen, deshalb möchte ich ihn durch die Ungewißheit zum Nachdenken zwingen. Bei ihm wird sich das als fruchtbar erweisen. Sie werden auch bemerkt haben, daß ich verschiedene Argumente dermaßen konstruierte, daß ihm überhaupt nichts anderes übrigblieb, als zu widersprechen. Aber ich möchte Sie davor warnen, diese Methode immer und überall anzuwenden. Jetzt zu der Art der Bestrafung. In Hoervins Fall muß sie so ausfallen, daß er sie in dieser Form nicht erwartet hätte. Natürlich würde er am wenigsten annehmen, wieder der kämpfenden Truppe zugeteilt zu werden, denn das wäre in seinen Augen keine Bestrafung. Aber genau das werde ich tun, und er wird sich fragen, warum ich es tue. Und egal, wie er seine Versetzung aufnimmt, im Endeffekt wird sich eine positive Reaktion zeigen. Bei Hoervin schon, glauben Sie mir. Nun wünsche ich Ihnen noch viel Glück bei Ihren Fällen. Meine Herren ...“ Er hob die Hand zum Gruß. Der Bildschirm wurde dunkel, und im Vorführraum ging das Licht an. Riodar war überzeugt, daß Sylber mit Hoervin Erfolg haben würde. Aber wie stand es mit den anderen? Er selbst hatte über zwanzig Burschen zwischen zwölf und achtzehn Jahren, denen er einen neuen Lebensinhalt geben sollte. Und nicht genug, daß ihm nur eine ganz kurze Zeitspanne zur Verfügung stand, war er im Umgang mit Menschen lange nicht so wendig wie Sylber. Plötzlich wurde er sich bewußt, daß alle anderen den Vorführraum schon verlassen hatten. Gedankenschwer erhob er sich und ging hinaus auf den Gang. Er achtete nicht auf den Weg und wäre beinahe mit Menschendenker Vastabis zusammengestoßen. Riodar lächelte
entschuldigend. Vastabis sagte: „Sie waren doch bei der Vorführung? Macht Sylber Fortschritte?“ Riodar war überrascht, daß ihn der Leiter der Mutantenforschung ansprach. Vastabis war ein fähiger Kopf, das konnte man nicht leugnen, aber Riodar mochte ihn seiner Überheblichkeit wegen nicht. Jetzt, wo ihm das Venusprojekt mehr oder weniger ebenfalls unterstand, war überhaupt nicht mehr mit ihm zu reden. Überhaupt waren die Mutantenforscher ein eigener Menschenschlag, sie zogen sich von den anderen zurück und waren durchwegs arrogant. Natürlich bildeten sie sich etwas darauf ein, daß sie der wichtigsten Abteilung innerhalb der Festung angehörten, aber deshalb rann noch lange kein blaues Blut durch ihre Adern! „Seit wann interessiert Sie meine Meinung?“ fragte Riodar schroff. „Warum denn so giftig?“ Riodar bereute seine ablehnende Art, deshalb sagte er versöhnlicher: „Wahrscheinlich halten meine Nerven diese dauernde Belastung nicht aus. Ich glaube, ich könnte selbst Sylbers Hilfe gebrauchen. Bei Hoervin macht er die Sache gut, er kommt rasch vorwärts.“ „Wird er es mit ihm schaffen?“ „Ich bin überzeugt! Wieso interessieren Sie sich eigentlich für Hoervins Behandlung, Vastabis?“ Der Mutantenforscher zuckte die Schultern. „Ich habe so eine Ahnung, daß Sylber mit Hoervin etwas ganz Besonderes vorhat. Ist aber belanglos.“ Damit kehrte er Riodar den Rücken und verschwand in der Funkzentrale.
3. Menschendenker Vastabis wurde von Riodar zu Unrecht als überheblich bezeichnet. Es stimmte schon, daß er mit den Männern aus den
anderen Abteilungen wenig Kontakt pflegte, aber das lag daran, daß er sehr menschenscheu war und sich außerdem mit Problemen herumschlug, die eindeutig über Riodars Horizont gingen. Und für harmlose Konversation fehlte Vastabis ganz einfach die Zeit. Er war nun nicht nur der Leiter der Mutantenforschung, also jener Abteilung, die sich mit den Abnormitäten der Unsterblichkeitsbehandlung befaßte, sondern ihm unterstand auch zu einem großen Teil das Venusprojekt. Er war zwar nicht der Initiator des Venusprojekts – er war kein Techniker –, aber er hatte dem Projekt die ideokinetischen Zwillinge zugeteilt, und auch Bulgin, der ETP-Mann, der den Großteil der Pläne aus der Vergangenheit geholt hatte, gehörte zur Mutantenforschung. Eigentlich war Vastabis immer in Eile, und jetzt, wo der vernichtende Angriff des Genies bevorstand, kam er kaum zum Schlafen. Die Menschenfestung befand sich im Aufbruch, und Vastabis mußte Vorbereitungen für die Flucht seiner Abteilung treffen. Dazu gehörte es auch, daß er sich über die Erfahrungen der anderen in den Planwagen informierte. Deshalb war er sehr oft in der Funkzentrale anzutreffen. Als er die Funkzentrale jetzt betrat, herrschte die übliche hektische Betriebsamkeit, die seit einer Woche nicht unterbrochen worden war. Vier Funker saßen hinter den weitreichenden Geräten, die pausenlos das Archivmaterial der Menschenfestung hinaus in den Äther sandten. Irgendwo im Süden, zweitausend Kilometer entfernt, stand die Festung II, welche die Funksprüche aufnahm und den eigenen Archiven einverleibte. Auf diese Weise würde das Wirken und Schaffen der Festung I erhalten bleiben, obwohl die Festung selbst aufgegeben wurde. Abseits von den vier Funkanlagen stand ein kleineres Sprechfunkgerät, mit dem man den Kontakt zu den Planwagen aufrechterhielt, die sich hinaus in die Hölle der Unsterblichen gewagt hatten.
„Was Neues?“ fragte Vastabis den Mann am Sprechfunkgerät. Er nahm die Hörer ab und wandte sich um. Menschenwächter Boleon war noch jung, kaum zweiundzwanzig, hätte aber wirkliche Chancen gehabt, in etwa zwei Jahren den akademischen Titel eines Menschenführers zu erlangen, wenn nicht... Boleons Stirn umwölkte sich. „Wagen vier kam von der Route ab“, sägte er. „Sie konnten noch durchgeben, daß plötzlich ein Vampirrudel auftauchte. Danach hatte ich keine Verbindung mehr.“ Vastabis blieb äußerlich ungerührt, „Und die anderen Wagen?“ „Wagen eins und drei haben zusammen ein Nachtlager am Ufer eines Sees aufgeschlagen“, erklärte Boleon. „Ungefähr vierhundert Kilometer von uns entfernt, südwestlich; der See ist auf der Karte verzeichnet. Bis jetzt gab es noch keine besonderen Schwierigkeiten – eine interessante Route jedenfalls. Während Wagen zwei die Fünfhundert-Kilometer-Grenze vor einer Stunde überschritten hat, meldete Wagen fünf einen Defekt an der Hinterachse. Die Leute arbeiten seit drei Stunden daran. Mit den Unsterblichen hatten sie keine unangenehme Berührung.“ Vastabis nickte und meinte dann: „Wagen zwei müßte das Meer doch eigentlich bald errreicht haben?“ „Sie hoffen, daß es noch vor dem Morgengrauen soweit ist.“ Bevor Vastabis die Funkzentrale verließ, riskierte er noch einen Blick auf die Landkarte, die den ganzen Kontinent zeigte und eine halbe Wand einnahm. „Es gibt noch viel zu viele weiße Flächen auf dieser Europakarte“, meinte Vastabis bedrückt, „hoffentlich ändert sich dies, wenn erst fünfzig Wagen unterwegs sind.“ Wie viele Ausfälle würde es noch geben? Auf der Karte war bereits der erste Gefahrenpunkt rot markiert, jene Stelle, an der Wagen vier vermißt wurde. Kaum betrat Vastabis den Gang, da begann die Sprechanlage zu plärren.
„Menschendenker Vastabis bitte sofort in die Mutantenforschung, Geau Fergeaulant hat den Persönlichkeitswechsel vorgenommen ...“ Er hatte den Aufruf kaum zu Ende gehört, als er plötzlich rannte, über die schmale Treppe hinunter hastete, zur Mutantenforschung, die sich in der untersten der drei unterirdischen Etagen befand. Er steuerte geradewegs auf Geau Fergeaulants Kabine zu. Vastabis hatte eine unbeschreibliche Wut. Als er die Kabine betrat, lag der Körper Geau Fergeaulants bewegungslos auf dem Bett – welcher der beiden ideokinetischen Zwillinge sich auch jetzt in diesem Körper befand, er schlief. Daneben saß Menschenleiter Malbros auf einem Stuhl und blickte mit nervösem Zwinkern zu Vastabis auf. „Was hat das zu bedeuten, Geau Fergeaulant habe den Persönlichkeitswechsel vorgenommen?“ polterte Vastabis los. „Sie wissen doch, daß durch diese Eigenmächtigkeit das Venusprojekt in eine ernsthafte Krise treten kann. Wozu sitzen Sie hier, wenn Geau trotzdem macht, was er will?“ Vastabis’ Zorn kam nicht von ungefähr, er war begründet. Die Zwillinge Geau Fergeaulant und Meau Fermeaulant waren die wichtigsten Objekte der Mutantenforschung. Das lag nicht allein daran, daß sie das Talent der Ideokinese besaßen – also ihre Persönlichkeiten untereinander tauschen konnten –, sondern sie trugen auch einen Immunitätsstoff in sich, der ungeahnte Möglichkeiten eröffnete. Die beiden ideokinetischen Zwillinge waren unsterblich, aber nicht wie die anderen Unsterblichen von der Umnachtung betroffen. Sie hatten eine lückenlose Erinnerung an die letzten hundert Jahre. Wenn es Vastabis nun gelang, diesen Immunitätsstoff, der die Zwillinge vor dem Degenerieren bewahrte, zu entdecken, dann würde es wahrscheinlich auch bald eine Möglichkeit geben, ihn auf andere Unsterbliche zu übertragen. Damit wäre der Weg zur echten, vollkommenen Unsterblichkeit geebnet und das Endziel der Festungsmenschen erreicht.
Trotz dieses Umstands; der die Zwillinge zum wertvollsten Mittel im Kampf gegen die Umnachtung machte, hatte Vastabis eingewilligt, einen von ihnen zur Venus zu schicken. Denn Geau und Meau waren auch für das Venusprojekt unersetzlich. So wertvolle Arbeit Bulgin beim Bau des Venusschiffs auch geleistet hatte, soviele Anregungen er auch aus der Vergangenheit brachte, sie ließen sich nicht alle verwirklichen. Die Festungsbewohner waren mit ihren Möglichkeiten in einen bestimmten Rahmen gepreßt, den sie in dieser kurzen Zeitspanne nicht sprengen konnten. Deshalb gelang es ihnen nur, ein Schiff zu bauen, das die 110 Millionen Kilometer zur Venus überbrücken konnte, aber nicht genügend Treibstoff faßte, um auch den Rückflug zu bewerkstelligen. Hinzu kam noch, daß die Fernkontrollen nicht auf diese Distanz ansprachen und auch kein Funkkontakt möglich war. Es war demnach ein Flug ohne Rückkehr, und das Raumschiff hatte auch keinerlei Verbindung mit der Festung. Die einzige Möglichkeit, um Genaueres über die Beschaffenheit der Venus zu erfahren, war, einen der ideokinetischen Zwillinge auf den Flug zu schicken, der dann in den Körper seines Zwillingsbruders – der auf der Erde zurückblieb – überwechselte und von dem man dann die Daten über die Venus erfuhr. Das war ein großes Opfer gewesen, denn für den einen Zwilling gab es keine Rückkehr zur Erde. Er konnte nur hoffen, daß das Siedlerschiff schnellstens gebaut wurde und er bald Gesellschaft bekäme. Und sie alle konnten nur hoffen, daß die Venus für den Menschen bewohnbar war. In diesem Punkt war Vastabis zuversichtlich. Im Augenblick ärgerte er sich darüber, daß gegen die einfachsten Vorsichtsmaßnahmen so grob verstoßen wurde. Meau Fermeaulant befand sich im Venusschiff, und es war klar, daß nur er den Persönlichkeitswechsel vornehmen konnte. Bevor Malbros noch etwas gegen die Vorwürfe seines Vorgesetzten einwenden konnte, schlug Geau Fergeaulant die Augen auf.
„Warum regst du dich auf, Vastabis“, murmelte er. Wahrscheinlich hatte er mitgehört. „Ich habe von mir aus nichts unternommen. Noch nicht! Es war bloß eine Idee.“ „Schlage dir solche Ideen künftig aus dem Sinn“, wandte sich Vastabis aufgebracht an ihn. „Du hast nur passiv abzuwarten ...“ Geau Fergeaulant winkte ab. „Ich weiß, ich weiß. Vorsichtsmaßnahme. Meau könnte gerade zur Landung ansetzen oder sonst eine heikle Sache unternehmen, und wenn ich in dieser Situation seinen Körper übernehme, könnte dies verheerende Folgen haben, weil ich mich nicht gleich zurechtfinde. Das ist mir klar. Warum ich dennoch ungeduldig bin, wirst du bestimmt nicht verstehen. Meau ist mein Bruder, und ich sorge mich um ihn. Nach unseren Berechnungen müßte er schon gelandet sein, und er hat die Order, sofort nach der Landung den Wechsel vorzunehmen. Meau ist überfällig!“ Vastabis hatte sich wieder beruhigt. Da Geau nicht voreilig gehandelt, sondern nur mit dem Gedanken gespielt hatte, war ja nichts verloren. Er sagte eindringlich: „Laß solche Überlegungen. Wenn Meau etwas zugestoßen ist und sein Körper tot oder verwundet ist, dann kannst du auch nichts retten, indem du seinen Körper übernimmst. Das solltest du dir überlegen!“ Geau lächelte säuerlich, als er sagte: „Warum wird eigentlich solcher Wirbel darum gemacht? Schließlich habe ich nur eine gedankenlose Äußerung getan. So versessen bin ich eigentlich nicht, die Initiative an mich zu reißen. Malbros hat mich nicht einmal erklären lassen, daß ich es nicht so ernst meine. Kaum habe ich den Mund aufgemacht, da hat er auch schon Alarm gegeben.“ Vastabis sagte nichts. Auf ihnen allen lastete eine unerträgliche Spannung; es war ganz einfach zuviel, was da alles auf einmal über sie kam. Sie waren alle mit den Nerven herunter. „Schon gut“, sagte Vastabis nach einer Zeit und nickte Malbros zu. „Sollte sich etwas ereignen, dann bin ich in der Produktion zu erreichen.“
„Haben Sie etwas über Phaneonis’ Zustand gehört?“ fragte Malbros noch. „Soviel ich weis, hat er sich verschlechtert. Der Kardinal ist jederzeit für die letzte Ölung bereit.“ Dann ging Vastabis. Von den Mutantenforschern wurde jener Teil ihrer Abteilung die „Produktion“ genannt, in dem in terrarienartigen Glaskästen lebende Mutationen zu Beobachtungs- und Forschungszwecken gehalten wurden. Es handelte sich um eine lange Halle, deren eine Seite von den geräumigen Terrarien eingenommen wurde, denen die Schaltanlagen gegenüberlagen. Insgesamt gab es sechs Terrarien. In den ersten beiden waren zwei Vampire untergebracht. Sie litten an einer fremdartigen Anämie, gegen die es kein Gegenmittel gab und wurden durch regelmäßige Bluttransfusionen in einem einigermaßen gesättigten Zustand gehalten. Im nächsten Terrarium war ein „unwillkürlicher“ Metagnom untergebracht. Er besaß die Fähigkeit des Gedankenlesens, hatte sie aber weder unter seiner Kontrolle, noch konnte er sich ihr entziehen. Er mußte alle Gedanken, die in seinen Bereich kamen, herunterleiern und war durch einen unbekannten Umstand auch dazu verdammt, alles, was er hörte, in Bewegungen auszudrücken. Als Vastabis an ihm vorbeischritt, hörte er, wie die traumhafte Stimme seine eigenen Gedanken wiedergab: „... Verdammt, wenn mir noch ein Jahr geblieben wäre, ein jämmerliches Jahr, ich hätte es geschafft ... Bei meiner Mutter! ... Ich habe den negativen Erreger schon unter dem Mikroskop, oder so gut wie, und mit Hilfe der Zwillinge könnte ich ihn vernichten ...“ Im angrenzenden Terrarium stand ein kahlköpfiger Metagnom nahe dem elektrischen Maschendraht und beobachtete Vastabis wachsam. Er hatte seine Fähigkeit unter Kontrolle, und das machte ihn zu einem unheimlichen Wesen. Jedem, der in seine Reichweite kam, schleuderte er dessen Gedanken verzerrt entgegen.
„Das Genie kommt!“ brüllte der Kahlköpfige. „Das Genie wird die Hexenburg niederbrennen!“ Das nächste Terrarium war leer. Es war für Bulgin gedacht. Er hatte sich freiwillig als Versuchsperson gemeldet, war aber fast immer abwesend, und im letzten Jahr hatte ihn Vastabis höchstens viermal gesehen. Bulgin mußte dem Wahnsinn schon nahe sein, er hatte die Herrschaft über sein Talent bereits gänzlich verloren – seine ETPFähigkeit jagte ihn mit einem gespenstischen Wandertrieb durch die Zeit. Bulgin war machtlos dagegen. Der nächsten und letzten Anlage galt Vastabis’ ungeteiltes Interesse. Es war ein geschlossener Glasbehälter wie die anderen, aber doppelt so groß und mit viel mehr Bedienungsinstrumenten versehen. Das Terra-Aquarium! Hinter dem dicken Quarzglas war nicht viel zu erkennen, denn undurchdringliche Nebelschwaden wallten durch die Imitation einer subtropischen Landschaft. Das Quarzglas übertrug die Wärme, die im Terra-Aquarium herrschte, auf die äußere Atmosphäre und ließ die Luft rundum flimmern. Vastabis schwitzte, als er vor dem TerraAquarium stand. Irgendwo dort in dem dampfenden Brodem lag der Körper eines Unsterblichen, der sich in ständiger Umwandlung befand. Der Unsterbliche besaß die unkontrollierbare Fähigkeit der Zellmodulation; seine Zellen konnten sich jeder gewünschten Umgebung anpassen. Vastabis wurde immer von einer eigenartigen Erregung befallen, wenn er vor dem Terra-Aquarium stand. Er mußte immer daran denken, daß ein Wesen, dessen Zellen sich nicht nur hundertprozentig regenerierten, sondern sich auch den extremsten Bedingungen anpassen konnten, eine bemerkenswerte Ausgangsbasis für die Forschung mit umweltangepaßten Menschen war. Wenn man davon ausging, war es eigentlich egal, welche Beschaffenheit die Venus besaß. Mit der gezielten Anwendung der Zellmodulation konnte man sie auf jeden Fall besiedeln.
An den Instrumenten stand nur eine Bedienungsperson. Der Mann, ein Menschenführer, grüßte Vastabis und erstattete dann Bericht. „Im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden haben wir den Sauerstoffgehalt im Terra-Aquarium um zehn Prozent gesenkt. Der Proto hat es ganz gut vertragen. Wollen Sie ein Foto von ihm sehen? Ich habe es erst vor zehn Minuten geschossen.“ Auf dem Foto war ein Wesen abgebildet, halb Mensch, halb Schuppentier. Noch vor einer Woche, als sie das Terra-Aquarium mit Wasser überflutet hatten, hatte sich der Proto in eine durch Kiemen atmende Echse verwandelt. Ja, hier konnte es sich um den Prototyp des Venusmenschen handeln. Diese ständige Verwandlung, das Anpassen an die Umwelt, war beinahe unheimlich. Aber Vastabis sah dies nur mit den Augen des Wissenschaftlers. Darum fand er es schade, daß der Proto nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war. Vor vier Wochen hatten ihn Kundschafter in einem Fluß gefunden. Ohne irgendeinen Lebenswillen hatte er im Flußbett gelegen. Nun, Vastabis wollte den Proto mit zur anderen Festung nehmen. Er war noch in die Betrachtung des Fotos vertieft, als plötzlich die Alarmsirene durch die Halle gellte. Im gleichen Augenblick setzte der blutrünstige Schrei der Vampire ein. Im zweiten Terrarium schwebte Bulgins flimmernde Gestalt eineinhalb Meter über dem Boden. Der Vampir sprang ihn an, glitt durch ihn hindurch und prallte gegen den Maschendraht. Bulgin schritt ungerührt durch die Luft und kam ins nächste Terrarium. Der „unwillkürliche“ Metagnom gebärdete sich plötzlich ebenfalls wie wild. „Nein, nein“, schrie der andere Metagnom, der die unheilvolle Erscheinung Bulgins auf sich zukommen sah. „Verjagt ihn!“ Bulgin tastete sich mit den Händen an einem unsichtbaren Gegenstand entlang, der entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft lag. Seine Linke streckte sich weiter aus und hörte auf zu flimmern.
„Er schafft es“, murmelte der Techniker. Bulgins Linke berührte den Maschendraht innerhalb des Terrariums und zuckte zurück. Er muß einen elektrischen Schlag bekommen haben, dachte Vastabis. Bulgin lächelte. Plötzlich trat er durch das Quarzglas und – sackte zu Boden. Seine Körpermasse verdichtete sich, man konnte nur noch schwach hindurchsehen. Vastabis hatte die Veränderung bemerkt, die mit dem ETP-Mann vor sich gegangen war. „Bulgin, können Sie mich hören?“ schrie er aus Leibeskräften. Plötzlich herrschte eine unheimliche Stille in der Mutantenforschung. Bulgin lag auf dem Boden. Nur langsam hob er den Kopf und sah Vastabis voll an. Seine Lippen bewegten sich, aber es kam nur ein Krächzen über sie. „Er schafft es tatsächlich“, meinte wieder der Techniker. „Er kommt aus eigener Kraft zurück in die Gegenwart.“ Aber Bulgin, der diese Worte verstanden haben mußte, schüttelte nur bedauernd den Kopf. Man konnte die Anstrengungen von seinem Gesicht ablesen, die er machte, um den Einflüssen der Zeit zu entkommen. Endlich entspannte er sich. Lautlos bewegte er die Lippen. Aus dem Hintergrund kam die Stimme des Metagnomen. Er gab Bulgins Gedanken messerscharf wieder. „Schaffe es nie ... bin zu schwach. Es wird immer schlimmer ...“ Der Metagnom verlor sich in unverständlichem Geplapper. Nach einigen Sekunden ließ er sich zu Boden fallen und rezitierte Bulgins weitere Gedanken mit klarer Stimme: „Ich werde noch wahnsinnig. Eben noch war die Festung ein Trümmerhaufen, dann ... stand an ihrer Stelle eine gigantische Gedenktafel – alles Zukunft! Jetzt ... mein Gott, ich falle. Dort ist das Gipfelkreuz, ich schwebe in der Luft ...“ Der Metagnom verstummte. Bulgin verschwand. Vastabis, der den Atem angehalten hatte, zog ihn nun pfeifend ein. Armer Bulgin, dachte er noch, dann hörte er eine vertraute Stimme hinter sich sagen :
„Hat es lange gedauert?“ Vastabis wirbelte herum. Da stand Bulgin. Er stand beinahe mit der gesamten Masse seines Körpers in der Gegenwart, nur ein Teil von ihm flimmerte schwach und befand sich entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Er hat es doch noch geschafft! Aber die nächsten Worte Bulgins waren niederschmetternd und deckten die Wahrheit auf. Bulgin sagte lächelnd: „Ich glaube, wir schaffen den Bau des Raumschiffs noch rechtzeitig. Ich habe hier...“ Er unterbrach sich selbst, als er sah, wie sich Vastabis den schwindelnden Kopf hielt. „Was haben Sie?“ fragte Bulgin erstaunt. „Das Raumschiff ...“, stöhnte Vastabis. „Das Raumschiff ist wahrscheinlich schon auf der Venus gelandet!“ Bulgins Augen schimmerten traurig. Dann verschwand er lächelnd. Vastabis starrte noch lange auf die Stelle, wo Bulgin gestanden hatte. Er war in der Vergangenheit gewesen, hatte unter unvorstellbaren Schwierigkeiten wichtige Pläne für den Raumschiffsbau beschafft, nur um bei seiner Rückkehr festzustellen, daß er nicht den richtigen Zeitpunkt erfaßt hatte. Jetzt mußte er versuchen, in jener Zeit zu erscheinen, in der die Pläne noch gebraucht wurden. Wieviele solcher Niederlagen hatte Bulgin schon einstecken müssen? Vastabis konnte es nur ahnen. Es war Bulgins Fluch, daß er nicht mehr genügend Kraft besaß, um seine Zeitwanderungen unter Kontrolle zu halten. Er würde immer schwächer werden, bis nur noch ein schwaches Flimmern seine Gegenwart anzeigte. Auch das Flimmern würde einmal verblassen, und dann gab es Bulgin nicht mehr. Sein Körper würde aufgelöst, die daraus hervorgegangene Energie vom Zeitstrom aufgenommen sein. Aber Bulgin hatte gelächelt. Er wußte, daß das Venusschiff auf seine Reise geschickt worden war.
Aber würde dem Projekt auch ein Erfolg beschieden sein? Diese bange Frage stellte sich Vastabis. Er hoffte, daß sich Meau Fermeaulant bald meldete.
4. Es vergingen vierzehn Tage, und Meau hatte den Körperwechsel noch nicht vorgenommen. Es waren zwei Wochen der Ungewißheit, in denen sich rund um die Menschenfestung allerhand zusammenbraute. Die Kundschafter berichteten von starken Verbänden der Unsterblichen, welche die Festung einkreisten, aber sich abwartend verhielten. Diese Ruhe, mit der die Unsterblichen den günstigsten Zeitpunkt zum Angriff abwarteten, zeigte eindeutig den Einfluß des Genies. Aber das beunruhigte die- Festungsbewohner nicht weiter, sie hatten sich damit abgefunden, die Festung aufzugeben. Einige wenige würden zurückbleiben und den Anschein erwecken, daß sich die Menschen zur Wehr setzten. Das würde den Flüchtenden einen Vorsprung verschaffen. Man schrieb den 7.8.633 N.Ä., als bereits 104 Planwagen unterwegs zur Festung II waren. Aber noch keiner der Wagen hatte die Festung erreicht. Die Rechenzentrale stellte düstere Prognosen auf. Aber Vastabis hatte nicht die nötige Zeit, um sich eingehend damit zu befassen. Er traf die letzten Vorbereitungen für die Abreise, als die Nachricht durchkam, der Superlativus sei gestorben. Obwohl sie alle damit gerechnet hatten, ging ihnen Phaneonis’ Tod sehr nahe. Nur ein kleiner Personenkreis war anwesend, als man den schmucklosen Eichensarg in der Superlativusgalerie einmauerte. Orvinia, Phaneonis’ Frau, war da, sein einziger Sohn Hoervin, Men-
schendoktor Sylber und die vier Dekane der Menschen, die in der Festung zurückbleiben würden. Vastabis ließ seinen Stellvertreter die letzten Vorbereitungen für die Abreise treffen, während er bei Orvinia vorsprach, um ihr sein Beileid auszudrücken. Als er die Kemenate verlassen hatte, traf er in einem der Wehrgänge auf den Psychoanalytiker Sylber, der in einer Ecke stand und mit Hoervin in ein ernsthaftes Gespräch vertieft war. Schon wollte Vastabis diskret vorbeigehen, als ihn Sylber anrief. „Haben Sie eine Minute Zeit, Vastabis?“ „Aber wirklich nur eine Minute“, war die Antwort. Der Menschendoktor sah ihn prüfend an und meinte kühl: „Wenn Sie es so eilig haben, dann werde ich mich eben kurz fassen. Ich möchte, daß Sie Hoervin in Ihrem Wagen mitnehmen.“ Vastabis wußte, daß es dagegen kein Auflehnen gab. Es war ein unpersönlicher, sachlicher Befehl. Er ging zur nächsten Sprechanlage und verständigte Malbros davon, daß Hoervin ihrer Gruppe zuzuteilen war. Dann wandte er sieh wieder Sylber zu, der sich von Hoervin mit einem Händedruck verabschiedete. Hoervin ging, und Vastabis wollte sich ebenfalls auf den Weg machen, aber Sylber hielt ihn zurück. „Ich fürchte“, sagte Sylber, „ich muß doch noch einige Minuten Ihrer Zeit beanspruchen. Ich sehe meine Pflicht darin, Ihnen zu erklären, welche Bürde Sie sich mit Hoervin aufgeladen haben.“ „Übertreiben Sie nicht ein wenig?“ fragte Vastabis. „Sie haben mit Ihrer Behandlung Erfolg gehabt, Hoervin ist von seinem Zucht-undOrdnungs-Kodex befreit. Hoervin wird sich in meiner Gruppe schon zurechtfinden. Er ist ein verläßlicher Kundschafter, und da ich einen solchen gut gebrauchen kann, profitiere ich nur von ihm. Nur eines möchte ich klarstellen, Hoervin genießt keine bevorzugte Behandlung, sollten Sie das meinen.“ „Und doch“, sagte Sylber mit etwas schärferer Stimme, „so einfach, wie Sie glauben, ist die Sache nicht. Phaneonis hat einen letzten Wunsch geäußert; aber abgesehen davon, daß ich diesen Wunsch re-
spektiere, ist er gesetzlich verankert. Sie, Vastabis, werden sich in jeder freien Minute Hoervin widmen, werden ihm alles, was er wissen möchte, erklären und ihm darüber hinaus eine gediegene Schulung Ihres Spezialwissens angedeihen lassen. Mehr noch – Hoervin ist in allen Existenzfragen der Vorzug zu geben, sein Leben ist mit allen Mitteln zu verteidigen. Woran Sie auch denken wollen – alles andere kommt erst nach Hoervin, selbst Ihre wichtigsten Projekte! Sie wissen, warum dies sein muß. Da nach dem Ableben Phaneonis’ kein Stellvertreter gewählt werden konnte, tritt sein Sohn das Erbe an. Wenn wir nun die Festung II erreichen, dann brauchen wir einen Repräsentanten unserer Gemeinschaft. Nach dem Gesetz kann dies nur Hoervin sein. Und wie stünden wir da, entpuppte sich Hoervins Person als unzulänglich. Sie verstehen, Vastabis?“ „Sie Narr“, knurrte Vastabis, „was haben Sie sich denn dabei gedacht? Leben wir nur für unsere Gesellschaftsordnung? Wollen wir die Tradition aufrechterhalten, oder besteht unsere Gemeinschaft nur deswegen, weil unser Endziel heißt, die Unsterblichen von ihrer Umnachtung zu heilen und eine neue, bessere Zukunft zu schaffen? Hier in der Festung ließen sich Gesetz und Endziel vereinbaren, aber wenn wir einen Fuß erst hinaussetzen, dann muß man strikt trennen, was zu trennen ist. Und Gesetz läßt sich dort nicht mit Vernunft vereinbaren.“ Sylber blieb völlig ruhig. Er sagte: „Ich bekenne mich zu Ihren Argumenten! Trotzdem muß ich von Ihnen verlangen, was im Gesetz steht. Wir können mit der Tradition nicht brechen. Und deshalb werden Sie tun, was ich von Ihnen verlange.“ Nein, ich werde es nicht tun, wollte Vastabis sagen. Aber er schluckte den Ärger hinunter. Vastabis hatte seine Uniform bereits abgelegt und gegen ein grobes Gewand eingetauscht, wie es die Unsterblichen trugen. Er hatte auch schon das Schulterhalfter umgeschnallt, in dem die automatische Pistole steckte. In diesem Augenblick, als er nach der Waffe griff, über-
legte er überhaupt nicht; es war eine völlig automatische Reaktion. Er faßte die Waffe am Lauf und schlug den Griff in Sylbers Richtung. Der Psychoanalytiker sackte lautlos zu Boden. Und als Vastabis wieder klar dachte, wußte er, worauf seine Handlungsweise zurückzuführen war. Auch er konnte nicht gänzlich mit der Tradition brechen. Anstatt Sylber ein Versprechen zu geben, das er dann nicht einhielt, zog er sich aus der Affäre, indem er den Psychoanalytiker niederschlug. Noch etwas erkannte er. Sylber hatte ihn herausgefordert. Er wollte überhaupt nicht, daß sich Vastabis an das Gesetz hielt, wollte aber die Verantwortung für diesen Bruch nicht auf sich nehmen. „Ihr Gehirnpfuscher“, murmelte Vastabis ohne Groll, „ihr gaukelt einem alles mögliche vor, aber am Ende stellt sich dann heraus, daß ihr euer Ziel trotzdem erreicht habt.“ Vastabis mußte sich beeilen. Sylber blieb nicht ewig bewußtlos, außerdem durfte er, Vastabis, hier nicht gesehen werden. Er brauchte nur noch die Marschroute abzuholen, dann konnte es losgehen. Malbros empfing ihn mißmutig und erstaunt. „Ich hätte mir nie träumen lassen, daß Sie sieh mit Hoervin einlassen“, sagte er. „Ich habe Sylber kein Versprechen gegeben“, meinte Vastabis kurz. Eine Sekunde lang betrachtete Malbros ihn. „Dann müssen wir so schnell wie möglich aufbrechen?“ fragte er. „Stimmt. Haben Sie die Bestandsliste vollkommen eingelöst?“ „Ja. Es ist alles verladen und, wo es nötig war, gut getarnt. Das Sprechfunkgerät haben wir im Wagenboden eingebaut, dort habe ich auch Platz für den Proto geschaffen. Ich habe ihm das Arsenik in der von Ihnen vorgeschlagenen Dosis injiziert ...“ „Und?“ fragte Vastabis gereizt. Malbros sprach ihm zu langsam. „Wir haben Erfolg damit. Während seine Zellen den Gegenstoff für das Arsenik entwickeln, befindet er sich in tiefer Bewußtlosigkeit. Mit ihm werden wir also keine Schwierigkeiten haben.“
Vastabis hatte die Bestandsliste genommen und betrachtete sie eingehend. Alles in allem war Vastabis zufrieden. „Meau Fermeaulant hat sich immer noch nicht gerührt“, erklärte Malbros, als Bastabis wieder von der Liste aufsah. „Geau sorgt sich immer mehr – schließlich ist Meau beinahe vierzehn Tage überfällig. Mir wäre auch wohler, wenn Meau den Persönlichkeitswechsel vornähme, solange wir noch in der Festung sind.“ „Das ist bedeutungslos“, gab Vastabis beiläufig zurück. „Das Venusschiff ist zu einem Zeitpunkt gestartet, als schon feststand, daß wir die Festung aufgeben. Meau ist also unterrichtet. Was gibt es sonst noch?“ „Wir mußten noch zwei Leute in unseren Wagen aufnehmen“, berichtete Malbros etwas kleinlaut. „Wer sind die beiden?“ fragte Vastabis tonlos. Malbros schluckte, bevor er sagte: „Zwei Menschendiener, heißen Golgonis und Kamelan und sind ausgezeichnete Kämpfer. Außerdem spricht für sie, daß sie zusammen sechs Dialekte beherrschen.“ „Schon gut. Ich glaube, das wäre es“, sagte Vastabis. Mit dem Lift fuhren sie durch den zweihundert Meter tiefen Schacht hinunter in die Höhle, von der aus das Venusschiff gestartet war. Die Höhle war menschenleer und ruhig. Nur aus einer unbestimmten Richtung kam das Plätschern von Wasser. In diese Richtung ging Vastabis mit Malbros. Sie kamen zum Anfang einer Grotte, die in die Tiefe führte. Die Wandungen der Grotte waren glatt, poliert von der Gewalt des Wassers. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, war die Grotte unpassierbar. Vastabis würde alles daransetzen, um die andere Festung zu erreichen. Und er hoffte, daß ihm dort genügend Mittel für seine weiteren Versuche zur Verfügung standen. Während Malbros vor ihm ging und den Weg ausleuchtete, wurde sich Vastabis plötzlich bewußt, daß sie über die Festung II gar nichts wußten. Nur einige ungenaue
Koordinaten, aber das war auch alles! Über die anderen Festungsbewohner, über ihre Sitten und Gebräuche hatte man nichts in Erfahrung bringen können. Jetzt erst erkannte Vastabis, wie absurd es war, ihre eigenen Gesetze zur anderen Festung mitzunehmen. Es war ziemlich sicher, daß sich dort eine gänzlich andere Gesellschaftsordnung entwickelt hatte. Malbros löschte die Taschenlampe. Sie hatten das Ende der Grotte erreicht und kamen nun in das verborgene Tal, wo die Pferde und der Wagenpark der Festung untergebracht waren. Als Vastabis neben Malbros durch das saftige Gras schritt, hörte er schon das Wiehern der Pferde und undeutliches Stimmengemurmel. Sie hatten vielleicht noch hundert Meter zurückzulegen. Vastabis blieb plötzlich stehen. „Was ist das?“ fragte er lauschend. „Hört sich an wie näher kommendes Motorengeräusch.“ Malbros’ Hand wies zum Himmel. „Ein Flugschiff!“ Vastabis sah hinauf in den nächtlichen Himmel, der vom kalten Licht des Mondes beherrscht wurde. Aber neben dem Mond gab es noch ein anderes Licht, das nicht so fern war und doch unerreichbar für Vastabis. Der ellipsenförmige Flugkörper schwebte über dem Rand des Tales, majestätisch und erhaben, besaß weder Propeller noch Antriebsdüsen und leuchtete in einer Aura seltsamen Lichtes. Das Motorengeräusch wurde leiser, als sich das Ellipsenschiff vom Tal entfernte; es näherte sich jetzt jener Stelle, an der die Mauern der Festung standen. Dann verschwand das Schiff aus Vastabis’ Blickfeld. Vastabis stand immer noch wie gebannt da, als von der Festung plötzlich das Feuer eröffnet wurde. Vastabis hastete in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren. Er stieß zwei, drei dunkle Gestalten beiseite, bahnte sich einen Weg zum Wagen und kletterte hinauf. Eine schwache Laterne spendete ein fahles Licht, aber Vastabis fand sich zurecht. Er hob den
Deckel vom Sprechfunkgerät und hämmerte ungeduldig auf die Ruftaste. „Verbinden Sie mich mit Menschendenker Riodar“, brüllte er, als die Verbindung hergestellt war. „Hier Wagen 107“, fügte er noch schnell hinzu, als ihm einfiel, der Funker könne auf einer Meldung bestehen. Die Zeit schlich träge dahin. Das Genie griff also bereits an! Vastabis zweifelte keine Sekunde daran, daß das Ellipsenschiff die Geheimwaffe des Genies war. Somit war die Festung eine leichte Beute, es genügte ein winziger Handstreich, der Abwurf einer Handvoll Bomben ! Riodar meldete sich. „Hier Vastabis! Was haben Sie sich eigentlich gedacht? Sagt Ihnen nicht der gesunde Menschenverstand, daß Sie versuchen müßten, das Schiff zu kapern. Aber nein, Sie ballern ganz einfach drauflos. Sie haben nicht darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten uns gegeben wären, wenn wir das Schiff in Händen hätten. Nein, Sie vernichten es!“ Ebenso scharf kam Riodars Antwort: „Tatsächlich, ich wäre froh, wenn ich das verteufelte Schiff vernichten könnte. Aber unsere schwersten Granaten verpuffen wirkungslos! Sagt Ihnen das etwas, Vastabis? Wir sind machtlos. Wir können nur dasitzen und warten, bis uns das Genie vernichtet. Aber wir haben anscheinend noch eine Galgenfrist, denn das Schiff wendet und entfernt sich. Das Schiff hat noch nicht angegriffen!“ Das Geschützfeuer verstummte. „Riodar!“ Vastabis war erregt. „Beobachten Sie das Schiff. Halten Sie fest, wo es niedergeht, und dann versuchen Sie, es zu kapern. Setzen Sie für dieses Unternehmen alles Verfügbare ein. Es ist lebenswichtig für uns, dieses Ellipsenschiff zu besitzen.“ „Sie haben recht“, gab Riodar zu. „Ich werde das Nötige veranlassen.“ Er unterbrach die Verbindung.
Wenn es Riodar gelang, dieses Schiff zu erobern, dann war die Menschheit gerettet. Vastabis gab den Befehl zum Aufbruch.
5. Es war Nacht, aber nach Vastabis’ Meinung nicht dunkel genug. Rund um die Festung wimmelte es nur so von Unsterblichen, deshalb war es unmöglich gewesen, auf einige prinzipielle Vorsichtsmaßnahmen zu verzichten. Vastabis hatte die beiden Menschendiener Golgonis und Kamelan zusammen mit Hoervin als Kundschafter vorgeschickt. Sie kamen nur im Schrittempo voran, hatten aber kein einziges Mal Berührung mit den Unsterblichen. Als die Sonne aufging, hatten sie die unwegsamen Gebirgspfade hinter sich gelassen. Um acht Uhr morgens erreichten sie jene verfallene Schnellstraße, die auch von allen anderen Wagen genommen worden war. Die ehemalige Autobahn wies viele Schlaglöcher auf, dennoch kamen sie darauf schneller vorwärts als auf den verschlungenen Waldwegen. Der erste Zwischenfall ereignete sich, als sie sich schon zwei Stunden auf der Autobahn befanden. Über den Himmel zogen vereinzelt Wolkenschleier. Es war schwül. „Es gibt ein Gewitter“, hatte Menschenwächter Boleon gesagt, der nicht nur ein ausgezeichneter Funker war, sondern auch ein wenig von Wetterkunde verstand. Vastabis nickte nur. Er saß auf dem Kutschbock neben Hoervin, der die Zügel hielt. Er preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und versuchte, durch die flimmernde Luft zu erkennen, was die beiden dunklen Punkte zu bedeuten hatten, denen sie sich näherten. Die Punkte wurden größer und entpuppten sich als zwei verwahrloste Gestalten, die wild mit den Armen durch die Luft ruderten.
„Weiter“, befahl Vastabis. Hoervin ließ die Zügel schnalzen, und das Vierergespann zog an. Als der heranpreschende Wagen auf gleicher Höhe mit den Unsterblichen war, sprang die eine Gestalt nach vorn, klammerte sich mit den Händen an eine Planenstange und schwang die Beine auf den Kutschbock. Es war eine Frau. „Memmen“, schrie sie. „Dreht um und kämpft mit uns gegen die Hexenburg. Nur wenn wir alle zusammenhalten, sind wir stark genug und siegen...“ Die Finger verloren an Kraft und lösten sich. Vastabis drehte sich um und sah, wie der Frauenkörper auf die Fahrbahn schlug und in ein Gebüsch rollte. Eine aufsteigende Beklemmung unterdrückte Vastabis schnell. Die Frau war schließlich unsterblich, und nach einigen Schrecksekunden würde sie sich wieder erholt haben. Vastabis trug Hoervin auf, die Geschwindigkeit zu verringern, um die Pferde zu schonen. Dann drehte er sich um, hob die Plane hoch und sah ins Wageninnere. Boleon hatte die Funkhörer übergestülpt und blickte nur flüchtig auf, als er Vastabis gewahrte. Geau Fergeaulant starrte blicklos vor sich hin; wahrscheinlich hatte er sich völlig gelöst, um seinem Zwillingsbruder keinen Widerstand zu leisten, falls dieser den Persönlichkeitswechsel vornehmen sollte. Golgonis und Kamelan hatten sich aus Fellen ein Lager bereitet und erholten sich von den Anstrengungen der Nacht. Sie schliefen fest. Malbros saß am Wagenende und ließ die Beine herunterbaumeln. Vastabis wandte sich an Geau: „Sag Malbros, er soll sich um den Proto kümmern.“ Geau nickte nur. Vastabis ließ die Wagenplane los und setzte sich wieder auf dem Kutschbock zurecht. Er betrachtete Hoervin eine Weile von der Seite, dann sagte er: „Sylber hat gute Arbeit an dir geleistet.“ Hoervin nickte nur. Vastabis fuhr fort: „Ich habe mir gedacht, daß du dich ein wenig mit Golgonis und Kamelan abgeben könntest. Man sieht ihnen ihre
militärische Ausbildung allzu deutlich an, und ich befürchte, die Unsterblichen könnten auf sie aufmerksam werden.“ Hoervin murmelte undeutlich etwas vor sich hin. Vastabis’ Stimme wurde etwas schärfer, als er fragte: „Warum verhältst du dich so ablehnend?“ Etwas gepreßt kam die Antwort von dem Siebzehnjährigen. „Sie haben eine Abneigung gegen mich, ich spüre es. Sie wollten mich nicht mitnehmen.“ „Das stimmt nicht ganz.“ Vastabis räusperte sich. „Ich war nur nicht mit Sylbers Bedingungen einverstanden.“ Und er erzählte Hoervin den Hergang der Auseinandersetzung. Als er geendet hatte, meinte Hoervin: „Sylber hat trotz seiner Intelligenz oftmals eigenartig schrullige Ideen.“ Von diesem Augenblick an verstand sich Vastabis vorzüglich mit Hoervin. Sie kamen an einigen Hütten vorbei, aus denen Rauch aufstieg. Einige heruntergekommene Gestalten waren zu sehen, die interesselos zu ihnen herüberstarrten. „Jetzt würde ich gern all das nachholen, was ich in den letzten Jahren versäumt habe“, sagte Hoervin. „Ich möchte die Zusammenhänge besser kennen, welche die Menschen in dieses Unglück gestürzt haben. Sylber hat sich bemüht, mir einiges beizubringen, aber er redete oft so konfus, daß er es sicher selbst nicht ganz verstand.“ Vastabis lächelte. Ihm gefiel die respektlose Art, in der Hoervin über den Menschendoktor sprach – schließlich hatte sich Sylber die Suppe selbst eingebrockt. Aber Vastabis war zufrieden. „Du tust Sylber unrecht“, meinte er gelöst. „Er hat auf mehreren Gebieten seinen Doktor gemacht, und ich glaube nicht einmal, daß er so verworren vorträgt, wie du denkst. Ich bin überzeugt, daß eine Menge davon haften geblieben ist, was er dir an Wissen übermittelt hat. Hat er dich in Menschengeschichte unterrichtet?“ „Hm, ja.“
„Dann könntest du mir doch erzählen, was du davon behalten hast. Ich kann dabei mein Wissen vielleicht sogar auffrischen und – außerdem vergeht die Zeit rascher.“ Hoervin schien nicht sehr begeistert zu sein, aber er legte schließlich los. Im Jahre 1978 n. Chr. war das Forschungsteam einer pharmazeutischen Firma durch Zufall auf das Unsterblichkeitsserum gestoßen. Das Team hatte an zwei vivisezierten Tieren eine neue Art von flüssiger Nahrung ausprobiert, die ein Maximum an Aufbau- und Vitaminstoffen enthielt. Drei Wochen konnten die Tiere damit am Leben gehalten werden, bis dann das eine Stoffwechselstörungen zeigte. Man hatte mit radioaktiver Strahlung schon einige Erfahrung, und es war eine reine Routine, als man den Stoffwechsel damit zu regeln versuchte. Nun trat aber eine unvorhergesehene Wendung ein. Das vorher gesunde Tier, das nun ebenfalls in den Strahlenkreis kam, starb bald darauf, während das andere Tier immer lebendiger wurde. Aber damit war es noch nicht genug. Die durch die Vivisektion entstandenen Wunden heilten innerhalb von drei Stunden, ohne auch nur die geringste Narbe zu hinterlassen. Und als man das Tier später staunend untersuchte, stellte man fest, daß Organe, die man entfernt hatte, wieder vollkommen nachgewachsen waren. Aber zu diesem Zeitpunkt kam man noch nicht auf die Idee, daß man ein Mittel gefunden haben könnte, das die vollkommene Regeneration bewirkte. Man beschäftigte sich zu sehr mit Stoffwechselerkrankungen und glaubte, ein Mittel gegen die bisher unheilbare Zukkerkrankheit gefunden zu haben. Tatsächlich konnte mit diesem Serum bei einem illegalen Versuch ein Zuckerkranker innerhalb einer Stunde geheilt werden. Das Serum wurde Neo-Insulin getauft, erhielt aber in der nächsten Zeit noch unzählige Namen, denn bald stand es fest, daß man damit viele Krankheiten heilen konnte. Zwangsläufig stieß man dann auch auf die vollkommene Regeneration.
Ein Mann, der im zweiten Weltkrieg ein Bein verloren hatte, nahm das Wunderserum, und über Nacht wuchs ihm das Bein nach. Aber er konnte mit noch mehr frappierenden Tatsachen aufwarten: Seine Blinddarmnarbe war verschwunden, und er hatte neue, echte Zähne bekommen, so daß seine Zahnprothese überflüssig geworden war. Tatsächlich erkannten jene, die den Beweis hatten, daß die Eigenschaften des Serums nicht übertrieben wurden. Unsterblichkeit! Aber man wollte eventuelle negative Auswirkungen überprüfen, deshalb versuchte man, die Eigenschaften des Serums geheimzuhalten. Aber das war ein aussichtsloses Unterfangen. Dem Forschungsteam hatten vier Leute angehört; drei davon verkauften sich an Konkurrenzfirmen, der vierte an den Osten. Die Formel der Unsterblichkeit war kein Geheimnis mehr. Das Serum wurde in Produktion gegeben. Obwohl es zu dieser Zeit schon Stellen gab, die die erschreckenden Folgen kannten, ließ sich das Unheil nicht mehr abwenden. Wer hörte schon darauf, daß man nach einiger Zeit seine geistige Potenz und damit sein Gedächtnis verlor? Niemand kümmerte es, daß man durch die Unsterblichkeit die Fruchtbarkeit einbüßte. Die warnenden Stimmen verhallten ungehört. Unsterblichkeit! Der ewige, unerfüllbare Wunsch des Menschen war nun zur Wirklichkeit geworden. Noch war das Serum teuer, und nur die Reichen konnten es sich leisten. Es war nicht zu verhindern, daß auch das Volk von der Existenz des Serums erfuhr. Das Volk; die armen Leute, die sich schon immer benachteiligt fühlten, gerieten in Wut: Unsterblichkeit, aber nicht für uns? Das Volk demonstrierte. Inzwischen wurde das Serum in Massen hergestellt, die Produktionskosten waren ungemein niedrig. Nur wegen der Nachfrage blieben die Preise stabil, aber schon weitete sich der Käuferkreis aus, Bürger waren mit eingeschlossen. Die ganz Armen rebellierten, das Chaos griff über die ganze Erde. „Sylber sagte“, fuhr Hoervin fort, „daß sich die folgende Zeit nicht ganz rekonstruieren ließe. Aber das verstehe ich nicht ganz. In der Festung müssen sich doch genügend Aufzeichnungen befinden.“
„Sie wurden vernichtet“, gab Vastabis zurück, „weil die Gründer der Festung der Meinung waren, daß die Wahrheit über diese Zeit für ihre Nachkommen nicht gut sei. Sie haben die Wahrheit durchsetzt mit mahnenden Geboten, bis nichts mehr von ihr übrigblieb.“ „Aber wieso?“ Vastabis zuckte die Schultern. „Was wissen wir heute über die Beweggründe! Sie sind uns unverständlich. Aber wir können annehmen, daß die Menschen für die Nachkommen eine bessere Welt schaffen wollten, deshalb verschwiegen sie die Wahrheit und schufen ein Mysterium. Viel davon ist uns bis in die heutige Zeit erhalten geblieben. Du siehst es an den Gesetzen, sie sind veraltet.“ Hoervin sagte: „Das verstehe ich immer noch nicht ganz. Als die paar Menschen, die einen so kühlen Kopf bewahrten und sich der Flucht in die Unsterblichkeit nicht anschlossen, die Festung in der Absicht bauten, den Unsterblichen zu helfen ...“ „Ja?“ „Nun, es waren doch sicher alles intelligente Menschen, die das Unheil voraussahen. Ich frage mich, warum sie dann nicht so viel Weitblick hatten, um die Organisation vernünftiger aufzubauen.“ „Wie meinst du das?“ „Na, sie hätten sich doch nicht so kraß von den Unsterblichen distanzieren sollen, wenn sie ihnen helfen wollten. Daß sie es doch taten, hat das Endziel bestimmt um Jahre hinausgeschoben.“ Vastabis wiegte den Kopf anerkennend, gab aber zu bedenken, daß die Menschen, die die Festung gründeten, von den Umständen beeinflußt waren. Die Zivilisation war zusammengebrochen, die Unsterblichen plünderten und brandschatzten, die Kultur versank – diese Entwicklung ging so rasch vor sich, daß man ihr nicht folgen konnte. Der Untergang mußte so schnell gekommen sein, daß die Erbauer der Festung keinen anderen Ausweg fanden, als sich von den Unsterblichen vollkommen abzukapseln. „Aber wie gesagt“, endete Vastabis, „die volle Wahrheit werden wir nie erfahren ... Man muß auch bedenken, daß durch die Unsterb-
lichkeitsbehandlung viele Mutationen aufgetaucht sind, die alles noch erschwerten.“ „Sie meinen die Vampire, zum Beispiel?“ Vastabis nickte. „Wir wissen mit ziemlicher Sicherheit, wieso es zu diesen Mutationen gekommen ist. Es sind nur zu einem gewissen Teil Mutationen, weil der Mensch die Anlagen zu gewissen Fähigkeiten schon in sich trug. Diese Fähigkeiten hätten sich zweifellos segensreich entwickelt, aber durch das Serum mutierten sie. Die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts trugen den Keim dieser Fähigkeiten in sich, sie wußten auch, daß dieser Keim da war, verkannten ihn aber und behandelten ihn wie eine Krankheit. Sie nannten ihn ein Geschwür und gaben ihm den Namen ,Krebs’. Wir wissen heute ganz sicher, daß es sich um kein Geschwür gehandelt hat, sondern um ein entstehendes Organ. Ein zusätzliches Organ. Wahrscheinlich hätte die Natur noch Jahrhunderte gebraucht, um dieses Organ ausreifen zu lassen, aber der Einfluß des Serums ließ es wuchern. Das Serum hatte den ,Krebs’ gereizt und ihm zu einer sprunghaften Entwicklung verholfen. Und so gibt es heute Unsterbliche, die wohl gewisse parapsychologische Fähigkeiten besitzen, ihnen aber hilflos gegenüberstehen. Es gibt Metagnome, die es nicht unterlassen können, die Gedanken anderer wiederzugeben; Telepathen, die ihre Gedankenkraft gegen andere schleudern und sie ungewollt in den Wahnsinn treiben; Bulgin, der ETP-Mann, konnte seine Zeitwanderungen nicht kontrollieren und ist so lange dazu verdammt, in der Zeit zu treiben, bis seinem Körper alle Energien entzogen sind und er vergeht ... Diese Reihe ließe sich noch weiterführen, es sind die ärmsten unter den Mutanten. Aber die Entwicklung zeigt eindeutig, daß die Natur nichts anderes vorgehabt hat, als diese Fähigkeiten zu einem Segen der Menschen werden zu lassen. Du kennst Geau Fergeaulant jetzt. Er hat einen Zwillingsbruder auf der Venus, mit dem er jederzeit – und nach eige-
nem Belieben – den Körper tauschen kann. Und diese Tatsache gibt mir auch die Zuversicht, daß die anderen Mutanten zu heilen sind.“ Mein einziger Feind ist die Zeit, dachte Vastabis verbittert. Ich habe nur noch ein kurzes Leben vor mir, das ich meiner Aufgabe widmen kann. Aber ich kann es dennoch schaffen, die selbstgesetzte Frist von einem Jahr ist kein Traum. – Wenn ich nur Festung II erreiche!“ Hoervin bemerkte Vastabis’ Nachdenklichkeit und schwieg. Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Am Himmel hingen tief und schwer schwarze Regenwolken, Boleon hatte Verbindung mit der Festung aufgenommen und erfahren, daß weitere vier Wagen knapp vor dem Ziel vermißt wurden. Vastabis löste Boleon ab und verlangte nach Riodar, der keine erfreulichen Neuigkeiten berichten konnte. Er hatte fünfzig Krieger ausgesandt, die versuchen sollten, das Ellipsenschiff zu erobern – es war nicht schwer gewesen, zu beobachten, wo es niederging. „Ich verstehe nicht“, endete Riodar, „wieso die Unsterblichen nicht angreifen. Gegen das Luftschiff haben wir keine Chance. Anstatt es einzusetzen, kühlen sie ihr Temperament, indem sie uns kleinere Gefechte liefern, die ihnen keine Erfolge einbringen.“ Vastabis gab Riodar den Befehl, ihn sofort zu verständigen, wenn eine entscheidende Wendung eintreten sollte. Dann unterbrach er die Verbindung. Er ließ Boleon wieder an seinen Platz und setzte sich zu Malbros. „Die Stille ist mir zu unheimlich“, sagte Malbros. „Wieso? Seien Sie froh, daß alles so reibungslos verläuft“, gab Vastabis zurück. Geau knirschte: „Reibungslos? Daß ich nicht lache! Warum unternimmt Meau denn nichts?“ „Verliere nur nicht den Kopf“, mahnte Vastabis. „Vielleicht gibt es noch ein anderes Betätigungsfeld“, warf Malbros ein. „In dieser Gegend soll es von Räuberbanden nur so wimmeln. Hier wurden drei Wagen überfallen, dann hörte man nichts mehr von ihnen.“
Vastabis hätte es gern gesehen, daß Malbros mit seinen düsteren Prophezeiungen aufhörte, und er wollte es ihm schon sagen. Da brach das Gewitter über sie herein. Der Regen kam so plötzlich, daß sie von ihm völlig überrascht wurden. Einer Sturzflut gleich prasselte er hernieder, weichte den lockeren Waldboden auf, so daß die Räder oftmals bis zur Nabe darin versanken – er drang durch die undichte Plane ins Wageninnere und durchnäßte die Männer in wenigen Minuten bis auf die Haut. Die Pferde scheuten, und Hoervin blieb nichts anderes übrig, als auszusteigen und sie am Zaumzeug zu halten. Golgonis kochte auf einem Spirituskocher Tee, den sie so heiß tranken, daß sie sich fast den Gaumen verbrühten. Ebenso schnell wie das Gewitter gekommen war, hörte es wieder auf. Vastabis nahm eine Taschenlampe und studierte die Landkarte, auf der ihre Route verzeichnet war. Tonlos sagte er: „Wir haben uns verirrt.“ Der Himmel war immer noch wolkenverhangen. Es dämmerte. „Sollten wir nicht Rast machen?“ fragte Geau Fergeaulant. „Wir könnten ein wenig Ruhe gebrauchen. Die Pferde ebenso.“ Vastabis wollte zustimmen. Bevor er noch etwas sagen konnte, rief Hoervin: „Da vorn, ein Lichtschein!“ „Vielleicht eine Herberge“, meinte Malbros hoffnungsvoll. „Oder auch nur ein Räubernest“, sagte Vastabis. „Ach, egal, wir müssen es auf jeden Fall riskieren. Wenn wir nicht bald ein Dach über dem Kopf haben, stirbt uns Boleon unter den Händen.“ Wie als Bestätigung wälzte sich der Menschenwächter unruhig von einer Seite auf die andere und stöhnte. „Ihr habt alle eure Instruktionen“, sagte Vastabis abschließend. „Ihr wißt, wie ihr euch zu verhalten habt.“ Plötzlich hielt der Planwagen an. Vastabis sprang hinunter in den Schlamm und watete nach vorn zu Hoervin. Ein Stacheldrahtverhau versperrte ihnen den Weg. Unge-
fähr fünfzig Meter dahinter stand ein langgestrecktes, einstöckiges Gebäude. Die obere Etage lag im Dunkeln, aber aus einigen Fenstern des Erdgeschosses drang ein flackerndes Licht. Vastabis schreckte auf, als er knapp vier Meter vor sich eine Bewegung wahrnahm. Aus dem Schatten eines Baumes lösten sich zwei kahlköpfige Gestalten, die die entsicherten Armbrüste schußbereit hielten. Sie kamen bis nahe an den Stacheldraht. Als Vastabis die ausdruckslosen Gesichter sah, wußte er sofort* daß er es hier mit willenlosen Zombies zu tun hatte. Der eine Zombie sagte: „Was ist euer Begehr?“ „Wir haben uns verirrt“, entgegnete Vastabis, „und suchen für die Nacht eine Bleibe.“ Der Zombie, der schweigend daneben gestanden hatte, machte eine blitzschnelle Bewegung mit der Hand. Vastabis sah noch etwas durch die Luft auf sich zufliegen. Er konnte nur instinktiv die Augen schließen, dann klatschte es naß gegen sein Gesicht. Es schmeckte süßlich, als ihm die Flüssigkeit warm über die Lippen rann. Blut! Aus dem Hintergrund rief eine zufriedene Stimme: „In Ordnung.“ Dann kam ein beleibter Mann aus einem Schützenloch geklettert. Er schwang einen riesigen Schlüssel, mit dem er das Tor aufschießt Während er es öffnete, sagte er: „Den Wagen könnt ihr hinstellen, wo ihr wollt.“ Vastabis wischte sich das Blut aus den Augen, dann folgte er dem Dicken zum Eingang der Herberge. Auf dem Weg dorthin erklärte der Dicke fast entschuldigend: „Nehmen Sie mir diese kleine Vorsichtsmaßnahme nicht übel. Ich nenne es die Blutprobe. Während ich Sie mit Blut besudelte, beobachtete ich Ihre Reaktion. Jetzt bin ich sicher, daß Sie kein Vampir sind. Wissen Sie, diese Teufel gewinnen nämlich ständig an Intelligenz, und nicht selten kommen sie als Wolf im Schafspelz.“ „Ich heiße Vastabis.“ „Ich Glitscher.“
Als sie in die Stube traten, die vom Schein eines offenen Kamins erhellt wurde, bemerkte Vastabis sofort die kleinen Häutesäckchen an der Wand. Bevor Glitscher reagieren konnte, hatte Vastabis an ihm die Blutprobe gemacht. Glitscher sagte nichts, er schnappte nur nach Luft. „Sie verstehen doch“, sagte Vastabis trocken, „daß auch ich mich vor einem Wolf im Schafspelz sichern möchte.“ In diesem Augenblick gellte ein markerschütternder Schrei durch die Herberge. Vastabis fuhr erschrocken zusammen, aber Glitscher lächelte plötzlich. „Ich zeige euch sofort die Zimmer“, sagte er, „danach treffen wir uns zu einem geselligen Beisammensein in der Stube.“ Darüber machte sich Vastabis seine eigenen Gedanken.
6. „Ich sage es, wie es ist“, erklärte Glitscher grinsend, als sie in der Stube zum „geselligen Beisammensein“ versammelt waren. „Bei mir gibt es nichts umsonst. Denn ich gehe einem selten gewordenen Gewerbe nach – ich bin Geschäftsmann. Jede Sekunde, die Sie bei mir in Sicherheit sind, lasse ich mir vergüten, und zwar teuer vergüten. Aber dafür bietet meine Herberge Annehmlichkeiten, wie man sie im Umkreis von drei Wäldern vergeblich sucht. Bei mir können Sie alles eintauschen“, fügte er noch bedeutungsvoll hinzu. Vastabis und seine Leute hatten ihre nassen Kleider gegen trockene ausgetauscht. Jetzt saßen sie in der Stube an einem rohen Tisch Glitscher und fünf weiteren Unsterblichen gegenüber, die allem Anschein nach Gäste waren. Hoervin und Golgonis fehlten, sie bewachten den Planwagen und Boleon, der mit Fieber im Bett lag.
Vastabis überhörte Glitschers hintergründige Anspielung, weil er noch nicht genau wußte, was er davon halten sollte. Er sagte nur: „Wir haben genügend Tauschwaren.“ Glitscher lächelte wohlwollend. „Das habe ich mit einem Blick erkannt. Aber lassen wir vorerst dieses Thema. Unterhalten wir uns über andere Dinge. Sie kommen aus der Richtung Osterias? Stammen Sie aus der Stadt?“ Vastabie hatte auf eine Vielzahl von Fragen Antworten einstudiert. Ohne Verzögerung meinte er: „Ich selbst nicht, aber die beiden Jünglinge Hoervin und Golgonis, die den Planwagen bewachen, und auch Kamelan, hier zu meiner Rechten. Links von mir sitzt Geau, neben ihm Malbros; und Boleon ist während des Gewitters erkrankt, er muß das Bett hüten – diese drei waren meine Knechte, als ich noch fruchtbares Land in der Nähe der Hexenburg bestellte. Aber ein Fluch lastet über diesem Land, nie herrscht Ruhe und Frieden, deshalb habe ich getauscht und ziehe mit meinen Treuen woandershin.“ Glitschers Äuglein wurden listig. „Ich könnte fragen, wieso Sie Ihren Wagen auf meinem Grund und Boden bewachen lassen, ja, ich habe das Recht, beleidigt zu sein. Aber ich will davon absehen, wie gesagt, ich bin zu sehr Geschäftsmann. Hauptsache, Sie tauschen gut gegen die Übernachtung.“ Plötzlich mischte sich einer der anderen fünf Männer ein, die sich bisher gänzlich im Hintergrund gehalten hatten. Es war ein verwegen dreinblickender Bursche von zwei Metern Größe, mit mehr Waffen als Gewand am Körper. Seine Augen richteten sich auf Geau, als er lauernd fragte: „Du bist kräftig, warum kehrst du dann der Hexenburg den Rücken? Spürst du nicht den zwingenden Drang in dir?“ Geau blickte überlegen zurück, er blieb stumm. Vastabis antwortete für ihn. „Ich spreche für meine Männer.“ Es war eine Zurechtweisung. „Dann richtet sich meine Frage an Sie.“
Glitscher versuchte, die sich anbahnende Spannung im Keime zu ersticken, indem er vermittelte. „Darf ich diese Herren vorstellen ...“ „Wir können jeder für uns sprechen“, sagte der Hüne unwirsch. „Ich heiße Niegel.“ „Bangik.“ „Mentoro.“ „Antoro.“ Stille. „Und der fünfte Herr?“ erkundigte sich Vastabis, der Zeit gewinnen wollte. „Er gehört nicht zu uns.“ Glitscher sagte hastig: „Das ist...“ „Viacenter“, kam die heisere Stimme des Männchens, das sich tief in den Schatten der anderen Männer drückte. Er machte einen verschüchterten, beinahe ängstlichen Eindruck. Als Vastabis die Stimme hörte, wußte er schlagartig, daß Viacenter bei ihrer Ankunft geschrien hatte. Vastabis runzelte die Stirn, diese Tatsache entwirrte die Sachlage nicht gerade. „Ich warte“, murrte Niegel in die neuerliche Stille hinein. Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: „Wir vier ziehen in den Kampf, wie viele andere auch. Geau scheint sich von normalen Menschen nicht zu unterscheiden, aber er flüchtet. Ich frage mich, ob er am Ende gar verhext ist.“ Lautlos war Geau aufgesprungen, machte eine schnelle Handbewegung, und plötzlich stak zitternd ein Dolch in Niegels Handrücken. Niegel verzog keine Miene. Er blickte auf seine Hand, dann zog er das Messer bedächtig aus der Wunde und wartete, bis die Wunde geheilt war. Dann warf er Geau sein Messer zu, der es an der Schneide auffing. Ein schmaler Blutstreifen zog sich über seine Handfläche. Einige Sekunden betrachtete er ungerührt seine Hand, aber plötzlich taumelte er, sein Gesicht wurde bleich, und er sank kraftlos auf seinen Sessel zurück.
„Er hat die Blutkrankheit“, murmelte Antoro mitfühlend. Viacenter japste nach Luft, aber niemand beachtete ihn. Niegels Stimme klang verständnisvoll, als er sagte: „Das konnte niemand wissen. Er hätte gleich sagen sollen, daß er von einem Vampir gebissen wurde.“ Vastabis warf Geau einen schnellen Blick zu und erkannte, daß der Ideokinet nicht schauspielerte. Sein Schwächeanfall war echt! Aber Geau war niemals im Leben von einem Vampir gebissen worden – wohl aber sein Zwillingsbruder Meau! Das bedeutete, daß sich in Geaus Körper jetzt Meau befand. Meau hatte den Persönlichkeitswechsel vollzogen! Vastabis konnte seine Erregung nur schlecht unterdrücken. Er erhob sich und sagte: „Ich begleite jetzt Geau auf sein Zimmer.“ Dann wandte er sich an die anderen. „Auch für euch ist es besser, wenn ihr euch schlafen legt. Wir haben morgen einen beschwerlichen Tag vor uns, und du, Kamelan, mußt in einer Stunde Hoervin ablösen.“ Vastabis wartete, bis die drei den Tisch verlassen hatten, dann verneigte er sich vor der Tischrunde und wollte seinen Kameraden folgen. Bevor er noch die Treppe erreichte, hatte sich Glitscher vor ihm aufgestellt und versperrte den Weg. „Eine Sekunde, Vastabis!“ gurrte er und wies auf eine Tür. Nur widerwillig folgte Vastabis der Aufforderung. Als er durch die offene Tür geschritten war, hörte er sie hinter sich ins Schloß fallen, und er war mit Glitscher allein in einem engen Arbeitsraum, der durch ein raffiniertes Spiegelsystem vom Kaminfeuer ausgeleuchtet wurde. „Genial, nicht?“ sagte Glitscher stolz, der Vastabis’ Überraschung bemerkte. „Ein Gast hat mir die Spiegel aus, Dankbarkeit dafür installiert, daß ich ihn vor seinen Verfolgern verbarg. Dieser Mann, ich erinnere mich noch daran, daß er Bulgin hieß, war verhext, von der Zeit besessen. Aber ich denke sehr modern und bin nicht abergläubisch. Ich rettete ihm das Leben.“ „Und?“ fragte Vastabis. Er ärgerte sich, weil seine Stimme ein wenig zitterte. Wie konnte Glitscher nur die Zusammenhänge zwischen
ihrer Gruppe und Bulgin ahnen? Langsam ließ er seine Rechte zum Pistolenhalfter wandern. Glitschers Augen zwinkerten listig. „Eigentlich sollte ich mich an Ihren Knecht Fergeaulant wenden“, sagte er. „Aber Sie sagten deutlich genug, daß Sie sein Sprachrohr sind. Also wende ich mich an Sie, Vastabis.“ Wieder dieser erwartungsvolle Blick. Vastabis mußte seine Gedanken ordnen, und das brauchte Zeit. Erst zu spät fiel ihm ein, daß er sich sofort gegen Glitschers Anspielung hätte stellen müssen. Durch sein Zögern hatte er sich verraten. Aber es war nicht mehr gutzumachen. Glitscher hob beschwichtigend die Hand. „Regen Sie sich nicht auf, Sie können mir ja nichts vormachen. Ich weiß Bescheid über Fergeaulant. Er ist verhext ... ein armer Teufel. Ich habe einen Blick dafür, Verhexte sofort zu erkennen. Ich wußte auch sofort, daß Viacenter besessen ist – ein Metagnom. Er hat in Fergeaulants Gedanken gelesen und hätte sich durch seinen Schreckensschrei bei den anderen fast verraten. Aber ich bin den Verhexten in jeder Lage behilflich.“ Irgendwie war Vastabis froh, daß Bulgins Erwähnung nur Zufall war. Glitscher kannte also die Zusammenhänge nicht. Glitscher deutete Vastabis’ Erleichterung falsch. Er fuhr fort: „Ja, Sie können wirklich froh sein, daß ich, über Ihren Knecht informiert bin. Jeder andere würde ihn köpfen. Ich aber bin den Verhexten ein guter Freund, ich habe schon vielen geholfen und kann auch Ihrem Knecht helfen – für den entsprechenden Gegenwert in Waren, versteht sich. Ich habe Erfahrung auf diesem Gebiet. Ich brenne ganz einfach die Krankheit aus Fergeaulants Gehirn, und Sie haben einen normalen Knecht.“ Einen Zombie hätte ich dann, dachte Vastabis angewidert. Aber er konnte Glitscher nicht einfach vor den Kopf stoßen. „Ich werde mir Ihr Angebot überlegen“, murmelte Vastabis. „Entscheiden Sie sich schnell“, sagte Glitscher, „bevor Sie vergessen! Ha, ha.“ Er lachte über seinen Witz. Plötzlich wurde sein Gesicht tod-
ernst. „Viacenter, dieser arme Kerl, ist auch als Patient zu mir gekommen. Er kam auf Empfehlung. Sie sehen, mein Können spricht sich herum.“ Vastabis hatte es plötzlich sehr eilig. Welch eine schreckliche Erde! Er drückte sich an Glitscher vorbei. Oben im Zimmer wartete Meau mit wichtigen Informationen von der Venus! Als Vastabis in die Stube trat, sahen ihm vier mißtrauische Augenpaare entgegen. Er achtete nicht darauf. Er wollte gerade die Stiegen hinaufhasten, als die Tür aufschwang und Hoervin in ihr stand. „Herr!“ Vastabis bedurfte keiner direkten Aufforderung, um Hoervin zum Wagen zu folgen. Das fiebrige Glühen in den Augen des Menschenkämpfers sagte alles. Irgend etwas Wichtiges war eingetreten. Als er im Freien neben Hoervin zum Wagen schritt, sagte dieser nur: „Die Festung hat Verbindung mit allen Wagen aufgenommen.“ Vastabis stülpte sich die Hörer über und lauschte der Stimme des Berichterstatters. „... Festung kann jeden Augenblick fallen. Wir sind machtlos, und unsere Waffen können den Kampf nicht entscheiden. Sie versagen. Das Ellipsenschiff schwebt über den Zinnen, und unsere Granaten können ihm nicht einmal einen Kratzer zufügen. Folgende Note ist eben vom Kardinal eingegangen: Keiner der Wagen soll versuchen umzukehren, um uns in der Verteidigung zu unterstützen. Unsere Lage ist aussichtslos, so oder so. Auf unerklärliche Weise ist auch die Funkverbindung mit Festung II abgebrochen. Wahrscheinlich ist das Ellipsenschiff schuld daran. Wir wissen es nicht. Aber für euch, die ihr euch in die Hölle hinausgewagt habt, gibt es eine Hoffnung, denn wir konnten noch erfahren, daß einige Wagen bereits die andere Festung erreicht haben. Verzagt nicht, Menschen ...“ Die Stimme des Berichterstatters schwoll an: „Das Flugschiff schwebt immer noch scheinbar harmlos über der Festung. Aber aus allen Teilen treffen Nachrichten über fremde Inva-
soren ein, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Sie überwältigen im Nu unsere Soldaten. Der Kardinal hat eben den Befehl für die Sprengung der unterirdischen Anlagen gegeben. Er sieht keinen anderen Ausweg. Es ist unglaublich, wie schnell sich die Invasoren ausbreiten ... Was ist das?... Nein!“ Aus den Hörern drang noch ein kurzes Röcheln, dann ein Poltern. Stille; tödliche Stille. „Die Festung ist gefallen.“ Vastabis hatte es gesagt. Er warf einen kurzen Blick zu Hoervin, dessen Mutter noch in der Festung gewesen war. Hoervin beherrschte sich vorzüglich. Vastabis schlug ihm auf die Schulter. Mehr konnte er nicht tun. Er wollte schon zurück zur Herberge gehen, als ihm der Proto einfiel. Er schob die Fellballen zur Seite und klappte den Deckel auf. Das schwache Licht ließ nicht viel erkennen, aber es genügte Vastabis. Der Proto war schon größtenteils menschlich, aber an verschiedenen Stellen schimmerte noch die Schuppenhaut. Der Proto war immer noch bewußtlos. Vastabis klappte den Deckel zu und sprang vom Wagen. Zu Hoervin sagte er mit gedämpfter Stimme: „Bereitet alles für einen raschen Aufbruch vor.“ „Ohne Wagen?“ fragte Hoervin. „Ohne Wagen.“ „Wir haben nur drei Reitpferde. Allerdings könnten wir die Zugpferde verwenden. Aber die sind ziemlich lahm,“ „Kein Problem“, ließ sich Golgonis vernehmen. Er war auf seiner Runde um den Wagen zu ihnen gestoßen und hatte das Gespräch verfolgt. Er hielt eine schußbereite Armbrust, hatte aber in Reichweite eine entsicherte Maschinenpistole liegen. „In den Boxen stehen sieben Rassepferde, jedes schneller, als unsere drei zusammen.“ Vastabis nickte anerkennend. .“Dann wißt ihr, was zu tun ist. Ich brauche euch nicht zu sagen, was wir alles mitnehmen, das wißt ihr selbst. Aber mit dem Sprechfunkgerät werden wir uns nicht belasten. Wir müssen auch so weiterkommen.“
„Und Proto?“ fragte Hoervin. „Wir nehmen ihn mit.“ „Boleon?“ „Das steht außer Frage“, herrschte Vastabis den Menschenwächter an. Vastabis wußte, daß er sich auf Hoervin und Golgonis verlassen konnte. Beruhigt kehrte er zurück in die Herberge. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er zu der Unterkunft hinauf, die aus vier Räumen bestand, die nebeneinander lagen und durch Türen verbunden waren. Malbros, Kamelan und Meau Fermeaulant – in Geaus Körper – saßen im zweiten Zimmer beisammen. Boleon lag mit glühenden Wangen im Bett. Er schlief. Im Raum brannte kein Licht, aber durch die geöffnete Verbindungstür fiel der Schein einer Laterne. Auf dem Fensterbrett lagen ein Schnellfeuergewehr und zehn Magazine. Tausend Fragen brannten Vastabis auf der Zunge. Aber er sagte nur: „Die Festung ist gefallen.“ „Ja, die Festung ist gefallen“, sagte Meau, „Malbros hat mir einige Stichworte gegeben, aber ... Nun, ich will dich nicht auf die Folter spannen. Die Venus ist bewohnbar.“ „Besteht dein Bericht aus ganzen vier Worten?“ fragte Vastabis gereizt. Meau verzog Geaus Gesicht zu einer Grimasse. „Sachte, sachte. Ich habe die Daten im Kopf und werde sie auf Band sprechen, wenn ich sie erst hervorgekramt habe. Willst du Einzelheiten?“ Vastabis winkte ab. „Erzähle in groben Zügen.“ „Die Venus ist eine Dschungelwelt, wie erwartet. Üppige Flora, urweltliche Fauna; Bäume hundert Meter hoch. Regen, Regen, Regen. Vulkanausbrüche, jede Minute einer, und Erdbeben, daß man kaum eine Sekunde ruhig stehen kann. Die Atmosphäre ist manchmal so undurchsichtig, daß man die Hände vor dem Gesicht nicht sieht. Nach den ersten paar Atemzügen glaubt man zu ersticken. Aber das
gibt sich. Ich habe mir die Atemmaske genommen und sie stufenweise angepaßt. Nach einer Stunde kam ich ohne sie aus. Obwohl ich kein Tier sah, das nicht etwa zehn Tonnen gewogen hat, scheint es friedlich zuzugehen. Jedenfalls habe ich nur Vegetarier angetroffen. Aber eigentlich greife ich etwas vor. Angefangen habe ich mit mikroskopischen Untersuchungen, aber damit will ich euch nicht plagen. Reine Routine war das. Die Venus ist so erdähnlich, wie man es sich nur wünschen kann.“ Anschließend sprach Meau in kurzen Worten über den Flug und lobte Bulgins Arbeit – ein vorzügliches Raumschiff! „Warum hast du eigentlich den Wechsel mit Geau so lange hinausgezögert?“ fragte Vastabis abschließend. „Du kannst dir denken, was wir schon alles befürchteten.“ Meau nickte. „Es könnte jetzt eigentlich egal sein. Aber ich hatte für die Verzögerung einen triftigen Grund. Ich habe ein Flugobjekt gesehen!“ „Ein Raumschiff?“ fragte Vastabis verblüfft. Meau zuckte mit den Schultern. „Möglich. So genau habe ich es nicht gesehen. Der Nebel lichtete sich für einige Zeit, und da sah ich es. Eigentlich nur einen Schatten, und ich konnte keine Einzelheiten erkennen. Vielleicht war es ein Raumschiff oder aber ein Flugschiff der Venusbewohner.“ „Eine Urwelt mit intelligenten Bewohnern, die Flugschiffe bauen?“ Vastabis schüttelte den Kopf. „Das klingt ziemlich unwahrscheinlich.“ „Ist mir auch egal“, gab Meau zurück. „Ich bin geistig derart müde und ausgelaugt, daß ich ein halbes Jahrhundert schlafen könnte.“ „Ich habe die dumpfe Ahnung, daß aus deinem Schlaf nichts wird“, sagte Vastabis. Und er wollte gerade von Glitscher erzählen, als eine schrille Dampfsirene zu heulen anfing. Einer der Zombies schrie: „Vampire!“
Malbros stürzte in den anderen Raum und löschte die Laterne. Kamelan ergriff das Gewehr und schlug mit dem Kolben den Fensterladen auf. Boleon warf sich unruhig im Bett herum. Unten am Stacheldraht leuchteten Fackeln auf, und über ein Dutzend Zombies standen am Waldrand, wo die ersten Vampire auftauchten. Diese hielten Äste und junge Baumstämme in den Händen, die sie gegen den Stacheldraht schleuderten. Dann warfen sie sich mit ihren mageren Körpern darauf und bildeten für die nachkommenden Vampire eine Brücke. Aus ihren schwarzumrandeten Augen glühte es gierig, aus ihren Mündern lösten sich tierische Schreie. Die ersten Vampire hatten den Vorhof der Herberge erreicht und fielen entweder unter den Pfeilen der Zombies oder rannten in den Geschoßhagel, der vom Planwagen kam, wo Hoervin stand und schon das zweite Magazin leergeschossen hatte. Vastabis schob seinen Kopf weiter hinaus und sah Golgonis dicht an der Mauer stehen. Er versuchte, die scheuenden Pferde zu beruhigen. „Nichts wie weg“, schrie Vastabis; und zu Kamelan, der eben auf die Vampire feuern wollte, sagte er: „Spare die Munition. Springe lieber runter. Golgonis hat die Pferde schon gesattelt.“ Kamelan sprang. Glitscher erschien in der Tür der Herberge. Die Armbrust wirkte in seiner Hand wie ein Spielzeug. Er wollte auf die heranstürmenden Vampire schießen, als er Golgonis und die Pferde sah. Vastabis wartete nicht lange, sondern zog seine Pistole und streckte Glitscher mit einem gezielten Schuß nieder. Dann sprang er. Als er auf dem Dach des Planwagens landete, fiel ihm Boleon ein. „Meau!“ rief er zurück. „Vergiß Boleon nicht!“ Aber diese Aufforderung war nicht nötig. Geaus kräftiger Körper erschien in der Fensteröffnung, in den muskulösen Armen lag Boleon. Eine Planstange krachte, als Meau auf dem Wagendach landete. Kamelan kam herangeritten und führte ein Pferd am Zügel. Meau sprang samt seiner lebenden Last in den Sattel. Hoervin hatte seine
Deckung am Wagen verlassen und rannte zu Golgonis hinüber, der zwischen den sich aufbäumenden Pferden umhertaumelte. Als Malbros auf dem Wagendach landete, verlor Vastabis das Gleichgewicht und, stürzte hinunter. Er sah noch zwei Vampire heranstürzen und sprach ein schnelles Gebet. Von irgendwoher wurde eine Salve abgeschossen, und die beiden Vampire sanken bewußtlos gegen die Wagenräder. Dann war Hoervin da. Er führte ein zweites Pferd am Zügel. „Rauf, Chef“, rief er. In der einen Hand hielt er eine Handgranate. Während sich Vastabis in den Sattel schwang, hörte er aus der Herberge die bekannte Stimme Niegels. „Teufel, die sind aus der Hexenburg!“ Nun wußte Vastabis, daß sie gegen zwei Gegner zu kämpfen hatten. Vastabis gab seinem Pferd die Sporen. Drei, vier Vampire wurden zur Seite geschleudert. Vastabis kümmerte sich nicht darum. Vor sich sah er Hoervin, die Hand mit der Granate schwingend. Einige Sekunden, nachdem er sie geworfen hatte, stach eine grelle Explosion in die Nacht hinaus. Gleich danach verschwand Hoervins Pferd in der dichten Staubwolke. Plötzlich spürte Vastabis einen Zug an seinem Bein. Er riß die Pistole herum und wollte abfeuern, als er Viacenter erkannte. Der Kleine blickte flehend zu Vastabis hinauf. „Bitte!“ war alles, was Vastabis verstand. Er reichte Viacenter den Arm und half ihm hinauf. Dann trieb er sein Pferd hinaus in die Nacht.
7. „Rast“, hatte Vastabis verkündet, als der Morgen bereits graute und der Wald hinter ihnen lag. Sie schlugen das Lager am Ufer eines Flusses auf, der tief zwischen Schotterhalden gebettet war. Obwohl sie al-
le dringend Schlaf benötigten, wollte Vastabis auf Wachtposten nicht verzichten. Er teilte sich selbst für die ersten drei Stunden ein. Als er von Kamelan abgelöst wurde, waren seine Lider so schwer wie Blei. Alle bis auf Meau und Viacenter schliefen. Vastabis spürte den Blick des Metagnomen auf sich, war aber nicht in der Lage, sich jetzt mit ihm zu befassen. Später, später ... „Wie geht es Boleon?“ fragte er Meau. „Tot“, gab Meau müde zurück. „Während du auf Wache warst, habe ich ihn begraben und die Rede für dich gehalten.“ „Danke.“ Vastabis erwachte, aber er war nicht ausgeruht. Nur mühsam richtete er sich auf. Kamelan und Hoervin reinigten Waffen, Malbros stellte sorgsam die Essensrationen zusammen, und Meau schlief. Golgonis war nicht zu sehen, wahrscheinlich schob er Wache. Vastabis sah hinüber zum offenen Feuer, Viacenter saß dort und nickte ihm freundlich zu. Vastabis ging zu ihm hinüber und setzte sich neben ihn. „Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet“, begann Viacenter. Er sprach frei von jenem Dialekt, den man sonst bei den Unsterblichen antraf, ja, man konnte seine Sprache fast als gepflegt bezeichnen. Vastabis sagte es ihm. Viacenter lächelte. „Ihr von der Hexenburg – oder soll ich Festung sagen? – seid wohl der Meinung, daß die übrige Erde nur von Wilden besiedelt ist?“ Vastabis war ehrlich erstaunt. „Stimmt das etwa nicht?“ Wieder spielte ein sanftes Lächeln um Viacenters Lippen. Er sagte: „Ich habe gewußt, daß ihr aus der Festung kommt, habe es aber Glitscher nicht verraten. Ich habe ihm nur gesagt, daß Sie einen Mutanten bei sich haben.“ Viacenter sagte Mutant und nicht Verhexter oder Besessener! Er gab immer neue Rätsel auf.
„Dies habe ich Ihnen auch gutgeschrieben“, erklärte Vastabis. „Deshalb nahm ich Sie mit. Wissen Sie, was ich nicht ganz verstehe? Sie müßten doch Glitschers Charakter erkannt haben, und dennoch wollten Sie sich von ihm behandeln lassen. Oder war das nur ein Vorwand?“ Viacenter wiegte anerkennend den Kopf. „Sie sind auf Draht. Ja, ich wollte mich nicht wirklich von Glitscher behandeln lassen. Ich wollte einen Bekannten rächen, den er vor einiger Zeit verpfuscht hat. Glitscher hat ihm das Gehirn ausgebrannt, und danach war er nur noch ein seelenloses Wrack. Dafür wollte ich Glitscher töten. Aber das haben mir die Vampire jetzt abgenommen.“ Das Lächeln war vom Gesicht des kleinen Metagnomen verschwunden, jetzt drückte es nur noch Haß aus. Aber – im nächsten Augenblick lächelte der Mann schon wieder. „Sie werden aus mir nicht klug?“ fragte Viacenter. „Ihre Fähigkeit in Ehren“, gab Vastabis unwirsch zurück, „aber müssen Sie dauernd in meinen Gedanken graben?“ Viacenter antwortete mit entwaffnender Ehrlichkeit. „Soll ich Ihnen versprechen, Ihre Gedanken in Ruhe zu lassen, obwohl ich sie im geheimen doch lese? Nein, denn diese Art von Heuchelei geht gegen meine Einstellung. Meine Umwelt hat mich geformt, ja, in unseren Kreisen ist es sogar unmöglich, zu lügen. Allerdings hatte ich bei Glitscher keine Skrupel, er hat den tausendfachen Tod verdient.“ „Was meinen Sie mit in unseren Kreisen?“ fragte Vastabis. „Ist es so verwunderlich, daß wir Mutanten uns vereinigt haben?“ erklärte Viacenter. „Es liegt doch auf der Hand. Seit undenkbaren Zeiten werden wir verfolgt, und wenn uns die Unsterblichen erwischen, dann kennen sie keine Gnade. Wir müssen uns schützen. Mehr noch ...“ Vastabis wußte nicht wieso, aber bei den letzten Worten rieselte ein leichter Schauer über seinen Rücken. Er hatte irgendwie Angst, näher auf das Thema einzugehen. Aber er sagte: „Ich kann Sie ganz gut verstehen, auch wir werden von den Unsterblichen gehaßt und gejagt.
Sie hassen uns, weil sie meinen, wir seien an ihrer Unsterblichkeit schuld, dabei wollen wir ihnen nur helfen. Aber wir haben keine Vorurteile, obwohl wir normale Sterbliche sind.“ Viacenter zuckte zusammen, und den Bruchteil einer Sekunde glitzerte es gefährlich in seinen Augen. Vastabis erkannte, daß die falsche Auslegung des Wortes „normal“ schuld daran war. Verstand ihn Viacenter absichtlich falsch? Jedenfalls kaufte er ihm nicht ganz ab, daß er überhaupt nichts gegen Sterbliche habe. Vastabis hielt erschreckt in seinem Gedankengang inne. Er hatte ganz vergessen, daß Viacenter bestimmt seine Gedanken interessiert verfolgte. Vastabis erhob sich abrupt und kehrte dem Metagnomen den Rücken zu. Als er sich vom Lagerfeuer entfernte, begleitete ihn ein glucksendes Lachen. Verdammter Metagnom! Vastabis ging zu den Pferden und dann zu der sargähnlichen Kiste, in welcher der Proto lag, und hob den Deckel an. Auf den ersten Blick stellte er fest, daß der Proto immer noch unter der Wirkung des Arseniks stehen mußte. Vastabis sah plötzlich neben sich einen Schatten und schreckte auf. Es war Viacenter. Er packte Vastabis plötzlich fest am Oberarm und drehte den Mann mühelos so, daß er ihm in die Augen sehen mußte. „Was für eine Niederträchtigkeit“, sagte Viacenter leidenschaftlich. „Und ich dachte, ihr aus der Festung hättet Kultur und vielleicht sogar Pietät. Aber ihr seid nur morbid, nutzlos. Ist dieser Transport eines Mutanten nicht unwürdig? Ihr habt ihn nicht gefragt, habt ihn vielleicht gegen seinen Willen eingeschläfert und wie ein Stück Vieh behandelt. Sehen Sie sich doch den Körper an, sehen Sie! An vielen Stellen mußte er Hornhäute bilden, um sich zu schützen. Glauben Sie vielleicht, ein Unsterblicher sei gegen Schmerz immun? Wollen Sie diese Behandlung nur rechtfertigen?“ Vastabis war über diesen Gefühlsausbruch erstaunt, erzürnt, aber auch schockiert. „Ihnen gegenüber rechtfertige ich mich überhaupt nicht“, preßte er hervor. „Was bilden Sie sich denn eigentlich ein? Ich kann Sie auf der
Straße liegenlassen und brauche mir keine Gewissensbisse zu machen. Und ich könnte deshalb auch ruhig schlafen.“ Er wandte sich ab. Aber, es war seltsam, irgendwie fühlte er sich jetzt schuldig. Viacenters Anschuldigung war mehr gewesen als gewöhnliche Phrasendrescherei. Vastabis dachte ernstlich über die Vorwürfe nach; dabei hätte er genug Rechtfertigungen für seine Handlungsweise parat... Als einige Minuten verstrichen waren, ärgerte sich Vastabis, daß er Viacenter überhaupt mitgenommen hatte. „Alarm!“ Vastabis zuckte zusammen. Golgonis stand am Hügelkamm und hatte die Hände über dem Mund zu einem Trichter geformt. „Alarm!“ schrie er wieder. Sofort war das Lager in Aufruhr. Hoervin und Kamelan setzten die Waffen blitzschnell zusammen, Malbros packte die fertigen Rationen ein, und selbst Meau wurde aus dem Schlaf gerissen. Nur Viacenter stand da, kühl lächelnd. Vastabis hastete den Schotterhang hinauf, und als er Kamelan erreicht hatte, riß er ihm das Fernglas wortlos aus den Händen. Kamelan deutete nach Norden. Als Vastabis das Glas eingestellt hatte, sah er sofort die näher rückende Staubfahne, vor der sich zwei, nein, es waren drei – Panzerfahrzeuge in schneller Fahrt bewegten. Panzerfahrzeuge ! Konnten sie jemandem anderen gehören als dem Genie? Vastabis nahm Kamelan mit sich zurück zum Lager und ließ aufbrechen. Während die Gerätschaften verpackt, die Pferde gesattelt wurden, half Viacenter mit, die Kiste mit dem Proto zwischen zwei Pferde zu hängen. Zwischen den einzelnen Handgriffen sagte er zu Vastabis voller Zynismus: „Ha, das Genie! Es ist auf eure Köpfe aus. Wahrscheinlich wurde bei der Herberge euer Wagen gefunden. Dort befanden sich bestimmt einige interessante Unterlagen, über die das Genie mehr wissen möchte.“
Hoervin baute sich plötzlich vor Viacenter auf. „Ich schlage dich nieder“, sagte er drohend. Viacenter sah ihn aus tiefen, unergründlichen Augen an. Hoervin drehte sich um und ging mit hölzernen Schritten zu seinem Pferd. Niemandem war diese Szene aufgefallen. Vastabis fragte Viacenter: „Was werden Sie tun?“ „Mir graut vor euch“, zischte Viacenter, „geht allein in euer Verderben.“ Vastabis war froh, den Metagnom auf diese unkomplizierte Weise loszuwerden. Erleichtert gab er das Zeichen zum Aufbruch und übernahm selbst die Spitze. Sie ritten nach Süden. Viacenter stand scheinbar unschlüssig da, bewegungslos. Aber sein Geist arbeitete auf Hochtouren. Er setzte Gedanken zu sinnvollen Sätzen zusammen und sendete sie aus. Eine Wendung ist eingetreten. Das Genie hat sie aufgespürt. Was soll ich tun? Irgendwo im Süden empfing ein trainiertes Mutantengehirn die Gedankenmuster und gab sie an einen menschlichen Fleischberg weiter, der Koloß genannt wurde und der Führer der Mutanten war. Der Koloß gab die Antwort an den Mutanten, der sie Viacenter sandte. Unbedingt herbringen. Viacenter nickte leicht. Er besaß eigentlich nur das Talent der Metagnomie, aber er konnte für jede andere Fähigkeit als eine Art Katalysator dienen und in Verbindung mit einem anderen Mutanten sich dessen Fähigkeit bedienen. Jetzt forderte er einen Teleporter an. Als er Kontakt hatte, verschwand er vom Flußufer, löste sich scheinbar in Luft auf und materialisierte fünfhundert Meter weiter südlich. Er rannte einen Wiesenhang hinunter und erreichte gerade rechtzeitig die kleine Reitergruppe, als diese an der Weggabelung ankam. Viacenter keuchte mehr, als es nötig gewesen wäre. „Ich bin nicht undankbar“, sagte er zu Vastabis, der nicht sehr erfreut schien. „Jetzt will ich mich erkenntlich zeigen.“
„Wir kommen ohne Sie schneller vorwärts“, gab Vastabis schroff zurück. „Malbros, schauen Sie nach, welchen der beiden Wege wir nehmen müssen.“ „Möglich, daß ihr ohne mich schneller weiterkommt“, gab Viacenter zu, „aber dem Genie entkommt ihr damit noch lange nicht. Ich hingegen kenne hier ganz in der Nähe unterirdische Stollengänge, in denen euch das Genie nie findet.“ Vastabis richtete sich im Sattel auf und blickte zurück. Die Staubwolke war nur noch fünf Kilometer entfernt. „Wir müssen den rechten Weg nehmen“, sagte Malbros. Vastabis biß sich auf die Lippen. „Und zu den Stollengängen ...?“ fragte er Viacenter. „Links.“ Sie ritten den linken Weg entlang. Es ging nach Osten. Nach einiger Zeit kamen sie in einen dichten Wald. „Gleich haben wir es geschafft“, sagte Viacenter, der auf dem Rükken des einen Tragtiers saß. Meau Ferrneaulant war mehr als skeptisch, aber schließlich war Vastabis der Chef, und auf ihn mußte man sich verlassen können. Aber bestimmt war auch Vastabis nicht sehr begeistert von Viacenters Angebot, nur blieb ihm keine Wahl, wollte er dem Genie nicht in die Hände fallen. Das dichte Unterholz teilte sich, und eine erdfarbene, steil in die Tiefe führende Höhle tat sich vor ihnen auf. „Haben Sie Licht?“ fragte Viacenter, der voranritt. Vastabis und Malbros drehten ihre Taschenlampen auf. Sie ritten in die Höhle ein. Meau wurde immer unruhiger, und er wollte gerade nach seiner Pistole greifen, als sein Zwillingsbruder Geau den Wechsel vornahm und ihn in den Körper auf der Venus beförderte. Die beiden Ideokineten waren darauf trainiert, sich blitzartig veränderten Situationen anzupassen. Aber als Geau nun in die Höhle einritt, hatte er keine Ahnung von den Verdachtsmomenten, die sein
Zwillingsbruder noch vor Sekunden gehegt hatte. Zudem war Geau von dem eben Erlebten ziemlich erregt. Er hatte auf der Venus ein Raumschiff gesehen. Aber nicht nur das. Menschen waren diesem Schiff entstiegen! Geau wußte, wie wichtig diese Information für Vastabis sein mußte. Aber er sah noch keine Gelegenheit, um mit ihm zu sprechen. Ein zweites Raumschiff mit Menschen auf der Venus! Wie würde der Menschendenker diese Nachricht aufnehmen? Plötzlich wurde Geau Fergeaulant vom Pferd gerissen und schlug mit dem Kopf gegen eine Betonwand. Er verlor sofort das Bewußtsein.
8. Geau Fergeaulant befand sich in einem Dilemma. Allerdings hatte er es teilweise selbst heraufbeschworen, nämlich, als er sich Gedanken machte über die Art, in der er niedergeschlagen worden war. Es war ein geistiger Schlag gewesen ! Je mehr er sich damit beschäftigte, desto größer wurde das Dilemma. Er war ein Mutant, ein Unsterblicher, der durch einen glücklichen Faktor seine Erinnerung nicht eingebüßt hatte; zumindest nicht die Erinnerung der letzten hundert Jahre. Deshalb konnte er sich nur allzu deutlich daran erinnern, wie er und sein Zwillingsbruder von den Unsterblichen gejagt worden waren. Ihr Leben war eine ewige Flucht gewesen. Sie waren dankbar gewesen, als sie von den Festungsbewohnern aufgenommen wurden, und eine neue Seite des Lebens zeigte sich ihnen: Sie waren plötzlich wichtige Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft. Sie stellten sich gern den Versuchen zur Verfügung, die das Ziel verfolgten, die Unsterblichen aus diesem Chaos zu len-
ken. Es war eine gute Sache, für die sich jeder Einsatz lohnte. Die beiden ideokinetischen Zwillinge hatten sich den sterblichen Menschen mit Haut und Haaren verschrieben, die Feinde der Festung waren auch ihre Feinde. Die Festung war das Symbol einer besseren Zukunft, in der die Erde frei von Haß und Aberglauben sein sollte. Geau wußte plötzlich, daß es noch eine andere Vereinigung gab. Eine Vereinigung der Mutanten! Es klang phantastisch, aber es war wahr. Vastabis und die anderen waren die Gefangenen dieser Mutantengruppe. Nicht, daß sich Geau jetzt gegen Vastabis gestellt hätte, ganz bestimmt nicht. Aber er war der Überzeugung, daß Menschen mit besonderen Talenten, die dazu noch unsterblich waren, mehr Möglichkeiten besaßen als die Festungsbewohner mit all ihrem Idealismus. Und daraus ergab sich das Dilemma. Er wußte noch nicht, welche Ziele die Mutantengruppe verfolgte, aber wenn sie moralisch vertretbar waren und nicht hinter denen der Festungsbewohner zurückstanden, dann würde sich Geau auf die Seite der Mutanten stellen. Das war sicher auch im Sinne Vastabis’; der Zweck heiligte hier ganz bestimmt die Mittel. Geau hatte sich eine halbe Stunde diesen Überlegungen hingegeben, seit dem Zeitpunkt, als er aus der Bewußtlosigkeit erwachte. Geau war immer noch gefesselt, aber das nahm er den Mutanten nicht weiter übel. Er lehnte mit dem Rücken gegen eine nasse Wand, die zu einem nach Moder riechenden Gewölbe gehörte. Eine Pechfakkel spendete unruhiges Licht. Geau sah zu den anderen hinüber, die ebenfalls gefesselt waren. Vastabis, Malbros, Kamelan, Hoervin und Golgonis – und Boleon? Wahrscheinlich tot. Natürlich. – Vastabis begann sich zu regen. „Wie fühlst du dich?“ fragte Geau. Vastabis knurrte irgend etwas, warf sich unruhig hin und her, bis es ihm gelungen war, sich aufzurichten und gegen die glitschige Wand zu lehnen.
„Wo ist der Proto, Meau?“ war seine erste Frage. „Ich weiß es nicht“, gab Geau zurück. „Aber du bist im Irrtum, Meau ist schon lange auf der Venus. Allerdings weiß ich nicht, wie lange, weil ich nicht weiß, wieviel Zeit vergangen ist, seit wir niedergeschlagen wurden.“ „Gibt es einen besonderen Grund für deine Rückkehr?“ fragte Vastabis voll Neugier. Neben ihm begann sich Malbros zu regen. „Ja“, antwortete Geau. „Ich habe ein Raumschiff gesehen, dem Menschen entstiegen.“ „Menschen?“ fragte Vastabis verblüfft. „Phantastische Entwicklungen zeichnen sich ab, und wir sitzen hier fest. Viacenter, dieser scheinheilige Teufel, hat uns in diese Falle gelockt.“ „Es sind Mutanten“, warf Geau ein. „Sie haben sich zusammengeschlossen. Ist das nicht interessant?“ Vastabis hatte den Unterton nicht herausgehört. Ungerührt sagte er: „Es ist niederschmetternd. Dabei hatte Viacenter einen guten Eindruck gemacht. Seine Philosophie zeugte von Intelligenz.“ „Es handelt sich um eine Mutantengruppe“, wiederholte Geau eindringlich. „Es sind Teufel“, zischte Vastabis. „Sei nicht so engstirnig“, gab Geau zurück. Als er keine Antwort bekam, fuhr er fort: „Du mußt aus dem festgefahrenen Gleis herauskommen, wenn du weiterhin den Überblick bewahren willst. Du bist verblendet.“ „Was soll das heißen?“ fragte Vastabis verwundert. Geau erklärte: „Sieh mal, du warst zeit deines Lebens in der Festung. Die Welt außerhalb dieser Festung war für dich ein Chaos. Du hattest ein Ziel vor Augen, und nur darauf hast du dich konzentriert. Aber was geschah inzwischen außerhalb der Festung, auf der Erde? Die Zeit ist nicht stehengeblieben. Ihr in der Festung hättet euch denken können, daß nicht nur ihr die Initiative und die Kraft für segensreiche Projekte entwickelt. Aber der sterbliche Mensch ist in euren Augen die Krönung der Schöpfung, alles andere, Unsterbliche und
Mutanten, sind nur willkürliche Mißgeburten und rangieren deshalb untergeordnet. Ist es nicht so?“ „Worauf willst du hinaus?“ „Ich möchte dir sagen, daß du auch die Bemühungen der Mutanten akzeptieren könntest. Ich weiß es noch nicht, aber ich vermute, daß sich in dieser Beziehung einiges für das Wohl der Menschheit tut.“ „Nein“, stöhnte Vastabis. „Du mußt übergeschnappt sein, Geau. Du wirst doch nicht an uns zum Verräter, nur weil du dich als Gleichartiger zu diesen Ungeheuern hingezogen fühlst!“ Geau sagte bitter: „Du willst mich nicht verstehen.“ „Jetzt ist es aber genug.“ Viacenter kam aus einem dunklen Tunnel und hatte mit scharfer Stimme die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Er stellte sich vor Geau und sagte wohlwollend: „Sie haben es Ihrem ehemaligen Freund ganz schön gegeben. Aber in Ihren Gedanken erkenne ich noch einige häßliche Fragmente, die sich mit den Gesetzen unserer Organisation nicht ganz vereinbaren lassen. Aber ich kann Sie beruhigen, Sie werden Ihre Gesinnung der unseren anpassen, ob Sie wollen oder nicht.“ Viacenter bückte sich, und mit einigen Messerschnitten befreite er Geau von den Stricken. Geau erhob sich und rieb sich die blutunterlaufenen Stellen. „Ich lasse mir keine andere Gesinnung aufschwatzen“, erklärte er. „Wer spricht von aufschwatzen.“ Viacenter schüttelte sich vor stummen Lachen. „Es gibt bessere, wirksamere Methoden. Im Augenblick versuchen Sie es noch zweigleisig, Sie wollen den Mutanten nicht weh tun und diesen überholten Ausgaben von Menschen ebenfalls nicht.“ Er warf Vastabis einen überheblichen Blick zu, dann wandte er sich wieder an Geau: „Aber wenn einmal eine Weiche kommt, dann sausen Sie mit jedem Bein in eine andere Richtung, und plötzlich sitzen Sie da und schauen dumm. Um es nicht so weit kommen zu lassen, müssen Sie sich entscheiden.“ „Wohin bringen Sie mich?“ „Zum Koloß.“
„Wer ist das?“ * „Ich führe ein strenges Regiment“, sagte der Koloß, und auf telepathischem Wege fügte er hinzu: Nicht wahr, Viacenter? Jetzt gehe zurück und hole auch Vastabis, ich möchte keine Zeit verlieren. Viacenter ging, und Geau war allein mit dem Koloß, von dem nichts zu sehen war; er hatte sich im schützenden Dunkel einer Nische verborgen. Geau fand hier keine besonderen Unterschiede zu anderen Räumlichkeiten, durch die er gekommen war. Die Luft war schlecht wie überall, der Raum selbst kreisrund, hatte einen Durchmesser von etwa fünfzig Metern und wurde von einigen Fackeln erhellt. In der feuchten Rundwand gab es nur zwei Unterbrechungen, die Nische und einen Zubringertunnel. Geau war nicht sonderlich beeindruckt, aber deswegen unterschätzte er den Koloß nicht: Es gehörte ein ausgeprägtes Talent dazu, um sich mit einem Nicht-Telepathen auf gedanklicher Basis unterhalten zu können. „Ja“, kam die Stimme des Kolosses aus der Nische, „es gibt nicht viele vollgültige Telepathen, ich habe aber im Laufe der Zeit noch eine Reihe anderer Fähigkeiten entwickelt. Wie sonst könnte ich diese Organisation zusammenhalten?“ Der Koloß schob seinen riesigen Kopf ein Stück aus der Dunkelheit, zog ihn aber sofort zurück, als er den Abscheu in Geaus Gedanken bemerkte. Geau hatte nur für den Bruchteil einer Sekunde in das abgrundtief häßliche Gesicht geblickt, und ihm wäre beinahe übel geworden. Eine Weile herrschte bedrohliches Schweigen, dann ließ der Koloß Geau wissen, daß er ihm seine unbeherrschte Reaktion verzeihe. „Dein Verhalten ist nur natürlich“, fuhr der Koloß bitter fort. „Aber ich erkenne, daß du eine großmütige Einstellung allen Dingen ge-
genüber hast, du bist sehr intelligent und charakterlich ausgewogen – ich würde mehr von deiner Sorte brauchen. Es wäre schade, dich zum Feind zu haben, denn im Grunde genommen bist du mehr wert als das ganze Gesindel, das ich um mich habe.“ Der Koloß seufzte. „Aber ich biege sie schon noch zurecht. Nimm nur Viacenter, er ist eine der miesesten Typen, ist aber wegen seiner katalytischen Fähigkeit für mich unentbehrlich; deshalb behalte ich ihn. Was bleibt mir auch anderes übrig, als ihn zeitweise zu züchtigen? Er möchte ja gehorchen, weil er mit mir einer Meinung ist, was die Bedeutung des Mutanten in der heutigen Zeit betrifft; sein schlechter Charakter bricht eben immer wieder durch. Da bremse ich ihn.“ „Ich verstehe“, sagte Geau. Was hätte er auch sonst sagen sollen. „Du verstehst nur zum Teil“, widersprach der Koloß. „Wie solltest du auch! Eine ähnliche Situation hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben. Die Bevölkerung der Erde ist durchsetzt mit Mutanten, und sie vermehren sich schnell, weil täglich Hunderte von Unsterblichen erkennen, daß sie parapsychologische Fähigkeiten besitzen. Nicht lange, und die Mutanten überwiegen die degenerierten Unsterblichen an Zahl – und bald auch an Macht. Das ist eine natürliche Folge. Deshalb finde ich die Bezeichnung ‚Mutanten’ scheußlich und unzutreffend. Wir sind die neue Rasse!“ Geaus Gedanken gingen mit den Erklärungen des Kolosses mit, sie erstaunten ihn, schienen ihm aber logisch und zutreffend. „Ich habe in die Fülle der Talente hineingegriffen“, fuhr der Koloß fort, „und habe die besten in meine Organisation aufgenommen. Dieser Qualitätsmaßstab gilt aber nicht für die Charaktereigenschaften, nur für die Fähigkeiten. Allein die Fähigkeiten geben den Ausschlag, weil sie das Erbgut der neuen Rasse sind. Alles andere bringe ich ihnen durch Gewalt bei.“ Jetzt verstand Geau ganz. Hier reifte eine neue Zivilisation heran, die mit jener vor dem Chaos nicht viel gemein haben würde. Aber eine Verlagerung der sozio-
logischen Grundzüge war nur natürlich, weil es sich um Wesen handelte, die sich von den früheren Menschen stark unterschieden. Geau hatte gegen das Regime des Kolosses dennoch einige Einwände, die aber unwesentlich waren. Schließlich handelte es sich bei diesen Plänen um keine Endprodukte, und es würde sich viel von selbst ändern; ja, und wo gehobelt wurde, da fielen nun einmal Späne. „Du würdest dich auch in einer anderen Regierungsform zurechtfinden“, meinte der Koloß, nachdem er Geaus Gedankengänge verfolgt hatte. „Aber die anderen Talente aus meiner Organisation hatten nicht deine Vorbildung, für sie kommt anfangs nur eine Diktatur in Frage. Sie sind eine wilde Horde, die man durch Gewalt zusammenhalten muß. Bist du dir darüber im klaren, daß du viel von dem, was dich auszeichnet, den erbärmlichen Festungsbewohnern zu verdanken hast?“ Ein wenig traurig fügte der Koloß hinzu: „Deshalb ist es fast schade um sie.“ „Schade um sie?“ echote Geau. Dann erfaßte er die Bedeutung dieser Worte und schrie impulsiv: „Sie können sie doch nicht töten!“ Der Koloß reagierte auf seine Weise, er sagte nichts, er ahndete Geaus Auflehnung mit einer Strafaktion. Während sich Geau unter den geistigen Schlägen wand, erschien Viacenter mit Vastabis. Über Viacenters Gesicht legte sich für einige Sekunden ein Ausdruck des Mitleids. Dann entspannte er sich und sagte aufmunternd: „Nimm es leicht, diese Züchtigung dient hauptsächlich dazu, um dich in die richtige Form zu bringen. Verstehst du das?“ Geau konnte sich nicht damit beschäftigen, ob er verstand oder nicht. Er lag auf dem Boden und konnte nichts gegen die Schmerzen tun, die seinen Körper durchzuckten. Vastabis sah verständnislos auf ihn hinunter. Als er ihm dann zu Hilfe kommen wollte, zuckte er nach drei Schritten zusammen, als sei er gegen eine glühende Wand gelaufen. Da wußte er Bescheid. Geau tat ihm leid. „Schaffe ihn fort“, kam die Stimme des Kolosses aus der Nische.
„Kann ich einen Levitanten zu Hilfe nehmen?“ fragte Viacenter. „Geau braucht dringend Ruhe.“ Der Koloß grunzte. Er gab einen telepathischen Befehl durch, und gleich darauf nahm ein Levitant Verbindung mit Viacenter auf. Viacenter übernahm die Impulse, hob um Geau die Schwerkraft auf und ließ ihn aus dem Saal schweben. Als Vastabis allein war, sagte der Koloß: „Du bist also der Meinung, daß die Unsterblichkeit den Menschen erbärmlich macht, weil er dadurch die Erinnerung einbüßt und sich nicht fortpflanzen kann. Da gebe ich dir recht. Aber du begehst den Fehler, die Mutanten auf dieselbe Stufe zu stellen.“ Vastabis sagte nichts. Er wußte nicht, warum ihn der Koloß zu sich rufen ließ, aber er würde es schon noch erfahren, wenn er abwartete. „Ich will dich aufklären“, gab ihm der Koloß die Antwort. „Ich bin aufgeschlossen“, gab Vastabis zurück. Er mußte plötzlich lächeln. Das Wesen, das dort in der Dunkelheit saß, war in einem Maße überheblich, wie es ihm nicht zustand. Vastabis war belustigt. Warum verbarg sich der Koloß im schützenden Dunkel, wenn er so unverwundbar war, wie er es scheinen lassen wollte? „Ich bin sehr aufgeschlossen“, wiederholte Vastabis. In diesem Augenblick war er in jeder Beziehung siegessicher. „Aufgeschlossen, ja“, kam die Stimme aus der Dunkelheit, „aber geistig nicht anpassungsfähig und natürlich nicht zeitgemäß. Deine Intoleranz ekelt mich an, und ich würde dich gerne verjagen. Aber leider brauche ich deine Hilfe. Deshalb werde ich mich mit dir abgeben. Ich werde dir erklären, wie erbärmlich du bist – das Lachen wird dir vergehen. Von einer Bestrafung will ich absehen, weil du ohnedies eine vergängliche Kreatur bist.“ Vastabis lächelte nicht mehr, einige Details aus der Rede des Kolosses hatten ihn nachdenklich gestimmt. Er fühlte auch einiges von seiner Selbstsicherheit schwinden. Anfangs hatte er den Koloß für einen Blender gehalten, der auf Viacenter abgefärbt hatte. Aber Viacenter war nur eine schlechte Kopie gewesen, der Meister saß vor ihm in der
Dunkelheit. Der Koloß unterbrach ihn in seinen Gedanken, als er weitersprach: „Ich tat dir unrecht, als ich sagte, du seist nicht anpassungsfähig. Jetzt erkenne ich, daß du eigentlich nicht so stur bist, wie du glauben machen willst. Du wirst dich auch nicht meinen Argumenten verschließen können, die dir beweisen sollen, um wie vieles wir euch Sterblichen voraus sind.“ Vastabis hatte in seinem Innersten Angst, diese Argumente zu hören, aber seine Neugierde war doch größer. „Ich ... ich höre“, sagte er mit belegter Stimme. „Du bist darüber informiert“, erzählte der Koloß, „wie die Menschheit in dieses Chaos gestürzt wurde. Das kann ich mir ersparen. Auch über das Krebs-Organ weißt du Bescheid, und wie es durch das Unsterblichkeitsserum mutierte, ja, du hast sogar die ganz vernünftige Ansicht, daß die Natur vorgehabt hat, dem Menschen parapsychische Fähigkeiten zu geben. Und schließlich hast du selbst daran gearbeitet, die Unsterblichkeit aus ihrer Umnachtung zu reißen, damit sie sich voll entfalten können. Diese Arbeit gilt dir doch als Lebensinhalt. Ich muß mich da ganz zwangsläufig fragen, wieso du die volle Wahrheit nicht von allein erkannt hast, und ich komme auf eine Antwort, die sehr plausibel klingt. Du hast alle Fakten gehabt, die den Mutanten zum Wesen der Zukunft stempelt, hast dich ihnen aber verschlossen. Und zwar deshalb, weil du eine unterbewußte Angst vor der daraus zu schließenden Konsequenz hattest Aber ich will dir die Augen öffnen ...“ „Nein!“ schrie Vastabis. Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wollte nicht zuhören. „Doch!“ Der Koloß sagte es ganz nüchtern. „Der Sterbliche hat keine Existenzberechtigung mehr. Er hatte sie nur so lange, wie die Mutanten nicht selbständig waren. Und wir sind jetzt selbständig. Geau Fergeaulant und sein Zwillingsbruder, sie haben ihre Vollkommenheit von selbst erreicht; ich habe auf Grund meiner Fähigkeiten einen Weg gefunden, um meine Erinnerung zu behalten. Sicher ist das nur
ein verschwindend kleiner Teil unter einigen Milliarden. Aber wie viele dieser Fälle gibt es, von denen wir nichts wissen? Hast du schon vom Genie gehört? Siehst du. Und soviel ich erkenne, hast du auch mit Bulgin Kontakt gehabt. Anfangs glaubte ich, daß der ETP-Mann ein einmaliges Phänomen sei – er hinterließ auf der ganzen Erde seine Spuren –, aber immer mehr zeigte mir die Entwicklung, daß sich viele Talentierte von ihren Fesseln befreien. Und schließlich bin noch ich da, und Geau wird mich unterstützen; wir werden unseren Artgenossen auf die Beine helfen. Wir sind die neue Rasse. Die Erde und die Zukunft gehören uns!“ Vastabis konnte es nicht in Worten ausdrücken, wie sehr er die Argumente des Kolosses verstand. Der Homo sapiens war ausgestorben, bis auf eine Handvoll Überlebender, die sich künstlich aus der Vergangenheit herübergerettet hatten. Aber sie gehörten ebensowenig hierher wie etwa ein Neandertaler, den man zum Leben erwecken würde. Der Homo sapiens und der Neandertaler waren gleichzusetzen, im Heute waren sie beide allenfalls eine Kuriosität. Vielleicht Versuchskaninchen ... Vastabis erkannte die Erbärmlichkeit des Sterblichen. Die Erde gehörte der neuen Rasse. Er resignierte. „Nein“, sagte der Koloß wieder, der Vastabis’ Gedanken verfolgte, „wir sind keine gottähnlichen Wesen. Selbst ich habe meine Fehler, von denen ich weiß, gegen die ich aber nicht ankomme. Es sind sozusagen die Erbsünden, die wir vom Homo sapiens übernommen haben. Aber darüber rege ich mich nicht auf. Ich, zum Beispiel, habe unstillbare Machtgelüste. Es schadet nichts, denn dadurch wird die Erde schneller befriedet. Aber etwas anderes macht mir zu schaffen. Ich bin eitel, und gerade ich bin dermaßen häßlich, daß du bei meinem Anblick sterben würdest. Deshalb brauche ich dich.“ Vastabis hatte erkannt, daß die Sterblichen die Erde aufgeben mußten. Aber er wollte nicht daran glauben, daß dies das Ende des Homo sapiens sein sollte. Er sah eine Möglichkeit, den kleinen Rest der sterblichen Menschen zu retten. Die Venus!
„Wieso bist du ausgerechnet auf meine Hilfe angewiesen?“ fragte Vastabis abwesend. Er konnte sich denken, daß der Koloß schon lange über das Venusschiff alle Einzelheiten wußte, deshalb hätte es keinen Sinn gehabt, dieses Projekt verbergen zu wollen. Aber Vastabis hatte einen Tausch vor: seine Hilfe gegen freies Geleit für die Sterblichen, die sich verpflichten würden, die Erde zu verlassen. Er wußte auch schon, was der Koloß von ihm wollte: Die Fähigkeit der ZellModulation! „Stimmt“, gab der Koloß unumwunden zu. „Ich selbst bin nicht in der Lage, wissenschaftliche Untersuchungen anzustellen, und ich habe auch niemanden, der das Geheimnis der Zell-Modulation ergründen könnte. Du aber hast dich damit beschäftigt, bist mit der Materie vertraut und hast die besten Chancen, hinter diese Fähigkeit zu kommen.“ „Gut“, sagte Vastabis, „aber ich möchte eine Forderung stellen.“ Ich kenne sie, telepathierte der Koloß, und wenn ich nicht einwillige, euch die Venus zu überlassen? „Dann weigere ich mich, auch nur einen Handgriff zu tun.“ „Ich könnte dich zwingen“, sagte der Koloß, „aber das würde wahrscheinlich deine Erfolgschancen verringern. Hm, ich behalte mir die Entscheidung vor. Bringe mir das Talent der Zell-Modulation, dann werden wir weitersehen.“ „Ich möchte die Entscheidung jetzt hören“, beharrte Vastabis. Nein! „Dann rühre ich keinen Finger, selbst wenn Sie mich foltern.“ Der Koloß schien zu lächeln, aber Vastabis konnte es natürlich nicht sehen, es war nur die Stimme, die ihm diesen Eindruck verschaffte. Der Koloß sagte: „Du wirst die Forschung am Proto aufnehmen, verlasse dich darauf, auch ohne, daß ich dich zwinge. Du bist Wissenschaftler und töricht wie alle Wissenschaftler – töricht wie alle Sterblichen. Du siehst die Möglichkeit gegeben, daß ich euch doch die Venus überlasse, und das wird dich antreiben. Du wirst Zeit gewinnen wollen, um über eine Fluchtmöglichkeit nachzudenken, auch deshalb
wirst du dich in dein Schicksal fügen. Und schließlich denkst du dir, daß wir uns nicht vermehren und deshalb den Lebens räum auf der Venus nicht brauchen. Du findest, das ist eine logische Schlußfolgerung, und deshalb wirst du dich an die Arbeit machen. Jetzt gehe.“ Und Vastabis ging. Sieben Tage noch träumte der häßliche Koloß von der Weltherrschaft der Mutanten unter seiner Führung. Einen Tag, bevor er gestürzt wurde, verfolgte er noch zufrieden die Fortschritte, die Vastabis mit dem Proto machte. Dagegen enttäuschte ihn Geau Fergeaulant. Der Koloß war in keiner Weise auf den ideokinetischen Zwilling angewiesen, aber er ärgerte sich, weil ihn seine Ahnung genarrt hatte, die ihn sonst nie im Stich ließ. Am siebten Tag hatte der Koloß wieder eine Ahnung. Aber vorher passierte noch das mit Viacenter. Er war ausgeschickt worden, um die weitere Umgebung zu erkunden, schließlich war vor einer Woche das Genie in dieses Gebiet eingedrungen. Viacenters Auftrag war nichts anderes als reine Routine – allerdings trat eine alarmierende Wendung ein. Viacenter stand mit einem Telepathen in Verbindung und konnte ihm die beruhigende Nachricht durchgeben, daß vom Genie keine Spur zu entdecken war: Das Gebiet um die Stollen ist verlassen, friedlich. In der nächsten Sekunde empfing der Koloß einen telepathischen Todesschrei von Viacenter. Danach hatte er keine Verbindung mehr zur Außenwelt Das Genie war also noch in der Nähe der Stollen, und es hatte wahrscheinlich das Mutantennest ausfindig gemacht. Es war ein bedenkliches Zeichen, daß sich das Genie bisher so abwartend verhalten hatte. Eine Gefahr braute sich zusammen! Wahrscheinlich rüstete das Genie schon zum Angriff. Der Koloß zitterte am ganzen Körper. Augenblicklich traf er alle zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen, die den gesamten Stollenkomplex absichern sollten. Aber da er diesen Verteidigungsmaßnahmen nicht genügend traute, hatte er
für seine persönliche Sicherheit einige weitsichtige Vorbereitungen getroffen. Er erschien nicht mehr zur Befehlsausgabe im Kreissaal, sondern gab seine Anweisungen telepathisch durch und kapselte sich in seinem undurchdringlichen Bunker hermetisch von der Umwelt ab. Aber der Koloß hatte immer noch die nicht zu ignorierende Todesahnung, und er hatte Angst. Bald begann er die Verläßlichkeit seines Verstecks anzuzweifeln. Wären seine Beinmuskeln nicht schon zu schlaff gewesen, um seine Körpermassen zu tragen, dann wäre er ganz einfach davongelaufen. Die Situation war grotesk; er, ein Unsterblicher, der sich zum Abgott der neuen Rasse ausgerufen hatte, saß hilflos in einem Loch fest, auf Gnade oder Ungnade dem Genie preisgegeben. Und von seinen eigenen Leuten versprach sich der Koloß nicht viel Hilfe, sie würden ihn mit Freuden verraten. Denn er wußte nur zu gut, wie sie ihn innerlich haßten; das hatte er ihnen mit den härtesten Strafen nicht abgewöhnen können. Aber ein wenig hoffte der Koloß immer noch, daß ihn das Genie in seinem Versteck nicht finden würde. Und er hoffte auch noch, daß Vastabis vor dem bevorstehenden Angriff auf ein verwertbares Ergebnis kam. Vorsichtig streckte er seine gedanklichen Fühler aus, bestrich Vastabis’ Gehirn und zog sie enttäuscht wieder zurück. Vastabis war weit von einem Abschluß seiner Arbeiten entfernt. In plötzlicher überschäumender Wut leitete der Koloß gegen Vastabis eine Strafaktion ein. Als er sich abreagiert hatte, kam er zur Besinnung, aber es war schon zu spät. Vastabis würde nie wieder für geistige Arbeit zu gebrauchen sein. Und die Fähigkeit der Zell-Modulation war für den Koloß verloren. In seiner panischen Angst klammerte er sich an die letzte, unwahrscheinlichste Möglichkeit, nämlich, daß der Angriff überhaupt nicht stattfinden würde. Daran klammerte er sich so lange, bis die Meldung der ersten Kampfhandlungen zu ihm drang. Bar jeglicher vernünftiger Überlegungen nahm der Koloß eine Hiobsbotschaft nach
der anderen entgegen, lauschte bange den Detonationen der Sprengkörper und vernahm die verräterischen Gedanken vieler seiner Leute, die kampflos zum Feind überliefen. Schließlich war der „Kampf“ zu Ende. Das Genie hatte gesiegt. Die Todesahnungen waren bereits so stark, daß der Koloß fortwährend in einem tranceähnlichen Zustand dahindämmerte. Als das Genie durch die undurchdringliche Wand in das stinkende Gemach des Kolosses trat, brauchte es einige Sekunden, bis es den abstoßenden Anblick ertragen konnte. Dann tötete es den Koloß mühelos. Nachdem die geistige Druckwelle des sterbenden Fleischberges über die unterirdische Festung hinweggefegt war, atmeten die überlebenden Mutanten auf und feierten in einer spontanen Reaktion ihren neuen Herrscher. Der Koloß war tot, es lebe das Genie!
9. Für Geau Fergeaulant und die anderen Flüchtlinge aus der Menschenfestung trat eine grundlegende Änderung ein. Die Sterblichen waren frei, wenn ihnen auch niemand sagte, daß sie ungehindert ihrer Wege gehen könnten. Aber daran dachte im Augenblick ohnedies keiner, denn sie wollten Vastabis nicht im Stich lassen. Vastabis litt immer noch unter den Schäden, die sein Geist durch die Bestrafung des Kolosses erlitten hatte. Er lag auf einem verrosteten Stahlrohrbett, über seine geschwollenen Lippen kamen unverständliche Laute, und seine Augen waren blicklos gegen die Decke gerichtet. Geau Fergeaulant war verbittert. Er stand am Lager des Menschendenkers und träufelte ihm Wasser auf die ausgetrockneten Lippen. Da kam das Genie in den engen Raum – ein blonder Riese unbestimmten Alters, höchstwahrscheinlich unsterblich und mit einer
Reihe von Fähigkeiten ausgestattet, über die es nicht gerne sprach. Sein Geist arbeitete schneller und präziser als die mathematischen Anlagen der Menschenfestung. Das Genie war aber auch sehr wandelbar. Als es einen schnellen Blick auf Vastabis geworfen hatte, sagte es zu Geau freundschaftlich: „Es tut mir leid, daß Sie einen Freund verloren haben. Er ist nicht mehr zu retten.“ Geau zuckte unter diesen Worten zusammen. „Warum stellen Sie sich so gegen mich?“ fragte das Genie erstaunt. „Weil ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe? Hätte ich lügen sollen? Das hätte Ihren Freund nicht gerettet. Außerdem sollten Sie schon lange erkannt haben, daß wir in einer Welt leben, die vom Tod beherrscht wird. Man könnte sagendes sei ein bitteres Leben und ein süßes Sterben. Und, wohlgemerkt, es sind Unsterbliche, die sterben. Welch chaotische Erde!“ Geau sagte immer noch nichts. „Nur zu“, munterte ihn das Genie auf, „bei mir können Sie Ihrer Meinung freien Lauf lassen. Ehrlichkeit ist mir lieber als Speichellekkerei.“ Geau seufzte und sagte: „Sie können reden, ja. Der Koloß fand auch immer die richtigen Worte. Aber ich lasse mich nicht mehr davon beeindrucken. Ich habe erkannt, daß Unsterbliche, die ihren geistigen Aktionsradius nicht eingebüßt haben und darüber hinaus noch parapsychische Fähigkeiten besitzen, zwangsläufig einen überlegenen Verstand besitzen. Eine Intelligenz, die mit dem IQ nicht mehr zu messen ist.“ „Sie sprechen auch ziemlich überzeugend“, warf das Genie ein. „Ich gehöre nicht zu Ihrer Sorte“, gab Geau zurück, „in der Festung konnte ich mich nicht dermaßen entfalten. Aber ein Mutant, der die Übersicht für sich selbst und die Welt nicht verlor, der entwickelt sich zu einem Supergenie. Dazu gehörte auch der Koloß, wenngleich er sein Wissen und seine Macht für eine vollkommen abstrakte Weltan-
schauung einsetzte. Er hat es fertiggebracht, Vastabis an seiner eigenen Existenzberechtigung zweifeln zu lassen.“ Das Genie lächelte. „Vastabis hätte von selbst darauf kommen können, es ist doch ohnehin klar.“ „Eigentlich habe ich Sie anders eingeschätzt“, sagte Geau nur. „Wie?“ „Mehr oder weniger als Barbar, der ins Chaos hineingreift und die Leute mit roher Gewalt auf seine Seite bringt. Aber das tun Sie nicht. Sie manipulieren geschickter als der Koloß mit menschlichen Gefühlen. Sie töten gefühllos, wo Sie keinen anderen Ausweg sehen; jetzt ziehen Sie gefühlsanklingende Saiten auf, weil es Ihnen ratsam erscheint. Ich muß demnach zugeben, daß die positiven Keimlinge der neuen Rasse noch genialer sind, als ich anfangs glaubte ...“ Unbeeindruckt unterbrach ihn das Genie. „Hören wir damit auf. Sie umschreiben die Dinge viel zu sehr und reden deshalb verworren. Sie haben tatsächlich noch nicht das, was Sie als Genialität bezeichnen, sonst würden Sie der Gegenwart nicht so verblüfft gegenüberstehen. Drücken wir es einfach aus – heute spielt sich nichts anderes ab als schon im 20. Jahrhundert und lange davor: Das Leben ist ein ewiger Machtkampf. Nur wird der Hintergrund immer anders sein. Der Koloß, ich, und sicher kommen auch noch einige andere, wir sind aus der Umnachtung erwacht und wollen mit dem Chaos aufräumen. Jeder auf seine Art. Daß dabei Blut fließt, ist nicht zu ändern.“ Das Genie sah auf Vastabis hinunter. „Aber um ihn tut es mir leid“, sagte es. „Der Koloß muß unter der Last seiner Komplexe wahnsinnig geworden sein. Warum sonst hat er sich mit seinen Fähigkeiten an einem Sterblichen vergriffen? Ich wäre Vastabis mit seinen eigenen Waffen entgegengetreten und hätte ihn meine Fäuste spüren lassen. Da hätte er sich wehren können.“ Geau betrachtete den muskelbepackten Riesen und verzog abfällig die Mundwinkel.
„Seien Sie nicht dumm“, sagte das Genie scharf. „Ich meine nicht, daß Vastabis eine Chance gehabt hätte, was die körperlichen Kräfte betrifft, sondern was die Möglichkeiten anbelangt.“ Das Genie ging. Geau blieb bei Vastabis und pflegte ihn. Nach einer halben Stunde kam Malbros in die enge Gruft. „Wir können uns frei bewegen“, sagte er niedergeschlagen, „aber es gibt keine Fluchtmöglichkeit.“ Geau nickte verstehend. Jetzt war es für ihn klar, daß das Genie irgend etwas Bestimmtes von ihnen wollte. Geau wußte nur noch nicht, was sie so begehrenswert machte. „Wie geht es den anderen?“ wollte Geau wissen. Malbros sagte: „Soweit gut. Man behandelt uns beinahe zuvorkommend. Und wie sieht es mit Vastabis aus?“ Geau sagte es ihm. „Irrst du dich nicht?“ Malbros war blaß geworden. In seinem Gesicht zuckte es. „Gibt es keine Aussicht, ihn zu retten?“ Geau schüttelte den Kopf. „Das Genie hat die Diagnose gestellt.“ „Dieser Teufel.“ Wahrscheinlich meinte Malbros damit den Koloß. Geau machte sich nicht die Mühe, Malbros die Motive der Mutanten zu erklären, er würde sie nicht verstehen. Geau aber verstand. Innerhalb der neuen Rasse würde ein unerbittlicher Machtkampf entbrennen, und erst nach unabsehbarer Zeit könnten sich die Richtlinien der neuen Daseinsform abzeichnen. Die Sterblichen aber würden dabei zermalmt werden. Ihre Ansprüche waren überholt, und Vastabis war ein nichtiges Einzelschicksal. Der Stärkere würde siegen – diese Faustregel galt, solange es Menschen gab. Als sich Geau in die Wirklichkeit zurückrief, war Malbros gegangen. Ein Gedanke bewegte ihn. Warum hatte das Genie an dieser kleinen, im neuen Universum unbedeutenden Menschengruppe solches Interesse? Dasselbe wie ehemals der Koloß?
Vastabis stöhnte wieder. Geau wischte ihm mit einem nassen Lappen den Schweiß vom Gesicht. Als sich der Menschendenker beruhigt hatte, ließ ihn Geau allein und machte sich auf die Suche nach einem der Festungsbewohner. Er fand Hoervin, der mit einem Telekineten ein Pfeilwettschießen veranstaltete. Eine widersprechende Situation. Geau ersuchte Hoervin, sich um Vastabis zu kümmern, dann durchstreifte er die unterirdischen Gewölbe. Er begegnete vielen Mutanten, mit denen er schon Bekanntschaft geschlossen hatte, aber niemand kümmerte sich um ihn. Das war ihm nur recht. Über eine Stunde durchkämmte er die Stollen, dann gab er seine Suche auf. Wie sollte er in diesem Irrgarten den Proto finden, wenn er nicht einmal einen Anhaltspunkt hatte, wo dieser untergebracht war? Fragen wagte er nicht zu stellen. Deshalb ging er zurück zu Vastabis. Hoervin war gerade dabei, ihm einen Brei einzuflößen. Geau schickte Hoervin fort, sagte ihm aber, daß er sich in der Nähe aufhalten solle. Mit Vastabis allein, suchte er mit den Augen den Blick des Kranken. „Vastabis!“ murmelte Geau eindringlich, aber verhalten. „Vastabis, kannst du mich hören? Du mußt mich hören! Du mußt! Verstehst du? Kannst du mich verstehen?“ Ein unverständliches Gemurmel kam von den aufgeworfenen Lippen. „Es ist wichtig“, drang Geau weiter in Vastabis. „Es geht um die Existenz der Mutantenforschung!“ Vastabis’ Atem ging tatsächlich schneller, sein Brustkorb spannte sich, und die Hände begannen zu zucken. „B-b-brodddo“, kam es über die Lippen. Geau unterdrückte nur schwer seine Erregung und das aufkeimende Mitleid. „Ja, der Proto“, sagte er hastig. „Du hast weitere Versuche mit ihm angestellt. Erinnerst du dich?“ „B-b-brodo...“ „Wo ist er jetzt? Wo ist der Proto?“
Ein Zischen kam über die Lippen. Geau brachte seinen Kopf näher an Vastabis und verstand die Worte. „dreiund ... neun ...“ Geau richtete sich auf, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und rief nach Hoervirt. Er ließ den Menschenkämpfer mit Vastabis allein und ging. Geau wußte, daß der Koloß die unterirdische Festung in Sektoren eingeteilt hatte, die, vom Kreissaal ausgehend, von eins bis hundert numeriert waren. Der Proto war also in Sektor dreiundneunzig untergebracht. Ohne viel Zeit zu verlieren, machte sich Geau auf den Weg. Wieder kümmerte sich niemand um ihn, aber er machte sich auf einen heißen Zusammenstoß mit einem Wachtposten gefaßt. Von Sektor zweiundneunzig führte eine gewundene Treppe in die Tiefe, über die Geau in einen quadratischen Raum kam, in dem es stockdunkel war. Geau tastete sich mit den Händen entlang und stellte bekümmert fest, daß von hier kein Weg weiterführte. Deshalb rannte er die Treppe wieder hinauf und holte sich eine Fackel. Als er in den quadratischen Raum zurückkam, sah er sofort das helle Viereck, das sich deutlich von den übrigen Wänden abhob. Hier war ein Gang zugemauert worden. Geau klemmte den Fackelstiel in eine Mauerritze und machte sich daran, die dünne Wand zu durchbrechen. Als er den ersten Stein herausgehoben hatte, vernahm er ein dumpfes Stöhnen. Der Proto! Aber als das Loch groß genug war und Geau in den darunterliegenden Gang geklettert war, zeigte ihm der Fackelschein, daß er sich geirrt hatte. Nicht der Proto hatte gestöhnt, sondern ein Vampir, der Blut gewittert hatte. Und Geau hatte außer der Fackel keine Waffe. Er preßte sich gegen die Wand und beobachtete jede Bewegung des Vampirs, der sich mit katzenhaften Bewegungen näherte. Die Fackel blendete den Vampir, er preßte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und hielt den Kopf ein wenig schief. Seine sprö-
den Lippen entblößten eine Reihe schwarzer Zähne, über denen die breiten Nasenflügel zuckten. Er kam näher. Jetzt war er schon so nahe, daß Geau von dem heißen Atem, der ihm entgegenschlug, fast übel wurde. Der Vampir duckte sich, und Geau wußte, daß er nun springen würde. Die sehnige Gestalt stieß sich vom Boden ab. Geau stieß die Fackel nach vorn, der teuflischen Fratze entgegen. Es gab einen zischenden Laut, der aber in dem wütenden Gebrüll des Vampirs unterging. Die Gestalt rollte über den Boden und schlug gegen die Wand. Geau warf die Fackel in diese Richtung und wollte durch die aufgebrochene Wand zurückklettern. Aber er war erst halb hindurch, als er plötzlich einen Zug an seinem Bein spürte, dem das Geräusch von reißendem Stoff folgte. Für eine Flucht war es bereits zu spät. Geau wirbelte kurz entschlossen herum. Von irgendwoher traf ihn der Schein der Fackel, aber dann schob sich ein dunkler Schemen davor. Geau stieß blindlings sein Fäuste nach vorn, traf den Vampir, wurde aber selbst gegen die Brust getroffen und stürzte. Sein Gesicht schlug auf den nassen Boden, und für einen Augenblick verschaffte ihm diese Abkühlung Erleichterung. Dann wälzte er sich auf den Rücken – und da sprang ihn der Vampir an. Geau riß den Mund auf, wollte schreien, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Wie hypnotisiert starrte er in die vor Blutgier lodernden Augen, sah die schwarzen Zähne über sich und wußte, daß jetzt der Augenblick gekommen war, in dem der Vampir zum entscheidenden Schlag gegen seine Halsschlagader ausholte. Ergeben schloß er die Augen. Aber der Schlag erfolgte nicht. Es gab ein Poltern, und als Geau die Augen endlich öffnete, stand der Proto breitbeinig über ihm. Die Fackel spendete nur ein ungenügendes Licht, aber Geau erkannte, daß die Narben der Rückverwandlung vom Körper des Proto verschwunden waren. Er war humanoid bis ins kleinste Detail. Wie betäubt erhob sich Geau.
Der Proto lächelte. „Ich kann mir Ihre Verblüffung gut vorstellen“, sagte er. „Ich schien doch immer in einem tiefen Koma zu liegen, ohne jegliche Persönlichkeit. Jetzt stehe ich so vor Ihnen. Sie müssen sich eben damit abfinden, daß alles Vorangegangene nur ein Täuschungsmanöver war.“ „Täuschungsmanöver?“ wiederholte Geau ungläubig. „Ich habe mich nur verstellt“, sagte der Proto. „Ich war immer bei Bewußtsein, selbst das Arsenik konnte daran nichts ändern; ich habe es mühelos absorbiert. Allerdings war der Transport in dieser engen Kiste kein Vergnügen. Was ich da an Hornhaut produzieren mußte, hätte ich nicht einmal im Terra-Aquarium gebraucht.“ „Mein Gott“, stöhnte Geau und hielt sich den Kopf. „Und ich kam her, um Sie vor dem Genie zu beschützen ...“ „Genie!“ sagte der Proto abfällig. „Er heißt in Wirklichkeit Georg Warner und ist eine Gefahr für die Erde. Er ist ein flüchtiger Verbrecher. Aber diesmal entkommt er uns nicht mehr ...“ Geaus Gedanken wirbelten durcheinander. Er verlor den Faden der Zusammenhänge, aber eine Vermutung hatte sich durchgesetzt. Der Proto gehörte einer dritten Organisation an! Zuerst schien der Koloß die ultimate Macht in Händen zu halten, war dann vom Genie verdrängt worden, und jetzt erfuhr Geau, daß das Genie ein Außenseiter einer übergeordneten Organisation war. Diese Organisation hatte mit den Sterblichen ein diabolisches Spiel getrieben. Sie hatten mit den Sterblichen Funkverbindung aufgenommen, hatten ihnen die Illusion einer zweiten Festung gegeben und sie aus ihrer sicheren Bastion gelockt. Welch ein teuflischer Plan! Aber schon vorher war gute Arbeit geleistet worden. Sie hatten den Proto in die Festung eingeschleust, und dieser konnte die Anlagen seelenruhig studieren. Und die Unsterblichen waren blindlings in sämtliche Fallen der neuen Rasse getappt. „Die Erde ist die Hölle“, murmelte Geau. „Das ist zu allgemein ausgedrückt“, sagte der Proto. „Aber hier in Europa herrschen tatsächlich bedenkliche Zustände. Aber ich bin
wenigstens froh, daß wir Warner das Handwerk legen werden. Ich glaube, er weiß ohnehin, daß sein Traum von der unumschränkten Macht ausgeträumt ist. Er dachte, daß er mit den Umnachteten den großen Griff tat. Aber jetzt hat er sicher schon erkannt, daß sie noch Wilde sind und gegen uns nicht ankommen können. „Aber Warner hat die Menschenfestung erobert“, meinte Geau eifrig, der plötzlich seine Sympathie für das Genie entdeckte. Durch das Genie waren sie vom Regen in die Traufe gekommen. Aber diese neue Organisation mußte den Untergang bringen. Der Proto lächelte. „Das Ellipsenschiff gehört nicht Warner, wie Sie vielleicht glauben. Es wurde nämlich von uns ausgesandt.“ „Dann habt ihr die wehrlosen Frauen und Kinder auf dem Gewissen!“ Geau zitterte vor Wut und Abscheu. „So kommen wir nicht weiter“, erklärte der Proto ruhig. „Niemand hat diese Frauen und Kinder auf dem Gewissen. Ihnen ist kein Härchen gekrümmt worden.“ „Aber ihr habt sie gefangengenommen.“ Geau mußte sich beherrschen, sonst hätte er sich auf den Proto gestürzt, obwohl er keine Chance gegen ihn gehabt hätte. Mit bebender Stimme sagte er: „Und was werdet ihr mit ihnen tun?“ „Sie wissen so gut wie ich, daß auf der Erde kein Platz für Sterbliche ist. Wir müssen sie behandeln.“ Der Proto hielt inne, schloß für einen Moment die Augen, dann lächelte er. „Und jetzt“, sagte er zufrieden, „können Sie zusehen, wie eine organisierte Einheit diese unterirdische Festung nimmt. Unser Schiff steht nämlich in diesem Augenblick bereits über den Stollengängen. Die Invasion beginnt !“ Tatsächlich waren der Koloß und das Genie nur harmlose Träumer gegen diese Organisation gewesen. Regen – Traufe – Untergang ... Geau wußte nicht, was er noch hätte ändern oder retten können, aber irgend etwas wollte er unternehmen. Deshalb stürmte er davon. Der Proto hinderte ihn nicht daran. Als Geau in die belebteren Gewölbe kam, sah er, welches Durcheinander in den Reihen der Mutan-
ten herrschte. Sie rannten kopflos umher, schrien und behinderten sich gegenseitig. Dann sah Geau den ersten der Invasoren. Er materialisierte mitten in der Luft. Er war in eine schmucklose, enganliegende Uniform gekleidet, trug auf dem Rücken zwei Metallbehälter und vor dem Gesicht eine Atemmaske. Er hielt ein pistolenähnliches Ding in der Hand, das an den einen Gasbehälter angeschlossen war. Die Atemmaske war an dem anderen Behälter angeschlossen. Zwei Mutanten kreuzten den Weg des Eindringlings, aus dessen „Pistole“ plötzlich ein bläuliches Gas schoß, auf die beiden Mutanten zu, die davon eingehüllt wurden und gleich darauf lautlos zusammensackten. Geau sprang in den nächsten Seitengang. Er rannte wie von Furien gehetzt. Endlich erreichte er den Kreissaal. Das Genie lehnte mit stupidem Gesichtsausdruck an der Wand. Als es Geau erblickte, rief es mit zorniger Stimme: „Warum hat mir niemand gesagt, daß einer ihrer Agenten sich hier eingenistet hat!“ „Was hätten Sie dann gemacht?“ fragte Geau ungerührt. „Ich hätte ... ich werde Sie zertreten!“ brüllte das Genie. „Ich sage Ihnen, was Sie getan hätten“, gab Geau zurück. „Sie wären schon eher geflüchtet! Stimmt es nicht? Sie gehörten einmal selbst dieser Organisation an und wußten, welche Macht sie besaß. Sie kommen dagegen nicht an, deshalb betrachteten Sie es als günstigen Wink des Schicksals, als Sie bei den Überresten der Herberge in unserem Planwagen die Pläne für das Venusschiff fanden. Seit Tagen haben Sie an nichts anderes als an Flucht gedacht. Sie wollten sich zur Venus absetzen. Nur deshalb sind Sie uns gefolgt und waren bitter enttäuscht, als Sie erkannten, daß Vastabis unheilbar wahnsinnig geworden war.“ Geau hatte vorgehabt, das Genie aus der Reserve zu locken, damit es sich gegen die Invasoren zur Wehr setzte.
Aber Georg Warner sagte nur: „Seien Sie still. So können Sie mir nicht helfen. Ich bin am Ende!“ Geau sah es. Georg Warner lehnte kraftlos an der Wand. Aber Geau fragte sich, was diesen Mutanten einzuschüchtern vermochte, der den Koloß mühelos überwältigt hatte. Er erfuhr es in der nächsten Minute. Zwei Invasoren erschienen gleichzeitig. „Ich möchte nicht umgewandelt werden“, schrie Warner in höchster Verzweiflung. „Ich möchte ich bleiben!“ Das bläuliche Gas hüllte ihn ein. Die Invasoren drehten sich blitzschnell um und richteten ihre Gaspistolen auf Geau. Das ist es also, dachte er, sie formen Menschen nach ihrem Willen. Verwandeln sie die Menschen in Zombies? Wie in Zeitlupe sah er den bläulichen Strahl auf sich zukommen – Warner lag bereits regungslos auf dem Boden. Meau! Geau hatte seinen Zwillingsbruder ganz vergessen, jetzt spürte er einen schwachen Kontakt. „Nein!“ schrie er, wußte aber, daß Meau ihn nicht hören konnte. – Geau machte einen schwachen Versuch zu flüchten, aber seine Beine trugen ihn nicht mehr. Der Boden des Kreissaals stürzte auf ihn zu, dann verschwand diese Szene vor seinen Augen, und ein neues Bild bot sich ihm. Er befand sich auf der Venus. Meau hatte den Persönlichkeitswechsel vorgenommen. Armer Meau ... Erst jetzt sah Geau die heranstürmenden Echsen. Der Himmel hatte sich rot gefärbt; irgendwo war ein Vulkan ausgebrochen und hatte die Riesenechsen der Venus aufgescheucht. Geau machte diese Überlegung, während die Herde nur noch hundert Meter von ihm entfernt war. Die Echsen würden ihn überrennen, denn sie waren schneller als er. Außerdem versagte ihm das eine Bein den Dienst; es war aussichtslos. Aber er wollte dennoch nicht mit
Meau tauschen. Ihm war der schnelle Tod lieber als ein endloses Dahinsiechen als Zombie. Er sah sich noch einmal um, betrachtete die riesigen Bäume, deren Wipfel sich in der nebeligen Atmosphäre verloren, atmete einige Male tief ein und blickte den heranstürmenden Riesenechsen gefaßt entgegen. Das Leittier war kaum dreißig Meter entfernt. Geau legte sich zurück in den Schlamm und entspannte sich. Das rettete ihn. Er spürte einen Zug im Gehirn, fühlte, daß er einen Sekundenbruchteil schwerelos in der Luft hing ... schließlich schlug er mit seinem ganzen Gesicht gegen einen metallischen Boden. „Bin ich froh“, sagte eine männliche Stimme. „Ich dachte schon, du würdest dich überhaupt nicht mehr entspannen. Aber jetzt ist ja alles in Ordnung.“ Eine Mädchenstimme meldete sich: „Noch nie habe ich solche Angst ausgestanden.“ „Aber jetzt ist alles in Ordnung“, wiederholte der Mann von vorhin. Ein anderer mischte sich ein – ein Mann: „Hast du vielleicht verwirrte Gedanken. Soll ich nicht eine kleine psychische Korrektur vornehmen, damit du wieder ins Gleichgewicht kommst?“ Geau riß erschreckt die Augen auf. „Nein“, schrie er. Er sah drei Männer und zwei Frauen vor sich, alle fünf waren in hautenge, nahtlose Kombinationen gekleidet. Die Männer sahen durchschnittlich aus, die Frauen waren hübsch, die eine blond, die andere schwarz. Die Blonde weinte. Geau sah, daß Blut über seinen Arm geronnen war. Deshalb also hatte Meau den Wechsel so überstürzt vorgenommen; er konnte kein Blut sehen und hatte im Affekt gehandelt. Die Blonde kam zu ihm und strich ihm mit zarter Hand über das nasse, blutverkrustete Haar. „Liebling“, sagte sie. „Martin meint es doch nur gut mit dir. Du weißt, daß er ein ausgezeichneter Psychotherapeut ist, und du hast eine Behandlung dringend nötig.“
„Ja, ja“, schrie Geau und stieß das blonde Engelsgesicht weg. „Natürlich kann ich eine Behandlung vertragen. Ihr greift hinein in mein Gehirn, wühlt darin, hackt herum nur drauflos, so lange, bis ich ein Zombie bin.“ Die fünf betrachteten ihn schweigend. Geau wußte nicht, was in ihnen vorging, aber das war ihm gleich. Es war ihm inzwischen klar geworden, daß er es hier mit Mitgliedern jener Organisation zu tun hatte, der auch der Proto angehörte. Sie waren es also, die das andere Schiff zur Venus geschickt hatten. Und aus irgendeinem Grund hatten sie mit Meau freundschaftlichen Kontakt aufgenommen, die Blonde hatte sich in ihn verliebt, wußte aber anscheinend noch nicht, daß Meau bereits auf der Erde war und dort der Behandlung unterzogen würde. Welche Tragik! Geau lachte. Eine schneidende Stimme peitschte durch die Stille: „Meau Fermeaulant!“ Geau bäumte sich auf. „Nennt mich nicht Meau. Ich bin Geau. Geau Fergeaulant – und möchte es auch bleiben !“ Die Blonde schrie markerschütternd. Geau lachte wieder hysterisch; es war ihm eine tiefe Befriedigung, daß man auch Mitglieder der neuen Rasse verletzen konnte. Er lachte und spürte den Nadelstich in seinem Oberarm nicht. Er wurde zusehends müde. Ein Gesicht erschien vor ihm. „Sind Sie Martin?“ fragte Geau. „Ja.“ „Irgend etwas stimmt doch nicht“, lallte Geau. Das Gesicht vor ihm wurde immer verschwommener, aber er erkannte, daß sich ein Lächeln darauf bildete. „Doch“, sagte Martin, „alles ist in Ordnung. Aber jetzt brauchen Sie Ruhe. Ich habe in Ihren Gedanken gelesen. Sie sind sehr verworren wie Ihre ganze Einstellung. Aber glauben Sie mir, wenn Sie wieder erwachen, dann haben Sie die Behandlung hinter sich und sind ein neuer Mensch. Ein Mitglied der neuen Rasse.“
Noch im Hinüberdämmern erkannte Geau, was für seine Begriffe nicht stimmte. Martins Lächeln war überhaupt nicht teuflisch gewesen, sondern sehr, sehr freundlich ...
10. Vastabis schlug die Augen auf. Er lag nackt auf einem weiß überzogenen Bett, das weich gefedert war und sich seinen Körperformen vorzüglich anpaßte. Er setzte sich auf. Das Zimmer war ihm unbekannt, aber nicht fremd; auch befremdete es ihn nicht, daß es so ein sauberes Zimmer gab und – daß er hier war. Er sah einen Schrank, einen Spiegel, und über einem Polstersessel lagen Kleidungsstücke. Er zog sie an, und sie paßten. Leichte Unterhose, Unterhemd, Shorts und ein ärmelloses Blusenhemd. Vastabis ging zum Spiegel und betrachtete sich. Ein etwas zu breites Gesicht starrte ihm entgegen, glattrasiert, mit ausdrucksstarkem Mund und jungenhaften Augen. Vastabis zwinkerte seinem Spiegelbild zu, dann ging er zur Tür. Ja, aber wie öffnen? Die Tür hatte keine Klinke, keinen Knauf und wies nirgends eine Vertiefung auf. Zuerst drückte er schwach und dann mit der ganzen Kraft seiner Arme gegen die Tür, schließlich stemmte er sich mit dem ganzen Körpergewicht dagegen. Die Tür blieb zu. Ich will sie öffnen, dachte Vastabis, verdammtes Ding, geh’ auf! Die Tür schwang auf. Er trat in eine Diele hinaus und kam wieder zu einer Tür. Bist du auch so brav wie deine Schwester? Lautlos schwang auch diese Tür auf.
Er kam ins Freie, in einen üppigen Garten mit schattigen Bäumen, bunten Blumen und knöcheltiefem Gras. Darüber spannte sich ein tiefblauer Himmel. Nirgends sah Vastabis ein Lebewesen. Ich bin ganz allein hier. Ich auch. Also bin ich nicht allein. Wer sind Sie? Ein Telepath? Nein, aber anscheinend Sie. Ich heiße Sylber. Teufel auch – ich bin Vastabis. Vastabis hörte in seinem Geist ein überschwengliches Lachen. Wir sind ganz schön an der Nase herumgeführt worden, nicht? Wir sollten uns irgendwo treffen. Wir können uns orientieren, jeder nach den Gedanken des anderen. Sylbers Gedanken wurden tatsächlich lauter, während Vastabis durch das saftige Gras schritt. Er überquerte eine fugenlose Straße, dann eine zweite und kam an einigen niedrigen, freundlichen Gebäuden vorbei, die sich harmonisch in die Landschaft fügten. Nach ‘gut einem Kilometer stieß er auf Sylber. Sylber sah blendend aus. „Zur Abwechslung könnten wir uns akustisch unterhalten“, meinte Vastabis. „Mir ist nämlich noch ein bißchen unheimlich zumute. Was meinten Sie damit, daß wir an der Nase herumgeführt wurden?“ Sylber hatte eine ähnliche Bekleidung wie Vastabis. Er sagte: „Weil wir tatsächlich geglaubt hatten, daß es eine zweite Festung gäbe, in der ebenfalls Sterbliche lebten. Dabei gab es weder eine Festung noch andere Sterbliche. Nur eine neue Rasse, die mit der Befriedung der Erde begann. Sicher hätte man uns auch aufklären können, aber das wäre wahrscheinlich zeitraubender gewesen.“ Vastabis stimmte dem zu; er dachte an den Proto, der ja die Gepflogenheiten der Festungsbewohner ausgekundschaftet hatte. Und er dachte daran, daß es ihm eigentlich hätte auffallen sollen, daß keiner der Wagen die zweite Festung erreichte. Aber jetzt war er froh, daß er nicht mißtrauisch geworden war. Wer weiß, welche Wendung dann eingetreten wäre.
„Wie wenig wir von der Erde wußten“, murmelte Vastabis. „Wir dachten, daß sie im Chaos versinken würde, dabei gab es eine Gruppe Unsterblicher, die viel fortschrittlicher war als wir. Wenn ich daran denke, daß ich unheilbar erkrankt war ...“ Niemand hatte Vastabis gesagt, daß er wahnsinnig gewesen war. Trotzdem wußte er es. Wahrscheinlich war es ihm während des Schlafes einsuggeriert worden. Das mußte auch die Erklärung dafür sein, daß er alle neuen Eindrücke so gelassen hinnahm. Liebes Türchen, geh doch bitte auf. Der Gedanke kam von irgendwoher. „Wir sind also nicht allein in diesem Paradies“, stellte Sylber lakonisch fest. Viele verschiedenartige Gedanken drangen noch auf sie ein, insgesamt unterschieden sie dreizehn verschiedene Impulse, und bald fanden sich alle Gedankenträger bei Vastabis und Sylber ein. Es waren alles ehemalige Festungsbewohner – nun Telepathen. Vastabis kannte keinen mit Namen, nur vom Sehen. Sie hatten einander viel zu sagen. Jetzt, nach dem langen Schlaf, waren sie sprunghaft gereift, ausgestattet mit parapsychischen Fähigkeiten – sicher kamen sie früher oder später dahinter, daß sie nicht nur Telepathen waren. Vastabis sonderte sich von den anderen ab. Er wollte die Eindrücke verarbeiten, die er während des Schlafes aufgenommen hatte. Er brauchte Ruhe. Vor zweihundert Jahren, also im Jahre 440 N.A., hatte ein Unsterblicher den Immunitätsfaktor entdeckt und konnte ihn mühelos auf andere übertragen. Er gründete auf dem Kontinent Australien eine „Kolonie der neuen Rasse“; deren Mitglieder waren Unsterbliche im Vollbesitz ihres Erinnerungsvermögens und besaßen darüber hinaus noch parapsychische Fähigkeiten; sie speicherten ein gigantisches Wissen in sich, sie erkannten die Macht der Wissenschaften und entdeckten sie von neuem; und sie spürten auch die Kraft der Liebe – sie konnten sich fortpflanzen, vermehren. Im Jahre 630 war der Kontinent Australien befriedet, es gab weder Vampire noch andere Aus-
wüchse der Unsterblichkeitsbehandlung. Es war aber auch an der Zeit, sich mit der Übervölkerung zu befassen. Ein Raumschiff wurde zur Venus geschickt, um die Kolonisation vorzubereiten. Mit diesen Pionieren der neuen Rasse hatten die ideokinetischen Zwillinge Kontakt gehabt, erinnerte sich Vastabis. Was war aus ihnen geworden? Nun machte sich die „Kolonie der neuen Rasse“ an die Befriedung der anderen Kontinente. Als erstes bemühten sich die „Australier“ um das Wohl der Menschenfestung. Warum gerade um uns? fragte sich Vastabis. Irgend etwas hatte sich vor die Sonne geschoben und warf seinen Schatten auf Vastabis. Er blieb stehen, hob seinen Blick höher, höher ... Er stand vor zwei steinernen Statuen – etwa hundert Meter hoch. Vastabis ging so lange um das Monument herum, bis die Sonne in seinem Rücken stand. Die beiden Statuen stellten Bulgin und ihn, Vastabis, dar. „Wieso Bulgin? Wieso mich?“ Er hatte es unwillkürlich laut ausgesprochen. „Weil Sie der Begründer einer neuen Zeit sind.“ Erstaunt drehte sich Vastabis um. Ein Mädchen stand vor ihm – in ähnlicher Bekleidung wie er. Wieder mußte er seinen Standort wechseln, damit die Sonne nicht in seine Augen stach. Das Mädchen war schön und erinnerte ihn an eine Personenbeschreibung, die er von irgendwem einmal bekommen hatte. „Gehen wir ein Stück zusammen?“ fragte Vastabis. Sie gingen, die Sonne in ihrem Rücken. Sie kamen auf eine kiesbestreute Allee und folgten ihr. „Sie sind Telepath“, sagte das Mädchen. „Und was noch?“ fragte Vastabis. „Unsterblich, ein Mitglied der neuen Rasse; aber zu Ihrer Beruhigung: immer noch Mensch. Sie wundern sich überhaupt nicht? Dann
haben Sie die Behandlung erfolgreich überstanden. Bei Ihnen ging es schnell. Manche brauchen länger, wissen Sie ...“ „Wie lange habe ich geschlafen?“ „Zwanzig Jahre.“ Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander. Dann fragte Vastabis: „Was ist aus der Festung geworden?“ „Niedergebrannt. Die Umnachteten ließen ihrem Haß freien Lauf.“ „Und die Venus?“ Jetzt lächelte das Mädchen. „Hier sind wir auf der Venus.“ „Aber der blaue Himmel“, staunte Vastabis, „und diese Landschaft. Ich habe eine andere Beschreibung erhalten.“ „Wir haben die Venus urbar gemacht.“ Vastabis nickte. „Jetzt verstehe ich, warum Bulgins Denkmal hier steht. Aber was hat das mit mir zu tun?“ „Ich sagte schon“, erklärte das Mädchen, „daß Sie der Begründer dieser Ära sind. Sie haben den Immunitätsstoff entdeckt und parapsychologische Forschung betrieben. Von Ihren Ergebnissen war es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Endstadium und damit zur praktischen Anwendung.“ „Das ehrt mich“, gab Vastabis ein wenig beklommen zurück, „aber dieselbe Entdeckung machte ein Unsterblicher zweihundert Jahre vor mir. Meine Forschungen waren schon lange überholt.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich habe Ihnen eine Andeutung gemacht, Sie hätten von allein hinter die Wahrheit kommen können. Aber das macht nichts, ich werde es Ihnen erklären.“ In ihre Augen trat ein etwas wehmütiger Schimmer. Sie räusperte sich und erzählte mit fester Stimme. „Als Bulgin zu Ihnen in die Menschenfestung kam, sah er, daß Sie nicht mehr weit davon entfernt waren, den Immunitätsfaktor übertragbar zu machen. Aber er wußte auch, welche Machtposition die Mutanten inzwischen gewonnen hatten und – daß die Festung in absehbarer Zeit fallen würde. Vergessen Sie nicht, daß er die Zukunft kannte. Bulgin kopierte deshalb sämtliche Ihrer Forschungsergebnisse und ging damit in die Vergangenheit,
nach Australien, und führte dort Ihre Arbeit zu Ende. Er konnte im Jahre 440 den Immunitätsfaktor erfolgreich anwenden und gründete eine kleine Kolonie. Er schrieb sein Vermächtnis nieder, in dem der genaue Zeitpunkt stand, zu dem die Menschen der Festung der Behandlung unterzogen werden sollten – das war wichtig, weil er nicht wollte, daß es zu einer zeitlichen Überschneidung kam. Bulgin kam nie mehr nach Australien zurück“, endete das Mädchen. Vastabis wußte, weshalb. Bulgin kam zurück in die Menschenfestung und brachte die Pläne für den Raumschiffsbau. Wahrscheinlich tat er genau um diese eine Zeitreise zuviel, denn danach gelang es ihm nie mehr, sich in den normalen Zeitablauf einzugliedern. Die genaueren Umstände über das tragische Schicksal des ETP-Mannes würden aber für immer ein Geheimnis bleiben. Zum erstenmal seit seinem Erwachen war Vastabis wirklich beeindruckt. Aus der Venus war ein blühender Planet geworden. In einigen Jahren war auch die Erde befriedet. Das alles hatte Bulgin präzise vorbereitet; was er selbst dazu beigetragen hatte, erschien ihm als wenig. Ja, Bulgin hatte aus alleiniger Kraft dieses Universum aufgebaut. Es war noch nicht vollkommen, dieses Universum; es würden noch mehr Außenseiter auftauchen, wie dieser Georg Warner, zum Beispiel. Aber man würde sie nicht bestrafen, sondern nur psychische Veränderungen an ihnen vornehmen, bis sie wieder nützliche Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft waren. Es wurde auch noch viel mehr getan. Einer der beiden ideokinetischen Zwillinge, Geau, war bereits mit einem Raumschiff zum nächsten Fixstern unterwegs. Und bald würde man Raumschiffe überhaupt nicht mehr brauchen, sondern die Lichtjahre allein durch die Kraft des Geistes überbrücken. Dessen war sich Vastabis gewiß. Aber warum sollte er davon träumen? Er würde es ohnehin erleben, er war unsterblich.
Er riß sich in die Wirklichkeit zurück. Er sah zu dem traurigen Mädchen. Er wollte sie in ihren Erinnerungen nicht stören, deshalb klang seine Stimme sanft, als er sagte: „Sie haben Bulgin gekannt? Er hat mir von Ihnen erzählt.“ „Ja, ich habe ihn gekannt, sehr gut habe ich ihn gekannt.“ Sie straffte ihre Schultern und lächelte schwach. „Ja“, sagte Hulga wieder. Sie war ein Mensch, unsterblich und eine Frau. ENDE