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Roy Palmer 1.
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Seewölfe 106 1
Roy Palmer 1.
Die Nacht des Schreckens hatte ihren blutigen Auftakt genommen. Maccallion hob vorsichtig den Kopf und hielt Ausschau. Er lag auf dem Bauch und konnte im blassen Mondlicht die Körper seiner beiden Mitstreiter erkennen. Reglos lagen sie da, einer vor der leise rauschenden Brandung am Ufer, der andere auf dem Inselhang. Der Wind strich über sie weg, griff dabei in das harte Gras und eilte weiter, auf den Atlantik hinaus. Er summte die Melodie des Todes. Maccallions Kumpane waren tot. Er preßte die Lippen zusammen, bis sie blutleer waren. Kalter Haß war n ihm. Er tastete nach seinem Messer und fühlte sich stark und unbesiegbar, als er es mit den Fingern berührte. Als, er sich hingeworfen hatte, hätte es ihm leicht entgleiten können. Jetzt war er froh, nicht danach suchen zu müssen. Den toten Engländer — er war Flanagan gerufen worden — hatten die abrückenden Männer des schwarzen Schiffes mitgenommen. Brian O’Lear, Maccallions Anführer, der hartgesottenste aller irischen Piraten, hatte den Mann getötet und war dann kurzfristig in dessen Rolle geschlüpft, um die Frauen zu überlisten. Maccallion erhob sich und begann zu laufen. Er hielt auf das Zentrum der Insel zu, sein Ziel war das Südufer mit der geschützten Bucht, in der die Schiffe der Gegner lagen. Er war nicht verletzt. Keinen Kratzer hatte er abgekriegt. Als sich O’Lear mit den drei anderen Kumpanen und dem gefangengenommenen Mädchen Severa ins Meer zurückgezogen hatte, hatte er, Maccallion, sich einfach nur fallen lassen. Die Seewölfe und die Männer der Frau mit den schwarzen Haaren waren an ihm vorbeigestürmt. Entweder hatten sie ihn für tot gehalten oder nicht gesehen. Schwimmend, wie O’Lear mit seinen Kumpanen auf die Insel gelangt war, hatte sich der Ire nun wieder zu seinen draußen auf See wartenden Schiffen entfernt. Der Seewolf hatte ihm folgen wollen, aber
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O’Lear hatte ihm zugebrüllt, er werde dem Mädchen die Gurgel durchschneiden, wenn man ihn nicht flüchten ließe. Der Seewolf, wie jener große, schwarzhaarige Mann von der DreimastGaleone genannt wurde, hatte daraufhin den Rückzug angetreten. Und die Schwarzhaarige mit der roten Bluse’ und den weißleinenen Schifferhosen - sie führte die Männer des schwarzen Viermasters an -hatte auch nichts anderes tun können, als seinem Beispiel zu folgen. Maccallion lief ihnen nach. Der Südwest blies ihm ins Gesicht, bald aber mehr und mehr gegen die rechte Wange. Er schien auf Westen zu drehen. Maccallion dachte, daß das gut war für Brian O’Lear. Er hielt die Hand um den Messergriff geschlossen und hetzte über die Inselhänge, mal in eine Senke hinunter, dann wieder auf eine Kuppe - weiter, ohne Aufenthalt. Die Schwarzhaarige - sie hätte das riskante Entführungsunternehmen beinahe verhindert. Diese wilde Amazone, dachte Maccallion zornig, sie wird noch dafür büßen. Mit ihrem Schuß aus der Pistole hatte sie nicht nur den einen irischen Piraten getötet, sie hatte auch ihre Freunde von den Schiffen alarmiert und auf den Plan gerufen. Der Seewolf war an der Spitze des Trupps herbeigestürmt und hatte Maccallions zweiten Komplicen niedergestochen. O’Lear hatte angesichts der Übermacht befürchtet, das Mädchen Severa könnte doch noch befreit werden. Deshalb hatte er es vorgezogen, sich erst einmal auf sein Flaggschiff „Black Eagle“ zurückzuziehen, Und Maccallion? Er war nicht auf der Insel geblieben, weil er etwa den Anschluß verpaßt hatte. O nein. Sein Verhalten war eiskalte Berechnung. Vor Beginn ihres Unternehmens hatte O’Lear einen Freiwilligen gesucht, der ein „Himmelfahrtskommando“ durchzuführen hatte, falls irgendetwas schieflief. Maccallion hatte sich dazu gemeldet. Er haßte diesen Seewolf, weil er sie schon in der Vornacht wie Hunde von der Insel verjagt hatte. Jetzt haßte er ihn noch mehr,
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weil er einen seiner Kumpane getötet hatte - und weil Maccallion nun wußte, daß er ein Engländer war. Ein verfluchter, dreckiger Bastard von Engländer, dachte Maccallion. Seine Finger verkrampften sich um das Messer. Etwas war schiefgegangen, sonst hätte sich O’Lear nicht nur des Mädchens als Geisel bemächtigt. Er hätte auch danach getrachtet, sofort die Insel zu besetzen und die Schiffe zu vereinnahmen. So kam nun der „Sonderteil“ von Brian O’Lears Plan zum Tragen. Maccallion sollte, notfalls unter Einsatz seines Lebens, Terror stiften. Nach dem Motto: Beraube eine Schiffsbesatzung ihres Kopfes, und sie wird in Panik geraten. Ich werde dich töten, Seewolf, dachte er. Der Gedanke setzte sich in seinem Geist fest, er fraß und gärte darin. Er würde nicht eher ruhen, bis er seinen Auftrag ausgeführt hatte. Maccallion erreichte. die Bucht im Süden der Insel. Er sah die beiden stolzen Schiffe in dem natürlichen Hafenbecken liegen, groß und wuchtig der Viermaster mit seinen merkwürdigen Aufbauten und den düsteren Segeln, schlank und erstaunlich flach gebaut die Galeone des Seewolfes. Als ausnehmend hoch registrierte Maccallion an ihr nur die Masten. Sie trugen viel Segelfläche und verliehen dem Schiff schnelle Fahrt, eine fortschrittliche Konzeption. Maccallion legte sich wieder auf den Bauch und robbte den Hang hinunter. Niemand entdeckte ihn. Die Laute aufgeregter Stimmen wehten zu ihm herüber. Beide Crews begaben sich in aller Hast auf ihre Schiffe. Ihr Vorhaben war offensichtlich: Sie wollten ankerauf gehen und O’Lear nachstellen. Auf dem Ufer ragten zwei gigantische Schatten wie Felsen auf. Maccallion hielt unwillkürlich den Atem an, als er sie identifizierte. Wale waren das, und was für Prachtexemplare! Der eine, wahrscheinlich ein Männchen, war fast doppelt so groß wie der andere. Beide schienen Humpbacks zu sein, Buckelwale.
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Maccallion begriff. Am Tag hatte eine Patrouille der irischen Piraten beobachtet, wie der Seewolf mit Booten in die Passage zwischen den beiden Inseln gefahren war. Dort hatte er also auf den Wal gewartet! O’Lears Leute hatten allerdings nicht mehr gesehen, wie er ihn gestellt und erlegt hatte. Der zweite, kleinere Wal stammte vom Westufer der Insel. Dort jedenfalls war vor zwei Tagen so ein Tier angespült worden. Tot. Maccallion wußte nicht, welches Geheimnis mit diesem Vorfall zusammenhing, und er zerbrach sich auch nicht weiter den Kopf darüber. Die Engländer hatten mit dem Ausweiden der Wale begonnen, aber jetzt ließen sie ihre Arbeit liegen. Alle suchten sie die Schiffsdecks auf. Befehle wurden gerufen, Schritte trappelten über das Deck. Es herrschte heller Aufruhr - und keiner sichtete den Schatten, der da bis zum Ufer der Bucht robbte und dann ins Wasser glitt. * Die Männer vom schwarzen Schiff, die als letzte vom Kampf am Nordufer zurückgekehrt waren, hatten den toten Flanagan mitgenommen. Er war kein besonders umgänglicher Typ gewesen, dieser Flanagan. Dauernd hatte er sich mit Cookie, dem Koch des Viermasters, angelegt. Aber, so paradox das klang: Gerade Cookie war am meisten vom schrecklichen Tod des Kameraden betroffen und schwor seinem Mörder bittere Rache. „Die Beulenpest soll dieser irische Satan kriegen!“ brüllte er in die Nacht hinaus. „Oh, ich werde ihm zeigen, was es heißt, einen von uns zu massakrieren! Laßt uns erst mal gegenüberstehen, Auge in Auge, dann ramme ich ihm mein Kombüsenmesser in den Leib - so, wie er’s mit Flanagan getan hat!“ Oleg, einer der fünf Wikinger, legte ihm die Hand auf die Schulter. „Cookie, ich wollte dir nur sagen ...“ „Ja?“
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„Flanagan ging leicht auf die Palme, aber er war kein schlechter Seemann.“ „O nein, das war er nicht.“ „Und ihr hättet auch irgendwann Frieden geschlossen.“ „Und ob wir das getan hätten!“ Sie schwiegen und blickten zu dem Leichnam des Engländers. Sie hatten ihn auf die Kuhlgräting gebettet, so, als könnten sie ihn doch noch irgendwie verarzten. „Er kriegt ein ordentliches Begräbnis“, sagte Oleg noch. Dann purrten ihn die Befehle von Thorfin Njal an die Brassen und Schoten, und auch Cookie setzte sich schleunigst in Bewegung. Der schwere Stockanker wurde gelichtet, die Segel gesetzt. Jeder Mann wurde gebraucht. Auf der „Isabella VIII.“ verließ soeben Philip Hasard Killigrew das Achterkastell. Er hatte den Befehl erteilt, Brian O’Lear mit den Schiffen zu verfolgen, aber er wußte nicht, welchen Ausgang das Unternehmen haben würde. Severa Guerazi in der Hand der Piraten! Nur oberflächlich nahm der Seewolf wahr, wie seine Crew über Deck hetzte und die Manöver durchführte. Carberrys barsche Stimme drang wie durch Korkstopfen an seine Ohren. Er war zutiefst erschüttert. Da war nicht nur die Entführung des Mädchens. Soeben hatte ein weiteres, menschlich tief berührendes Drama seinen Abschluß gefunden. Nicht nur die Männer auf dem schwarzen Schiff hatten einen Toten zu beklagen. Auch die „Isabella“ führte jetzt einen Leichnam mit. Euzko Guerazi, Severas Vater, war soeben gestorben. Er hatte nicht mehr erfahren, daß seine Tochter von dem verhaßten O’Lear verschleppt worden war. Gewiß, Hasard und alle anderen an Bord außer Severa hatten gewußt, daß der alte Waljäger früher oder später von der Schwindsucht dahingerafft werden würde. Aber das änderte nichts daran: Der Tod des Basken ging ihnen nahe. Auf dem Niedergang zum Achterdeck wurde Hasard plötzlich von Dan O’Flynn gestoppt. Dan hielt ihn am Arm fest und
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stieß hervor: „Verdammt noch mal, Hasard, wenn ich Severa doch bloß begleitet hätte! Wenn ich bei dem Kampf dabei gewesen wäre, ich hätte sie gerettet!“ Hasard drehte sich um und musterte ihn. „Dan, reiß dich zusammen. Dein Posten war im Großmars, du hattest keine Freiwache. Außerdem habe ich dir eben schon gesagt, daß du an dem Verlauf der Dinge nichts geändert hättest.“ „Ich werde wahnsinnig!“ schrie Dan. „Ich halte das nicht aus!“ Hasard packte ihn bei den Schultern. Der junge Mann hatte sich bis über beide Ohren in Severa verliebt—und jetzt dies! Seit der Rückkehr der Männer hatte er sich die ganze Zeit über wie wild aufgeführt. Jetzt schien er wahrhaftig durchzudrehen. Hasard schüttelte ihn. „Donegal Daniel O’Flynn! Du bist hier nicht an Bord eines abgetakelten Küstenseglers, verflucht noch mal! Halt die Luft an, und nimm dich zusammen!“ „Ich ...“ „Das ist ein Befehl!“ fuhr Hasard ihn an. „Ja. Ja-wohl.“ „Wir laufen aus, um Severa zurückzuholen, verstanden?“ „Ich — ja, Sir.“ „Hör auf zu stottern, und sprich ganze Sätze“, knurrte Hasard. „Ich gebe mir Mühe, mich nicht wie ein Narr zu benehmen —Sir.“ „Dein Posten ist im Großmars, hast du das vergessen?“ „Nein, Sir.“ „Dann enter auf, ehe ich mich vergesse, Dan O’Flynn!“ „Aye, aye, Sir.“ Dan besann sich auf seine Selbstbeherrschung und die strenge Borddisziplin. Er wandte sich um, lief zu den Hauptwanten und klomm in den Großmars hinauf. Hasard trat zu Ben Brighton, seinem Bootsmann und ersten Offizier, der die Manöver vom Achterdeck aus mit kritischem Blick verfolgte. „Wir haben El Asesino, den Mörderwal, besiegt, Ben. Aber jetzt haben wir es mit einem weitaus gefährlicheren Gegner zu tun.“
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„Glaubst du, daß wir O’Lear nicht packen können?“ „Ich will nicht mehr Philip Hasard Killigrew heißen, wenn wir das nicht schaffen.“ „Aber das Mädchen ...“ „Das ist es ja, Ben“, erwiderte der Seewolf mit verschlossener Miene. „O’Lear hat sie sich als Faustpfand genommen. Und wie ich ihn einschätze, wird er diesen Trumpf brutal ausspielen.“ Er senkte die Stimme. „Ein Teufel wie dieser Ire schreckt vor nichts zurück. Auch nicht davor, eine Frau zu mißhandeln.“ * Philip Hasard Killigrew! Maccallion kauerte auf der Heckgalerie der „Isabella“, als der Seewolf oben auf dem Achterdeck seinen Namen aussprach. Seine Züge waren verkniffen und spiegelten den Haß und die Anspannung, die sein Inneres erfüllten. Doch jetzt verzerrten sie sich noch mehr. Killigrew! Schwimmend hatte Maccallion die Galeone erreicht. Er wußte, daß sie das Führungsschiff des Gegners war. Dann hatte er den schwarzhaarigen Mann mit den breiten Schultern auch auf dem Oberdeck erkannt. Soviel ließ das fahle Licht des Mondes gerade noch zu. Maccallion war am Steuerruder hochgekommen. Wieder hatte ihn keiner beobachtet. Auch für die Männer und die schwarzhaarige Frau drüben auf dem Viermaster war er so gut wie unsichtbar gewesen, denn die Heckpartie der „Isabella“ lag für sie im toten Sichtbereich. Sie hätten schon um die Ecke sehen müssen, um ihn zu entdecken. Er war katzengewandt auf die Heckgalerie geklettert, das Messer zwischen den Zähnen. Jetzt beschäftigte er sich mit der Tür zur Kapitänskammer. Als er das Messer in den Spalt schob, gelang es ihm, den Riegel zu öffnen. Ganz lautlos ging das nicht vonstatten, aber das Knarren des Schiffsrumpfs, der Blöcke und Rahen, das
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Plätschern des Wassers und. das Rufen der Männer auf Deck überlagerten es völlig. Maccallion schob die Tür halb auf und schlupfte durch den Spalt. Er stand in der Kammer des Kapitäns. Killigrew! Er drückte die Tür wieder hinter sich zu und dachte nach. Er war von der irischen Armee desertiert, weil man ihn wegen Diebstahls zur Rechenschaft hatte ziehen wollen. So war er an Bord von O’Lears Piratenschiff gelangt, hatte den Atlantik überquert und die Karibik kennengelernt, hatte geraubt, geplündert, gemordet und vor den Spaniern bis hierher, zum Archipel kurz vor Feuerland, flüchten müssen. Aber das hatte nichts an seinen patriotischen Gefühlen geändert. Als irischer Fanatiker war er bei dem Unternehmen an der Dungarvan-Bai dabei gewesen, damals, Ende 1576. Er hatte diesen Philip Hasard Killigrew seinerzeit nicht gesehen, aber er hatte gehört, wie der Mann unter seinen Landsleuten aufgeräumt und den spanischen Alliierten das Fürchten gelehrt hatte. Das hatte Maccallion nie vergessen. Und jetzt, hier, auf der anderen Seite der Welt, erfuhr er, wer dieser Seewolf war. Killigrew! Der Verdammungswürdigste aller elenden englischen Bastarde. Höchstens Francis Drake hatte Irland größeren Schaden zugefügt. Maccallion war jetzt froh, den Mordauftrag angenommen zu haben. Er war dazu ausersehen, Killigrew die Kehle durchzuschneiden. Der Gedanke daran erfüllte ihn mit Genugtuung. Spät, aber nicht zu spät würde er sich für die fast acht Jahre zurückliegenden Vorfälle an Irlands Küsten rächen. Aufmerksam schlich er durch die Kammer. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er untersuchte argwöhnisch die Umgebung, ständig auf der Hut, in jeder Sekunde auf böse Überraschungen gefaßt. Er blieb wie angewurzelt stehen, als er den Mann entdeckte. Er lag zu seinen Füßen auf einer seltsamen Koje, mitten im Raum. Eine reglose-
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Gestalt - warum hatte er sie nicht eher bemerkt? Maccallion nahm das Messer in die rechte Hand, kniete sich neben den Fremden und war bereit, ihm die Klinge in die Brust zu stoßen. Doch dann verhielt er. Der Mann schlief nicht. Es war nicht der rechte Moment, zu schlummern, jeder an Bord der Galeone war von der Aufregung um die Entführung des Mädchens angesteckt, keiner konnte sich ausschließen. Aber noch etwas anderes hatte Maccallion stutzig werden lassen und überzeugte ihn, daß der Fremde nicht schlief. Seine Brust hob und senkte sich nicht. Kein Atemzug war zu vernehmen. Der Tod hatte sich in diese Kammer geschlichen. Der Ire ließ das stoßbereite Messer wieder sinken. Er atmete tief durch. Daß der Seewolf den Toten erst vor kurzem aus seiner eigentlichen Kammer hierher hatte bringen lassen, wußte er nicht. Hasard wollte ihm eine letzte Ehre erweisen, indem er ihn in seinem Allerheiligsten aufbahren ließ. Maccallion war auch der Name dieses alten, bärtigen Mannes nicht bekannt. Aber er ahnte, daß er den Walfänger vor sich hatte, der auf dieser Insel gehaust haben sollte. Einmal hatten sie, die Piraten, nach ihm gesucht, hatten ihn aber nicht aufstöbern können. Irgendwo mußte er einen Unterschlupf gehabt haben. Und das dunkelblonde Mädchen, das sich jetzt bei O’Lear auf der „Black Eagle“ befand, war seine Tochter. „Ruhe in Frieden“, murmelte Maccallion mit hämischem Grinsen. „Du hast das beste Los gezogen, alter Narr. Du kriegst ja nicht mehr mit, wie es dem hübschen kleinen Weibsbild an den Kragen geht.“ Seine Stimme war heiser geworden. Irgendwie war ihm plötzlich doch mulmig zumute. Ein Toter. Das war ein böses Omen. Er wußte, daß der Alte ihm nichts mehr anhaben konnte, und doch schien er ihn zu beobachten, zu bewachen. Konnte er ihn etwa aus dem Jenseits heraus betrachten?
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Maccallion erhob sich und wich ein Stück zurück. Wie alle einfachen Menschen hatte er einen unverrückbaren, tief verwurzelten Aberglauben. Ihm bangte davor, daß sich der Geist des Alten an ihm rächen würde. Aber rasch verdrängte er die düsteren Gedanken, als sich das Schiff ein wenig auf die Seite legte. Das Rauschen des Wassers an den Bordwänden nahm zu - die „Isabella“ hatte sich in Fahrt gesetzt. Sie lief aus der Bucht. Kurze Zeit darauf näherten sich Schritte. Maccallion schlich zur Tür, die auf den Innengang des Achterkastells wies. Er drehte sich um und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, so daß die Tür ihn verdecken mußte, falls sie geöffnet wurde. 2. Severa wäre lieber ertrunken, statt mit den Piraten zu schwimmen. Aber sie war ohnmächtig geworden, und dann hatte Brian O’Lear sie auf den Rücken gedreht und ohne großen Aufwand und Kraftverlust mitgeschleppt. Nebelstreifen krochen flach über das Wasser. O’Lear und seine drei Begleiter konnten die nördlich der Insel postierten Schiffe nicht erkennen, aber sie entdeckten alsbald die Konturen eines Bootes. Es löste sich aus der Wand von Dunkelheit und Dunst und glitt gespenstisch leise auf sie zu. Sanft tauchten die Riemen ein und hoben sich wieder aus dem Wasser. Sechs Männer saßen auf den Duchten. O’Lear spitzte die Lippen und ließ einen langgezogenen Pfiff ertönen —wie vereinbart, zunächst hoch, dann in eine tiefere Lage abfallend. Sofort hielten die Männer im Boot auf ihn zu. Wenig später holten sie die Riemen ein, gingen längsseits der Schwimmer und nahmen auf O’Lears Befehl hin zuerst das Mädchen an Bord. Danach kletterte auch O’Lear in das Boot. Seine drei Kumpane im Wasser schickten sich an, ebenfalls auf zuentern. „Vorsicht“, sagte einer der Piraten im Boot, „treibender Tang.“
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O’Lear schaute sich um und sah nun auch die riesigen, schlangengleichen Gebilde, die auf das Boot zufächelten. Tang — er konnte ganze Boote umklammern und in die Tiefe reißen, ja, sogar Schiffe in Gefahr bringen. „Verdammt“, zischte O’Lear. „Los, beeilt euch, wir müssen hier weg.“ Zwei Schwimmer klommen am Dollbord hoch und griffen nach den hilfreich ausgestreckten Händen ihrer Kumpane. Der dritte war nicht: ganz so schnell. Er blieb ein Stück zurück und gestikulierte plötzlich verzweifelt. Der Tang hatte ihn umschlungen und drohte ihn unter die Wasseroberfläche zu zerren. Brian O’Lear riß eine unter den Duchten verstaute Pike hervor, eilte ganz nach achtern und streckte dem Mann das stumpfe Ende entgegen. Die Pike war länger als ein Bootsriemen, sie erreichte den Mann, und er konnte sie mit beiden Händen packen. O’Lear zerrte und holte den Mann Zug um Zug zu sich heran. „Pullt!“ fuhr er die anderen an. „Los, pullt, so schnell ihr könnt, sonst bleiben wir alle stecken.“ Er zog den Mann aus dem Wasser und befreite ihn von einem großen, glitschigen Stück Tang, das seine Hüfte umspannt hielt. Der Mann sank neben ihm auf eine Ducht. Er war kreidebleich im Gesicht. Ein großes Beet formte sich aus dem treibenden Riesentang, aber die Piraten schafften es, sich ihm zu entziehen, bevor es das Boot umwickelte und zum Stoppen brachte. Kurz darauf wuchsen die Umrisse der Schiffe vor ihnen aus dem Nebel. Fast majestätisch wirkte die „Black Eagle“, O’Lears Führungsschiff. Sie war eine robust gebaute Galeone mit drei Masten und imposanter Armierung. In ihrem Großtopp wehte die Totenkopfflagge. Nach den letzten Gefechten mit den Spaniern bestand O’Lears kleine, aber wehrhafte Flotte nun noch aus insgesamt vier Schiffen. Eine zweite, etwas kleinere Galeone dümpelte neben der „Black
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Eagle“ auf der Dünung. Eine halbe Kabellänge weiter nach Norden versetzt warteten die beiden Karavellen. Eine führte drei Masten, die andere zwei, beide waren lateingetakelt. Wohlweislich hatte der Ire diesmal seine komplette Streitmacht aufgeboten. Den Fehler von der Vornacht wollte er nicht wiederholen. Allein hatte er sich mit der „Black Eagle“ bis zur Ankerbucht des Seewolfes begeben. Er hatte geglaubt, die Männer im Schlaf überraschen zu können und leichtes Spiel zu haben. Aber unversehens hatten sich die beiden Schiffe auf ihn zugeschoben, drohende Giganten in der Nacht - und dann war der Teufel los gewesen. Er schüttelte sich, als er daran zurückdachte. Wieder flammte der Haß in ihm auf. Ein verfluchter Engländer hatte ihm, Brian O’Lear, zu trotzen gewagt! Das würde er büßen, zehnfach, hundertfach. Das Boot schor längsseits der „Black Eagle“. O’Lear griff sich das immer noch bewußtlose Mädchen, legte es sich über die Schulter und enterte als erster an der Jakobsleiter auf. Auf der Kuhl ließ er sie auf die Planken sinken und trat grinsend seinen Männern entgegen. Coleman, ein hagerer, hochaufgeschossener Mann aus Dublin, der auf der Galeone die Funktion des Bootsmannes wahrnahm, war O’Lears rechte Hand. Er blickte auf Severa, schaute zu seinem Anführer und sagte: „Ich habe vorsorglich das Boot losgeschickt, um nach euch suchen zu lassen. Wir haben Schüsse gehört und uns gedacht, daß etwas danebengegangen ist.“ „Ja. Ich wollte euch ein Leuchtzeichen von dem höchsten Inselhügel aus geben, sobald ich das Schiff des Anführers in meine Gewalt gebracht hatte, aber soweit sind wir nicht gekommen.“ Er berichtete, was vorgefallen war. „Zwei Tote“, sagte Coleman. „Zum Teufel auch, wir hätten mit den Schiffen doch die Bucht anlaufen sollen.“ „Damit der Seewolf uns mit seinen vollen Breitseiten empfangen konnte?“ O’Lear
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stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte seinen Bootsmann durchdringend an. „Wahnsinn.“ „Der Nebel verbirgt uns.“ „Der Seewolf hat ausgezeichnete Ausguckposten, vergiß das nicht.“ „Der Seewolf?“ „So nennen sie ihn, Coleman. Ich nehme an, er ist der Kerl, der den Spaniern schon seit Jahren einen erbitterten Krieg liefert. In den Kneipen von Tortuga und anderswo habe ich die wildesten Geschichten über diesen ,Lobo del Mar’ gehört. Aber er ist keiner von uns. Er bildet sich ein, als ,Korsar der Königin’ was Besseres als alle anderen Freibeuter zu sein.“ O’Lear grinste plötzlich wieder. „Ein harter Bursche, das muß ich ihm lassen. Wißt ihr, was ich glaube? Er wird uns verfolgen. Aber Maccallion ist auf der Insel zurückgeblieben und wird seine Mission erfüllen. Darauf baut mein weiterer Plan auf.“ „Das Mädchen“, sagte Coleman. „Sie ist keine Engländerin, wie du gesagt hast. Aber sie gehört zu ihnen, und der Seewolf wird es nicht zulassen, daß wir sie umbringen. Wir können alles von ihm fordern - alles.“ „Bestimmt hat er Schätze an Bord“, sagte ein anderer. „Wenn er mit Erfolg gegen die Spanier kämpft, muß er ihnen einiges abgenommen haben.“ „Wir werden ihn töten und seine Schiffe plündern“, erwiderte Brian O’Lear. „Das schwöre ich euch.“ Severa lag etwas abseits der Versammlung und war bereits wieder voll bei Sinnen. Gleich nachdem O’Lear sie auf die Planken gelegt hatte, war sie zu sich gekommen. Jetzt vernahm sie, wie der wüste Ire seinen Kerlen alle Einzelheiten des Planes auseinandersetzte. Darauf wartete sie nur noch. Als er am Ende angelangt war, sprang sie auf. Sie lief zum Backbordschanzkleid. Sie bewegte sich -trotz ihrer Benommenheit leichtfüßig wie eine Gazelle. Sogar dem Seewolf war sie auf der Insel fast davongerannt, als sie ihre erste Begegnung gehabt hatten.
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„Haltet sie!“ schrie O’Lear. „Das Weibsstück darf nicht entwischen!“ brüllte Coleman. Fluchend warfen die Piraten sich herum. Sie hetzten Severa nach, aber sie befand sich in diesem Augenblick bereits dicht vor dem Schanzkleid. Zwei Sätze noch, dann ein Sprung, und sie konnte sich über die breite Handleiste stürzen. Aber jäh senkte sich ein großer Schatten auf sie. Sie spürte ihn mehr über sich, als daß sie ihn fallen sah. Ausweichen konnte sie nicht mehr. Sie versuchte es, doch der Schatten, der die Form eines Mannes hatte, landete auf ihr und warf sie auf das Deck. Sie schrie auf. Unter der Wucht des Aufpralls glaubte sie zerquetscht zu werden. Brennender Schmerz durchfuhr ihren Körper. „Auskneifen wolltest du, wie?“ schrillte eine Stimme über ihr. „Aber du hast die Rechnung ohne Fatboy gemacht.“ Der Mann war so beleibt, wie sein Name besagte. Er kniete über ihr und hielt sie fest. Sie konnte nicht einmal den Kopf wenden und in sein Gesicht sehen. Die ganze Zeit über hatte er wie ein dickes Faultier in den Hauptwanten der Backbordseite gehangen und gelauscht, was gesprochen worden war. Severa hatte ihn übersehen. Jetzt bezahlte sie dafür. O’Lear trat zu ihnen und klopfte dem dicken Mann auf die Schulter. „Gut aufgepaßt, Fatboy. Du kriegst eine Extraration Rum. Laß das Weibsbild jetzt los, ich will mich mit ihr unterhalten.“ Fatboy erhob sich und wich grinsend zur Seite. O’Lear bückte sich, packte Severa am Arm und riß sie zu sich hoch. Zweimal klatschte seine Hand in ihr Gesicht. Sie taumelte zurück, stieß mit den Waden gegen den Rand der Kuhlgräting und verlor das Gleichgewicht. Mit einem gequälten Laut sank sie auf die Gräting. O’Lear war wieder bei ihr und hielt sie mit einer Hand fest. „Du Luder“, sagte er. „Dachtest du wirklich, du könntest dich noch retten? An Land schwimmen wolltest du, wie? Das schaffst du nicht, nie und nimmer. Ich halte
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dich fest und tu mit dir, was ich will. Bald brauche ich dich nicht mehr als Faustpfand, bald benutze ich dich nur noch als Mätresse.“ „Lieber sterbe ich“, stieß sie hervor. Er lachte wild, riß sie wieder hoch und schleuderte sie auf Coleman zu. „Sperrt sie in eine Kammer! Sorgt dafür, daß sie nicht ausrücken kann. Ich befasse mich später mit ihr, jetzt ist keine Zeit dafür.“ Er senkte die Stimme etwas. „Und noch etwas. Glaubt nicht, daß ihr sie vernaschen könnt. Sie gehört mir.“ Coleman wandte sich an die Umstehenden. „Habt ihr gehört? Denkt daran.“ „Natürlich“, entgegnete Fatboy. „Wir sind doch nicht lebensmüde.“ * Die „Isabella“ verließ die Ankerbucht und nahm östlichen Kurs. Dicht hinter ihr schob sich der schwarze Segler dahin. Sie gingen platt vor den Westwind und wirkten mit ihrem prall geblähten Vollzeug wie große, wütende Schwäne. Hasard suchte kurz das Achterkastell auf, um sich weitere Waffen zuzustecken. Er bezweifelte nicht, daß O’Lears kompletter Schiffsverband vor dem Nordufer der Insel lag. Weiter nahm er an,’ daß sich die Piraten nach Westen wenden würden — erstens wegen der Windverhältnisse, zweitens, weil dort, irgendwo auf einer der rund zweihundert Inseln des Archipels, nach Euzko und Severa Guerazis Angaben das Versteck der Schufte lag. . Sie würden sich also treffen, und es mußte zur Auseinandersetzung kommen. Wenn O’Lear Severa auch als Geisel benutzte und sie zu töten drohte, Hasard würde versuchen, seine Galeone „Black Eagle“ zu entern. Irgendwie. Vielleicht mit einem Boot, vielleicht schwimmend. Er mußte es schaffen. Hasard wollte sich ein Entermesser holen, das er zusätzlich zu seinem Degen am Körper tragen konnte. Und zusätzlich zu der doppelläufigen Reiterpistole in seinem Gurt brauchte er eine zweite Pistole. In seiner Kammer befand sich ein kleines
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Arsenal, er brauchte nur die passenden Stücke auszuwählen. Er öffnete die Tür und trat in seine Kammer. Und genau in diesem Augenblick nahm er ein winziges Geräusch wahr. Ein feines Schaben, kaum erwähnenswert. Und doch, es gehörte nicht zu den typischen Lauten auf der „Isabella“. Ein Mann, der sein Schiff kannte wie der Seewolf und überdies scharfe Sinne und einen geschulten Verstand hatte, mußte mißtrauisch werden. Hasard ließ die Türklinke nicht los. Er verhielt, lehnte sich nach rechts und rammte die Tür mit voller Wucht gegen die Innenwand der Kammer. Nur gelangte sie nicht ganz bis dorthin. Sie traf schon vorher auf Widerstand, und der Widerstand gab einen unterdrückten Wehlaut von sich. Hasard warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Diesmal glaubte er ein Knacken zu vernehmen — und ein verzweifeltes Ächzen. Er wich wieder zurück. Die Tür schwang vor, als pendele sie in ihren Rahmen zurück, blieb dann aber doch auf halber Strecke stehen. Der Kerl, der sich hinter ihr versteckt hatte, wurde sichtbar. Er war schlank, muskulös und schien rotblonde Haare zu haben, soweit sich das im hereinschimmernden Mondlicht feststellen ließ. Er neigte sich langsam mit Kopf und Oberkörper vor, dann kippte er der Länge nach Hasard entgegen. Hasard rückte zur Seite. Fast fiel der Kerl auf Euzko Guerazis aufgebahrten Leichnam. Nur ganz knapp neben ihm landete er mit dumpfem Laut auf dem Bauch. Hasard empfand die Szene als makaber und der Ruhe des toten Waljägers nicht würdig. Langsam zog er den Toten zur rechten Kammerwand. Anschließend ging er zu dem Bewußtlosen. Er hatte ihn fast zerquetscht und so hart mit der Tür getroffen, daß ihm die Sinne geschwunden waren. Da lag er nun vor ihm, pitschnaß, in Lumpenkleidung gehüllt, ein verwahrloster Galgenstrick. O’Lears Mordgeselle. Zu wem sollte er wohl sonst gehören?
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Hasard bückte sich. Er wollte ihn entwaffnen und dann nach oben schleppen. Die Vorpiek war das richtige Gemach für einen gescheiterten Mörder, dort konnte er sich am stinkenden Bilgewasser erfreuen und Freundschaft mit den Ratten schließen. Aber es kam anders. Unversehens regte sich der Fremde. Er fuhr hoch, so überraschend, daß Hasard kaum reagieren konnte. Ein haßverzerrtes Gesicht, eine Faust, die auf seinen Kopf zuzuckte, das waren die bruchstückhaften Dinge, die er in diesem Augenblick wahrnahm. Die Faust knallte gegen seine Schläfe. Hasard war für kurze Zeit benommen und wankte zurück. Der Fremde sprang auf, griff zur Hüfte und hielt plötzlich ein Messer in der Hand. „Du englischer Hund“, zischte er. „Du dachtest, Maccallion sei bewußtlos, was? Aber so leicht kriegst du einen Iren nicht klein.“ Hasard zog in einer instinktiven Reaktion ebenfalls sein Messer. Er hätte auch die Pistole oder den Degen wählen können. Damit wäre er dem Kerl überlegen gewesen. Doch das entsprach nicht seinem Stil. Fairneß auch dem ärgsten Feind gegenüber, lautete seine Devise. „Du bist verrückt, Maccallion“, murmelte er. Er lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Das Brausen und der Schmerz in seinem Kopf wichen etwas. „O’Lear hat dich geschickt, aber das, was du dir in den Kopf gesetzt hast, bringst du nicht fertig.“ „Killigrew“, sagte Maccallion. „Die Stunde der Abrechnung ist da. Erinnerst du dich an die Dungarvan-Bai?“ „Schwach, Maccallion.“ „Aber ich sehr genau!“ „Du warst damals bei den irischen Truppen?“ fragte Hasard verwundert. „Und dann hast du das Soldatenleben mit dem Piratendasein vertauscht — um dein Leben für einen Bastard wie O’Lear zu opfern? Du mußt wirklich ein Narr sein, Ire.“ „Ich töte dich, englischer Hurensohn“, flüsterte der Pirat. „Aber du hast Angst. Du rufst deine Freunde, weil du im Grunde
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deines Herzens ein Feigling bist. Das ist deine Stärke, Seewolf.“ Hasard streckte das rechte Bein vor, erwischte mit dem Stiefelhacken die Türkante und riß den Fuß zurück. Die Tür fiel ins Schloß. „Wir sind allein, Maccallion. Leg los. Keiner sieht uns, keiner hört uns. Nur der tote Baske ist Zeuge, wie einer von uns daran glauben muß. Fang endlich an.“ Maccallion ließ sich das nicht zweimal sagen. Er sprang vor. Federnd bewegte er sich mit gespreizten Beinen voran, duckte sich und stach zu. Hasard hatte sich überhaupt nicht gerührt. Gerade das schien den jähzornigen Maccallion in zusätzliche Wut zu bringen. Er ließ sich zu vorschnellem Handeln verleiten, statt Hasard zuerst zu umtänzeln und aus der Reserve zu locken. Hasard huschte von der Wand weg. Er war blitzschnell. Maccallion konnte seine Stoßrichtung nicht mehr korrigieren. Das Messer bohrte sich in die Wand. Mit einem Fluch riß der Ire es wieder heraus, aber in diesem Moment war der Seewolf neben ihm und trat ihm in die Seite. Das war kein simpler Tritt, sondern ein Rammstoß, wie von einem Klotz geführt. Maccallion segelte durch die Kapitänskammer, riß das Pult um und krachte schwer gegen Hasards Koje. Hasard setzte nach und war über ihm, als er sich aufrappelte. Maccallion hob wieder das Messer. Aber bevor er zum Stoß ausholen konnte, hatte Hasard seinen Arm gepackt und umgedreht. Der Ire keuchte entsetzt. Er versuchte mit aller Macht, die Waffe festzuhalten und Hasard in den Leib zu stoßen. Für Sekunden vibrierte die Spitze dicht vor Hasards Brust. Hasard hebelte den Arm noch weiter herum, so weit, daß Maccallion eine Halblinksdrehung vollführte. Seine Armmuskeln waren gelähmt, die Finger wurden kraftlos. Das Messer entglitt ihm und polterte zu Boden. Hasard ließ den Iren los. Er hätte ihn mit dem Messer töten können, aber das hatte er
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sich wieder in den Gurt geschoben. Nach wie vor hielt er an seinen Grundsätzen fest. Maccallion dankte es ihm schlecht. Er ließ sich auf die Koje fallen und trat Mit dem Fuß nach ihm. Er traf ihn gegen die Brust, dicht unter dem Halsansatz, und bremste seinen nächsten Angriff. Hasard hatte den Iren mit einem Fausthieb unters Kinn außer Gefecht setzen wollen, aber der Schwinger hatte nicht die nötige Reichweite. Ehe sich Hasard wieder gefangen hatte, war Maccallion auf den Beinen und rannte gegen ihn an. Er duckte sich. Sein Kopf traf Hasards Magengegend. Hasard stolperte zurück und prallte gegen die Wand. Es gab einen dumpfen Laut. Die Welt um ihn herum drehte sieh, rote Schleier wallten vor seinen Augen, und er glaubte, sich übergeben zu müssen. Langsam sank er an der Wand zu Boden, fast an derselben Stelle, an der er den Iren bei seinem Eintreten überrascht hatte. Maccallion ballte beide Hände, legte sie ineinander und bildete so eine einzige Faust. Er riß sie von unten herauf auf Hasards Kinn zu. Mit diesem vernichtenden Schlag wollte er ihn endgültig fällen. Aber Hasard hatte den Gegner im Auge behalten. Er reagierte. Plötzlich war da, wo er eben noch halb gelehnt, halb gelegen hatte, nur noch die Wand. Maccallion stockte. Er hielt in der Bewegung inne, aber zum Staunen kam er nicht mehr richtig, weil Hasard ihn frontal attackierte. Der Seewolf hatte sich durch einen Sprung aus der unmittelbaren Gefahrenzone gebracht, sich abgerollt und federte jetzt hoch und auf den Piraten zu. Die Übelkeit war noch da. Aber die drohende Ohnmacht war gewichen. Er fühlte sich wieder im Vollbesitz seiner Kräfte - Maccallion erhielt eine- Kostprobe davon. Hasards Faust knallte unter seine Kinnlade. Der zweite Hieb raste gegen seine Brust. Der Ire schoß wie vom Katapult geschnellt durch die Kammer, flog über das Pult und blieb vor Hasards Waffenschrank liegen. Hasard schritt auf ihn zu.
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Maccallion richtete sich auf, fuhr herum und griff nach der nächstbesten Waffe, die er erreichen konnte. Den Schrank vermochte er nicht zu öffnen. Aber gleich daneben hingen zwei gekreuzte Säbel an der Wand. Einen davon riß er an sich. Er wandte sich zu Hasard um, hob die Klinge und stieß eine lästerliche Verwünschung aus. Hasard zog den Degen. „Gib auf, Maccallion“, sagte er. „Noch hast du eine Chance, am Leben zu bleiben. Ich verspreche dir, dich zu schonen.“ Der Ire warf den Kopf zurück und lachte wild. „Eine Chance? Du bist aber gar nicht von dir eingenommen. Du Bastard, du glaubst doch wohl nicht im Ernst, mich besiegen zu können!“ „Haß blendet, Maccallion.“ „Schweig!“ Mit diesem Ruf schwang der Ire den Säbel, ein schweres Modell mit goldenem Handkorb, durch die Luft, als gelte es, etwas zu zerhacken. In wilder Parade stürmte er auf den Todfeind ein. Aber Hasard verlor die Beherrschung nicht. Eiskalt berechnete er seine Möglichkeiten. Er tat zunächst so, als sei er von Maccallions Ausfall beeindruckt. Er wich zurück, aber nicht bis zur Tür. Weit vorher bremste er ab und ließ den Iren ganz aufrücken. Er hielt seinen Stand, fintierte, und Maccallion ging darauf ein. Hasard brauchte nur zur Seite zu weichen, um dem scheinbar vernichtenden Klingenhieb zu entgehen. Während der Säbel wirkungslos die Luft zerschnitt, führte er die Degenspitze ruckartig auf die Waffenhand des Gegners Es gab einen ratschenden Laut. Maccallion schrie auf. Seine rechte, waffenführende Hand war von einem blutigen Mal gezeichnet. Das Blut schoß heraus, die Hand war nicht mehr zu gebrauchen. Noch einmal sagte Hasard: „Gib auf, Maccallion. Streich die Flagge.“ Schritte trappelten heran. Die Seewölfe auf Deck waren durch den Kampflärm und die Rufe des Iren alarmiert worden und rückten an. Maccallion brüllte wieder einen Fluch. Sein Säbel wechselte gedankenschnell von
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der rechten in die linke Hand über. Er streckte den Arm vor, schrie: „Tod allen englischen Bastarden!“ und rannte genau auf den Seewolf zu. Hasard zuckte dieses Mal nicht zur Seite weg. Er nahm den Angriff direkt an. Sein Degen knallte gegen den Säbel und drückte ihn nach rechts. Hart rieben die Metalle aneinander, der Degen drohte zu brechen. Hasard ließ trotzdem nicht locker. Er preßte den wutschnaubenden Maccallion zur Seite und von sich fort. Mit einem Geräusch, als würde eine Sense geschliffen, lösten sich die beiden Waffen voneinander. Die Tür flog auf. Ben Brighton und Ferris Tucker erschienen als erste in der Kammer, hinter ihnen drängten sich die anderen. „Stehenbleiben!“ rief Hasard. „Keinen Schritt weiter!“ Sie verharrten. Maccallion glaubte, sein großer Augenblick sei gekommen. Er wähnte Hasard unachtsam. Wieder warf er sich vor und raste auf seinen verhaßten Widersacher zu. Hasard schlug mit dem Degen zu, quer von rechts nach links. Maccallions Säbel ruckte aus der Stoßrichtung und huschte haarscharf an Hasards Knie vorbei. Der Ire lief auf, wollte den Säbel wieder hochschwingen, aber diesmal war der Seewolf schneller. Er hatte seinen Degen wieder an sich gerissen und stach zu. Erbarmungslos. Maccallion hatte den Kampf bis zur letzten Konsequenz gefordert. Seine Chancen hatte er selbst verspielt. Er wankte zurück. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er ruderte etwas mit den Armen, dann sank er hintenüber und streckte sich neben Hasards umgekippten Pult auf dem Boden aus. Ein letzter, gehauchter Laut drang über seine Lippen. Dann lag er reglos. Der Degen ragte aus seiner Brust auf. Den Säbel mit dem goldenen Handkorb hielt er auch im Moment des Todes noch fest in der Linken. „Kutscher“, sagte Hasard.
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Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, drängelte sich durch. Er kniete neben Maccallion nieder, untersuchte ihn kurz und stellte lakonisch fest: „Aus.“ „Schafft ihn auf Oberdeck“, befahl Hasard. „Wir befördern ihn zu den Fischen.“ Er schritt auf den Gang hinaus. „Verdammt und zugenäht”, sagte Ben Brighton. „Wie konnte dieser Kerl auf unser Schiff gelangen? Wer ist das überhaupt?“ Hasard erklärte es ihm und fügte abschließend hinzu: „Die Deckswachen kann ich dafür nicht zur Verantwortung ziehen. In dem allgemeinen Durcheinander beim Aufbruch aus der Bucht konnte Maccallion sich mühelos anschleichen. Außerdem rechnete keiner damit, daß einer der Piraten auf der Insel geblieben war. Nicht einmal ich.“ „Deck!“ Der Ruf ertönte plötzlich von hoch oben aus dem Hauptmars der Galeone. Dan O’Flynn hatte ihn ausgestoßen. Die Sorge um die verschleppte Severa setzte ihm schwer zu, aber er vergaß darüber nicht seine Pflichten. „Deck! Karavelle Steuerbord achteraus! Das muß eins von O’Lears Schiffen sein!“ Hasard stürmte los. 3. Das schwarze Schiff hatte inzwischen aufgeholt und befand sich, parallel zur „Isabella“ laufend, fast auf gleicher Höhe mit den Seewölfen. Hasard hatte also den Blick nach achtern frei. Er eilte aus dem Achterkastell, wandte sich um, nahm den Backbordniedergang zum Achter deck mit zwei Sätzen und lief zu seinen Männern. Big Old Shane und Old O’Flynn waren oben geblieben, während die anderen besorgt nach unten zur Kapitänskammer geeilt waren. Zu ihnen hatte sich inzwischen auch Ed Carberry gesellt. Sir John, der karmesinrote Aracanga, saß auf seiner rechten Schulter, nickte aufgeregt mit dem Kopf und sagte: „Himmel, Arsch und Zwirn.“ „Was war denn los?“ fragte Shane.
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Hasard setzte es ihm und den beiden anderen in kurzen Zügen auseinander. Während sie noch verdutzt dreinschauten, kniff er die Augen zusammen und hielt nach achtern Ausschau. Der Nebel war dichter geworden. Fett, in riesigen Fladen, lag er auf der See. Ob das nun ein Vor- oder Nachteil war, war dem Seewolf noch nicht ganz klar. „Verdammt“, murmelte er. „Wo soll denn da eine Karavelle sein?“ „Dan hat sich noch nie getäuscht“, verteidigte der alte O’Flynn seinen Sohn. „Das sag ich ja auch gar nicht, Donegal“, erwiderte Hasard. Er spähte unausgesetzt in die Nacht. Und da, ganz unverhofft, riß der Nebelvorhang an einer Stelle auf. Mondlicht tauchte für Sekunden einen schlanken Schiffsleib in unwirklichen Schimmer. Zwei große Dreieckssegel ragten auf, und Hasard glaubte auch die Piratenflagge im Groß topp zu erkennen. „Also doch“, sagte er. „Teufel auch, Dan, deine Augen sind Gold wert. Ed!“ „Sir?“ „Sind alle Männer auf Gefechtsstation?“ „Aye, aye. Wir sind klar zum Gefecht.“ „Al Conroy soll zu Siri-Tong hinübersignalisieren, daß sie aufpassen muß. Wenn sie auf die Zeichen nichtaufmerksam wird, müssen wir blinken - auf die Gefahr hin, daß auch der Gegner es sieht.“ „Ja, Sir.“ „Noch was, Ed!“ „Sir?“ „Auf treibenden Tang achten. Wenn wir steckenbleiben, sind wir verraten und verkauft.“ „Verflucht, ja. Ich spitze die Kerle an, daß sie ein waches Auge auf die See haben“, erwiderte Carberry. Er wollte sich abwenden und in Richtung Kühl abmarschieren, aber eine Gebärde des Seewolfs hielt ihn noch zurück. „Ist noch was?“ „Ja. Nicht brüllen, Ed. Du holst uns sonst den Feind direkt auf den Hals.“ Carberry zeigte klar und schob ab. Auf dem Weg zur Kuhl begann Sir John wieder zu zetern. Er sagte
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„Kreuzdonnerwetternochmal“ und einige noch längere Flüche. Erbost pflückte ihn der Profos von der Schulter und stopfte ihn in die Tasche. „Keinen unnötigen Lärm veranstalten, das gilt auch für dich, Sir John“, grollte er. Hasard blickte wieder auf die See hinter der „Isabella“. Inzwischen waren auch Ben Brighton, Ferris Trucker und die anderen auf Oberdeck zurückgekehrt. Ben und Ferris traten dicht hinter ihn. „Der Nebel verhüllt die Karavelle wieder“, sagte Hasard. „Aber ich habe genug gesehen. Sie .ist ein schneller Zweimaster mit Lateinersegeln. Zweifellos wird sie uns einholen. Wegen ihrer guten Am-WindEigenschaften hat sie die Insel mühelos von Norden aus am Westufer vorbei runden können, während O’Lear mit seiner ,Black Eagle’ und den anderen Schiffen seines Verbandes gleich nach Osten abläuft.“ „Ungeheuerlich“; sagte Ben. „Was will die Karavelle? Es allein mit uns aufnehmen?“ „Warten wir ab. Ferris!“ „Hasard?“ „Gib Dan ein Zeichen. Er soll nicht mehr rufen, wenn er was sichtet. Die Piraten sind uns zu dicht auf dem Pelz, sie können bald jedes Wort mitkriegen.“ „In Ordnung.“ Ferris blickte nach oben und sah, wie Dan sich gerade über die Segeltuchverkleidung des Hauptmarses lehnte. Rechts neben ihm tauchte Arwenacks Kopf auf. Der Schimpanse leistete ihm wieder einmal Gesellschaft und teilte den Kummer um Severa mit ihm. Ferris machte Dan klär, was Hasard ihm aufgetragen hatte. Dan gestikulierte, er habe verstanden, dann fügte er noch etwas hinzu. Überrascht drehte sich der rothaarige Schiffszimmermann zu seinem Kapitän um. „Dan erklärt, er habe eine Karavelle mit drei Masten gesichtet, nicht mit zweien.“ „Himmel“, stieß der Seewolf aus. „Ich schätze, der Junge hat sich auch diesmal nicht verguckt“, sagte Old Donegal heiser.
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„Und was schließt du daraus?“ fragte Hasard, ohne sich umzuschauen. Der Alte räusperte sich und erwiderte: „Daß wir zwei Karavellen im Nacken haben. Eine mit drei, eine mit zwei Masten.“ Hasards Miene war grimmig. „So stellt O’Lear sich das also vor. Er lockt uns hinter sich her und läßt uns von seinen Kumpanen hinterrücks angreifen. Nicht schlecht. Nur hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Lassen wir diese Hunde heran. Verdammt noch mal, wenn wir in dieser Milchsuppe nur mehr erkennen könnten!“ „Was hast du vor?“ fragte Ben. „Dreimal darfst du raten, Ben.“ „Aber das Mädchen ...“ „Sie befindet sich auf O’Lears Galeone, nicht auf den Karavellen“, sagte der Seewolf ruhig. „Wir gefährden sie also nicht, wenn wir den Kampf mit diesen Bastarden aufnehmen. Was sollen wir denn sonst tun? Uns zusammenschießen lassen?“ Shane sagte: „Das nicht. Aber angenommen, wir versenken einen dieser Segler, und O’Lear, der Satan, erfährt es. Was tut er dann mit Severa?“ „Nichts. Er will unsere Schiffe und das, was wir an Bord haben. Tötet er Severa, kann er die ‚Isabella’ und das schwarze Schiff nie und nimmer an sich reißen.“ Hasard drehte sich zu den Männern um. „Er weiß, daß er jede Aussicht darauf verspielt, wenn er dem Mädchen auch nur ein Härchen krümmt.“ Ben, Ferris, Shane und der alte O’Flynn erwiderten nichts darauf, aber sie waren diesmal anderer Meinung als ihr Kapitän. Hasard hielt Ausschau nach allen Seiten. Plötzlich entdeckte er an Steuerbord einen Schemen. Im selben Augenblick signalisierte auch Dan aus dem Großmars. Der Schemen nahm Form an und -wuchs aus dem Nebel hervor. Hasard zählte drei Masten und sah die großen Dreiecksegel. Er erkannte den schlanken Rumpf der Karavelle und stellte sich die offenen Stückpforten mit den daraus
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hervorgähnenden Kanonenmündungen vor. Sehen konnte er sie nicht. Ein grellroter Blitz stach plötzlich durch den Nebel. Hasard warf sich flach auf Deck. Mit ihm gingen auch die anderen Männer in Deckung. Der Kanonendonner rollte heran, dann heulte das Geschoß über das Deck, nahm ein Stück Schanzkleid mit und jaulte weiter – fast bis zum schwarzen Schiff hinüber, das jetzt an Backbord auf gleicher Höhe mit der „Isabella VIII.“ segelte. „Hölle“, stieß Ben Brighton hervor. „Wir haben die Insel passiert, und wenn sich O’Lear tatsächlich da befindet, wo wir annehmen, kann er uns gleich in die Zange nehmen – auf der einen Seite die Karavellen. Auf der anderen Seite er.“ „Feuer!“ rief Hasard. Die Steuerbordbatterie der „Isabella“ entließ ihre tödliche Ladung in die Nacht. Acht 17-Pfünderkugeln rasten unter Feuer, Rauch und Getöse feindwärts. Sie flogen weit, denn die Culverinen der Seewölfe verfügten über erstaunlich lange Rohre. Es knackte, prasselte und splitterte im Nebel, und Hasard glaubte den Schemen mit den drei Masten hin und her rucken zu sehen. Schreie wehten herüber. Feuer flammte auf. „Treffer!“ schrie Carberry, denn jetzt durfte er ja brüllen, jetzt hatten sich beide Seiten gesehen und konnten das Versteckspiel aufgeben. Von Südwesten wurde plötzlich auch das Feuer eröffnet. Mündungsblitze stachen in die Nacht. .Hinter dem Heck der „Isabella“ verwandelte sich die See in ein Wasserspiel aus vielen Fontänen. „Drehbassen achtern!“ Hasard kroch selbst zu den Hinterladern. Rechts neben sich hatte er Ferris Tucker. Gleichzeitig langten sie bei den beiden Bassen an, zündeten die Lunten und senkten sie auf die Bodenstücke der Geschütze. Es wummerte zweimal kurz hintereinander. Die Bassen ruckten in ihren Gabellafetten und spuckten ihre Kugeln zu dem zweiten Angreifer hinüber. „Das ist die Zweimast-Karavelle“, sagte Hasard. „Teufel auch, mir scheint, der
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Bursche rückt weiter auf. Ben, wir luven nach Backbord an. Siri-Tong soll an uns vorbeilaufen und sich die Karavelle mit den drei Masten vorknöpfen!“ „Aye, aye, Sir !“ Die Befehle gellten über Deck. Carberrys Gebrüll purrte die Männer an die Brassen und Schoten. Pete Ballie, der Rudergänger, ließ das Ruderrad wirbeln, die „Isabella“ drehte etwas nach Backbord und krängte am Wind leicht nach Steuerbord. Sie präsentierte dem heransegelnden Gegner die schußbereite Backbordbreitseite. Der schwarze Segler schob sich platt vor dem Wind weiter in östlicher Richtung und hatte mit einemmal die erste Karavelle genau vor den Geschützen. Der Nebel öffnete sich und gab die Silhouette der ersten Karavelle frei. Zur selben Zeit sah Hasard die ZweimastKaravelle erscheinen. Sekunden darauf schien die See unter dem Donner der Geschütze zu erbeben. * Dan O’Flynn hätte schreien mögen - nicht, weil er Angst hatte, im Gefecht getroffen zu werden, sondern weil er mehr denn je um Severas Leben bangte. Er wußte nicht, auf welches Schiff sie verschleppt worden war. Bei dem Gedanken, sie könne sich auf einer der Karavellen befinden, wurde er fast verrückt. Aber er zwang sich zu eiserner Beherrschung. Hasard hatte ihn verwarnt. Wenn er noch einmal gegen die Borddisziplin verstieß, würde der Seewolf nicht zögern, ihn zu maßregeln. Er konnte nicht zulassen, daß einer seiner Männer total aus dem - Häuschen geriet. Und daß es keine andere Lösung gab, als sich gegen die Karavellen zu wehren, wußte auch der junge O’Flynn. Was hätten sie denn sonst tun sollen? Im Nebel untertauchen? Flüchten? Selbst wenn sie es gewollt hätten, es wäre ihnen nicht gelungen. Die Karavelle mit den zwei Masten steuerte schräg von achtern genau auf die
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„Isabella“ zu. Die beiden Drehbassenschüsse hatten ihr nicht viel anhaben können. Aber jetzt lag die Galeone hart am Wind und luvte noch weiter an, um den Gegner vor den Culverinen zu haben. Und Hasard hatte Big Old Shane und Batuti auf die Posten geschickt, die sie als Pfeilschützen beim Gefecht innehatten. Batuti hatte den Vormars erreicht. Shane kletterte zu Dan und Arwenack in den Großmars. „Zähne zusammenbeißen und ruhig Blut, Kameraden“, sagte er. Seine Stimme klang rauh und grollend, er war ein Hüne von Mann mit grauem Bart und struppigem Haupthaar, das im Wind flatterte. Er stand aufrecht im Großmars, balancierte die schwankenden Bewegungen mit den Beinen aus und zog den ersten Pfeil aus dem Köcher. „Schlag mal Feuer an“, sagte er zu Dan. „Hier oben pfeift der Wind zu sehr.“ Er hielt dem jungen O’Flynn die Pfeilspitze hin. Sie war mit ölgetränkten Lappen umwickelt. Dan entfachte mit Feuerstein und Feuerstahl eine Lunte, hielt sie an den Brandpfeil, und die Glut griff auf die Spitze über. Hoch loderte die Flamme auf. Arwenack wich zurück und deckte das Gesicht Mit den Pfoten ab, er konnte Feuer auf den Tod nicht leiden. Shane wartete eine günstige Schußposition ab. Sie kam, als die „Isabella“ ihre Backbordbreitseite auf die ZweimastKaravelle abgefeuert hatte und sich anschickte, auf den anderen Bug zu gehen. Die Karavelle der Piraten lief hart an ihrem Vorschiff vorbei und glitt an Backbord längsseits. Smoky und Al Conroy feuerten die vorderen Drehbassen ab. Die Culverinen der Backbordseite waren aber noch nicht wieder schußbereit. Shane sah es, fluchte und schickte den ersten Pfeil von der Sehne. Wie ein Fanal zuckte er durch die Luft, senkte sich auf die Karavelle - und traf das Großsegel. Auch Batuti ließ einen Brandpfeil schwirren. Er fuhr auf das Deck des
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Piratenseglers hinüber und traf einen Mann. Ein fürchterlicher Schrei wurde laut, eine lebende Fackel rannte über die Kuhl der Karavelle –Panik breitete sich aus. Shane legte bereits den nächsten brennenden Pfeil an die Bogensehne, spannte und ließ ihn davonsurren. Im Folgenden veranstalteten der ehemalige Waffenmeister von Arwenack und der Gambia-Neger ein regelrechtes Zielschießen auf den Zweimaster, wie sie es oft schon in den Gefechten getan hatten. Die Aktion verfehlte auch diesmal nicht ihre Wirkung. Die „Isabella“ lag inzwischen auf Backbordbug und mit Steuerbordhalsen am Westwind, sie richtete ihren Vorsteven auf die Karavelle und zog praktisch in synchroner Bewegung mit, als diese an ihr vorbeiglitt. Die Karavelle führte sechs Geschütze auf jeder Seite. Der Piratenkapitän gab den Feuerbefehl, er schallte bis zur „Isabella“ herüber. Sechsmal blitzte es vor der Schiffswand auf. Auf der „Isabella“ gingen die Seewölfe in volle Deckung. Aber der Ire hatte sich den denkbar ungünstigsten Augenblick zum Schuß ausgesucht. Die „Isabella“ bot ihm die geringste Angriffsfläche; und er konnte ihr allenfalls Galion, Blinde, Bugspriet und Vorsteven ramponieren. Aber nicht einmal das schaffte er. Der Aufruhr wegen des Feuers hatte um sich gegriffen, die Piraten handelten zu hastig und waren nicht mehr fähig, sauber gezielte Schüsse abzugeben. Nur eine Kugel ratschte über den Bugspriet der „Isabella“ und knackste ihn an. Der Rest der Ladung ging baden. Shane sah es und lachte dröhnend. Dann jagte er wieder einen Brandpfeil zu dem Piratensegler hinüber. Batuti war nicht weniger aktiv. Binnen kurzem stand die gesamte Takelage der Karavelle in hoch lodernden Flammen. Der Brand griff immer weiter um sich. Unterdessen hatte auch Siri-Tong der ersten, dreimastigen Karavelle arg zugesetzt. Die Geschütze ihres „Eiliger Drache über den Wassern“ hatten kein genau bestimmbares Kaliber, ließen sich
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aber als 25-Pfünder einstufen. Große „Brocken“ also, wie die Crew zu sagen pflegte, auf jeder Schiffsseite zwölf. Die Rote Korsarin hatte sich selbst ins Vorkastell begeben und zündete, als sie die Steuerbordbreitseite verfeuert hatte, einen der Brandsätze. Fauchend fuhr er von dem bronzenen Gestell durch die Luke in die Nacht hinaus. Ein Irrlicht schien durch Dunkelheit und Nebel zu tanzen. „Griechisches Feuer!“ schrien die Männer auf der Dreimast-Karavelle. Sie wußten nicht, daß die Brandsätze eine Erfindung von Männern im fernen China waren, die schon seit Jahrhunderten erfolgreich mit Pulver, Naphtha und Salpeter experimentierten. Der Brandsatz traf das Hauptdeck der Karavelle. Rasch breitete sich auch hier das Feuer aus. Der Kapitän brüllte und tobte, seine Kerle hetzten über Deck und gossen Pützen und Kübel voll Seewasser über dem Brandherd aus. Shane lachte wieder, als er das sah. Er zerrte einen Pf eil aus dem Köcher, der dicker als die anderen war, und sagte: „Schlag noch mal Feuer an, Dan.“ „Shane ...“ „Ich weiß, was du sagen willst. Aber Hasard ist sicher, daß sich Severa auf keiner der beiden Karavellen befindet. Sie ist auf der ,Black. Eagle`, der Galeone von O’Lear.“ „Also gut“, stieß Dan keuchend aus. -“In Ordnung.“ Eine Sekunde später brannte die Pfeilspitze, und Big Old Shane legte an. Er zielte sorgfältig, verharrte aber, als der Seewolf die Steuerbordgeschütze zünden ließ. Die „Isabella“ war nämlich inzwischen wieder abgefallen und vor den Wind gegangen. Sie hatte die ZweimastKaravelle direkt vor den Mündungen ihrer Culverinen. Es wummerte, Rauch und Feuer breiteten sich aus. Die Schwaden beißenden Pulverqualms stiegen bis in den Großmars. Shane stand plötzlich mittendrin und
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grinste wie Satan, der aus den Höllenschlünden emporgestiegen ist. „Verdammt!“ rief Dan. „Schieß doch, sonst fliegt uns das Ding noch um die Ohren.“ „Ruhig Blut“, sagte Shane. Er wartete nur noch das Beben ab, das den Schiffsleib durchfuhr. Dann ließ er den Pfeil von der Sehne schwirren. Er flog in trägerer Bahn durch die Luft als die vorherigen. Kein Wunder: Sein Schaft war ausgehöhlt und mit Pulver gefüllt. Der Pfeil traf auf ein Schiff, das ohnehin schon stark angeschlagen war. Die zweite Breitseite der „Isabella“ hatte zur Hälfte aus Kettenkugeln bestanden. Sie waren hervorragend dazu geeignet, das Mastwerk abzurasieren – und das geschah auch. Die lodernde Fock der Karavelle schlug plötzlich nach Steuerbord. Der Großmast schien auch lädiert zu sein. Er wankte. Die Großmarsrah taumelte, löste sich und krachte auf das Deck nieder. Laut wehten die Schreie der Getroffenen herüber. Der Pfeil stach in die Masse durcheinander quirlender, von Panik ergriffener Piraten. Die Explosion hieb ein Loch in die Gräting des Hauptdecks, Leiber wirbelten, Trümmerteile segelten, und der Zustand war perfekt. Sinnlos die Befehle des Kapitäns, keiner hörte mehr auf ihn. Er griff selbst zu den Pützen, um den Brand auf seinem Schiff zu löschen. Aber es war eine Sisyphusarbeit. Für die Karavelle gab es keine Rettung mehr. . Sie brannte wie eine Riesenfackel. Ihrer Segelfläche weitgehend beraubt, verlor sie schnell an Fahrt und wurde dann auch noch manövrierunfähig. Die „Isabella“ segelte ihr davon. Hasard stand auf dem Achterdeck an der Drehbasse. Sie war frisch geladen, aber er gab keinen Schuß mehr auf den Zweimaster ab. „Das wäre Munitionsvergeudung“, sagte er mit unbewegter Miene. Shane und Batuti hatten auch mit dem Zielschießen aufgehört. Und mit einemmal verstummten auch die Kanonen des schwarzen Schiffes. Der Kapitän der
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Dreimast-Karavelle hatte das Feuer an Deck löschen können und zog sich jetzt zurück. Ja: Er luvte an und ging auf Südostkurs. Er hatte die Nase gestrichen voll. Der Nebel war noch dichter geworden und verschluckte das Schiff wie ein Berg aus weißer Schafswolle. „Smoky!“ Hasard hatte sich zur Kuhl umgedreht. „Dem schwarzen Schiff signalisieren. Wir verfolgen die Karavelle nicht!“ „Aye, aye, Sir!“ Smoky trat selbst an die Eisenlaterne, die sie auf der Back angezündet hatten, um sich mit Siri-Tong zu verständigen. Die Laterne hatte einen Schieber, den man auf und ab bewegen konnte. Smoky betätigte ihn. Die Lichtzeichen wurden drüben bei der Roten Korsarin gesichtet, entziffert und kurz bestätigt. Hasard drehte sich wieder zu der Zweimast-Karavelle um. „Es ist soweit. Das Feuer muß jetzt die Munitionsdepots erreicht haben.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da zerriß es die Karavelle. In einem gleißenden Feuerblitz und rasch aufsteigenden Rauchpilz brach sie in mehrere Teile auseinander. Die großen Trümmer tauchten sofort in den Fluten unter, die kleineren Teile wirbelten durch die Luft und klatschten ins Wasser, während das Grollen der Explosion über die See rollte. Hasard nickte nur knapp, dann eilte er zur Five-Rail, die das Achterdeck nach vorn zur Kuhl abschloß. „Profos, hat es Verletzte gegeben?“ „Blacky hat einen Splitter im Arm, aber der Kutscher zieht ihn schon ‘raus, Sir. Ist nicht so schlimm.“ Carberry grinste. Er stand breitbeinig und glich das leichte Schlingern der „Isabella“ aus. Die Explosion hatte Wellen aufgeworfen, die jetzt nach der Galeone und dem schwarzen Segler griffen. „Aber wir haben einen Toten, Hasard. Den da.“ Er wies auf Maccallion, der die ganze Zeit über auf der Kuhl liegengeblieben war. Hasard zog die Augenbrauen zusammen. Seine Stirn war gefurcht. „Was liegt der da noch ‘rum, Profos? Habe ich nicht gesagt, daß wir ihn. zu den Fischen befördern?“
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„Sofort, Sir.“ Carberry packte selbst zu und trug den toten Iren zum Backbordschanzkleid. Ein Ruck, ein Fluch zum Abschied, und der Leichnam segelte außenbords. Es war die schimpflichste Art, von Bord zu gehen, auch wenn Maccallion es nicht mehr spürte. 4. Nach dem Inferno setzte Grabesstille ein. Die „Isabella“ und das schwarze Schiff glitten vor dem nach wie vor aus Westen blasenden Wind dahin. Siri-Tong hatte Hasard informiert, daß es auch bei ihr keine Schwerverletzten gab, geschweige denn Tote. Und ‚Eiliger Drache über den Wassern“ war auch nicht beschädigt. Seinem überaus harten „Eisenholz“ konnte kaum ein Geschoß etwas anhaben. „Warten wir O’Lears nächste Reaktion ah“, sagte Hasard zu seinen Männern. „Noch weiß er nicht, was geschehen ist. Wahrscheinlich denkt er, eins von unseren Schiffen sei in die Luft geflogen und seine Halunken haben uns besiegt. Erst der Kapitän der Dreimast-Karavelle wird ihn unterrichten.“ „Wir hätten den Burschen verfolgen können“, meinte Ben Brighton. „Im Nebel wäre das sehr schwierig gewesen“, erwiderte der Seewolf. „Aber das ist nicht der Hauptgrund, warum ich es nicht gewollt habe. O’Lear soll wissen, daß wir eins seiner Schiffe samt Mannschaft zum Teufel gejagt haben.“ „Er wird sich dafür an dem Mädchen rächen“, sagte Ferris Tucker. Hasard blickte ihn an. „Mein Gott, Ferris, glaubst du denn, ich bin ein Unmensch? Ich bin um Severa genauso besorgt wie ihr. Aber ich habe mir eine Taktik zurechtgelegt. Ich will O’Lear verunsichern und im Ungewissen lassen.“ „Da kann ich dir nicht folgen“, sagte Ferris. „Denk doch daran, was Maccallions Auftrag war. Er sollte mich töten. Nehmen wir einmal an, es sei ihm gelungen. Du, Ben, hast die Führung übernommen,
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nachdem der Ire von euch aufgestöbert und abserviert worden ist. Ihr habt euch gerächt, aber euren Kapitän gibt euch keiner zurück. Kannst du mir folgen?“ „Ja.“ „Ihr seid halb blind vor Wut und Haß — und ziemlich kopflos. In eurer Ohnmacht habt ihr die Zweimast-Karavelle versenkt, habt Vergeltung gesucht. Doch jetzt folgt der große Katzenjammer. Ihr wißt nicht weiter.“ „Moment mal“, sagte Old O’Flynn. „Das heißt — wir sollen so tun, als wärst du tot?“ „Genau. In dem Nebel hat mich kein Pirat der ersten Karavelle erkannt, sie werden O’Lear also nicht mitteilen können, ob ich nun wirklich tot bin oder noch lebe.“ „Tja.“ Ferris’ Tucker kratzte sich am Hinterkopf. „Und weiter?“ „O’Lear wird sich melden. Irgendwie.“ „Und er wird die Übergabe der Schiffe fordern“, sagte Ben Brighton. „Du wirst ihn hinhalten. In der Zwischenzeit fälle ich meine Entscheidung, wie ich Severa aus den Händen der Schufte befreien kann.“ Hasard strich sich mit der Hand übers Kinn. „Wenn die ,Black Eagle` zur Stelle ist, verlasse ich heimlich das Schiff und tauche zu ihr hinüber. Nur so kann ich Severa heraushauen.“ „Mann, Mann“, stöhnte O’Flynn. „Wenn das bloß gut geht.“ Hasard sagte: „Haltet euch eins vor Augen. O’Lear kann Severa nicht umbringen. Will er uns erpressen, dann braucht er ein lebenden, unversehrtes Faustpfand.“ „Aber wenn wir es auf die Spitze treiben, wird O’Lear vor keiner Gewalttat zurückschrecken, das hast du doch selbst gesagt“, erwiderte Ben gedämpft. Er fürchtete, der junge O’Flynn könne ihn hören. „Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen“, sagte der Seewolf. Er wußte ja selbst, wie vage das alles war, aber woran sollte er sich denn sonst klammern? Es war eine verzwickte, tragische Situation, aus der selbst er im Moment keinen rechten Ausweg wußte.
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Brian O’Lear an Bord der „Isabella“ und des schwarzen Seglers lassen? Der Ire würde in keine Falle tappen, dazu war er zu gerissen. Hasard konnte nicht zum Schein auf seine Forderungen eingehen. Damit unterschrieb er das Todesurteil für sich und seine Männer. * Der Nebel hielt sie gefangen, die Stille war erdrückend. Was ihnen zu allem Unheil noch fehlte, war der Tang. Aber der treibende Riesentang blieb diesmal aus, nur vereinzelte Stücke, die keinem gefährlich werden konnten, glitten hin und wieder an den Schiffen vorbei. Dans Ruf aus dem Großmars war schließlich wie eine Erlösung. „Boot Backbord voraus!“ „Achtung“, sagte der Seewolf zu den Männern auf Deck. „Ich schätze, das ist ein Bote des Iren. Ich müßte mich schon sehr täuschen, wenn er’s. nicht wäre. Ich verschwinde jetzt, und du, Ben, übernimmst das Kommando.“ Wenig später war er im Großmars verschwunden. Vorsichtig spähte er über den Rand der Segeltuchverkleidung und gewahrte kurz darauf das Boot. Es schob sich längsseits der „Isabella“. Es führte einen Mast mit einem kleinen Lateinersegel. Offenbar hatte es, von Nordosten kommend, gegen den Wind gekreuzt. Die Besatzung geite jetzt aber das Segel auf und pullte. Ganz deutlich war der weiße Fetzen zu sehen, der im Masttopp flatterte. „Unterhändler“, raunte Hasard. „Vier Mann. Jetzt bin ich aber mal gespannt.“ „Himmel, was ist bloß mit Severa?“ sagte Dan O’Flynn. „Ich mache mich persönlich dafür verantwortlich, wenn ihr etwas zustößt.“ „Hör auf, Dan.“ Einer der Parlamentäre richtete sich im Boot auf, legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und rief: „Mein Name ist Coleman, ich bin O’Lears Parlamentär. Wir sind unbewaffnet.“
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„Gut, ich will es glauben“, antwortete Ben Brighton. Er hatte ebenfalls aufgeien lassen. Die „Isabella“ verlor an Fahrt, lief aber noch an dem Boot der Piraten vorbei, so daß diese wenden und pullen mußten, um auf gleicher Höhe zu bleiben. Ben stand am Backbordschanzkleid des Achterdecks und rief zurück: „Aber wir bleiben trotzdem gefechtsklar! Was wollt ihr?“ „Verhandeln!“ „Wie habt ihr uns gefunden?“ „Die Mannschaft der Dreimast-Karavelle ist zu uns gestoßen und hat eure ungefähre Position angegeben. Wir haben gewußt, daß ihr weiter nach Osten segelt!“ rief Coleman. Er war hager und groß und trotz des Nebels recht gut im Boot zu erkennen. „Ein verschlagener Typ“, flüsterte Hasard. „Vorsicht, Ben.“ „Die Geschütze bleiben auf euch gerichtet“, sagte Ben laut. „Kanaillen wie euch kann man nicht trauen —auch wenn sie als Unterhändler aufkreuzen.“ „Wo ist der Seewolf?“ wollte Colemann wissen. Ben brüllte plötzlich los: „Weißt du das nicht, Hund von einem Iren? Du kannst froh sein, daß ich dich nicht mitsamt deinen drei Schurken über den Haufen schieße!“ In diesem Augenblick kriegten die Piraten es wirklich mit der Angst zu tun. Sogar Coleman hatte Mühe, nicht aus der Fassung zu geraten. Er leckte sich die Lippen, dann entgegnete er: „Ist er — tot?“ „Ja!“ brüllte Ben. „Und Maccallion haben wir zu den Fischen geschickt. Jetzt spuck aus, was du willst, ehe ich mich doch noch vergesse.“ „Keiner legt sich ungestraft mit Brian O’Lear an!“ rief Coleman. „Ihr hättet euch sofort ergeben sollen, das wäre klüger gewesen.“ Sir John war nur ein Papagei, aber selbst er mit seinem kleinen Vogelhirn hatte begriffen, was für ausgekochte Haderlumpen die vier in dem Boot waren. Er wollte von Carberrys Schulter abheben, zum Boot fliegen und Coleman mit ein
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paar kräftigen Schnabelhieben attackieren. Zum Glück merkte der Profos es rechtzeitig. Er hielt den Papagei fest. „Bleib hier, du gerupftes Huhn“, zischte er. „Hört die Bedingungen!“ schrie Coleman. „Wir wissen, daß ihr Schätze an Bord eurer Schiffe habt. Wir wollen die Galeone und den schwarzen Viermaster samt dieser Reichtümer.“ „Die Frachträume sind leer!“ rief Ben zurück. „Kommt doch her und seht sie euch selbst an.“ Coleman lachte auf. „Das könnte euch so passen! Damit ihr uns als Geiseln nehmen könnt, wie? Wir sind doch nicht verrückt.“ „Ja“, raunte Hasard Dan O’Flynn zu. „Sie sind höllische Schlitzohren und Galgenvögel, und O’Lear setzt allem die Krone auf. Er denkt erst in zweiter Linie daran, die toten Kumpane von der Zweimast-Karavelle zu rächen. In erster Linie geht es ihm darum, seine Gier nach Gold, Silber und Diamanten zu stillen. Und er kann Severa nichts tun, solange er uns nicht fest zwischen den Klauen hält.“ „Herhören!“ schrie Coleman. „O’Lear fängt jetzt an, das Weibsbild mit dem Messer zu kitzeln, wenn ihr nicht pariert. Schießt doch auf uns. Unsere Schiffe liegen nicht weit entfernt, O’Lear wird es hören. Und dann knöpft er sich das Frauenzimmer vor. Zuerst ritzt er ihr den linken Arm, dann den rechten, und so geht es weiter, bis man sie auf Meilen hinaus schreien hört.“ Dan griff nach seiner Pistole. Sein Gesicht war verzerrt, er war drauf und dran, sich hochzustemmen und auf den Kerl zu feuern. Nur Hasards eiserner Griff bewahrte ihn davor. Er hielt ihn fest, zerrte ihn dicht zu sich heran und zischte: „Donegal Daniel O’Flynn, wenn du so weitermachst, kriegst du ernsthaft mit mir Streit, kapiert?“ „Du kannst doch Severas Leben nicht aufs Spiel setzen ...“ „Das will ich auch nicht.“ Unten rief Ben Brighton: „Wer garantiert uns, daß wir das Mädchen zurückerhalten
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und daß ihr uns nicht erschießt, wenn wir wirklich kapitulieren?“ Coleman lachte wieder. „O’Lear. Er sagt, ihr sollt in die Beiboote steigen, dann wird er euch eine Kabellänge vor euren Schiffen treffen - ebenfalls im Boot. Ihr übernehmt das Weibsstück und pullt davon. Wir entern eure Schiffe und lassen euch freies Geleit.“ „Wer’s glaubt, wird selig“, wisperte der Seewolf. „Coleman!“ brüllte Ben. „Ich bin nicht der Seewolf, der allein Entscheidungen fällen konnte. Ich muß mich erst mit den anderen beraten, auch mit der Roten Korsarin. Ich bitte mir eine Stunde Bedenkzeit aus.“ „Darauf läßt sich O’Lear nicht ein!“ „Er muß.“ Coleman überlegte, dann erwiderte er: „Höchstens eine halbe Stunde gewährt er euch.“ „Gut, dann pullt zu ihm und fragt ihn danach.“ Coleman zeigte klar. „Einverstanden, aber ich warne euch. Wir halten die Augen offen. Wehe, wenn uns jemand folgt. Wir merken es auch, wenn uns Schwimmer nachtauchen. Wir sind nicht von gestern, und die Gesundheit des Frauenzimmers ist dahin, falls ihr uns mit Tricks hereinlegen wollt. Wollt ihr sie als Krüppel wiederhaben?“ „Wir unternehmen nichts!“ rief Ben mühsam beherrscht. „Aber sag deinem Anführer, daß wir Severa sehen wollen, bevor wir uns auf diesen schmutzigen Handel einlassen.“ „Gut!“ rief Coleman höhnisch. „Auch das richte ich ihm aus.“ Er gab seinen Gefährten ein Zeichen. Sie griffen zu den Riemen. Coleman selbst ließ sich auf der Heckducht nieder und bediente die Ruderpinne. Das Boot schwang herum und ging auf Kurs Nord-Nord-Ost. Im Nebel wurde es für die Besatzungen der Schiffe rasch unsichtbar. Siri-Tong stieß einen Ruf der Empörung aus, der bis zur „Isabella“ zu vernehmen war. Von ihren folgenden Worten verstand Hasard nur „ungeheuerlich“ und „gemeine
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Hunde“ und „am besten alle über die Klinge springen lassen“. „Komm, Dan, wir entern ab“, sagte Hasard. „Gary Andrews soll dich ablösen, du hast deine Wache schon um mindestens zwei Glasen überzogen.“ Er hangelte als erster in den Webeleinen der Wanten nach unten, erteilte Gary Andrews den Befehl, Dans Posten einzunehmen, und schritt dann aufs Achterdeck. Dan folgte ihm auf dem Fuß. „Ich muß meinen ursprünglichen Plan ändern“, sagte Hasard, als er neben dem Ruderhaus angelangt war. „So hat das alles keinen Zweck. O’Lear paßt auf wie ein Luchs. Ich könnte im Nebel zwar dem Boot nachschwimmen, ohne gesehen zu werden, aber ich würde niemals die ,Black Eagle` entern können.“ „Aber was tun wir dann?“ stieß Dan erregt hervor. „Warten wir, bis die Schweinehunde Severa - niederstechen?“ „Nein. Wir verholen uns jetzt heimlich. Wir entziehen uns O’Lears Einfluß“, sagte der Seewolf. „Er muß nach uns suchen, um uns erpressen zu können.“ „Und dann?“ Ben Brighton schnitt eine genauso verständnislose Miene wie die anderen. „Ich werde mir schon etwas einfallen lassen, um Severa zu befreien“, versicherte Hasard. „Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Nur eine Riesentorheit will und kann ich nicht begehen.“ „Hasard!“ Dan trat mit halb erhobenen Fäusten vor ihn hin. „Hasard, wenn du die Segel setzt und abhaust, dann - damit kann ich nicht einverstanden sein.“ „Dan“, warnte sein Vater. Hasard sah den jungen O’Flynn mit einer Mischung aus Überraschung und Verärgerung an. „Sag mal, weißt du eigentlich noch, wer hier der Kapitän ist? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ „Ich knöpfe mir O’Lear allein vor!“ rief Dan. Damit drehte er sich auf dem Absatz um und begann zu rennen. Er hielt auf das Backbordschanzkleid zu, und seine Absicht war sonnenklar.
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Hasard handelte gedankenschnell. Er folgte Dan, stieß sich von den Planken ab und federte ihm in einem gewaltigen Satz nach. Er kriegte ihn an den Schultern zu fassen, warf ihn nieder und ließ nicht wieder los. Ineinander verkeilt wälzten sie sich über das Deck und prallten gegen das Schanzkleid. Hasard- war als erster wieder auf den Beinen. Dan, immer noch fest entschlossen, in die See zu springen und zu den Piraten zu schwimmen, unternahm einen neuen Fluchtversuch. Aber Hasard packte ihn, holte aus und rammte ihm die Faust unters Kinn. In diesem Augenblick kannte er kein Pardon. Er legte die volle Wucht in seinen Hieb. Dan flog bis zur Kuhlgräting. Er strauchelte, schlidderte ein Stück über die Holzroste weg und blieb liegen. Besinnungslos. „Luke und Jeff“, sagte Hasard, „sperrt ihn ins Kabelgatt. Ihr laßt ihn erst wieder ‘raus, wenn ich es anordne.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderte Luke Morgan. Keiner wagte, einen Kommentar abzugeben. Im stillen sahen alle Männer ein, daß der Seewolf sich nicht anders hatte verhalten können. Er war der Kapitän und kam sozusagen „gleich nach dem lieben Gott“, ob ihnen nun der Himmel auf den Kopf stürzte, die Welt unterging oder beides gleichzeitig. Niemand durfte es wagen, seine Autorität zu untergraben. Auch ein Dan O’Flynn nicht. Hasard ließ der Roten Korsarin signalisieren, daß er in östlicher Richtung aufbrechen wolle. Sie fügte sich, denn auch sie hatte keinen besseren Vorschlag zu unterbreiten. Wenig später schluckten Nacht und Nebel die „Isabella“ und das schwarze Schiff. 5. Severa hatte vergeblich nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht. Die Kammer des Achterkastells auf der „Black Eagle“, in die Brian O’Lear sie hatte sperren lassen, hatte nur ein winziges
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Bleiglasfenster, und das war von außen vergittert. Vielleicht hatte der Pirat das Eisengitter irgendwann extra anbringen lassen, um eine Zelle für widerspenstige Gefangene zu haben. Und die Tür? Unmöglich, Severa konnte den Riegel nicht öffnen, er war von außen vorgelegt. Selbst wenn sie es fertiggebracht hätte, waren da noch die Wachen, die die Tür auf dem Gang flankierten. Nein, es gab keine Chance, das Schiff zu verlassen. Anfangs hatte sie ernsthaft daran gedacht, Selbstmord zu begehen, um sich dem grausamen Zugriff des Iren zu entziehen. Aber dann hatte sie das Vorhaben wieder verworfen. Sie hing am Leben. Sie war nicht der Typ, der Hand an sich selbst legte, auch unter den furchtbarsten Bedingungen nicht. Und sie wollte Dan O’Flynn wenigstens noch einmal wiedersehen. Nur ein einziges Mal. Severa hatte sich auf dem Boden niedergelassen und gegen die Wand gelehnt. Sie hatte die Knie an den Leib gezogen und hielt sie mit den Armen umspannt. So kauerte sie da, ohne sich zu rühren. Es gab keine Koje in der Kammer, nur eine Hängematte, und sie ver-¬ spürte nicht das geringste Bedürfnis, sich jetzt dort hineinzulegen. Irgendwann hatte sie ein fernes Donnergrollen vernommen. Was war das gewesen? Ein Gewitter? Kampflärm? Sie versuchte immer wieder, sich vorzustellen, was nach ihrer Entführung wohl auf der Insel geschehen sein mochte. Waren der Seewolf, Siri-Tong und ihre Crews aufgebrochen, um sie zu retten? Konnten sie das überhaupt? Sie wußte nicht, wie spät es war und verlor jeglichen Zeitbegriff. Draußen war es noch dunkel. Durch das winzige Fenster sah sie milchige Schwaden, die am Schiff vorbeizogen. Nebel. Es war eine unheimliche Nacht, die Nacht des Schreckens.
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Plötzlich war Lärm auf dem Oberdeck. Männer fluchten, liefen auf und ab, O’Lear wetterte am lautesten von allen. Dann polterten Schritte heran. Einer von den Wachtposten vor der Tür sagte etwas, das Severa nicht verstand. Der Riegel wurde bewegt. Die Tür flog auf und krachte gegen die Innenwand. Brian O’Lear stand unter der Füllung und richtete den Finger anklagend auf sie. „Du! Du wirst dafür büßen!“ „Was ist denn los?“ fragte sie. Merkwürdig, in ihrer Stimme war Gleichgültigkeit. Sie wunderte sich selbst darüber. „Zweimal ist unser Beiboot mit Unterhändlern zu deinen Leuten gefahren“, sagte der Ire. „Beim zweitenmal hatte Coleman die Hunde nicht mehr vorgefunden. Sie haben uns ‘reingelegt und sind abgehauen. Aber ich mache meine Drohung wahr.“ Er zückte sein Messer. Seine Schläfenadern schwollen an, sein Gesicht färbte sich dunkel. Er war außer sich vor Wut und steigerte sich immer mehr in diesen Zustand. „Ich kratze dich ein bißchen mit dem Dolch an!“ schrie er. „Wenn du schreist, werden wir ja sehen, was deine Bastarde von Freunden unternehmen.“ Severa hätte vor Angst am liebsten aufgeschluchzt, aber dann bezwang sie sich. O’Lear würde sich nur an ihrer Furcht weiden. Sie mußte schlauer als er sein und ihn überlisten. Plötzlich hob sie den Kopf. „Freunde? Du verkennst die Lage, O’Lear. Laß mich auf Deck bringen, mißhandle mich, aber der Seewolf und seine Gefährten werden mich nicht hören.“ Er beugte sich etwas vor, sein Blick war lauernd. „Du meinst, die hauen einfach ab und kümmern sich nicht mehr um dich? Das kannst du mir nicht erzählen. Du willst mich an der Nase herumführen.“ Er schwang das Messer. „Dir werde ich zeigen, was es heißt, Brian O’Lear zum Narren zu halten. Du wirst es bereuen! Packt sie!“ Severa gab sich einen Ruck und stand selbst auf. „Warte, ich komme freiwillig.“
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Sie trat dicht vor ihn hin und bemühte sich, ihren Hüften den nötigen Schwung zu geben. Sie war makellos gebaut und sah in ihrer noch nassen Kleidung hinreißend aus. Obwohl ihr schon der Anblick des Iren zuwider war, schaute sie ihm tief in die Augen. Sie schaffte es, ihre Stimme sanft klingen zu lassen. „Was hast du denn davon, wenn du mich marterst? Ich habe längst kapituliert. Die Seewölfe und die Piraten der Roten Korsarin habe ich erst auf der Insel getroffen, und es war von Anfang an abzusehen, daß ich nicht lange bei ihnen bleiben würde.“ O’Lear musterte sie aus schmalen Augen. Nach wie vor lag Mißtrauen in seinem Blick. „Wer bist du eigentlich?“ „Ich war mit dem baskischen Walfänger zusammen, der auf der Insel hauste.“ Sie verschwieg, daß Euzko Guerazi ihr Vater war. „Der Seewolf hat ihn an Bord genommen – wie mich. Aber auch der Alte bedeutet mir nicht viel. Ich bin froh, nicht mehr zu ihm zurückkehren zu müssen. Er ist schwach und krank, ich habe ihn pflegen müssen. Das war die reinste Sklaverei.“ Es tat ihr weh, so zu sprechen, aber sie wußte auch, daß es der einzige Weg zur Rettung war. „Du willst also bei mir bleiben?“ fragte O’Lear. Er bezweifelte es, das war offensichtlich. „Ich gehöre dem Stärkeren“, sagte sie fest. Sie blickte zu den Wachen, aber O’Lear grinste. „Die verstehen kein Spanisch“, erklärte er. „Ich bin der einzige hier, der deine Sprache beherrscht. Rede weiter.“ „Ich unterwerfe mich und werde dir hörig sein“, sagte sie leise. „Bei dir habe ich es wahrscheinlich doch besser – die Rote Korsarin ist eifersüchtig auf mich. Sie hat Angst, ich könnte ihr den Seewolf wegnehmen. Sie liebt ihn.“ „Aber sie hat dich verteidigt, als wir die Insel betraten“, knurrte der Ire. „Binde mir doch keinen Bären auf.“ Severa hob beschwörend die Hände. Herr, vergib mir meine Lügen, dachte sie immer wieder. Laut sagte sie: „Wenn sie gewollt
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hätte, hätte sie mich aus deiner Hand befreien können. Aber sie wollte nicht. Sie hat es so gedreht, daß ich verschleppt werden mußte. So ist die verdammte Nebenbuhlerin fort, verstehst du?“ O’Lear wischte sich mit’ den Handrücken über den Mund. Das Messer hatte er längst sinken lassen. „Verdammt, daran habe ich noch gar nicht gedacht. So was aber auch. Wie durchtrieben Weiberröcke doch sein können.“ „O’Lear“, flüsterte sie. „Ich weiß, daß der Seewolf und die Rote Korsarin die Inseln nicht gleich verlassen. Sie werden irgendwo _einen Unterschlupf suchen und erst im Morgengrauen wieder aufbrechen. Du kannst sie noch finden und besiegen.“ „Das würdest du ihnen gönnen?“ fragte er verdutzt. „Ja. Und ich will sehen, wie stark du bist ...“ Er lachte wild. „Davon kriegst du gleich eine Kostprobe. Komm mit in meine Kammer, da werden wir eine Menge Spaß miteinander haben.“ Er wandte sich zu den Wachen um und fuhr sie in seiner Muttersprache an. „Ihr da, flitzt nach oben und informiert Coleman und die anderen. Wir schwärmen aus und suchen den Seewolf, diesen Hurensohn. Wir halten aber Fühlung und passen auf, daß wir uns im Nebel nicht verlieren. Als erstes kehren wir zu der Insel zurück, in deren Bucht sie geankert haben. Vielleicht ist der Seewolf ja wirklich so dämlich, sich dorthin zurückzuziehen. Los, ihr Holzköpfe, wird’s bald?“ Sie eilten davon. O’Lear griff nach Severas Hand. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Komm jetzt“, sagte er. „Ich will sehen, ob du die Qualitäten hast, die ich mir von dir verspreche.“ Er zog sie mit sich auf den Gang und steuerte nach achtern. Gut so, dachte Severa, laß uns erst in deiner Kammer sein, da reiße ich dir das Messer aus dem Gurt und bringe dich um. Dann springe ich von der Heckgalerie aus in die See.
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Einer der Wachtposten kehrte jedoch unversehens zurück. Seine Schritte hallten dumpf im Gang. Keuchend blieb er vor O’Lear stehen. „Befehl weitergegeben“, meldete er. „Aber wir sitzen plötzlich im Tang fest. Das verdammte Zeug hat das Ruderblatt festgesetzt und behindert uns.“ „Zur Hölle mit euch Lumpenpack!“ brüllte O’Lear. „Keine Sekunde darf man euch aus den Augen lasse. Alles muß man selber tun! Hat der Ausguck Pflaumen auf den Augen?“ . „Der Nebel“, wandte der Posten lahm ein. „Der Nebel, der Nebel“, äffte O’Lear ihn nach. „Euch stauch ich zusammen, daß euch das Schweißwasser kocht, ihr Bastarde. Warte, als ersten knöpfe ich mir diesen Hundesohn von einem Ausguck vor — und dann hauen wir den verfluchten Tang in Stücke.“ Er gab Severa einen Schubs, daß sie in die Kammer zurücktaumelte. „Tut mir leid, aber ich muß dich auf später vertrösten.“ Die Tür krachte hinter Severa zu. Vorsichtshalber legte der Ire auch wieder den Riegel vor. Fluchend lief er zum Oberdeck. Kurz darauf war das Gebrüll zu vernehmen, mit dem er seine Mannschaft verfluchte. Severa atmete auf. Das Allerschlimmste war noch einmal an ihr vorübergegangen. Sie durfte sogar wieder hoffen. Wenn sie es geschickt genug anstellte, konnte sie diesen irischen Halunken, der ganz verrückt nach einer Frau war, übertölpeln. * Im Nahen des Morgens verzog sich allmählich der Nebel. Die „Isabella“ und der schwarze Segler waren bei anhaltendem Westwind gute Fahrt gelaufen und befanden sich jetzt nach Hasards Berechnungen im nördlichen Zentrum des Archipels. Ferris Tucker hatte mit zwei Helfern noch während der Nacht den Bugspriet repariert und auch die anderen Gefechtsschäden behoben. Es hatte keine Zwischenfälle, keine unliebsamen Überraschungen
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gegeben, und von den irischen Freibeutern war weit und breit nichts zu sehen. Im Süden hob sich eine größere Insel als schwärzlicher Buckel über der Kimm ab. Hasard steuerte sie an und verharrte dann rund eine Meile vor ihrem Ufer, um erst einmal mit Siri-Tong zu beraten. Die Rote Korsarin hatte ihr Schiff ebenfalls stoppen lassen. Hasard spielte den Kavalier. Er ließ ein Boot abfieren, nahm Ben Brighton mit und ließ sich zum schwarzen Schiff übersetzen. Die Versammlung fand in Siri-Tongs Kapitänskammer statt. Diesem Raum haftete — wie überhaupt dem ganzen Schiff — die faszinierende Aura des Exotischen an. Hasard erschien es, als erhielte hier jedes Wort, jeder Ausdruck eine völlig andere Bedeutung. Genau erklären konnte er sich diese Empfindung selbst nicht. Thorfin Njal nahm an der Besprechung teil, desgleichen Juan und der BostonMann. „Jetzt sind wir immer noch genauso schlau wie vorher“, sagte Siri-Tong. „Entschuldige, ich will dich nicht kritisieren, Hasard. Aber was tun wir? Wir können Severa doch nicht einfach aufgeben und ihrem Schicksal überlassen. Das wäre ein Verbrechen.“ „So sehe ich es auch“, erwiderte Hasard. Er lächelte flüchtig. Mehr als bloße Freundschaft verband ihn mit der schönen Eurasierin, aber vor den Crews zeigten sie es nicht. Das hätte ihrer beider Autorität untergraben können. „Haltet mich nicht für einen Querkopf“, fuhr er fort. „Ich bin nur der Ansicht, wir dürfen nicht hitzig und voreilig handeln. Nicht in diesem Fall — in keinem Fall. Ein Befreiungsversuch während der Nacht hätte uns keinen Schritt weitergeführt und Severa wahrscheinlich den Tod gebracht, weil O’Lear wie ein Luchs auf der Hut war.“ „Und jetzt, bei Tag?“ fragte sie. „Haben wir da nicht noch, weniger Möglichkeiten, etwas für sie zu tun?“ „Wir müssen das Versteck O’Lears finden und die nächste Nacht abwarten. Seine
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Wachsamkeit läßt bestimmt nach. Vielleicht nimmt er schon an, wir wollen das Mädchen gar nicht mehr retten. Unser Angriff wird für ihn unerwartet erfolgen.“ Siri-Tong schaute ihn betroffen an. „Vergißt du denn, daß O’Lear das Mädchen vergewaltigen könnte? Sie kann sich ihm doch nicht widersetzen. Zugegeben, mit ein bißchen weiblicher List kann sie ihn hinhalten. Aber wenn sie nicht selbst auskneift, tut er ihr früher oder später etwas an.“ Hasard kaute auf der Unterlippe und überlegte. „Verdammt“, sagte er schließlich. „Wir können die Sache drehen und wenden, wie wir wollen, es gibt keine hundertprozentige Lösung. Aber wir kapitulieren nicht. Ich schätze, O’Lear wird seine Schiffe rund um den Archipel patrouillieren lassen, weil er uns zu finden hofft. Wenn wir eins entern und Gefangene machen können, müssen uns die Kerle zumindest verraten, wo sich der Schlupfwinkel der Piraten befindet. Severa wußte es nicht genau, sie vermutete ihn aber im südlichen Bereich einer der großen Hauptinseln.“ „Es ist schrecklich, warten zu müssen“, sagte Ben. „Die Stimmung ist miserabel, auf der ‚Isabella’ zumindest. Alles bangt um Severa. Dan ist völlig verzweifelt.“ „Er bleibt im Kabelgatt“, erwiderte Hasard schroff. „Sonst bereitet er uns nur noch mehr Schwierigkeiten. Wir kehren jetzt auf unser Schiff zurück und bestatten den armen Euzko Guerazi mit allen seemännischen Ehren. Das sind wir ihm schuldig.“ „Flanagan haben wir schon in der Nacht der See übergeben“, sagte Thorfin Njal. „Wir hoffen, nicht noch weitere Verluste zu haben.“ „Diese verfluchten Inseln“, sagte Juan. „Ich glaube, sie sind verwunschen. Siebringen uns kein Glück.“ Hasard ging nicht darauf ein. Er kehrte auf das Oberdeck zurück und verließ den schwarzen Segler, ohne eine reelle Lösung gefunden zu haben. So miserabel war ihm schon lange nicht mehr zumute gewesen.
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Nach der traurigen Zeremonie der Seemannsbestattung brachen die Schiffe wieder, auf und gelangten am frühen Vormittag in den die beiden Hauptinseln des Archipels trennte. Und hier ereignete sich die denkwürdige Begegnung. Gary Andrews hockte im Großmars und spähte angestrengt durch den Kieker voraus. Plötzlich ließ er das Glas sinken, steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen Pfiff ertönen. „Deck!“ rief er. „Da kommt was auf uns zu!“ Carberry legte den Kopf in den Nacken und schrie: „Himmel, Arsch, kannst du dich nicht deutlicher ausdrücken? Ist das vielleicht eine Art, Meldung zu erstatten? Andrews, du Hering, ich zieh dir gleich die Haut in Streifen ab, wenn du ...“ „Ein kleines Schiff!“ rief Gary. „Nein - ein großes Boot!“ Carberry ächzte wütend. „Ein großes Boot, ein großes Boot! O Mann, ist das ein Sauhaufen hier.“ Hasard lief mit dem Spektiv auf die Kuhl, erklomm das Vordeck und richtete die Optik nach Süden. Die „Isabella“ segelte hart am Wind auf Backbordbug. Pete Ballie mußte aufpassen, daß sie ihm nicht aus dem Ruder lief. Der Sund beschrieb in nicht allzu großer Entfernung einen Knick und führte dann nach Süd-Süd-Westen. Das Fremdfahrzeug, das ihnen entgegenlief, konnte - der Richtung der Straße strikt folgend -also unter günstigeren Bedingungen segeln. Es hatte den Wind von schräg achtern. Hasard fing das Objekt mit der Optik ein und beobachtete schweigend. Noch war es ein schwarzer Fleck am Horizont, aber nach und nach kristallisierten sich Einzelheiten heraus. Diese flache Bauweise, die eigenartigen Aufbauten, das merkwürdige Segel ... „Sir!“ schrie Gary Andrews. „Ich bitte mich nicht zu verfluchen, aber das ist ein verdammt merkwürdiges Ding, weder Boot noch Schiff.“ Hasard antwortete zunächst nicht. Zuerst wollte er weitere Details erkennen. Dann aber drehte er sich ganz allmählich zu
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Smoky um und sagte: „Jetzt habe ich’s, Smoky. Das ist ein Balsafloß.“ „Ein was?“ „Ein indianisches Floßboot mit einem Mast und einem primitiven Rahsegel. Es ist aus dem sehr leichten Holz des Balsabaumes und Binsenbündeln gebaut.” „Und so was schwimmt?“ „Allerdings“, erwiderte Hasard ernst. „Du siehst es ja. Und im übrigen sind die Indianer einiger Stämme bessere Seefahrer, als die meisten Leute annehmen. Sie können nicht nur Kanus bauen oder mit Einbäumen die Flüsse der Neuen Welt befahren - sie sind auch in der Lage, seetüchtige Fahrzeuge herzustellen.“ Smoky legte die Stirn in grüblerische Falten. „Möchte wissen, woher die kommen.“ „Für uns ist nur eins wichtig, Smoky, ob wir Freund oder Feind vor uns haben.“ Hasard hob wieder das Spektiv ans Auge und betrachtete das Balsafloß, das sich nun größer und deutlicher ausnahm. Auch die Männer auf dem Floßboot hatten sie natürlich entdeckt und würden die „Isabella“ und das schwarze Schiff mit scharfen, wachsamen Augen abtasten. Hasard dachte an die Reetboote und die goldenen Flöße, die die Inkas bauten. Unwillkürlich knüpfte er Verbindungen. Er war im sagenhaften El Dorado gewesen und hatte mit Tupa Poyana, dem GottKaiser der letzten Inkas, Freundschaft geschlossen. Ihre hohe Kultur und ihre Menschlichkeit hatten ihn überrascht und fasziniert, und nie würden er und seine Freunde etwas von jenem Goldland an andere verraten. Denn das würde den endgültigen Untergang der Inkas bedeuten. Er schüttelte den Kopf. „Unmöglich.“ „Was ist unmöglich?“ fragte Smoky verdutzt. „Daß das Inkas sind. Sie würden ihre Verstecke am Amazonas niemals verlassen, um bis hierher vorzudringen. Nein, das glaube ich nicht. Mit den Inkas haben die Männer auf dem Floßboot nichts zu tun.“ „Wir werden ja gleich sehen, ob sie friedliebende Leute sind - oder Kerle, die
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uns am liebsten die Köpfe abschlagen würden“, meinte Smoky. Er schnitt eine skeptische Miene und hatte auch allen Grund dazu. Denn nicht mit allen Indianern hatten sie Freundschaft schließen können, es gab Kannibalen und Kopfjäger, die sich auf Gespräche gar nicht erst einließen. Aber die Seewölfe und die Besatzung des schwarzen Schiffes erhielten die Gelegenheit, näheren Kontakt zu den Fremden zu knüpfen. Anders allerdings, als sie sich ausgemalt hatten. Plötzlich, ohne erkennbaren Wetterumschwung, ohne Wechsel der Windrichtung, geriet die See im Sund in Aufruhr. Was Juan so düster verkündet hatte, schien sich nun doch zu bewahrheiten. Verwunschene Inseln - ein böser Zauber lag über dem Archipel und griff nach allen Eindringlingen. Das Wasser türmte sich im Süden der Meerenge plötzlich auf und walzte auf das Balsafloß und die beiden Schiffe zu, so rasch, daß man es kaum fassen mochte. Aber das war kein Sturm, keine Pororoca eine Flutwelle wie am Amazonas -und auch kein Riesenwal, der durch seine Kraft und Verdrängung solche Fluten vor sich herzuschieben vermochte. Ein brodelnder Kessel bildete sich zwischen den Inseln. Die Wogen schienen gleichsam aufzubrechen und zu Mauern zu wachsen. Es gischtete, kochte, schäumte, und mitten= drin in dem unerklärlichen, unheimlichen Brausen und Wogen befand sich plötzlich das Balsafloß. „Ein Seebeben!“ schrie der Seewolf. „Los, auf das Floß zumanövrieren!“ Schreie gellten von dem Floß herüber, Laute einer fremden, unverständlichen Sprache. Hasard hatte immer nach keinen Begriff davon, wer sie waren, woher sie kamen und was sie hier wollten. Er sah im Moment nur eins: Menschen, die sich plötzlich in Not befanden. Er scherte sich den Teufel um das Wüten des Seebebens. Mit einem Schlag war er der grimmige Seewolf, der dreimal kräftig gegen den Wind spuckte und dem Teufel ein Ohr absegelte.
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Mitten hinein in das Branden und Toben stieß die „Isabella“. Die Wogen hoben sie hoch, ließen sie gefährlich tanzen und schlingern und wieder hinabsausen in gähnende Schluchten. Es schien sich bei dem Phänomen um einen Spuk zu handeln. Allerdings um einen sehr realen, so real, daß die „Isabella“ beinahe querschlug. Sie torkelte in dem entfesselten Element und war kaum noch zu manövrieren. Auch nach dem schwarzen Schiff griff jetzt die Flutwelle. Da blieb keine Zeit, Manntaue auf Oberdeck zu spannen oder sich festzubinden, um nicht über Bord gespült zu werden. Die Männer konnten sich nicht einmal bekreuzigen, obwohl sie’s gern getan hätten. Sie müßten sich festklammern, wo sie konnten. Hasard sah den schwarzen Segler, aber er konnte das Floß plötzlich nicht mehr entdecken. War es schon untergegangen? Er wußte nur die Stelle, wo es sich zuletzt befunden hatte. Er wagte das schier Unmögliche. über das schwankende Deck turnte er nach achtern, klomm zum Achterdeck hoch und brüllte: „Ben, Ferris, Shane — Wurfleinen bereithalten!“ „Was hast du vor?“ schrie Ben Brighton gegen das Orgeln des Wassers an. „Ein Tau zum Floß hinüberbefördern, wenn es nicht schon abgesoffen ist!“ Es war wahnwitzig, das wußte er selbst. Aber er hatte schon immer einen Hang zu aussichtslosen, verrückten Unternehmungen gehabt. Er stieß einen deftigen Fluch aus und hangelte am Schanzkleid entlang bis ganz nach achtern. Die „Isabella“ befand sich im Mittelpunkt des Bebens. Hasard stand ganz achtern auf dem erhöhten Teil des Achterdecks an der Heckreling und lief Gefahr, jeden Augenblick heruntergefegt zu werden. Er hielt Ausschau nach dem Floß. Das Wasser peitschte sein Gesicht und seinen Körper. Er glaubte schon nicht mehr daran, das seltsame Gefährt wiederzusehen, da tauchte es plötzlich aus einem Wogental auf. Haarscharf neben der Steuerbordseite der „Isabella“ schwang es hoch. Er konnte
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die entsetzten Gesichter der Indianer sehen und ihre Rufe hören. Die Galeone und das Floßboot drohten zu kollidieren. 6. Aber dann glitt das Floß doch an der „Isabella“ vorbei. Es entging dem Zusammenstoß wie durch ein Wunder. Hasard packte die Wurfleine, die Ferris ihm reichte. Er klammerte sich mit der linken Hand fest, um nicht vom Deck gespült zu werden, mit der rechten schleuderte er die Leine. Sie wirbelte auf die Indianer zu. Plötzlich schienen sie zu begreifen. Vielleicht handelten sie aber auch nur aus instinktivem, reflexartigem Antrieb jedenfalls streckten sie die Hände aus und packten die Leine. Die „Isabella“ rollte und schlingerte in den Fluten. Die Distanz zwischen den beiden so unterschiedlichen Gefährten vergrößerte sich wieder, das mit der Wurfleine verknüpfte Tau der „Isabella“ rauschte aus, und plötzlich hatte die Galeone das Indianerfloß im Schlepp. Ein tollkühnes Manöver. Hasard lachte wild, seine eisblauen Augen blitzten. Mitten durch die Hölle rasen, das war nach seinem Geschmack. Obwohl er ein noch größeres Problem zu lösen hatte, lebte er mit einemmal doch wieder auf. Die „Isabella“ segelte weiter, nach Süden, und sie konnte das Floß tatsächlich aus den tosenden Wassern herausziehen. Das schwarze Schiff hatte auch noch mit dem Seebeben zu kämpfen, aber der Seewolf hoffte inständig, Siri-Tong und ihre Crew würden damit fertig werden. Das war dann auch der Fall. Die Schiffe liefen in ruhigeres Wasser. Schließlich ebbte das Seebeben wieder ab - so jäh, wie es begonnen hatte. Die Wellen glätteten sich, bald kräuselte nur noch eine sanfte Dünung die See, und es schien den Zwischenfall nie gegeben zu haben. Ben Brighton wies auf die nahe Felsenküste der großen Insel im Osten. „Wenn das Floß nicht von den Brechern
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vernichtet worden wäre, wäre es gegen die Klippen gedrückt worden und zerschellt. Es wäre auf jeden Fall untergegangen, und kaum einer von der Besatzung hätte sich gerettet.“ Das war auch den Fremden klar. Sie riefen etwas, das die Seewölfe nicht verstanden. Hasard blickte zu ihnen. Sie rissen die Arme hoch und winkten. „Gut“, sagte Hasard. Er lächelte plötzlich verwegen. „Vielleicht haben wir einen Verbündeten gefunden. Vielleicht ist dies unsere Chance, das Mädchen von den Piraten zu befreien.“ Wenig später ließen sie das Floß längsseits der „Isabella“ gehen. Auch der schwarze Segler staffelte heran und ging an Steuerbord der Galeone vor Anker. SiriTong ließ sich herüberpullen, als auch die Indianer an Bord der „Isabella“ kletterten. Und so traten Hasard denn zwölf in Felle gekleidete, abenteuerliche Gestalten entgegen, während sich auf der Kuhl die komplette „Isabella“-Crew - außer Dan O’Flynn - sowie Siri-Tong, Thorfin Njal, Juan, der Boston-Mann, Eike, Oleg, Arne und der Stör versammelten. Matt Davies blickte in diesem Moment gerade neugierig zu dem Floß hinunter. Es war wirklich ein erstaunliches Fahrzeug größer, als die Männer ursprünglich angenommen hatten. „He, Profos“, sagte er plötzlich gedämpft. „Da stimmt was nicht.“ Carberrys wüstes Narbengesicht tauchte neben ihm auf. „Was stimmt nicht? Spuck’s aus, Matt, und spann mich nicht auf die Folter, das kann ich nicht leiden.“ „Da unten bewegt sich was. Unter den Aufbauten des Floßbootes.“ Carberry spähte argwöhnisch in die Tiefe. Dann grinste er aber und winkte Bill, dem Schiffsjungen, zu. „Bill, komm doch mal her und schau dir das an.“ „Ja, Sir.“ Bill lugte ebenfalls übers Schanzkleid nach unten. „Was siehst du da auf dem Floß?“ fragte Carberry. Bill kniff die Augenlider zusammen. Aus der Hütte des Floßes schob sich plötzlich ein schwarzes „Gesicht“ mit riesigen
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Nasenlöchern und winzigen Knopfaugen hervor. Dann erschien noch ein „Gesicht“. Es war klein und spitz wie ein einziger Schnabel und hatte über der Nase einen pendelnden roten Hautlappen. „Ein Erdschwein und einen Truthahn sehe ich“, meldete Bill. In diesem Moment ertönte unten auch das beleidigte Grunzen des Schweines. Sir John hob von Carberrys Schulter ab, diesmal durfte er’s. Er flog elegant zu dem Floß hinunter und titulierte die Bordfauna der Indianer als „Affenärsche und Rübenschweine“. „Die haben Viehzeug mitgebracht“, sagte Matt Davies verdutzt. „Nächstes Mal machst du nicht gleich die Pferde scheu“, sagte der Profos drohend. „Aye, aye“, knurrte Matt. Der Anführer der zwölf Indianer -ein großer, sehniger Mann mit wachen Augen - hatte sich mittlerweile vor dem Seewolf auf die Decksplanken sinken lassen und wollte ihm die Stiefel küssen. „Laß das“, sagte Hasard. „Steh wieder auf.“ Er sprach zuerst englisch und dann spanisch, danach versuchte er es ihm mit den wenigen Brocken der Indianersprachen zu erklären, die er kannte. Als er ein paar Ausdrücke gebrauchte, die er einmal den Araukanern abgelauscht hatte, horchte der Indianer auf. „Du“, sagte Hasard. „Aufstehen.“ Gleichzeitig beschrieb er eine entsprechende Gebärde. Der Mann erhob sich diesmal wirklich, verneigte sich, legte die Hände auf Hasards Schultern, lächelte und trat wieder zurück. Plötzlich schlug er sich mit der Faust gegen die Brust. „Ich - Ushua.“ Hasard tippte sich mit dem Finger auf die Brust. „Ich - Hasard.“ „Hasard gut. Hasard Gott.“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nur getan, was in meinen Kräften stand. Ich kann es nun mal nicht leiden, wenn Leute, die nichts getan haben, in der See versaufen. Verstehst du mich?“ „Schwer“, erwiderte Ushua. „Woher kommt ihr?“ Hasard wies in alle Himmelsrichtungen. „Woher?“
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Diesmal erwiderte der Häuptling in gebrochenem Spanisch: „Isla grande de Tierra del Fue-go.“ „Von Feuerland also“, sagte der Seewolf. Den Rest des umständlichen Gespräches bewältigte er in der gleichen Weise: durch Vokabeln aller ihm bekannten Sprachen, durch Mimik und Gestikulation. Und so erfuhren die Seewölfe und SiriTong-Piraten das Erstaunliche. Die Indianer waren Abkömmlinge eines Araukaner-Stammes und direkt von Feuerland aus zum Archipel der zweihundert Inseln übergesetzt. Das Balsafloß war also mehr als ein bloßer Küstensegler, es war seetüchtig. Die Indianer waren friedliche, gutmütige Menschen, die nichts Übles im Sinn hatten. Für das Seebeben hatte ihr Schamane eine mystische Deutung, Hasard brauchte gar nicht erst versuchen, es ihm als reines Naturphänomen zu erklären. Der Schamane, ein alter Mann von hagerer Statur, setzte ihnen auseinander, die Götter und Geister der tiefen Wasser seien in Wut, weil Eindringlinge erschienen seien und durch ihre Ruchlosigkeit den Frieden der Inseln störten. „O’Lears Piraten“, flüsterte Siri-Tong. „Erstaunlich, wie dieser Zauberer und Medizinmann den Nagel auf den Kopf getroffen hat.“ Von den irischen Freibeutern wußten die Indianer nichts. Aber sie bezeichneten sich als Abgesandte ihres Stammes, die auf die Inseln gekommen seien, um die Götter und Geister zu besänftigen. Daher hatten sie auch die Tiere mitgebracht. Sie sollten den Mächten der Finsternis geopfert werden. Für dieses Vorhaben suchte der Schamane nur noch den richtigen Platz. Bis zur „Isla Grande de Tierra del Fuego“ war das Wüten der Götter gedrungen — ein früheres Seebeben hatte mit seinen Ausläufern also sogar Feuerland erreicht, anders konnte es nicht sein. Der Schamane hatte das Omen gedeutet, Ushua eine Mannschaft zusammengestellt und zum Aufbruch zu den Inseln gedrängt, die der indianischen Überlieferung nach irgendwo
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dort lagen, „wo die Sonne aus ihrem Bett steigt“. „Sagenhaft“, meinte Ben Brighton. „Wenn ich richtig verstanden habe, befürchten sie etwas noch Schlimmeres als Seebeben, die hier hin und wieder ausbrechen.“ Der Schamane hob beschwörend die Hände. Er sprach wieder. Ushua, der die meisten spanischen Vokabeln beherrschte, erklärte Hasard, was er meinte. „Die ,feuerspeiende Göttin’ muß hier irgendwo ihre Wohnung haben“, sagte der Seewolf dann zu den gespannt lauschenden Männern. „Sie wird die bösen Eindringlinge bald in ihren Feuersee locken, ihren Haß über sie ausschütten — und sie vertilgen.“ „Da kann man ja das Grausen kriegen“, sagte Bill. Carberry legte ihm die Pranke auf die Schulter. „Ruhig Blut, Junge, wer weiß, was der Bursche überhaupt meint.“ Hasard blickte reihum. Die meisten, wie der Profos, schauten fragend drein und wußten nicht, wovon präzise die Rede war. Siri-Tong suchte jetzt aber das Achterdeck aufstellte sich neben den Seewolf und sagte: „Ein Vulkanausbruch, nicht wahr? Eine Katastrophe, die irgendwo hier ihren Ausgang nehmen wird.“ „Ja, das glaube ich auch“, erwiderte Hasard. „Was auch geschieht, ich schätze, wir haben in diesen einfachen, aber grundehrlichen Menschen einen Bundesgenossen gefunden“, sagte die Rote Korsarin. Hasard nickte. Er trat dicht vor Ushua hin. „Schließen wir einen Pakt, Ushua. Du mußt uns helfen. Ich werde dich dafür belohnen. Wir müssen ein Mädchen aus den Händen der Piraten befreien, die hier ihr Unwesen treiben.“ Er mußte es ein paarmal erklären, erst da verstand der Häuptling. Ushua verschränkte die Arme vor der Brust und sprach: „Keine Belohnung. Hasard hat Leben von Ushua und Stammesbrüdern gerettet. Ushua tut alles für seinen Freund Hasard.“
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„Gut. Dann laß uns eine geschützte Bucht aufsuchen, wo O’Lear und seine Schurken uns vorerst nicht aufspüren können.“ Sie fanden die Bucht um die Mittagsstunde in der südlichen Hälfte des Sundes. Sie lag so geschützt in den Felsen der Ost-Insel, daß sie sich sicher fühlen durften. Die „Isabella“ und das schwarze Schiff ankerten, dann setzte Hasard Ushua auseinander, was er vorhatte. Bei dieser Gelegenheit mahnte der Schamane noch einmal: „Die feuerspeiende Göttin wird bald wüten und töten, wer ihre Ruhe stört.“ Der Seewolf lächelte nicht darüber. Er gab etwas auf den untrüglichen Instinkt, den die Naturmenschen für gewisse Dinge hatten. Plötzlich wußte er, daß er sich auch aus diesem Grund mächtig beeilen mußte, die irischen Freibeuter aufzustöbern und Severa Guerazi zu befreien. * Unter mörderischem Fluchen hatte Brian O’Lear in der Nacht seine Galeone „Black Eagle“ aus dem Tang befreit. Danach war er zu seinem Schlupfwinkel zurückgekehrt und hatte mit seinen Männern beraten. Da er den Seewolf und Siri-Tong auf der Insel der Wale nicht gefunden hatte, sandte er im Morgengrauen die Dreimast-Karavelle und die kleinere Galeone aus, um nach den verhaßten Gegnern zu fahnden. Allein die „Black Eagle“ blieb in der Bucht seiner Insel zurück. Nachdem er auch auf der Insel alle Kontrollen durchgeführt und seinen mit ihm hiergebliebenen Kerlen alle erforderlichen Anweisungen erteilt hatte, wollte er sich Severa widmen. Das Quartier der Piraten war ein zerklüftetes Felseneiland vor der Südküste der westlichen großen Insel des Archipels. Severa lagerte unter Bewachung in O’Lears Wohnhöhle, die - inmitten eines halben Dutzend ähnlicher Felsenlöcher hoch über der Ankerbucht lag und nur über zwei Pfade zu erreichen war. Severa war nicht gefesselt worden. Sie durfte in der Höhle umherwandern, sie
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kam ja doch nicht heraus. Manchmal trat sie an den Auslaß, dicht hinter die Rücken der beiden Wachtposten und blickte nach unten auf den Kieselstrand, wo O’Lear auf und ab marschierte und seine Befehle brüllte. Die Insel sollte strategisch verteidigt werden, falls der Seewolf aus purem Zufall doch noch bis hierher gelangte. Auf der „Black Eagle“ hatte Severa noch erfahren, daß es den Seewölfen und SiriTong-Piraten gelungen war, die ZweimastKaravelle der Piraten zu versenken. Sie hatte sich diebisch darüber gefreut, sich aber zügeln müssen, um nicht zu lachen. Die Dreimast-Karavelle war inzwischen so weit wiederhergestellt, daß sie von neuem gegen Philip Hasard Killigrew ins Gefecht ziehen konnte. Und gegen Dan O’Flynn! Severa dachte mit Wehmut an den mutigen jungen Mann. In jener Nacht, als O’Lear zum erstenmal gegen den Seewolf angetreten war, hatte Dan ihr vorher versichert, er würde auch gegen einen O’Lear kämpfen - für sie. Severa schalt sich eine Närrin. Hatte sie das alles nicht heraufbeschworen? Sie überschüttete sich innerlich mit Selbstvorwürfen. Schon beim Eintreffen der Seewölfe und der Siri-TongMannschaft auf der Insel der Wale hätte sie sie nachhaltiger warnen müssen. Und sie hätte auch nicht zulassen dürfen, daß der Seewolf El Asesino stellte und tötete. Das hatte seinen Aufbruch hinausgezögert - nur dadurch hatte Brian O’Lear die Gelegenheit erhalten, seinen Angriff zu führen. Und letztlich hätte sie auch nicht mit SiriTong über die Insel wandern dürfen, als die Männer mit dem Ausweiden der Wale beschäftigt waren. Sie atmete tief durch. Aber welchen Zweck hatte es jetzt noch, sich deswegen zu verurteilen? Sie konnte an den Gegebenheiten ja doch nichts mehr ändern. Nur eine Chance hatte sie noch. „Wie lange muß ich mir hier hoch die Beine in den Bauch stehen?“ fragte sie die Wachtposten.
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Einer von ihnen war Fatboy. Er drehte sich um und antwortete in breitem Englisch: „Ich versteh nicht, was du plapperst, Frauenzimmer. Aber ich will dir was sagen. Du bist ein richtig schönes Stück Weiberfleisch, jung und knackig. Wenn O’Lear es nicht verboten hätte, hätte ich dich längst vernascht.“ Er leckte sich die feisten Lippen. „No comprendo“, erwiderte Severa ruhig. „Ich verstehe nicht.“ Fatboy nickte. „Ja, einer kapiert den anderen nicht. Aber es gibt ‘ne Sprache zwischen Mann und Frau, bei der jeder klarkommt. Oder anders: Manche Sachen kann man auch ohne großes Gerede erledigen.“ Er grinste wie ein Faun. „Weißt du, es gibt keine Huren auf diesen verdammten Inseln, nur Felsen, Wasser, Wind — und Einsamkeit. Nicht mal Bäume haben wir hier. Himmel, wir sind schon seit Wochen hier, weil uns die Spanier wie die Irren gehetzt haben. Einmal hätten sie uns vor der Insel, auf der du warst, beinahe in die Pfanne gehauen. Wir müssen also noch ‘ne Weile hier aushalten, weil es anderswo viel zu brenzlig für uns ist.“ „Du bist ein hirnverbrannter Schwätzer“, sagte sie in ihrer Muttersprache. Natürlich begriff er wieder nicht — ebenso wenig, wie sie sein Gerede verstand. Fatboy musterte sie ungeniert von oben bis unten. „Man kriegt hier so richtig Appetit auf Weiber, das ist es. Na, vielleicht überläßt O’Lear dich uns ja doch noch. wenn er sich zur Genüge mit dir vergnügt hat:’ Er wandte den Kopf, weil sein Kumpan ihm ein Zeichen gegeben hatte. „Ho, da kommt O’Lear ja“, sagte Fatboy. Brian O’Lear stieg einen der beiden Pfade herauf, blieb hei seinen Männern stehen und sagte: „Ihr könnt jetzt verschwinden. Ich kann keine Zuschauer gebrauchen. Außerdem wird sie nicht auszukneifen versuchen. Und selbst wenn, ich kann sie selbst kirre kriegen.“ „Daran zweifelt keiner“, erwiderte Fatboy untertänigst. „Wenn wir den Seewolf und sein Pack auch noch fassen, kannst du
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dann auch der Roten Korsarin die Leviten lesen.“ Der Rotbärtige sah ihn verblüfft an. „Gute Idee, Fatboy. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Warte nur, wenn wir das schwarzhaarige Weib erst haben, kriegt ihr auch euren Spaß.“ Als sie gegangen waren, betrat er die Höhle und grinste Severa an. „Nun zu uns. Du hast kapituliert und stehst auf der Seite des Stärkeren? Meinst du das aufrichtig? Schön, dann zier dich nicht, ‘runter mit den Fetzen.“ O’Lear, dachte sie voll Haß, du hast nicht mit dem Temperament einer reinblütigen Baskin gerechnet. Damit kennst du dich nicht aus. „Komm“, sagte sie. Plötzlich verzauberte ein Lächeln ihr Gesicht. Es kostete sie wirklich die größte Anstrengung ihres Lebens, den Mund derart zu verziehen. „Komm und gib mir erst einen Kuß, Pirat.“ „Den kannst du haben“, stieß er aus. Seine Stimme hatte jetzt einen veränderten Klang, sie war heiser und guttural. Die Gier schien ihn zu verwandeln. Er trat auf sie zu, streckte seine großen, ungeschlachten Hände aus und riß sie an sich. Er preßte sie wild gegen seine Brust. Es raubte ihr den Atem. „Brian küßt dich, wie dich noch keiner geküßt hat“, verkündete er keuchend. Severa fühlte seinen heißen Atem auf ihrer Wange. Ihr wurde fast übel davon, aber sie beherrschte sich immer noch und zeigte es ihm nicht. Im Gegenteil. Der Mut der Verzweiflung verlieh ihr die Kraft, durchzuhalten und verzückt zu lächeln. Die Herausforderung in ihrem Gesicht ließ seine Vorsicht endgültig schwinden. Er beugte sich tief über sie. Severas rechte Hand glitt um seine Hüfte herum. Längst wußte sie, wo er das Messer trug, schon auf der „Black Eagle“ hatte sie darauf geachtet. Ihre Fingerkuppen berührten den Griff. Sie zögerte nicht, packte danach und riß es heraus. Brian O’Lear bemerkte es, aber er war zu besessen von seinem Verlangen, um rechtzeitig reagieren zu können.
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Severa richtete die Messerspitze gegen seinen Rücken. Dann stach sie zu. Bis zum Heft trieb sie das Messer in seinen Leib. O’Lear stöhnte auf, sank zu Boden. Auf den Beinen halten konnte er sich nicht mehr, aber er trachtete, Severa zu packen und ebenfalls zu Boden zu reißen. Sie bückte sich nach einem Stein, den sie sich schon vorher zurechtgelegt hatte. Blitzschnell las sie ihn auf, holte aus und schlug ihn gegen seinen Kopf. Diesen Hieb vermochte auch ein O’Lear nicht zu verdauen. Er sackte mit einem Ächzer zurück, blieb auf dem Rücken liegen und regte sich nicht mehr. „Schweinehund“, flüsterte das Mädchen. Sie wandte sich ab und würdigte ihn keines Blickes mehr. Auf den Zehenspitzen pirschte sie zum Ausgang der Höhle. O’Lear — das Messer mußte noch tiefer in seinen Rücken gefahren sein, weil er daraufgefallen war. Einen solchen Stoß überstand kein Mensch. Vielleicht war er bereits tot. Severa gönnte es ihm. Er tat ihr nicht leid, nicht nach allem, was er verbrochen hatte. Sie spähte vorsichtig aus der Höhle in die Tiefe. Fatboy und der andere Wachtposten hatten sich tatsächlich auf den Kieselstrand zurückgezogen und hantierten dort mit anderen Piraten an ein paar Geschützen, die offenbar auf O’Lears Befehl hin an Land geschafft worden waren. Der Piratenkapitän hatte für jeden Eventualfall vorsorgen wollen. Er verließ sich nicht darauf, seinen Schlupfwinkel bei einem Angriff der Feinde nur von der „Black Eagle“ aus verteidigen zu können. Severa schlüpfte aus der Höhle und drückte sich mit dem Rücken zur Felswand auf dem linken Pfand entlang. Er verlief ein paar Yards weit fast horizontal, erst dann fiel er ab und führte auf den Strand hinunter. Fatboy und die anderen schauten nicht auf. Noch nicht. Wenn sich auch nur einer von ihnen umwandte, mußte er Severa entdecken, denn sie befand sich wie auf einem Präsentierteller.
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Andererseits hatte sie keine andere Möglichkeit, das Piratennest zu verlassen. Sie mußte es wagen. Und weiter? Zum Ufer konnte sie unmöglich absteigen. Zu viele Piraten befanden sich dort, sie würden sie abfangen, bevor sie den Durchbruch schaffte und in die Bucht hinausschwimmen konnte. . Also blieb ihr nur eines: der Weg ins Inselinnere. Gelang es ihr, sich vor den Kerlen zu verstecken und das Eiland zu überqueren, konnte sie sich auf der Nordseite ungehindert ins Wasser begeben und schwimmend flüchten. Das Wasser war kalt. Bei dem Gedanken daran biß sie unwillkürlich die Zähne zusammen. Ihre Chance, auf den Seewolf und seine Freunde zu stoßen, waren auch verschwindend gering. Aber es war die einzige Aussicht auf Rettung, die sie hatte, und sie klammerte sich daran. Während sie weiterschlich und auf die Piraten unter sich schaute, sagte sie sich immer wieder: Lieber sterben, als diesen Verbrechern noch einmal in die Hände fallen. Der Punkt, an dem der Felsenpfad abknickte und nach unten verlief, war erreicht. Severa drehte sich um, griff nach Gesteinsvorsprüngen und begann den Aufstieg. In diesem Augenblick begann sie zu beten. Ja, sie flehte zum Himmel, er möge sie behüten und nicht abstürzen lassen. Sie wartete darauf, daß die irischen Freibeuter losbrüllten und fluchten, daß sie auf sie schossen. Aber das trat nicht ein. Zwei, drei Yards über dem Pfad gelangte sie durch einen kerbenförmigen Einschnitt in das Hinterland der schroffen Felsenmauer. Sie wankte einen flachen Hang hinunter, rutschte fast auf einer Geröllhalde aus und hastete schließlich zwischen bizarr aufragenden Zinnen und Wänden dahin. Kaum spürbar stieg der Untergrund an. Severa lief mit angewinkelten Armen und gönnte sich keine Pause. Sie war eine gute, ausdauernde Läuferin. Wenigstens darüber brauchte sie sich nicht zu sorgen, sie würde durchhalten.
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Sie geriet in immer höhere Regionen der Insel, es schien keinen Weg zu geben, sie zu umgehen. Severa ließ sich nicht beirren. Hatte sie erst die höchste Erhebung erreicht, würde das Felsland auch wieder abfallen und sie ans Nordufer geleiten. Plötzlich hörte sie das Rufen der Piraten. Sie hatten ihr Verschwinden bemerkt! Vielleicht war Fatboy oder jemand anders zur Haupthöhle hinaufgeklettert, um O’Lear etwas zu melden. Vielleicht lebte O’Lear auch noch, war bis zur Grottenöffnung gekrochen und hatte um Hilfe gerufen. Wie, auch immer - sie würden jetzt ihre Verfolgung aufnehmen. Sie beschleunigte ihren Schritt. 7. Erstaunt registrierte sie plötzlich, daß der Untergrund nicht mehr kalt war wie in der Nähe der Piratenhöhlen. Nein - er wärmte jetzt ihre Fußsohlen. Wie war das möglich? Die Sonne war blaß, sie hatte nicht die Macht, das Gestein derart zu erwärmen. Und wenn, hätte sie es ja auch in den anderen Zonen getan. Severa stieß einen unterdrückten Laut des Entsetzens aus. Der Boden vibrierte jetzt sogar leicht. Tatsächlich, sie bildete es sich nicht ein, die Angst suggerierte ihr keine Trugbilder. Der Felsen bebte. Einmal, von der Insel aus, die ihr und ihrem Vater monatelang Unterschlupf gewährt hatte, hatte sie ein Seebeben beobachtet. Ihr Vater hatte ihr später erklärt, daß irgendwelche unbekannten Kräfte auf dem Grund der Tiefsee das Wasser in Aufruhr zu setzen vermochten. Aber die Erde - wie konnte die heiß werden und zittern? Daheim in Spanien hatte sie einmal von Erdbeben berichten hören. Drohte der Insel etwa ein solches Unheil? Severa zwang sich, nicht daran zu denken. Was auch geschah, sie mußte weiterlaufen. Die Stimmen der Piraten waren hinter ihr, und sie konnte die Kerle nur abhängen, wenn sie lief und lief. Etwas später hetzte sie an einem Berghang aus dunkelgrauen, fast schwarzen Felsen
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entlang. Hier wurde der Boden so heiß wie der Sand tropischer Strände im Hochsommer. Severa verbrannte sich fast die Füße. Es war ihr nicht geheuer. Sie hatte Angst, aber sie durfte nicht umkehren. Verzweifelt jagte sie weiter voran. Das Inselinnere sah völlig anders aus als die Piratenbucht. Hier war das Gestein nicht mehr hellgrau, sondern düster und drohend. Hier gab es keinen einzigen Busch mehr, nicht einmal einen Krüppelstrauch. Kein Tier lief vor ihr davon, kein Vogel flatterte auf. Die Gegend war verlassen und tot. Der Hauch der Verdammnis lastete über ihr. Severa steuerte den Hang hinauf, um an seinem Grat entlangzulaufen und sich eine Richtung zu setzen’. Sie hatte Angst, die Orientierung zu verlieren und im Kreis zu laufen. Plötzlich erschien ihr das Eiland riesengroß, dabei wußte sie, daß es zu den kleinsten des Archipels zählte. O’Lear hatte es gesagt. Oben am Grat schlug ihr der Gluthauch plötzlich voll entgegen und ließ ihren Atem stocken. Sie verhielt ihren Schritt. Was da vor ihr lag, war ungeheuerlich. Es lähmte sie, wie angewurzelt blieb sie stehen. Die Angst war ein roter Gigant, der auf sie zuschwebte und ihr die Kehle zuschnürte. Sie stand am Rand eines riesigen Kraterloches. Unter ihr kochte und brodelte es rotflüssig. Wabernde Feuerglut - der Schlund der Hölle. Severa erschrak zu Tode. Sie taumelte und drohte abzurutschen. Dumpfes Grollen erfüllte den mächtigen Vulkan. Er war ein Meer aus flüssigen Flammen, mit glühenden Inseln darin - der Feuersee der Indianer. Ein gefährlicher Schildvulkan, der jede Stunde ganz ausbrechen konnte. Aber das ahnte Severa nicht. Sie versuchte, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen. Aber in diesem Augenblick bröckelte etwas von dem schwarzen, spröden Gestein unter ihren Füßen ab und rieselte in den dampfenden und fauchenden Lavaschlund hinunter.
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Severa schrie auf. Sie warf sich nach vorn, zum Hang hin, aber das nutzte nichts mehr. Sie verlor den Boden unter den Füßen und glitt ab. Noch einmal schrie sie auf, diesmal in heller Todesangst. Ihr Körper schleifte über die Lavaerde. In jahrelangem zähen Bestreben hatte der Vulkan, die offene Pulsader der Welt, seinen Rand wie Hefeteig hochgebläht, und bei jedem Ausbruch waren die Hänge wieder ein Stück gewachsen. Sie bildeten die Barriere zur Apokalypse, in der der Leibhaftige die Feuer des Todes heizte — wer sie passierte, der war verloren. Severa kreischte wie von Sinnen. Ihre Kleidung riß auf der schartigen Erde auf, sie rutschte weiter, spürte die Schrammen auf dem Leib nicht, wohl aber das Feuer, das ihre Beine anheizte und unerträglich wurde. „Ich will nicht sterben!“ schrie sie. Plötzlich fanden ihre Hände Halt. Unverhofft war ihre Fahrt ins Inferno unterbrochen. Severa hing, die Hände in Widerstände verkrallt, über dem schmauchenden Feuersee. Wie lange noch? Sie wimmerte. Ihre Gebete wurden nicht erhört, es gab keine Hilfe mehr. Der Untergang war nur hinausgezögert worden. Unter den Fingern ihrer linken Hand bröckelte der Untergrund jetzt bereits wieder ab. Sie stöhnte in panischem Entsetzen. „Dan“, schluchzte sie. „Leb wohl. Behalte mich immer in Erinnerung. Padre — folge mir ins Jenseits, dort treffen wir uns wieder ...“ Plötzlich baumelte etwas direkt vor ihrem Gesicht. Sie zuckte zusammen. Ein Tau! Wer hatte es geworfen? War es Wirklichkeit, oder litt sie nun doch unter Halluzinationen? Sie packte es und hielt sich daran fest. Erleichtert stöhnte sie auf. Wenn es doch Dan O’Flynn war, der zu ihrer Rettung erschienen war! In einem huschenden, schemenhaften Szenenbild erschien die Gestalt des jungen Mannes vor ihrem geistigen Auge. Wie er auf der Insel der
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Piraten landete, aus dem Boot sprang, landeinwärts lief... „Du elendes Miststück, hab ich dich endlich wieder?“ Dieser Satz, gemein und von einer bekannten Stimme ausgestoßen, riß sie jäh in die Wirklichkeit zurück. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah Brian O’Lear hoch über sich am Kraterrand stehen. Er zerrte an dem Tau, zog sie hoch und brüllte: „Du Luder, verrecken lassen sollte ich dich. Aber so einfach kommst du mir nicht davon!“ Er zog sie hoch, hob sie auf den Hang und stellte sie vor sich und seine Begleiter hin. Da waren sie, Fatboy und die meisten anderen Piraten, die sie vorher unten an der Bucht gesehen hatte. Sie grinsten genauso hämisch und verächtlich wie ihr rotbärtiger Anführer. „Du — du lebst?“ stammelte Severa, als sie in O’Lears Gesicht blickte. Seine Antwort bestand aus einer Ohrfeige, die ihr den Kopf abzureißen drohte. Jedenfalls fühlte es sich für Severa so an. Sie stürzte auf die Piraten zu. Fatboy fing sie auf und hielt sie fest. Sie wollte nicht sterben, und dafür zahlte sie jetzt einen bitteren Preis. „Das Messer hat nur die Schultermuskeln getroffen!“ schrie O’Lear. „Kaum zu glauben, was? Du elende Hure, wie ich mich dafür an dir rächen werde! Fatboy hat mir die Klinge ‘rausgezogen und mich notdürftig verarztet, dann sind wir los und haben dich gesucht. Hier!“ Er drehte sich halb um. Sie konnte den Verband sehen, den er um die Schulter trug. „Das hast du’ mir angetan, mir, Brian O’Lear!“ Er wies auf sein Haupt. Auf der Platte zeichnete sich in aller Deutlichkeit eine Beule ah. „Und hier! Kein Mann hat mich jemals so gedemütigt. Du wirst zweimal – was sage ich –, dreimal dafür sterben!“ „Soll ich sie schlagen?“ fragte Fatboy. „Nein, erst bringen wir sie zur Bucht zurück“, entgegnete sein Anführer. „Ich will weg von hier.“ Ganz so selbstsicher, wie er sich gab, war er nämlich nicht. Immer wieder schaute er über den Kraterrand weg in die wabernden
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und blubbernden Lavaströme. Er hatte nicht gewußt, daß der Berg im Zentrum der Insel solche beängstigenden Aktivitäten zu entwickeln imstande war. Als er eingetroffen war, hatte er das ganze Eiland untersucht, aber der Krater war mit schwarzem Schutt zugedeckt gewesen. Seinerzeit hatte der Ire angenommen, es handle sich um eine harmlose Besonderheit der Insel. Jetzt aber wußte er, daß es Lavaschutt gewesen war. Die schlackeartige Schicht war geschmolzen und eingesunken, und nun glühte sie rot und bedrohlich. Etwas stieg in O’Lear auf und ließ ihn nicht wieder los. Erst kurze Zeit später begriff er, daß es die Furcht vor den Urgewalten war. Sie marschierten zur Bucht und zu den Höhlen zurück. Er zerrte Severa Guerazi mit sich und sagte zu seinen Männern: „Wir warten noch die Karavelle und unsere zweite Galeone ab, dann brechen wir auf und suchen uns einen neuen Schlupfwinkel. Die Insel hier gefällt mir nicht mehr.“ * Coleman, der hagere Pirat aus Dublin, hatte das Kommando auf der DreimastKaravelle übernommen. Bei dem Nachtgefecht mit dem Seewolf und SiriTong war der Kapitän verletzt worden. Er brauchte einen Stellvertreter. So kommandierte Coleman vom Achterdeck aus, während der eigentliche Schiffsführer in seiner Kammer des Achterkastells ruhte. Die Karavelle patrouillierte im südlichsten Bereich des Sunds, der die beiden Hauptinseln trennte. Vorher hatte sie systematisch alle Inseln im westlichen Teil des Archipels abgesucht, während die kleinere Galeone die im Osten liegenden Inseln erkundete. Von der „Isabella“ und dem schwarzen Viermaster gab es keine Spur. Coleman war gereizt. Unruhig tigerte er auf dem Achterdeck auf und ab. Er hielt dabei die Arme auf dem Rücken verschränkt und überlegte, was zu tun sei.
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„Stan!“ rief er schließlich dem Rudergänger zu. „Abfallen! Wir fahren eine Halse, gehen auf Kurs Nord-Nord-Ost und segeln durch den Sund!“ „Abfallen“, wiederholte der Rudergänger. Colemans Befehle scheuchten die Decksleute an die Schoten und Brassen. Der Wind blies günstig aus Südwesten, es würde ein einfaches, flinkes Unterfangen sein, die Meerenge zu durchqueren. Aber dann ertönte der Ruf des Ausgucks im Vormars: „He, Leute! Da schwimmt was!“ Was da schwamm, stellte Coleman wenig später durch einen Blick ins Spektiv fest. Im Rund der Optik hoben sich deutlich die Umrisse eines Gefährtes aus Holz und Reisigbündeln ab. Es führte ein einfaches Rahsegel, und an Bord befanden sich fellgekleidete Gestalten. „Indianer auf einem verdammten Balsafloß“, sagte Coleman. „Der Teufel mag wissen, woher die kommen.“ „Was ist, brennen wir ihnen eins auf den Pelz?“ fragte Stan. „Warte. Lassen wir sie erst mal heran. Soweit ich erkennen kann, haben sie keine Feuerwaffen.“ Coleman lachte höhnisch. „Pah, woher sollten sie die auch kriegen! Und sie können ja nicht mal damit umgehen, diese wilden Affen.“ „Sie winken“, meldete der Ausguck. „Sie wollen was.“ Coleman verzog den Mund. „Möglich, daß sie Wasser und Proviant wollen. Die sollen sich nicht einbilden, daß sie von uns was kriegen.“ Er blickte wieder durch das Fernrohr und klappte plötzlich den Mund auf. „Holla, ist denn das zu fassen? Die haben ja — verdammt, sie sind über und über mit Schmuck behängt. Männer —mit Goldschmuck!“ Jetzt war die Aufmerksamkeit der Kerle vollends geweckt. Neugierig und voll Erwartung sahen sie zu dem Floß, das langsam näherglitt. Sie hatten Mühe voranzukommen und mußten kreuzen, um nicht zurückgeworfen zu werden. Fassungslos schaute Coleman zu, wie das primitive Floßboot vor der Karavelle aufund absegelte. Allmählich verringerte sich
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die Distanz, er konnte die bronzefarbenen, hochaufgerichteten Gestalten vor der Hütte nun immer besser erkennen. Sie standen da, als befänden sie sich in einer Prozession. Ihre Ketten und Reifen und all die anderen Kleinodien, die sie trugen, glitzerten im Sonnenlicht. Der größte Indianer ganz vorn am Bug der Balsa hatte sich mit einer großen, goldenen Kette angetan, an der ein merkwürdiges Kreuz funkelte. Seine Kopfbedeckung, eine Art Helm, schien ebenfalls aus purem Gold zu bestehen. Coleman und seine Kumpane kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das müssen irgendwelche Heiligen oder Medizinmänner sein“, murmelte Coleman. „Weiß der Henker, wer sie sind: Ich kenne mich nicht aus mit ihren verdammten Kulten, aber von Gold und Silber verstehe ich was, das kann ich euch flüstern. Hört zu, wir lassen sie längsseits gehen und an Bord steigen. Den fetten Braten da vernaschen wir, ohne etwas dafür zu riskieren. Es sind zwölf Rothäute. Die haben wir im Handumdrehen abserviert.“ „Vielleicht können wir aus ihnen auch noch ‘rausprügeln, wo wir mehr von dem Goldzeug finden“, sagte Stan, der Rudergänger. „Bravo“, lobte Coleman. „Eine gute Idee.“ Er trat ans Backbordschanzkleid und winkte den Indianern zu. Als sie kurze Zeit darauf mit ihrem Floß längsseits gingen, verbeugte er sich linkisch und bat sie hohnlächelnd an Bord. Sie mochten seine Worte nicht verstehen, seine Gesten wußten sie jedoch zu deuten. Kurzum, sie enterten an der Jakobsleiter auf, die er für sie ausbringen ließ. Mit würdevollen Mienen kletterten sie über das Backbordschanzkleid auf die Kuhl und suchten das Achterdeck auf, wo Coleman auf sie wartete. Alle zwölf. Der Häuptling, mehr als sechs Fuß groß, verneigte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Hinter ihm scharten sich die anderen zusammen und nahmen die gleiche Haltung ein. Sie hatten auch einen Medizinmann oder Schamanen dabei, einen ziemlich schmalbrüstigen Burschen,
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der Büffelhörner auf der Kopfbedeckung aus Fell und eine Art Rassel in der Hand trug. Coleman war nahezu geblendet von dem vielen Gold, mit dem sie sich behängt hatten. Ihm entging aber trotzdem nicht, daß einer der zwölf, ein wuchtiger Kerl mit Narbengesicht und Rammkinn, einen Sack aus Tierhaut trug, in dem es sich bedenklich bewegte. Coleman wies auf den Sack. „Was ist das? Was habt ihr da?“ Der Anführer verneigte sich wieder und murmelte etwas, das wie „Gullug“ oder „Gollup“ klang. Der Narbengesichtige stieß einen grunzenden Laut aus. Colemans Blick irrte zu seinen Landsleuten auf der Kuhl. Sie standen schon mit den Händen an Messer- und Säbelgriffen bereit und hatten die Hähne ihrer Pistolen gespannt, um die Indianer bis auf ihren Anführer niederzumetzeln. Von dem Häuptling wollte Coleman erfahren, wo sie den Rest ihres Goldschatzes versteckt hatten. Der Narbengesichtige öffnete ohne große Vorankündigung den Tierhautsack, und heraus schlüpfte zu Colemans heller Verwunderung ein schwarzes Schwein. Es quiekte, jagte zum Niedergang, fegte die Stufen hinunter und schoß dann quer über die Kuhl. Die Piraten fluchten lästerlich. „Steht nicht ‘rum wie die Ölgötzen!“ schrie Coleman. „Fangt das Biest ein.“ Er trat auf den Indianerhäuptling zu, fixierte ihn scharf und fragte: „Sag mal, was soll das? Ist das ein Geschenk?“ Der Häuptling, der eisblaue Augen hatte, antwortete: „Wi-dajak“ und wies auf den Schamanen. Der rüttelte plötzlich seine Rassel, daß es nur so schepperte und rief : „Gulu, gulu, gulu, aia, aia, aia!“ Er hielt plötzlich inne und wies mit bebender Rassel auf den einen, abseits stehenden Wilden. Der hob seine linke Hand. Coleman schritt mit ärgerlich verzerrter Miene auf ihn zu. Unten auf der Kuhl waren die Männer immer noch mit der Jagd auf das Erdschwein beschäftigt. Coleman sah
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plötzlich, daß der Indianer gar keine linke Hand, sondern etwas Schillerndes statt der Hand hatte. „Gold?“ Coleman trat noch näher auf ihn zu. „Dajak, dajak“, sagte der Fellgekleidete. „Rübe ab, Rübe ab!“ Plötzlich hieb er mit der Hand, die keine war, zu, und Coleman erkannte erst jetzt, daß es eine Eisenhakenprothese war. Im selben Moment zeigte ein anderer Indianer Stan, dem Rudergänger, eine ganz phantastisch gearbeitete doppelläufige Radschloßpistole. „He, wo hast du die denn her?“ fragte Stan. „Hasard hat sie einem bretonischen Freibeuter abgenommen“, erwiderte der Indianer, der in Wirklichkeit Dan O’Flynn hieß, in astreinem Englisch. Mit diesen Worten hieb er Stan den verzierten Knauf der Reiterpistole über den Schädel. Stan sackte ächzend zusammen. Jeff Bowie, der Mann mit der Hakenhand, hatte sich Coleman geschnappt und beförderte ihn auf den Indianerhäuptling alias Philip Hasard Killigrew, genannt der Seewolf, zu. Hasard übernahm Coleman, hielt ihn als lebenden Schutzschild vor sich und drückte ihm ein Messer gegen die Gurgel, das er wie durch Zauber unter seinem Fellmantel hervorgeholt hatte. Dan O’Flynn richtete die Radschloßpistole auf die Piraten in der Kuhl. Und die anderen „Indianer“ hielten unversehens auch Pistolen, kurzklingige Schiffshauer und Messer und zielten damit auf die Iren. Carberry, die narbengesichtige „Rothaut“, klaubte sogar eine randvoll geladene Blunderbüchse aus dem Tierhautsack hervor. Er legte ebenfalls auf die Gegner an. Das Schwein war eingekreist und festgehalten worden, aber jetzt erstarrten die Piraten vor Schreck. Sie schauten zum Achterdeck und fielen aus allen Wolken. Eine kleine, aber wehrhafte Streitmacht hatte sich da aufgebaut, vermeintliche „wilde Affen“, die man leicht zu erledigen geglaubt hatte — deren „Häuptling“ jetzt aber in fehlerfreiem Cornwall-Englisch
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rief: „Streicht die Flagge, oder ich strecke diesen Hundesohn nieder!“ „Der Seewolf“, stöhnte Coleman. Erst jetzt hatte er begriffen, mit wem er es zu tun hatte. Denn erstens hatten weder er noch seine Kumpane Hasard jemals richtig gesehen, und außerdem hatten Hasard und seine elf Männer sich ja auch genügend Farbe ins Gesicht geschmiert, um wie waschechte Indianer zu wirken. Siri-Tong hatte ihnen dabei geholfen. Sie war eine Künstlerin in diesen Dingen. Hasard trug das goldene Malteser-kreuz auf der Brust, das der greise Jean de la Vallette-Parisot, der Großmeister des Ordens, ihm auf Malta für seine Verdienste geschenkt hatte. Auf den Kopf hatte er sich eine Trophäe aus Inkagold gestülpt — eine Gabe von Tupa Poyana, dem letzten GottKaiser des fast völlig ausgerotteten Volkes. Hasard hatte es veranlaßt, daß auch seine Begleiter sich entsprechend staffierten. Mit Inkagold und spanischem Schmuck hatten sie sich herausgeputzt. Eine List, um die Aufmerksamkeit der Piraten auf sich zu lenken. Hasard hatte Ben Brighton, Carberry, den Kutscher — als „Schamanen“ —, Smoky, Blacky, Al Conroy, Gary Andrews, Jeff Bowie, Sam Roskill und Stenmark zu diesem Unternehmen ausgewählt. Auch Dan hatte er auf das Drängen des alten O’Flynn hin aus dem Kabelgatt geholt und auf dem Floß mitfahren lassen. Dan hatte sich in aller Form für sein Fehlverhalten in der vergangenen Nacht entschuldigt. Hasard hatte das angenommen und darauf verzichtet, weitere Strafen über den jungen Mann zu verhängen. Trotzdem hatte er nur zögernd eingewilligt, daß der junge Mann sie begleitete. Wegen Severa. Dan brannte darauf, sie selbst aus O’Lears Gewalt zu befreien. Aber in welcher Verfassung befand sie sich? Angenommen, der Ire hatte sie „grob angefaßt“, wie Carberry es nannte — würde Dan dann nicht wieder durchdrehen? Hasard hatte Dan eingeschärft, ausschließlich seinen Kommandos zu
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folgen. Und Dan hatte hoch und heilig versichert, er würde es tun. Ferris Tucker hatte während Hasards Abwesenheit das Kommando auf der „Isabella“. Shane fungierte als Profos. Ushua samt seinen elf Stammesbrüdern waren auf der „Isabella“ untergebracht worden, ebenso die Truthähne und die Schweine, von denen Carberry ein Exemplar mitgenommen hatte, um die Piraten zu verwirren. Ushua und seine Männer hatten es übrigens als Riesenspaß empfunden, ihre Fellkleidung mit Hemden, Hosen, Wämsern, Stiefeln und Mützen der Weißen zu vertauschen. Ushua hatte Hasard auch seine Unterstützung bei dem Überraschungsangriff auf die Piraten angeboten. Aber das hatte der Seewolf abgelehnt. Er wußte ja nicht, wie es auslief, und er wollte die Indianer als unbeteiligte Dritte nicht zu weit mit hineinziehen. Er drückte Coleman die Messerspitze gegen den Hals, bis ein kleiner Blutstropfen aus einer ebenso winzigen Wunde hervorquoll, dann wiederholte er seine Aufforderung. „Laßt die Waffen fallen und hebt die Hände, oder eurem Anführer geht es schlecht!“ Aber die Piraten gehorchten nicht. „Coleman unser Anführer?“ schrie ein Kerl mit einer schwarzen Augenbinde plötzlich. „Los, opfern wir ihn! O’Lear würde uns eine Niederlage nie verzeihen. Nieder mit diesen dreckigen Hunden!“ „Nein“, stammelte Coleman. „Ihr Kanaillen, das könnt ihr nicht tun. Ich befehle euch ...“ Hasard nahm das Messer von seinem Hals weg, drehte es um und zog ihm den Knauf des Griffes so heftig über den Hinterkopf, daß er auf der Stelle zusammenbrach. Über die hinsinkende Gestalt weg sah er, wie der Kerl mit der Augenklappe seine Pistole auf Carberry richtete. Hasard schleuderte das Messer. Ein kurzes Aufblinken, ein Röcheln - es steckte in der Brust des Piraten. Er ließ seine Pistole fallen, verdrehte die Augen
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und kippte hintenüber, und dies war der Auftakt für das allgemeine Handgemenge auf der Karavelle. Zwölf Seewölfe gegen gut zwei Dutzend Piraten, das Kräfteverhältnis stand eins zu zwei! Aber das wollte nicht viel heißen, denn einer von Hasards Männern war so viel wie zwei oder gar drei der Iren wert. Carberry feuerte seine Blunderbüchse ab, als er die Horde auf sich zurücken sah. Trocken blaffte die Waffe über Deck. Ihre trichterförmige Mündung streute gehacktes Eisen, Blei und Glas gegen die herantobenden Gestalten aus, und die Wirkung war verheerend. Ein Pirat wollte nun auch ein Tromblon hochreißen. Aber Dan O’Flynn war auf die Schmuckbalustrade zwischen Achterdeck und Kuhl geklettert, hatte sich ein Fall gegriffen und schwang daran über die Köpfe der Freibeuter weg. Er ließ sich fallen, saß dem Tromblon-Mann plötzlich im Nacken und rang ihn nieder. Carberry hatte seinen Cutlass unter dem Fellmantel hervorgerissen und focht auf dem Backbordniedergang gegen die anstürmenden Kerle. Ben Brighton hielt den Steuerbordniedergang - Hasard und alle übrigen flankten über die Balustrade und hieben und schossen auf die brüllenden Kerle. Mehr als zehn Piraten waren bereits gefallen. Der Rest hielt erbittert die Stellung, konnte aber nicht mehr bis zum Achterdeck vordringen. Im Gegenteil: Schritt um Schritt wichen die Iren zurück. Ein Drittel der Kuhl gehörte bereits den Seewölfen. Der Kampf wurde jetzt nur noch mit Säbeln, Degen, Entermessern, Äxten, Messern und Morgensternen bestritten. Wer seine Feuerwaffe hatte betätigen können, hatte sie jetzt beiseite geworfen, denn zum Nachladen war keine Zeit. Die Piraten hätten gern eins ihrer Bordgeschütze auf die Angreifer gerichtet, aber das war ein geradezu utopischer Wunsch. Niemals hätten sie eine Kanone aus ihren Brooktauen lösen und herumschwenken können, das erforderte viel zuviel Zeit. Und Drehbassen, die man
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leicht in ihren Lafetten drehen konnte, führte die Karavelle nicht. Hasard focht mit einem kurzklingigen Cutlass, einem Schiffshauer, den er leicht unter der Indianerkleidung hatte verbergen können. Zwei Gegner räumte er aus dem Weg, da gestikulierte Dan plötzlich und rief: „Achtung, Hasard - hinter dir!“ Hasard fuhr herum. Coleman stand über ihm an der Balustrade des Achterdecks. Er war sehr schnell wieder zu sich gekommen. Mit haßverzerrtem Gesicht hob er eine Steinschloßpistole. Der Seewolf hatte keine andere Wahl. Bevor der Kerl abdrücken konnte, riß er die Hand hoch, streckte sie nach vorn und ließ den Cutlass auf Coleman zurasen. Genau in diesem Moment krümmte Coleman aber den Zeigefinger. Hasard ließ sich fallen. Der Schuß brannte heiß über seinen Rücken. Höchstens eine Handspanne betrug die Distanz zwischen Geschoß und Haut. Hasard stieß pfeifend die Atemluft aus. Diesmal hatte er dem Tod unmittelbar ins Antlitz gesehen. Er rappelte sich wieder auf, schaute sich kurz um und stellte fest, daß die Kugel wirkungslos in die Decksplanken geschlagen war. Er blickte nach vorn und sah Coleman, der den Cutlass in der Brust stecken hatte. Eine Weile schwankte er noch, mit der Hüfte gegen die Balustrade gelehnt, hin und her. Dann aber kriegte sein Oberkörper das Übergewicht. Er kippte über die Handleiste der Balustrade und schlug dumpf auf das Hauptdeck. Hasard blickte auf seinen verkrümmten Leib, und in diesem Augenblick gewahrte er auch, daß sich die Achterdeckstür der Backbordseite geöffnet hatte. Eine gebückte Gestalt stand im Dunkel der Öffnung. Hasard duckte sich angriffsbereit. Aber da trat der unbekannte Mann mit erhobenen Händen ins Freie. Er war der eigentliche Führer der Karavelle. Sein Körper war mit zahlreichen Verbänden versehen, er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Hasard begriff. Bei dem
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Gefecht der vorigen Nacht mußte er verletzt worden sein. „Ich ergebe mich“, sagte der Piratenkapitän. Bleich, mit taumelnden Schritten, trat er neben Hasard und rief seinen letzten Männern zu: „Aufhören! Laßt die Waffen fallen! Das ist ein Befehl!“ Verdutzt hielten die Piraten inne. Es waren nur noch sechs oder sieben Mann, die Kuhl war mit Toten und Verletzten übersät. Die letzten Kämpfer schauten zuerst auf ihren Kapitän, blickten sich dann untereinander an -und kapitulierten. „Rasch“, sagte Hasard. „Die Überlebenden werden gefesselt und geknebelt und ins Vordeck gesperrt. Nehmt ihnen vorher die Kleidung ab. Kutscher, du verarztest die schlimmsten Blessuren bei den Kerlen, verstanden? Ist von uns jemand angekratzt worden?“ „Nein“, meldete Carberry. „Nichtnennenswert, Sir. Smoky hat einen Streifer am linken Arm, Al Conroy eine Rückenwunde. Aber da lachen wir nur drüber.“ „Exzellenz“, sagte Hasard zu dem Piratenkapitän. „Ich brauche deine Montur.“ „Wozu? Was habt ihr vor?“ „Noch eine kleine Kostümierung“, antwortete Hasard. „Im übrigen redest du nur, wenn du gefragt wirst. Habt ihr noch mehr Kleider irgendwo an Bord?“ Der Ire schwieg. „Ed“, sagte Hasard. „Komm doch mal her.“ Carberry stapfte quer übers Deck heran, eine furchterregende Gestalt mit schrankbreiten Schultern und Pranken, so groß wie Ankerklüsen. In dem Fell sah er noch schrecklicher aus als gewöhnlich. Er war, um es mal anders auszudrücken, so häßlich, daß er fast schon wieder schön war. „Ed, der Knabe will nicht reden. Du in deiner Funktion als Foltermeister wirst jetzt mal aus ihm ‘rausbeuteln, was ich wissen will.“ Carberry packte den Piratenführer kurzerhand am Hals und preßte ihn wie ein
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lästiges Bündel gegen die Querwand des Achterkastells. Dabei stierte er ihn derart wild an, daß dem Kerl, der auch nicht gerade ein Weichling war, der Schweiß ausbrach. „Also“, sagte der Seewolf. „Wo habt ihr eure Kleidung untergebracht?“ „Erste Kammer links im Achterkastell“, ächzte der Ire. „Und wo finde ich O’Lear und deine anderen Kumpane?“ Wieder wollte der Bursche nicht so recht mit der Sprache heraus. Erst als Edwin Carberry ihm die Luft abpreßte und er schon violett im Gesicht wurde, gab er ein Zeichen. „Ja?“ sagte Hasard. „Ed, laß locker, er hat es sich überlegt.“ „Das kleine Eiland am Südzipfel der großen West-Insel“, japste der Freibeuter. „In der Südost-Bucht ankern unsere Schiffe. Im Momentaber nur die ,Black Eagle`, weil auch die andere Galeone noch nach euch sucht. O’Lear ist mit zwanzig Mann und dem Mädchen bei den Wohnhöhlen zurückgeblieben.“ „Ausgezeichnet.“ Hasard schob sich dicht auf ihn zu. „Wenn du uns angeschwindelt hast, überlasse ich dich meinem Folterknecht.“ „Es ist die Wahrheit.“ „Gut.“ Hasard wandte sich um. „Ben, die Leichen von Deck schaffen und die Planken säubern lassen. Stenmark!“ „Sir?“ „Du enterst auf das Floß ab und kehrst zu unserem Versteck zurück. Sage Ferris und Siri-Tong, sie können langsam mit den Schiffen auslaufen. Gib ihnen den Kurs an. Aber erst, wenn ich den mitgenommenen Brandsatz in die Luft abfeure und so das Zeichen gebe, daß wir Severa haben, dürft ihr das Piratennest direkt anlaufen.“„Aye, aye, Sir“, sagte Stenmark. Er eilte zum Schanzkleid und war kurz darauf verschwunden. Das Floß löste sich von der DreimastKaravelle. Hasard ließ auch die Segel setzen und fuhr zunächst hart am Südwest einen Kreuzschlag nach Südosten, zur Ost-
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Insel hinüber. Dann ließ er wenden und nach Nordwesten steuern. Während er so im „Schneckentempo“ auf die Insel der Piraten zuhielt, traf er alle Vorkehrungen, um Brian O’Lear die Überraschung seines Lebens zu bereiten. 8. Bei dem Sturz vom Kraterrand hatte Severa ihre ohnehin schon lädierte Kleidung noch mehr zerfetzt. Halbnackt, zerschunden und mit. Angst in den Augen lag sie auf dem Boden von O’Lears Höhle. Er stand breitbeinig vor ihr und hielt in der rechten Hand eine zusammengerollte Peitsche aus geflochtenen Lederstreifen. Die Schulterwunde war tief, sie setzte ihm noch zu, doch die Schmerzen hinderten ihn nicht daran, seine Gefangene zu züchtigen. „Du Miststück“, sagte er. „Reinlegen wolltest du mich also. Mich einlullen und dann verduften, das war dein Plan. Aber noch mal laß ich mich nicht hinters Licht führen. Du hast verspielt, jetzt bist du dran.“ „O’Lear“, flüsterte sie entsetzt. „Tu es nicht. Hast du denn gar kein Herz?“ „Herz?“ brüllte er. „Was ist das? Hast du vielleicht Rücksicht auf mich genommen? Umbringen wolltest du mich.“ Er stampfte mit dem Fuß auf, rollte die Peitsche aus und ließ sie einmal probeweise knallen. Severa zuckte unter dem Lederschlag zusammen, als wäre sie bereits getroffen. „O’Lear“, schluchzte sie. „Wenn du mich schlägst, kann ich dir nicht mehr gefügig sein.“ Er lachte meckernd. „Ich lasse dich so weit heil, daß mit dir noch was anzufangen ist. Es gibt eine Menge Hafenhuren, die Narben auf dem Leib tragen, aber du müßtest mal sehen, wie sehr die in Form sind.“ „Tu mir das nicht an“, flehte sie. Aber es hatte keinen Sinn. Er kannte keine Gnade und fiel auch auf weibliche Winkelzüge nicht mehr herein. Wild grinsend hob er die Peitsche zum Schlag. Aber plötzlich trat wieder ein, was Severa schon oben auf dem Inselberg Angst
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eingejagt hatte. Der Untergrund vibrierte, erst kaum spürbar, dann stärker, so sehr schließlich, daß sich kleine Felsbrocken von den Höhlenwänden lösten und zu Boden polterten. O’Lear verharrte. „Hölle und Teufel, geht das jetzt auch hier schon los? Was ist das bloß?“ „Der Vulkan“, sagte Severa. „Sei still!“ schrie er sie an. Beinahe hätte er doch noch zugeschlagen, aber vom Strand tönten jetzt die Stimmen von Fatboy und den anderen Piraten herauf. O’Lear fluchte. Er wirbelte herum, rannte zum Höhlenausgang und stellte sich draußen auf den Pfad. „Was ist denn los, ihr Ratten?“ brüllte er. „Habt ihr etwa wegen des bisschen Wackelns die Hosen voll?“ Die Erde bewegte sich wieder. Er stieß einen Fluch aus, so ziemlich das Unflätigste und Gemeinste, was Severa je gehört hatte. Sie sah, wie er mit den Armen ruderte, und wünschte ihm, er möge das Gleichgewicht verlieren und in die Tiefe stürzen. Fatboy lief über den Kieselstrand und wies immer wieder auf einen bestimmten Punkt in der Felswand. O’Lear blickte hin, als er sich wieder gefangen hatte, und diesmal war er sprachlos. Das Beben hatte eine große Gesteinsnase, die sich zuvor an jenem Platz befunden hatte, zersplittert und aufgelöst. Die großen Quader, in die sie zerplatzt war, lagen auf dem Ufer. Einer der Piraten humpelte, hielt sich das Bein und jammerte vor sich hin. O’Lear eilte den Pfad hinunter. „Was ist mit dir los, du Idiot? Bist du nicht bei Verstand?“ „Er hat einen stürzenden Brocken abgekriegt“, erwiderte Fatboy. „Er kann noch von Glück sagen, daß er nicht erschlagen worden ist.“ Der Felsen zitterte von neuem. O’Lear lief schneller, stolperte fast auf dem Pfad und stieß eine Reihe von Flüchen aus, mit denen er seine Furcht besiegte. „Dreht bloß nicht durch“, fuhr er seine Kumpane an. „Los, wir raffen unsere
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Sachen zusammen und pullen zur Galeone, bevor das Beben schlimmer wird. Wir können auch in der Bucht auf die Rückkehr von Coleman und den anderen warten. Fatboy, hol das Mädchen. Ihr anderen räumt die Höhlen leer. Los, beeilt euch, oder muß ich euch erst Beine machen?“ Sie rannten los. Fatboy hatte Severa oben aus der großen Wohnhöhle gezerrt und befand sich mit ihr auf dem linken Pfad, als der Ausguckposten in der obersten der sechs Höhlen plötzlich rief: „Die Karavelle! Sie kehrt zurück!“ „Gut, das wäre schon mal einer“, murmelte Brian O’Lear. Er war auf dem Kieselstrand stehengeblieben, zog das Spektiv aus dem Wams und hob es ans Auge. Die Karavelle steuerte hart am Südwest genau auf die Bucht zu. Mit ihren spitz aufragenden Lateinersegeln und dem schlanken Rumpf wirkte sie schnittig und elegant. O’Lear fragte sich, ob Coleman und seine Begleiter wohl Nachrichten über den Seewolf und die Rote Korsarin brachten. Hatten sie sie aufgestöbert? Nun, er würde ja sehen. Fatboy dirigierte das Mädchen den Pfad hinunter. Die anderen Piraten verließen die Höhlen und schleppten ein paar Truhen und andere Utensilien auf den Strand, die sie als notwendigstes Inventar in den Grotten gehortet hatten. „Die Geschütze, die wir an Land geschafft haben, nehmen wir natürlich auch mit“, sagte O’Lear. „Tragt sie schon mal dicht ans Wasser. Wir schaffen sie dann Stück für Stück auf die ,Black Eagle`.“ Die Karavelle war heran. Ihre Besatzung luvte an und nahm so Fahrt aus dem Schiff. Schließlich stoppte sie mit auf gegeiten Segeln dicht an Backbord der Galeone. Ein Beiboot wurde abgefiert und bemannt. Das alles ging sehr schnell. O’Lears Leute an Land hatten gerade erst die eine Kanone auf die Brandung zugewuchtet, und Fatboy und Severa traten gerade hinter den Rotbärtigen. „Donnerwetter“, sagte O’Lear. „Coleman scheint es ja mächtig eilig zu haben. Na, hören wir mal, was er zu berichten hat.
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Anschließend kann er uns dann beim Abtransport helfen.“ „Das Beben hat ausgesetzt“, meinte Fatboy. „Vielleicht hört es ganz auf.“ O’Lear antwortete nicht. Er hatte wieder das Spektiv angehoben und schaute zum Boot der Karavelle. Plötzlich klappte sein Unterkiefer herunter. „Das gibt’s nicht. Fatboy, ich glaub, ich habe einen Stich.“ Fatboy wollte fragen, was denn los sei, aber jetzt rief der Ausguck in der obersten Höhle: „Männer, Coleman hat den Seewolf! Hölle und Teufel, er hat ihn geschnappt!“ „Wie hat er das bloß fertiggebracht?“ sagte Fatboy verwundert. O’Lear zog die Unterlippe zwischen die Zähne, es war ein Zeichen äußerster Erregung und Anspannung. „Halt den Mund, das werden wir ja gleich hören“, sagte er. „O Mann, ist das ein Triumph!“ Das Boot stieß durch die flache Brandung und landete knirschend auf den Kieselsteinen. Severa sah den Seewolf auf der mittleren Ducht sitzen. Sie hatten ihn gefesselt. Er ließ den Kopf hängen und bot ein Bild des Jammers. „Das darf nicht wahr sein“, hauchte sie entsetzt. O’Lear schritt in Siegerpose auf das Boot zu. Er sah Coleman an Land springen, die anderen zehn Piraten jumpten ebenfalls aus dem Boot und zerrten es grinsend ein Stück weiter aufs Ufer. „Coleman!“ brüllte O’Lear außer sich vor Freude. „Du Satansbraten, wie hast du diesen Bastard bloß zu fassen gekriegt? Und wo sind seine Kumpane?“ „Eine tolle Geschichte!“ rief Coleman. „Komm, ich erzähle sie dir.“ O’Lear trat auf ihn zu. Coleman grinste immer noch. Er streckte die Hand aus. O’Lear wollte sie ergreifen und schütteln, aber in diesem Augenblick konstatierte er — das war ja gar nicht Coleman! Nur auf einige Distanz konnte man diesen Mann, der annähernd die gleiche Statur und Gesichtsform hatte, mit dem echten Coleman verwechseln. Aber es war zu spät.
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Der falsche Coleman riß die Pistole aus dem Gurt, spannte gedankenschnell den Hahn und zielte auf O’Lear. „Heb die Pfoten hoch und dreh dich langsam um.“ Das Grinsen in seinem Gesicht war wie weggewischt. „Keine Faxen, sonst schieße ich dir ein Loch in den Kopf.“ Die anderen „Piraten“ aus dem Boot hatten plötzlich ebenfalls Waffen in den Fäusten. Zehn Männer mit jetzt steinernen, entschlossenen Mienen. Ihre bunte, teilweise zerfetzte Kleidung, die schwarzen Hüte, die Kopftücher und Ohrringe — das alles war nur Staffage, um den Betrug gelingen zu lassen. Mehr noch als die Niederlage traf es O’Lear, ihnen derart auf den Leim gegangen zu sein. Jeder der zehn hielt zwei Pistolen, genug also, um O’Lear und seinen zwanzig Kumpanen die Hölle zu bereiten. Der Seewolf stand von der Bootsducht auf. Die Fesseln fielen lasch von ihm ab, denn sie waren nie richtig zusammengeknotet gewesen. Er hob seine doppelläufige Radschloßpistole und sagte: „Sehr gut, Gary.“ Gary Andrews, der falsche Coleman, stellte sich hinter O’Lear und drückte ihm die Pistole ins Kreuz. „O’Lear!“ rief Hasard. „Befiehl deinen Männern, sich hier auf dem Strand zu versammeln und die Waffen wegzuwerfen. Ich lasse dich zum Krüppel schießen, wenn auch nur einer einen Trick versucht.“ Fatboy stand immer noch neben Severa. Er tastete mit der Hand nach dem Messer, nach der Pistole, nach der erstbesten Waffe, die er in die Finger kriegen konnte. Aber Carberry zielte plötzlich genau auf seinen Kopf. „Keine Bewegung, du Fettsack“, sagte er. „Ich kann dich abknallen, ohne das Mädchen zu gefährden.“ „Severa!“ rief der maskierte Dan O’Flynn. „Dan!“ jubelte sie. „Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr! Oh, mein Gott, wie froh ich bin!“ Sie lachte, aber groteskerweise liefen ihr dabei die Tränen übers Gesicht.
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„Seewolf“, sagte O’Lear. In seiner Stimme schwangen grenzenloser Haß und Ohnmacht mit. „Was ist mit Coleman?“ „Tot. Wir haben die Karavelle gekapert. Fast zwei Drittel der Mannschaft hat dran glauben müssen, weil sie sich nicht kampflos ergeben wollte.“ Hasard winkte mit seiner Pistole. „Los, ihr steigt jetzt in das Beiboot der ,Black Eagle`, das da drüben auf dem Strand liegt, schön langsam einer nach dem anderen. Es wird ein bißchen eng werden, aber das soll euch nicht stören. Ihr pullt aus der Bucht. Wir folgen euch und achten darauf, daß ihr keine Sperenzchen unternehmen könnt.“ O’Lear ballte die Hände, bis das Weiße an den Knöcheln hervortrat. Vor Wut stiegen ihm die Tränen in die Augen. „Seewolf!“ schrie er. „Was hast du vor?“ Hasard lachte. „Ganz einfach. Wir verjagen euch, versenken die ,Black Eagle`, nehmen Severa mit und verlassen diese gastliche Insel.“ Gary zog O’Lear die Pistole und das Messer aus dem Waffengurt, dann griff er auch nach dem Säbel und riß ihn aus der Scheide. Die Piraten ließen ihre Waffen auf den Kieselstrand fallen, hoben die Hände und trotteten mit verdrossenen Mienen heran. Carberry schritt auf Fatboy zu, denn er wollte ihn selbst entwaffnen - der Vorsicht halber. Er hielt diesen übergewichtigen Kerl für einen der gefährlichsten von allen - und damit lag er nicht im geringsten daneben. Dan O’Flynn, mit einem Kopftuch und einem goldenen Ohrring dekoriert, konnte es nicht mehr erwarten. Er hastete an den Piraten vorbei, befand sich in ihrem Rücken und näherte sich Severa. „Severa“, sagte er. „Beruhige dich. Komm zu mir. Dir kann jetzt keiner mehr was anhaben ...“ Da krachte der Schuß. Oben, in der höchstgelegenen Höhle, puffte eine weiße Qualmwolke hoch. Der Ausguck! Keiner hatte mehr auf ihn geachtet, nicht einmal Brian O’Lear selbst. Die Kugel pfiff heran, und plötzlich stürzte Dan hin. Er überschlug sich auf den
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Kieseln. Severa schrie auf und lief zu ihm. Fatboy rannte ihr nach, Zwei, drei andere Piraten wirbelten herum. Carberry schoß auf Fatboy, aber der ließ sich mit einer Behändigkeit, die ihm wegen seiner Körperfülle keiner zugetraut hätte, fallen. Die Kugel des Profos’ zischte über ihn weg. Fatboy kroch, klaubte eine Pistole auf, die einer seiner Kumpane auf den Befehl der Seewölfe hin weggeworfen hatte, kam affengewandt wieder hoch und war hinter Severa. Er riß sie an sich. Hasard schoß und traf einen Piraten, der sich auf Dan werfen wollte. Der Kerl zuckte zusammen, breitete die Arme aus und schlug der Länge nach hin. Hasard wollte auch den zweiten Schuß abfeuern, aber in diesem Moment schrie Fatboy im Diskant: „Halt! Nicht mehr schießen, oder ich drücke auf das Frauenzimmer ab!“ Die Seewölfe verharrten wie angewurzelt. Ein anderer irischer Freibeuter hatte sich jetzt auch hinter den stöhnenden Dan gebracht, eine Pistole aufgelesen und auf den jungen Mann angelegt. „Aufstehen!“ schrie er ihn an. „Los, wird’s bald?“ Mühsam erhob sich Dan. Er war am Arm getroffen und verlor Blut. Aber es schien sich nur um eine Fleischwunde zu handeln. Hasard sah, daß Dan den Arm noch bewegen konnte, wenn auch unter großen Schmerzen. Fatboy und sein Spießgeselle standen hinter Dan und Severa und hielten sie in Schach. „Jetzt drehen wir den Spieß um“, sagte Fatboy schrill. „Die Waffen weg, englische Bastarde, oder es geht den beiden hier dreckig.“ „Erschieß mich doch“, stieß Dan hervor. „Ich blute sowieso schon.“ „Fatboy, laß dich nicht ins Bockshorn jagen!“ brüllte O’Lear. „Er hat nur einen Kratzer und ist sonst kerngesund. Und der Seewolf wird nichts unternehmen, das die beiden gefährden könnte.“ Hasard zielte auf ihn. „Vergiß nicht, daß du noch in unserer Gewalt bist. Und mit dir
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mehr als ein Dutzend deiner irischen Holzköpfe. Sag Fatboy und dem anderen, daß es keinen Sinn hat, was er da tut.“ O’Lear drehte sich wild um und ruderte mit den Armen. Er lachte wie ein Verrückter. „Also, dann mal los! Leg mich um, Großmaul! Aber dann sterben auch das Weib und ihr Busenfreund, und der Mann, der sich oben in der Höhle verschanzt hat, eröffnet wieder das Feuer auf euch. Er hat genügend Waffen und Munition — und sogar eine DreipfünderKanone, die euch in Stücke reißt!“ Hasard war kreideweiß im Gesicht. Er überlegte, ob er O’Lear in die Beine schießen sollte. Aber nein, das würde auch nichts nutzen. Der Ire war ein Fanatiker und Dickschädel, er würde sich lieber umbringen lassen, statt in dieser Lage nachzugeben. Es war alles umsonst gewesen. Die Partie war verloren. Der Seewolf ließ die Pistole sinken. 9. Brian O’Lear triumphierte. Er hatte die Seewölfe entwaffnen lassen und trieb sie jetzt mit der Peitsche den Höhlenpfad hinauf. Fatboy und einige andere hatten den zweiten Weg benutzt. Sie standen bereits oben und hielten die Gefangenen in Schach. „Killigrew“, sagte O’Lear. „Ich weiß, daß bald deine beiden Schiffe nachfolgen. Ich werde sie mit Leichtigkeit in meinen Besitz bringen. Dann gehören sie mir — mitsamt den Schätzen in den Frachträumen. Und noch etwas. Du wirst mir verraten, wo du deine andere Beute versteckt hältst. Ich werde es aus dir herausbringen, das schwöre ich dir.“ Hasard schwieg. Was sollte er auch antworten? „Und das Weib mit den schwarzen Haaren“, sagte O’Lear. „Die werde ich mir auch schnappen. Ich nehme sie mir vor, wie es sich gehört, danach überlasse ich sie meinen Männern.“ Fatboy kicherte. Carberry schnitt eine Grimasse, als wolle er sich trotz der auf ihn
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angelegten Waffen auf den dicken Kerl stürzen, aber Ben Brighton warnte ihn: „Nicht, Ed. Halte dich zurück.“ O’Lear holte mit der Peitsche aus und ließ sie vorschwingen. Die Rohlederstreifen knallten und trafen Bens Rücken. Ben stolperte vorwärts, strauchelte und fiel hin. Sein Hemd war auf dem Rücken der Länge nach aufgerissen, darunter hob sich ein blutiger Striemen ab. „Hier wird nicht gequasselt!“ rief O’Lear. „Merkt euch das. Fatboy, du pferchst diese Bastarde zusammen und läßt sie fesseln. Dann warten wir auf die ‚Isabella’ und den schwarzen Viermaster.“ Die Seewölfe mußten das düstere Felsengewölbe betreten. Ben hatte sich wieder erhoben und wankte neben Carberry und Gary Andrews. Fatboy drängte sich an ihnen vorbei, um als ersten den Seewolf zu binden. Hasard trug noch immer den Brandsatz hei sich. Den hatte keiner entdeckt, als sie entwaffnet worden waren. Aber Fatboy würde ihn noch einmal untersuchen und unweigerlich darauf stoßen. Plötzlich bewegte sich der Untergrund. Severa stieß einen leisen Laut des Entsetzens aus. Hasard dachte an das Seebeben, an die Prophezeiungen des Schamanen von Feuerland. Das Vibrieren nahm zu, plötzlich war es dem Mädchen und den Männern so, als verlören sie das Gleichgewicht. Alles zitterte und wackelte, die Felsen hatten ihre Festigkeit verloren, und ein dumpfes Grollen tobte aus dem Inselinneren heran. Dann lösten sich die ersten Steine und schlugen zu Boden. Ein Riß klaffte im Boden auf. Fatboy trat beinahe hinein. Er schrie auf. „Nichts wie weg!“ brüllte O’Lear. „Überlaßt die Bastarde ihrem Schicksal, sie haben nichts Besseres verdient. Wer trotzdem zu flüchten wagt, wird abgeknallt.“ Er hetzte den Gesteinspfad hinunter und sah, wie die Inselfelsen zu wanken und zu brechen begannen. Steinschlag deckte den Kieselstrand ein. Der Pirat, der sich in der
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obersten Höhle verschanzt hatte, erschien auch und kletterte verwirrt in die Tiefe. In der Haupthöhle brach unvermittelt die Decke ein. Severa schrie auf. Es prasselte und polterte, Gestein, Staub und Erde deckten alles zu, aber Hasard hatte die Geistesgegenwart, sich Fatboy zu schnappen. Er schlug, ihn mit einem Jagdhieb in den Nacken nieder, entriß ihm die Pistole und den Säbel und lief durch die niederstürzenden Massen auf den Auslaß zu. Nur noch wenige Sekunden, dann würde alles verschüttet sein. Und das Grollen nahm immer mehr zu. Das war mehr als das Wummern von Kanonen in einer Seeschlacht — unterschwelliger, gewaltiger, bedrohlicher. Es kündigte den Untergang an. Carberry hatte ebenfalls einen Piraten packen können. Ben Brighton rang mit einem Iren, Smoky desgleichen, Blacky half dem Kutscher. Der hatte einem Piraten ein Bein gestellt, aber jetzt wollte der Kerl auf ihn feuern. Blacky trat ihm die Pistole aus der Hand und hieb noch mal mit dem Stiefelabsatz zu, bis der Schurke stillag, dann schubste er den Kutscher zum Ausgang und raffte im Dahinhetzen noch die Pistole auf. Dan zerrte Severa mit sich. Ein Pirat stellte sich ihnen kurz vor dem Ausgang in den Weg. Dan ließ Severa los und warf sich todesmutig auf den Gegner. Der hielt zwar eine Steinschloßpistole auf den jungen Mann gerichtet, war aber über soviel Courage viel zu verwirrt, um rechtzeitig abdrücken zu können. Dan rammte ihm die gesunde Faust unters Kinn, riß das Knie hoch und trieb ihn ins Freie. Der Kerl tat einen Schritt zuviel nach hinten. Er verlor den Boden unter den Füßen und stürzte mit einem gellenden Aufschrei in die Tiefe. Dan warf sich herum, griff in die Höhle und zog Severa daraus hervor. Die letzten Seewölfe verließen ihr Gefängnis — Gary Andrews, Jeff Bowie, Sam Roskill. Dann brach die Höhle endgültig ein. Unter Stein und Schutt wurden die Piraten begraben, die sie überwältigt hatten.
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Hasard hastete auf dem nach rechts führenden Pfad nach unten, aber nur ein paar Yards weit. Er stoppte, wandte sich der Bucht zu, sprang — und sauste in die Tiefe. Als er aufkam, fing er die Wucht der Landung durch Wippen in den Kniekehlen ab. Ein Pirat stürmte auf ihn zu. Hasard schoß ihn mit der Beutepistole nieder. Er hastete voran, auf das Beiboot der Karavelle zu, in dem seine Radschloßpistole und die anderen Waffen lagen, die sie ihnen abgenommen hatten. Und dort, keine fünf Yards von dem Boot entfernt, stand auch das Geschütz, das O’Lear vor dem Eintreffen seiner Gegner auf den Strand hatte schaffen lassen. Zwei Piraten verbauten ihm den Weg. Hasard sah an ihnen vorbei und registrierte, daß Brian O’Lear und eine Handvoll seiner Kumpane den anderen Felsenpfad jetzt fast verlassen hatten. Wutentbrannt stürmten auch sie auf ihn zu. Hasard schwang den Säbel und zerschmetterte die Abwehr des einen Angreifers. Er ging gnadenlos vor, denn er hatte keine Sekunde Zeit zu verlieren. Mit einem Wutschrei stieß er ihm den Säbel direkt ins Herz. Dem zweiten versetzte er einen energischen Hieb und trieb ihn so auf die nachstürmenden Seewölfe zu. Hasard lief, was die Beine hergaben, dann hatte er das Boot und die Kanone erreicht. Er warf sich hinter das Geschütz, rappelte sich wieder auf, schwenkte es herum. Es war ein Falkon, ein Dreipfünder also. Ben Brighton landete mit einem gewaltigen Satz neben ihm. „Ben!“ rief Hasard. „Feuer anschlagen! Die Lunte zünden!“ „Aye, aye !“ schrie Ben zurück. Das Grollen setzte nicht aus, es erfüllte die Insel und die See, rüttelte an den Felsen und zerhieb sie. Ganze Zinnen fielen oberhalb der Höhlen in sich zusammen. Hasard blickte kurz hoch und sah zu seinem Schrecken, daß die Luft über dem Eiland zu flirren begann. Hitze. Die Höllenschlünde schienen sich geöffnet zu haben. War das der legendäre Feuersee der Indianer?
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O’Lear und seine Mannen wollten zu den Booten, aber Hasard vereitelte ihren Plan. Das Falkon war geladen. O’Lear hatte einen klaren Fehler begangen, als er es nicht hatte entladen lassen. Unbewußt. Er hatte die Entwicklung der Dinge ja nicht ahnen können. „Lunte brennt!“ brüllte Ben. Hasard schnappte sich die glimmende Zündschnur und hielt sie an das Bodenstück des Falkons. Binnen Sekunden hatte sich die Glut durch den Zündkanal aufs trockene Kraut gefressen. Der Schuß krachte, das Geschütz rollte im Rückstoß zurück. Hasard und Ben mußten aufpassen, nicht damit ins Gehege zu geraten. Die Dreipfünderkugel hieb mitten zwischen die heranstürmenden Piraten. Ein einziger Aufschrei, Kieselsteine und Menschen wirbelten in Feuer und Rauch, und der rotbärtige Piratenführer schrie: „Zurück!“ Ja, sie liefen zurück, um sich hinter herabgestürzten Felsenquadern zu verbergen und von dort aus auf die Seewölfe und das Mädchen zu schießen. Es waren noch sieben Piraten. „Los“, sagte Hasard zu seinen Männern. Carberry, der Kutscher, Smoky, Blacky, Al, Gary, Jeff und Sam waren jetzt auch heran. Dan O’Flynn, das Mädchen an der Hand, stolperte hinter ihnen her. „Ins Boot und dann ab!“ rief Hasard ihnen zu. O’Lear hatte Deckung hinter einem Felsbrocken gefunden. Der Ausguckposten aus der obersten Höhle war neben ihm, er trug ein ganzes Arsenal Waffen bei sich. „Die Muskete her“, befahl O’Lear. Er fing sie auf, legte an und wollte auf Hasard feuern. Aber in diesem Augenblick geschah wieder etwas Ungeheuerliches. Es donnerte und krachte, und der Kieselstrand brach in seiner Längsrichtung auf. Ein Pirat schrie auf und bewegte wie wahnsinnig die Arme – er stürzte in die Spalte, die plötzlich klaffte. Er trachtete, sich mit den Händen festzuklammern, rutschte aber ab und verschwand in dem gähnenden Schlund.
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Hasard saß bei seinen Begleitern in dem Beiboot der Karavelle. Sie hatten es ins Flachwasser geschoben und begannen zu pullen. Hasard zündete mit der immer noch glimmenden Lunte den Brandsatz. Er stieg fauchend von der Heckducht auf. Severa duckte sich ängstlich und suchte bei Dan Schutz. Der Brandsatz stieg als weithin sichtbares Fanal in den Nachmittagshimmel auf. „Verdammt“, sagte Ben fassungslos. Er wies auf die Insel. „Allmächtiger“, stieß der Seewolf aus. Dann verschlug es ihm die Sprache. Ein Fluß aus feuerrotem Schlamm wälzte sich von der höchsten Erhebung der Insel herab. Der Berg würgte Lava aus seinem Rachen hervor, zähflüssigen Schleim, der alles verbrannte und vernichtete. Die wabernde Flut breitete sich immer mehr aus und kroch unaufhaltsam auf die Bucht zu. „Der Vulkan“, sagte Severa, als sie den Kopf hob. „Ich wäre fast hineingestürzt, als ich vor den Piraten floh.“ „Mein Gott, es sieht wirklich so aus, als hätten Ushua und sein Schamane recht“, murmelte Ben Brighton. „Die feuerspeiende Göttin rächt sich an den Eindringlingen, die nichts als Tod und Verderben über die sonst friedlichen Inseln gebracht haben.“ „Zur Karavelle“, sagte Hasard mit belegter Stimme. „Schnell, sonst sind auch wir verloren.“ * „Feuer!“ Ferris Tucker rief es über das Deck. Big Old Shane, der den Posten des Profos’ auf der „Isabella“ übernommen hatte und gleichzeitig als Geschützführer fungierte, zündete als erster eine der Culverinen der Backbordseite. Die Crew war stark reduziert, aber das hieß noch lange nicht, daß sie nicht kräftig hinlangen konnte. Brüllend verließen die Ladungen die Geschützrohre, rasten über die Wasserfläche und auf O’Lears zweite Galeone zu.
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Siri-Tong, die mit dem schwarzen Segler nach Süden abgestaffelt war, hatte ihr Schiff inzwischen hart an den Wind manövriert und eröffnete ebenfalls das Feuer. Unter dem wechselseitigen Beschuß knackten die Masten der Piratengaleone. Ihr Schanzkleid wurde zerfetzt und ihre Bordwände durchlöchert. Bald trieb sie wie ein flügellahmer, todgeweihter Riesenvogel auf der ruhigen See. Die Piraten hatten eine schlechte Entscheidung getroffen. Sie hatten den Seewölfen und den Piraten der Roten Korsarin den Weg zum Schlupfwinkel verbauen wollen, aber spätestens jetzt begriff auch der Dümmste von ihnen, welche Torheit sie begangen hatten. Stenmark war in die versteckte Bucht der Ost-Insel zurückgekehrt. Nach seiner Meldung hatte Ferris als derzeitiger Kapitän der „Isabella“ das Balsafloß kurzerhand an Bord hieven lassen und war ausgelaufen. Siri-Tong war seinem Beispiel ohne Widerspruch gefolgt. Es war klar, daß sie sich einsatzbereit halten mußte, außerdem drängten Ushua und der Schamane immer mehr darauf, Hasard nachzufahren. Jetzt, mitten im dicksten Gefecht mit der Piratengaleone, zog sich im Südwesten plötzlich ein Feuerstreifen in den Himmel hinauf. „Der Brandsatz!“ rief Siri-Tong auf dem schwarzen Segler. „Hasards Zeichen, daß er Severa befreit hat und wir eingreifen können!“ „Ein Wink der Götter“, sagte der Schamane an Bord der „Isabella“. Er war bleich geworden und sprach pausenlos vor sich hin. In der Kleidung der Seewölfe wirkte er fast wie ein richtiger englischer Korsar; und doch, zwischen seiner Geisteshaltung, seiner Kultur, den mystischen Deutungen, die er lieferte, und der Welt der Weißen lagen Kluften. „Halsen!“ rief Ferris. „Während wir manövrieren, Drehbassenfeuer der Back! Dann zeigen wir ihm unsere Steuerbordpartie, Freunde, und geben ihm die zweite Eisenladung zu schmecken!“
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Die Piraten hatten eingesehen, daß sie nur noch eine Wahl hatten. Wer nicht verletzt war, begab sich schleunigst zum Schanzkleid und sprang außenbords. Wie die Ratten verließen sie das brennende, hoffnungslos zerstörte Schiff. Als der letzte Mann sich anschickte, die Flucht zu ergreifen, ertönte Siri-Tongs Feuerbefehl. Eine geballte Breitseite raste heran, fuhr in das ramponierte Schiff und trieb es in Trümmer auseinander. Tausende von Einzelteilen wirbelten und deckten die See wie fallende Saat ein. Ein paar schwimmende Piraten wurden .von den Bruchstücken getroffen. Andere gerieten in ein riesiggroßes Tangfeld. Der lautlos treibende Riesentang schmiegte sich um ihre Körper und, so sehr die Männer sich auch wehrten und mit den Beinen strampelten, zerrte sie in die Tiefe. „Fluch über euch“, sagte der Schamane. „Der Fluch der Götter hat euch getroffen.“ Ferris Tucker hörte es, aber er verstand es nicht. Achselzuckend gab er den Befehl, die Steuerbordbreitseite nicht mehr zu verfeuern und nunmehr Kurs auf die Insel der Piraten zu nehmen. * Der Weltuntergang konnte nicht fürchterlicher sein. Hasard stand auf dem Achterdeck der Dreimast-Karavelle und sah, wie sich der glutrote, schmauchende Lavateppich über der gesamten Insel ausbreitete. Das Grollen erfüllte die Luft, es schien direkt aus den Tiefen der Hölle emporzusteigen. Das flammende Meer wälzte sich auf die Bucht zu, aber O’Lear und seine letzten Piraten konnten es vom Strand aus noch nicht sehen. Die zitternde Felswand war in ihrem Rücken und verdeckte den Blick auf das G rauen. O’Lear hatte seine letzte Munition verfeuert. Jetzt trachtete er, die klaffenden Spalten zu überqueren und zu seinem Boot zu gelangen. Er wollte zur „Black Eagle“. Fünf Männer folgten ihm — der Rest seiner einst so furchterregenden Horde.
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Und er schaffte es. Die letzte Spalte lag hinter ihm, er lief zum Boot und brüllte seinen Männern zu, sie sollten sich beeilen. Hasard sah, daß Ben und die anderen das Beiboot der Karavelle inzwischen hochgehievt und binnenbords geholt hatten. „Wir gehen ankerauf und verlassen die Bucht!“ rief er. Als die Karavelle mit geblähten Segeln am Wind lag und auf die offene See hinausrauschte, kletterte gerade der letzte Pirat in das Boot der „Black Eagle“. Brian O’Lear feuerte die Kerle an, wie die Teufel zu pullen, er wollte dem Seewolf nach, um ihn doch noch zu stellen. Aber dann gewahrte er den Glutsturz, der aus dem brüllenden Feuerloch des Schildvulkans drang und jetzt die zusammenstürzenden Hänge direkt am Ufer unter sich begrub. Lava, Feuerbrei, mehrere hundert Yards breit — ein entsetzlicher Anblick. O’Lear schrie auf. Hasard sah vom Achterdeck der Karavelle, wie die Lava über den Strand aus Kieselsteinen kroch, wie sie in die Erdbebenspalten tauchte und wieder daraus hervorschwappte. Sie floß weiter und machte nicht einmal vor der See halt. „Himmel“, sagte er. „Die Lava verdrängt das Wasser.“ Er fuhr herum und schrie: „Haltet euch fest!“ In diesem Augenblick sah er auch — gleichzeitig mit Dan O’Flynn —, wie die „Isabella“ und das schwarze Schiff hinter der äußersten südlichen Landzunge der Insel hervorsegelten. Sie hatten kreuzen müssen und lagen jetzt vor dem Südwest. Jubelschreie gellten von Bord zu Bord, es war ein Wiedersehen, das gefeiert werden mußte. Dann nahte die Flutwelle. Sie hob die Dreimast-Karavelle wie einen Spielball hoch und schüttelte sie erbost, sie eilte zur „Isabella“ und zu „Eiliger Drache über den Wassern“ und ließ auch sie schlingern. Hasard stand ganz am Heck der Karavelle. Mit steinerner Miene schaute er zur Bucht zurück. O’Lear und seine fünf Begleiter erreichten noch die „Black Eagle“. Sie
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ließen das Boot im Stich und enterten auf, aber dann war die Lava heran und baggerte das Schiff unter. Das Schreien der Piraten bebte in den Seewölfen und Männern des schwarzen Seglers nach. Siri-Tong fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Severa hielt sich die Ohren zu. Eine Weile ragte das Mastwerk der „Black Eagle“ noch brennend aus den Lavamassen auf. Dann brach es und versank in dem tosenden Feuersee. Die Lava wälzte sich noch ein Stück weiter, tauchte schließlich aber in die tieferen Wasserregionen und erlosch. Aber das furchtbare Schauspiel dauerte fort. Die Insel loderte und waberte, letzte Bastionen aus grauem Fels gingen unter — das Eiland sank. „Land tot“, sagte der Schamane auf der „Isabella“. „Neues wird aus Feuer und Rauch geboren. Feuerspeiende Göttin hat gesprochen.“ * Die drei Schiffe segelten die Nacht durch und erreichten am nächsten Tag die Insel der Wale. Hier weideten die Seewölfe und Siri-Tongs Männer nun endlich El Asesino und das Buckelwal-Weibchen aus. Und hier brachten auch die Feuerland-Indianer ihren Göttern das geplante Tieropfer. Die überlebenden Piraten, die im Vordeck der Karavelle eingesperrt gewesen waren, hatten während der Nacht das Beiboot nehmen und verschwinden dürfen. Ihnen hatte das Grauen noch im Gesicht gestanden, als sie in der Nacht untergetaucht waren. Hasard ließ die Wal-Ausbeute zu gerechten Teilen auf die drei Schiffe verteilen. Ushuas Beteuerungen, er wolle kein Entgelt, überhörte er geflissentlich. Er ließ auch noch das Floß von der „Isabella“ auf das Achterdeck der Karavelle hinüberschaffen, dann sagte er, so gut es irgend ging, zu den Indianern: „Nehmt die Karavelle. Ihr könnt sie manövrieren, ich weiß es. Das Floß ist bei dem Seebeben leicht beschädigt worden, es
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ist noch seetüchtig, aber ich weiß nicht, ob es die Überfahrt nach Feuerland schafft.“ Ushua willigte ein. Die Stunde des Abschieds kam. Die Indianer wollten in ihre Heimat zurückkehren, ihre Mission war durchgeführt. Hasard wollte so schnell wie möglich den südlichsten Zipfel der Neuen Welt runden – Kap Hoorn. Dan hatte Severa nun erzählen müssen, daß ihr Vater kurz nach ihrer Entführung gestorben war. Aber für das Mädchen war es nur die Bestätigung einer Erkenntnis. Schon lange hatte sie gewußt, daß es um den alten Euzko Guerazi schlecht bestellt war. Er hatte die Schwindsucht gehabt. Dan durfte auf der Insel mit seiner geliebten Severa zusammensein, aber dann verlieh Hasard dem Ganzen einen bitteren Tropfen – gezwungenermaßen. „Dan“, sagte er, als sie alle sich auf der „Isabella“ versammelten. „So gern wir alle Severa mögen, es ist gegen meine Prinzipien und die allgemeine Borddisziplin, Frauen mitzunehmen. Du hast deshalb die Entscheidung. Du und Severa, ihr könnt mit den Indianern zum Festland reisen. Es ist keiner unter uns, der das nicht billigen würde.“ Severa trat dicht vor ihn hin. „Hasard, ich liebe Dan, aber wir haben uns schon geeinigt. Er ist wegen mir bereits genug aus dem Häuschen geraten ...“ „... und hat Bockmist gebaut“, fügte Dan hinzu.
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Severa lächelte. „Ich bin nicht so eigennützig, daß ich Dan an mich zu binden versuche. Das würde ihn letztlich doch nur unglücklich werden lassen. Sein Herz mag mir gehören, aber es schlägt auch für die See, für die ‚Isabella’ und ihre Crew. Unsere Wege trennen sich hier. Ich segle mit den Indianern nach Feuerland.“ Hasard nickte. „Danke, Severa. Ich habe gewußt, daß du ein kluges Mädchen bist. Ushua.“ Er wandte sich an den Indianerhäuptling. „Ushua, versprich Hasard, Severa zu beschützen.“ Er beschrieb ein paar umständliche Gebärden – und der Indianer nickte. „Ushua schwört es.“ Hasard blickte zu Dan. Der Kutscher hatte seinen Arm verbunden, es war tatsächlich nur eine Fleischwunde. Der Knochen war nicht in Mitleidenschaft gezogen. Hasard wurmte es selbst, daß er so hart sein mußte, aber er wußte auch, daß jede Abweichung von den ungeschriebenen Gesetzen der Seefahrt fatale Folgen haben konnte. „Dan, hast du es dir wirklich gut überlegt?“ Der junge Mann blickte ihn offen an. „Ja, Sir. Mein Platz ist auf der ,Isabella’.“ Hasard räusperte sich. „Danke, Dan. Ich verspreche dir, daß du Severa wiedersiehst. Soweit es in meinen Kräften steht, werde ich alles tun, um dich wieder mit ihr zusammenzuführen.“ Dan zog Severa zu sich heran und verabschiedete sich von ihr.
ENDE