Der Ewige Widersacher von Timothy Stahl
Er hat viele Namen: Scheitan, Luzifer, Satan, Teufel … Und er hat viele Gesich...
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Der Ewige Widersacher von Timothy Stahl
Er hat viele Namen: Scheitan, Luzifer, Satan, Teufel … Und er hat viele Gesichter. Seine Inkarnationen wandeln auf der Erde, seit es Menschen gibt. In dieser Zeit heißt er Gabriel – ein gutaussehender junger Mann mit einem gewinnenden Lächeln. Und gewinnen will er in der Tat: die Macht über die Menschen. Den Kampf gegen das Gute. Seit seiner Geburt verfolgt Gabriel den Großen Plan, schart Verbündete um sich, schließt verhängnisvolle Pakte, bereitet sich auf die letzte, alles entscheidende Schlacht vor. Seine wichtigste Verbündete ist Lilith Eden. In ihrer Hand liegt das Schicksal der Menschheit …
Was bisher geschah … Im Dunklen Dom, der Heimstatt der Hüter, ist Anum erwacht, einer der Vampirfürsten, die vor Urzeiten über die Menschheit regierten. Er und Landru sind die letzten dieser Alten Rasse. Als Anum von Landrus Machtgelüsten und Versagen erfährt, nimmt er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände. In Uruk trifft er auf die Halbvampirin Lilith, die seinem Einfluß verfällt und ihm nach Jerusalem folgt. Dort gelingt es ihr, Landru zu pfählen – scheinbar! Denn Gabriel, die Inkarnation Satans in dieser Epoche, hat einem Homunkulus Landrus Aussehen und Gedächtnis verliehen! Der echte Landru erfüllt indes den Pakt, den er mit Gabriel schloß: Im Weißen Tempel von Uruk befreit er eine dort eingekerkerte Loge des Satans, die Archonten, und führt sie nach Jerusalem. Nona, Landrus Geliebte, hat seinen scheinbaren Tod dort miterlebt, und da sie nicht von Gabriels List weiß, folgt sie voller Rachegelüste Lilith und Anum und beobachtet, wie die beiden sich im Haus des Gemüsehändlers Chaim einquartieren. Die Bewohner des Hauses kommen dabei ums Leben – bis auf die beiden Kinder David und Rahel, mit denen Anum Großes vor hat. Denn er will eine weitere Kelchtaufe durchführen, um das Geschlecht der Vampire wieder zu vermehren – und das, obwohl der Kelch seine Macht eingebüßt zu haben scheint. Von Stonehenge aus strahlt Gabriel die gebündelte Seelenenergie von 350 Verbrechern, die er aus einer Psychiatrie befreit hat, in den nächtlichen Himmel. Dieser Strahl trifft den Mond und taucht ihn in ein sonderbares Licht. Und überall auf der Welt machen sich seine »Soldaten« auf, ebenfalls gen Jerusalem zu ziehen und sich dort zur schrecklichsten Armee zu sammeln, die es je unter Sonne und Mond gegeben hat … auch der friedliche Chiyoda und seine Schüler, die dem Bösen abzuschwören hofften! Makootemane und Esben Storm – ein indianischer Vampir und ein australischer Aboriginal –, kön-
nen Chiyoda jedoch auf Traumzeitpfade entführen und dort die Verwandlung rückgängig machen. Inzwischen erfährt Nona von Gabriel das Geheimnis um die Herkunft der Werwölfe: Zu Zeiten König Minos’ ließ die damalige Inkarnation des Satans den ersten Wolfskrieger einer Armee entstehen, die ihn dereinst in seinem letzten, alles entscheidenden Kampf unterstützen soll. Eine Schlacht, die kurz bevorsteht! Anum tauft die beiden Kinder mit Liliths Blut! Doch während David sich auflöst, geht mit Rahel eine sonderbare Verwandlung vor. Landru erkennt in ihr den Messias der Vampire, als er, wieder mit Nona vereint, Anum und Lilith angreift – und unterliegt! Nur Gabriels Eingreifen verdankt er den Sieg: Anum wird von ihm geköpft! Gleich darauf gibt der Satan Lilith ihr Gedächtnis zurück, das sie während eines Aufenthalts in der Hölle verloren hatte, und läßt sie mit einem halbtoten Landru und Nona allein. Rahel aber konnte während des Zweikampfs entkommen …
Eine Bombenexplosion hätte kaum verheerender sein können! Die Räume des schmalen Hauses, in dem bis vor kurzem der jüdische Gemüsehändler Gershom Chaim und seine Familie gelebt hatten, waren völlig verwüstet – zerstört im Wüten zweier Titanen, deren Haß aufeinander menschliches Begreifen überstieg. Beide waren sie einst Hüter des Lilienkelchs gewesen – und Brüder: Landru und Anum. Landru war seinem Bruder im Kampf zwar unterlegen, Anum aber war tot! Vernichtet vom Satan selbst. Und Landru … »Stirb endlich, Bastard!« Eisige Kälte ließ Liliths Stimme klirren. »Stirb durch meine Hand – und bezahle mit deinem Tod für alles, was du mir und dieser Welt angetan hast!«
Landrus zerschlagene Gestalt kauerte am Boden, gekrümmt und wimmernd vor Pein, zitternd im unsichtbaren Schatten des nahen Todes, in einer stetig größer werdenden Lache seines eigenen Blutes, das ihm zäh aus einer Unzahl von Wunden quoll. Wie ein lichtfressendes Loch wirkte der schwarze Blutsee, dessen Ufer immer weiter zurückwichen, desto mehr Landrus zerrissene Adern ihn speisten. Schon schien es, als schwebe der einstige Hüter und nach dem Tod seines Bruders Anum nunmehr wieder Älteste aller Vampire über jenem finsteren Schlund – – in den Lilith Eden ihn vollends hineinstoßen wollte! Nachdem sie nun endlich alles über Landru wußte; so wie sie endlich auch wieder alles über diese Welt und ihre abseitigen Geheimnisse wußte, über die Alte Rasse – und über die Rolle, die ihr selbst zu spielen bestimmt war, befohlen von oberster Stelle! Gabriel, das in dieser Zeit fleischgewordene Böse, hatte Lilith alles Wissen, jede Erinnerung und vor allem ihr ureigenes Ich zurückge-
geben. An den Pforten zur Hölle hatte sie es vor Monaten verloren *, und der satanische Knabe hatte es gleichsam als Trumpf behalten, um es im rechten Moment auszuspielen. Und eben jener Moment schien gekommen, als Lilith sich gegen Gabriel gewandt hatte, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen für den Tod Anums, den sie abgöttisch zu lieben glaubte … … bis er ihr die Augen geöffnet und sie sehend gemacht hatte für die echte und einzige Wahrheit: Sie war die erklärte Feindin aller Vampire, und ihr Lebenszweck bestand darin, die Alte Rasse gänzlich vom Antlitz dieser Welt zu tilgen! Gott selbst hatte ihr dieses Los auferlegt, am Anfang der Zeit, im wahren Garten Eden, wo Lilith damals ihrer ursprünglichen Bestimmung nachgekommen war: die Ur-Lilith, Mutter der ersten Vampire und Adams erstes Weib vor Eva, mit dem Schöpfer zu versöhnen. Erst wenn Lilith Eden diesen göttlichen Auftrag einst erfüllt hätte, würde sie frei sein von aller Sünde, die sie durch Leid und Tod auf sich geladen hatte – und erlöst von ihrem unseligen Dasein als Kind zweier Welten: weder ganz Mensch, noch ganz Vampirin, und mithin verachtet von beiden Rassen. Darüber nachzudenken, wie erstrebenswert eine solche Befreiung tatsächlich sein mochte, war Lilith nicht wirklich möglich. Anderes beherrschte ihr Denken, Wichtigeres – nun wieder elementar Gewordenes: Tod allen Vampiren! hieß Lilith Edens Streben von neuem. Und Landru zu töten würde der bestmögliche Neuanfang ihres wahren Lebens sein! Lilith kannte die menschliche Redensart, der zufolge es einem in den Fingern juckte, etwas zu tun. Für sie selbst erfüllten sich diese Worte just in diesem Augenblick auf fast schon schmerzhafte Weise: Ihre Finger schwollen spürbar an, Sehnen und Muskeln spannten und verhärteten sich unter der dünnen Haut, Nägel sprossen zu *siehe VAMPIRA T25: »Inkarnationen«
Krallen. Ihre Hände wurden zu mörderischen Waffen, die stumm forderten, endlich zu handeln … Lilith brannte darauf, sich auf Landru zu stürzen, um ihm den Garaus zu machen. Wäre da nicht ein Hindernis gewesen, das ihr noch im Wege stand und das es zuvor zu nehmen galt … »Wage es nicht!« Nonas Worte klirrten wie Stahl, und ihre Augen brannten im Feuer kalter Wut. Die Wölfin, noch in menschlicher Gestalt, stellte sich gleich einer Löwenmutter, die ihren Wurf verteidigt, zwischen Lilith und Landru, der sich in purer Agonie wand. Die Schwere seiner Verletzung schien seine Selbstheilungskraft zu überfordern. »Der Tod wäre eine Erlösung für ihn«, meinte Lilith ohne den geringsten Funken wahren Mitleids. Ihre Stimme troff nur vor Zynismus. »Und außerdem ist es beschlossene Sache!« »Nur über meine Leiche!« erklärte Nona. »Soll mir recht sein …« Lilith verzog die Lippen zu einem Lächeln, das einen Bluthund hätte ängstlich zurückweichen lassen.
* Nona … Auch über sie wußte Lilith wieder Bescheid, kannte die Wahrheit über ihr Verhältnis zueinander. Feindinnen waren sie, naturgemäß, denn schließlich war Nona seit Jahrhunderten Landrus Geliebte. Somit stand Lilith nun ihren beiden ärgsten Gegnern gegenüber, einer schon fast zu Tode verwundet. Eine bessere Gelegenheit, sich beider sozusagen auf einen Streich zu entledigen, würde sich Lilith nie mehr bieten. Dennoch zählten Sekunden. Jetzt schon, zu Beginn des unausweichlichen Kampfes mit Nona, waren sie entscheidend. Lilith verlor nicht eine einzige. Sie duckte sich, sprang vor, und noch in der Bewegung floß vam-
pirische Kraft in ihre Glieder, kalt wie flüssiges Eis, und schien ihre Muskulatur schier bersten zu lassen. Ihr Gesicht gerann zur monströsen Fratze, deren aufklaffendes Maul den Blick auf nadelspitze Eckzähne freigab. Liliths Körper mutierte zu etwas Bestienhaftem, dessen bloßer Anblick Menschen schreiend in die Flucht getrieben hätte. Nona indes vermochte er nicht zu schrecken. Überrascht wurde sie nur von der Plötzlichkeit des Angriffs! Die Verwandlung in ihre wölfische Gestalt war noch nicht abgeschlossen, als sie unter Liliths Ansturm zu Boden ging. Klauen drangen durch ihre Haut, wo sie noch nicht vom Fell des Wolfes bedeckt war, und gruben sich tief ins Fleisch darunter. Ein Schrei brach über Nonas Lippen. Und dieser Schrei zeigte an, daß ihre Verwandlung weiterging – nach zwei, drei Sekunden wohnte ihm nichts Menschliches mehr inne, war er zu einem animalischen Heulen geworden, das nahtlos überging in kehliges Knurren und Grollen. Noch einmal gelang es Lilith, die Wölfin schmerzhaft zu treffen. Ihre Krallen rissen Haut und Fleisch über Nonas Rippen auf. Blut rann ihr warm über Hände und Unterarme, und der Geruch trieb sie in schiere Raserei. Dann aber gelang es der geschmeidigen Wölfin, sich dem Griff ihrer Gegnerin zu entwinden. Rasch brachte sie Distanz zwischen sich und Lilith, wenn auch nur, um ihrem Angriff stärkere Vehemenz zu verleihen. Wie vom Katapult geschleudert, schoß Nona auf die Halbvampirin zu, das Wolfsmaul weit aufgerissen, die Fänge gebleckt. Raubtieratem streifte Liliths Gesicht, dann explodierte Schmerz zwischen Hals und Schulter, als Nona ihre Zähne dort hineinschlug. Blut spritzte auf, und Knochen brach knirschend unter der Gewalt des Bisses. Lilith brüllte auf, doch nicht eine Sekunde lang verlor sie die Kon-
trolle über ihre Reaktionen. Wie Dolche benutzte sie ihre Klauen, stieß sie vor und rammte sie Nona unterhalb des Brustkorbs in den Leib. Und wieder stieg ihr jener Dunst in die Nase, der einen Menschen ekeln mußte, Liliths Kampfeslust aber nur anfachte. Die Wölfin jedoch stand ihr in nichts nach! Sie ignorierte den Schmerz, der in ihr toben mußte, packte Lilith mit ihren Pranken, wobei sie ihr die Krallen ins Fleisch trieb, und brachte sie mit einem Ruck zu Fall. Noch im selben Atemzug warf Nona sich auf die Halbvampirin und nagelte sie mit ihrem Gewicht am Boden fest. Liliths Kraft war nicht mit der eines Menschen gleichzusetzen. Es hätte ihr keine Mühe bereitet, die Last von sich zu stemmen – wäre sie in einer günstigeren Lage gewesen. So aber vermochte sie weder Arme noch Beine recht einzusetzen, und es blieb ihr nur, den zuschnappenden Fängen der Wölfin auszuweichen, so gut es ging … … und es ging mehr schlecht als recht. Lilith spürte die klebrige Wärme des eigenen Blutes in ihrem Gesicht, an Hals und Brust. Und fast schien es ihr, als spiele die Wölfin nur mit ihr, wie die Katze mit der gefangenen Maus. Die Wolfsschnauze klaffte auf, stieß nieder. So gewaltig und tief wuchs das Maul in Liliths Blick, daß sie meinte, ganz und gar darin verschwinden zu können. Sie spürte, wie sich Nonas Fänge um ihre Kehle schlossen, wie die Reißzähne hart und kalt die dünne Haut berührten und … ZZZUUUWWW!
* »Verdammt!« Im Aufstehen streifte Nona alles Wölfische ab. Blut tropfte von ihren schlanken Händen zu Boden, fiel auf genau jene Stelle, an der eben noch Lilith Eden unter ihr gelegen hatte, den Tod buchstäblich schon vor Augen. Dann aber …
»W-was … ist geschehen?« Leise, kaum verständlich drangen die Worte zu Nona herüber. Jedes einzelne schien Landru unendlich viel Kraft zu kosten. Nona wandte sich um, ging zu ihm, kniete nieder in Landrus schwarzem Blut. Sanft drängte sie ihn zurück in eine liegende Position, weil sie sah und spürte, daß es seine Kräfte noch überstieg, sich auf die Ellbogen aufzurichten. Schon einmal hatte sie geglaubt, Landru verloren zu haben. Es war ein fürchterliches Gefühl gewesen, und der Schmerz um den vermeintlichen Verlust des jahrhundertelangen Gefährten hatte ihr gezeigt, wieviel er ihr wahrhaft bedeutet hatte. Ihr Leben wäre in anderen Bahnen verlaufen, hätte sie Landru nie kennengelernt, und Nona wußte, daß jedes andere Leben ein unerfülltes gewesen wäre im Vergleich zu jenem, das sie dank Landru tatsächlich hatte führen dürfen. Sein Tod hatte sich letztlich als Farce erwiesen. Lilith hatte lediglich einen Doppelgänger Landrus umgebracht.* Das Entsetzen darüber wurzelte jedoch noch immer tief in Nona, auch die Erkenntnis des Irrtums hatte es nicht völlig vertreiben können. Und sie hatte sich fest vorgenommen, niemals zuzulassen, daß der Tod Landru ereilen würde, ehe sie nicht selbst von dieser Welt gegangen war. Nun hatte sie diesen stillen Schwur schon zum ersten Mal halten können. Und sie wußte, was zu tun war, um ihn auch weiterhin nicht brechen zu müssen: Landrus erbittertste Feindin mußte sterben! Sie, Nona, würde Lilith Eden jagen, bis sie des Hurenbalgs habhaft wurde, um es zur Hölle zu schicken … Die Wölfin lachte gallig auf bei diesem Gedanken. Lilith Eden zur Hölle schicken … … dabei hatte der Teufel sie doch gerade eben geholt! »Gabriel hat Lilith … gerettet?« Es schien, als habe Landru ihre Gedanken gelesen. Er gab sich Mühe, seiner Stimme einen festen *siehe VAMPIRA T43: »Tod eines Mächtigen«
Klang zu verleihen, doch ein Blick auf seine Wunden genügte, um Nona die Wahrheit um seinen Zustand erkennen zu lassen. Sie nickte stumm. »Aber … warum?« fragte Landru entgeistert. Nona hob die Schultern. »Vielleicht –«, sie zögerte kurz, als suche sie nach dem richtigen Wort, »– braucht er sie noch – so wie er mich noch braucht. Möglicherweise hätte er auch mich vor dem Tod bewahrt, wäre ich Lilith unterlegen.« Landru räusperte sich, spuckte schwarzen Schleim aus. Dann erst konnte er sprechen. »Ich verstehe nicht, wovon du redest. Zu welchem Zweck braucht Gabriel dich?« Nona erwiderte den müden Blick ihres Geliebten eine Weile lang schweigend, bis sie schließlich antwortete: »Ich soll Satans Armee anführen.« »Satans Armee?« echote der Vampir. »Was –?« »Die Werwölfe dieser Welt«, erklärte Nona. Ein bitteres Lächeln ließ ihre Lippen zittern. »Wir alle sind –«, sie holte tief Atem, ehe sie weitersprach, »– des Teufels Brut.« »Bei den Hohen!« stieß Landru hervor und richtete sich etwas auf. Er wollte noch mehr hinzufügen, doch Nona fiel ihm ins Wort. »Vergiß die Hohen. Ihre –«, ihr Lächeln festigte sich um eine Nuance, »– eure Zeit wird nie kommen.« Landru erwiderte Nonas Lächeln. Einen Moment lang hielt er ihren Blick gefangen, und sie meinte einen Hauch alter Stärke in dem seinem zu erkennen. Dann schloß er die Augen und ließ sich zurücksinken. Seine Lippen bewegten sich kaum, als er murmelte: »Meine Zeit wird kommen. Ich habe das Zeichen erkannt. Ich werde es finden, dieses Mädchen – die Heilsbringerin der Alten Rasse. Die neue Mutter der Vampire …« Landrus Stimme erstarb. Er schlief. Und träumte. Neuen Zeiten entgegen.
* Lilith Eden hatte in ihrem Leben schon vieles durchgemacht. Sie hatte dem Tod mehr als nur einmal ins Auge gesehen, und sie hatte Schmerz in allen Varianten kennengelernt … Buchstäblich vom Teufel geholt zu werden übertraf allerdings jede zuvor gemachte Erfahrung! ZZZUUUWWW! Lilith war es vorgekommen, als wäre ein Loch in der Wirklichkeit entstanden, als hätten unvorstellbare Kräfte ihre nächste Umgebung auseinandergerissen wie eine Leinwand, auf der die Welt um sie her nur aufgemalt war. Hinter dieser imaginären Kluft in der Realität hatte etwas wie ein Sog gelauert, dessen Macht sie hilflos ausgeliefert gewesen war. Lilith war vom Nichts verschlungen worden – und damit hatte das Furchtbarste erst begonnen! Sie war nicht haltlos durch ein Nirgendwo geschwebt oder gezerrt worden, sondern von dieser ungeheuerlichen Kraft zerrissen worden, im wörtlichen Sinne zerlegt in ihre kleinsten Bestandteile, und jedes einzelne davon war noch imstande, grausamsten Schmerz zu empfinden. Einer Staubwolke gleich war Lilith so dahingetrieben, blind und taub, nur zum Fühlen verdammt, einen Lidschlag oder eine Ewigkeit lang; sie wußte es nicht. Auch Zeit hatte jegliche Bedeutung verloren. Nur Qual und Grauen spielten eine Rolle. Bis die fürchterliche »Reise« ein Ende fand, so rasch und brutal, wie sie begonnen hatte. Die fremde Kraft »montierte« Lilith neu, fügte Teilchen an Teilchen, und jedes Aneinanderfügen schmerzte höllisch. Lilith hörte amüsiertes Lachen, leise und seltsam materiell, als kröche ein Dutzend Spinnen auf dürren Beinen in ihr Ohr. Sie schlug die Augen auf und hatte das Gefühl, ihre Lider bestün-
den aus purem Blei, so schwer fiel ihr die lächerlich geringe Regung. Ihr Hirn schien unter der Schädeldecke zu schweben, Schwindel ließ ihre Umgebung kreisen, und die schlanke Gestalt schien um sie herum zu tanzen. Trotzdem erkannte Lilith ihr Gegenüber. »Du?« Gabriel nickte. »Wer sonst?« »Ja, natürlich«, murmelte Lilith, »wer sonst?« Sie versuchte auf die Beine zu kommen. Es gelang ihr im dritten Anlauf, und auch dann stand sie nur schwankend da, wie ein Halm im Wind. Einen Moment lang wollte sie den Ort näher in Augenschein nehmen, an den der Knabe, der in widernatürlicher Geschwindigkeit zum jungen Mann gereift war, sie auf solch ungeheure Art geholt hatte. Stöhnend brach sie den Versuch ab, weil ihre Augen die Details ringsum nicht in gewohnter Weise zu einem Bild zusammenzufügen vermochten. Nur unmögliche Formen und monströse Dinge erfaßten sie, die Lilith von neuem schwindeln und Übelkeit in ihr aufsteigen ließen. Lediglich Gabriel konnte sie klar und deutlich erkennen, als seien seine Konturen herausgelöst aus dieser Wirklichkeit. »Warum?« fragte Lilith, ihn starr fixierend, weil sie die Folgen eines jeden Blickes, der nicht ihm galt, fürchtete. »Warum was?« erwiderte der dunkelhaarige Jüngling. »Warum hast du das getan? Mich –«, Lilith vollführte eine Handbewegung, die ihre Umgebung einschloß, ohne jedoch hinzusehen, »– hierher geholt? Und weshalb hast du mich vor Nona gerettet?« »Kannst du dir das nicht denken?« fragte Gabriel. Er schien ehrlich erstaunt darüber, daß Lilith seine Beweggründe nicht von selbst erriet. »Würde ich sonst fragen?« »Weil du mir noch etwas schuldest«, erklärte der Teuflische schließlich. »Und niemand verläßt diese Welt, ohne seine offene Rechnung mit mir beglichen zu haben.«
Lilith spürte, daß seine Worte nicht gänzlich der Wahrheit entsprachen. Etwas war da noch, das unausgesprochen blieb. »Du meinst den –«, sie zögerte kurz, »– Gefallen, zu dem ich dir verpflichtet bin?« Als Lilith in der Hermetischen Welt Mayab gefangen gewesen war und diese magische abgeriegelte Zone schließlich zerstört worden war, hatte Gabriel sie vor dem Untergang bewahrt. Im Gegenzug hatte Lilith ihm versprechen müssen, ihm einen Dienst zu erweisen, wann immer er ihn einforderte und was es auch sein würde. In ihrer ausweglosen Situation war Lilith bereit gewesen, jeden Preis für ihre Rettung zu zahlen.* »Natürlich«, antwortete Gabriel. »Worum handelt es sich dabei? Was ist es, das ich für dich tun soll?« Der Inkarnierte hob die Hand. »Alles zu seiner Zeit. Du wirst es erfahren, wenn es soweit ist.« »Wann?« »Bald.« Gabriel lächelte, harmlos und beängstigend in einem. »Was sollte ich für dich tun können, wozu du nicht selbst in der Lage wärst?« Lilith gab nicht nach. »Sind deiner Macht denn Grenzen gesetzt? Ich meine – immerhin hast du Anum erschlagen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Und er war –«, Lilith schauderte unwillkürlich in der Erinnerung an das Wesen, an dessen Seite sie Tage zugebracht und dem sie sich zugetan gefühlt hatte, »– ein Gott!« »Er war nur ein Gott«, erwiderte Gabriel geheimnisvoll. Endlich sah Lilith ein, daß es wenig Sinn hatte, weiter in ihren »Retter« dringen zu wollen. »Wo sind wir hier eigentlich?« fragte sie. Lediglich aus den Augenwinkeln heraus versuchte sie, mehr von ihrer Umgebung zu erkennen. Noch immer war es ihr nicht möglich; nach wie vor verbog ihr Blick Boden, Wände und Decken in wahnsinnig machender Art und Weise – *siehe VAMPIRA T36: »Der Pakt«
– bis Gabriel eine beiläufige Handbewegung machte und die kaleidoskopartigen Eindrücke, die Lilith umschwirrten, übergangslos zum Stillstand kamen und ein Bild ergaben. Sie und Gabriel standen auf einem von zwei parallel zueinander verlaufenden Gängen, die ein Achteck beschrieben und durch marmorne Säulen voneinander getrennt waren. In der Mitte dieses Oktagons befand sich ein Felsplateau, weit darüber eine Kuppel aus Gold und Glas, verziert mit einem kunstvollen Mosaik. Ein Anblick, der Lilith vage bekannt vorkam, obschon sie sicher war, noch nie zuvor im Leben an diesem Ort gewesen zu sein. Sie kannte ihn von Fotografien, Abbildungen in Büchern vielleicht. Lilith hatte die ersten 96 Jahre ihres Lebens im Traumschlaf verbracht; eine Zeit, in der sie nicht nur ihrer Bestimmung entgegengereift war, sondern auch alles über die Welt, die sie nach hundert Jahren betreten sollte, gelernt hatte. Im Rahmen dieses »Unterrichts«, an den sie sich nunmehr wieder erinnern konnte, mochte sie auch etwas über dieses zweifelsohne religiöse Bauwerk gelesen haben. »Wo sind wir?« fragte sie. Ehrfurcht schwang in ihrem Ton mit, und ihr Flüstern strich als geisterhaftes Echo zwischen den Wänden einher. Unablässig wanderte Liliths Blick bald hierhin, bald dorthin. Jedes Detail des Gebäudes war auf seine Weise beeindruckend, sei es nun seiner Schlichtheit oder seiner Schönheit wegen, und noch eindrucksvoller freilich war ihr harmonisches Zusammenwirken. Dieser Ort strahlte Ruhe und Friedlichkeit aus, er atmete Andacht – – und um so frevelhafter schien es Lilith, daß gerade sie sich hier aufhielt, zumal an der Seite des Leibhaftigen! »Im Felsendom«, antwortete Gabriel fast fröhlich. »Im ›Erhabenen Heiligtum‹, das von drei Weltreligionen anerkannt wird.« Er zeigte zur Mitte des Domes hin. »Dieser Felsen dort galt der arabischen Geographie als Mittelpunkt der Welt. Abraham war hier bereit, seinen Sohn zu opfern –«, der Teuflische grinste abfällig, »– und die Muslime wollen hier den Fußabdruck des Propheten Mohammeds
und den der Hand des Erzengels Gabriel erkennen …« Lilith sah angestrengt hin. »Und? Ist es so?« Gabriel zuckte die Schultern. »Was weiß ich? Ich war nicht bei allem zugegen, was auf dieser Welt geschah. Immerhin bin ich auch nur –« »– ein Mensch?« ergänzte Lilith spöttisch, als er unvermittelt abbrach. »In mancherlei Hinsicht vielleicht zu menschlich –«, räumte der andere ein und ergänzte betont: »– noch.« »Was willst du damit sagen?« faßte Lilith nach. »Was hast du vor? Und warum brachtest du mich gerade an diesen Ort?« »Ich liebe es, Orte wie diesen mit meiner Präsenz zu – beehren. Mit jedem meiner Schritte nehme ich ihnen etwas von ihrer Würde, von ihrer – Heiligkeit.« Versonnen strich Gabriel mit der Hand an der mosaikverzierten Wand entlang, und Lilith glaubte etwas wie einen flüchtigen dunklen Schatten zu sehen, den die Berührung hinterließ. Eine Ahnung durchzuckte plötzlich ihr Hirn. Der Gedanke verblaßte, noch ehe sie ihn recht zu fassen vermochte. Aber wie von selbst formulierte ihr Mund eine entsprechende Frage: »Bist du –«, sie verbesserte sich,»– sind wir deshalb in Jerusalem? Willst du diese Stadt … entweihen? Ist das dein Plan?« Gabriel lachte meckernd. Das Geräusch dröhnte widernatürlich laut durch den Felsendom. »Du bist ein kluges Kind, in der Tat. Es wäre ein Fehler gewesen, dich mir nicht zu verpflichten.« Dann aber schlug sein Ton abrupt um, gewann etwas Mißtrauisches. Lauernd maß er Lilith aus den Augenwinkeln. »Oder … war es ein Fehler?« Lilith wunderte sich über die eigene Ungerührtheit, mit der sie den Blick des Leibhaftigen sowie die ganze irreale Situation ertrug. »Du kannst es nur herausfinden, indem du mir verrätst, was ich für dich tun soll«, meinte sie, »und was du vorhast.« Gabriel schwieg. Eine ganze Weile schritt er stumm dahin, dem Verlauf des äußeren Gangs folgend. Lilith ging ihm nach, im Ab-
stand von zwei, drei Schritten. »Wie kommt es, daß wir allein hier sind?« fragte sie dann, nicht aus echtem Interesse, sondern um das unangenehm werdende Schweigen zu beenden. »Ich dachte, dieser Dom wäre das Ziel von Pilgern aus aller Welt und zu keiner Zeit wirklich verlassen.« »Sind wir das denn?«, entgegnete Gabriel ruhig, »Allein? Oder scheint es nur so?« Mit einer beiläufigen Geste strich er durch die Luft, und für einen Moment schien es Lilith, als sehe sie alles ringsum wie durch Wasser, das in Bewegung geriet. Und dahinter, verschwommen nur, undeutlich – bevölkerten Menschen den Felsendom, in dem sie sich eben noch allein mit Gabriel gewähnt hatte! Die wellenartige Bewegung der Luft verebbte, und als sie vollends zur Ruhe kam, verbarg der magische Schild die jenseits davon liegende Wirklichkeit. »Beeindruckend«, meinte Lilith lapidar. »Nicht mein bester Trick«, gab Gabriel mit schiefem Grinsen zurück. »Du kommst vom Thema ab«, erinnerte Lilith. Er nickte. »Ja«, sagte er gedehnt, »und vielleicht sollte ich dir tatsächlich das eine oder andere erzählen …« »Tu dir keinen Zwang an.« Gabriel ließ sich nicht beirren. Als hätte Lilith ihn nicht unterbrochen, fuhr er fort: »… auf daß du erkennst, wer ich bin – und was ich bin.« Er hielt inne. Sein Blick ging scheinbar ins Nichts, tatsächlich aber schaute er zurück in die Geschichte dieser Welt – und in Hunderte von Gesichtern, die im Laufe dieser Geschichte allesamt die seinen gewesen waren. Gabriel begann zu erzählen. Eine Geschichte von vielen. Jene, die vom triumphalsten Sieg des Bösen berichtete – und zugleich von sei-
ner ärgsten Niederlage. Der Teuflische schilderte die seinerzeitigen Geschehnisse nicht mit bloßen Worten; er zog Lilith förmlich hinein. Und so kam es, daß sie die vielleicht größte und sicher bekannteste Geschichte dieser Welt gleichsam als stumme Zeugin regelrecht miterlebte, und sie erfuhr Wahrheiten, die kein Mensch je gekannt hatte, weil sie nirgendwo geschrieben standen – nicht in dieser Form … Die Geschichte trug sich zu vor langer Zeit, und sie begann …
* … in Palästina Der Titel König und sein Beiname der Große waren mehr Schein als Sein. Tatsächlich nämlich war Herodes nichts anderes als ein Vasallenfürst des Römischen Reichs, das zu jener Zeit die westliche Welt wie auch die Länder im Nahen Osten beherrschte. Daß er gleichsam bevormundet wurde vom Kaiser Roms und letztlich sogar dessen Gouverneure der Provinzen größere Entscheidungsbefugnisse hatten als er, hatte Herodes sich jedoch nie eingestanden. Im Gegenteil schienen ihn die Jahre zunehmend blind und taub gemacht zu haben für die tatsächlichen Verhältnisse, und er ließ keine noch so geringe Gelegenheit aus, um seinen Status als König zu betonen und unter Beweis zu stellen. Über alle Geschehnisse in seinem Reich wünschte er informiert zu werden. So weit ging dieses Verlangen nach Kenntnis über alles und jeden, daß seine Soldaten und Spione, die er unter dem Volke hatte, angewiesen waren, auffällige Reisende anzuhalten und ihm vorzuführen. Und so kam es, daß sich in den Palästen des Herodes mitunter bunte Scharen tummelten und geradezu babylonisches Sprachengewirr in den Sälen und Korridoren widerhallte. Wie an jenem besonderen Tage in des Königs Residenz zu Jerusa-
lem … »Ich frage mich, weshalb man uns hier hergeholt hat. Das kommt einer Gefangennahme gleich und wird nicht ohne Folgen bleiben. Ich werde –« »Beruhigen wirst du dich, Bruder Balthasar, und nichts sonst solltest du tun«, unterbrach Kaspar, wie sein Gefährte in wallende Stoffe gewandet. Das ins Tuch gestickte Signet wies sie als zusammengehörig aus und war überdies Zeichen ihrer gemeinsamen Priesterkaste. »Ich für meinen Teil nämlich finde ausgesprochen interessant, was hier vorgeht. Warum sollte unsere Reise ausschließlich der Erkundung jenes sonderbaren Himmelslichtes gelten, wenn wir doch Eindrücke jedweder Art gewinnen können? Wir sollten dem König dieses Reiches dankbar sein für diese Möglichkeit.« Kaspar wurde nicht müde, sich fortwährend in der weitläufigen Halle umzuschauen, und mit jedem Blick entdeckte er noch immer Neues: Angehörige von Völkern, von denen er bislang nur gehört hatte, Stoffe und anderes Material, die man in seiner persischen Heimat nicht kannte oder kaum einmal sah. Und sein Ohr fing eine Vielzahl von Idiomen auf, von denen die allermeisten unverständlich waren, andere aber vertraut klangen und einige seiner eigenen Sprache gar verwandt schienen. »Ich verstehe Balthasars Unmut«, meldete sich nun Melchior, der Älteste und Weiseste der drei Sternkundigen, die Persien vor Tagen verlassen hatten und mit ihrem kleinen Troß gen Palästina gezogen waren. »Auch mich drängt es, dem Licht weiter zu folgen. Aber um unsere Mission nicht zu gefährden, sollten wir es vermeiden, Herodes zu erzürnen, und statt dessen versuchen, ganz wie Bruder Kaspar es tut, unserer momentanen Lage das Beste abgewinnen.« »Dennoch«, warf Balthasar ein, mit den Fingern seinen krausen Bart kratzend, »sind die Methoden dieses Königs alles andere denn gastfreundlich. Uns einfach vom Wege fortzuholen und in seinen Palast schleppen zu lassen …«
»Nun übertreibst du aber«, meinte Kaspar, der Jüngste im Bunde, ein Knabe fast noch und seinem Alter entsprechend mit gesunder Neugierde gesegnet. »Des Königs Männer haben uns recht höflich gebeten, ihnen zu folgen, und man hat es uns an nichts mangeln lassen seit dem gestrigen Abend. Selbst unser Gefolge und die Tiere wurden ordentlich untergebracht und versorgt.« Er deutete auf das nähere Ende des Saales, wo sich Tänzerinnen in bunten, glitzernden Gewändern im Rhythmus einlullender Musik bewegten. »Und man sorgt dafür, daß uns die Zeit des Wartens nicht lang wird.« Balthasar zuckte die Schultern. »Wohl ist mir trotzdem nicht bei der Sache.« Und zum wiederholten Male fügte er nach einer Weile des Schweigens hinzu: »Was will dieser König von uns? Worauf läßt er uns und die anderen hier warten?« Er deutete in die Runde. Gut drei Dutzend weitere Reisende saßen und standen in der Halle verteilt, einige in Gruppen beisammen, andere allein. »Er wird wissen wollen, wer wir sind und wohin unsere Reise geht, nichts sonst«, vermutete Melchior, doch sein leiser Ton verriet vages Bangen und Hoffen, daß wirklich keine anderen, keine übleren Absichten hinter dem Handeln des Herodes stecken mochten. »Mir scheint, wir werden es gleich erfahren«, sagte Balthasar. Die anderen beiden folgten seinem Blick mit den ihren. Zwei Männer des Königs kamen auf sie zu. Sie trugen leichte Rüstungen aus gehärtetem Leder und matt glänzendem Metall, Kurzschwerter steckten in ihren breiten Gürteln. Ihre Gesichter ließen keine Regung erkennen; wie aus Stein gemeißelt wirkten sie. Vor den drei Sternenkundlern blieben sie stehen. »Ihr da«, schnarrte der eine. »Seid ihr die drei, die aus dem Morgenland herreisten?« »So nennt ihr unsere Heimat«, nickte Melchior. »Kommt mit.« Auf Melchiors Zeichen hin erhoben sich Balthasar und Kaspar mit ihm. Die Handbeutel mit sich nehmend, in denen sie ihre persönli-
chen Dinge bei sich trugen, folgten sie den beiden Soldaten, begleitet von den Blicken der Versammelten. Angst spürten sie in manchen davon, Neugierde in anderen. So recht wußte offensichtlich keiner unter ihnen, weshalb sie auf den Straßen Jerusalems angehalten worden waren und ihre Reise auf Geheiß des Königs zu unterbrechen hatten. Die drei persischen Astrologen – die in Regionen, wo man weniger Kenntnisse über die Gestirne hatte, auch als Magier und Zauberkundige angesehen wurden – wurden aus dem Saal geführt und weiter durch Gänge und über Treppen, bis sie den Teil des Palastes erreichten, in dem zweifelsohne der König residierte. Der Schmuck an den Wänden war prunkvoller als dort, wo sie hergekommen waren, die Räumlichkeiten von mehr Licht durchflutet und größer. Der Thronsaal schließlich übertraf die bis dahin gesammelten Eindrücke noch. Gold und edles Gestein hatten in seiner Ausstaffierung reichlich Verwendung gefunden. Kunstvoll gefertigte Wandteppiche wirkten wie Fenster, durch die man auf Schlachtfelder hinauszusehen meinte. Dennoch stach aus all dem Prunk der Thron des Königs noch hervor. Die besten Handwerker des Landes mußten ihn hergestellt haben. Tanzendes Kerzenlicht ließ ihn funkeln wie etwas Lebendes, und seine Lehne reichte fast bis zur hohen Decke des Saales hinauf. Der Mann darin wirkte indes weit weniger beeindruckend. Schmal von Gestalt war er, fast verloren sah er aus in dem riesenhaften Thron, und die kostbaren Gewänder mochte er vor Jahren einmal zur Gänze ausgefüllt haben; heute aber hingen sie lose um ihn. Die Jahre hatten an Herodes gefressen, und sein glanzloser Blick verriet, daß sein Geist nicht minder müde war denn sein Körper. Seine energischen Züge aber hatte das Alter noch vertieft; schattengefüllte Furchen zogen sich von den Nasenflügeln über die Mundwinkel bis zum Kinn hinab, feinere Falten umkränzten seine Augen, weitere zogen sich in parallelen Linien über seine Stirn. Er ließ die drei Männer bis auf halben Wege an seinen Thron her-
anführen, dann bedeutete er ihnen mit einer herrischen Geste, stehenzubleiben, und zugleich war dies das Zeichen für seine Soldaten, sich bis zur Tür zurückzuziehen. Der alte Melchior senkte ehrerbietig das Haupt. Auf die Knie fiel er nicht vor einem König, der nicht der seine war. Kaspar folgte seinem Beispiel, während Balthasar sich nur ein vages Nicken abrang. Sein finsterer Blick machte nur allzu deutlich, was er von dieser merkwürdigen Audienz hielt, und Melchior sah ihn warnend an. Sag nur ja nichts Falsches – sag am besten gar nichts! hieß das. Balthasar verzog mißmutig die Lippen, schwieg aber. Herodes selbst ergriff das Wort zuerst, wie es ihm zustand. »Ihr kommt aus dem Morgenland, sagte man mir. Ist dem so?« Melchior übernahm als Ältester die Antwort. »So ist es, Herr.« »Wohin führt euch euer Weg?« wollte Herodes wissen. Melchior lächelte freundlich. »Wir wissen es noch nicht, Herr. Ein Stern weist uns die Richtung, und erst wenn wir unter ihm stehen, werden wir unser Ziel kennen.« »Ihr folgt einem Stern?« Unglaube lag im Ton des Herodes, und noch etwas anderes – keimendes Mißtrauen, gepaart mit beinahe kindlicher Neugierde. »Nun«, erwiderte Melchior, »ob es wirklich ein Stern ist, dessen sind wir uns nicht ganz gewiß. Ein Licht am Himmel ist es jedenfalls, und um seine Natur zu erkunden, wollen wir ihm so nahe als nur möglich kommen. – Dazu müßt ihr wissen, daß wir in unserer Heimat einer Kaste angehören, die sich der Sternenkunde verschrieben hat.« »So seid ihr also Magier.« Herodes fragte nicht, er stellte fest. Melchior schwieg mit feinem Lächeln. »Erzählt mir mehr über diesen … Stern«, verlangte der König. »Was hat es auf sich mit diesem Licht am Himmel?« »Nun, es erschien eines Nachts, als wir die Gestirne beobachteten. Heller strahlend als alle anderen, größer und – anders. Fast schien
es, als sei der Himmel an dieser Stelle aufgerissen, um gleißendes Licht hindurchzulassen.« Melchiors Blick wirkte entrückt, als sehe er nicht länger den Thronsaal des Herodes, sondern durch Wände und trotz des Tageslichts wieder jenes Leuchten, dem sie von Persien her nach Jerusalem gefolgt waren und das sie noch immer nicht erreicht hatten. Wohl aber waren sie ihm schon nähergekommen, und längst trugen sie es in ihren Herzen, denn es war nicht kalt wie das Licht der Sterne, sondern von solcher Wärme, daß sie alle den Wunsch hatten, es zu berühren … »Es war mehr als nur Licht, diesen Eindruck hatte ich«, meldete sich nun auch Kaspar zu Wort. Der Ausdruck seiner Augen glich ganz dem Melchiors. Auch der jüngere Sternenkundige schien im Bann dessen, was er am Nachthimmel gesehen hatte. »Es war … wunderschön. Und es wäre sträflich, nicht erfahren zu wollen, was es uns zeigen will.« »Das Licht?« hakte der König nach. »Ihr meint, es steht als ein Zeichen für etwas?« Unüberhörbar war nun der lauernde Ton in seiner Stimme. Melchior öffnete den Mund zu einer Erwiderung, zugleich sandte er einen mahnenden Blick in Kaspars Richtung – doch zu spät! Der Jüngere kam ihm zuvor, und noch ehe Melchior ihm ins Wort fallen konnte, war schon heraus, was er selbst nicht so deutlich hatte sagen wollen. »O ja, dieser Stern ist ein Zeichen«, erklärte Kaspar, und mit feierlichem Ernst, der Melchior frösteln ließ, fuhr er fort: »Es steht für den neuen König der Juden!«
* König Herodes schwieg, und die Stille, die den Saal erfüllte, war bedrückend wie die Schwüle vor einem Unwetter, wenn dunkle Wolken vom Horizont herwogten.
Dieses Schweigen mißverstand auch Kaspar nicht. Seinem Gesicht war deutlich abzulesen, daß er es bereute, so vorlaut gewesen zu sein. Dem Herrscher dieses Landes gegenüber von einem neuen König zu reden – welch eine unverzeihliche Torheit! »Nun«, begann er zögernd, »ich … wir …« Diesmal fing er Melchiors Blick auf und verstand ihn richtig. Keinen Laut gab er mehr von sich. An seiner statt übernahm der Ältere wieder das Wort. »Verzeiht meinem jungen Bruder, Herr«, bat Melchior versöhnlich. »Er ist unerfahren und hat den Zweck unserer Reise offensichtlich nicht ganz verstanden.« Er schluckte erleichtert, als er sah, daß Herodes sich entspannte – ein klein wenig zumindest … »Wisset, daß unsere Priesterschaft in der Heimat als Bund von Gelehrten gilt, und in dieser Eigenschaft sind uns Schriften aus aller Herren Länder anvertraut. Eine unserer Aufgaben ist es, mögliche Verbindungen zu ziehen zwischen dem, was weise Männer einmal niedergeschrieben haben, und dem Stand der Sterne.« »Wozu?« fragte Herodes. »Wir erkunden auf diese Weise, ob Vorhersagen gewisser Ereignisse möglich sind, oder ob andere eine Regelmäßigkeit in ihrem Auftreten zeigen. So ließe sich Ordnung ins Leben bringen und – was wichtiger ist – Vorsorge treffen, wenn Bedrohlichkeiten nahen, weil wir ihre Schatten zu deuten wüßten.« »Das leuchtet mir ein«, meinte der König, und tatsächlich schien er interessiert an dieser Art des Weissagens. Dann aber umwölkte sich Herodes’ Stirn von neuem und er fragte: »Was aber hat es mit der Geburt jenes Königs der Juden auf sich, von dem euer junger Freund eben sprach?« Melchior wand sich innerlich. »Nun, tatsächlich kündet eine unserer Schriften von der Geburt eines Kindes, dem eine große Zukunft vorausgesagt wird, wenn am Nachthimmel ein taghelles Licht erstrahlt. Aber –«, er hob beschwichtigend die Hand, als er sah, daß
Herodes etwas einwerfen wollte, »– es sind nur Worte. Nichts sonst.« »Und nur diesem Ziel gilt eure Reise?« Herodes klang zweifelnd. »Zu sehen, ob bloße Worte, die ein Narr geschrieben haben mag, der Wahrheit entsprechen?« »Vielleicht«, meinte Melchior mit weisem Lächeln, »sind auch wir nur Narren.« »Wer weiß«, murmelte der König versonnen. Dann zwang er ebenfalls ein Lächeln auf seine Züge. Es sollte einnehmend wirken, aber es machte seinen Mund nur zu einem weiteren Schatten in seinem altersfurchigen Gesicht. »Es interessiert mich, wie eure Reise ausgeht«, sagte er dann, betont jovial, »ob ihr findet, wonach ihr sucht. – Kehrt zurück in meinen Palast, wenn ihr den Stern erreicht und gesehen habt, was sein Licht euch zeigen wollte. Ich werde euch die Mühen ordentlich lohnen. Als reiche Männer sollt ihr heimkehren in euer Morgenland.« Die drei Männer versprachen, dem Herodes über den Ausgang ihrer Suche Bericht zu erstatten … … aber der König sah sie niemals wieder. Ihre Worte indes, und was sie für ihn persönlich bedeuten mochten, vergaß er nicht. Und er sann darüber nach, was zu tun sei, um Gewißheit zu erlangen. König Herodes der Große brauchte Rat … … und ICH wußte ihn!
* Und er wird König sein … … und sein Reich wird kein Ende haben. Lukas, Kap 1, Vers 33 Weshalb die Drei aus dem Morgenland nicht an den Hof Herodes’
zurückkehrten, weiß ich nicht. Vielleicht war es so, wie man sich später erzählte und niederschrieb, daß sie im Traum dazu angehalten wurden, ihr Wort zu brechen, und auf einem Wege heimkehrten, der Jerusalem nicht kreuzte. Ich bin mir nicht sicher, ob der Erzengel Michael zu jener Zeit schon unsere einst gemeinsamen Gefilde verlassen hatte und als Salvat auf Erden weilte. Möglicherweise … Und vielleicht war er es ja, der den Sternsuchern hieß, Herodes nicht wiederaufzusuchen, um zu schützen, was dieser gottlosen Welt geschenkt worden war – – ein Kind. Nur ein Menschensohn zwar, aber zu Höherem berufen. Daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Denn die Geburt dieses Kindes hatte den Kosmos erschüttert auf einer Ebene, die Menschen nie erfassen oder erforschen werden. Wo Licht ist, da ist auch Schatten … Mit diesen Worten ist im Grunde beschrieben, was damals geschah: Ein Ereignis auf Seiten der lichten Macht verursachte ein Beben im Refugium der Finsternis und löste damit eine gegenteilige Reaktion aus: Die Geburt dessen, den man als den Messias * und Heilsbringer erwartete, wurde beantwortet mit der Berufung einer weiteren Dreigestalt, einer Inkarnation jener Wesenheit, die als Luzifer von seinen Brüdern verdammt worden war und dessen einsamer Geist in der Folge jenes vielschichtige Reich ersonnen hatte, das die Menschen Hölle nannten. Ich war diese Dreigestalt, so wie ich jede zuvor und jede danach war. Ich war und bin der Arm des Bösen, der in diese Welt hineingreift, um ihm den Boden zu bereiten und seine Saat auszubringen. Diesmal aber galt es mehr zu tun als nur das. Diesmal war es mein Ziel zu verhindern, daß mir der Boden verdorben und meine Saat *Messias (hebräisch; griechisch = Christus); Das Wort bedeutet »Gesalbter« und meint den König, der durch Salbung in sein Amt eingesetzt wurde
vernichtet wurde! Und wahrlich stand zu befürchten, daß dies geschehen könnte. Denn dieser Menschensohn trug es in sich, die Menschheit zu einen im Glauben an Gott und ein Reich in Seinem Namen zu begründen. Die Gefahr zu beseitigen, noch ehe sie recht erwuchs, dies war meine Absicht. Und Herodes sollte mein Werkzeug sein.
* Die Ungewißheit nagte in Herodes dem Großen wie eine hungrige Ratte, und tatsächlich schien sie an seiner Substanz zu zehren, von der seines Körpers ebenso wie von der seines Geistes. Er verfiel zusehends, und die Suche nach jenem verheißenen neuen König geriet ihm alsbald zur Besessenheit, von der ihn weder Schriftgelehrte noch Hohepriester zu befreien vermochten, denn wen Herodes auch befragte und mit Nachforschung beauftragte, Antwort und Ergebnis mußten sie ihm alle schuldig bleiben. Als ich den Alten schließlich heimsuchte, aufmerksam geworden auf sein wahnhaftes Trachten, den Verheißenen aufzuspüren, schien er mir nur noch wie das Wrack eines Menschen, dürr und zitternd, in den Augen den Glanz eines Fiebers, für das keine irdische Arznei geschaffen war. Wohl lag es daran, daß er meinen Auftritt hinnahm, ohne sich darüber zu erregen. Im Gegenteil schien es mir sogar, als habe er mich herbeigesehnt, nachdem niemand sonst ihm hatte helfen können. Vielleicht wußte oder ahnte er gar, wer und was ich wirklich war, obschon ich in der harmlosen Maskerade eines Jedermanns auftrat. Nun, daß meine »Mutter« ein Stück Vieh gewesen war, dessen Schoß ich in ganzer Mannesblüte entschlüpft war, sah man mir jedenfalls nicht an … Allein traf ich ihn in mittlerer Nacht in seinen Gemächern. Die
Wachen vor der Tür wußten nichts von meiner Gegenwart. Wie auch? Hatte ich die Tür doch nicht benutzt, ebenso wenig das Fenster des Raumes … ZZZUUUWWW! Wie in zähem Schlamm steckend, so langsam wandte sich Herodes nach mir um. Nackt stand er da, wohl bereit, sich zur Ruhe zu legen, die er nicht finden würde, so wenig wie er sie in den Nächten seit seinem Gespräch mit den Dreien aus dem Morgenland je wieder gefunden hatte. »Wer …?« begann er, besann sich dann aber anders und fragte: »Was willst du?« »Euch helfen«, sagte ich nur. Offenbar wußte er sogleich, wovon ich sprach. Denn er erwiderte: »Wie könntest du mir helfen, Fremder? Wo mir doch die Klügsten und Gelehrtesten nicht helfen konnten?« Ich lächelte knapp, so kalt aber, daß es den nackten Alten tatsächlich schauderte. Eine Gänsehaut überlief seinen mageren Körper. »Vielleicht bedarf es weder klugen noch gelehrten Verstandes, um Euch dienlich zu sein«, gab ich zurück, »sondern eines ganz und gar anderen?« Nur für die Dauer eines Lidschlags ließ ich Herodes eines meiner wahren Gesichter schauen; lange genug jedoch, daß er es sah und nie wieder vergaß – – und voll Ehrfurcht auf die knochigen Knie niedersank. »Du … Ihr wollt mir helfen?« stieß er atemlos hervor. »Wie komme ich zu diesem Glück?« Seine Augen verloren ihren Glanz nicht, doch der war mit einemmal von anderer Art; nicht länger der eines im Geiste Erkrankten, sondern von solcher Qualität, wie ich sie schon oft gesehen hatte – und noch öfter zu sehen wünschte. Ergebenheit spiegelte dieser Glanz wider, und fanatische Begeisterung. Wäre meinem Wirken doch stets so leichter Erfolg beschieden …
»Steh auf«, sagte ich, »dann sollst du es erfahren.« Herodes erhob sich. »Was also kann ich tun, um endlich Gewißheit zu erlangen, was diesen neugeborenen König anbelangt?« fragte er drängend. Wieder lächelte ich. »Du tust mir einen Gefallen und löst damit zugleich dein Problem.« »Wie soll das angehen?« Ich verriet es ihm, sagte ihm, was er seinen Soldaten befehlen sollte. Herodes’ Züge entgleisten für einen Moment. Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben über das, was ich von ihm verlangte. »Das –«, entfuhr es ihm, »– ist ungeheuerlich! Wie könnte ich einen solchen Befehl geben?« Ich zuckte die Schultern. »Dann laß es bleiben und lebe fort in Unruhe.« Ich wandte mich um, doch seine Stimme hielt mich zurück. »Halt! Wartet! Ihr … Vielleicht habt Ihr recht. Ja, sicher sogar. Euer Vorschlag scheint mir der einzig richtige, um zu verhindern, daß dieser neue König – ob es ihn nun gibt oder nicht – mir meinen Thron streitig macht.« »Und du erhältst im Gegenzug etwas von mir«, sagte ich. »Niemand, der mir einen Gefallen tut, geht leer aus.« »Was wollt Ihr mir geben?« fragte Herodes überrascht. »Die Sicherheit, daß dein Reich Palästina niemals in die Hand eines anderen Königs fallen wird.« Herodes lächelte auf eine Weise, die mir selbst zur Ehre gereicht hätte. Er streckte mir die Hand hin. »Unser Handel gilt. Im Morgengrauen schicke ich meine Truppen los.« Ich schlug ein und besiegelte unseren Pakt.
*
In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen … Matthäus, Kap 2, Vers 18 Ich ritt mit den Soldaten, die Herodes ausschickte. Obwohl keiner mich vom Angesicht kannte, stellte niemand Fragen nach dem Grund meines Beiseins. Denn jeder schien zu spüren, daß es besser war, mich stillschweigend zu akzeptieren oder gar zu ignorieren. Überdies kümmerte es die Männer wohl wenig; ihr blutiges Tun nahm sie ganz gefangen und ließ in ihren Köpfen nur Entsetzen zu. Die Truppen fielen in die Dörfer und Höfe zwischen Jerusalem und dem kleinen Ort Bethlehem ein, denn dies war die Richtung, in welche die drei Perser mitsamt ihres Trosses gezogen waren. Das wenigstens hatte Herodes in Erfahrung bringen können. Jenseits von Bethlehem hatte man sie nicht mehr gesehen, also lag nahe, daß sie spätestens dort gefunden hatten, wonach sie suchten – wenn sie denn überhaupt fündig geworden waren … Ich schloß mich jenem Trupp an, der Bethlehem selbst heimsuchte, etwas wie einem Instinkt folgend. Sowie die Alte Rasse meine Präsenz zu wittern vermochte und als Gestank empfand, der jeden Vampir zur Flucht trieb, konnte ich dieses Kind spüren. Lokalisieren indes konnte ich es nicht. Es war, als läge etwas zwischen ihm und mir – ein Mensch hätte wohl gemeint, jemand oder etwas hielte seine schützende Hand darüber … Kein Haus, keine Hütte verschonten die Männer des Herodes. Obschon sie es nicht mit Gleichmut oder gar Freude taten. Meine bloße Gegenwart aber verbat ihnen jedes Zögern und alle Gnade. Und ich weidete mich an ihrem Grauen und Entsetzen wie ein Lamm auf grüner Aue. Ebenso wie an den Schreien und Wehklagen, die wie heulender Wind durch die Gassen Bethlehems fuhren. Kein Kind, das jünger war als zwei Jahre, überlebte diesen Tag. Dies war mein Plan gewesen, um die mir erwachsende Gefahr schon
im Keim zu ersticken. Und so mancher Vater, der den Tod seines Sohnes rächen wollte, büßte den Versuch gleichfalls mit dem Leben, wie auch manche Mutter im Tod Erlösung suchte von dem Schmerz, den die Soldaten des Königs ihr beigebracht hatten. Qual und Schmerz, Angst und Schrecken, all dies gereichte mir zwar zum Wohlgefallen; Zufriedenheit aber erlangte ich nicht. Denn als auch das letzte Kind in den Dörfern um Bethlehem gefunden und getötet war, wußte ich, daß das eine nicht darunter gewesen war. Ich vermochte sein Leben noch zu spüren, ganz so, wie die Mörderhorde auf ewig die kalte Hand des Entsetzens und der Sünde ums Herz spüren würde …
* Zwischenspiel Es war, als verblasse die Welt um Lilith Eden her. Die Vergangenheit entließ sie zurück in die Gegenwart, und die Wände des Felsendoms tauchten ringsum wie aus Nebeln auf. Atemlose Stille umfing die Halbvampirin. »Wozu all dieser Aufwand?« fragte sie schließlich, als das Schweigen so tief wurde, daß sie kaum mehr Luft zu bekommen fürchtete. »Ich meine, warum hast du all diese Menschen für deine Zwecke eingespannt, anstatt es selbst zu tun?« »Du verstehst noch immer nichts.« Gabriel lachte. »Mir liegt nicht daran, selbst Übles zu vollbringen«, erklärte er dann. »Die Menschen sollen in meinem Sinne handeln und sich verderben. Nur das ist der Grund, aus dem ich unter sie komme. Sie sollen Träger des Bösen sein und es weitergeben an ihren Nächsten und vererben von einer Generation zur anderen. So war es zu jeder Zeit, und so sollte es sein, bis –«
»– bis?« fragte Lilith, als der Teuflische innehielt. »Bis zum Jüngsten Tage – vielleicht.« Gabriel lächelte geheimnisvoll und grausam in einem. »Was geschah mit Herodes?« wechselte Lilith das Thema. Was Gabriel erzählt hatte, interessierte sie mehr, als sie es sich selbst gegenüber eingestanden hätte. »Du hattest ihm ewiges Leben versprochen –« »Oh, hatte ich das?« tat der Inkarnierte erstaunt. »Nun, Herodes schien mich ebenso mißverstanden zu haben …« »Hattest du ihm nicht versprochen, daß sein Reich nie in die Hände eines anderen Königs fallen würde? Bedeutet das nicht –« »Ich hielt mein Wort«, unterbrach Gabriel. »Kein anderer König regierte Palästina nach Herodes dem Großen – denn sein Reich wurde auf Geheiß des Kaisers Augustus, dessen Berater freilich ich war, unter den Söhnen des Herodes aufgeteilt, die nicht mehr Könige, sondern nur noch Fürsten waren.« »Und Herodes ließ sich das gefallen?« Gabriel verzog die Lippen zu einem mokanten Lächeln. »Nun, er protestierte und meinte mich zur Rechenschaft ziehen zu können. Woraufhin ich ihn mit mir nahm …« »Du bist also zurückgekehrt in deine Gefilde«, meinte Lilith, »womit dein Wirken in jener Zeit vorüber war. Der Rest dieser Geschichte ist ja hinlänglich bekannt.« »Glaubst du!« »Etwa nicht?« »Vergiß nicht, daß ich in Dreigestalt in jene Zeit kam, wie in jede andere, der perfekte Gegenpol zur Dreifaltigkeit. Und kein Teil meiner Dreigestalt unterschied sich vom anderen. Ich war in jedem davon ich; die Spaltung des geborenen Körpers betraf weder Geist noch Macht.« »Das heißt also, daß du damals noch immer zweifach auf Erden warst?« Lilith ahnte, daß ungeheuerliche Wahrheiten noch unter
dem Deckmantel vermeintlich korrekter Geschichtsschreibung lauerten, und daß der wahre Kern vieler Legenden dieser Welt noch unbekannt war. »So ist es«, nickte Gabriel. »Und meine Jagd auf den Christenkönig hatte gerade erst begonnen …«
* Nach Christi Geburt Jahre gingen ins Land, in denen im Volke zwar hie und da von einem verheißenen Heiland die Rede war, allein er selbst trat nicht in Erscheinung, und niemand wußte, ob er bloßes Wort oder schon wirklich war. Niemand – außer mir! Ich konnte ihn noch immer spüren, ihn riechen und schmecken, als vergifte sein nackter Fuß das Land für meine Sinne, wo immer er ihn hinsetzte. Dann aber mehrten sich die Zeichen seines Hierseins. Die Stimmen, die von ihm sprachen, wurden lauter, und ihre Worte zogen weitere Kreise. Von einem Mann redeten sie, der, wohin er auch kam, Gottes Wort verkündete, auf eindringlichere Weise als jeder Prediger vor ihm, und der bleibenden Eindruck hinterließ, so daß niemand ihn je wieder vergaß, der ihn einmal gesehen hatte, und ebenso blieben seine Reden in steter Erinnerung. Bald schon entwickelten die Geschichten um ihn rechtes Eigenleben. Wer sie auch erzählte, schien sich befleißigt zu fühlen, sie länger und anschaulicher darzustellen. Wahre Wunderdinge wurden berichtet von diesem Mann, den sie Jesus von Nazareth oder auch schlicht »den Nazarener« hießen. Ich gestehe, daß mit der Zeit nicht nur Haß meine Triebfeder war, die mich ihn verfolgen ließ. Etwas anderes kam noch hinzu – Neu-
gierde auf diesen Mann! Der Wunsch, zu erfahren, was er für ein Mensch war, welche Natur sich hinter dem Gesicht jenes Messias verbarg. Denn vielleicht, so meinte ich, waren wir einander gar ähnlich … Die Fährte eines solchen Mannes aufzunehmen, von dem bald jeder Schritt bekannt war, sollte mir ein Leichtes sein – dachte ich! Aber wie nahe ich ihm auch kam, stets geriet ich von seiner Spur ab, ehe ich ihn wirklich erreichte. Als würde ich fehlgeleitet durch falsche Eingaben. So kam ich nicht umhin, einen neuen Plan zu ersinnen. Und das tat ich. Wenn ich nicht zum Menschensohn kommen konnte, so sollte er eben zu mir kommen. Ich mußte ihm nur einen Grund dafür geben. Ihn neugierig machen auf einen Fremden, der gleichfalls durch die Provinzen des einstigen Palästinas wanderte und das Volk in seinen Bann zog, indem er es glauben machte, er selbst sei jener Messias … … und mir bereitete es keine Mühen, wirkliche Wunder vor aller Augen zu wirken! Denn ich war eben nicht nur eines Menschen Sohn. Meine Macht lag jenseits menschlicher Vorstellungskraft und war das, was auf Erden Magie und Zauberkraft hieß.
* Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Matthäus, Kap 4, Vers 1 Die Bewohner des Dorfes am Ufer des Jordans behandelten mich wie einen König. Sie bewirteten mich mit feinsten Speisen und ließen es mir auch sonst an nichts mangeln, denn der Fleischeslust etwa war ich durchaus nicht abgeneigt. Und so brachten die schöns-
ten Töchter des Dorfes ihre Nächte in meinem Hause zu, das ihre Alten mir in Demut und Ehrfurcht überlassen hatten, nachdem ich ihnen gezeigt hatte, was zu tun ich imstande war: Aus knochenhartem Boden waren die prächtigsten Blumen gewachsen, und die fettesten Fische sprangen den Männern geradezu in die Netze, als könnten sie es kaum erwarten, gebraten zu werden. Daß ich ihre Augen und ihren Geist nur täuschte, das ahnten diese Menschen freilich nicht. Sie sahen und glaubten, was ich sie sehen und glauben ließ. Neben all dem wuchs Zwietracht im Dorf; ich war nun eben der Sämann des Bösen, und auch wenn ich in dieser Zeit in anderer Mission zugange war, so konnte ich meine Natur doch nicht ablegen. So kam es also, daß der eine dem Nachbarn neidete, was er selbst nicht sein eigen nennen konnte, und ich ermutigte jeden, doch zu nehmen, was er wollte, und die Bestohlenen trieb ich an, ihr Hab und Gut zurückzufordern um jeden Preis, und sei es der des anderen Lebens. Gut gediehen auch Gerüchte und Lügen in diesem Dorf, und es gefiel mir, eine Weile lang zu beobachten, was bloße Worte und Respekt anzurichten vermochten. Kurzum, fast fand ich Gefallen daran, nur Mensch und König zu sein. Doch war dies nicht Sinn und Zweck meines Hierseins, und ich überlegte schon, ob ich nicht weiterziehen sollte, um meinen Ruf zu mehren – – bis er doch ins Dorf kam. Endlich! Ich war nicht Augenzeuge seiner Ankunft, aber ich empfing sie – es war, als ginge ein Aufatmen durch das Dorf; ein lautloses Seufzen der Erleichterung, unhörbar, aber zu spüren wie eine kühle Brise an drückend heißem Tage. Und selbst ich schauderte, wenn auch nur für einen winzigen, aber nichtsdestotrotz fürchterlichen Moment … »Was ist mit Euch, Herr? Habe ich etwas Falsches getan?« Die Frage kam zitternd über die vollen Lippen des Mädchens,
während Angst sich in ihren großen Augen zeigte. Ich löste ihre Finger von mir. »Geh!« herrschte ich sie an. »Verschwinde, sofort.« »Herr, ich –« Ihre Stimme war furchtvolles Flehen. »Laß mich in Ruhe!« Ihre Beine schienen kaum noch die Kraft zu haben, sie zu tragen, so langsam kam sie endlich meinem Wunsche nach. Noch fast nackt verschwand sie schließlich. Ich verließ das Haus nach ihr und hielt Ausschau nach ihm, ohne ihn jedoch unter all denen, die den Platz in der Dorfmitte bevölkerten, zu entdecken. Tatsächlich war der Anblick ganz so wie an jedem anderen Tag, und nichts wies darauf hin, daß dies der Tag war, auf den ich so lange hingewirkt hatte. Sollte ich mich getäuscht haben? Hatte ich meine eigentliche Aufgabe etwa so lange vernachlässigt, daß ich wirklich menschlich zu werden begann, mit all den Unzulänglichkeiten, die ein solches Dasein bedeutete? Waren mir Unruhe und Ungeduld nicht länger fremd? Nein! Er war gekommen. Und ich hatte ihn nur deshalb nicht unter den anderen erkannt, weil er war wie sie – ein Mensch eben. Die Zielstrebigkeit aber, mit der er auf mich zukam, ließ keinen Zweifel daran, daß ich es war, den er suchte. Wie mochte er meine Gegenwart empfinden? So wie ich die seine? Als Witterung, der ich nicht bis zur Quelle zu folgen vermocht hatte? Oder sah er mich anders, konnte er durch meine Maske hindurchsehen und mein wahres Wesen erkennen? Er ist nur ein Mensch! mahnte ich mich; aber allein die Tatsache, daß ich mich solcherart beruhigen mußte, schürte die Selbstzweifel in mir – und ließ mich fürchten, nicht mehr zu sein als er. Ähnlich waren wir uns aber in jedem Falle! Ich selbst konnte spüren, daß sein Auftreten auf die Menschen in gleicher Weise wirkte wie das meine. Etwas umgab ihn einer Aura
gleich, die ihm Gehör verschaffen mußte, wann immer er es wollte, und die jeglichen Zweifel an seinen Worten erstickte, noch bevor er auch nur keimen konnte. Eines unterschied uns aber – sein Lächeln wirkte so unbefangen, daß es jeden für ihn einnehmen mußte, meinem dagegen war dieser Effekt nur vordergründig beschieden; dahinter indes lauerte etwas, das die Menschen nicht gewann, sondern lähmte und ihren Willen gefrieren ließ. Er aber, das wußte ich, vermochte den Geist eines jeden Menschen zu öffnen – für sich und seinen Willen. Er war einer, wie er nur einmal unter einer Million oder Milliarde geboren wird – und mochte es Männer seiner Qualität auch vor und nach ihm gegeben haben, so waren sie ihm doch nicht gleich, denn was immer seinen Schutz über ihn gelegt hatte, es hatte einzig ihn auserwählt. Und doch war er nur ein Mensch … Ich lächelte ihm entgegen, und mein Lächeln ließ ihn innehalten. Kaum merklich nur, aber es genügte, um mich jeden zweifelnden Gedanken vergessen zu lassen. Er war mir nicht überlegen – Es genügt, wenn er dir ebenbürtig ist, flüsterte es in mir, als hätte sich die Furcht von meinem Ich abgespalten, um eine eigene Stimme zu erhalten. Der junge Mann kam weiter auf mich zu. Aus der Nähe besehen wirkte er nicht wie einer, der zum König ganzer Völker berufen war. Haar und Haut waren schmutzig vom Staub seiner Wanderung, ebenso sein Gewand, das die Farbe des Sandes angenommen hatte. »Du also bist der Nazarener«, sagte ich. »Und du jener, der meinen Namen führt«, erwiderte er. Seine Gelassenheit war die eines Alten, und unbekümmert schien er mir wie ein Kind. Ich hob einhaltend die Hand. »Das habe ich nicht getan. Die Menschen hielten mich für dich –« »Und du hast ihnen nicht widersprochen.«
»Hätten wir uns sonst getroffen?« fragte ich. »Wer weiß?« erwiderte er mit einem Lächeln, so rätselhaft, daß ich es nicht zu durchschauen vermochte. »Aus welchem Grund liegt dir so an unserer Begegnung, daß du all diese Anstrengungen unternommen hast, um auf dich aufmerksam zu machen?« »Weil ich wissen wollte, was du für ein Mann bist, daß die Menschen dich für einen Heilsbringer halten.« »Ich bin nur einer von ihnen«, entgegnete er in echter Bescheidenheit, und fast klang es so, als könne er seinen besonderen Ruf selbst nicht ganz verstehen. »Sie halten dich für einen König«, erinnerte ich. »Sieht so ein König aus?« Er wies an sich herab. »Keiner von der Art, wie man sie bislang kannte«, gab ich zurück. »Und sollte ein König nicht über ein Reich gebieten?« fragte er weiter. »Wo soll es sein – mein Reich?« Er ließ den Blick nach allen Seiten schweifen. Ich wandte mich um und gab ihm einen Wink. »Komm herein«, sagte ich und wies in mein Haus. Er kam meiner Einladung nach, ich folgte ihm – – aber es war nicht länger mein Haus, was wir betraten … »Wo sind wir?« fragte mein Gast. Und ich hieß ihn willkommen: »Bei mir!«
* Um uns her war alles wüst und öd. Die Ebene begann irgendwo und endete nirgends. Unsichtbare Hände warfen Staub in die Höhe, der uns wie schwacher Nebel umhüllte. Meine Worte wehten als unmögliche Echos umher. Bei mir … bei mir … bei mir … »Bei dir?« Als der Nazarener seine Stimme erhob, erstarben die wispernden Echos abrupt. »Was heißt das?« wollte er wissen.
»Dies ist –«, antwortete ich, zögerte aber, weil es das wirklich passende Wort, nach dem ich suchte, nicht gab; also sagte ich, »-der Ort, von dem ich stamme.« »Deine Heimat?« »So könnte man sagen. Und zugleich die Quelle meiner Kraft und meines Geistes.« »Aber … wo liegt dieser Ort? Und wie sind wir hier hergelangt?« Der Nazarener drehte sich um die eigene Achse, sah in jede Richtung, ohne auch nur den Schatten meines Hauses zu entdecken. Wie auch? Es war nicht von dieser – Welt … »Komm, laß uns gehen«, forderte ich ihn auf und schritt selbst schon los. »Wohin?« rief er, noch ohne mir zu folgen. »Ich zeige dir, was dieser Ort für dich hat.« »Für mich? Was soll das sein?« »Ein Königreich … vielleicht.« Endlich kam er mir nach. Aber ich spürte, daß er weit davon entfernt war, mir zu erliegen.
* … und er war in der Wüste vierzig Tage und wurde versucht von dem Satan … Markus, Kap 1, Vers 13 Zeit war ohne Bedeutung, wo wir waren. Für mich jedenfalls. Dem Menschensohn aber mußte es vorkommen, als wanderten wir schon seit Tagen durch die staubige Wüste, in der nichts existierte, das eine Schätzung von Entfernung ermöglicht hätte. Alles schien endlos, es gab weder hell noch dunkel, und ich hielt nicht einmal an. Fast bewunderte ich meinen Begleiter für seine Ausdauer, obwohl
ich sah, wie Hunger und Durst ihn quälten. Aber kein Wort der Klage kam aus seinem Munde. Nur Fragen, auf die ich ihm Antworten gab, die ebensogut unausgesprochen hätten bleiben können, weil sie nichts verrieten. Hätte ich ihm denn sagen sollen, wo wir wirklich waren? Daß ich ihn geradewegs durch die Hölle führte? Durch eine jener Unzahl von Welten, die Luzifer in der Einsamkeit der Verbannung ersonnen, denen er kraft seines Geistes Gestalt gegeben hatte und die nur ein Gedanke voneinander trennte – – einen Teufel würde ich tun! Schließlich hatte ich ihn aus ganz bestimmtem Grunde hier hergelotst. Ich leitete den Nazarener so lange durch die Wüstenei, bis er kaum noch die Kraft aufbrachte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Trotzdem zeigte er weder Erleichterung noch Dankbarkeit, als ich endlich anhielt und mich niederließ. Wortlos nahm er neben mir Platz. »Hunger?« fragte ich. »Natürlich.« Seine Stimme war rauh. Meine Hand tauchte in den Staub und förderte einen Stein zutage. »Hier«, sagte ich und reichte ihm den Stein. »Nimm das Brot.« Mein Blick fing den seinen ein. Doch er verfing nicht … Der Nazarener schüttelte den Kopf und lächelte. »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein«, sagte er, »sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« »Weise Worte«, meinte ich. »Ob sie aber auch klug sind?« Ich zuckte die Schultern – und biß ein Stück von dem Stein ab, den anderen nicht aus den Augen lassend. Er verzog keine Miene, zeigte weder Erstaunen noch ein Anzeichen, mein Angebot insgeheim doch annehmen zu wollen. So blieb ich selbst darüber im unklaren, ob meine Täuschung gelungen war; die Versuchung jedenfalls war sozusagen im Sande verlaufen …
Nun, es war mir gleich. Mit diesem Versuch hatte ich ihn ohnedies nur ködern wollen, eine kleine Demonstration meiner Macht hatte es sein sollen, nicht mehr. Den wahren Grund, aus dem ich ihn die Hölle sehen ließ, erreichten wir nach weiterem langen Fußmarsch. Die Wüste endete nicht, sie wich, verschwand einfach – – und an ihrer Stelle erwuchs eine Stadt, für die jeder irdische König mit Freuden sein Reich gegeben hätte.
* Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Matthäus, Kap 4, Vers 9 Die Bauten der Stadt waren aus edelstem Stein, und die seltensten Metalle zierten sie. Ihre Türme ragten so hoch, daß sie den pastellfarbenen Himmel berührten. Sphärenklänge umwehten sie wie der Gesang eines unsichtbaren Chores. Und ihre Größe war nicht zu ermessen. Diese Stadt war eine Welt für sich. Eine weitere unter so vielen, daß die Ewigkeit nicht reichte, sie zu zählen. Ihre Bewohner waren samt und sonders von schönster Gestalt. Feingliedrig und schlank, und auf einen Menschen aus der Zeit und dem Land des Nazareners mußten sie geradezu exotisch wirken. Dennoch zeigte er sich nicht in dem Maße beeindruckt, wie ich es erwartet hätte. Er kam mir vor wie jemand, den ich in dessen Traum besuchte und der jede Absonderlichkeit hinnahm, weil er im Stillen wußte, daß er nur träumte. Nun, wenn dem so war, dann war es an der Zeit, den Menschensohn aus seinem Traum zu wecken … »Wie heißt diese Stadt?« fragte er, während er ein paar Schritte die
Straße hinabging, in der wir uns wiedergefunden hatten, kaum daß die Wüste um uns her verblaßt war. »Sie hat noch keinen Namen«, sagte ich. »Wer sie regiert, soll sie nennen, wie es ihm gefällt.« »Wer regiert sie?« Ich schwieg und lächelte nur. Dann faßte ich den Nazarener am Arm. »Komm, sehen wir uns die Herrlichkeiten dieser Stadt an.« Er nickte. »In der Tat, herrlich ist sie. Aber doch auch leer und tot, wie mir scheint.« Ich zog die Stirn kraus. »Wie kannst du das sagen? Sieh dich nur um – grüßt dich nicht jede Frau und jeder Mann hier? Lächeln sie nicht, als sei ihr Leben hier die reinste Wonne?« Er hob die Schultern. »Nur hohle Gesten«, meinte er. »Was aber ist der Sinn ihres Lebens? Ich kann nichts spüren, was Freude verhieße in dieser Stadt. So wie sie keinen Namen hat, scheint sie auch nichts zu haben, wofür es sich zu leben lohnt.« Ich führte ihn tiefer hinein in die Stadt, vorbei an palastartigen Bauten, über weite Plätze. Zu Hunderten kreuzten Bewohner der Stadt unseren Weg, und jeder einzelne schenkte uns sein Lächeln. Wie konnte ein Mensch, der als Sohn eines einfachen Zimmermanns aufgewachsen war, sich nicht erwärmen für dieses Ambiente? Wir stiegen auf einen der höchsten Türme der Stadt. Oben angelangt, lag uns buchstäblich alles zu Füßen – eine ganze Welt … »Gib du dieser Stadt etwas, für das es sich zu leben lohnt«, griff ich den Faden von vorhin wieder auf. Der Nazarener sah mich überrascht an. Dann schüttelte er den Kopf. »Wie könnte ich das?« fragte er. »Ich bin nur ein Mensch.« »Das bist du nicht, und du weißt es so gut wie ich.« »Dann weißt du mehr als ich.«
Es klang so … ehrlich, was er sagte, so tief empfunden. Und ich wußte in diesem Augenblick mehr denn zuvor, weshalb die Menschen ihm alle Aufmerksamkeit schenkten, warum sie jedes Wort von ihm förmlich tranken und verinnerlichten. Der Nazarener war schiere Überzeugung und fleischgewordene Wahrhaftigkeit. Und so glaubte ich ihm, daß er wirklich nicht wußte, wer er war und wozu er berufen war. Was in mir jedoch keineswegs die Bereitschaft weckte, ihm zu verzeihen! Solches war mir fremd – nur Zorn wallte in mir ob seiner Unwissenheit. Und ich wollte ihm die Augen öffnen, auf daß er seine Wahrheit sah – bevor ich ihm die meine zeigte … »So will ich mein Wissen mit dir teilen«, sagte ich kalt. Mein Blick schweifte über die Stadt, und wo er sie traf, veränderte sie ihr Gesicht. Aus strahlendem Glanz wurde dunkler Verfall, die engelhaften Chöre brüllten mit einemmal vor Wut und Pein, und aus den Straßen stieg übler Brodem zu uns herauf. Der Boden unter unseren Füßen begann zu wanken, der Stein zu knirschen, und der Turm selbst ächzte wie vor Schwäche – – ehe er zusammenbrach und seine Trümmer uns nach unten rissen!
* Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; Er wird seinen Engeln deinetwegen Befehl geben, und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einem Stein stößt. Matthäus, Kap 4, Vers 6 Mir selbst konnten die niederstürzenden Trümmer nichts anhaben. Kaum kamen sie mir nahe, verwandelten sie sich in flüssige Glut, so heiß, daß sie verdampften und nur ätzenden Geruch hinterließ.
Im eigenen Sturz beobachtete ich den Nazarener. Und staunte, denn die Angst in seinen Zügen war ohne Zweifel echt! So wie er gebärdete sich niemand, der wußte, daß ihm kein Leid geschehen konnte – nicht jemand, der die Macht besaß, sich vor dem Unbill aller Welten zu schützen! Sollte ich mich derart in ihm getäuscht haben? Bedeutete sein Name Menschensohn wirklich nicht mehr, als daß er nur und nichts als der Sohn eines Menschen war? Stand er am Ende nicht im Dienste des Verhaßten, sondern predigte er lediglich dessen Wort so eindringlich, wie es keiner vor ihm getan hatte? Jedenfalls tat dieser Nazarener nichts, was ihm zur Rettung gereicht hätte. Steine schlugen im Fall gegen seinen haltlos wirbelnden Leib, Blut floß, und sein Schrei hing ihm an wie ein Geist, der mit ihm in die Tiefe stürzte. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, ihn ins Bodenlose stürzen zu lassen. Endlos hätte sein Fall sein können, ewig. Aber ich erlegte ihm eine weitere Prüfung auf, versuchte sein wahres Wesen von neuem hervorzulocken – einen Beweis wollte ich, der mir zeigte, daß er der war, für den ich ihn hielt. Und so ließ ich ihn endlich in tiefem Staub aufschlagen. Fast versank er darin, trotzdem konnte ich hören, wie der Aufprall ihn schmerzte. Staub stieg in Wolken auf und verwehrte mir die Sicht auf den Nazarener – und ihm auf das, was ich herbeirief und um ihn her entfesselte … Als der Staub sich schließlich senkte, lag der Menschensohn noch immer am Boden, schweratmend und hustend. Als er dann den Kopf endlich hob, sah er sich inmitten eines weiten, sandgefüllten Rundes, das von hohen Mauern wie aus erstarrter Lava umgrenzt war. Darüber reihten sich steinerne Bänke aneinander, stufenartig ansteigend, so weit das Auge reichte, und jeder Platz war besetzt von Verdammten, die in dieser Hölle schmorten. Für all dies aber hatte der Nazarener nur einen flüchtigen Blick.
Denn seine Aufmerksamkeit fesselte, was mit ihm in der Arena war – – Kreaturen, die man auf Erden Monstren genannt hätte!
* Keine der dämonischen Bestien sah der anderen gleich. Manche ähnelten zwar einem Raubtier, doch ihre Schädel unterschieden sie voneinander. Andere hatten geschuppte Leiber oder peitschende Schwänze, deren Kraft allein reichte, einen Mann zu erschlagen. Zähnestarrende Mäuler wurden aufgerissen, stinkender Brodem erfüllte die Arena, und in den Ohren schmerzendes Brüllen donnerte dem Nazarener entgegen. Noch lauter aber war das Geschrei der Menge, deren Verdammnis es war, auf ewig um diese Arena zu sitzen, um die grausamsten Spiele mitanzusehen. Die Ungeheuer machten noch keine Anstalten, den Nazarener anzugehen. Sie warteten – auf meinen Befehl. Und ich genoß es noch, ihn zu beobachten, mich an seinem Unverständnis zu weiden. Bis er mich über die Distanz hinweg in den Rängen ausmachte. Unsere Blicke trafen sich, und mir war, als verändere sich etwas in dem seinen. Das Flackern wich aus seinen Augen, Ruhe überkam ihn, und der Schmerz seines vom Sturz geschundenen Leibes schien ihm nicht länger bewußt zu sein. Ich nickte, und er mochte meinen, die Geste gelte ihm. Tatsächlich aber war sie den monströsen Kreaturen bestimmt – – und sie griffen den Nazarener an! Das Publikum brüllte auf – nicht vor Vergnügen, wie in den Arenen der Menschenwelt, sondern vor Entsetzen. Weil sie wußten, was kommen würde, weil sie es tausendmal und öfter schon hatten mitansehen müssen. Der Nazarener war flink und geschickt, anders als ich es von einem Mann, dessen Stärke das Wort war, erwartet hätte. Er wich
schlagenden Pranken aus und entging zuschnappenden Fängen. Dennoch, er stand den Monstren nur mit bloßen Händen gegenüber, und seine Kräfte mußten irgendwann erlahmen. Meine Stimme übertönte das Schreien des Publikums auf einem Wege, der nur den Nazarener erreichte. »Besinne dich deiner wahren Stärke«, forderte ich ihn auf. »Zeig mir, wer du wirklich bist. Nur dann wirst du bestehen!« Gehetzt sah er in meine Richtung. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst!« rief er keuchend. »Bist du der Sohn Gottes?« Meine Frage brauste wie Sturm um seinen Kopf. »Jeder Mensch ist ein Kind Gottes«, antwortete er. »Und nicht mehr bin ich.« »Dann rufe Ihn, deinen Gott!« »Gott hilft mir, wenn Er es bestimmt.« Ich lachte gehässig. »Es scheint, als habe Er kein Auge auf dich. Dein Gott hat dich verlassen!« »Niemals!« »Bitte mich um Hilfe, und ich werde dir helfen«, bot ich ihm an. »Bete mich an, und ich werde dein neuer Gott sein!« Der Nazarener schwieg. Er stand starr und sah zu mir herauf. Was um ihn herum vorging, schien ihm nicht länger von Interesse. Vollkommen ruhig klang seine Stimme, als er sagte: »Nein. Eher sterbe ich, als daß ich meinem Herrn abschwören würde.« »Wie du willst.«
* Sie zerrissen den Nazarener nicht, sie verletzten ihn noch nicht einmal ernsthaft. Aber sie schlugen ihn wieder und wieder zu Boden und schürten seinen Schmerz mit Zähnen und Klauen. Doch seine Lippen schienen wie versiegelt; kein Ton kam ihm darüber.
»Wie lange noch?« fragte ich ihn. »Willst du dein Leben lassen deines Glauben wegen?« »Himmlischer Vater, hilf mir«, stöhnte er leise. »Falsche Antwort«, gab ich bedauernd zurück. Ein riesiges Monster bäumte sich über dem Nazarener auf. Krallen von der Länge eines menschlichen Unterarms wurden gespreizt – und fuhren nieder! Sie sollten ihm das Herz in der Brust zerfetzen – – statt dessen aber flog die Pranke fort, einen zähen Schwall schwarzen Blutes nach sich ziehend! Etwas wie eine Klinge aus Feuer hatte sie der Kreatur vom Gelenk getrennt! Das flammende Schwert war gleichsam aus dem Nichts gekommen, und mit ihr jene Gestalt, die es in beiden Fäusten hielt und schon von neuem gegen die bestialische Horde schwang. Es war ein Mann, zweifelsohne, wenn auch seine Konturen unscharf waren und sein Leib durchscheinend wie gefärbtes Glas. Seine Züge waren verzerrt vor Anstrengung, und um so mehr erstaunte, ja, entsetzte mich die Kraft, mit der er auf die Kreaturen in der Arena eindrang. Das Brüllen sterbender Ungeheuer wurde im Tod zu Rufen der Erleichterung, als die Kreaturen erlöst von ihrem Dasein niedersanken. So schnell ging alles vonstatten, daß nicht einmal ich zu reagieren vermochte. Dann kehrte Stille ein, die des Todes – und eine andere, in der etwas war, das mir Schmerzen bereitete und Schwäche in meinem allzu menschlichen Körper aufsteigen ließ. Der Fremde ließ die Waffe sinken und sah stumm zu mir herauf. Unsere Blicke begegneten sich, und jenseits seiner menschlichen Augen sah ich etwas, das mir vertraut schien – und verhaßt war, seit sie mich aus ihrer Sphäre verbannt und in die Verdammnis gezwungen hatten! Sie, die meine Brüder waren …
Ich nannte fragend den Namen, den ich für den des Mannes dort unten hielt, aber er blieb reglos. Schließlich beugte er sich zu dem Nazarener hinab, reichte ihm die Hand, und auch dessen Leib begann sich in etwas wie Glas zu verwandeln, wurde durchscheinend, und einen Lidschlag später waren beide verschwunden aus dieser Welt – – in der ich zu bleiben gezwungen war. Denn ich konnte die Hölle nur durch den Schoß eines Weibes verlassen, indem es mich in seine Welt gebar.
* Und als der Teufel alle Versuchungen vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang. Lukas, Kap 4, Vers 13 »Salvat?« Liliths Frage war nur ein Hauch. »Vielleicht …« Mehr ließ Gabriel sich über den ebenso geheimnisvollen wie übermächtigen Retter des Nazareners nicht entlocken. Lilith aber erinnerte sich des Mannes, der sich ihr mit diesem Namen vorgestellt hatte, nachdem sie durch das Höllentor im Kloster Monte Cargano in die Vergangenheit geraten und ihr Geist dort im Körper des Mädchens Lena aufgegangen war. Erst später, nachdem sie durch das Tor in die Gegenwart zurückgekehrt war, hatte Lilith erfahren, daß es sich bei Salvat, dem sie als Lena mehr als nur ihre Gunst geschenkt hatte, um einen leibhaftigen Engel handelte.* Gabriels Schritte hallten im Felsendom wider, während er seinen Weg entlang des achteckigen Gangs fortsetzte. Wie oft sie den Fels in der Mitte des Domes inzwischen umrundet hatten, wußte Lilith nicht zu sagen. Ihr war, als sei sie währenddessen gar nicht an die*siehe VAMPIRA T16 bis T25
sem Ort gewesen, sondern weit fort, in der Vergangenheit, tatsächlich Augenzeugin von all dem, was Gabriel so anschaulich zu schildern vermochte, wie kein Mensch es gekonnt hätte. Denn der Teuflische schien sich auf rätselhafte Weise nicht bloßer Worte zu bedienen; er spann das Garn seiner Geschichte zu einem Netz, das seine Zuhörerin gleichsam einfing. Lilith ging Gabriel nach, nicht sonderlich schnell, so daß sie weiter hinter ihm blieb. Ihre Stimme allerdings strich wispernd an den Wänden entlang und holte ihn ein. »Ist die Geschichte, soweit du darin verwickelt bist, damit zu Ende?« »Noch war eine Inkarnation meiner selbst in dieser Zeit verblieben«, antwortete Gabriel. »Was hat sie … hast du getan?« wollte Lilith wissen. »Ich mußte versuchen, den Schaden wieder gutzumachen.« »Welchen Schaden?« Der Satanische blieb stehen und wandte sich ruckartig um. »Verstehst du denn nicht, was ich angerichtet hatte?« Lilith antwortete nicht, ihr Blick war fragend. »Ich hatte dem Menschensohn erst eröffnet, wer er war, welche Bestimmung seiner harrte!« »Du meinst –?« setzte Lilith zögernd an. Gabriel nickte. »Ich, den die Menschen Satan nennen, bin schuld daran, daß Jesus Christus zu dem werden konnte, was er für die Menschen war! Meine Versuchung stärkte ihn und öffnete ihm erst die Augen für die Wahrheit.« Lilith verschloß ihren Geist vor dem furchtbaren Sinn, den Gabriels Worte machten. Sie befahl sich selbst, sich nur nüchternes Interesse an seiner Geschichte zu erlauben. »Was hast du unternommen?« fragte sie. »Ich wich von ihm«, sagte der Inkarnierte, »eine Zeitlang. Und ersann einen neuen Plan …«
* … Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Lukas, Kap 5, Vers 8 Vergangenheit Bartholomäus fürchtete fast um sein Leben! Dicht an dicht drängten sich die Menschen um ihn her, sie keilten ihn schier ein. Vom stundenlangen Ausharren in der Sonnenhitze waren ihre Gewänder schweißnaß, und der saure Gestank erschwerte Bartholomäus zusätzlich das Atmen. Er war aus dem gleichen Grunde zum Marktplatz gekommen wie alle anderen. Nur eines, dachte Bartholomäus schweren Herzens, unterschied ihn von der Menge: Er hatte ihn wohl als einziger nicht gesehen. Denn Bartholomäus war von kleiner, beinahe mädchenhafter Gestalt, und alle anderen überragten ihn um Haupteslänge. Keiner dachte daran, ihn einmal nach vorne durchzulassen, und mit Nachdruck darum zu bitten oder sich gar gewaltsam Durchlaß zu verschaffen … nun, dazu fehlte es ihm schlicht an Traute und Kraft. Hören aber konnte Bartholomäus ihn zumindest; jedes seiner Worte schien in der ganzen Stadt vernehmbar zu sein, und dem jungen Mann kam es vor, als spräche er ihm direkt ins Ohr. »Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon …«* Bartholomäus sog sie förmlich in sich auf, die Worte jenes Nazareners, von dem soviel die Rede war in dieser Zeit und überall im *Matthäus, Kap 13, Vers 24, 25
Land. In jedem einzelnen davon fand der Junge Trost, und nichts hatte er dringender nötig in seinem trostlosen Leben, das diesen Namen kaum mehr verdiente; nicht seit seine Mutter tot war und deren Bruder ihn in seinem Hause aufgenommen hatte … Bartholomäus ließ sich zu Boden sinken, weil die Atemnot so schlimm wurde, daß seine Beine ihn nicht länger trugen. Hier unten war die Luft nicht ganz so stickig, dafür aber voller Staub, den die Füße Hunderter von Menschen, die sich um den Nazarener scharten, aufwirbelten. Bartholomäus mußte niesen, und die Männer, die ihn unmittelbar umstanden, wichen wie im Reflex ein winziges Stück beiseite. Ein zaghaftes Lächeln erschien auf dem schmalen Gesicht des Jungen. Denn plötzlich sah er einen Weg, wie er den Nazarener doch noch zu Gesicht bekommen konnte – er brauchte nur bäuchlings zwischen den Beinen der Leute hindurchzukriechen! Das tat er denn auch, und nach etlichen derben Tritten, die ihm teils in Absicht, teils aus Versehen beigebracht wurden, erreichte er die vorderste Reihe der Zuhörerschaft und stemmte sich mit sandverklebtem Gesicht in die Höhe. Auf halbem Wege hielt er allerdings inne – verblüfft und … enttäuscht. Bartholomäus wußte nicht genau zu sagen, wie er sich den Nazarener vorgestellt hatte. Aber seine kräftige und zugleich wohltönende und warme Stimme hatte doch ein bestimmtes Bild in ihm heraufbeschworen. Jetzt aber, da er ihn sah, fand Bartholomäus, daß der andere … nun, ganz normal eben aussah, ein Mensch war wie viele andere. Was indes nichts daran änderte, daß der Junge sich noch immer von dessen Worten in Bann gezogen fühlte. Daß der Nazarener ihn ansprach, bemerkte Bartholomäus zunächst gar nicht. Erst als er sich von den Leuten links und rechts angestoßen und schließlich nach vorne geschoben fühlte, war es ihm, als erwache er aus einem Tagtraum.
Fast erschrocken sah sich Bartholomäus um. Er stand im Kreis jener Männer, die dafür sorgten, daß die Menge dem Nazarener nicht unmittelbar auf den Leib rückte. In ihrer Mitte wiederum saß er, einfach im Staub, mit untergeschlagenen Beinen, und er lächelte Bartholomäus freundlich zu. »Komm zu mir, junger Freund«, sagte er. »W-was wollt Ihr, Herr?« fragte Bartholomäus zögernd. Ihm war alles andere als wohl in seiner Haut. Er mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Schon hörte er die Menschen ringsum tuscheln; sie fragten einander, wer dieser Junge denn sei, und Bartholomäus schämte sich dafür, daß nun alle erfuhren, wem er angehörte. »Ich möchte dir nur helfen, sonst nichts«, erwiderte der Nazarener. »Helfen? A-aber ich brauche … ich meine, mir ist –« »Du meinst, dir wäre nicht zu helfen?« Der freundliche Blick des anderen hielt Bartholomäus schier gefangen. Ihm war, als sehe dieser Blick viel mehr als nur sein Äußeres, als gehe er durch sein Gesicht hindurch und tief in sein Innerstes, wo seine geheimen Wünsche ruhten – und seine Ängste. Der Nazarener hieß ihm mit einer Geste, sich neben ihn zu setzen. Bartholomäus tat es, und wie zufällig hob der Nazarener das Gewand des Jungen. Hastig rückte Bartholomäus von ihm ab und zog den Stoff wieder über die nackte Haut seines Rückens. Aber ein Blick in das Gesicht des Nazareners genügte, um zu wissen, daß er alles gesehen hatte: die dunklen Flecken, die Schrammen und Striemen … Und ohne Zweifel zog der andere die richtigen Schlüsse daraus. Dazu mußte man noch nicht einmal sonderlich weise sein … »Wer tut dir das an?« fragte der Nazarener, so leise jedoch, daß nur Bartholomäus ihn hören konnte. »Niemand«, antwortete er rasch. »Ich bin gestürzt, oft sogar. Bin eben ein Tolpatsch, ein nichtsnutziger …« Bartholomäus senkte das Gesicht, vor Scham und Erschrecken. Wie konnte er diesen Mann
nur anlügen? Und dann noch annehmen, er würde die Lüge nicht durchschauen? »Das sind nicht deine Worte«, stellte der Nazarener fest. Sein Ton klang väterlich, und Bartholomäus spürte allein deshalb schon etwas wie einen schmerzhaften Stich ins Herz. »Wessen Worte sonst?« gab er trotzig zurück. »Es sind die Worte desjenigen, der dich geschlagen hat«, meinte sein Gegenüber, und dann fügte er völlig überraschend hinzu: »Du solltest mit mir gehen, junger Freund. Begleite mich und verlasse diesen Ort.« Bartholomäus saß wie versteinert. Dann stieg Wärme in ihm auf, flutete seine Brust und füllte sie mit Hoffnung – die im nächsten Moment jedoch schon wieder schwand, schneller als sie gekommen war. Abermals senkte er den Kopf. »Ich kann nicht«, flüsterte er tonlos. Und nach kurzem Schweigen: »Ich darf es nicht.« »Folge deinem Herzen«, riet der Nazarener. »Lausche seiner Stimme und tue, was sie dir sagt.« »I-ich muß gehen«, stieß Bartholomäus hervor und sprang auf. Er stürmte auf die Menge zu, und diesmal hatte er keine Hemmungen, sich mit Ellbogen und Fäusten seinen Weg hindurch zu bahnen. Bartholomäus floh vor der Hoffnung, die der Nazarener in ihm geweckt hatte – und die ihn ängstigte, weil sie jedes Verbot, das ihm auferlegt war, verletzte. Er rannte dorthin, wo es keine Hoffnung für ihn gab … … »nach Hause«.
* Bartholomäus’ Wange brannte, als stünde sie in Flammen, und Blut lief ihm aus einer Kopfwunde übers Gesicht. Hart war er mit der
Stirn gegen die Wand geschlagen, getrieben von der Gewalt einer Ohrfeige. »Wo treibst du dich herum, verdammter Bengel?« Bartholomäus krümmte sich im Winkel zwischen Mauer und Boden zusammen, als er sah, wie sein Onkel mit dem Fuß ausholte. Die Arme, die er schützend um sich schlang, nahmen dem Tritt die ärgste Wucht. Dennoch trieb es ihm die Luft aus den Lungen, und tagelang würde ihn jeder Handgriff schmerzen. »I-ich wollte nicht –«, setzte er an, doch das dröhnende Organ seines Onkels übertönte ihn. »Du wolltest nicht! Ganz recht, gib’s nur zu. Du wolltest nicht tun, was ich dir aufgetragen hatte! So ist es!« Wieder schlug der fette Riese zu. Seine riesigen Hände klatschten in Bartholomäus’ Nacken. »Steh auf, Bürschlein! Los!« »J-ja, Onkel.« Zitternd kam Bartholomäus in die Höhe, die Wand als Stütze nutzend. Ein derber Stoß trieb ihn bis zur Stiege, die ins Obergeschoß des Hauses führte. Am Geländer suchte der Junge Halt, doch das Holz war so brüchig, daß es unter seinem Gewicht nachgab und splitternd entzwei brach. Schon war Zahel hinter seinem Neffen; seine Leibesfülle tat seiner Wendigkeit seltsamerweise keinen Abbruch. Links und rechts schlug er Bartholomäus ins Gesicht. »Was fällt dir ein? Bist du von allen guten Geistern verlassen?« tobte Zahel. »Ruinierst mein Haus, in dem ich dich so großzügig aufgenommen habe?« »D-das wollte ich nicht«, wimmerte Bartholomäus und duckte sich in Erwartung weiterer Schläge. »Wollte ich nicht, wollte ich nicht«, äffte der Fette ihn nach. »Weißt du, was ich wollte, Mistkerl? Ich wollte, daß ich dich nicht zu mir genommen hätte, nachdem deine Alte verreckt war! Du taugst zu nichts. Hätte dich davonjagen sollen, vielleicht hätten wenigstens die Ratten etwas an dir gefunden!«
»Bitte, Onkel, sagt das nicht. Ich tu ja alles, was Ihr von mir verlangt –« »Ich verlange nichts!« behauptete Zahel aufgebracht. »Ich erwarte nur ein wenig Respekt und Dankbarkeit! Ist das zuviel verlangt?« »N-nein, gewiß nicht, Onkel. Ich danke Euch ja, von ganzem Herzen –« Bartholomäus konnte nicht weitersprechen. Ihm wurde übel von seinen eigenen Worten. Bittere Galle vertrieb den kupfernen Blutgeschmack aus seinem Mund. Ein letztes Mal langte der Fette noch hin, dann stieß er den Jungen in die Trümmer des Treppengeländers. »Sieh zu, daß du das richtest. Und dann geh nach oben und bring die Zimmer in Ordnung. Ich erwarte etliche Gäste zur Nacht. Drei oder vier Karawanen sind heute in die Stadt gezogen, alle aus dem Morgenland. Und du weißt, wie geil diese Kerle auf unsere Weiber sind.« Zahel griff sich mit seinen dicken Fingern in den Schritt und grunzte. Dann stieg er die Treppe hoch, wohl um selbst zu probieren, was er den Gästen in der Nacht vorlegen würde. Bartholomäus beeilte sich derweil, das Werkzeug zu holen, um das Treppengeländer zu reparieren. Und während er das Holz aneinandernagelte und richtete, vernahm er von oben die Laute seines Onkels, die klangen, als kämen sie aus einem Schweinestall – und hellere Stimmen, voller Schmerz. Bartholomäus hielt inne und wog den Hammer in seiner Hand. Sein Blick wechselte von dem schweren Gerät hinauf zum oberen Ende der Stiege, und er wünschte sich den Mut, kurzerhand hinaufzulaufen, um den Hammer zu anderem Zwecke zu verwenden. Er seufzte und schluchzte in einem. »Wenn ich es nur könnte«, flüsterte er, »nur einmal möchte ich die Kraft dazu haben.« Sekundenlang lauschte er den Geräuschen von oben, derweil die Bilder dazu in seinem Geist entstanden. Mehr als einmal hatte er bei solchem Treiben zugesehen, nicht nur seinem Onkel, auch und vor
allem anderen Männern, die nächtens ins Haus schlichen und Zahel dafür bezahlten, daß er sie zu den Mädchen ließ. Die Faust des Jungen krampfte sich um den Hammer, bis die Knöchel weiß und spitz aus seiner Haut hervorstachen. »Könnte ich nur …«, knurrte er. »Oder käme nur einer, der den Kerl erschlüge. Mein Dank wäre ihm für alle Zeit gewiß.« Oben wurde eine Tür geöffnet. Das helle Schluchzen wurde lauter, bis die Tür wieder zuschlug. Bartholomäus hämmerte wie besessen auf das Geländer ein. Tränen verschleierten seinen Blick. Und das erleichterte es ihm, sich ein anderes Ziel für seine Hammerschläge vorzustellen …
* Beladen mit frischen Tüchern und duftenden Kräutern stieg Bartholomäus später die Treppe hoch. Vor der ersten Tür – jene, hinter der es sein Onkel vorhin noch getrieben hatte – zögerte er kurz. Dann klopfte er doch an, zaghaft, und als sich dahinter nichts rührte, öffnete er sie, trat über die Schwelle – – und blieb stehen wie vom Donner gerührt! Die zierliche Gestalt auf dem Lager aus Stroh und Tüchern, nackt und bleich, bewegte sich nicht, lag da wie … tot? »Isebel?« stieß Bartholomäus halblaut ihren Namen hervor. Keine Reaktion. Er ließ die Tücher und Kräuter fallen, eilte zu dem Lager hin und fiel auf die Knie. So vorsichtig, als könne er sie zerbrechen, berührte er die junge Frau. Behutsam drehte er sie auf den Rücken. Ihr Stöhnen mischte sich mit dem Keuchen, das ihm das Entsetzen entlockte. Blut zeichnete ein wirres Muster über ihr herbschönes Gesicht, und ihr Leib war dunkel von Schlägen. Mit dem Saum seines Gewandes wischte Bartholomäus über Isebels Gesicht. Flatternd öffneten sich ihre Lider, und ihr winziges Lä-
cheln brach ihm schier das Herz. »Was hat er dir nur angetan?« fragte er atemlos vor Ekel. »Nicht …«, stöhnte Isebel, »reden … davon.« »Ich bring’ ihn um«, knirschte Bartholomäus, und die Entschlossenheit in seinem Ton erschreckte ihn kaum weniger wie Isebels Anblick eben. »Nicht«, flüsterte Isebel. »Er ist … stärker. Er würde dich … töten.« Grabeskälte war mit einemmal in Bartholomäus, und seine Stimme klang so dumpf, als komme sie aus einer Gruft. »Und? Dann soll er mich töten. Dann hat dieses Leid wenigstens ein Ende.« Isebel richtete sich ein wenig auf, und Bartholomäus schämte sich dafür, daß die Bewegung ihrer schweren Brüste ihn erregte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, ließ sie höher wandern und strich ihm über das Gesicht, wie man es bei einem uneinsichtigen Kind tut. »Das ist es nicht wert«, sagte sie. »Kein Leben ist es wert, Zahel geopfert zu werden.« »Soll ich warten, bis jemand kommt, um uns von ihm zu erlösen?« begehrte Bartholomäus auf. Er lachte freudlos. »Das wird nie geschehen, obwohl ich sonst etwas darum gäbe.« Er streifte Isebels Hand ab und erhob sich. »Nein, ich muß es tun«, erklärte er mit nie gekannter Härte. »Ich muß einmal handeln wie ein Mann, und wenn es mein Tod sein soll, dann will ich Zahel mit mir nehmen.« »Bartholomäus, nein!« Aber er war schon zur Tür hinaus. Draußen auf dem Gang blieb er stehen und lauschte mit angehaltenem Atem. Er hörte nichts, was ihm verraten hätte, daß Zahel sich die Zeit mit einem anderen »seiner Mädchen« vertrieb – aber er vernahm … ein Geräusch. Undefinierbar, nie gehört, unheimlich … beängstigend. Aber Angst war etwas, das sich Bartholomäus nicht mehr gestat-
ten wollte. Er schlich den Gang hinab, bis hin zu jener Tür, hinter der er das Geräusch gehört zu haben meinte. Das Ohr am Holz der Tür lauschte er von neuem. Nichts war dahinter zu hören. Oder doch …? Ohne zu zögern stieß Bartholomäus die Tür auf. Himmel, ich bin nicht einmal bewaffnet! schoß es ihm durch den Kopf. Wie soll ich … Der Gedanke verging, noch bevor Bartholomäus ihn zu Ende gebracht hatte. Er mußte sich nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, wie er es mit seinem verhaßten Onkel aufnehmen sollte – denn Zahel war schon tot. Das Herz fehlte ihm im Leibe. Ein blutiges Loch klaffte in seiner Brust. »Dein stiller Wunsch war mir Befehl«, sagte – – ICH.
* Bartholomäus fuhr herum. Sein Mund stand offen, die Augen wollten ihm scheint’s aus den Höhlen treten. Zitternde Lippen formten unhörbare Worte. Aller Mut war aus ihm gewichen, hatte panischem Entsetzen Platz gemacht. In seinen zarten Zügen war etwas, das selbst mich fast rührte. Aber doch nur fast … Ich warf ihm das feuchte Herz seines Onkels zu. Im Reflex fing er es mit beiden Händen auf, starrte es zwei, drei Sekunden lang an – und dann erbrach er sich, bis nur noch saurer Saft brennend in seiner Kehle hochstieg. Der blutige Klumpen entfiel seinen kraftlos werdenden Fingern. Ich konnte sehen, wie seine Knie zu wackeln begannen. »Wer bist du?« stieß er heiser hervor. »Was hast du getan?«
Ich wies auf den Toten. »Das siehst du doch. Ich habe dich befreit – und alle, die unter dem fetten Schwein zu leiden hatten.« »Aber – warum?« Bartholomäus’ Züge entgleisten zur Grimasse, die sich fortwährend veränderte und nur erbärmlich aussah. »Weil du es wolltest«, sagte ich gönnerhaft. »Wie konntest du das wissen?« Er gab einen schluchzenden Laut von sich. »Niemand wußte es! Es war mein geheimster Gedanke –« »Nun hör schon auf«, unterbrach ich ihn. »Du solltest mir dankbar sein, anstatt zu jammern wie ein altes Weib.« »Dankbar? Einem Mörder?« »Ich habe dir nur die Arbeit abgenommen«, erinnerte ich ihn an den Grund seines Kommens, »oder dir das Leben gerettet – wer weiß, was der Fettsack mit dir getan hätte, hm?« »J-ja, sicher«, bibberte Bartholomäus. »Aber was … was soll jetzt werden?« Er wandte sich um und warf einen flüchtigen Blick auf den Leichnam. »Man wird wissen wollen, wer Onkel umgebracht hat, und alle werden mich verdächtigen …« Er stierte seine verschmierten Hände an. Tränen fielen ihm von den Wangen und wuschen dünne Streifen in das Blut. Dann riß er den Kopf plötzlich hoch – als Schritte näherkamen! »Bartholomäus?« rief eine schwache Frauenstimme. »Isebel!« entfuhr es ihm. »Sie darf nicht sehen, was –« Und laut rief er: »Geh weg, Isebel, komm nicht her!« »Was ist geschehen, Bartholomäus? Wo ist Zahel?« »Verschwinde!« Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Soll ich dir noch einmal helfen?« flüsterte ich ihm ins Ohr. »O ja, bitte«, stieß er hervor, »ich bitt’ Euch sehr, helft mir doch!« »Schlag ein.« Ich reichte ihm die Hand, und er legte seine zitternden Finger hinein. Unsere Blicke trafen sich, und dann erlosch etwas in seinen Augen. Das Flackern der Angst darin erstarb – – weil ich es löschte.
Weil ich in den jungen Bartholomäus fuhr. ZZZUUUWWW!
* Ich ging auf in Bartholomäus. Wir wurden eins. Doch ich führte das Kommando. Unser Mund sprach, was ich wollte, und wir taten, was mir beliebte. Wir trugen Bartholomäus’ Gesicht und Gestalt zur Schau, er selbst aber war kaum mehr als ein Gefangener, blind, taub und stumm im eigenen Körper; ebenso gut hätte er im tiefsten Kerker dieser Welt schmachten können. Ich möchte behaupten, daß es ihm dort sogar noch besser ergangen wäre … Eilends machte ich mich daran, die tödliche Wunde »unseres« Onkels zu verbergen. Ich legte das Herz zurück in Zahels Brust und legte die Illusion unversehrter Haut darüber. Gerade noch zur rechten Zeit … »Bartholomäus, was ist mit ihm?« In der Tür war eine junge Frau erschienen. Sie hatte kaum genug Kraft, um zu stehen. Mit beiden Händen stützte sie sich an der Wand ab. Ich trat zu ihr und sagte mit Bartholomäus’ Stimme: »Er ist tot.« »Aber wie …?« Entgeistert starrte sie mich an. »Hast du –?« Ich hob die Schultern, lächelte. »Ich kenne dich nicht wieder«, sagte Isebel leise. »Und du wirst mich nicht wiedersehen«, sagte ich. »Du willst weggehen?« »Ich muß. Ich bin zu anderem berufen«, erwiderte ich geheimnisvoll. »Mein Weg führt fort aus dieser Stadt – und aus diesem Leben.« »Wo willst du hin, Bartholomäus?« »Ich folge dem Herrn«, antwortete ich. Und ging ohne jedes weitere Wort.
Die ganze Nacht wanderte ich, und anderntags hatte ich sie eingeholt, den Nazarener und seine Jünger – in deren Schar er mich aufnahm. Er durchschaute meine Maske nicht, denn ich war Fleisch und Blut wie er, und damit tarnte ich meinen dunklen Kern. Fortan war ich also an seiner Seite. Und ich blieb bei ihm – bis ans Ende …
* Zwischenspiel »Du siehst«, sagte Gabriel, »die Menschen wissen weit weniger, als sie glauben. Es gibt noch so viele Wahrheiten, die niemand kennt und je erfahren wird.« Lilith faßte ihn scharf ins Auge. »Willst du damit etwa andeuten, daß du hinter allen Ereignissen von historischer Bedeutung steckst? Daß immer du die Weichen gestellt hast, bevor etwas Wichtiges in dieser Welt geschah?« Der Inkarnierte lachte spöttisch. »Nein, gewiß nicht. Nicht einmal der Dreigestaltige kann überall sein, und es gab wohl Zeiten, da ich nicht leibhaftig auf Erden weilte. Meine Saat aber bewirkte vieles; man kann sagen, daß so mancher Krieg eine Frucht meiner Arbeit war.« Er unterbrach sich kurz und fuhr dann ein klein wenig nachdenklich fort: »Zudem, wer könnte entscheiden, ob etwas wichtig und von Tragweite ist in dem Moment, da es passiert?« »Ich verstehe«, meinte Lilith. »Tust du das? Oder könnte es nicht sein, daß auch meine Wahrheiten nur halbe sind, weil sie allein aus meiner Sicht der Dinge entstehen?« »Dann mag es die ganze Wahrheit vielleicht gar nicht geben«, spann Lilith den Faden weiter.
»Gut möglich.« Die Halbvampirin nahm die Wanderung durch den Felsendom von neuem auf. »Welche Absicht verfolgtest du, indem du dich als Bartholomäus maskiert hast? Denn glaubt man den schriftlichen Berichten über diese Zeit, tat er nichts, was seinem Herrn geschadet hätte –« »Ganz richtig, wenn man ihnen glaubt«, erklärte Gabriel. Er folgte Lilith nicht, aber trotz der Distanz klang seine Stimme so laut und deutlich, als stünde er direkt neben ihr. »Und müßtest du nicht jetzt schon wissen, daß man nichts und niemandem wirklich glauben kann?« »Das ist keine Antwort auf meine Frage.« »Nun«, setzte der Satanische an, »ich sagte vorhin schon, daß niemand ermessen kann, was im Moment des Geschehens von weiterer Bedeutung sein wird. Und auch ich vermag solcherlei nicht zu prophezeien. Wohl aber bin ich weitsichtig genug, um gewisse Entwicklungen sozusagen vorauszuahnen. Ich weiß um die Bedeutung der sogenannten Weichen des Schicksals und vermag sie mit meinem Einfluß so zu stellen, daß die Dinge in die von mir gewünschte Richtung laufen.« »Was hat das mit meiner Frage zu tun?« wollte Lilith wissen. Leise Ungeduld schwang in ihrem Ton mit. Gabriel hob gebietend die Hand. »Ganz einfach: Mir lag nicht länger daran, den Messias gewissermaßen auszuschalten. Ich wollte ihn nur im Auge behalten, wollte seinen Ruf festigen und zulassen, daß die Menschen ihn verehrten –«, er grinste wahrhaft diabolisch, »– denn um wieviel ärger würde der Schlag für seine Anhänger sein, wenn ich ihn erst im Zenit seines Daseins vernichtend träfe?« Lilith erahnte zumindest, was Gabriel damit andeuten wollte. Es drängte sie danach, noch mehr darüber zu erfahren, doch wie aus einem tiefen Meer tauchte eine andere Frage in ihr auf, die sie kaum weniger interessierte.
»Mir fällt auf, daß in all deinen Erzählungen die Alte Rasse keine Rolle spielt. Bist du nie mit Vampiren aneinander geraten?« Gabriel verzog verächtlich den Mund, als wolle er angewidert ausspucken. »Sie sind ohne Belang im Plan des Bösen, niedere Kreaturen, die es nicht wert sind, daß wir ihnen Beachtung schenken«, sagte er. »Vielleicht hätte ich sie vor Urzeiten schon vom Antlitz dieser Welt tilgen sollen, aber selbst für solches Aufhebens schienen sie mir zu gering. – Trotzdem trafen wir mehr als einmal aufeinander; einmal sogar in jener Zeit, von der ich dir eben erzählte. Und von dieser einen Begegnung will ich dir berichten, denn sie kam später noch in Zusammenhang mit meinem Wirken an der Seite des Menschensohns …«
* Vergangenheit Nahe der Stadt Gerasa Von Anbeginn war es die Natur der vampirischen Rasse, sich in Sippen zu organisieren. Unter der Führung eines Oberhauptes, das vom Hüter des Lilienkelchs erwählt und mit dessen eigenem Blut getauft wurde, lebten sie in Städten, die groß genug waren, um einerseits ihre Existenz geheimzuhalten und andererseits genügend Nahrung zu liefern. Doch es gab auch Einzelgänger unter den Vampiren. Die einen mochten mit ihrer Sippe in Zwist geraten sein und sich deshalb aus dem Bund gelöst haben, andere waren wohl schlicht aus der Art geraten und für ein Leben in der Gemeinschaft nicht geschaffen. Gadar war von seiner Sippe verstoßen worden! Einst hatte er in der ägyptischen Hafenstadt Alexandria die Kelchtaufe erfahren, und wohl an die hundert Jahre hatte er sich den
Weisungen seines Oberhauptes gefügt. Dann aber begann er Kritik zu üben an seiner Führung, erst nur hinter seines Blutvaters Rücken, dann ganz offen, und schließlich hatte er seine vampirischen Brüder und Schwestern zur Rebellion aufgerufen. Der Kelchhüter war hinzugekommen, und man saß über Gadar zu Gericht. Das Urteil lautete auf Verbannung; er mußte Alexandria verlassen und durfte seinen Fuß nie mehr über die Grenzen seiner Heimatstadt setzen. Die Kunde darüber verbreitete sich unter den Sippen in jenem Teil der Welt, und so fand Gadar auch nirgends sonst Aufnahme. Fortan zog er also umher, einem Geist gleich, den die Ruhelosigkeit umtrieb und zugleich verbat, irgendwo seßhaft zu werden. Ein ebenso grausames wie unwürdiges Schicksal für einen Vampir. Wut wuchs und wucherte in Gadar, Zorn auf jene, die ihm das Joch solchen Daseins aufgezwungen hatten. Und schließlich fraß der Haß so übermäßig in ihm, daß Gadar ihn nicht mehr allein auf die konzentrierte, die über ihn geurteilt hatte, sondern auf alle, die von ihrer Art waren – ein Vampir begann die Alte Rasse zu verabscheuen. Und er sann auf Rache. Allein, das wußte Gadar, würde er nicht die geringste Chance haben, einen wie auch immer gearteten Plan gegen das vampirische Volk auch nur im Ansatz umzusetzen. Er brauchte einen Verbündeten. Jemanden, den die Alte Rasse aus gutem Grunde fürchtete. Gadar brauchte – – MICH.
* Ich war zu jener Zeit dem Menschensohn auf der Spur, noch aber ohne ihn gefunden zu haben. Mein Weg führte mich in jeden Winkel
Galiläas, und so kam ich eines Tages auch nach Gerasa am Ufer des Sees Genezareth. Der Nazarener hatte die Stadt schon wieder verlassen, und seine Fährte verlor sich, als hätte der Wind sie verweht. Also blieb mir nichts anderes, als sie auf profanste Weise wiederzufinden: Ich mußte herumfragen unter den Gerasenern. In sonderlicher Eile war ich nicht. Zeit spielte nie eine große Rolle für mich. Zudem konnte ich meinen Aufenthalt in Gerasa auch nutzen, um meine Saat auszubringen. So schloß ich auch hier den einen oder anderen Pakt, verpflichtete mir eine Handvoll Menschen, indem ich ihnen einen Wunsch erfüllte, auf daß sie mir im Gegenzug einen Gefallen zu tun versprachen, wann immer ich es wollte. Dazu sei gesagt, daß ich durchaus nicht immer auf eine Tat als Gegenleistung bestand; mitunter genügte mir auch eines Menschen Seele als Preis in solchen Händeln. Darüber vernachlässigte ich mein vordringlichstes Ziel freilich nicht, und das hieß in jener Zeit eben, den Menschensohn zu finden. Gasthäuser waren zu jeder Zeit die ergiebigsten Informationsquellen, und nicht anders war es in Gerasa. Ich mischte mich also in einer Schankstube unters Volk, ließ mir Wein auftragen und verhielt mich unauffällig. Daß meinem Ohr kein Wort entging, das im Raum gesprochen wurde, merkte niemand. Man redete über mancherlei. Die einen verrieten hinter vorgehaltener Hand und dem Siegel der Verschwiegenheit – aber doch laut genug, daß wenigstens drei, vier Leute es mithörten –, was sie über andere erfahren hatten; einige sprachen davon, daß das Wetter ungewohnte Kapriolen schlug für diese Zeit des Jahres und die Ernte in der Folge kärglich ausfallen würde. Und einige wiederum redeten über ihn. Ich lächelte still in mich hinein. An den Tischen, wo der Nazarener Gesprächsthema war, herrschte ein anderer Ton als an den übrigen. Ehrfurcht klang in den Stim-
men jener Leute mit, aber auch fast fiebrige Begeisterung. Obwohl er Gerasa vor Tagen schon verlassen hatte, stand noch jeder, der ihm begegnet war, in seinem Bann, und niemand hatte kaum eines seiner Worte vergessen; daß allerdings so manches nicht gesagte hinzuerfunden wurde, daran zweifelte ich nicht … Der Nazarener hatte Kranke geheilt, hieß es. Verstand man es, zwischen den Worten der Erzählenden zu hören, wurde klar, daß der Menschensohn nichts anderes getan hatte, als Hoffnung in den Kranken zu wecken und ihren Willen zur Gesundung zu stärken. Was dennoch wundersam genug war, denn kein anderer hatte dies vor ihm vermocht. In einer Runde tat ein junger Bursche kund, daß er Gerasa zu verlassen plante, um dem Nazarener nachzufolgen. Er wollte mehr von ihm hören und hoffte darauf, die Botschaft Gottes in ähnlicher Weise verkünden zu können, wenn er dem Menschensohn nur lange genug lauschte. Und offenbar wußte dieser Bursche auch, wo er den Nazarener finden würde. Ich nickte unmerklich: Das war mein Mann! Schon wollte ich mich erheben, um zum Tisch des Burschen zu gehen und zu fragen, ob ich mich zu ihm setzen dürfte, als sich etwas auf meine Schulter legte! Leicht wie eine Feder nur, aber doch kräftig genug, um mich innehalten zu lassen. Ich wandte mich um – und sah in ein Augenpaar, so dunkel, daß sich die Pupillen kaum ausmachen ließen, und volle Lippen von fast blutigem Kot lächelten mir unsicher zu. »Herr?« fragte das Mädchen, dessen grazile Gestalt sich selbst unter ihrem weiten Gewand erahnen ließ. »Was ist?« fragte ich, nicht annähernd so unwirsch, wie ich es beabsichtigt hatte. Ihre Schönheit ließ selbst mich nicht ungerührt, schließlich besaß ich den Körper eines Mannes. »Ich wurde zu Euch geschickt, Herr«, sagte sie zaghaft. Ihr Blick tastete wie zufällig an meiner Gestalt hinab, und ich spürte ihn, als
berühre das Mädchen mich mit ihren Fingern. »Wer hat dich geschickt?« wollte ich wissen. Ich ließ meine Augen nicht von ihr. Sie sah mich an, dann ging ihr Blick zur Tür der Schenke. »Kommt mit«, bat sie. »Wohin?« »Ich möchte kein Aufsehen erregen.« Unauffällig wies sie in die Runde. Einige der umsitzenden Männer musterten uns ganz unverhohlen. Ich nickte knapp und verließ im Schatten der Schönen das Gasthaus. Draußen empfing uns schon die Dämmerung. Ich hatte länger in der Schenke gesessen als angenommen. »Nun?« Ich folgte ihr nicht weiter, als sie die Gasse draußen hinablaufen wollte. Demonstrativ blieb ich stehen, verschränkte die Arme. »Was soll das? Wo willst du mich hinführen, und wer gab dir den Auftrag, mich zu holen?« Sie drehte sich nach mir um, und die Art, in der sie es tat, ließ in mir den Wunsch fast übermächtig werden, ihr einfach nur zu folgen – in eine dunkle Ecke der Stadt oder eine verborgene Kammer … Ein angenehmer Schauer durchlief meine Lenden, als unsere Blicke sich im Zwielicht trafen. Noch über die Distanz nahm ich den eigentümlichen Glanz in ihren Augen wahr. »Ihr werdet es nicht bereuen«, versprach sie, »und schon gar nicht braucht Ihr Euch zu fürchten.« »Das brauche ich ganz gewiß nicht«, erwiderte ich mit hartem Lächeln. »Sag, wer dich zu mir schickte, und ich folge dir ohne weitere Frage.« »Mein Herr«, antwortete sie, »wünscht Euch zu sprechen. Er hat –«, sie zögerte kurz, »– Euch einen Handel anzubieten.« »Einen Handel?« Ich hob die Brauen. »Handel ist mein Geschäft.« »Das weiß mein Herr wohl.« Damit wandte sie sich um und eilte weiter, ein Schemen in den Schatten.
Endlich folgte ich ihr. Neugierde ist eine Macht, die nicht allein auf Menschen wirkt. Selbst der Teufel erliegt ihr bisweilen.
* »Was ist dein Herr? Ein Toter? Oder ergötzt er sich lediglich am Tod?« Sarah – so war der Name der Schönen – hatte mich aus Gerasa hinaus zu einer zerklüfteten Hügelkette nahe des Seeufers geführt. Auf natürlichem Wege darin entstandene Höhlen waren von Menschenhand erweitert und teils durch Gänge miteinander verbunden worden. Und jetzt nutzte man sie zur Totenbestattung. Das Mädchen eilte mir durch die Grabhöhlen voraus. Schwacher Kerzenschein wies mir ihren Weg und ließ mich ihr folgen. »Mein Herr lebt im Geheimen«, antwortete sie. Der Fels um uns her zersplitterte ihre Worte in Dutzende von Echos, die wie Geisterstimmen in den Schächten und Höhlen flüsterten. Das Flackern der Kerzenflamme vor mir nahm ab, ich kam ihm näher. Sarah war stehengeblieben und entfachte zwei Fackeln, die kurzerhand in Wandspalten geklemmt worden waren. Ihr Licht enthüllte eine Höhle, die sich nicht von jenen unterschied, die wir auf unserem Weg hierher durchquert hatten. Gesichter in unterschiedlichen Verwesungszuständen grinsten uns aus Nischen heraus an, Würmer, Maden und allerlei Insekten, die wimmelnd Mund und Augenhöhlen füllten, schufen die Illusion abseitigen Lebens in den Totenfratzen. »Wo ist er nun dein geheimnisvoller Herr?« fragte ich. Ich schaute mich um und sah eine Reihe von Stollen, die in diese Höhle mündeten. Dann wandte ich mich Sarah zu. Einen Moment lang wollte ich mich fragen, weshalb ich mich auf dieses seltsame Spiel eingelassen hatte, doch der Anblick des Mädchens ließ mich
die Frage vergessen. Ich hätte meine Zeit weit nutzloser vergeuden können – und freudloser vor allem … »Komm zu mir«, verlangte ich und streckte die Hand nach Sarah aus. Schweigend trat sie zu mir. Meine Finger tauchten in ihr schwarzes Haar, fuhren dann die feinen Linien ihres Gesichts nach. »Warum läßt dein Herr uns warten?« fragte ich rauh. »Ich soll dir die Zeit des Wartens versüßen«, antwortete sie nur scheinbar schüchtern. »Dann möge dein Herr sich ruhig noch Zeit lassen.« Ich zog Sarah an mich, sanfter, als ich je zuvor ein Mädchen in den Arm genommen hatte. Fast demütig hob sie ihr Antlitz zu mir auf, die Lippen leicht geöffnet, hinter den makellosen Zähnen der feuchte Schimmer ihrer Zunge. Mein Mund versiegelte den ihren, und ich wunderte mich über die Behutsamkeit, mit der ich es tat. Die Spitzen unserer Zungen berührten sich, und endlos lange schien es mir, bis sie sich im Spiele fanden. Meine Hände erforschten Sarahs schlanken Leib, ohne ihn zu entkleiden. Das rauhe Tuch ihres Gewandes kam mir vor wie etwas Lebendes, als ich darüber strich und mein Verlangen genoß, statt dessen ihre samtene Haut zu berühren. Das Mädchen selbst erwies sich als keineswegs schüchtern, allenfalls zaghaft. Ich spürte ihre Hände fast vorsichtig unter mein Gewand gleiten und über meine Brust streichen. Dann wanderten sie über meine Schultern und zum Nacken hinauf, derweil Sarahs Kuß fordernder wurde. Endlich konnte ich nicht mehr an mich halten und griff selbst unter den Stoff ihres Kleides. Meine Finger massierten erst sachte ihr Gesäß und griffen dann fester zu, als das Feuer in meinen Lenden vollends entfacht wurde. Ohne ihre Hände von meinem Nacken zu lösen, ließ das Mädchen
sich nach hinten sinken. Ich gab ihrem Drängen nach, und so kam sie auf dem nackten Felsboden zu liegen, während ich mich zwischen ihren Schenkeln auf die Knie niederließ. Sie selbst schlug den Saum ihres Gewandes hoch, so daß ich ihre kaum behaarte Scham sehen konnte. Wie einladend bot sie sich mir dar. Ich versenkte mein Gesicht in ihrem Schoß, atmete Sarahs Duft und schmeckte sie. Einem Fisch am Haken gleich gebärdete sie sich, wollte sich mir spielerisch entziehen und wußte, daß sie mich damit nur noch mehr erregte. Ohne Worte gab sie mir nach einer Weile zu verstehen, daß nun ich in den Genuß ihrer Lippen und Zunge kommen sollte, und ich ließ sie gewähren, sah ihr nur zu, wie sie mein längst hartes und heißes Glied verwöhnte, wobei ihr Blick nicht von meinem Gesicht wich, weil sie jede Regung meiner Züge sehen wollte. In dieser Minute wünschte ich fast, ein Mensch zu sein – nur um zu erfahren, ob unsere Lust sich in der Qualität unterschied … Sarahs Bemühen ließ mich förmlich explodieren, und nie zuvor hatte ich dieses Gefühl so intensiv verspürt wie dieses Mal. Fast meinte ich, Erstaunen in ihren dunklen Augen zu lesen, als mein Schaft auch nach dem Erguß an Größe nichts verlor. Und als fürchte sie, es könne jeden Moment darum geschehen sein, kam sie über mich und nahm mich auf in ihren feuchten, hitzigen Schoß. Ihre Lust brach sich in spitzen Schreien Bahn, die das Höhlenlabyrinth erfüllten, als treibe es eine Hundertschaft an diesem morbiden Ort. Ihre Fingernägel zogen dunkle Bahnen über meinen nackten Oberkörper, dann umschloß sie ihre schweren Brüste, rieb und walkte sie, während sie die kreisenden und gleitenden Bewegungen ihres Beckens noch verstärkte. Endlich brüllte sie auf, wie von einer Klinge verwundet, bog ihren Leib nach hinten durch, bis ihr Gesicht für mich nicht mehr zu sehen war, und schließlich rutschte sie wie tot von mir und blieb an meiner Seite liegen – schweißnaß, reglos … aber schweratmend. Und lä-
chelnd. Doch erreichte dieses Lächeln ihre Augen nicht. Sie wirkten mit einemmal wirklich tot, ohne Glanz und blicklos. »Was …?« Ich richtete mich alarmiert auf und beugte mich hinüber zu Sarah. Meine Hände wollten nach ihrem Gesicht fassen, doch meine Finger hatten ihre Haut noch nicht berührt, als eine Stimme mich in der Bewegung stoppte. »War alles nach Euren Wünschen – Herr?«
* »Wer bist du?« Ohne sonderliche Hast schaute ich mich um. »Und wo bist du? Zeige dich!« Niemand war zu sehen und nichts mehr zu hören außer einem raschelnden Wispern, das über die Felswände kroch wie etwas Lebendiges. »Ich kann mich Euch nicht zeigen«, antwortete die Stimme aus dem Nichts nach einer Weile. Feststellen ließ sich einzig, daß es die eines Mannes war. »Weshalb nicht?« Während ich mich auf die knapp geführte Unterhaltung konzentrierte und versuchte, den anderen zu lokalisieren, achtete ich doch weiterhin auch auf Sarah. Sie lebte, aber sie hatte sich verändert. Als wäre etwas in ihr erloschen. Ihr Geist schien gegen jede Wahrnehmung gesperrt zu sein, während ihr Körper noch auf die Echos dessen reagierte, was sie mit mir erlebt hatte. Mir kam der Verdacht, sie könnte von fern gelenkt gewesen sein, von fremdem Willen bestimmt … Und ich verknüpfte diese Vermutung mit dem, was mir der Unbekannte gesagt hatte: Ich kann mich Euch nicht zeigen … Das Ergebnis ließ nur einen Schluß über die Identität, das Wesen des »Unsichtbaren« zu. In mir wuchs nicht allein Wut, sondern auch ein Ekelgefühl von der Art, wie manche Menschen es unbekanntem
Kleingetier gegenüber empfanden. »Wie kannst du es wagen –!« Mein Stimme dröhnte durch die Gänge und Höhlen, ließ den Fels zittern und knirschen und Staub aus Ritzen und Klüften wölken. »Zieht keine voreiligen Schlüsse!« kam es sogleich zurück – und hörbar ohne Furcht. »Du riskierst deine Unsterblichkeit, verdammter Kretin!« Ich verhielt kurz und verbesserte mich dann: »Ach was, du hast sie schon verspielt, Bastard!« Ich sprang auf. Vergessen war Sarah. Ich wollte diesen elenden Vampir, der sich erdreistete, sich mit mir anzulegen, finden und die Wände mit seinem schwarzen Blut streichen! »Ihr mißversteht –«, kam es aus dem Dunkel irgendeines Stollens. »Ach? Wie könnte ich deinen Frevel mißverstehen?« Wider meinen Willen klang ich nicht mehr ganz so zornerfüllt wie eben noch. »Ich habe Euch einen Handel anzubieten«, erwiderte der andere. Ich hielt inne. Von einem Handel hatte Sarah schon gesprochen, erinnerte ich mich. Aber welcher Art sollte ein Handel sein, den ICH mit einem Vampir schließen könnte? »Lächerlich!« grollte ich. »Was könntest du mir bieten?« »Ich zeige es dir, wenn du es möglich machst, daß ich mich dir nähern kann, ohne –« Er mußte nicht zu Ende sprechen. Ich wußte, was er meinte – was er fürchtete! Meinen … Gestank, den nur Vampire wahrnehmen. Er schlägt sie in die Flucht, und zu keinem anderen Zweck umgab ich mich damit. Weil ich das Gewürm nicht einmal in meiner Nähe wissen wollte. Aber dieses Exemplar der Alten Rasse hatte etwas geradezu Unmögliches geschafft – er hatte mich neugierig gemacht. »Nun gut, was hätte ich schon zu verlieren«, gab ich mich gelangweilt. »Tritt hervor aus deinem Loch.« Ich ließ die Poren meiner Haut die unsichtbare Aura des Verder-
bens um mich herum gleichsam einsaugen. Ein Hauch davon mochte noch immer in der Luft hängen, für den Vampir schlimmer als der Verwesungsgeruch der Toten – die ich wiederum weniger erbärmlich fand als den elenden Blutsauger, der nun zögernd aus einem der Gänge kam. »Also«, begann ich ohne Umschweife, »wie sieht der Pakt aus, der dir vorschwebt?« Der Vampir, eine ausgezehrt wirkende und zerlumpte Gestalt, hielt Abstand. Er musterte mich mißtrauisch, sog witternd den Atem ein und verzog das Gesicht. »Strapaziere meine Geduld nicht über Gebühr«, mahnte ich ihn drohend. »Nein, gewiß nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Ich – weiß um etwas, das für Euch von Interesse ist.« »Wie kannst du da so sicher sein?« »Nun, laßt mich erst vorbringen, was ich im Gegenzug von Euch erwarte.« Ich nickte, und Gadar schilderte mir in allzu langen Worten seinen Werdegang. Immer flammender wurde sein Ton, als er auf seinen Haß gegenüber der Alten Rasse zu sprechen kam, womit der Narr mir fast schon sympathisch wurde. Aber nur fast eben … »Und was habe ich mit all dem zu schaffen?« wollte ich schließlich wissen. »Ihr könnt mir helfen, mich an meinem einstigen Volk zu rächen«, erklärte er, und sein verschlagenes Lächeln schürte mein Mißtrauen. »Wie willst du das wissen?« fragte ich lauernd. Er antwortete nicht gleich, schien seinen Triumph, den ich noch nicht verstand, auszukosten. »Ich kenne Euch«, sagte er dann, »ich weiß um Eure Natur, Euer Wesen, kurzum, wer und was Ihr seid.« »Woher?« »Ich habe Euch studiert«, meinte er. Er verfiel in gönnerhaften
Ton: »Nun, nicht nur Eure Person, sondern – die anderen.« »Die anderen?« Ich ahnte, daß er wahrlich wußte, wovon er sprach. »All jene, die Ihr schon gewesen seid«, sagte er, »im Laufe der Zeit.« »Wie konntest du das? Du kannst nicht annähernd alt genug sein, um –« »Ich stamme aus Alexandria«, sagte er, »und vielleicht habt Ihr von der dortigen Schriftensammlung schon gehört?« »In der Tat …« »Ich bin belesen. Ich habe Aufzeichnungen gesehen, die uralt sind, und ich habe Verbindungen gezogen zwischen allen möglichen Schriften, in denen von Euch die Rede ist.« »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst«, gestand ich. Wieder ließ er mich warten, ehe er endlich sagte: »In einigen dieser Schriften ist nicht nur von Eurem Wirken und Wesen die Rede –«, er trat mutig einen Schritt näher, und ich sah ein irres Glitzern in seinen Augen, »– darin steht auch, wie Euch beizukommen ist … wie Ihr zu vernichten seid!«
* Sekundenlang kehrte die Stille des Todes wieder ein in die Grabhöhle. Dann – lachte ich! Dröhnend, donnernd, alles erschütternd. »Du mußt verrückt sein«, brachte ich schließlich hervor. »Keineswegs.« Der Vampir schien wenig beeindruckt von meinem Heiterkeitsausbruch, was mich wiederum von neuem mißtrauisch machte. »Natürlich gibt es in besagten Schriften keine Anleitung zur Vernichtung jener Macht, die hinter Euch steht«, fuhr er dann fort. Sein dürrer Finger wies auf mich, als wolle er mich aufspießen. »Um
Euch geht es – um die Inkarnationen des Bösen, gewissermaßen. Ihr nämlich –«, wieder verhehlte er seinen Triumph nicht, »– seid zu töten!« Ich schwieg. Starrte Gadar an. Doch ließ er sich so nicht einschüchtern. Noch schien er seinen letzten Trumpf nicht ausgespielt zu haben. »Wo sind diese Schriftstücke?« wollte ich wissen. »Zeig sie mir, damit ich dir glauben kann.« »Ich weiß, Ihr haltet mich für einen Narren«, erwiderte Gadar. »Und vielleicht bin ich einer. Aber ich bin gewiß nicht närrisch genug, um auf dieses Angebot einzugehen.« Er wippte auf den Fußballen, lächelte und sagte: »Die Schriften habe ich an einen sicheren Ort gebracht – ich meine, dort sind sie sicher vor Euch. Aber sie sind durchaus auffindbar – für den, der sie sucht und ihren Inhalt zu nutzen weiß.« Jetzt also war es heraus! Und ich mußte mir eingestehen, daß Gadar einen wunden Punkt getroffen hatte. Zwar wußte ich nichts von der Existenz solcher Aufzeichnungen, aber unmöglich schienen sie mir nicht. Und selbst wenn ich nur die Möglichkeit akzeptierte, daß es sie geben könnte, mußte ich jede Chance nutzen, ihrer habhaft zu werden, um sie zu vernichten. »Was also willst du?« preßte ich hervor. »Macht«, sagte der Vampir nur. »Was verstehst du darunter?« »Laßt mich an Eurer Kraft teilhaben, und ich verrate Euch, wo die Schriften zu finden sind.« »Wie stellst du dir das vor?« fragte ich. »Wie sollte ich dir von dem geben, was ich bin?« »Gebt mir von –«, sein Blick fixierte gierig meinen Hals, »– Eurem Blut.« Ich war versucht, sofort zu antworten. Aber ich zwang mich zu zögern. Stockend nickte ich dann.
»Gut, wie du willst …« Ich reichte ihm die Hand hin. »Der Pakt gilt.« Er schlug ein. »Wohin hast du diese Schriften gebracht?« verlangte ich zu wissen. »Wie soll ich wissen, daß du mich nicht hintergehst, wenn ich es dir jetzt schon verrate?« fragte Gadar. »Wenn du soviel über mich weißt, wie du vorgibst, solltest du auch wissen, daß ich an mein Wort gebunden bin.« Er zögerte dennoch. »Ja, so scheint es.« Seine Gestalt straffte sich. »Gut, ich nenne dir den Ort.« »Also?« »Du findest sie in einer Höhle nördlich des Wadi Qumran. Dorthin habe ich sie gebracht.« Gadar maß mich mit abwartendem Blick, als fürchte er, ich könnte doch noch gegen unseren Handel verstoßen. Doch ich nickte nur. Ich wußte, spürte, daß er nicht log, und mehr als die Nennung der Höhle brauchte ich nicht, um das Versteck zu finden. Wortlos griff ich in den Kragen meines Gewandes und zog den Stoff herunter. Gadar trat mit kleinen Schritten näher, blieb unmittelbar vor mir stehen. Ich sah ihm an, daß selbst mein vager Dunst ihn noch entsetzte, aber es gelang ihm, dem Fluchtimpuls zu widerstehen. Seine Gier war ungleich stärker. Der Vampir biß zu! Schlug seine Zähne in die Ader, soff das Blut des Teufels – – und brach in kreischende Schreie aus!
* Gadar wand sich am Boden der Grabhöhle. Sein Geschrei und Stöhnen hallte von den Wänden wider, und ein ums andere Mal schüttelten Krämpfe seinen hageren Leib, wenn er Blut ausspie –
– mein Blut! Das sich wie von eigenem Leben beseelt zu dünnen Strömen sammelte, die auf mich zukamen, über meine Füße krochen und aufwärts flossen, entlang meiner Beine, über meinen Oberkörper, bis zum Hals hin, wo sie in den Wunden, die die Vampirzähne hinterlassen hatten, verschwanden, zurück ins Aderwerk meines Leibes. Ich hätte diesem Kretin noch Stunden zusehen mögen, wie es ihn im Staub zu meinen Füßen umtrieb. Ich konnte mir vorstellen, wie es in Gadar aussah, was mein Blut in ihm bewirkte, wie er Geist und Körper des Vampirs verheerte. Aber ich wollte nicht, daß er zugrunde ging – diese Strafe wäre zu gering gewesen für Gadars Frevel, mich herauszufordern! Ich stoppte seinen Verfall mit einer bloßen Geste. Ich schenkte ihm sein nunmehr wahrhaft erbärmliches Leben. Und belegte ihn mit einem Fluch … Mein Zorn indes war noch nicht verraucht. Wie gut es sich da traf, daß Sarah sich just in diesem Augenblick zu regen begann und zeigte, daß sie sich aus dem Bann des Vampirs löste, der sie mir zum Köder und Geschenk gemacht hatte, wohl um mich zu besänftigen. Nun also konnte das Mädchen diesen Zweck ganz und gar erfüllen …
* »Steh auf!« Langsam vor Schwäche kam Sarah meinem Befehl nach. Erfolglos versuchte sie, ihre Blöße mit Händen zu verbergen, als sie zitternd vor mir stand. »Du erinnerst dich an mich?« Das Mädchen nickte. »Und du weißt, was wir getrieben haben?« Sie senkte den Blick, wimmerte und weinte, gewiß vor Scham,
vielleicht vor Schmerz. Ich legte meinen Finger unter ihr Kinn, hob ihr Gesicht an, so daß sie mich ansehen mußte – und für buchstäblich einen Augenblick ließ ich sie sehen, mit wem sie wirklich gebuhlt hatte! Sarah schrie auf und sank kraftlos in die Knie. Ich spürte, wie ihr jämmerlicher Anblick das Feuer meiner Wut erkalten ließ: Aber noch nicht erlöschen … »Willst du dir vorstellen, welche Frucht unser Treiben in deinem Leib wachsen lassen könnte?« fragte ich kalt. »Nein!« schrie sie. »Ich flehe Euch an, Herr, bitte nicht! Erspart mir das –« »Das könnte ich«, sagte ich. »Tut es, bitte!« Sie rutschte auf Knien vor mir und hob flehend die Hände. »Alles würde ich dafür geben, selbst mein Leben –« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich fordere einen anderen Preis dafür, daß das Balg nicht wächst in dir. Nur einen Gefallen sollst du mir schulden.« »Jeden, den Ihr verlangt, Herr!« »Zu gegebener Zeit sehen wir uns wieder.« Ich ergriff ihre Hand. »Und vergiß nicht«, sagte ich, schon im Gehen begriffen, »daß du meinen Samen in dir trägst, auf alle Zeit. Es bedarf nur eines Gedanken meinerseits, um ihn keimen zu lassen …« Dann verließ ich die Grabhöhlen. Sarahs Weinen klang draußen noch über die Hügel …
* Zwischenspiel Gegenwart
»… ich vernachlässigte meine Suche nach dem Menschensohn für eine Weile, weil ich einen anderen, wichtigeren Weg zu gehen hatte. Ich suchte jene Höhlen nördlich des Wadi Qumran auf, die Gadar mir genannt hatte und wo in diesem Jahrhundert eine beträchtliche Anzahl von Schriftrollen aus der Bibliothek des Essener Klosters gefunden wurden. Aber die für diese Welt bedeutsamsten, die dort je aufbewahrt wurden, fand man nicht. Denn ich hatte sie damals schon gefunden und vernichtet!« Lilith war von Gabriels Erzählungen in Bann geschlagen. Nicht nur seiner so plastischen Erzählweise, sondern auch ihres Inhaltes wegen. »Was wurde aus Gadar?« Fast kam sie sich vor wie ein Kind, das seine Mutter bedrängte, ihm am Bett noch etwas vorzulesen. Aber Lilith konnte nicht anders – sie mußte einfach mehr erfahren … alles wollte sie wissen. »Ich traf ihn wieder«, erwiderte Gabriel, ohne in seiner Wanderung entlang der Wand des Felsendoms innezuhalten. »Jahre später, als ich an der Seite des Nazareners zurück nach Gerasa kam …«
* Vergangenheit Der Menschensohn hatte, nachdem auch ich mich ihm angeschlossen hatte, weitere Männer um sich geschart. Bald waren wir zwölf an der Zahl, und unsere Aufgabe bestand darin, von unserem Herrn zu lernen, um selbst Gottes Wort so kundtun zu können, wie er es vermochte. Freilich erreichte keiner von uns seine Klasse, denn das Wort allein war es nicht, was er verbreitete. Er selbst war es, der das Volk bezauberte, und Charisma ließ sich nicht lernen. Dennoch waren wir nicht immer beisammen, weil der Nazarener
uns bisweilen aussandte, um einen anderen Weg zu gehen als er, auf daß wir die Botschaft des Herrn an möglichst vielen Orten verkündeten. Daß ich dieser Pflicht nicht nachkam, versteht sich wohl von selbst. Um aber nicht in Ungnade zu fallen, war ich stets darauf bedacht, nicht zu den Ausgesandten zu gehören. Ich hielt mich, schon um ihn zu beobachten, so oft wie möglich in der Nähe des Menschensohnes. So kam es, daß nur er und ich eines Tages – und auf mein unauffälliges Drängen hin – nach Gerasa am Ufer des Sees Genezareth gelangten, während die anderen in der weiteren Umgegend ihre Mission erfüllten. Unser Weg führte entlang jener Hügelkette, wo ich vor langem auf den Vampir Gadar getroffen war … »Hast du das gehört?« Der Nazarener blieb stehen. Sein Blick schweifte suchend durch die Dämmerung, die sich übers Land gelegt hatte und in den Klüften zwischen den Hügel beiderseits des Weges schon zu Dunkelheit gerann. »Nein«, antwortete ich, »was soll ich gehört haben?« Ich log. Denn das schaurige Heulen, das von fern zu uns gedrungen war, hatte ich sehr wohl gehört. »Da war es wieder!« rief der Menschensohn. Diesmal konnte ich es nicht leugnen. »Laß uns der Sache auf den Grund gehen«, meinte er. »Mir scheint, daß dort Gräber in den Hügeln sind, und vielleicht betrauert jemand einen jüngst Verstorbenen. Dann wollen wir ihm Trost spenden.« »Klingt eher, als sei da jemand nicht recht bei Trost«, murrte ich ahnungsvoll. Aber der Nazarener ging schon von der Straße ab und suchte sich einen Pfad in die Hügel hinauf, und ich folgte ihm. Das wehe Heulen wies uns den Weg, und je näher wir seiner Quelle kamen, desto
deutlicher war es zu vernehmen. Ein wirres Gebrabbel war es, nur einzelne Worte waren zu verstehen, und selbst sie entbehrten allen Sinns. »Ich hatte wohl recht«, meinte ich. »Dann, Bartholomäus, hat dieser arme Kerl unseren Beistand nur um so nötiger«, beharrte mein »Herr«. Ich haßte seine belehrende Art mitunter, tröstete mich aber stets damit, wie ich ihn in der Maske des jungen und ach so unschuldigen Bartholomäus doch so leicht zum Narren halten konnte. Ich wußte längst, wen wir in den Grabhöhlen antreffen würden. Und ich war gespannt, was geschehen würde, wenn der Menschensohn auf gerade diesen Vampir traf …
* »Wer bist du?« fragte der Menschensohn in das stinkende Dunkel der Höhle, das nur von einem schmalen Streifen Dämmerlicht durchschnitten wurde, das durch den Gang hinter uns hereinfiel. Gedars ausgemergelte Gestalt war kaum zu erkennen. Der Vampir gab einen wirren Laut von sich, den man nur dann als seinen Namen identifizieren konnte, wenn man ihn ohnedies schon kannte. »Wir sind hergekommen, um dir zu helfen«, erklärte der Nazarener. Oh, dieser naive Narr! ging es mir durch den Sinn. Er hat keine Ahnung, womit wir es hier zu tun haben! Denn dieser Kreatur würde er nicht mit eindrucksvollen Worten beikommen – – andererseits drohte uns von Gadar auch keine Gefahr. Schließlich hatte ich ihn dazu verflucht, sich seit unserer ersten Begegnung nicht mehr von menschlichem Blut ernähren zu dürfen. Nur aus der Ader von Tieren war es ihm noch erlaubt zu saufen. Und er konnte sich diesem meinem Zwang unmöglich widersetzen!
Wie er es doch geschafft hatte, mich zu hintergehen, sah ich, als der Nazarener eine Fackel entzündete, die er stets in seinem Gepäck mit sich führte. Das Feuer trieb die Finsternis in die Winkel der Höhle – und wir erkannten, woher der grauenhafte Gestank rührte! Die Höhle war mit Toten mehr gefüllt, als ein Grab dieser Art es normalerweise war. Sie quoll schier über von Leichen, und gleich, wie stark sie verwest waren, jeder einzelnen war anzusehen, daß sie eines gewaltsamen Todes gestorben war – – durch Gadars Hand! Denn zu töten hatte ich ihm mit meinem Fluch schließlich nicht verboten … Ein regelrechtes Figurenkabinett hatte der Vampir sich da geschaffen, das sein gestörter Geist als Gesellschaft wider die Einsamkeit in den Höhlen ansehen mochte. Und wir sollten die nächsten sein, die es bereicherten … »Töte ihn!« Ich trat neben den Nazarener und wies auf den Vampir, der einige Schritte entfernt stand und das Gesicht hinter den erhobenen Armen barg, weil das Fackellicht ihn blendete. »Was?« entfuhr es dem Menschensohn. »Du mußt ihn töten«, wiederholte ich. »Siehst du denn nicht, was er angerichtet hat?« Ich zeigte in die Runde. »Willst du, daß er uns dasselbe antut?« »Ich bin weder sein Richter noch sein Henker«, sagte der Nazarener. »Dann wirst du zu unserem Mörder!« Verdammt, ich konnte Gadar nicht töten! Ich hatte ihm vor Jahren in die Hand versprochen, sein unwürdiges Leben zu schonen! Und ein Pakt war für mich so zwingend wie für jene, mit denen ich ihn schloß. Gadar kam näher. Seine Augen schienen sich an das Licht zu gewöhnen. In seinem verzerrten Gesicht klaffte der Mund auf; gelbe Zähne kamen zum Vorschein, noch immer gefährlich spitz.
Zwar würde er mir damit nicht schaden können, wohl aber dem Nazarener – das wenigstens nahm ich an, immerhin wußte ich noch immer wenig über sein tieferes Wesen. Und ich sah mich außerstande, ihm wirkungsvoll beizustehen. Aber ich durfte nicht zulassen, daß ihm etwas zustieß – denn dies sollte allein mein Vorrecht sein! Zu gegebener Zeit … »Vater im Himmel!« rief er aus. »Was ist –?« »Was er ist?« fragte ich, Furcht vortäuschend. »Siehst du es denn nicht? Ein Ungeheuer ist er!« Noch während ich sprach, sann ich über Möglichkeiten nach, einzugreifen. »Da! Vorsicht!« schrie ich so laut, daß der Nazarener zusammenfuhr und sich herumdrehte, meinem ausgestreckten Finger mit seinem Blick folgend. »Was soll –?« Weiter kam er nicht. Mein Hieb traf seinen Nacken und ließ ihn besinnungslos zu Boden stürzen. Langsam wandte ich mich Gadar zu, und in der Bewegung ließ ich mein Gesicht, das ich von Geburt an trug, durch die Züge des Bartholomäus’ dringen, und mein ureigener Geruch dampfte mir wie Schweiß aus allen Poren – »Duuu?« quoll es dumpf aus Gadars Maul. »So ist es«, sagte ich und wies in die Runde, wo Tote kreuz und quer übereinander lagen. »Wie ich sehe, hast du dich mit deinem Schicksal arrangiert.« Entsetzt wich Gadar zurück, die Arme wieder hochreißend, diesmal aber nicht, um seine Augen zu schützen. »Geh!« preßte er hervor, und irgendwie brachte er es fertig, seine Zunge besser in Zaum zu bekommen. »Laß mich! Was willst du mir noch antun? Genügt es dir nicht, daß ich mich vom Blut stinkender Schweine nähren muß?« Ich grinste amüsiert. »Ach? Tust du das?« Er nickte. »Ja. Die Hirten hüten sie gleich hinter den Hügeln, nahe
dem See. Andere Tiere sind nicht greifbar für mich. Ich kann die Höhlen kaum noch verlassen, bei Tage zumindest. Das Licht verbrennt meine Augen.« »Was ist mit ihnen?« Wieder traf mein Blick die Ermordeten ringsum. »Reisende, die meisten von ihnen«, antwortete Gadar. »Einige stammten aus der Stadt. Die Gerasener meiden die Gräber hier, seit sie glauben, ein furchtbarer Geist hause hier.« »Haben sie denn nicht recht mit dieser Annahme?« fragte ich. »Ist es nicht ein furchtbarer Geist, der hier haust – ein furchtbar zugerichteter ist es in jedem Fall!« Ein schauerlicher Laut entrang sich der Kehle des Vampirs und schwang durch die Höhle. »Warum tötest du mich nicht? Ich wäre froh darum –« »Ich kann es nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Und wenn ich dich zwinge?« entgegnete Gadar verschlagen. »Was nämlich würde geschehen, wenn ich ihm –«, er wies auf den Nazarener hinab,»– verraten würde, wer und was du wirklich bist? Ich bin sicher, er weiß es nicht. Weshalb sonst solltest du dich mit einem fremden Gesicht maskieren?« »Dann«, sagte ich langsam, »wäre ich gezwungen, etwas zu tun.« Und ich tat etwas … ZZZUUUWWW!
* ZZZUUUWWW! Für Gadar konnten nicht mehr als drei oder vier Sekunden vergangen sein; nicht genug Zeit jedenfalls, als daß er die Verwirrung hätte abstreifen können, in die mein plötzliches Verschwinden und meine Rückkehr aus dem Nichts ihn gestürzt haben mußten. Ich war nach Gerasa »gegangen« … und nicht allein zurückge-
kommen. Bei mir befand sich eine »alte Bekannte«, sowohl von mir als auch von Gadar … Sarah entglitt kraftlos meinem Griff und sackte zu Boden, wo sie sich vor meine Füße erbrach, so mitgenommen hatte sie die für Menschen so entsetzliche Art meines Reisens. Aus dem Mädchen von einst war eine Frau geworden, und die Jahre hatten ihre Schönheit zu noch größerer Blüte gebracht. Ihre Erinnerung indes hatten sie nicht gemindert. Ihrem Blick entnahm ich, daß sie noch um mich wußte, als wären wir uns gestern erst begegnet. Das wunderte mich nicht. In gelindes Erstaunen versetzte mich allenfalls, daß ich nicht so viel Angst in ihren Zügen fand, wie ich es erwartet hätte. Fast nüchtern klang ihre Stimme, als sie sagte: »Da bist du also wieder.« Ich nickte. »Bist du gekommen, um endlich den Gefallen einzufordern, den ich dir schulde?« fragte Sarah. »Nein, soweit ist es noch nicht«, erwiderte ich. »Trotzdem kannst du etwas tun –« Ich ging in die Knie, um die noch immer brennende Fackel aufzuheben, die der Hand des Nazareners entfallen war. Dann reichte ich sie Sarah. »Was soll ich damit?« wollte sie wissen. »Dich verteidigen.« »Gegen dich etwa?« Ein seltsames Lächeln kräuselte ihre vollen Lippen. »Ich bin sicher, daß dir damit nicht beizukommen ist.« Ich überging ihre Bemerkung und trat beiseite. Bislang hatte meine Gestalt ihren Blick auf den Vampir verwehrt. Jetzt sah sie ihn, und sein Anblick erschreckte sie mehr als das Wiedersehen mit mir. »Gegen ihn«, sagte ich trocken und wies wie einladend in Gadars Richtung. »Ich glaube, du hast mit ihm noch eine Rechnung zu begleichen, oder? Ist er nicht schuld, daß du mir begegnet bist?« Ein Funkeln wie von Metall ließ Sarahs dunkle Augen blitzen.
»Wie wahr …«, knurrte sie kehlig und erhob sich. Mit vorgereckter Fackel trat sie dem Vampir entgegen …
* Gadar starb stumm, obwohl sein Schmerz unvorstellbar sein mußte. Doch das Gefühl der Erlösung mochte mächtiger sein, und so war nur das Prasseln des Feuers zu hören, als die flammenden Mäuler seine zerlumpten Kleider und schließlich sein untotes Fleisch fraßen und nur Staub und Asche wieder ausspien. Sarah ließ die Fackel sinken. Lange ruhte ihr Blick auf den kläglichen Resten des Vampirs, der sie mir quasi in die Arme getrieben hatte. Ich sah ihr an, daß sie keine Erleichterung verspürte. Aus gutem Grunde – denn aus meiner Pflicht war sie noch nicht entlassen! Den Vampir hatte sie schließlich nicht um meinetwillen vernichtet, sondern eigener Vergeltung wegen. Und sie wußte es. »Wirst du jetzt wieder gehen?« fragte sie. »Oder ist es an der Zeit für den Dienst, den ich dir erweisen muß, um meiner Seele willen?« »Ja«, antwortete ich, »jetzt sollst du etwas für mich tun.« »Was?« Ich wies schweigend auf den Menschensohn, der noch immer reglos am Boden lag. »Wer ist er?« wollte Sarah wissen. »Man nennt ihn den Nazarener. Du hast sicher schon von ihm gehört –« Ihre Augen weiteten sich. »Wer hat das nicht? Er soll ein Wohltäter und Wunderheiler sein, sagt man. Andere halten ihn für den vom Tode zurückgekehrten Täufer Johannes, und manche glauben, er sei der Prophet Elia, der den Schriften zufolge vor dem Endgericht Gottes noch einmal auf Erden gehen soll –«
»Nun«, meinte ich launig, »all das ist er nicht.« »Was ist er dann?« »Du wirst es herausfinden«, sagte ich. »Wie?« »Indem du uns begleitest«, erklärte ich. »Du sollst an seiner Seite sein.« Mein Blick traf den Nazarener, und Sarah konnte ihn nicht mißverstehen. »Ich soll –?« Sie stockte. »Du sollst ihn beschäftigen an den Tagen und in den Nächten, wenn ich seinen Blick nicht auf mir wissen will«, erläuterte ich, was ich von ihr verlangte. »Was hast du vor?« fragte sie lauernd. »Dir dies zu verraten«, erwiderte ich mit kaltem Lächeln, »ist nicht Teil unseres Paktes.« Eine Bewegung am Rande meines Blickfelds erregte meine Aufmerksamkeit. Der Nazarener rührte sich und schlug die Augen auf. »Was …«, setzte er an und verzog vor Schmerz und Benommenheit das Gesicht. »Was ist geschehen?« Eilends ließ ich mein Gesicht hinter dem des Bartholomäus verschwinden. Dann nahm ich Sarah am Arm und rückte sie in die Blickrichtung meines »Herrn«. »Sie hat uns vor dem sicheren Tod bewahrt«, sagte ich feierlich. Schwerfällig kam der Nazarener hoch. »Du meinst, sie hat –« Sein Blick suchte den Vampir und fand den Staub am Boden. »Ich konnte nicht anders«, behauptete Sarah, nachdem ich ihren Arm etwas fester gedrückt hatte. Ein kluges Kind, wahrlich. – Wie klug sie wirklich war, das wußte ich zu jener Zeit noch nicht … Sarah ging mit uns, als wir die Grabhöhlen verließen. Draußen erstarrten wir; ja, selbst ich erschrak für einen Moment, als ein wüster Chor absonderlichster Laute, ein Quieken und Röhren wie von Tieren auf der Schlachtbank durch die Nacht an unser Ohr drang.
Wir liefen auf die nächste Hügelkuppe hinauf und blieben stehen, als seien wir gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Vor uns breitete sich der See Genezareth aus, und seine Wasser brodelten entlang des Ufers unter uns, als kochten sie. »Was geschieht da?« fragte Sarah mit erstickter Stimme. »Die Schweine«, stieß der Nazarener im gleichen Ton des Entsetzens hervor, »sie gebärden sich wie irr und stürzen sich in den See …« Der Lärm der außer Rand und Band geratenen Sauherde schien aus tiefster Hölle aufzusteigen. Ich wußte, wie zutreffend dieser Vergleich war – – und ich wußte als einziger von uns, was da geschah. Dienerkreaturen eines Vampirs hatten ihren Meister verloren … … und ihren »Verstand« dazu.
* Zwischenspiel »Was geschah dann?« wollte Lilith wissen. Gabriel hob die Schultern. »Alles lief in meinem Sinn. In Gerasa verbreiteten die Schweinehirten, daß der Nazarener dem Besessenen, der in den Grabhöhlen hauste, die bösen Geister ausgetrieben und in die Schweine hatte fahren lassen. Das ängstigte die Menschen, und sie baten uns, die Stadt zu verlassen.« Gabriel grinste. »Wie gesagt – ganz in meinem Sinne.« »Und das Mädchen?« fragte Lilith weiter. »Es steht nicht geschrieben, daß Sarah ihn durch das Heilige Land begleitet hätte.« »Es steht so vieles nicht geschrieben«, erinnerte der Teuflische. »Und bedenke zudem, daß eine Frau zu jener Zeit wenig galt. Die Chronisten mögen Sarah der Erwähnung nicht für wert befunden haben.«
»Aber sie blieb bei euch?« Gabriel nickte. »Ja, weil ich es wollte.« Er grinste verschlagen. »Und sie leistete mir gute Dienste …«
* Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und fragte: Wer ist der? Matthäus, Kap 21, Vers 10 Vergangenheit Sarah sorgte allein schon mit ihrer Gegenwart dafür, daß der Menschensohn nicht hinter mein Tun kam. Ich bezweifle zwar, daß er es überhaupt bemerkt hätte, denn ich war stets auf Heimlichkeit und Vorsicht bedacht, aber vielleicht wäre er zumindest mißtrauisch geworden. Denn immerhin verschwand ich so manches Mal, um mir Menschen mittels eines Paktes gefügig zu machen, und hinter seinem Rücken tat ich manches, was die Leute dann dem Nazarener zuschrieben. Kurzum, ich sorgte dafür, daß seine Person das Volk gleichsam spaltete: die einen hielten ihn für einen Wundertäter, die anderen sahen eine Gefahr in ihm und seiner Macht sowie dem Anspruch, den er angeblich stellte: den nämlich, ein König zu sein. Freilich brauchte diese meine Saat lange Jahre, bis sie die gewünschten Früchte trug. Und als ich sah, daß die Zeit gekommen war, sorgte ich dafür, daß wir uns dorthin wandten, wo ich die Ernte endlich einbringen wollte … Stets hatten wir Jerusalem gemieden, weil der Nazarener wußte, daß die Stimmung gegen ihn dort am stärksten war. In Jerusalem war die weltliche Macht des Landes, und mit ihr wollte er sich nicht
anlegen – – bis er meinem Drängen schließlich nachgab. Ich redete ihm ein, daß es nicht im Sinne des Herrn sein könnte, Seine Botschaft einzig in Jerusalem nicht zu verkünden, und so gab er also nach. Wie einen König empfing man ihn. Auf einem Esel ließen sie ihn durchs Tor reiten, und seinen Weg bereiteten sie ihm, indem sie ihre Kleider und Zweige darüber breiteten, damit der Verheißene den Staub nicht berühren mußte. Das Aufsehen, für das die Anwesenheit des Nazareners in Jerusalem in der Zeit danach sorgte, war immens. Das einfache Volk drängte sich in Massen um ihn, und manches Mal blieb uns nur die Flucht, um dem Ansturm zu entkommen. Sie wollten, daß er zu ihnen sprach, und sie verlangten nach Wundern. Je höher die Wogen der Begeisterung um den Menschensohn schlugen, desto mehr wuchs der Zorn derer, die bislang alle Aufmerksamkeit für sich gehabt hatten. Auch sie gaben an, in Gottes Diensten zu stehen, aber sie taten es auf profane Art, und das Wirken des Nazareners öffnete den Menschen die Augen für das wahre Wesen der Hohepriester und Schriftgelehrten. Er ließ sie erbärmlich aussehen, Scharlatanen gleich. Ich hielt Augen und Ohren offen, um den rechten Zeitpunkt nicht zu versäumen, nun, da schon alles ganz so lief, wie ich es gewollt und geahnt hatte … … und dann eines Tages war er gekommen! Die Zeit war reif, und reif waren auch jene, die ich mir zunutze machen wollte für meinen Plan, der Schmerz über das Volk bringen und ihre Führer mit Schuld belasten sollte. In dieser Nacht wies ich Sarah an, besonders darauf acht zu haben, daß mein Verschwinden unbemerkt bliebe. Dann suchte ich sie alle heim – die Priester, die Gelehrten, die Ältesten und die Machthaber Jerusalems. Sie für meine Zwecke zu gewinnen war leicht. Ich mußte ihnen
nur in die Hand versprechen, daß sie ihren Einfluß zurückgewinnen würden, und im Gegenzug schworen sie, alles zu tun, um sich (und mich) des Nazareners zu entledigen. Mit allen wurde ich handelseinig – nur einer widerstand meiner Versuchung …
* Dieses Haus war das prächtigste, das ich in jener Nacht betreten hatte. Ein Palast war es, und darin residierte der Mann, dem der Kaiser des Römischen Reichs die Regierungsgewalt über Jerusalem verliehen hatte. Ich hatte mit ihm in gleicher Weise geredet wie mit den anderen, die ich zuvor besucht hatte, doch verfingen meine Worte nicht bei ihm. Wohl auch deshalb, weil er sie nicht recht verstehen mochte, denn sein Geist war umnebelt vom Wein, und er hielt mich offenbar für ein Gespenst, das ihm der Suff nur vorgaukelte. »Du begehst einen Fehler«, warnte ich ihn. Doch er lachte nur trunken. »Einen Fehler würde ich nur dann begehen, wenn ich glaubte, du wärest wirklich.« »Was hättest du zu verlieren, wenn du auf meinen Vorschlag eingingest? Wäre ich nur eine Ausgeburt deines weinseligen Hirns, würde nichts zu deinem Nachteil geschehen, oder?« Er richtete sich schwerfällig in seinem gepolsterten Stuhl auf. Ein erbarmungswürdiger Anblick … »O doch«, grunzte er dann und drohte mir mit schwankendem Finger, »ich hätte mich zum Narren vor mir selbst gemacht! Das wäre geschehen.« Ich verzog geringschätzig die Lippen. »Nun, dann sieh dir das an –« Mein Blick traf eine bronzene Büste, die den Kopf des Kaisers zeigte – und noch in der Sekunde in schwarzem Feuer lautlos zerbarst,
dessen kalte Glut die Trümmer schmolz. »Beeindruckend«, meinte der andere lapidar mit schwerer Zunge. Dann sank er zurück, schloß die ohnedies schon schmalen Augen und schlief ein. Ich musterte ihn noch eine Weile, ehe ich mich zum Gehen wandte. »Ein fürchterliches Erwachen wünsche ich dir, Pontius Pilatus«, sagte ich leise und sah noch einmal zu den Trümmern der Büste hin. Dann verließ ich den Palast des Statthalters.
* Einer von den Männern, mit denen ich einen Pakt geschlossen hatte, informierte mich Tage später, daß die Gefangennahme des Nazareners in der kommenden Nacht erfolgen sollte. Die Hohepriester und Gelehrten hatten in dieser Zeit gute Dienste geleistet. Flammende Reden hatten sie vor dem Volk und in den Tempeln gehalten, und dank der Überzeugungskraft, die ich ihnen verliehen hatte, fielen ihre hetzerischen Worte auf fruchtbaren Boden und keimten in den Herzen der Menschen. Die Stimmung in Jerusalem schlug um. Man sah einen Frevler in dem Nazarener, der sich anmaßte, Gottes Sohn zu sein, und unterstellte ihm falsche Beweggründe. Fortjagen wollten sie ihn, und das war noch der mindeste Ruf, der laut wurde im Volk. Als ich die Nachricht erhielt, daß es soweit war, wie ich es wollte, hatte das Passafest gerade begonnen. Der Tradition folgend versammelte der Nazarener uns zum Passamahl um sich, das uns im Hause eines der wenigen Männer, die noch zu ihm standen, aufgetragen wurde. Josef hieß jener Mann, und er stammte aus Arimathia. Es wurde wenig gesprochen bei Tisch, denn was geschehen war, schlug jedem in der Runde aufs Gemüt. Niemandem fiel auf, daß meine Bestürzung nur zur Schau getragen war. Im Gegenteil, der Nazarener sprach einen der anderen an, weil dessen Verhalten ihm
seltsam schien. »Judas, mein Freund«, sagte er, »du scheinst mir – nun, etwas bedrückt dich in ärgerem Maße als alle anderen, denke ich.« »Wie kommst du darauf, Herr?« Judas Iskariot sah erschrocken auf. Der Nazarener hob nur die Schultern und lächelte schwach. »Es –«, begann Judas lahm, und jeder spürte, daß ihm etwas auf der Zunge lag, das ebenso sein Herz belastete; aber er sprach es nicht aus. »Es ist nichts«, sagte er statt dessen. »Mir ist nur nicht wohl. Doch wen sollte das wundern?« Sein Blick machte die Runde, und jeder sah betreten drein. Judas erhob sich. »Vielleicht hilft mir frische Luft«, sagte er und verließ das Haus. Der Nazarener wollte ihm nach, doch ich stand schneller auf als er. »Laß nur«, hielt ich ihn auf, »ich sehe nach ihm. Mir wird schon etwas einfallen, um ihn aufzumuntern.« Ich lächelte zuversichtlich und folgte Judas hinaus. Denn mir war eine Idee gekommen, wie ich noch mehr Übles säen konnte …
* Ich fand Judas unter einem Baum, wo er sich in den Schatten versteckte, wie mir vorkam. Das Zwielicht des Abends reichte dort schon nicht mehr hin. Neben ihm ließ ich mich nieder. Er schenkte mir keinen Blick, aber ich meinte selbst etwas von der unsichtbaren Last zu spüren, die auf ihm lag. »Worüber sorgst du dich?« fragte ich. »Und warum sprichst du nicht mit ihm darüber?« Ich wies zum Haus. »Er hat doch für alles und jeden ein offenes Ohr und hilft, wie er nur kann.« Judas lachte kurz und bitter. »Von dieser Sorge kann er mich nicht mit bloßen Worten befreien. Er kann mir nicht geben, was ich bräuchte.«
»Was bräuchte es, um dir zu helfen?« Judas sah mich an. Sein Gesicht lag im Dämmer, aber seine Augen glänzten, als stünden ihm Tränen darin. »Geld«, brachte er endlich heiser hervor. Er schluckte, doch das Sprechen wurde ihm dadurch nicht leichter: »Viel Geld bräuchte ich.« »Wozu?« wollte ich wissen. Ich ahnte es schon, und Judas’ Antwort bestätigte meinen Verdacht. »Ich habe gespielt – und verloren.« Ich wußte um seine Lust am Risiko, bisweilen auch an der Gefahr, und der Nazarener selbst hatte ihm ein ums andere Mal zugeredet, sich zu mäßigen und zurückzuhalten: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, hatte er gesagt. Aber Judas war unbelehrbar gewesen in dieser Hinsicht. Ich lächelte still. »Vielleicht kann ich dir helfen?« meinte ich. »Du, Bartholomäus?« Judas lachte freudlos auf. »Wie solltest du? Bist doch selbst so arm wie jeder von uns Zwölfen –« »Das glaubst du.« Meine Hand fuhr unter mein Gewand, und helles Klimpern von Metall ertönte leise. »Was hast du da?« fragte Judas. In seine Augen trat ein anderer Glanz, nicht der von Tränen, sondern jenes Funkeln, das ich von ihm kannte, wenn Wagemut und Tollkühnheit in ihm erwachten. »Etwas, das dir helfen wird, wenn –«, den Rest meiner Worte ließ ich unausgesprochen, um Judas noch zu reizen. »Wenn?« Sein Blick hing an der Stelle meines Gewandes, wo ich meine Hand verborgen hielt. Seine Stimme klang rauh. »– du mir im Gegenzug versprichst, etwas zu tun, das ich von dir verlange.« »Was soll ich tun?« fragte er ohne Zögern. Ich verriet ihm, was geschehen würde (und tat, als vermutete ich diese Ereignisse nur), und was er sodann zu tun hätte. »Du bist von Sinnen!« entfuhr es ihm. »Das … das kann ich nicht
tun!« »Wie du meinst«, erwiderte ich leichthin, und das Klirren der Münzen verstummte wie abgeschnitten. Judas leckte sich die Lippen. »Zeig sie mir«, verlangte er heiser. »Zeig mir die Münzen.« Ich streckte ihm die leere Hand hin. »Schlag erst ein, und sie sollen dein sein.« Er starrte meine Hand an wie ein Tier, das ihn mit Zähnen und Giftstachel bedrohte. »Wir werden nicht ändern, was geschehen wird«, versuchte ich ihn weiter, »ganz gleich, was wir tun. Im Grunde lädst du dir also keine Schuld auf, wenn du tust, was ich verlange.« »Warum willst du, daß ich das tun soll?« Ich hob belehrend den Finger. »Auch das soll noch Teil unseres Handels sein: keine Fragen!« Wieder ließ ich das lockende Geräusch erklingen. Judas holte tief Atem – und schlug endlich ein! So fest umschloß seine Hand die meine, als wolle er mir die Knochen brechen. Doch ich lächelte nur. Dann reichte ich ihm den ledernen Beutel. Er öffnete ihn mit fliegenden Fingern und sah hinein. Ein Keuchen floh ihm von den Lippen, und seine Augen weiteten sich. »Das sind –« »– dreißig Silberlinge«, sagte ich. »Du brauchst sie nicht zu zählen. Ich hoffe, das ist genug, um deine Schulden zu zahlen.« »Mehr als genug!« Ich erhob mich, als ich in der Ferne Schritte in großer Zahl vernahm. Sie wurden lauter. Sie kamen, um ihn zu holen … Ich ging zurück zum Haus. Über die Schulter rief ich Judas Iskariot noch etwas zu. »Du weißt, wo du uns finden wirst. Vergiß es nicht.«
Ich ahnte sein Kopfschütteln nur. Deutlich hörte ich das Klimpern der Silbermünzen. Es würde in seinen Ohren klingen bis zu seinem bitteren Ende …
* Ich trat so stürmisch in das Haus des Josef von Arimathia, daß alle Blicke sich auf mich richteten. In die weichen Züge des Bartholomäus zwang ich nackte Furcht, meine Augen waren die eines gehetzten Tieres. »Was ist mit dir?« Der Nazarener erhob sich, und die anderen taten es ihm nach. Ihre Stühle fielen polternd hintenüber, und der Kelch, aus dem wir zuvor, der Passatradition folgend, gemeinsam getrunken hatten, rollte vom Tisch. »Sie kommen«, schnaufte ich, Anstrengung und Angst vorgaukelnd. »Wer?« schallte es mir entgegen. »Die Soldaten!« rief ich. »Sie wollen dich gefangennehmen, Herr! Rasch, laß uns fliehen!« Der Nazarener sah mich ruhig an. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sollen sie mich mitnehmen. Ich bin mir keiner Schuld bewußt.« »Unsinn!« beharrte ich. »Sie werden nicht nach deiner Schuld fragen, und sie werden es nicht dabei belassen, dich einzusperren. Die Stadt schreit nach deinem Blut, Herr!« Ich trat zu ihm und packte ihn am Arm. In den Augen der anderen las ich Zustimmung. »Nun komm!« trieb ich ihn an. Noch immer zögerte er. Bis Josef von Arimathia zu uns kam und sich vor den Nazarener stellte. Tief sah er ihm in die Augen, und der Ernst in seinem Gesicht hatte etwas Feierliches. »Geh«, sagte er eindringlich. »Geh mit dem Jungen. Ich werde die Häscher hier aufhalten, so lange ich kann.«
»Ich will kein Blutvergießen unter Unschuldigen«, erwiderte der Menschensohn. Unser Gastgeber schwieg, aber sein Blick war beredt genug, um den Nazarener endlich zu bewegen. Ohne ein Wort folgte er mir. Mit einem Wink bedeutete er Simon Petrus und dessen Bruder Andreas, mit uns zu gehen. Die anderen sollten hierbleiben, um Josef von Arimathia gegen die Soldaten beizustehen. »Wohin führst du uns?« fragte der Nazarener, nachdem wir das Haus durch eine Hintertür verlassen hatten und in der Nacht standen. »An einen Ort, wo sie uns nur schwer finden werden«, sagte ich. »Im Garten Gethsemane gibt es Verstecke zuhauf.«
* … die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird überantwortet in die Hände der Sünder. Markus, Kap 14, Vers 41 Die Ölkelterei* war vor langem aufgegeben worden und dem Zahn der Zeit anheimgefallen. Die Bauten waren teils bereits eingestürzt, das umliegende Gelände von Unkraut und hohem Gras überwuchert. Bei Tage war dies ein friedlicher und idyllischer Ort im Herzen von Jerusalem, und der Nazarener war manches Mal hier hergekommen, wenn er Erholung vom anstrengenden Predigen gesucht hatte. Bei Nacht jedoch war Gethsemane menschenleer und gespenstisch. »Hier wird uns niemand suchen«, log ich und drängte meine Be*Ölkelter ist die wörtliche Übersetzung für »Gethsemane«
gleiter in die Schatten einer Ruine. Lange Zeit schwiegen wir. Jeder hing stumm seinen Gedanken nach, wenn auch den Nazarener und die Brüder andere bewegten als mich. Nach einer Weile schliefen Petrus und Andreas ein, und auch ich stellte mich schlafend. Der Menschensohn entfernte sich ein Stück von uns, und ich hörte sein Klagen in der Nacht. Als er zurückkam und sich wieder zu uns gesellte, kam er mir auf unbestimmbare Art verändert vor – gestärkt, nicht mehr von Furcht erfüllt … »Wo warst du?« fragte ich, ein Gähnen vortäuschend. »Was hast du getan?« »Ich bin mit mir ins Reine gekommen«, sagte er nur, nahm wieder Platz und schaute schweigend in die Finsternis. Dabei spielte ein Lächeln um seine Lippen, als sehe er etwas, das nur seinen Augen bestimmt war. Daran änderte sich auch nichts, als Stimmen erklangen und lauter wurden. Schwere Schritte kamen näher, Waffen klirrten, Speerschäfte schlugen aneinander. Petrus und Andreas sprangen auf, und ich tat es ihnen gleich, als die Soldaten vor uns traten. Schwarz wirkten sie im Gegenlicht des Mondes, gesichtslose Schatten. Nur die Züge eines Mannes erkannten wir. Er trat noch einen Schritt vor. Sein ausgestreckter Arm wies auf den Nazarener, der sich zwar ebenfalls erhoben hatte, allerdings deutlich langsamer als wir. »Das ist er«, sagte Judas. »Ihn nennen sie den König der Juden.« »Du Bastard!« schrie Petrus auf und wollte sich auf den Verräter stürzen. Ich hielt ihn zurück. »Nein, mein Freund! Er ist es nicht wert, daß du dir die Hände an ihm besudelst.« Ich spuckte aus vor Judas, und mein Grinsen sah nur er allein. Er senkte den Blick und trat zurück. »Sollen wir tatenlos zusehen, wie –«, begann Petrus von neuem,
und ehe ich mich versah, hatte er sich aus meinem Griff gelöst, sprang zu einem der Soldaten hin und riß ihm das Schwert aus dem Gürtel! Schon hob er die Klinge über den Kopf und ließ sie niedersausen! Sie hätte dem Soldaten den Schädel bis zum Hals gespalten – – aber sie tat es nicht. Weil der Nazarener selbst eingriff und seinem ersten Jünger in den Waffenarm fiel! Dennoch brüllte der überrumpelte Soldat auf. Das Schwert hatte zwar nicht seinen Kopf getroffen, sondern war buchstäblich haarscharf daran vorübergestrichen – sein Ohr allerdings stand der Klinge im Wege. Und erwies sich als nachgiebiger denn das Schwert … Der Nazarener entwand Petrus die Waffe und reichte sie dem Soldaten, der seine Hand gegen das verletzte Ohr gepreßt hielt. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Mit der anderen Hand nahm er das Schwert entgegen. »Wer das Schwert nimmt, der wird durch das Schwert umkommen«, sagte der Menschensohn, und dem Soldaten entglitt die Waffe, als sei sie mit einemmal glühend heiß. Die anderen jedoch ließen sich von den Worten des Nazareners und seinem Gleichmut nicht beeindrucken. Während ein paar Bewaffnete mich und die beiden Brüder bedrohten, ergriffen andere unseren »Herrn« und führten ihn weg. Als sie außer Sicht waren, ließen unsere Bewacher uns ziehen. Ich wies Petrus und Andreas an, zu unseren Freunden zu eilen, um ihnen Bericht zu erstatten. »Was hast du vor?« fragte Andreas. Ich sah in die Richtung, in der die Soldaten mit dem Nazarener abgezogen waren. »Ich will sehen, ob ich noch etwas tun kann«, sagte ich und lächelte ins Dunkel der Nacht.
* … doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre. Matthäus, Kap 26, Vers 24 Auf meinem Weg durch den verwilderten Garten der Ölkelterei machte ich noch eine Entdeckung … Als ich unter den ausladenden Ästen eines Baumes herging, streifte etwas mein Haar, etwas Hartes, das im Winde hin und her schwang. Ich sah hinauf – und in das Gesicht Judas Iskariots, das starr zu mir herabstierte, die Augen groß und rund in den Höhlen, die hervorgequollene Zunge zwischen den Lippen eingeklemmt. Der Verräter hatte sich mit dem Gürtelstrick seines Gewandes erhängt. Ich berührte seinen Fuß, der mich gestreift hatte, und ließ den Toten heftiger schaukeln. Nur das Knarren des Astes war zu hören, der unter dem Gewicht des Toten ächzte. Ich hatte erwartet, das Klimpern der dreißig Silberlinge zu hören. Doch die Münzen waren verschwunden, fort wie die Seele des Selbstmörders, die ewig keine Ruhe finden würde …
* Pilatus sprach zu den Hohepriestern und zum Volk: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen. Lukas, Kap 23, Vers 4
Auf den weiteren Verlauf der Geschehnisse, wie sie hinlänglich bekannt sind, nahm ich keinen Einfluß. Ich hatte die Saat dafür gelegt und konnte nun zusehen, wie die Früchte meines Tuns gediehen. Bemerkenswert aber scheint mir noch die Rolle, die dem Statthalter Pontius Pilatus zukam … Er hatte am Morgen nach unserer Begegnung, wohl mit schwerem Kopfe, einsehen müssen, daß ich nicht seiner Einbildung entsprungen war. Die Trümmer der Kaiserbüste mußten ihm die Augen für die Wahrheit geöffnet haben. Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, wie es ihn umgetrieben haben muß in der Zeit danach, als er merkte, wie die Hohepriester und Räte gegen den Nazarener hetzten. Nur er hegte keinen Groll gegen den Mann, dem die anderen anhängten, er maße sich an, der König der Juden und Gottes Sohn zu sein. Aber Pilatus vermochte nichts dagegen zu tun. Seine Stimme allein galt nichts im Chor der Aufrührer, und seine Bedenken und milden Worte gingen darin unter. Und auch die Gefangennahme des Nazareners konnte er nicht verhindern. Die einzige Möglichkeit, um den Menschensohn vor einem ungerechten Urteil zu bewahren, sah Pontius Pilatus in einer alten Tradition zum Passafest: In diesen Tagen nämlich gaben die Statthalter in Jerusalem dem Volk stets einen Gefangenen frei. Und Pilatus erwählte diesmal einen, von dem die Leute unmöglich wollen konnten, daß er ihn aus der Gefangenschaft entließ – Barabbas, einen brutalen Mörder, an dessen Schuld kein Mensch zweifelte. Dieses Monstrum in Menschengestalt stellte er dem Volk zur Wahl, indem er fragte, ob er Barabbas oder den Nazarener gehen lassen sollte. Ich hatte mich an diesem Tag unters Volk gemischt, stand in seiner Mitte auf dem Platz vor dem Palast des Statthalters – – und sorgte dafür, daß Pilatus’ Blick von seinem Balkon aus genau auf mich fiel. Er sah mich, obschon Tausende von Menschen um
mich waren. Und er erkannte mich. Sein Grauen bereitete mir allerhöchstes Vergnügen. Und als die Meute zu seinem Entsetzen verlangte, daß er Barabbas freiließe, fiel ich in ihre Rufe mit ein, so laut, daß Pilatus glaubte, allein meine Stimme würde ihm den Schädel sprengen. Barabbas! BARABBAS! … Der Statthalter konnte nicht anders, als sich dem Willen des Volkes zu beugen, denn eine Revolution wollte er nicht riskieren. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, so wenig wie er seinen Blick von mir nahm. Blindlings winkte er nach hinten und sagte etwas. Wenig später wurde ihm aus dem Raum jenseits des Balkons etwas gereicht. Eine Schüssel, die Pilatus auf die Brüstung stellte. Dann tauchte er seine Hände in das Wasser darin. »Ich bin unschuldig an seinem Blut«, rief er, unverwandt und allein mich fixierend. Und ich ahnte, weswegen er sich eigentlich die Hände wusch. Vielleicht erinnerte er sich nicht mehr, ob wir einen Pakt durch Handschlag besiegelt hatten … Ich lachte, lautlos für die Menge, dröhnend aber für Pilatus. So leicht löst du keinen Bund mit dem Satan! brüllte ich in seinem Schädel. Und Pontius Pilatus wandte sich ab, um das Urteil über den Nazarener zu fällen, wie das Volk es gefordert hatte: Kreuzige ihn!
* Und zur sechsten Stunde kam eine Finsternis über das ganze Land … Markus, Kap 15, Vers 33 Ein ums andere Mal ging ich den Weg hinauf nach Golgatha, dem Schädelhügel, wo sie den Nazarener ans Kreuz geschlagen hatten.
Ich folgte seinen Spuren, sog die Witterung ein und roch seine Angst, sein Blut wie den Duft eines Festmahls. Und im gleichen Maße genoß ich, wie mein Bann über das Volk von der immer mächtiger werdenden Schuld gebrochen wurde, bis nur noch Schmerz und Leid über Jerusalem lagen wie eine dunkle Wolke, die nicht mehr weichen wollte … Ich hielt mich zurück in den Stunden nach seinem Tod. Bis sie den Leichnam vom Kreuz nahmen und auf Wunsch seines Freundes und Gönners Josef von Arimathia in eine Grabhöhle brachten, deren Zugang mit einem Stein verschlossen wurde. Auf Geheiß der Hohepriester postierte Pontius Pilatus zwei Wachen davor. Die beiden Männer stellten für mich kein Hindernis dar. Mit billigen Lügen ließen sie sich ködern und gingen mit ihren Waffen aufeinander los, bis sie einander erschlagen hatten. Ich brauchte nur dazustehen und zuzusehen. Als sie in ihrem Blut lagen, öffnete ich das Grab des Nazareners und wollte hineingehen, um meinen Plan zu vollenden, denn er war mit dem Tod des Menschensohnes noch nicht erfüllt … … als ich hinterrücks angesprochen wurde. Von einer Frau? Ich wandte mich um – und erstarrte. »Du?« fragte ich entgeistert. Sarah nickte. Und lächelte. Siegesgewiß …?
* Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Lukas, Kap 23, Vers 34 »Verschwinde!« fuhr ich Sarah an. »Nicht bevor ich getan habe, weswegen ich gekommen bin«, sagte sie ohne Angst.
»Was willst du? Mich mit deiner Dreistigkeit zwingen, meinen Samen in dir doch noch keimen zu lassen –?« Sie lächelte unvermindert. »Versuch es nur«, meinte sie. »Du wirst ihn nicht mehr finden, deinen Samen. Er ist längst schon ausgetrieben.« Ihr Blick richtete sich auf den Grabzugang. Im Dunkel dahinter schimmerte hell das Leinentuch, in das der Tote gewickelt war. »Was soll das heißen?« fragte ich lauernd, obschon ich es ahnte. »Daß es etwas gibt, das stärker war als der verderbliche Keim, den du mir eingegeben hast.« »Willst du behaupten, daß –«, setzte ich an und wies hinter mich ins Grab. Sarah nickte. »Und mehr noch: Ich habe ihm alles gesagt. Er wußte, wer und was du bist! So wurde dein Plan zum kleinen Teil eines ungleich größeren.« Feuriger Zorn schoß in mir hoch. »Das kann nicht sein! Du lügst! Du willst mich demütigen, mich verspotten, aber das wird dir schlecht bekommen. Ich werde –« »Gar nichts wirst du«, behauptete sie. »Außer –«, sie griff in die Falten ihres Kleides, »– sterben!« Ihre Hand kam wieder zum Vorschein, in ihren Finger ein Stück Leder, das beschrieben war. »Was –?« entfuhr es mir. Und wieder stieg eine Ahnung in mir hoch. »Damals in den Gräbern bei Gerasa war ich nicht ohne Besinnung, wie du geglaubt haben magst«, sagte Sarah. Ihr Lächeln vertiefte sich noch. »Ich hörte, was Gadar mit dir besprach – und ich war vor dir in den Höhlen bei Qumran«, sie spannte das Leder zwischen ihren Händen, »wo ich dies hier fand!« »Du weißt also –?« Sie nickte. »Ich weiß, wie dir beizukommen ist, Satan!« Und dann vernichtete sie mich … … in dieser Zeit.
* Gegenwart »Wie? Wie konnte sie das?« fragte Lilith gespannt. »Einen Teufel werde ich tun, dir das zu erzählen!« Gabriel lachte meckernd, daß der Felsendom erbebte. Aber es klang keineswegs amüsiert. Sein Zorn über die damalige Niederlage schien von neuem in ihm aufzulodern. Lilith ließ die Schultern sinken. Wie hatte sie nur annehmen können, dem Satan auch noch dieses Geheimnis entlocken zu können? »Warum?« »Warum was?« hakte der Teuflische auf Liliths scheinbar zusammenhanglose Frage nach. »Warum hast du mir all das erzählt?« »Um dir deutlich zu machen, weshalb ich jetzt nach Jerusalem zurückgekommen bin.« »Ich verstehe es noch immer nicht …« »Weil mein Plan seinerzeit nicht gelang, weil er zunichte gemacht wurde! Es blieb mir versagt, den Menschensohn durch den Tod in Vergessenheit geraten zu lassen. Im Gegenteil gewann er im Tod stärkere Macht, als er im Leben je besessen hatte, ja, erst tot fand er seine wahre Bestimmung!« Gabriels Augen glühten wie im Fieber, seine Stimme bebte, seine Züge verzerrten sich zur Grimasse. »Und?« fragte Lilith. »Der Ort meiner größten Niederlage soll nun der meines größten Sieges werden. Jerusalem soll nicht länger die Stadt sein, in der Gottes Sohn gestorben ist – diese Stadt soll fortan für mich stehen! Als erste in einer langen Reihe …« Lilith schauderte. Eiseskälte drang ihr bis auf den tiefsten Grund ihrer Seele. Trotzdem schwieg sie nicht.
»Was hast du vor, Teufel?« Gabriel fixierte sie mit flammendem Blick. »Das, meine Liebe, sollst du erfahren …« Er faßte ihre Hand und – ZZZUUUWWW! ENDE des dritten Teils
In Satans Hand von Adrian Doyle Nach Anums Tod lebt Lilith ein gespenstisches Leben im Bannkreis des Teufels. Gabriel hat die heilige Stadt Jerusalem als Heerlager auserkoren und plant einen Kreuzzug, von dem weder die letzten Vampire noch die Menschen etwas ahnen. Er will die Ernte einbringen, die seine Vorgänger über viele Jahrhunderte ausgesät haben. Aber ist sie aufgegangen? Ist die Welt reif für die Herrschaft des Bösen? Wird am Ende der gefallene Engel Luzifer selbst durch das Tor stoßen, das sein Reich vom Diesseits trennt? Lilith ist verzweifelt, als Gabriel sich mit seinen Absichten brüstet. Aber was kann sie tun? Sie hat einen Pakt mit ihm geschlossen und ist ganz
In Satans Hand