Scan by Schlaflos
Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Seine in den achtziger Jahren...
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Scan by Schlaflos
Raymond Feist wurde 1945 in Los Angeles geboren und lebt in San Diego. Seine in den achtziger Jahren begonnene Midkemia-Saga wurde zum Welterfolg und gilt als moderner Fantasy-Klassiker in der Tradition Tolkiens. Der Midkemia-Zyklus beginnt mit dem Traum der Jungen Pug und Tomas von Ruhm und Ehre. Als Midkemia von Invasoren aus Kelewan angegriffen wird, werden sie in den gewaltigen Spaltkrieg hineingezogen. Zeitgleich zu »Die Midkemia-Saga« ist »Die Kelewan-Saga« angeordnet: In ihr werden die Geschehnisse auf der Gegenseite während des Spaltkriegs geschildert. Chronologisch folgen dann die Romane von »Die Krondor-Saga«, bevor Midkemia in »Die Schlangenkrieg-Saga« von einer weiteren Invasion heimgesucht wird: Die Flotte der Smaragdkönigin kommt übers Meer, und ihre Armee überzieht das Land mit Krieg. »Die Legenden von Midkemia« führen zurück in die Zeit des Spaltkriegs. In dem zeitlich jüngsten Abschnitt »Die Erben von Midkemia« erleben die Leser mit Talon einen neuen jungen Helden und einen bislang unbekannten Teil von Midkemia, treffen aber auch auf viele alte Bekannte. Aus dem Midkemia-Zyklus bereits erschienen: DIE MIDKEMIA-SAGA: I. Der Lehrling des Magiers (24616), 2. Der verwaiste Thron (24617), 3. Die Gilde des Todes (24618), 4. Dunkel über Sethanon (24611), 5. Gefährten des Blutes (24650), 6. Des Königs Freibeuter (24651) DIE KELEWAN-SAGA: I. Die Auserwählte (24748), 2. Die Stunde der Wahrheit (24749), 3- Der Sklave von Midkemia (24750), 4. Zeit des Aufbruchs (24751), 5. Die Schwarzen Roben (24752), 6. Tag der Entscheidung (24753) DIE KRONDOR-SAGA: I. Die Verschwörung der Magier (24914), 2. Im Labyrinth der Schatten (24915), 3. Die Tränen der Götter (24916) DIE SCHLANGENKRIEG-SAGA: I. Die Blutroten Adler (24666), 2. Die Smaragdkönigin (24667), 3. Die Händler von Krondor (24668), 4. Die Fehde von Krondor (24784), 5. Die Rückkehr des Schwarzen Zauberers (24785), 6. Der Zorn des Dämonen (24786), 7. Die zersprungene Krone (24787), 8. Der Schatten der Schwarzen Königin (24788) DIE LEGENDEN VON MIDKEMIA: I. Die Brücke (24190), 2. Die drei Krieger (24236), 3. Der Dieb von Krondor (24237)
DIE ERBEN VON MIDKEMIA: I. Der Silberfalke (24917) Weitere Bände sind in Vorbereitung.
Raymond Feist & Steve Stirling
Der Dieb von Krondor Die Legenden von Midkemia 3 Ins Deutsche übertragen von Regina Winter BLANVALET Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Jimmy the Hand. Legends of the Riftwar (vol 3)« bei Voyager/HarperCollins Publishers, London. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. 1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung 10/2004 Copyright © der Originalausgabe 2003 by Raymond E. Feist & Steve Stirling Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Ruddell Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Titelnummer: 24237 Redaktion: Alexander Groß V B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-24237-1 www.blanvalet-verlag.de
Für meine Leser: Ohne Ihre Begeisterung müsste ich vom Autohandel leben. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen. Raymond E. Feist Für Jan ... und für Ray, Will und Joel: die Einzigen, die das hier schaffen konnten. S. M. Stirling Flucht Männer kämpften fluchend miteinander. Jimmy die Hand glitt wie ein Aal zwischen den Männern auf dem dunklen Kai hindurch. Stahl glitzerte im Licht von Fackeln und Laternen und schimmerte in rötlichen Bögen, als Reiter die geschickt ausweichenden Spötter angriffen, die sich gewaltig anstrengten, ihre Gegner von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Sie brauchten nur noch Sekunden, damit Prinz Arutha und Prinzessin Anita fliehen konnten, und der Kampf hatte die wilde Gewalttätigkeit der Verzweiflung angenommen. Zorn- und Schmerzensschreie gellten durch die Nacht, begleitet von dem eisernen Hämmern beschlagener Hufe, die Funken aufblitzen ließen, wenn sie aufs Pflaster krachten, und dem Klirren von Stahl auf Stahl. Gauner und Schläger von der Straße kämpften gegen ausgebildete Soldaten, aber die Pferde der Soldaten rutschten auf den glatten Planken und Steinen des Hafenviertels aus, und das flackernde Licht war sogar noch trügerischer als der Boden. Messer wurden nach oben gestoßen und Pferde scheuten, wenn Hände bestiefelte Füße packten und die Bewaffneten von Bas-Tyra aus dem Sattel zerrten. Der Eisen- und Salzgeruch von Blut setzte sich sogar gegen den Müllgestank des Hafens durch, und ein Pferd wieherte jämmerlich, als es mit durchschnittenen Sehnen zusammenbrach. Das Bein des Rei9 ters hatte sich im Steigbügel verfangen und wurde unter dem Tier eingeklemmt, und der Mann schrie ebenfalls, während das Pferd um sich trat und dann plötzlich still wurde, als zerlumpte Gestalten sich um es drängten. Jimmy wich einem zuschlagenden Schwert aus, entging geschickt den wirbelnden Hufen eines Streitrosses, das versuchte, besseren Halt zu finden, brachte einen Soldaten zum Stolpern, der vom Pferd
gestiegen war und gegen drei Spötter kämpfte, und eilte dann leichtfüßig den Kai entlang. Am Ende des Kais warf er sich auf die rauen Planken und spähte zu dem Ruderboot, das gerade abgelegt hatte. »Lebt wohl!«, rief er Prinzessin Anita zu. Sie wandte sich seiner Stimme zu; ihr hübsches Gesicht war im Vormorgenlicht kaum mehr als ein heller Fleck. Aber er wusste, dass ihre meergrünen Augen groß vor Erstaunen sein würden. Ich bin froh, dass ich mich verabschieden konnte, dachte er, und ein seltsames Gefühl machte sich in seiner Brust breit. Das war eine gewisse Gefahr für Leib und Leben wert. Er grinste ihr zu, aber es war ein nervöses Grinsen; der Kampf mit Jocko Radburns Männern war noch heftiger geworden, und sein Rücken war im Augenblick ungeschützt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Spötter davonmachten; Kämpfe, bei denen man endlos standhielt, waren nicht ihr Stil. Eine andere, größere Gestalt erhob sich im Ruderboot. »Hier«, rief Prinz Arutha. »Benutz das, um gesund zu bleiben!« Ein Rapier in einer Scheide flog auf Jimmy zu. Er riss es an sich und rollte herum, gerade noch rechtzeitig, um einem Tritt von einem von Radburns Schergen auszuweichen. Jimmy rollte sich weiter, und der Mann verfolgte ihn und riss den Fuß in dem schweren Stiefel abermals hoch, um ihn zu zerquetschen wie ein Insekt. Jimmy ließ das Rapier los, griff nach 10 oben, packte Zehen und Ferse mit gekreuzten Händen und drehte ruckartig, was den Schurken brüllen und sich mitdrehen ließ, damit sein Fuß nicht gebrochen wurde. Er geriet aus dem Gleichgewicht, und ein Tritt Jimmys, der mit boshafter Präzision ins Ziel ging, ließ den Mann schreiend ins Wasser fallen. Seine Rüstung zog ihn unter Wasser, noch bevor die Echos seines Schreis verklungen waren. »Zeit zu verschwinden!«, keuchte Jimmy Er kam auf die Beine, riss das Rapier aus der Scheide und sah sich nach einem würdigen Opfer um - am besten einem, das eine Fluchtroute blockierte. Hinter sich konnte er das rhythmische Klatschen der Ruder hören, das einen seltsamen Gegensatz zum Chaos des Kampfes bildete, das ihn umgab. Lebt wohl, dachte er wehmütig. Und dann, als ein Haufen Tuchballen in Flammen aufging: Ups! Auf den Schiffen rings um sie her flackerten Laternen auf, und die
Wachen aus den Lagerhäusern kamen angerannt. Von überall her riefen Männer: »Was ist los?« Und: »Wer da?« Und immer lauter wurde der Schrei: »Feuer! Feuer!« Ein Mann im Schwarzgold von Bas-Tyra entriss einer der Wachen eine Laterne und marschierte zum Ende des Kais, und nun wusste Jimmy, wen er angreifen musste. Der Soldat grinste, als er den abgerissenen Jungen vor sich stehen sah. »Hast du mir eine neue Waffe gebracht?«, fragte er. »Sieht ziemlich gut aus. Zu gut für Abschaum, der sich noch nicht mal zu rasieren braucht. Danke.« Er führte einen Rückhandschlag gegen Jimmy, eine träge Bewegung mit mehr Kraft als Stil. Zweifellos hatte er sich vorgestellt, dem jungen Dieb das Rapier leicht entreißen und ihn dann mit dem Schwert in Stücke schneiden zu können. Die gut gearbeitete Klinge erwachte in Jimmys Hand zum Leben; sie war schwer, aber vollendet im Gleichgewicht, und beweglich wie eine zustoßende Schlange. Sie zuckte beinahe von selbst nach oben und wehrte den ungeschickten Schlag II
des Soldaten mit einem lang gezogenen Srinnng von Metall auf Metall ab. Der Soldat grunzte verblüfft, als der Schwung seines eigenen Schlags ihn herumwirbelte; dann schrie er vor Schmerz auf, als Jimmy zur Seite tänzelte und zustach. Es war eher Glück als Geschicklichkeit, dass der scharfe Stahl den Mann am Handgelenk erwischte, durch das Leder seines Handschuhs drang und einen flachen Schnitt in der Haut darunter verursachte. Mit einem Keuchen schüttelte der Mann das Gelenk, trat einen Schritt zurück, und selbst im Dunkeln war seine ungläubige Miene gut zu erkennen. Jimmy lachte erfreut und überrascht. Offenbar konnten nicht alle so gut mit einer Waffe umgehen wie Arutha. Die Stunden, in denen er mit dem Prinzen geübt hatte, während sie darauf warteten, dass Trevor Hulls Schmuggler ein Schiff fanden, auf dem Arutha und dieser alte Pirat Arnos Trask fliehen konnten, hatten sich bezahlt gemacht. Jimmy hatte das Gefühl, als bewege sich der Soldat nur halb so schnell wie der Prinz. Er lachte erneut. Dieses Lachen trieb den Soldaten zum Handeln, und er schlug wieder und wieder mit aller Kraft nach dem jungen Dieb. Wie ein Bauer beim Dreschen, dachte Jimmy Er hatte wenig Erfahrung mit ländlichen Angelegenheiten, verachtete Landeier aber
zutiefst. Die Schläge waren kraftvoll und wurden schnell geführt, aber jeder war eine Kopie des vorherigen. Instinkt ließ Jimmy das Rapier heben, und die Schläge glitten an der Stahlklinge und dem kunstvollen Handschutz ab. Der junge Dieb musste sein rechtes Handgelenk mehr als einmal mit der linken Hand stützen, denn sonst hätte die schiere Wucht ihm die Waffe aus der Hand geschlagen. Aber er wusste, er würde jeden Augenblick Gelegenheit erhalten, nach links auszuweichen, und dann würde er fest zustechen und den Soldaten am Bauch erwischen. 12 Arutha hatte immer geraten, sich die Zeit zu nehmen, einen Gegner einzuschätzen. Einen Augenblick später stieß Jimmy mit dem Rücken gegen einen Ballen; als er sich umblickte, bemerkte er, dass er in einer kurzen Sackgasse mit aufgestapelter Fracht in der Falle saß. Der Mann vor ihm grinste und ließ das Schwert vorzucken. »Du sitzt in der Falle, wie es sich für eine kleine Ratte aus der Kloake gehört.« Der Mann hob sein Schwert, und Jimmy bereitete sich darauf vor, seinen Angriff auszuführen, überzeugt, im nächsten Moment mit dem Soldaten fertig zu sein. Dann stolperten plötzlich zwei kämpfende Männer vorbei. Jeder hatte das Gelenk der Messerhand des anderen gepackt, und sie drehten sich stampfend und fluchend im Kreis wie bei einem schnellen, tödlichen Bauerntanz. Sie stolperten gegen den Soldaten aus Bas-Tyra, und dieser taumelte mit einem überraschten Aufschrei vorwärts. Jimmy zögerte nicht. Er verspürte ein gewisses Bedauern, dass er den kunstvollen Stoß, den er geplant hatte, nicht ausführen konnte, aber er durfte sich eine so gute Gelegenheit nicht entgehen lassen. Also stach er zu und spürte, wie die Nadelspitze des Rapiers durch Muskeln drang und an Knochen entlang knirschte, und wie dieses seltsame Gefühl durch den Stahl und den Griff hindurchfloss und in seinen Schultern und der Lendengegend ein Kribbeln verursachte. Der Mann ließ seine Laterne mit einem Schrei fallen, der zu einem lauten Fluch wurde, als das Glas zerbrach. Das verspritzte Ol ging sofort in Flammen auf und trieb den verwundeten Soldaten zurück. Er ließ die Waffe fallen und fing hektisch an, Flammen auf seiner Kleidung auszuschlagen, während Jimmy wie ein Affe über die Ballen kletterte. »Ratten sollte man eben lieber nicht in die Enge treiben!«, rief er
über die Schulter, bevor er an der Rückseite des Ballenstapels herunterkletterte und weiter rannte. Er hörte, wie jemand das Signal zum Rückzug pfiff, und sah die Spötter in Gassen und Seitenstraßen verschwinden 13 wie Nebelschwaden vor dem Wind. Jimmy beeilte sich, das Gleiche zu tun, aber bevor er sich in eine Gasse duckte, drehte er sich noch einmal rum und blickte auf die Bucht hinaus. Trevor Hüll und seine Schmuggler sprangen ins Wasser; einige schwammen unter die Docks, während andere sich auf Ruderboote zubewegten, die bereits warteten. Hinter ihnen sah Jimmy den Umriss der Seetaube, die auf die durchbrochene Blockadelinie zufuhr. Die Segel flatterten und reflektierten das Licht wie Geisterwolken im Dunkeln; er hob den Arm und winkte. Er wusste, dass es sinnlos war, denn man hatte die Prinzessin sicher sofort unter Deck gebracht. Aber er hatte sich dieses Winken ebenso wenig verkneifen können wie zuvor die Abschiedsworte. Der junge Dieb drehte sich um und rannte die Gasse entlang, so leichtfüßig wie eine Katze und sich beinahe ebenso deutlich seiner Umgebung bewusst. Er war vielleicht kein großer Schwertkämpfer noch nicht -, aber durch die dunklen Gassen von Krondor zu fliehen, war eine Fähigkeit, die er schon lange vor dem reifen Alter von dreizehn gemeistert hatte. Als er durch die Seitenstraßen der Stadt eilte, musste er wieder an die letzten paar Wochen denken, in denen er so viel Zeit mit der Prinzessin und dem Prinzen verbracht hatte. Prinzessin Anita war so, wie Mädchen sein sollten, aber nach Jimmys Erfahrung niemals wirklich waren. Für einen Jungen, der unter Huren, Schankmädchen und Taschendieben aufgewachsen war, stellte sie ... etwas vollkommen Seltenes dar, etwas Zartes, Reines - eine Frau, wie sie sonst nur in den Geschichten von Spielleuten vorkamen. In ihrer Nähe wollte er stets besser sein, als er war. Dann ist es gut, dass sie weg ist, dachte er. Ein Junge in seiner Position konnte sich solch noble Gedanken nicht leisten. Außerdem, dachte er mit einem schiefen Grinsen, würde sie eines Tages Prinz Arutha heiraten - obwohl der das noch 14 nicht wusste. Also stand es Jimmy nicht zu, diese Gefühle für sie zu hegen. Nicht, dass so etwas ihn je abgehalten hätte. Ich nehme an, wenn sie schon heiraten muss — und Prinzessinnen
müssen das wohl —, ist er der Beste, den ich ihr wünschen kann. Jimmy mochte Arutha, aber es war noch mehr als das. Er achtete ihn und ... ja, er vertraute ihm. Der Prinz hatte ihm deutlich gemacht, wieso Menschen einem Anführer folgen, wieso sie auf sein Wort hin in einen Krieg ziehen - etwas, was Jimmy sich nie hatte vorstellen können. Jimmy hatte eigentlich nur Erfahrung mit Männern, die durch Angst herrschten oder weil sie denen, die ihnen folgten, einen Vorteil bieten konnten. Auf den Aufrechten Mann, für den Jimmy arbeitete, traf beides zu. Er fuhr mit der Hand über die Scheide von Aruthas Rapier, das jetzt ihm gehörte, und lächelte. Dann wurde er plötzlich ernst. Diese Menschen zu treffen, hatte etwas Besonderes in sein Leben gebracht, und nun war es vorüber. Aber wie viele Menschen im Königreich kamen Prinzen und Prinzessinnen schon so nahe? Und wie viele von denen waren Diebe? Jimmy grinste. Er hatte sich, was den Kontakt mit dem Hochadel anging, gut geschlagen: zweihundert Goldstücke, ein schönes Rapier einschließlich Unterricht in der Benutzung der Waffe und ein Mädchen, von dem er träumen konnte. Er vermisste Prinzessin Anita jetzt vielleicht, aber zumindest hatte er sie kennen gelernt. Mit munterem Schritt machte er sich auf nach Spötters Ruh, bereit für eine leichte Mahlzeit und einen langen Schlaf. Ich sollte am besten schlafen, bis Radburn sich etwas abgekühlt hat, dachte er. Obwohl das vielleicht bedeutete, dass er bis ins hohe Alter schlafen musste. Jimmy näherte sich der großen Halle, die als Spötters Ruh bekannt war und sich tief in der Kanalisation befand. Für einen 15 braven Bürger der Oberstadt hätte es hier recht finster ausgesehen; ständig tröpfelte Wasser, und hier und da glitzerte Salpeter auf uraltem Stein. Aber ein solcher Mann hätte hier auch kaum mehr bemerkt als eine weitere Kreuzung von Tunneln in den Kloaken der Stadt, ein wenig größer als die meisten, aber ansonsten uninteressant. Für den Durchschnittsbürger aus der Oberstadt wären die Augen, die Jimmy beobachteten, als er sich dem Eingang näherte, unsichtbar gewesen, ebenso wie die Dolche in kundigen Händen, bis zu diesem letzten fatalen Augenblick, wenn sie zugestoßen hätten, damit das Geheimnis von Spötters Ruh gewahrt blieb. Für Jimmy hingegen war das hier sein Heim, eine sichere Zuflucht, ein Ort, an dem er sich ausruhen konnte. Er drückte auf einen Stein,
und nach einem lauten Klicken zeigte sich eine kleine Öffnung, als eine Tür aufschwang, die aus Segeltuch und Holz bestand, aber so bemalt war, dass sie wie Stein aussah. Jimmy war noch klein genug, um gebückt hineingehen zu können, und er durchquerte schnell den kurzen Gang zu dem verborgenen Keller. Ein Schläger stand am Ende des Gangs Wache und nickte, als Jimmy näher kam. Dem jungen Dieb blieb auf diese Weise eine tödliche Begrüßung erspart. Jeder unbekannte Kopf, der aus diesem Gang gestreckt wurde, hatte etwa eine Sekunde, um die Parole »Heute Abend wird bei Mutter gefeiert« auszusprechen und damit zu verhindern, dass sein Hirn über den Steinboden verteilt wurde. Der riesige Raum hinter der Öffnung bestand aus drei miteinander verbundenen Kellern, von denen aus Treppen hinauf zu den drei zugehörigen Gebäuden führten, die alle dem Aufrechten Mann gehörten: Ein Hurenhaus, ein Gasthaus und ein Kramladen boten eine Unzahl von Fluchtwegen, und Jimmy konnte sie alle mit verbundenen Augen finden, ebenso wie jeder andere Spötter. Das Licht hier war Tag und Nacht trübe, so dass sich die Augen eines Spötters, der schnell in die Kanalisation floh, nicht erst umgewöhnen mussten. 16 Jimmy grüßte ein paar Bettler und Straßenjungen, die wach waren; die meisten schliefen fest, denn es waren immer noch ein paar Stunden bis zur Dämmerung. An einem normalen Tag würden sie alle schon Minuten nach Sonnenaufgang wieder auf dem Marktplatz sein. Aber dieser Tag würde alles andere als normal werden. Nachdem der Prinz und die Prinzessin sicher entkommen waren, mussten die Spötter mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen. Im Lauf der Jahre waren sie mit den Wachtmeistern der Stadt und den Soldaten der königlichen Hausgarde ganz gut zurechtgekommen, aber die Geheimpolizei, die Guy du Bas-Tyra ins Leben gerufen hatte, seit er Vizekönig war, war eine andere Sache. Mehr als nur ein Spötter war zum Verräter geworden, und das hatte sich auf die allgemeine Stimmung ausgewirkt. Es herrschte zwar eine Atmosphäre stillen Triumphs, weil es ihnen gelungen war, Prinzessin Anita bei der Flucht zu helfen, aber Nutzen würden sie daraus erst später ziehen können. Jimmy wusste, dass der Aufrechte Mann in solchen Kategorien dachte. Eines Tages würde Prinzessin Anita nach Krondor zurückkehren -zumindest hoffte Jimmy das -, und alle, die auf ihrer Seite und der ihres Vaters Prinz Erland standen, waren dann
dem Aufrechten Mann etwas schuldig, der selbstverständlich versuchen würde, diese Schulden in der nützlichsten Weise einzutreiben. Aber das war selbst für den Aufrechten Mann Zukunftsmusik, und für die schlichten Einbrecher, Taschendiebe und Huren würde es an diesem Tag keine Belohnung geben. Stattdessen würde es oben in der Stadt von zornigen Spionen und Informanten nur so wimmeln, weil sie unbedingt wissen wollten, wer Jocko Radburn, den Chef der Geheimpolizei, so hinters Licht geführt hatte. Jimmy wusste, dass Radburn diese öffentliche Blamage nicht einfach auf sich sitzen lassen würde. Die Flucht der Prinzessin war zunächst eine geheime Angelegenheit gewesen, und nur ein paar Spötter und einige von !7 Trevor Hulls Schmugglern hatten gewusst, wer dort aus der Stadt geschafft werden sollte. Aber sobald der Kampf begonnen hatte, hatten viele Spötter das Gesicht der Prinzessin und ihr charakteristisches rotes Haar gesehen, und bei Sonnenaufgang würden die Gerüchte von ihrer Flucht die Runde auf den Märkten und in Gasthäusern und Läden machen. Die meisten würden so tun, als wüssten sie nichts, aber alle würden den Grund für die folgenden Razzien von Bas-Tyras Soldaten und der Geheimpolizei kennen. Jimmy ging zu dem Kasten bei den Waffenschränken und nahm einen Wetzstein, eine kleine Phiole mit Öl und ein paar Lappen heraus. Solche Gedanken bewirkten, dass ihm schwindlig wurde. Er war vielleicht nicht einmal vierzehn, vielleicht schon sechzehn Jahre alt - niemand wusste das genau -, und solche Ideen faszinierten ihn, aber er wusste auch, dass er sie nicht vollkommen verstand. Politik und Intrigen waren attraktiv, aber auf eine sehr seltsame Weise. Er zog sich in eine abgelegene Ecke zurück, um sein Rapier zu säubern. Sein Rapier. Und es war sogar ein Geschenk! Davon hatte es in seinem Leben wenig gegeben, was die herrliche Waffe nur noch kostbarer machte. Der beste Handwerker würde ein halbes Jahr brauchen, um einen Gegenstand von solch tödlicher Schönheit herzustellen; das Rapier war ganz anders als die schwerfälligen Waffen der gewöhnlichen Soldaten - es unterschied sich von ihnen wie ein Streitross von einem Maultier. Er zog die Klinge aus der Scheide und entdeckte verärgert, dass er sie blutig eingesteckt hatte. Angewidert verzog er den Mund. Nun, er
hatte noch nie eine solche Waffe besessen; man konnte nicht erwarten, dass er sich sofort an jede Einzelheit erinnerte. Als er genauer hinschaute, erkannte er, dass die Scheide mit Bolzen aus Elfenbein und Messing zusammengehalten wurde und man sie zum Säubern auseinander nehmen konnte. 18 Jetzt freute er sich sogar noch mehr über das Geschenk, falls das überhaupt möglich war. Er war wirklich begeistert. »Beute wie die da muss zum Verkauf abgegeben werden, damit wir teilen können«, sagte Lachjack. Er griff nach dem Rapier, und Jimmy entzog ihm die Waffe und sich selbst mit einer aalartigen Bewegung. »Das ist keine Beute«, erwiderte er. »Es ist ein Geschenk. Von Prinz Arutha persönlich.« »Oh, erhalten wir also dieser Tage Geschenke von Prinzen?« Man hatte Jack niemals auch nur lächeln sehen; es war Jimmy, der ihm seinen Spitznamen verpasst hatte. Aber wenn es darum geht, höhnisch die Miene zu verziehen, ist er besser als jeder andere, dachte Jimmy Der Aufseher griff abermals nach der Klinge, und abermals glitt der junge Dieb davon. Als Aufseher und damit Stellvertreter des Nachtmeisters verfügte Lachjack über große Autorität; in den meisten Fällen schlug sich der Nachtmeister auf seine Seite, wenn es zu einem Streit kam. Aber Jimmy wusste, dass er diesmal im Recht war, und war überzeugt, dass der Nachtmeister ihm zustimmen würde. Also widersetzte er sich Jack. Mehrere Spötter hatten Jimmy vorhergesagt, dass Jack ihn eines Tages wegen des Spitznamens umbringen würde. Nun sah es beinahe so aus, als wollte Jack diese Prophezeiung wahr machen. Jimmy war zwei Köpfe kleiner als der Aufseher. Er war ein zierlicher Junge und verfügte über eine Schnelligkeit, mit der nur wenige Spötter mithalten konnten und die noch keiner von ihnen übertroffen hatte. Sein eigener Spitzname war wohlverdient, denn kein Spötter war in der Lage, auf einem überfüllten Marktplatz eine Börse unauffälliger zu stehlen als er. Jimmy war ein hübscher Junge mit kurz geschnittenem, lockigem braunem Haar, und seine Schultern versprachen, einmal breit zu werden. Sein Lächeln war ansteckend, und er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, aber jetzt stand eine
19 Spur von Drohung in seinen Augen, als er die Hand an den Rapiergriff legte, bereit, die Auseinandersetzung mit Jack notfalls auch gewaltsam zu führen. So jung er sein mochte, er hatte in seinem Leben schon mehr Gefahr und Tod gesehen als die meisten Männer, die doppelt so alt waren wie er. Leise sagte er: »Es gehört mir, Jack.« »Stimmt. Hab's gesehen«, sagte Berserker Blake mit einer Stimme, als hätte ein Fels angefangen zu sprechen. Danach schwieg der riesige Schläger wieder und ging weiter auf seinem Weg in einen abgelegenen Teil der Halle, als hätte er nie ein Wort gesagt. Lachjack warf dem Rücken das Schlägers einen unsicheren Blick zu. Sie nannten Blake nicht umsonst Berserker; er war so unberechenbar wie ein wildes Tier und neigte zu schrecklichen Wutanfällen. Falls Jack beschloss, Jimmys Recht auf das Rapier weiterhin in Frage zu stellen, nachdem der Schläger sich für ihn eingesetzt hatte, war es gut möglich, dass sich der Aufseher bald in einer Welt des Schmerzes wieder finden würde, Stellvertreter des Nachtmeisters hin oder her. Jack bedachte Jimmy abermals mit einem höhnischen Blick. »Dann behalte das Ding, aber es wird weggeschlossen.« Er wies mit dem Kopf auf die Waffenschränke. »Sobald es sauber ist«, stimmte Jimmy zu. Das erlaubten die Regeln, wie sie beide wussten. Der Aufseher drehte sich um und stolzierte davon. Jimmy wandte sich Blake zu, der jetzt allein an einem Tisch saß, einen Bierkrug in der großen Pranke, und ins Leere starrte. Der junge Dieb machte sich nicht die Mühe, zu ihm zu gehen und sich zu bedanken - so etwas machte man nicht bei Blake -, aber er nahm sich vor, nicht zu vergessen, dass er dem Mann einen Gefallen schuldete, was ohnehin ehrenhafter und nützlicher war als irgendwelche Dankesworte. »Das ist aber hübsch!« Jimmy blickte auf und lächelte Heißfinger-Flora an, die ih20 ren Namen dafür erhalten hatte, dass sie früher Pasteten gestohlen hatte, die ihre Besitzer fälschlicherweise für zu heiß zum Anfassen hielten. Leider hatte diese Unempfindlichkeit Flora trotz Jimmys bester Bemühungen zu einer miserablen Taschendiebin gemacht. Aber sie war sechzehn und hübsch anzusehen und hatte sich inzwischen einem anderen Erwerbszweig zugewandt. Sie setzte sich neben ihn, schlang die Arme um seinen Hals, schob
die Beine auf seinen Schoß und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Hallo, Jimmy«, schnurrte sie, klimperte mit den Wimpern und rieb mit ihrer kleinen Hand seine Brust. Er lachte. »Als ob ich dort etwas Wertvolles aufbewahren würde!« Flora schmollte, dann lächelte sie wieder. Sie zog ihre Beine von seinem Schoß und zeigte auf das Rapier. »Was hast du denn damit vor?« Jimmy wischte die Waffe mit dem Öltuch ab und hielt sie hoch, damit die Klinge im Fackellicht glitzerte. »Ich werde es behalten«, sagte er entschlossen. Sie sah ihn neugierig an und blickte sich dann in der großen Halle um. »Es hat da draußen einen ziemlichen Kampf gegeben«, sagte sie. »Und es gibt schon erste Gerüchte, dass die Prinzessin und ein paar andere Adlige nach Westen geflohen sind.« Sie verzog das Gesicht und fügte hinzu: »Radburn und seine Mistkerle werden durchdrehen, wenn das stimmt. Wenn der Herzog zurückkommt ...« Sie beendete den Satz nicht, aber ihre Miene zeigte, dass sie sich schon darauf freute, dass der Herzog den Chef seiner Geheimpolizei bestrafen würde. »Es wird ruhig auf dem Markt sein, wenn so viele Spötter zu Hause bleiben und ihre Wunden lecken.« Flora warf Jimmy einen verruchten Blick zu. »Hast du irgendwelche Wunden, die geleckt werden müssen, mein Schatz?« Er lachte und versetzte ihr einen freundlichen Schubs. Tat21 sächlich empfand er ein leichtes Kribbeln, wie häufig bei diesen Schäkereien, und Schäkereien mit Flora endeten oft im Bett. Flora war nicht Jimmys Erste gewesen, aber beinahe. Er hatte sein ganzes Leben unter Huren verbracht - seine Mutter war eine gewesen -, aber Flora hatte einen besseren Hintergrund als die meisten; ihr Vater war Bäcker gewesen, und so war sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr als anständiges Mädchen aufgewachsen. Sie konnte wenn nötig wie eine Dame sprechen, was ihr manchmal zu besserer Kundschaft verhalf. Und mit ihren großen, ausdrucksvollen blauen Augen und dem hellbraunen lockigen Haar war sie hübscher als die meisten. Sie hatte ein zartes Kinn und eine niedliche Stupsnase, und ihr Lächeln war reizend. Es war eine Schande, dass sie mit den Fingern so ungeschickt war, hatte Jimmy schon mehr als einmal gedacht; sie war nicht dazu gemacht, ihren Lebensunterhalt auf der Straße zu verdienen.
Flora hatte gesagt, dass sie sich bei ihm sicher fühlte, und er nahm vollkommen realistisch an, dass dies vor allem der Fall war, weil sie beinahe einen Fuß größer war als er. Was ihn selbst anging, nun, er mochte Flora, und er genoss die Zeit, die sie zusammen verbrachten. Er lächelte über ihren eindeutigen Annäherungsversuch und rutschte ein wenig näher. Aber dann riss sie erschrocken die Augen auf und hob die Hand an den Mund. »Oh«, sagte sie, »ich hab ganz vergessen, dass ich in einer Stunde jemanden treffen muss.« Sie schmiegte sich an ihn. »Aber bis dahin gehöre ich ganz dir.« Jimmy dachte darüber nach; erst würden sie einen Platz finden müssen, wo sie ungestört waren, und bei der wenigen Zeit bedeutete das einen unbequemen und übel riechenden Platz, und Flora würde bald wieder gehen müssen, um ihre Verabredung einzuhalten. Also blieb ihnen erheblich weniger als eine Stunde, vielleicht nur ein paar Minuten. Dennoch, es wäre nicht das erste Mal, dass er sich mit einem der Mädchen für ein paar ausgelassene Minuten in eine dunkle Ecke davon22 gestohlen hatte, während andere in der Nähe schliefen. Er war an einem Ort aufgewachsen, wo Paare ihr Vergnügen fanden, wann und wo sie konnten - aber obwohl er Flora wirklich gern hatte, verspürte er an diesem Morgen irgendwie nicht die übliche Erregung, sondern nur ein leichtes Kribbeln. Er war wirklich müde. Außerdem entfernte sich die Prinzessin jeden Augenblick weiter, und das machte ihn traurig. Plötzlich waren ein paar Minuten in Floras Armen das Letzte, was er wollte. Es gefiel ihm nicht, so traurig zu sein ... Nicht, dass ich sicher wüsste, wie ich mich fühle. Es wäre ungerecht gewesen, diese seltsame Stimmung an seiner Freundin auszulassen. »Ich habe im Augenblick leider auch keine Zeit«, sagte er mit einem Grinsen und setzte die Scheide wieder zusammen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas sagen würde.« Aber nun, da er es getan hatte, kam er sich regelrecht edel vor. Flora kicherte. »Keine Sorge«, flüsterte sie. »Es wird noch andere Gelegenheiten geben.« Er zog sie mit einem Arm an sich und küsste sie auf die Wange. »O Flora, meine Blüte, du bist zu gut für mich! Außerdem würde ich dich wahrscheinlich enttäuschen. Im Augenblick habe ich nur noch die Kraft, mir einen Schlafplatz zu suchen. Ich habe das Gefühl, als wäre ich seit meiner Geburt ununterbrochen unterwegs gewesen.« »Du warst vielleicht unterwegs, aber ich hab dich schon lange nicht
mehr gesehen. Wo warst du?« »Ich habe mich auch gefragt, wo du steckst.« Jimmy fiel das Lügen leicht. »Ich dachte, du würdest jetzt vielleicht in einem Freudenhaus arbeiten.« Da er Floras Einladung ohnehin nicht annehmen würde, wäre es auch kein Verlust, wenn sie im Zorn davonginge. »Nein«, erwiderte sie und wandte hochnäsig den Blick ab. »Ich komme sehr gut allein zurecht.« Er sah sie an: Ja, ihr neues Kleid war hübsch, aber aus billi23 gern Tuch, grob gewebt und auf eine Art gefärbt, die schon bald ausbleichen würde. Niemand hatte guten Alaun verschwendet, um die Farben zu fixieren. Sie trug zierliche Schühchen, und ein mit Pailletten besetztes Tuch schmückte ihr braunes Haar - mehr neue Sachen, als sie in ihrem ganzen Leben besessen hatte. Aber sie sah ebenfalls müde und nicht allzu sauber aus. Der Lack würde schon in sechs Monaten ab sein, und in einem Jahr würde sie aussehen wie dreißig. Das Leben in den Freudenhäusern der Stadt war sicher kein Urlaub, aber erheblich besser, als auf der Straße zu arbeiten. Zumindest hatten die Mädchen dort eine gewisse Hoffnung auf eine Zukunft. Jimmy konnte nicht vergessen, was seiner Mutter zugestoßen war. Ein Betrunkener hatte sie umgebracht, nur weil sie allein und niemand da gewesen war, um ihn aufzuhalten. Jimmy verstand besser als die meisten, dass Unabhängigkeit Frauen mitunter teuer zu stehen kam. »Nein, tust du nicht«, sagte er leise. »Du setzt jedes Mal dein Leben aufs Spiel, wenn du mit jemandem gehst. Flora,, wenn du das wirklich willst, bin ich der Letzte, der dich aufhalten würde, aber lass dir von einem Freund einen guten Rat geben. Du bist hübsch genug, dass jedes Haus in der Stadt dich aufnehmen würde, und die besseren Häuser kümmern sich um dich. Du kannst dich gut ausdrücken, beinahe wie eine Dame, und du könntest sogar im Weißen Flügel arbeiten.« Flora schnaubte verächtlich, aber er hatte gesehen, dass sie zuhörte. »Die Freudenhäuser beobachten die Kunden für dich, also wirst du nichts mit Betrunkenen oder mit Mistkerlen zu tun bekommen, die nicht bezahlen oder dich zum Spaß verprügeln. Viel besser als auf der Straße.« Er sah sie ernst an. »Noch besser wäre es selbstverständlich, etwas anderes zu tun.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was zum Beispiel? Du 24 weißt, dass ich eine lausige Diebin bin. Und als Bettlerin gehe ich wirklich nicht durch.« Wieder schubste er sie und lächelte. »Komm schon, du bist ein kluges Mädchen. Ich kann dir ein paar gefälschte Zeugnisse verschaffen. Wie, glaubst du wohl, hat Carstens Schwester Arbeit im Palast bekommen?« Flora schaute nachdenklich drein, dann warf sie ihm einen Seitenblick zu. »Gefällt es ihr da?« »Scheint so«, log Jimmy, denn er hatte keine Ahnung. »Und warum auch nicht? Sie hat ein warmes eigenes Bett, das sie nur mit jemandem teilt, wenn sie das selbst will, bekommt jedes Jahr ein neues Kleid, erhält gutes Essen und wird außerdem bezahlt. Sicher, sie arbeitet schwer, und die Bezahlung ist nicht besonders gut, aber alles in allem glaubt sie, dass es eine gute Idee war.« Es lag ihm auf der Zunge, ihr zu sagen: Und sie hat geholfen, Prinzessin Anita zu retten, aber er riss sich zusammen. Das Nächste wäre dann unweigerlich: Und ich ebenfalls, und er wollte nicht, dass das die Runde machte. Aus ganz persönlichen Gründen auf Jocko Radburns Liste zu stehen, war wirklich das Letzte, was er jetzt brauchte. Flora wollte gerade etwas sagen, als Lachjack auf eine Bank und von dort auf einen Tisch stieg. »Hört alle zu!«, rief er laut. Als die Menge still geworden war und alle sich ihm zugewandt hatten, fuhr der Aufseher fort. »Ich habe für euch eine Botschaft vom Aufrechten Mann persönlich! Alle Spötter sollen sich in den nächsten Tagen versteckt halten.« Er hob die Hand, um die Leute zum Schweigen zu veranlassen, denn diese Ankündigung hatte einen Sturm von Protesten heraufbeschworen. »Das heißt, ihr lasst euch nicht von den Wachen sehen und bleibt entweder hier oder auf einer anderen Platte. Vor allem ihr Bettler und jüngeren Diebe. Radburn scheint es besonders auf euch abgesehen zu haben. Ihr werdet nicht arbeiten.« Er sah sich aufmerksam 25 im Raum um. »Nicht ohne ausdrücklichen Befehl des Tag oder Nachtmeisters. Wir lassen später etwas zu essen herbringen, damit ihr nicht verhungert, bis Gras über diese Geschichte gewachsen ist. Wenn ihr noch Fragen habt« - wieder blickte er sich aufmerksam um
- »behaltet sie für euch.« Dann stieg er vom Tisch, und ein Chor von Spekulationen erhob sich. »Was ist mit den Huren?«, fragte Flora stirnrunzelnd. »Um Banaths willen, Flora«, rief Jimmy den Gott der Diebe an, »ein sicherer Schlafplatz und Essen umsonst! Endlich bekommen wir mal was für all diese Anteile, die wir gezahlt haben. Warum arbeiten, wenn wir hier faul rumhängen können wie -« Er hatte »Adlige« sagen wollen, aber dann veränderte er es zu: »Bas-Tyras Schergen. Außerdem erhältst du dadurch ein wenig Gelegenheit, in Ruhe über deine Zukunft nachzudenken.« Sie nickte mit einem schüchternen Lächeln, erfreut über Jimmys Fürsorglichkeit. »Oh, was ...« Der Aufseher war erneut auf den Tisch gestiegen und verkündete nun barsch: »Wenn ihr eine andere Schlafstelle habt, verschwindet jetzt. Alle, die keine haben, bleiben hier.« Er stieg wieder hinunter, und diesmal verließ er die Halle. »Also gut«, sagte Jimmy und stand auf. »Ich geh ins Bett.« Er warf einen Blick auf das Rapier in seiner Hand und beschloss, es tatsächlich im Waffenschrank zu lassen. Wenn ein Junge seines Alters und seiner Stellung am helllichten Tag eine erstklassige Waffe trug, würde das nur unwillkommene Aufmerksamkeit auf ihn lenken. Der Kaufpreis eines solchen Rapiers lag bei zehn Jahresgehältern für einen Schneider oder Töpfer, von einem einfachen Arbeiter oder Straßenkind gar nicht zu reden. Er konnte der Wache wohl kaum erzählen, das Rapier sei nicht gestohlen, sondern ein Geschenk eines Prinzen, der die Stadt besucht hatte ... »Was ist mit dir, Heißfinger?«, fragte er. »Brauchst du eine Eskorte?« 26 »Also wirklich!«, sagte sie lachend. »Eine Eskorte!« Sie versetzte ihm einen Klaps aufs Hinterteil. »Nein, ich bleibe hier und genieße die Großzügigkeit des Aufrechten Mannes.« Jimmy sah sich nervös um; das war eine recht dreiste Bemerkung gewesen, aber zum Glück hatte es niemand gehört. »Dann gute Nacht«, sagte er und hob die Hand mit dem Rapier zum Gruß. Flora kicherte bei diesem Anblick. »Eskorte«, hörte er sie murmeln, als er davonging. 2 Durchgreifen
Jimmy sah sich vorsichtig um. Trotz der frühen Stunde füllten sich die Straßen rasch. Die Straßenkehrer mit ihren Besen und Schippen waren gerade auf dem Heimweg; einen Augenblick lang dachte Jimmy darüber nach, dass die Krone für solche Arbeit zahlen sollte. Eine kleine Steuer für jeden Geschäftsinhaber, und die Straßen wären alle sauber und ordentlich, nicht nur die besseren Boulevards in den Vierteln der wohlhabenden Kaufleute, für deren Säuberung die Anwohner aus eigener Tasche zahlten. Wenn ich Herzog von Krondor wäre, dachte er, dann würde ich es so machen. Auf die Straßenkehrer folgten rasch Köche und ihre Helfer, die mit frischem Gemüse, Obst und Geflügel von den Bauernmärkten zurückkehrten. Metzgerlehrlinge eilten mit Rindervierteln oder Schweinehälften vorbei. Jene Ladeninhaber, die nicht direkt über ihren Geschäften wohnten, machten sich auf, um die Läden aufzuschließen; andere waren auf der Suche nach einem Bissen zum Frühstück. Holzrauch kringelte sich aus Schornsteinen, und Jimmy konnte Haferbrei und manchmal auch Fisch oder Würstchen riechen Gerüche, die zu dem Gestank uralten Kohls hinzukamen, der stets über den ärmeren Vierteln der Stadt hing. Holzschuhe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, bloße Füße klatschten auf den Boden, Hufe hämmerten. 28 Das Schwarz und Gold von Bas-Tyra war an diesem Morgen nicht so oft zu sehen wie in der letzten Zeit, und Jimmy musste bei dem Gedanken grinsen, dass sie sich wohl immer noch um ihre blauen Flecken kümmerten. Aber die wenigen städtischen Wachtmeister schienen nervös, als stünde Ärger bevor und als wüssten sie nicht, auf welcher Seite sie stehen sollten. Er kam an einem Tor vorbei, wo vier Soldaten, die noch den Waffenrock des Prinzen trugen, sich zusammendrängten und mit gesenkten Köpfen miteinander sprachen, statt zu beobachten, wer das Tor passierte. Irgendetwas lag in der Luft, und jeder sprach darüber. Jimmy wusste, dass alle, mit denen sie es am Vorabend im Hafen zu tun gehabt hatten, entweder reguläre Soldaten aus Bas-Tyra oder Geheimpolizisten gewesen waren. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, zu der behelfsmäßigen Kaserne zu gehen, in der Bas-Tyras Leute untergebracht waren, und sich den Schaden anzuschauen, aber diese Idee gab er in einer seltenen Anwandlung von Vernunft schnell
wieder auf. Wenn man bedachte, wie empfindlich die Gardisten gerade heute sein würden, würden ein paar arme Jungs sicher einige Tage im Stadtkerker landen. Nur, dass es in seinem Fall länger als ein paar Tage dauern und schmerzlicher ausfallen würde. Plötzlich tauchte ein Feldwebel der Garde aus Bas-Tyra auf, und die vier Männer des Prinzen nahmen Habachtstellung an und begaben sich auf ihre Posten zu beiden Seiten des Tors. Jimmy beobachtete das alles aus dem Schutz eines tiefen Hauseingangs gegenüber dem Tor. Der Feldwebel war in finsterer Stimmung, und nachdem er wieder verschwunden war, starrten die vier Soldaten jedem Passanten forschend ins Gesicht, weil sie offensichtlich nach jemandem suchten. Gerade, als Jimmy sich davonschleichen wollte, sah er, dass sie einen abgerissenen Burschen aufhielten und begannen, ihm Fragen zu stellen. Jimmy kannte den Mann: Er war kein echter Spöt29 ter, sondern einer der Armen, die sich hin und wieder am Rande von Spötterkreisen bewegten. Er war ein Arbeiter namens Wilkins, und Jimmy hatte zweimal im letzten Jahr gesehen, wie er geholfen hatte, Schmuggelladungen für Trevor Hüll zu entladen. Ein Soldat packte ihn grob und brachte ihn weg. Jimmy sank in den Eingang zurück. Wenn sie sogar Leute wie Wilkins verhafteten, würden sie ihn zweifellos schnappen, sobald er sich sehen ließ. Andererseits, wenn er tatsächlich in den Kerker gebracht wurde, könnte er vielleicht etwas für Prinzessin Anitas Vater tun. Wenn ich Prinz Erland retten könnte, würde Anita mir das nie vergessen. Und es könnte profitabel sein. Er hatte zweihundert Goldstücke erhalten, weil er Prinz Arutha geholfen hatte, und dafür hatte er ihn nur in Sicherheit bringen müssen. Wie viel mehr könnte er verdienen, wenn er sich wirklich anstrengte? Der junge Dieb starrte einen Augenblick ins Leere, und seine Finger bewegten sich wie von selbst und nahmen ein Brötchen vom Tablett einer Straßenhändlerin, als diese näher zu dem Hauseingang kam, um einem Pferdewagen auszuweichen. Seine Hand bewegte sich in einem schnellen, aber nicht zu eiligen Bogen und steckte das Gebäck unter seine Jacke, bevor er sich wieder zurückzog. Die kräftige Frau ging weiter, nicht ahnend, dass sie bestohlen worden war, und pries weiter ihre Waren an. Jimmy biss in das warme Brötchen, dachte über seine Möglichkeiten nach und genoss den Geschmack nach
Zimt und Honig. Er würde mit Spöttern sprechen müssen, die im Kerker gewesen waren - also mit den Bettlern. Diebe kamen nie lebendig aus dem Kerker, und die Schläger, die man vielleicht gehen ließ, wenn man sie für unschuldige Betrunkene hielt, die die Beherrschung verloren hatten, wollte er lieber meiden. Besonders, wenn er etwas plante, was der Aufrechte Mann vielleicht nicht billigen würde. 30 Er würde es eindeutig nicht billigen, musste Jimmy sich eingestehen. Er würde einen solchen Plan zweifellos mit ... oh kaltem Zorn, denke ich, ablehnen. Lachjacks Befehl, im Versteck zu bleiben und nichts zu unternehmen, ging ihm noch einmal durch den Kopf, aber er wischte ihn beiseite. Mit Vorsicht erreichte man nie etwas, zumindest nicht nach seiner Erfahrung, und für seine ungefähr dreizehn Jahre verfügte er über eine Menge davon. Er gähnte so heftig, dass sein Kiefergelenk knackte, also beschloss er, eine Runde zu schlafen, bevor er weitere Pläne schmiedete. Er wartete, bis die drei verbliebenen Wachen abgelenkt waren, dann huschte er aus dem Schatten des Eingangs und eilte zu einem seiner Plätze, einem, für den er tatsächlich bezahlte. Es war nicht mehr als ein Kämmerchen mit einem winzigen Fenster, das gerade genug Platz für einen Strohsack, einen klapprigen Tisch und einen billigen Kerzenständer bot. Das alte Ehepaar, dem das Haus gehörte, hielt Jimmy für den Lehrling eines Karawanenmeisters, was seine häufigen und manchmal längeren Abwesenheiten erklärte. Sie verlangten bloß ein paar Silberstücke im Monat und stiegen nur selten zu seinem winzigen Zimmer hinauf, was ihm sowohl Sicherheit als auch Abgeschiedenheit bot. Dennoch hatte er lediglich ein paar Kleidungsstücke dort gelassen. Oben unter dem Dachboden gab es ein paar gute Verstecke, aber er hatte noch keins davon benutzt. Nun, mit all dem Gold, das schwer gegen seine Hüfte schlug, beschloss Jimmy, eins davon auszuprobieren. Er hatte längere Zeit darüber nachgedacht, welcher Platz dafür am besten geeignet war, und war zu dem Schluss gekommen, dass im Augenblick Armut seine beste Tarnung wäre; keiner seiner Diebeskollegen würden in einer solchen Bruchbude Gold vermuten. Er weckte mit seinem Klopfen den alten Mann und wurde mit missbilligendem Grunzen begrüßt - seit sie Vorjahren ihr Geschäft verkauft hatten, schliefen die alten Leute lange, häu-
31 fig bis sieben oder acht, und es ärgerte sie, Jimmy schon im Morgengrauen hereinlassen zu müssen. Der alte Mann schloss die Tür hinter dem Jungen, kehrte in sein Zimmer zurück und ließ Jimmy allein in dem dunklen, staubigen Flur. Jimmy setzte dazu an, die Treppe hinaufzusteigen, und bemerkte, dass es unangenehmer roch als bei seinem letzten Besuch. Und das hier war seine einzige zumindest halb achtbare Unterkunft! Wenn sie noch mehr herunterkam, würde er umziehen müssen. »Was für eine Idee«, murmelte er müde. »Wenn ich nicht aufpasse, werde ich noch respektabel.« Baron Jose del Garza, in Abwesenheit des Herzogs amtierender Gouverneur von Krondor und nun kurzfristig auch Chef der Geheimpolizei des Herzogs von Bas-Tyra, saß hinter dem Schreibtisch des Kommandanten der Palastwache und starrte wütend das schmale Fenster in der Wand gegenüber an. Im Zimmer roch es nach Tinte, muffigem Pergament, billigem Wein, Talgkerzen und altem Schweiß. Wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre er lieber überall sonst im Königreich gewesen als in Krondor. Er hätte viel lieber an der Seite des Herzogs von Bas-Tyra im südlichen Grenzland gegen Kesh gekämpft, statt sich mit den Dingen abgeben zu müssen, die heute vor ihm lagen. Del Garza war kein besonders ehrgeiziger Mann. Er diente dem Herzog, und es war Herzog Guys Wunsch gewesen, dass er die Stadt in seiner Abwesenheit verwaltete, dafür sorgte, dass Rechnungen bezahlt, Steuern eingetrieben und Verbrechen bestraft wurden, während der Prinz sich in seinen Gemächern aufhielt. Man hätte auch behaupten können, dass der Prinz sich unter Arrest befand, aber vor seinen Gemächern standen keine Wachen; Erlands schlechte Gesundheit würde ohnehin verhindern, dass er die Stadt verließ. Außerdem gehorchte er seinem Neffen, dem König. Als Guy mit einem Schreiben des Königs erschienen war, das ihn zum Vizekönig erklärte, war Prinz Erland ohne Widerspruch zurückgetreten. Nun verfluchte del Garza den Tag, an dem er Rodez verlassen hatte, um in den Dienst des Herzogs zu treten. Herzog Guy war ein harter, aber gerechter Mann. Seit er nach Krondor gekommen war, war del Garza jedoch gezwungen gewesen, sich mit Jocko Radburn abzugeben. Dieser mörderische Verrückte hatte das Gesicht eines schlichten Bauern, aber das Herz eines tollwütigen Wolfs. Und seine
Unfähigkeit, selbst ein sechzehnjähriges Mädchen hinter Schloss und Riegel zu halten, drohte nun, del Garzas Leben vollends auf den Kopf zu stellen. Radburn hatte del Garza den Befehl über die Geheimpolizei übertragen, die Greif, eines der Schiffe des Herzogs, beschlagnahmt und sich eine Stunde, nachdem das Mädchen und ihre Begleiter aus der Stadt geflohen waren, zur Verfolgung aufgemacht. Nun fiel es del Garza zu, das Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen und, was wichtiger war, dafür zu sorgen, dass man ihm nicht die Schuld gab, falls Radburn die Prinzessin nicht zurückbringen konnte. Es klopfte, und er antwortete: »Herein!« Ein Soldat öffnete die Tür. »Er kommt, Sir.« Del Garza nickte und versuchte ruhig zu bleiben, als die Tür sich wieder schloss. Er hatte dieses Büro für ein ganz bestimmtes Gespräch beschlagnahmt, und danach würde er mit seinen Untergebenen reden. Aber zuerst würde er mit dem Kapitän der Paragon sprechen, eines Blockadeschiffs, das heute früh ausgerechnet in einem kritischen Augenblick seine Position verlassen hatte. Er vernahm von draußen eine Männerstimme, die eindeutig im Zorn erhoben wurde. Antworten waren nicht zu hören, aber es war klar, dass der erzürnte Mann näher kam. Dann klopfte es an der eisenbeschlagenen Holztür, und del 33 Garza dachte einen Augenblick nach. Nach dem Klopfen war es einen Moment still gewesen, aber schon bald erklang die verärgert protestierende Stimme erneut. »Herein«, sagte der amtierende Gouverneur leise. Die Tür wurde sofort aufgerissen, und del Garza begegnete dem Blick seines Untergebenen, als dieser das Büro betrat. Er sah in den Augen des Mannes sowohl Heiterkeit als auch Zorn und ein erhebliches Maß an Verachtung. Einen Augenblick lang fragte sich der Baron, ob dieser kaum verhüllte Widerwille mit ihm zu tun hatte, aber schließlich blickte der Geheimpolizist zur Seite, und del Garza erkannte, dass seine Geringschätzung dem Mann galt, der ihm auf dem Fuß folgte. Del Garzas Polizist war groß und kräftig, aber er wurde nun beiseite geschoben von einem sehr großen, sehr eingebildeten Mann mit der salzfleckigen Kleidung eines Kapitäns zur See. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte der Kapitän barsch. »Ich muss gegen eine solche Behandlung protestieren. Ich bin ein Mann von
Adel, und man hat mich gegen meinen Willen hierher geschafft. Ich erhielt eine Botschaft, die mich zu einer Besprechung mit dem amtierenden Gouverneur rief, aber sobald wir den Kai erreichten, hat dieser« - er warf dem Mann, den er beiseite geschoben hatte, einen höhnischen Blick zu -»dieser Brigant behauptet, ich stünde unter Arrest, und mir das Schwert abgenommen. Mein Schwert, Sir! Was für eine Ausrede kann es dafür geben?« Er hielt inne und starrte den Mann hinter dem Schreibtisch an. »Und wer, wenn ich fragen darf, seid Ihr?« Del Garza sah ihn an, während die beiden Soldaten hinter dem Kapitän stehen blieben. Kapitän Alan Leighton war tatsächlich von Adel, der dritte Sohn eines sehr niederen Adligen, dessen Familie bereit gewesen war zu zahlen, damit er das Heim seiner hehren Ahnen verließ; mit anderen Worten, Leighton war noch unnützer als ein Hafenarbeiter oder Tage34 löhner. Und er wäre von solchen Tätigkeiten innerhalb einer Woche wegen Unfähigkeit entlassen worden. Sein Kapitänspatent war ebenso wie sein Schiff gekauft und nicht verdient, während bessere Männer warten mussten. Der Baron kannte Leute wie ihn und verabscheute sie. Der Kapitän war gerade noch wichtig genug, um lästig werden zu können, und nicht wichtig genug, um von wirklichem Wert zu sein. »Ich bin der Gouverneur«, sagte er, seine Stimme so flach und kalt wie eine Fensterscheibe im Winter. Der Kapitän verlagerte das Gewicht und blickte ihn unsicher an. Del Garza sah eher durchschnittlich aus; er hatte ein Frettchengesicht, und seine Kleidung war schlicht geschnitten, wenn auch aus gutem Stoff. »Tatsächlich?«, fragte der Kapitän zweifelnd. »Tatsächlich«, bestätigte del Garza leise. »Setzt Euch, Kapitän Leighton.« Er nickte zu dem Hocker hin, der vor dem Schreibtisch stand. Der Kapitän schaute erst den Hocker und dann den amtierenden Gouverneur ungläubig an. »Darauf?«, schnaubte er. »Das Ding wird zusammenklappen.« Leighton wandte sich einem der Soldaten zu. »Du da, bring mir einen anständigen Stuhl.« Del Garza beugte sich vor. »Setzt Euch«, sagte er. »Oder meine Leute werden nachhelfen.« Die beiden Wachen kamen einen Schritt auf den aufgeblasenen
Seemann zu, bereit, die Hände auszustrecken und ihn auf den Hocker zu drücken. Zum ersten Mal sah Leighton ihnen tatsächlich ins Gesicht; dann blinzelte er, setzte sich vorsichtig und schaute von einem Mann zum anderen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. Er bemühte sich weiterhin, selbstsicher zu klingen, aber es lag ein leichtes Beben in seiner Stimme. Zur Antwort rieb del Garza über die Stoppeln an seinem Kinn und betrachtete ihn, wie ein müder Mann eine umher35 summende Fliege betrachten würde. Alles, was ihn verärgert hatte, seit er nach Krondor gekommen war, fiel ihm wieder ein und schien sich nun in der Person dieses jämmerlichen Ersatzes für einen Kapitän zu verkörpern. Del Garza beschloss, dass Leighton für alles zahlen würde. »Könnt Ihr das nicht erraten?«, fragte er durch zusammengebissene Zähne. »Wollt Ihr es nicht einmal versuchen?« Leighton starrte ihn an wie eine Maus die Schlange. »Nein«, sagte er schließlich. Er lehnte sich zurück, dann fiel ihm im letzten Augenblick ein, dass er auf einem Hocker saß, und verzog das Gesicht. Er beugte sich wieder vor und ging zum Angriff über. »Soll das hier ein Witz sein? Wenn ja, dann ist es ein geschmackloser Witz, und ich kann Euch versichern, dass ich mich bei Eurem Vorgesetzten beschweren werde.« »Sehe ich aus, als würde ich Witze machen?«, fragte del Garza. »Lächle ich etwa? Lache ich, oder lacht einer meiner Männer? Kommt Euch das hier vor wie eine Atmosphäre der Heiterkeit und Kameradschaft?« Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf der breiten Stirn des Kapitäns, und sein Blick zuckte unruhig nach allen Seiten. »Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Eher nicht.« Er richtete sich auf. »Aber ich weiß immer noch nicht, wieso ich hier bin.« »Man hat Euch wegen Verrats verhaftet.« Leighton sprang auf und ignorierte die Wachen, die noch einen Schritt näher kamen. »Wie könnt Ihr es wagen? Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?« »Ihr seid die widerwärtige Kröte, die sich hat bestechen lassen, die Blockade zu brechen«, sagte del Garza. »In Kriegszeiten ist so etwas Verrat.« »Das habe ich nicht getan!«, rief der Kapitän. Der Baron lächelte. »Wisst Ihr, wie viele Idioten schon versucht haben, die Agenten des Herzogs anzulügen?«, fragte er.
36 Er machte eine lässige Geste zu den beiden großen, kräftigen Soldaten. »Für gewöhnlich ist das Nächste, was sie sagen, etwas in der Richtung von: >Hört auf! Um der Götter willen, bitte hört auf!Beweise< sehen, die Ihr angeblich habt.« Del Garza lachte leise, ein Impuls, den er nicht beherrschen konnte. »Wollt Ihr jetzt etwa behaupten, dass Ihr unschuldig seid, nachdem Ihr Eure Schuld schon so gut wie zugegeben habt?« »Ich habe nichts zugegeben«, entgegnete der Kapitän. »Kommt schon, Ihr werdet die Beweise bei der Verhandlung ohnehin vorlegen müssen.« Mit einem traurigen Kopfschütteln sagte der Baron: »Wollt Ihr Eurer Familie tatsächlich die Schande einer Verhandlung bereiten, wenn das Ergebnis so gut wie unvermeidlich ist? Müssen wir ihnen und der ganzen Welt beweisen, was Ihr seid?« Leighton wurde bleich. »Was schlagt Ihr vor?«, fragte er deutlich erschüttert. »Nichts Radikales«, sagte del Garza plötzlich sehr großzügig. »Selbstverständlich könnt Ihr Euer Patent nicht behalten.« Er zog ein
Dokument aus einem kleinen Stapel und schob es dem Kapitän zu, zusammen mit einer Feder, die bereits im Tintenfass steckte. »Hier könnt Ihr Euer Patent zurückgeben; unterschreibt einfach unten auf der Seite und auf der nächsten Seite ebenfalls, und dann schicken wir Euch nach Hause.« Er nahm die Feder aus dem Tintenfass und reichte sie Leighton mit einem dünnen Lächeln. »Euer ältester Bruder wäre nicht der erste Adlige, der für einen jüngeren Bruder eine zweite Karriere in die Wege leiten muss; das ist immerhin ein erheblich geringeres Problem, als dem Familiennamen Schande zu machen.« »Das ist alles?«, fragte der Kapitän und nahm zögernd die Feder entgegen. Del Garza nickte. »Wir kümmern uns um den Rest. Um alle Einzelheiten«, erklärte er. Er zeigte auf den unteren Rand des Blattes. »Hier bitte«, forderte er den Kapitän auf. 39 Wie hypnotisiert unterschrieb Leighton. Del Garza hob die Ecke des Blattes, damit der untere Teil des darunter liegenden Dokuments zu sehen war. »Unterschreibt bitte auch hier.« Mit zitternder Hand unterschrieb der Kapitän auch das zweite Blatt, und der amtierende Gouverneur nahm die Pergamente zurück, streute Sand auf die Unterschriften und schüttelte sie trocken. »Sehr gut«, sagte er. »Nur noch eine Kleinigkeit, und dann sind wir fertig.« Leighton wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. »Was ist das für eine Kleinigkeit?« Auf del Garzas Nicken hin traten drei Soldaten vor; zwei packten die Arme des Kapitäns, während der dritte eine Garotte um seinen Hals legte. Der Hocker fiel krachend um, und Leightons Beine verfingen sich darin, so dass er nicht aufstehen konnte. Del Garza neigte den Kopf zur Seite und beobachtete, wie sich die Schmerzen und das Wissen um seinen bevorstehenden Tod in den Augen des Mannes spiegelten. Bald schon trommelte der Kapitän mit den Fersen einen kurzen Wirbel auf den Boden, und einen Augenblick später war er tot. Der Baron faltete und versiegelte sorgfältig die beiden Dokumente. »Armer Bursche«, sagte er zu den Wachen. »Bringt ihn zurück in sein Quartier und arrangiert dort alles entsprechend. Achtet darauf, dass der Balken, an den ihr ihn hängt, fest genug ist; er ist recht schwer.« Er reichte dem Offizier die Papiere. »Vergesst nicht, seine
Rücktrittserklärung und vor allem sein Geständnis an einer Stelle zu hinterlassen, wo man sie leicht finden wird.« Der Geheimpolizist lächelte, als er die Papiere entgegennahm. »Das war saubere Arbeit, Sir«, sagte er. »Es gibt mir zumindest das Gefühl, dass wir es ihnen zurückzahlen.« Del Garza schaute ihn lange genug an, um den Mann wis40 sen zu lassen, dass er nicht empfänglich für Schmeichelei war; dann entließ er ihn. Als er wieder allein im Büro war, überdachte der Baron seine Möglichkeiten. Leighton hatte sterben müssen; er hatte keine andere Wahl gehabt. Wäre der Kapitän am Leben geblieben, hätten schließlich mehr Leute von der Verwundbarkeit des Herzogs erfahren. Loyalität gegenüber dem Prinzen oder Gier nach dem Gold der Spötter - der Grund für Leightons Verrat zählte nicht. Wichtig war, auf wen der anklagende Blick von Herzog Guy fallen würde, wenn er aus dem Tal der Träume zurückkehrte. Del Garza konnte einen großen Teil der Verantwortung auf Radburns Schultern abwälzen. Sein eiserner Griff um die Stadt hatte zu Unzufriedenheit geführt, und seine barsche Art, mit der Garde des Prinzen und den Wachtmeistern der Stadt umzugehen, hatte zweifellos viele Bürger tiefer ins Lager des Prinzen getrieben. Die Zeichen waren nur zu deutlich: Erland lag im Sterben, ganz gleich, was die Heiler und Ärzte taten, um den Tod in Schach zu halten. Da er keinen männlichen Erben hatte, wäre Anita eine hervorragende Partie für jeden ehrgeizigen Mann. Und da der König keine Erben hatte, wäre Anitas Gemahl nur einen Schritt vom Thron in Rillanon entfernt. Also würde der Herzog Anita heiraten, und eines Tages - eher früher als später, wie del Garza annahm - würde Guy du Bas-Tyra König Guy der Erste sein. Del Garza rieb sich mit dem Zeigefinger das Kinn und fragte sich, wohin all das ihn bringen würde. Er war kein wirklich ehrgeiziger Mensch, aber die Umstände sahen ganz so aus, als hätte er nur die Wahl zwischen Aufstieg und Fall; es gab keinen Mittelweg. Also entschied er sich aufzusteigen. Und wer weiß, vielleicht würde ihm das wirklich einiges einbringen. Eine Grafschaft im Osten, vielleicht in der Nähe von Rodez? Um aufzusteigen musste er jedoch als Erstes vermeiden zu 41 fallen, und dazu musste er zunächst einmal Guys Zorn überleben,
wenn der Herzog zurückkehrte und feststellte, dass das Mädchen nicht mehr da war. Er hoffte, Radburn würde sie bald zurückbringen oder selbst verschollen bleiben. Wenn Jocko über genügend Anstand verfügte, bei der Verfolgung umzukommen, könnte del Garza dem Herzog die Geschehnisse so erklären, dass alle Schuld auf Radburn fiel. Und das bedeutete, dass er viele weitere Schuldige brauchte, um sie dem Herzog vorzuführen. »Cray!«, rief er den Sekretär des Gardehauptmanns herbei. Als der Mann erschien, sagte er: »Ich will jeden Kommandanten jeder Einheit, die mit dem Auftrag der vergangenen Nacht zu tun hatte, in einer Stunde in diesem Büro sehen.« »Jawohl, Sir«, sagte Cray und eilte davon. Del Garza lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Es freute ihn, wie eifrig Cray reagiert hatte und dass er dieses Büro einfach hatte übernehmen können, und er lächelte, als er sich an Leightons Miene erinnerte, als der Kapitän erkannte, dass es del Garza war, der im Augenblick über Krondor herrschte. Dann schob er jegliche Freude über seine Autorität weit von sich. Wie konnte er irgendetwas genießen, wenn sein Herr heute früh doch so gedemütigt worden war? Wie hatte dieses ungezogene Mädchen den eigenen Vater im Stich lassen können? Und warum? Damit ihr nicht die Ehre zuteil wurde, den Herzog von Bas-Tyra heiraten zu dürfen? Einen der größten, einen der edelsten Männer im Königreich? Was für eine Unverschämtheit von dieser dreisten Göre, del Garzas Herrn so zu behandeln! Armer Prinz Erland, eine so verantwortungslose Tochter zu haben. Nicht, dass Erland besser war, denn auch er hatte sich dem Willen des Herzogs widersetzt. Nun würde er eben das Schicksal erleiden, zu dem seine eigene Tochter ihn verdammt hatte. Del Garza dachte nach: Wenn man den Prinzen vielleicht in einen der zugigeren Kerker brachte und verbrei42 ten ließe, dass er dort bleiben musste, bis seine Tochter zurückkehrte ... Das wäre eine Möglichkeit, falls Radburn das Mädchen nicht bald wieder nach Krondor brachte. Wenn sie die Stadt freiwillig verlassen hatte, würde sie eine solche Drohung vielleicht dazu bringen zurückzukehren, und wenn der Prinz diesen Aufenthalt im Kerker nicht überlebte, war das ein weiteres Problem, für das man Jocko die Schuld zuschieben könnte, wenn der Herzog die Stadt wieder mit seiner Anwesenheit beehrte.
Del Garza seufzte. Es gab so viel zu tun, und dabei zog er Routine dem Unerwarteten eindeutig vor. Aber zumindest wusste er nun, was er unternehmen musste. Diese ... Diebe ... dieses Gesindel musste gefügig gemacht werden, man musste sie behandeln wie die Hunde, die sie waren. Dass sie es wagten, Guy du Bas-Tyras rechtmäßige Braut zu stehlen und sich in Dinge einzumischen, von denen sie nichts wussten und in der Tat nichts wissen sollten ... Mit einiger Anstrengung gelang es del Garza, sich zu beruhigen. Er atmete bewusst tief ein, bis sein Herzschlag wieder normal war. Er sollte seinen Zorn nicht verschwenden; er sollte ihn aufheben, bis die Kommandanten kamen, und ihn dann an ihnen auslassen. Hier würde sich vieles bald und für immer ändern müssen. Wenn Guy du BasTyra aus dem Süden zurückkehrte, würde Krondor eine Stadt sein, in der Zucht und Ordnung herrschten. Ja, dachte er. Zucht und Ordnung. Er rief nach Pergament und Feder und begann mit einer Liste von Dingen, die zu erledigen waren, und der erste Punkt auf dieser Liste war, so viele Spötter festzunehmen, wie irgend möglich. Nachspiel Auf der Kreuzung ging es sehr betriebsam zu. Heißfinger-Flora schwatzte und lachte mit ihren Freundinnen, während sie jedem Mann, der vorbeikam, kesse Blicke zuwarfen. Als der Wagen neben ihnen anhielt, achteten sie zunächst nicht sonderlich darauf; auf den Straßen wimmelte es nur so von Fußgängern, Trägern mit schweren Lasten, Karren voll mit goldenen Brotlaiben, Tuchballen und Säcken; es gab sogar eine Sänfte - Flora warf einen neidischen Blick zu der Kurtisane, die sich dort in die Kissen lehnte - und eine Unzahl von Bauernwagen, die Lebensmittel in die Stadt brachten. Als dieser Wagen vor Flora stehen blieb, erkannte sie, dass er anders war als die anderen. Er bot einen seltsamen Anblick mit seinen hohen Seitenteilen und den mit Lederriemen befestigten Leisten - der Wagen sah wie ein rollender Käfig aus. Auf dem Kutschbock saßen zwei Gardisten aus Bas-Tyra, und dahinter folgten vier weitere zu Fuß; die Schritte ihrer beschlagenen Stiefel bildeten einen Kontrapunkt zum Lärm der eisenbereiften Räder auf Stein, und ihre Hellebarden schwangen im Marschrhythmus. Einige von Floras Freundinnen wichen vorsichtig zurück -alles
Ungewöhnliche war gefährlich. Aber die meisten Mädchen verschränkten die Arme und blieben trotz ihres Miss44 trauens stehen und sahen zu. Immerhin waren auch viele Soldaten ihre Kunden. Ein Feldwebel stieg vom Wagen und kam mit dem wiegenden Gang eines Mannes, der ebenso viel Zeit auf dem Pferderücken wie zu Fuß verbringt, auf die Mädchen zu. Einer seiner Männer machte sich daran, die hintere Klappe des Wagens und damit die Tür des Käfigs zu öffnen; der Rest präsentierte die Hellebarden. Der Feldwebel packte Flora unterm Kinn, dann drehte er sich um und grinste seinen Männern zu, die ebenfalls lächelten. Er roch nach Schweiß, Leder und saurem Wein; daran war Flora im Prinzip gewöhnt, aber dieser Mann roch schlechter als die meisten, und sie rümpfte die Nase. Dann warf sie den Kopf zurück und fragte mit einem nervösen Lächeln: »Kann ich etwas für dich tun, Soldat?« »Ja«, erwiderte der Feldwebel und beugte sich vor. »Du kannst mit mir kommen, meine kleine Kloakenblüte, du und all deine Freundinnen. Wir feiern in der Burg ein Fest für euch.« Er packte sie fest am Arm und bedachte sie mit einem grausamen Lächeln, das seine schiefen Zähne entblößte. »Du brauchst nicht grob zu werden«, fauchte Flora und versuchte sich loszureißen. »Wahrscheinlich nicht«, stimmte er ihr vergnügt zu. »Aber ich will es einfach.« Damit packte er sie an den Haaren und am Rock und warf sie in den Käfig. Sie stieß sich das Knie fest genug an, dass ihr Tränen in die Augen traten. Bevor sie aufstehen konnte, wurden ihre Freundinnen auf sie geworfen, was ihr die Luft aus der Lunge drückte, so dass sie erst einmal nach Atem ringen musste. Sie riss sich die Lippe an einem Zahn auf, und ihr Mund füllte sich mit dem Eisen-SalzKupfer-Geschmack von Blut. »Wartet!«, rief sie, nachdem sie wieder zu Atem gekommen und unter dem sich windenden Haufen hervor gekrochen war. »Wir haben nichts getan! Was soll das?« 45 Die Schreie der anderen Mädchen erklangen schrill ringsum sie her: Schluchzen, Fluchen und wortloses Wutgebrüll. Sie zog sich rechtzeitig an den Gittern hoch, um sehen zu können, wie zwei ihrer Freundinnen mit gerafften Röcken in eine Gasse flohen, und das
ermutigte sie ein wenig. Der Aufrechte Mann würde von dieser Sache erfahren und etwas unternehmen. Flora rüttelte so fest sie konnte an dem hölzernen Gitter des Käfigs und starrte die Soldaten wütend an. »Ihr könnt uns nicht einfach wegen nichts gefangen nehmen!«, rief sie. Der Feldwebel kam näher und schlug ihr mit der gepanzerten Faust auf die Finger; nicht fest genug, um etwas zu brechen, aber mehr als fest genug, um ihr wehzutun. »O doch, das können wir«, sagte er mit etwas, das man für Heiterkeit hätte halten können, wenn man seine Augen nicht gesehen hätte. In diesen Augen stand etwas, das Flora erschaudern ließ und sie daran erinnerte, was Jimmy über die Gefahren auf der Straße gesagt hatte. Der Feldwebel klatschte mit den behandschuhten Händen; die Metallringe auf dem Handrücken klimperten matt. »Zumindest sagt das der amtierende Gouverneur. Wir können mit solchen wie dir machen, was wir wollen, und das geschieht euch recht. Und jetzt sei ein braves, vernünftiges Mädchen und halt den Mund, oder ich schlage dir die Zähne aus.« Flora saugte an ihren blutenden Knöcheln und tat, was man ihr befohlen hatte. Der Schmerz war weit entfernt und schien viel weniger wirklich zu sein als ihr ängstlicher Herzschlag und der Kloß in ihrem Hals. Als sie die Festung erreichten, war der Käfig brechend voll, und Flora wurde fest gegen die Gitter gedrückt - was immer noch besser war, als in der Mitte zu stecken, denn zumindest bekam man von einer Seite Luft. Der Wagen war voll mit Hu46 ren, Bettlern und ein paar jüngeren Taschendieben, die, als man sie festgenommen hatte, absolut nichts Illegales getan hatten. Die Soldaten hatten sogar ein paar Leute gefangen genommen, die einfach nur arm waren oder zufällig neben der falschen Hure standen. Aber sie hatte bemerkt, dass die meisten im Käfig Spötter waren, und das erschreckte sie. Die Tore fielen hinter ihnen zu. Weitere Gardisten aus Bas-Tyra zogen die Gefangenen aus dem Wagen und schoben sie zu einer wachsenden Reihe von Leuten, die eine Treppe hinuntergescheucht wurden. Stiefel, Fäuste und die eisenbeschlagenen stumpfen Enden von Hellebarden und Piken trafen auf Fleisch, aber beinahe alle Flüche kamen von den Gardisten.
Die Gefangenen waren überwiegend still, wenn man von vereinzelten Schmerzensschreien einmal absah. Jimmy hatte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geschlafen und erwachte erst am Vormittag des zweiten Tages nach der Abreise der Seetaube. Er streckte sich ausgiebig, stand auf, zog saubere Kleidung an - oder genauer gesagt, die gut gelüfteten Lumpen, die er bei seiner letzten Übernachtung in diesem Zimmer gelassen hatte - und ging die Treppe hinunter. Instinkt veranlasste ihn, sich dicht an der "Wand zu halten, wo die Dielen weniger knarrten. Insgesamt gefiel es ihm zu wachsen, aber es hatte ihn schwerer werden lassen, und er war sehr darum bemüht, das zusätzliche Gewicht durch zusätzliche Fähigkeiten auszugleichen. »Bilde dir bloß nicht ein, dass du Frühstück kriegst«, erklärte seine Vermieterin. Sie war ein zahnloses altes Weib, das ihn nun aus wässrigen Äuglein anstarrte. »Du weißt, dass ich um diese Zeit nichts habe.« »Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, Euch zu bemühen«, erwiderte Jimmy galant. Er lächelte. »Ich brauchte den Schlaf ohnehin mehr als Frühstück.« 47 »In deinem Alter?«, fragte die alte Frau höhnisch. »Es war diesmal eine sehr lange Reise«, sagte Jimmy, und das war es tatsächlich gewesen - ein Ausflug in eine ganz andere Welt. Aber nun war es Zeit, wieder zum Alltag zurückzukehren. Als Erstes würde er sich in Spötters Ruh umhören, was los war. Dann konnte er mit der Planung für etwas Größeres als Taschendiebstahl beginnen. Er war in den letzten paar Monaten Lehrling des Langen Charlie gewesen, aber diese Ausbildung war an dem Abend unterbrochen worden, als Jimmy Zeuge geworden war, wie Prinz Arutha versuchte, vor Jocko Radburn persönlich zu fliehen. Der Prinz, sein Jagdmeister Martin Langbogen und Arnos Trask, der legendäre Käpt'n Klinge, waren ein paar Tage vor Jimmys Begegnung mit dem Prinzen insgeheim in die Stadt gekommen. Sie hatten versucht, ihre Anwesenheit zu verbergen, aber aus Jimmys Perspektive waren sie so auffällig gewesen wie Stiere in einer Schafherde. Als Jimmy zufällig Radburn begegnet war, der Arutha verfolgte, hatte der Aufrechte Mann bereits den Befehl gegeben, diese drei Besucher zu ihm zu bringen. Jimmy hatte gewusst, dass die Schmuggler und die Spötter etwas planten, das über ihren üblichen unsicheren Waffenstillstand
hinausging, denn Trevor Hulls Leute hatten sich in Bereiche der Kanalisation gewagt, die eindeutig Spöttergebiet waren. Aber da er nur ein Junge war, wenn auch ein sehr begabter, hatte man Jimmy nichts von der Flucht der Prinzessin aus der Festung gesagt. Dass er Arutha gefunden hatte, hatte das geändert und Jimmy direkt ins Herz der Verschwörung katapultiert, die zwei Nächte zuvor mit der Flucht von Anita, Arutha und ihren Begleitern aus Krondor ein erfolgreiches Ende genommen hatte. Jimmy war nicht nur zum Verschwörer geworden, sondern hatte auch Prinz Arutha und Prinzessin Anita Gesellschaft geleistet, während sie auf diese Fluchtmöglichkeit warteten. Er hatte seine Rolle gespielt, war kö48 niglich belohnt worden und hatte bei all dem das Gefühl gehabt, zum ersten Mal in seinem jungen Leben in etwas verwickelt zu sein, das größer war als er selbst. Nach einem solchen Triumph war Jimmy nicht unbedingt danach zumute, wieder Lehrling zu werden und Übungsschlösser zu knacken, während der Lange Charlie ihm über die Schulter sah. Außerdem hatte er schon seit einiger Zeit begriffen, wie man mit Schlössern umgehen musste, und die Beispiele, die er gesehen hatte, wirkten nicht so, als könnten sie noch eine Herausforderung bieten. Eigentlich war die Ausbildung langweilig gewesen, und Jimmy wusste tief in seinem Herzen, dass er für aufregendere Dinge geschaffen war. Manchmal kam es ihm so vor, als ob Charlie ihm all diese langweiligen Arbeiten nur deshalb zuteilte, um seine Ruhe zu haben. Schon vor dem Abenteuer mit Arutha und Anita hatte er sich deshalb entschlossen, einen neuen Ausbilder zu fordern. Das Leben ist zu kurz, um auf das zu warten, was mir zusteht, dachte er. Er nahm sich vor, an diesem Tag ein paar bessere Kleidungsstücke zu stehlen. Was er trug, roch wirklich unangenehm. Oder ich könnte zur Abwechslung welche kaufen, dachte er. Aber zuerst brauchte er einen Geldwechsler. Der Wechsler hatte seinen kleinen Laden in einer Gasse, und über der Tür hing ein Schild mit einer Waage; die Farbe war so verblasst, dass nur noch eine Spur von Gold unter dem Dreck zu erkennen war. Jimmy sprang über das schmutzige Rinnsal in der Mitte der Gasse, nickte dem Schläger zu, der vor der Tür stand und die Ziegel mit der Schulter polierte, und betrat den Laden. Der Schläger würde einen Grund finden, anständige Bürger vom Betreten des Ladens abzuhalten, wann immer ein Spötter sich drinnen aufhielt.
Ferenz der Geldwechsler blickte auf und sagte: »Ah, Jimmy! Was kann ich für dich tun?« Jimmy griff in sein Hemd, holte den Geldbeutel heraus und 49 rollte mit einer raschen Bewegung aus dem Handgelenk ein halbes Dutzend Münzen auf die Theke. Die anderen hatte er sicher auf einem Dachbalken in seinem Zimmer verborgen. »Gold?«, fragte Ferenz und sah sich die daumennagelgroßen Münzen an, die Jimmy über das glatte Holz der Theke schob. Der Geldwechsler war ein Mann in mittleren Jahren, mit einem schmalen, faltigen Gesicht und der Art von Blinzeln, die davon kam, wenn man sich um seinen Tresor sorgte, während man eigentlich schlafen sollte. Er war ordentlich und in gedämpften Farben gekleidet, wie man es von einem wohlhabenden Ladeninhaber erwartete. »Du wirst wohl ehrgeizig, Junge, wie?« »Ehrlich verdient«, sagte Jimmy. »Zur Abwechslung.« Und das stimmte sogar. Er behielt die Waage gut im Auge, als Prinz Aruthas Münzen in einen klirrenden Haufen abgegriffener und viel weniger auffälliger Silber- und Kupferstücke verwandelt wurden. Die Regeln des Aufrechten Mannes sorgten dafür, dass Männer wie Ferenz einigermaßen ehrlich blieben - gebrochene Arme waren für gewöhnlich die erste Strafe für Wechsler oder Hehler, die versuchten, einen Spötter zu betrügen, und danach wurde es wirklich unangenehm, aber es schadete nie, selbst auf der Hut zu sein. »Da«, sagte der Wechsler schließlich. »Das wird erheblich weniger auffällig sein.« »Dachte ich mir auch«, erwiderte Jimmy lächelnd. Er kaufte einen Geldgürtel - ein großer, klirrender Geldbeutel war ebenfalls auffällig - und ging auf die Straße hinaus. »Schweinefleischpasteten! Schweinefleischpasteten!«, hörte er, und das ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Schließlich hatte er noch nicht gefrühstückt. »Zwei von Euren besten, Jungfer Pease«, bat er mit großer Geste. 50 Die Pastetenverkäuferin setzte die Griffe ihres Karrens ab und holte zwei Pasteten heraus; sie waren noch warm, und der Geruch bewirkte, dass Jimmys Nase zuckte. Außerdem waren Jungfer Peases Schweinefleischpasteten tatsächlich mit Schweinefleisch zubereitet
und nicht mit Kaninchen, Katze oder noch unangenehmeren Dingen wie bei anderen Händlern. Er biss hinein. »Du bist zu Wohlstand gelangt, wie ich sehe«, sagte die Pastetenverkäuferin, als er ihr vier Kupferstücke reichte. »Schwere Arbeit und ein gesetzesfürchtiges Leben, Jungfer«, erwiderte er, und ihr mächtiger Leib bog sich vor Lachen. Nun, eine dünne Köchin wäre keine gute Reklame für ihre eigenen Waren, dachte er. Er spülte die Pasteten mit einer Flasche Apfelmost herunter, die er an einem anderen Stand gekauft hatte, und lehnte sich zufrieden rülpsend an einen Brunnenrand. Er war gerade dabei, sich die Finger zu lecken, als ihm ein Kieselstein auf den Kopf fiel. Autsch, dachte er und blickte auf. Das schmale Gesicht des Langen Charlie spähte um einen Giebel. Er bewegte die Hände: Melde dich in Spötters Ruh, signalisierte er. Sofort. Keine Verspätung, keine Ausreden. Jimmy trank den Rest des Mosts und gab dem Händler die Flasche mit höflichem Dank zurück. Dann eilte er zur nächsten Gasse. Sobald er sich in der Kanalisation befand, bewegte er sich schneller selbst an den stockfinsteren Stellen, von denen es viele gab - und kam dabei an Wachen vorbei, die die Spötter an unterschiedlichen Stellen aufgestellt hatten und die heute ungewöhnlich aufmerksam wirkten. Nicht, dass sie zu anderen Zeiten unaufmerksam gewesen wären - auf Wache einzuschlafen oder zu trinken konnte schwere Verletzungen oder sogar den Tod nach sich ziehen. Es stank in der Kanalisation, aber für Jimmy roch es nach 51 Zuhause. Er kickte eine Ratte, die ein wenig feindseliger gewesen war als die meisten, durch die Luft. Das Quieken endete in einem feuchten Aufklatschen - man musste vorsichtig sein, wenn sie nicht davonliefen, denn dann waren sie für gewöhnlich krank. Jimmy hatte einmal einen Mann gesehen, der nach einem Rattenbiss Schaum vor dem Mund gehabt hatte, und diesen Anblick würde er so schnell nicht vergessen. In Spötters Ruh ging es zu wie in einem aufgewühlten Ameisenhaufen - obwohl Ameisen nicht solchen Lärm machten oder wild mit den Armen fuchtelten, so dass man beim Versuch vorbeizugehen beinahe ins Gesicht geschlagen wurde. Aufgeregte Leute gingen von einer Gruppe zur anderen, und alle schienen gleichzeitig zu reden. Jimmy entdeckte einen Jungen, den er kannte,
und ging zu ihm. »Was ist los?«, fragte er. Der Junge, den man wegen seiner riesigen abstehenden Ohren Ohren-Larry nannte, war gespannt wie ein Flitzbogen und beobachtete die hektischen Aktivitäten. Er sprach mit Jimmy, ohne den Blick von den anderen abzuwenden. »Bas-Tyras Männer haben die Mädchen und die Bettler und alle anderen gefangen genommen, die sie erwischen konnten«, knurrte Larry »Sogar Gerald.« Jimmy blinzelte. Gerald war Larrys jüngerer Bruder, nicht viel älter als sieben. Jimmy hatte gewusst, dass Radburn ein rachsüchtiges Schwein war, aber Kinder zu verhaften war wirklich verachtenswert. Er wollte fragen: »Hat er ... ?« »Nein!«, fauchte Larry und starrte Jimmy wütend an. »Er hat überhaupt nichts getan. Er hat einfach nur gespielt; er ist noch ein Kind!« »Verdammter Radburn«, sagte Jimmy »Ja, verdammt soll er sein«, sagte Larry »Aber diesmal war es del Garza. Radburn ist nicht mal in der Stadt; er ist eine Stunde nach der Flucht der Prinzessin in See gestochen.« 52 Jimmy blinzelte erneut. Wenn sogar Ohren-Larry wusste, dass die Prinzessin vorletzte Nacht geflohen war, dann wussten es alle. So viel zum Thema Geheimhaltung. »Nun hat del Garza alle Macht, und er hat offenbar den Verstand verloren.« Falls er je welchen hatte, dachte Jimmy und blieb reglos stehen, während er nachdachte. Die Prinzessin ist weg und Radburn jagt hinter ihr her - del Garza braucht Leute, denen er die Schuld an Prinzessin Anitas Flucht geben kann, wenn der Herzog zurückkehrt. Radburn kann zumindest behaupten, er hätte sie sofort verfolgt. Wie lautete das alte Stichwort noch? Der Sieg hat tausend Väter, aber die Niederlage ist eine Waise. Del Garza braucht so viele andere Kandidaten für die Vaterschaft dieser Niederlage wie möglich. »Diese Schlange del Garza ist aus dem gleichen Ei geschlüpft wie Radburn«, verkündete Larry erbost. »Er hat irgendwas vor, und wenn er dafür einem kleinen Jungen wehtun muss, wird er es tun!« Jimmy nickte zustimmend. »Aber das werden wir nicht zulassen«, sagte er leise. »Sehen wir mal, was der Aufrechte Mann entscheidet, und wenn er nicht die richtige Entscheidung trifft, nun, dann werden
wir eben sehen.« Er versetzte Larry einen Schlag gegen den Oberarm. »Verstanden?« In den Augen des Jüngeren keimte so etwas wie Hoffnung auf, und er nickte. »Was glaubst du, wer wird sonst noch unserer Ansicht sein?«, fragte Jimmy leise. »Ich werde es rausfinden«, antwortete Larry und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel die Augen, was dunkle Streifen hinterließ. Jimmy nickte. »Ich auch. Aber wir brauchen darüber nicht mehr zu reden, bis wir wissen, was sie vorhaben.« Womit er del Garza ebenso meinte wie den Aufrechten Mann und seine Leute. »Sehen wir uns ein bisschen um.« 53 Larry nickte, und die beiden machten sich auf den Weg. »Sind die Häuser ebenfalls betroffen?«, fragte ein fetter Mann eine Gruppe Prostituierter. »Die unter unserem Schutz, meine ich.« »Noch nicht«, antwortete eine Frau mit spitzer Nase, die aussah, als wäre sie gut über vierzig. »Aber wenn der alte Jocko noch nicht bekommen hat, was er will, wird das der nächste Schritt sein. Sie sind allemal ein leichtes Ziel.« »Aber viele reiche Leute sind dort ebenfalls Kunden«, wandte eine ihrer Freundinnen ein. »Die werden doch nicht zulassen, dass man sich in ihr Vergnügen einmischt.« »Als ob das die Geheimpolizei interessieren würde!«, höhnte Spitznase. »Sie wären begeistert, gewisse Informationen über einen Mann von Adel oder einen reichen Kaufmann mit einer eifersüchtigen Frau zu haben. Selbst wenn dieser Mistkerl jetzt schon erreicht, was er ursprünglich wollte, wird er sich die Hurenhäuser als Nächstes vornehmen. Ihr werdet noch an meine Worte denken!« »Das ist wahr«, stimmte der dicke Mann ihr zu. »Wenn er schon mal damit angefangen hat, wieso sollte er dann wieder aufhören?« Jimmy war der gleichen Ansicht. Es war im Grunde überraschend, dass die Geheimpolizei in dieser Richtung noch nichts unternommen hatte - Radburn war schlau genug zu erkennen, welche Möglichkeiten sich dort boten. Für einen machtgierigen, seelenlosen Mistkerl war es nur ein logischer Schritt, erheblich mehr zu tun, als die Straßenmädchen gefangen zu nehmen. Man konnte viel erfahren, wenn man die Macht hatte, Druck auf die Freudenhäuser auszuüben; die Wände dort hatten buchstäblich Ohren - in jedem besseren Haus gab es strategisch platzierte Lauschposten hinter falschen Wänden.
Kaufleute zahlten einer Puffmutter gerne ein wenig mehr, wenn diese sie darüber auf dem Laufenden hielt, was ihre betrunkenen Rivalen so erzählten. Jimmy konnte 54 sich gut vorstellen, wie auf einem solchen Lauschposten statt der Puffmutter nun ein Agent der Krone stand. Noch vor den Ereignissen der vergangenen Woche hatte es Gerüchte gegeben, dass Guy du Bas-Tyra vorhatte, der nächste Prinz von Krondor zu werden, und dass Jocko Radburn darauf aus war, ihm als Herzog von Krondor nachzufolgen. Die Adligen im Westen würden zweifellos dagegen protestieren, aber bei Adligen, die etwas zu verbergen hatten, wäre die Missbilligung vielleicht weniger lautstark. Außerdem, je nützlicher die Ergebnisse waren, die Radburn und del Garza vorzuweisen hatten, desto leichter würde ihnen der Herzog verzeihen, wenn er zurückkehrte. Jimmy entdeckte Stinke-Neville, der allein in einer Ecke saß. Das war nichts Ungewöhnliches, wenn man Nevilles Aroma bedachte, das mit altem Schweiß begann und sich von dort aus hocharbeitete. Aber der Bettler war häufig Gast im Kerker von Krondor gewesen und würde vielleicht etwas Nützliches darüber wissen. Es würde alles davon abhängen, wie wirr er gerade war. Jimmy hockte sich vor den alten Mann und bewegte ein Silberstück hin und her, denn er wusste, das war die beste Möglichkeit, Nevilles Aufmerksamkeit zu wecken. Nach und nach hörte Neville auf, sich hin und her zu wiegen, und sein Blick begann der Münze zu folgen; dann hob er die Hand und versuchte, sie sich zu nehmen. Jimmy riss sie zurück und schloss die Faust darum. »Neville«, sagte er, »ich muss ein paar Dinge wissen.« Der alte Mann starrte ihn an. Er war ziemlich verrückt, aber tief in seinen Augen stand immer noch so etwas wie Gerissenheit. Immerhin war er bisher noch nicht verhungert oder erfroren oder von Betrunkenen totgeprügelt worden. »Was willst du wissen?«, fragte er mit schleppender Stimme. »Erzähl mir von den Kerkern der Festung«, sagte Jimmy »Ich will alles wissen, woran du dich erinnern kannst.« 55 Neville lachte, bis er sich verschluckte, und dann hustete er so lange, dass Jimmy erwartete, er würde jeden Augenblick ein Stück Lunge ausspucken. Verärgert, weil er annahm, dass der Husten eine versteckte Forderung nach Flüssigkeit darstellte, erhob sich Jimmy
und holte einen Krug Bier für den alten Bettler. Wie erwartet ließ der Hustenanfall nach, sobald Neville seine verkrümmte Hand um den Becher geschlossen hatte. »Es kostet mehr als ein Silberstück, so viel zu erfahren«, krächzte der alte Mann und trank einen Schluck. »Wie viel?«, fragte Jimmy Der Bettler zuckte nicht nur mit den Schultern, sondern mit dem ganzen Körper. »Zwanzig«, sagte er und wusste selbstverständlich, dass er das nie erhalten würde. Jimmy stand auf und wandte sich zum Gehen. »Heh!«, rief Neville erbost. »Wo gehst du hin?« »Ich rede lieber mit jemandem, der nicht den Verstand verloren hat«, erwiderte Jimmy über die Schulter hinweg. »Komm wieder her«, verlangte der Bettler. »Weißt du nicht, wie man feilscht? Was wirst du mir geben? Ich mag verrückt sein, aber dumm bin ich nicht.« Jimmy hielt die Münze hoch, und Neville begann wieder, sich hin und her zu wiegen. »Gib mir drei«, verlangte er schließlich. »Ich habe schon zwei Kupfer für dein Bier ausgegeben«, sagte Jimmy »Ich will nicht noch mehr verlieren. Du kannst ja anfangen zu reden, und wenn ich es für lohnenswert halte, zahle ich mehr.« »In Ordnung«, sagte Neville widerstrebend. »Was willst du wissen?« Jimmy setzte sich ihm gegenüber hin. Er atmete durch den Mund, um den unglaublichen Gestank, der von dem alten Mann ausging, nicht so deutlich zu riechen, und stellte ihm Fragen über den Kerker. Wie tief war er, wie kam man hinein, 56 wie viele Zellen gab es, wie viele Wachen, wie oft wechselten die Wachen, wie oft bekamen die Gefangenen zu essen und wie oft wenn überhaupt - wurden die Abfälle nach draußen gebracht? Stinke-Neville antwortete auf jede Frage, ohne den Bück vom Gesicht des jungen Diebs abzuwenden, und bei jeder Antwort verlor Jimmy mehr an Hoffnung. »Gibt es eine Möglichkeit, rauszukommen, ohne dass die Wachen es merken?«, fragte er schließlich. Stinke-Neville lachte. »Bei der Göttin des Glücks, die mich hasst woher sollte ich das wissen?«, fragte er. »Ich habe nie versucht rauszukommen. Das bringt einem nichts als Ärger ein. Ich war nie länger dort als vier Tage.«
Jimmy beugte sich näher heran und fragte: »Hast du je von einem gehört, der entkommen ist?« Der alte Bettler fing an zu kichern und drohte Jimmy mit einem schmutzigen Finger. »Was ist los? Hat Jocko deine Liebste gestohlen?« Jimmy starrte ihn wütend an. »Du hast nur noch drei Zähne übrig, Neville«, sagte er, »willst du die jetzt auch noch verlieren?« Schnell wie eine zustoßende Schlange und mit überraschender Kraft packte der alte Mann Jimmys Arm. »Das würde ich gern mal sehen«, fauchte er. »Kleine Kröte.« Er schob den Arm des jungen Diebs wieder weg. »Glaubst du, es war Zufall, dass ich so lange am Leben geblieben bin? Glaubst du, Lims-Kragma, die große Todesgöttin, hätte mich einfach vergessen? Glaubst du das? Ha! Dumme kleine Kröte!« Er spuckte zur Seite. Jimmy nahm an, dass der alte Mann sich sein Silber immer noch verdienen wollte, denn wenn er mit ihm fertig gewesen wäre, hätte Neville vermutlich direkt auf ihn gespuckt. Und dann hätte ich den alten Mistkerl umbringen müssen. Oder mich selbst. Der Gedanke, von Stinke-Neville angespuckt zu werden, war widerwärtig genug für solche Ideen. 57 »Hast du«, wiederholte Jimmy so ruhig wie möglich, »je von einem gehört, der geflohen ist?« Der alte Mann schaute zur Seite, schüttelte den Kopf und tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Gibt es einen Weg hinein oder hinaus, den die Wachen nicht beobachten?«, fragte Jimmy verzweifelt. »Das Einzige, was mir da einfällt, ist das Abflussloch im Boden der großen Zelle.« Er lachte leise und warf Jimmy einen boshaften Blick zu. »Aber das würde dir nicht gefallen, denn das ist das Loch, in das alle pinkeln.« Jimmy starrte ihn an und dachte nach. Nein, es würde ihm nicht gefallen, aber vielleicht war es eine Möglichkeit. »Führt dieser Abfluss direkt in die Kanalisation?«, fragte er. »Oder hat die Festung einen getrennten Abwasserkanal, der zum Hafen führt?« Wieder lachte Neville, und Jimmy nahm an, dass der alte Mistkerl an diesem Gespräch erheblich mehr Spaß hatte, als er sollte. »Woher soll ich das wissen?«, fragte Neville. »Glaubst du, ich folge meiner Pisse, weil ich wissen will, wo sie hingeht ? Das Loch ist nur
so groß!« Er hob die Hände und zeigte einen tellergroßen Kreis, und wieder verlor Jimmy fast alle Hoffnung. »Heh«, sagte Neville und schubste den Jungen. »Vielleicht weiß ja der Aufrechte Mann einen Weg aus dem Gefängnis. Warum fragst du ihn nicht einfach?« Und er lachte laut. Der junge Dieb stand auf und setzte dazu an zu gehen. »Heh!«, kreischte der Bettler. »Wo ist mein Geld?« Er streckte eine knochige Hand aus. Jimmy warf ihm das Silberstück zu, das er ihm angeboten hatte. »Heh!«, rief Stinke-Neville. »Du solltest mir mehr geben. Das hatten wir ausgehandelt.« »Wir hatten ausgehandelt«, sagte Jimmy kühl, »dass ich dir mehr geben würde, wenn ich zu der Ansicht komme, dass deine Informationen mehr wert sind.« 58 Der alte Mann brummelte vor sich hin und starrte ihn wütend an, aber irgendetwas ließ Jimmy warten. »Der Schacht führt zu einem Gang der städtischen Kanalisation«, gab Neville schließlich zu. »Aber der Gang ist halb eingestürzt und nicht sicher.« »Und der Abflussschacht selbst?«, fragte Jimmy. »Kann jemand dortr.«
getan habe, als ich noch jünger war als Rip; aber ich muss zu Hause bleiben und all die schmutzigen, stinkigen, langweiligen Arbeiten machen, die du dir ausdenkst, nur weil ich eine Frau bin? War es das, was du damit sagen wolltest?« »Du wirst die Arbeiten erledigen, die ich dir auftrage, weil du meine Tochter bist und das dein Platz in diesem Haus ist. Deine Hände werden hier heute gebraucht, und ich will kein Wort mehr darüber hören. Also kümmere dich um die Feuerstelle, und dann gehst du runter zum Teich.« Melda hatte die Arme über der breiten Brust verschränkt, starrte Lorrie zornig an und hoffte, keinen Widerspruch mehr zu hören. Sie hätte sich wahrscheinlich schon früher um diese Dinge kümmern sollen, aber Lorrie ging so gerne in den Wald. Genau wie sie selbst, als sie ein Mädchen gewesen war. Melda hatte nie vergessen, wie weh es getan hatte, das aufzugeben. All diese Freiheit, dachte sie sehnsüchtig. Sie verbiss sich ein Seufzen. Nun, jetzt kümmerte sie sich darum. Mit einem letzten wütenden Blick und einem Schmollmund kniete Lorrie sich wieder hin und machte sich an die Arbeit, aber sie ließ ihre Mutter mit brüsken Bewegungen und unnötigem Krach wissen, wie ihr zumute war. Schließlich stand sie mit einem letzten Klappern der Holzschaufel auf und trug den Ascheneimer schweigend aus der Küche. Kein Jagen mehr, wie?, dachte sie wütend. Das werden wir noch sehen. Der Flachs würde sich auch noch bis morgen im Teich hal145 ten. Mutter würde wütend auf sie sein - sehr, sehr wütend -, aber frisches Fleisch würde helfen, sie zu beruhigen, besonders, wenn Lorrie einen Fasan heimbrachte. Lorrie kippte die Asche in das Fass, wo diese darauf wartete, ausgelaugt zu werden, damit die Pottasche für die Herstellung von Seife verwendet werden konnte, und brachte den Eimer wieder ins Haus. Dann ging sie zur Scheune und holte den Rechen, um die Flachsbündel aus dem Teich zu fischen, und die Plane, um sie aufs Trockenfeld zu tragen. Sie steckte auch ihre Schleuder und einen Beutel Steine unter ihre Schürze, dann eilte sie zum Röttteich. Auf dem gestampften Boden des Hofs lagen diverse Gegenstände ein zerbrochener Pflug, ein altes Rad, Bündel von Holzspänen -, aber sie ging an ihnen und an den herumpickenden Hühnern vorbei, ohne wirklich hinzusehen. All das hier war ihr so vertraut, ebenso wie die
Gerüche - das Räucherhaus, die Latrine, der Dunghaufen. Zu vertraut; im Augenblick kam ihr alles wie ein Gefängnis vor. Lorrie wusste, dass ihre Mutter sie durch die Ritzen zwischen den verzogenen Latten des Fensterladens beobachtete, und sie wusste auch genau, wie sie sich fühlte. Verärgert, so fühlte Mutter sich. Dieser Tage flogen zwischen Lorrie und ihrer Mutter häufig die Funken. Aber was kann ich dagegen tun?, fragte sich Lorrie. Es heißt immer »Du bist beinahe eine Frau« oder »Du bist beinahe erwachsen«. Und dabei behandeln sie mich mehr als je zuvor wie ein Kind. Wer würde da nicht die Nerven verlieren? Und jetzt soll ich plötzlich nicht mehr jagen dürfen. Nicht mal mit, nein, besonders nicht mit Bram! Das ist einfach nicht richtig. Als sie brütend den von einer Hecke gesäumten Weg entlangging, bemerkte Lorrie plötzlich die Anwesenheit ihres kleinen Bruders und seufzte. Lorrie hatte diese Begabung, immer deutlich spüren zu können, wo sich ihre Verwandten befanden und wie sie sich fühlten; das hatte sie von ihrer Ur146 großmutter geerbt, die insgeheim eine Hexe gewesen war - das hatte zumindest Lorries Mutter behauptet. Lorrie wusste immer, wann ihre Mutter an sie dachte oder in der Nähe war. Aber besonders war sie sich ihres kleinen Bruders Rip bewusst. Im Augenblick spürte Lorrie, dass er sich auf sie konzentrierte wie ein Pfeil, der auf sein Ziel zurast. Na wunderbar, dachte sie und verzog unwillig den Mund. Ihr Bruder würde am nächsten Mittsommertag sieben werden, aber er wusste bereits, wie man andere erpresste, und war dabei überraschend geschickt. Sie würde also am Flachs arbeiten müssen, bis er sich zu sehr langweilte oder der Geruch ihn anwiderte und er davonging. Aber wenn ich erst anfange, kann ich auch gleich weitermachen, dachte sie. Sobald man diesen Geruch an sich hatte, half nur noch Seife. Und der Gestank trieb auch unempfindlichere Geschöpfe als die Vögel und Kaninchen, die sie jagen wollte, in die Flucht; vielleicht sogar die Räuber und Mörder, vor denen sich ihre Mutter so fürchtete. Jedenfalls wäre es sinnlos, noch auf die Jagd zu gehen, wenn sie erst mit dem Flachs angefangen hatte. Rip war rechts von ihr und schlich sich in dem überwachsenen Obstgarten von Busch zu Busch. Er wusste bereits, dass sie ihn bemerkt hatte, denn er konnte sie ebenso deutlich spüren wie sie ihn.
Manchmal glaubte sie sogar, dass er es noch erheblich besser konnte. Lorrie sprach ihn nicht an, weil sie Zeit brauchte, um eine Idee zu finden, wie sie ihn loswerden konnte. An der letzten Reihe von Johannisbeersträuchern sprang er mit einem lauten »Ha!« aus dem Gebüsch. Er hatte die Hände über dem Kopf erhoben und zu Klauen gebogen. Lorrie zog nur die Brauen hoch und ging ohne Kommentar weiter. Nach einem Augenblick holte er sie ein. »Darf ich mitkommen?«, fragte er und hüpfte dabei vor Aufregung auf und ab. 147 »Willst du mir etwa helfen, Flachs zu säubern?«, fragte sie zweifelnd. Rip lachte, und Lorrie verzog das Gesicht. Er wusste es, wie er immer wusste, wenn sie etwas vorhatte. »Es ist dreckig und stinkig«, warnte sie. »Du gehst auf die Jagd!«, bezichtigte er sie, dann hielt er sich die Hand vor den Mund, um sein Grinsen zu verbergen. »Wie kommst du denn darauf?« Rip verdrehte angesichts ihrer gekünstelt lässigen Haltung die Augen, stemmte die Hände in die Hüften und bedachte sie mit einem Blick solch erwachsener Herablassung, dass sie lächeln musste. »Du hast versprochen, dass du mir beibringst, wie man jagt und Spuren liest«, sagte er. »Das hast du gesagt.« Sie nickte und war plötzlich traurig. »Ich weiß. Und wenn ich Papa überreden kann, werde ich es immer noch tun.« Sie blieb stehen und sah ihn an. »Das meine ich ehrlich, Rip.« Er senkte den Blick und schob mit seinem nackten Fuß die Erde hin und her. »Ich weiß«, murmelte er. »Aber wenn das hier das letzte Mal ist ...«Er sah sie unter den Lidern her an, und sie erkannte, was für ein hübscher Junge er war und dass er das wusste. Er hatte diese langen Wimpern schon mehr als einmal eingesetzt, um etwas von seinem Vater oder der Mutter zu ergattern. Sie lächelte. »Das hängt von Papa ab.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn du heute mitgehst, werden wir nur beide bestraft.« Er dachte darüber nach und schob dabei den Fuß immer noch hin und her. Lorrie beobachtete ihn mitleidig. »Wenn Bram von seinem Onkel in Meersburg zurückkommt, werde ich ihn bitten, dich mitzunehmen. Heh«, sie stieß ihn sanft an der Schulter an, »vielleicht kann ich auf
diese Weise ebenfalls mitkommen.« 148 Er rieb sich die Schulter und lächelte bedauernd. »Schon gut«, sagte er. »Dann werden wir das versuchen«, erklärte Lorrie entschlossen. »Aber heute wäre es eine schlechte Idee.« Rip nickte weise. »Ja, du wirst Ärger kriegen.« Er dachte darüber nach und fügte dann hinzu. »Du wirst mächtig Ärger kriegen.« Er blickte sie an, der Ausdruck auf seinem Gesicht irgendwo zwischen Ehrfurcht und Zweifel. Lorrie erkannte an der leichten Veränderung in seiner Miene, dass er nun gleich versuchen würde, noch mehr für sich herauszuschlagen, und kam ihm zuvor. »Wenn du mich verrätst, werde ich Bram sagen, er soll dich nicht mitnehmen. Niemals. Und du weißt, dass er auf mich hört.« Rip runzelte die Stirn und sah sie nachdenklich an. Lorrie verschränkte die Arme, erwiderte den Blick und zog dabei eine Braue hoch. Er versuchte erfolglos, das zu imitieren, und gab einen Augenblick später mit einem frustrierten Zischen auf. »Also gut«, murmelte er verärgert. »Aber wenn Mama mich fragt, wo du bist, werde ich nicht lügen.« »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Lorrie und griff nach Rechen und Plane. »Sag ihr die Wahrheit; sag ihr, dass du nicht weißt, wo ich bin. Und du wirst es nicht wissen.« Sie grinste und zauste das Haar ihres Bruders, was diesen gewaltig ärgerte. »Du wirst es nicht bereuen, Rip, das verspreche ich dir.« Er schnaubte, und einen Augenblick später drehte er sich um und marschierte davon. Lorrie lächelte, ging weiter zum Teich und auf den verlockenden Wald dahinter zu, wobei sie ein Tanzlied summte. Rip war verwirrt und ein bisschen zornig. Warum durfte Lorrie nicht mehr jagen gehen? Und wenn das wirklich nicht mehr möglich war, wieso konnte sie nicht noch ein bisschen warten, bis sie ihm alles beigebracht hatte, was sie wusste? 149 Und was war es, das die Jungen von Lorrie haben wollten? Ihr Jagdmesser? Rip wollte Lorries Jagdmesser unbedingt. Es hatte einen Hirschhorngriff und eine sieben Zoll lange Stahlklinge, die man so scharf schleifen konnte, dass sie wirklich alles schnitt. Eines Tages würde es vielleicht ihm gehören, aber jetzt noch nicht. Wenn Lorrie zu alt war, bestimmte Dinge zu tun, war er bestimmt immer
noch »zu jung«. Er schaute über die Schulter in die Richtung, in die seine Schwester gegangen war. Er hoffte, dass alles in Ordnung war. Mama hatte geklungen, als mache sie sich wirklich Sorgen um Lorrie. Selbst wegen Bram. Warum sollte sie sich wegen Bram Sorgen machen?, fragte sich Rip. Bram war der beste Mensch, den er kannte, und er mochte Lorrie, das sah man ihm an. Rip schüttelte den Kopf. Erwachsene machten sich wegen aller möglichen Dinge Sorgen, die er nicht verstand. Und Fragen zu stellen machte alles nur noch schlimmer. Mit einem Seufzen sah Rip sich um. Er hatte seine Arbeiten erledigt, also hatte er bis zum Mittagessen Zeit zum Spielen. Ich bin ein Krieger, beschloss er und galoppierte auf einem Fantasiepferd davon, um die Eindringlinge aus der anderen Welt zu töten. Er griff nach einem Stock und fuchtelte begeistert damit herum. »Aha! Schurken! Ihr wollt wohl meine Burg angreifen?« Und der Kampf zur Rettung des Königreichs begann. Kommt zu Lorrie, dachte das Mädchen. Das Kaninchen war jung, rundlich und selbst für Karnickelmaßstäbe nicht sonderlich intelligent. Im Augenblick hüpfte es träge durch das Unterholz am Waldrand, das vom ersten Frühlingswachstum sattgrün war, knabberte hier an Beeren und dort an Schösslingen. Und es stand kurz davor, das Kaninchenparadies zu entdecken - ein wildes Brombeergebüsch. Jetzt! Das Kaninchen hatte den Kopf gesenkt, die Ohren nach 150 vorn geschoben und sich ganz auf das Fressen konzentriert. Die nächste Generation würde aufmerksamer sein. Lorrie hatte die Schleuder bereit, einen runden Kieselstein schon eingelegt, die innere Schnur sicher zwischen Daumen und Zeigefinger gefasst, die äußere mit den mittleren Fingern an die Handfläche gedrückt. Sie kam mit einer glatten, fließenden Bewegung auf die Beine, und die Schleuder bewegte sich mit. Dann verschwamm sie, als Lorrie Arme, Schultern und Oberkörper in die Bewegung legte und einen vollen Kreis um ihren Kopf beschrieb. Das Kaninchen erhob sich auf die Hinterbeine. Seine Augen und Ohren zuckten, weil es feststellen wollte, woher das Geräusch kam, und Grünzeug fiel aus seinem immer noch arbeitenden Maul. Wupp! Der Stein schoss in eine lang gezogene Kurve, bewegte sich so
schnell, dass man nur noch einen grauen Streifen sehen konnte. Er traf das Kaninchen seitlich am Kopf, gerade als es zum Springen ansetzte, schlug mit einem dumpfen Klatschen auf, das Lorrie immer zusammenzucken ließ. Dennoch, Essen war Essen, und das Kaninchen starb, bevor es mehr als einen Augenblick der Angst erlebte - sie hasste es viel mehr, wenn Schweine geschlachtet wurden, denn die Schweine waren schlau genug, um zu wissen, was die Vorbereitungen bedeuteten. Das Tierchen lag in den letzten Zuckungen, als Lorrie auf es zueilte. »Mindestens zwei oder drei Pfund«, sagte sie vergnügt und packte es an den Hinterbeinen. Eine gute Mahlzeit. Kanincheneintopf mit Kartoffeln und Kräutern, gegrillte Kaninchenschenkel, Kaninchenfleischpastete mit Zwiebeln und Möhren ... Auch die Innereien würden nicht verschwendet werden: Die Hunde und Schweine liebten sie, und die Knochen würden zerbrochen auf den Komposthaufen wandern. Ein guter Tag, dachte sie vergnügt. Vier Fasane und vier fet151 te kleine Karnickel. Und da sie sich nicht lange halten würden, würden sie die ganze Woche wie beim Erntefest schwelgen. Die Sonne stand tief am Horizont, als Lorrie sich unter eine grüne Eiche legte und in Tagträume versank. Bram würde bald von Meersburg nach Hause kommen, und sie stellte sich vor, wie es sein würde, wenn er sie besuchte. Er brachte vielleicht ein kleines Geschenk mit, eine Haarnadel oder ein Stück Tuch für einen Schal, den sie bei einem Tanz tragen konnte. Wenn er nicht genug Geld für so etwas hatte, würde er ihr zumindest einen Strauß Wiesenblumen mitbringen. Er würde sie ihr mit diesem liebenswerten Lächeln überreichen und sie vielleicht küssen. Sie spürte, wie ihre Wangen bei dem Gedanken daran zu glühen begannen. Lorrie war fünfzehn und mehr als bereit darüber nachzudenken, wen sie einmal heiraten würde. Bram war der beste Kandidat in der Nachbarschaft. Er sah gut aus, kannte sich mit allem aus, was ein Bauer wissen musste, und war der Erbe eines guten Hofes. Er arbeitete schwer und war ehrlich, aber auch intelligent, und er hatte Sinn für Humor - eine Qualität, die das schwere Leben eines Bauern oft schon Männern, die jünger waren als der siebzehnjährige Bram, austrieb. Lorrie war sicher, dass er sie ebenso gern hatte wie sie ihn. Mit einem zufriedenen Seufzen erinnerte sie sich an sein hübsches Gesicht, sein goldenes Haar und dieses ganz besondere Lächeln, mit
dem er sich von ihr verabschiedet hatte. Brams Mutter Allet wollte, dass er seine Aufmerksamkeit auf die dicke, verwöhnte Merrybet Glidden konzentrierte, deren Vater den größten Bauernhof in der Gegend hatte und die sich aufführte, als hätte sie es nicht nötig zu arbeiten. Immerhin hatten die Gliddens drei Dienerinnen im Haus und ein Dutzend Landarbeiter. Lorrie lächelte grimmig; zweifellos wäre es dieser hochnäsigen Merrybet auch lieber, wenn Bram ihr den Hof machte statt Lorrie. Dann grinste sie und schmiegte die Schultern tiefer ins weiche Gras. Sowohl Brams 152 Mutter als auch Merrybet stand eine Enttäuschung bevor -Bram würde ihr gehören. Das wusste sie einfach. Lorrie seufzte. Es war Zeit zurückzukehren, selbst wenn sie früher dran war als beabsichtigt. Sie hatte geplant, bis kurz nach Einbruch der Dunkelheit draußen zu bleiben. Wenn das hier das letzte Mal sein sollte, dass sie alleine jagte oder überhaupt jagte, und sie ohnehin bestraft werden würde, fühlte sie sich auch nicht verpflichtet, Rücksicht zu nehmen. Sollten sie sich doch Sorgen machen, sagte sie sich. Sie hatte so viel Zeit wie möglich in der kühlen grünen Einsamkeit des Waldes verbringen wollen - es würde ihr so fehlen! Aber nun bekam sie doch ein schlechtes Gewissen. Sie wollte ihrer Mutter und ihrem Vater keine Sorgen bereiten. Papa würde geduldig die schlechte Laune ihrer Mutter ertragen, bis Lorrie auftauchte, und sich die Pläne ihrer Mutter für eine Strafe anhören, die mit jeder Minute, die verging, schlimmer wurden. Aber dann würden sie sich über Lorries Strafe streiten; jeder würde behaupten, dass der andere zu hart war, bis sie etwas beschlossen, das ihr kaum etwas ausmachte. Lorrie lächelte. Sie waren so berechenbar. Als sie aufstand, keimte ein seltsames Gefühl in ihr auf, floss den Hals hinunter und gerann in ihrem Magen. Zunächst glaubte sie, sie hätte es sich nur eingebildet, aber dann spürte sie so etwas wie Angst. Oder sogar mehr als Angst? Es war allerdings beinahe sofort wieder verschwunden. Lorrie war weit von zu Hause entfernt, so weit, dass das Gefühl von Rip kommen musste. Es erschreckte sie so sehr, dass sie begann zu laufen und dabei hektisch darüber nachdachte, was einen sechsjährigen Jungen so furchtbar erschrecken konnte. Nun, als sie näher am Hof war, wuchsen ihre Sorgen, bis sie
schließlich so schnell lief, wie sie konnte, und ihre langen, schlanken Beine sich bewegten wie die eines Rehs, als sie über Büsche sprang und durch eine Herde halb wilder Schweine rannte, die nach Eicheln wühlten. 153 Sie konnte Rip immer noch wahrnehmen, aber jetzt war es, als schliefe er, und mit plötzlicher Angst wurde ihr klar, dass sie ihre Mutter überhaupt nicht spüren konnte. Ihr Leben lang hatte dieser Kontakt bestanden, die Wärme der Präsenz ihrer Mutter irgendwo in einer Ecke ihres Geistes. Nie hatte sie dort diese Abwesenheit gespürt, wie die quälende Leere, die ein gezogener Zahn zurücklässt. Die Tasche mit den Kaninchen und Fasanen schlug gegen ihr Bein, ihre Lunge fing an zu brennen, und ihr Herz hämmerte. Dann bemerkte sie den Rauchgeruch. Was brennt da?, fragte sie sich. Lorrie blieb stehen und versuchte zu erkennen, woher der Rauch kam. Wenn es Mittwinter gewesen wäre, hätte sie angenommen, dass ihr Vater ein Feld abbrannte. Aber dafür war es viel zu spät im Jahr: Die neue Saat war bereits ausgesät, und ein Unkrauthaufen würde nicht so stark qualmen. Außerdem war es zu spät am Abend. Sie musste an die Asche denken, die sie an diesem Morgen ausgekehrt hatte. Nein, dachte sie. Das Fass war nicht groß genug, um so zu qualmen, und außerdem stand es direkt neben dem Wasserfass an der Dachrinne, die das weiche Regenwasser vom Dach zum Auslaugen auffing, und der Inhalt des Regenfasses ergoss sich direkt in den Aschebehälter, wenn man an einem Seil zog. Neues Entsetzen zuckte durch ihren Magen, als sie dachte: Das Haus brennt! Menschen starben in Feuern - alle paar Jahre gab es in der Gegend einen schlimmen Brand. »Mutter! Vater! Rip!« Sie keuchte vor Schreck. Sie ließ die Tasche mit dem Wild fallen, verließ den Weg, sprang über den Zaun, der das große Feld vom Wald trennte. Das Heu war geschnitten, die Stoppeln reichten ihr nur bis zur Wade, und sie rannte wie der Wind darüber hinweg. Als sie um eine riesige, uralte Eiche herumeilte - ihr Vater 154 hatte erklärt, es sei zu aufwändig, den Baum auszureißen, und hatte ihn als Markierung zwischen den Feldern stehen lassen -, blieb sie mit dem Fuß an einer Wurzel hängen. Sie schlug wild um sich, um das Gleichgewicht zu wahren, aber es war zu spät. Sie landete flach
auf dem Bauch, mit genügend Wucht, um sie zu betäuben, und sie konnte Blut im Mund schmecken, wo einer ihrer Zähne die Innenseite der Wange aufgerissen hatte. Keuchend blieb sie einen Augenblick liegen und wollte gerade wieder aufstehen und weiterrennen, als sie zwei Fremde sah. Es waren beides Männer - sie waren ein rau aussehendes Paar, und Lorrie ließ sich verängstigt wieder fallen. Der braune, selbst gewebte Stoff ihrer Kleidung würde auf dem Boden kaum zu sehen sein, und ihr Haar hatte beinahe die gleiche Farbe. Die Spätnachmittagssonne warf lange Schatten, und die Landschaft bestand nun aus einigen wenigen hellen Kanten vor undurchdringlicher Dunkelheit. Im Schatten der alten Eiche war Lorrie für die Männer unsichtbar. Wenn sie sie nicht gesehen hatten, als sie den Hügel hinunterlief, würden sie sie auch jetzt nicht bemerken. Mit ihrem fettigen Haar und den schmutzigen Kleidern und Gesichtern hätten die Männer aus einem der Albträume von Lorries Mutter stammen können. Sie waren jung und stark; Lorrie konnte die Muskeln an ihren Hälsen und Unterarmen sehen. Sie hatten sich über etwas am Boden gebeugt, das Lorrie nicht erkennen konnte, und einer zog ein Werkzeug aus einem fleckigen Sack. Es sah aus wie eine Zange mit langem Griff, wie sie der Schmied benutzte, aber mit einem breiteren Vorderteil. Einer der Männer packte den Griff des Werkzeugs, während der andere sich immer noch über das Ding am Boden beugte. Mit einem angewiderten Aufschrei riss der Mann das Werkzeug zurück, und etwas Nasses, Schlaffes hing im Griff der Zange. 155 Lorrie erkannte, dass es blutiges Fleisch war, und hielt entsetzt den Atem an. Wenn sie ein Schaf geschlachtet hatten, warum zerrissen sie es dann auf diese Weise? Warum zerschnitten sie es nicht mit den vollkommen brauchbar aussehenden Messern, die sie am Gürtel trugen? »Ich könnte kotzen!«, sagte der Mann mit der Zange. Er warf das zerrissene Fleisch in einen Sack und griff erneut mit dem Werkzeug zu. »Warum müssen wir es auf diese Weise machen?« Er warf einen weiteren Streifen Fleisch in den Sack. »Wir müssen es auf diese Weise machen«, sagte der andere und richtete sich wieder auf, »weil wir dafür bezahlt werden.« Er grinste, und Lorrie konnte seine Nagerzähne sehen. »Und wenn ich gewusst hätte, dass du ein Mädchen bist, hätte ich eine andere Verwendung
für dich gefunden.« Der einzige Kommentar des anderen bestand darin, dass er seinem Begleiter vor die Füße spuckte. Der zweite Mann betrachtete, was sie herausgerissen hatten. »Glaubst du, das reicht?«, fragte er. »Mir reicht's auf jeden Fall«, sagte der mit der Zange und ließ das Werkzeug wieder in den Sack fallen. »Verschwinden wir von hier.« Sie gingen davon, und Lorrie schaute ihnen hinterher. Sie wartete, bis die beiden hinter einer Hecke verschwunden waren, dann eilte sie zu der Stelle, an der sie gestanden hatten. Sie sah sich noch einmal nervös in alle Richtungen um, entdeckte einen der Fremden, der über den Hügel verschwand, hinter dem das Bauernhaus lag, und erstarrte. Sie hielt den Atem an, bis sie sicher war, dass die Männer weg waren, dann bewegte sie sich vorsichtig weiter, bis sie vor dem stand, was sie auseinander gerissen hatten. Einen Augenblick konnte Lorrie nicht einmal mehr atmen. Sie war so entsetzt, dass sie nur wusste, dass sie einen toten Menschen vor sich hatte. Doch dann erkannte sie ihn plötzlich. 156 Es war Emmet Congrove, ihr Helfer auf dem Hof. Sie erkannte ihn an der Kleidung, dem schütteren grauen Haar und an der Warze auf seinem rechten Handrücken, die immer entzündet war, wenn er daran kratzte. Er war seit Rips Geburt bei der Familie gewesen. Wie hatten diese Männer ihm das antun können? Wie konnte irgendjemand so etwas tun? Sie riss den Blick von den schrecklichen Wunden los, drehte sich zur Seite und presste die Hände auf den Mund. Dann sackte sie auf die Knie und übergab sich hilflos, würgte und schluchzte unkontrolliert. Schließlich war es vorbei, und Lorrie drückte die Hände auf den schmerzenden Magen und spuckte, um den schrecklichen Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Ein plötzliches Aufflackern von Angst, die nicht ihre eigene war, ernüchterte sie. Rip! Lorrie sprang auf und eilte auf das Haus zu. Rip war in Gefahr. Aber wo ist Mutter? Warum kann ich sie nicht spüren? In ihrem Herzen fürchtete Lorrie die Antwort und weigerte sich, sie zu glauben. Der Rauch wurde dichter. Als sie über den Hügel kam, der das Haus und die Scheune bisher vor ihrem Blick verborgen hatte, rannte sie in eine schwarze
Rauchwolke, die so dicht war, dass sie nichts mehr sehen konnte. Lorrie blieb hustend stehen. Sie hörte Hufschläge und das Wiehern eines Pferdes, spürte aber nicht mehr die Panik, die Rip noch einen Augenblick zuvor ausgestrahlt hatte. Ein Windstoß teilte den Rauch, und sie konnte sehen, dass die Scheune von orangeroten Flammen umgeben war, die tosten, wo sie das Heu auf dem Heuboden erreichten, und entlang des Firstbalkens beinahe weiß waren. Weit dahinter entdeckte sie zwei Gestalten zu Pferd, die rasch die Straße entlangritten. 157 Dicker, rußig schwarzer Rauch quoll aus jedem Fenster ihres Hauses; Schwaden davon drangen auch durch das Strohdach, und noch während Lorrie zusah, kamen ein paar Flammenzungen hinzu. Lorrie stieß einen Schrei aus, der wie das Kreischen eines Falken klang, und rannte den Hügel hinunter, achtete nicht mehr darauf, wo sie hintrat, und störte sich nicht an den Schmerzen. Wieder drehte sich der Wind und blies Rauch auf sie zu, blendete sie, ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Sie hustete gewaltig, und ihre Lunge war trocken und brannte von der Anstrengung und dem beißenden Rauch. Dann stolperte sie über etwas und fiel vornüber. Worüber war sie gefallen? Langsam drehte sie sich um. Ihr Herz hämmerte vor Angst. Sie schaute hinter sich. Es war ihr Vater, dem man die Kehle herausgerissen hatte. Seine Augen starrten blicklos nach oben, und sein Bart bewegte sich ein wenig in dem Wind, der den Rauch heranwehte. Er lag inmitten einer Blutlache - so viel Blut, dass es den Boden unter ihm aufweichte. Seine Axt lag nicht weit von der ausgestreckten Hand entfernt, die Schneide immer noch glänzend. Lorrie versuchte zu schreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt, und alles, was herauskam, war ein jämmerliches Quieken, als sie rückwärts floh. Dann zwang sie sich mit einem erstickten Schluchzen stehen zu bleiben. Lange Zeit schaute sie auf den grausigen Anblick nieder. Sie streckte die Hand nach ihrem Vater aus, hielt inne, zog die Hand wieder zurück, drückte sie an ihre Brust und schüttelte ungläubig den Kopf. Dann drehte sie den Kopf ruckartig zum Haus -und sah ihre Mutter, die gnädigerweise mit dem Gesicht nach unten lag. Auch unter ihr war Blut, so viel Blut, dass Lorrie wusste, dass sie nicht mehr am Leben sein konnte. Lorrie schluchzte, dann hielt sie inne. Rip lebte noch! Rip hatte jetzt
nur noch sie, und nur sie konnte ihn retten. Sie zwang sich, sich von dem entsetzlichen Anblick abzuwenden, 158 drehte sich um und rannte zum Haus und die Straße entlang hinter den verschwindenden Reitern her. Sie rannte, bis ihre Lunge brannte und sie Blut in der Kehle spüren konnte. Sie rannte einen Hügel hinauf und einen anderen hinunter, bis sie auf einer Kuppe stand und die beiden sehen konnte; zwei Reiter, von denen einer versuchte, einen sich heftig wehrenden kleinen Jungen festzuhalten. Rip, dachte sie. Einer der Schuhe des Jungen fiel herunter, und der Mann, der Rip hielt, versetzte dem Kind einen Schlag gegen den Kopf. Dann waren sie auch schon wieder weg, um eine Biegung der Straße verschwunden, und bald konnte Lorrie nicht einmal mehr das hohle Geräusch von Pferdehufen auf festem Boden hören. Lorrie rannte weiter und erreichte schließlich die Stelle, wo der Schuh ihres Bruders heruntergefallen war. Sie griff danach, fiel auf die Knie und wurde von Verzweiflung überwältigt. Schließlich zwang sie sich weinend wieder auf die Beine und stolperte weiter die Straße entlang. Aber nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Ich brauche ein Pferd, dachte sie. Das einzige Pferd, das sie hatten, war Horace, das alte Arbeitspferd. Er war kein Streitross, aber besser als nichts. Die Entführer konnten nicht ununterbrochen galoppieren; sie würden irgendwann auch wieder langsamer reiten müssen. »Langsam und stetig«, sagte ihr Vater immer. »Ein Mann kann weiter gehen, als er laufen kann.« Sie hätte beinahe erneut angefangen zu schluchzen, als ihr einfiel, dass sie nie wieder hören würde, wie er so etwas sagte; der Schmerz war so heftig, als würden ihr Nadeln in die Augen und ins Herz gestochen. Als sie sich wieder dem Haus zuwandte, sah sie, dass Flammen durch den Rauch über dem Hügel brachen. Alles brannte. Lorrie dachte an ihre Mutter und ihren Vater, die in ihrem Blut lagen ... 159 Sie sind tot, zwang sie sich im Geist zu sagen. Finsternis drohte sie zu überwältigen. Lorrie wollte unbedingt aus diesem schrecklichen Traum erwachen oder erkennen, dass es nur die verrückte Illusion einer Fiebernden war. Sie sah sich immer wieder um und erwartete, dass die Dinge sich änderten. Sie wusste, wenn sie sich rasch umdrehte, würde sie ihren Vater sehen, der aufs Haus zukam, oder wenn sie schnell nach Hause rannte, würde ihre Mutter in der
Küchentür stehen. Heftiges Schluchzen schüttelte sie, gefolgt von einem Schrei - nein, das war mehr als ein Schrei: ein lautes Brüllen, hervorgerufen von Zorn, Schmerz und Trotz, das sie die Fäuste ballen und den Kopf zurückwerfen ließ. Sie schrie, bis sie heiser war und keine Luft mehr in der Lunge hatte. Heftig atmend zwang sie sich, klar zu denken. Sie musste den Schmerz beiseite schieben. Sie würde später noch Zeit haben, um zu trauern. Rip lebt noch!, dachte sie abermals, und alles in ihr wurde kalt; ihr Zorn und ihr Schmerz wandelten sich von Feuer zu Eis. Ich muss Rip retten! Hysterie und Verwirrung würden ihn nur noch mehr gefährden. Offensichtlich wollten diese Männer, die ihn mitgenommen hatten, ihn aus irgendeinem Grund lebendig haben, denn sonst hätten sie ihn ebenso umgebracht wie ihre Eltern. Rip drohte vielleicht die Sklaverei oder Schlimmeres. Und für ihre Eltern konnte sie nichts tun, zumindest jetzt nicht. Sie sah sich noch einmal um, so dass sich die Bilder dieses Augenblicks in ihre Erinnerung einbrannten. Sie würde sie nie vergessen. Ruhig und entschlossen machte sie sich auf den Weg nach Hause. Familie Lorrie rannte. Sie hatte das Haus noch nicht ganz erreicht, als sie Brams Vater, Ossrey, über die Felder kommen sah. Er hatte seine Frau Allet und einen Knecht bei sich; hinter ihnen kamen andere Nachbarn, das ganze Tal war auf den Beinen. Die Männer trugen Schaufeln und Äxte, und die Frauen hatten Eimer dabei. Lorrie rannte auf sie zu, warf sich in Ossreys Arme und weinte so laut, dass sie nicht sprechen konnte. Ossrey hielt sie einen Augenblick fest, strich ihr übers Haar, legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie auf das Haus und die Scheune zu. »Wo sind deine Eltern?«, fragte er leise. »Haben sie dich um Hilfe geschickt?« Sie schüttelte den Kopf, vollkommen atemlos vom Weinen, und konnte nicht antworten. In diesem Augenblick erreichten sie eine Stelle, von der aus sie Haus und Scheune und die Leichen ihrer Mutter und ihres Vaters sehen konnten. »Sung steh uns bei!«, flüsterte Allet entsetzt. »Bleib hier, Lorrie«, sagte Ossrey und schob sie sanft beiseite. Aber Lorrie packte seinen Ärmel und ließ nicht los, und sie versuchte
verzweifelt, sich zusammenzureißen. »Die Männer, die das getan haben ... haben meinen Bruder mitgenommen«, keuchte sie schließlich. Sie zeigte die Straße entlang und sagte: »Helft mir, ihn zurückzuholen.« 161 »Erst müssen wir sehen, wie wir deinen Eltern helfen können«, erwiderte Ossrey ruhig. Lorrie schüttelte den Kopf, und Tränen flössen ihr über die Wangen. »Das könnt ihr nicht, das könnt ihr nicht«, sagte sie kläglich. Und dann noch einmal: »Das könnt ihr nicht.« »O Lorrie«, sagte Ossrey und nahm sie in die Arme. Über ihren Kopf hinweg wechselte er einen Blick mit Allet. »Bitte«, sagte Lorrie und löste sich von ihm. »Helft mir, Rip zu finden.« In diesem Augenblick brach ein Stück des Scheunendachs ein, Funken wirbelten auf, und Ossrey riss den Kopf zur Seite, als das Feuer lauter toste. »Wir müssen uns um das Feuer kümmern, Mädchen«, sagte er. »Wenn es sich über die Felder ausbreitet, wirst du nicht die Einzige hier sein, die alles verliert.« Inzwischen waren die Nachbarn näher gekommen und starrten die Szene vor ihnen entsetzt an. »Was ist passiert?«, fragte jemand wie betäubt. Lorrie blickte von einem Gesicht zum anderen und sah, dass sie sich im Moment alle auf das Feuer konzentrierten und nicht hören würden, was sie sagte. »Mörder haben meinen kleinen Bruder entführt«, sagte sie trotzdem. »Helft mir, ihn zurückzuholen!« »Bist du sicher, dass der Junge nicht im Haus war, Mädchen?« »Nein, die Männer haben ihn mitgenommen«, erklärte Lorrie, und sie hörte selbst, wie hysterisch sie klang. Erschöpfung und Angst trieben sie an den Rand des Zusammenbruchs. Ossrey fragte: »Hat einer von euch heute Reiter auf der Straße gesehen?« Einige verneinten das. »Ich habe sie gesehen!«, schrie Lorrie. »Lorrie, Mädchen, jemand wird den Wachtmeister holen, und er wird die Männer verfolgen.« Ossrey nickte mehreren 162 Nachbarn zu, die zur anderen Seite der Scheune eilten, während
wieder andere zum Brunnen rannten, um Wasser zu holen. Sie würden dafür sorgen, dass jedes Feuer auf den Feldern, das durch Funkenflug entstand, schnell wieder gelöscht wurde. Lorrie schaute in Ossreys freundliches Gesicht und wusste, dass niemand den Mördern folgen würde, zumindest nicht heute. »Ich werde gehen«, sagte sie impulsiv. »Ich nehme Horace und reite zum Wachtmeister. Dann bleiben mehr Männer übrig, um das Feuer zu bekämpfen.« Aber Ossrey schüttelte den Kopf. »Du gehst mit meiner Allet«, sagte er. »Du hast einen schlimmen Schock erlitten, Mädchen. Jemand anders wird zum Wachtmeister gehen. Versuch dich auszuruhen«, riet er. »Wir kümmern uns um alles.« »Das da sind Zahnspuren«, sagte Bauer Roben, der sich die Leiche ihres Vaters angesehen hatte. »Ein Tier hat das getan.« Lorrie starrte sie verwundert an. Es war, als hätten sie sie nicht gehört oder nicht verstanden, was sie gesagt hatte. »Das war kein ...«, begann sie. Allet legte den Arm um Lorries Schultern. »Komm, wir überlassen das den Männern.« Sie zog das Mädchen in Richtung ihres eigenen Hofs und tätschelte ihr die Schulter. »Du solltest dich jetzt ausruhen.« Lorrie versuchte sich loszureißen, aber Allet packte ihren Arm mit festem Griff. »Ich muss meinen Bruder finden!«, schrie Lorrie. Sie fuchtelte hektisch mit dem freien Arm. »Seht ihr denn nicht, dass er nicht hier ist? Er wurde von den Mördern weggeschleppt, nicht von Tieren, und er braucht unsere Hilfe! Wir müssen ihnen folgen, oder wir werden sie für immer aus den Augen verlieren!« »Das reicht jetzt!«, fauchte Allet und schüttelte Lorries Arm. »Du überlässt es den Männern und kommst jetzt sofort mit! Werde bloß nicht hysterisch, Mädchen«, warnte sie. 163 Lorrie starrte sie mit offenem Mund an. Dann sah sie sich im Kreis ihrer Nachbarn um - der wenigen, die nicht bereits das Feuer bekämpften. »Ihr glaubt mir nicht«, sagte sie schließlich staunend. Eine der Frauen kam auf Lorrie zu und legte ihr die Hand auf die Wange. »Es geht nicht darum, ob wir dir glauben oder nicht, Kind. Es geht darum, das zu tun, was wir tun können. Du kannst auf eurem alten Horace niemanden einholen, und wir müssten alle zurück zu
unseren Höfen rennen, um Pferde zu holen, die auch nicht viel besser sind.« Sie seufzte. »Und inzwischen könnte das Feuer außer Kontrolle geraten - du hast Haus und Scheune verloren, aber die Ernte ist noch da. Wenn sie niederbrennt, könnte sich das Feuer allerdings auch zu anderen Höfen ausbreiten. Außerdem, wenn wir jetzt gingen, würden wir deinen Bruder dennoch nicht finden. Wir werden den Wachtmeister benachrichtigen; er wird wissen, was zu tun ist. Hab doch ein wenig Vertrauen, Liebes.« Lorrie fing erneut an zu weinen, diesmal aus schierer Frustration, dann brach sie in schrilles Klagen aus, das sie zu ihrem eigenen Entsetzen nicht beherrschen konnte. Allet schüttelte sie abermals und sah sie wütend an. Die andere Frau nahm sie sanft, aber bestimmt am anderen Arm. »Was kann ein einzelnes Mädchen gegen erwachsene Männer tun, außer sich Ärger einzuhandeln?«, fragte sie leise. »Überlass es Männern, mit der Sache fertig zu werden«, sagte Allet, »und verlass dich darauf, dass sie ihr Bestes tun.« Lorrie ließ zu, dass sie sie zu Ossreys und Allets Hof brachten, aber sie wusste, dass sie etwas unternehmen musste. Wie kann ich mich darauf verlassen, dass sie ihr Bestes für Rip tun, wenn sie bereits aufgegeben haben? Ihr Kopf hörte auf, sich zu drehen, und Kälte überfiel sie wie ein Wind, der durch Rauch oder Nebel schneidet. Wenn ich mich jetzt hysterisch aufführe, werden sie mich gut be164 obachten. Also mache ich alles, was sie wollen, und schleiche mich dann davon, dachte sie. Allet steckte sie in Brams Zimmer ins Bett - es zeugte von einem guten Hof und einer kleinen Familie, dass selbst der älteste Sohn ein Zimmer für sich hatte -, und es versetzte Lorrie einen Stich, plötzlich von seinem vertrauten Geruch umgeben zu sein, der ihr so gefehlt hatte. »Hier ist ein Kräutertrank für dich«, sagte Allet, die als Kräuterfrau wohl bekannt war. »Trink es gleich, Liebes.« Lorrie wurde ein bisschen übel von dem Geschmack -scharf, moschusartig und gleichzeitig zu süß. Dann begann die Welt sich um sie zu drehen, und sie lehnte den Kopf in die Federkissen. Es fiel ihr schwer aufzuwachen; sie hatte das Gefühl, ihr Kopf müsse platzen, ihre Brust brannte, und überall hatte sie blaue Flecken. Ihr Götter, dachte Lorrie, als ihr plötzlich alles wieder einfiel. Wie spät ist es?
Sie fing an zu weinen und vergrub den Kopf in Brams Kissen, dann zwang sie sich, damit aufzuhören. Sie hatte jetzt keine Zeit dazu. Sie stand leise auf, ging zur Tür und stellte fest, dass sie verriegelt war. Von außen. Lorrie unterdrückte ein zorniges Zischen und ging zum Fenster. Zum Glück ließen sich die Läden öffnen, und eine Flut von hellem Mondlicht fiel herein und ließ Lorrie erkennen, dass ihre Sachen weg waren. Sie schüttelte den Kopf und verfluchte im Geiste Allets Gründlichkeit, dann bemerkte sie die Truhe am Fuß des Bettes. Nach ein wenig Wühlen fand sie ein paar alte Sachen von Bram, aus denen er herausgewachsen war, und Schuhe. Die Kleidung fühlte sich seltsam an, als sie sie anzog, aber sie würde sich schon noch daran gewöhnen. Sie schwang einen alten Umhang um ihre Schultern und setzte dazu an, aus dem Fenster zu klettern. Dann hielt sie inne. 165 Nur von Instinkt geleitet, begann Lorrie, unter dem Strohsack von Brams Bett herumzutasten, und bald schon berührten ihre Fingerspitzen weiches Leder: eine Geldbörse, halb so groß wie ihre Faust, die halb gefüllt war. Sie zögerte einen Augenblick - es waren wahrscheinlich die Ersparnisse von Jahren, von Arbeiten, die er außerhalb des Hofs geleistet hatte -, doch dann nahm sie die Börse. Wie jedes Bauernkind in der Gegend war sie dazu erzogen worden, einen Dieb noch mehr zu verachten als einen Faulpelz und beinahe so sehr wie einen Feigling, aber sie brauchte Geld. £5 ist, wie wenn man eine Axt oder einen Eimer braucht, aber keine Zeit zum Fragen hat, sagte sie sich. Leute taten das immer wieder. Lorrie sah sich nach allen Seiten um; in einem sehr guten Jahr hatte Brams Großvater ein zweites Stockwerk angebaut, und das Fenster des Schlafzimmers befand sich zehn Fuß über der Erde. Ein rascher Blick auf Mond und Sterne sagte Lorrie, dass es irgendwann zwischen Mitternacht und Morgendämmerung war; um diese Zeit würde niemand mehr wach sein. Unter dem Fenster befand sich ein schmaler Streifen von von Schafen abgeweidetem Gras; sie kletterte hinaus, klammerte sich am Sims fest und ließ sich nach unten hängen, dann ließ sie los. Etwas rührte sich. Sie wartete, dann seufzte sie erleichtert, dass es nur die Hunde waren, beides Mischlinge, die Lorrie kannten, seit sie Welpen gewesen waren. Ihre Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, dass kein Fuchs versuchte, Geflügel oder ein Lamm zu
stehlen. »Still«, sagte sie und ließ zu, dass die Hunde ihre Hände beschnupperten - sie waren sehr gewissenhaft und wollten sich überzeugen, dass wirklich kein Fremder ihren Hof betrat. »Still!« Ein rascher Blick um die hintere Ecke des Bauernhauses, das Gesicht an die trockenen Balken gepresst: Sie sah kein 166 Licht von Lampen oder Fackeln, nur silbriges Mondlicht fiel auf den Hof, die beiden Scheunen, einen Schuppen und eine Koppel, in dem die Milchkuh und die Arbeitstiere der Familie gehalten wurden. Wie Lorrie bereits angenommen hatte, hatten die Nachbarn die Tiere ihrer Familie mitgenommen, und sie fand Horace sofort. Er würde nicht schnell sein, aber sie hatte ihn sein Leben lang immer wieder geritten, hatte ihn zur Tränke gebracht oder zum Schmied, und manchmal hatte sie sich auch nur zum Spaß auf seinen Rücken gesetzt. Er schnupperte an ihr, als wäre er froh, jemanden zu sehen, den er kannte, und Lorrie rieb seine samtigen Nüstern. Sie biss sich auf die Lippe und dachte darüber nach, was sie tun sollte. Sie brauchte einen Sattel, Zaumzeug und ein wenig Getreide für das Pferd. Das war schlicht und ergreifend Diebstahl, und sie wusste, dass ihre Mutter und ihr Vater enttäuscht sein würden. Oder auch nicht, dachte sie wütend. Vielleicht wären sie enttäuschter über ihre untätigen Nachbarn. Direkt hinter der Tür der kleineren Scheune hing ein alter Sattel - ein ziemlich schlichtes Ding, aber Bauern ritten nicht oft. Wenn ich nichts unternehme, wird keiner etwas tun. Rip wird sterben oder noch Schlimmeres. Und das, so wusste sie, würde ihre Eltern noch mehr enttäuschen. Sie führte Horace aus der Scheune, zog das Zaumzeug über seinen Kopf, zupfte die Decke sorgfältig zurecht, schob dann mit einem angestrengten Ächzen den Sattel auf seinen Rücken - das Ding hatte etwa ein Viertel ihres eigenen Gewichts - und schnallte den Gurt fest. Das Pferd seufzte resigniert, denn es wusste, das bedeutete Arbeit. Zurück in die Scheune. Sie spähte noch einmal zum Haupthaus, aber dort gab es kein Anzeichen von Leben, nur ein wenig Rauch von dem zugedeckten Feuer stieg durch den 167 Schornstein auf. Das bewirkte, dass ihre Hände einen Augenblick zu zittern begannen, aber sie zwang sich ruhig zu bleiben und tief Luft
zu holen. Hafer, dachte sie entschlossen. Der süßliche Geruch führte sie zu einer Kiste, und daneben lagen ein paar Säcke bereit. Sie füllte zwei davon, dann nahm sie sich noch ein paar Pferdedecken, damit sie nachts an der Straße kampieren konnte. Horace wieherte interessiert, als sie die Säcke über seinen Rücken warf; diesen Geruch kannte er genau. »Später«, flüsterte sie und nahm sich einen Augenblick Zeit, um ihn zu tätscheln, bevor sie mühsam auf seinen Rücken kletterte - er war ein großes Pferd für ein fünfzehnjähriges Mädchen -, und ihre Schenkel um seinen breiten Fasskörper klammerte. Gehorsam trabte Horace die Straße entlang, die sich wie ein Band aus Mondlicht nach Süden wand. Ich komme, Rip, dachte sie. Es war leicht gewesen, Floras Großvater zu finden; in einer Stadt dieser Größe gab es nicht viele Juristen. Den Mut für einen Besuch bei ihm aufzubringen war schwieriger. »Was, wenn er mich wegen meines Vaters hasst?«, fragte Flora nervös und zum hundertsten Mal, und sie blickte zu dem großen Haus aus hellem behauenem Stein, das nicht weit vom Marktplatz entfernt stand. Es stank geradezu nach Achtbarkeit, bis hin zu den teuren, in Blei eingefassten Fensterscheiben. »Dann ist er kein besonders guter Großvater«, erwiderte Jimmy »Und in diesem Fall bist du ohne ihn besser dran.« Seine Antwort war die gleiche, die er ihr jedes Mal gegeben hatte, wenn sie diese Frage stellte; inzwischen gab er sie automatisch, bis hin zum Tonfall. Jimmy hatte so gut wie aufgehört, ihr zuzuhören, und war ziemlich sicher, dass sie ebenfalls nicht zuhörte. Sie waren am Eingang zur Legacy Lane, einer Straße in ei168 ner wohlhabend aussehenden Gegend. Die Häuser hatten große Glasfenster mit bestickten Vorhängen, die roten Schindeldächer bildeten einen angenehmen Kontrast zur Honigfarbe des Steins, und jedes Fenster hatte einen Blumenkasten mit Blüten in leuchtenden Farben. Es gab sogar einen Straßenkehrer, einen abgerissen aussehenden Jungen mit Besen, Schippe und Kasten, der das Kopfsteinpflaster von Pferdeäpfeln freihielt. Es war sauber, es war ordentlich. Und es lässt Jimmy der Hand das Wasser im Mund zusammenlaufen, dachte Jimmy. Oh, das Silberbesteck und die Kerzenleuchter, die sie dort haben! Alles auf Kredenzen zur Schau gestellt, damit die Gäste
es bewundern können! Das Kristall und der kleine Tresor, an einer Stelle »verborgen«, die der Kaufmann für sicher hält, und dann ... Hör auf! Du bist der Pflegebruder einer achtbaren jungen Frau, der sie begleitet hat, um sie sicher zu ihren Verwandten zu bringen! Dann brachte ihn ein Gedanke zum Lächeln. Und wenn Floras Großvater uns abweist, nun, dann bin ich eben nicht mehr der Pflegebruder einer achtbaren jungen Frau, sondern Jimmy die Hand auf der Suche nach Geld! Auf die eine oder andere Art würde der alte Mann zum Lebensunterhalt seiner Enkeltochter beitragen. Und auch zu Jimmys, wenn die Beute groß genug war. Schließlich kam ein Mann auf sie zu und fragte: »Was wollt ihr hier?« Er sprach mit gewisser Autorität, aber freundlich, und trug das Abzeichen der Wache von Meersburg. »Wir sind auf der Suche nach dem Großvater dieser jungen Dame«, sagte Jimmy Er hatte seine beste Verirrtes-Waisen-kind-Miene aufgesetzt und hoffte, dass er noch nicht zu alt war, um sie wirkungsvoll nutzen zu können. »Und wer sollte das sein?«, fragte der Mann. Die Verirrtes-Waisenkind-Miene schien ihn weder positiv noch negativ zu beeindrucken, woraus Jimmy schloss, dass sie 169 zwar nicht mehr wirkungsvoll, aber noch nicht vollkommen lächerlich war. »Mr. Yardley Heywood, Sir«, sagte Flora leise. »Ah, Mr. Heywood.« Er drehte sich um und zeigte mit seinem Stock die Straße entlang. »Das dritte Haus auf dieser Seite, das mit der grünen Tür und den Stiefmütterchen in den Blumenkästen.« »Danke, Sir«, sagte Flora und knickste. Der Mann nickte freundlich und lächelte. Also gut, ihr Waisenkind-Blick funktionierte offenbar immer noch, dachte Jimmy Er klemmte sich eins der Bündel unter den Arm, nahm Floras Hand und ging mit ihr zusammen auf das Haus zu, auf das der Mann gezeigt hatte. Nach ein paar Schritten begann Flora zögerlich zu werden, bis sie schließlich stehen blieb und ihrer und Jimmys Arm ausgestreckt waren, als wären sie Partner bei einem Tanz. Jimmy drehte sich ungeduldig um. »Flora, du bist schon erheblich größere Risiken für geringere Belohnungen eingegangen.« Sie kam langsam näher, wobei sie den Blick kaum von dem schönen
Haus vor ihnen abwandte. »So fühlt es sich aber nicht an«, sagte sie leise. »Dann muss ich es eben machen.« Jimmy drehte sich auf dem Absatz um, marschierte die Treppe hinauf und griff nach dem Messingtürklopfer. Bevor er ihn fallen lassen konnte, öffnete eine Frau die Tür und wollte die Treppe hinuntergehen. »Oh, hallo«, sagte sie vergnügt und überrascht, dann trat sie einen Schritt zurück. »Ich habe dich gar nicht gesehen.« Sie war zum Ausgehen gekleidet, trug ein Tuch und einen Hut und hatte einen leeren Korb am Arm. »Was kann ich für dich tun?«, fragte sie. Dann fiel ihr Blick auf Flora, und ihre Züge erstarrten. »Orletta?«, sagte sie verblüfft. Dann schüttelte sie sofort den Kopf. »Aber nein, das ist unmöglich. Du bist zu jung.« Sie eil170 te an Jimmy vorbei, als wäre er nicht da, lief die Treppe zur Straße hinunter und direkt zu Flora. »Wer bist du, meine Liebe?« Flora knickste und wirkte zum ersten Mal, seit sie mit dieser Knickserei angefangen hatte, irgendwie ungelenk. »Ich heiße Flora, Madam. Mein Vater war Aymer, der Bäcker, und meine Mutter war Orletta Heywood.« Die Frau rief: »Oh!«, und umarmte Flora herzlich. Jimmy grinste und sah über die rundliche Schulter der Frau hinweg Floras verblüfften Blick. War das ihre Großmutter? Dann würde es hier offenbar keine Probleme geben. »Ich bin deine Tante Cleora«, erklärte die Frau und schob Flora auf Armeslänge von sich, um sie besser betrachten zu können. »Oh, ich dachte schon, ich würde dich niemals sehen, mein Kind.« Wieder zog sie Flora in die Arme, und Jimmy musste sich anstrengen, über die halb begeisterte, halb entsetzte Miene seiner Freundin nicht zu lachen. »Woher kommst du?«, rief Cleora. »K-Krondor«, stotterte ihre Nichte vollkommen überwältigt. »Oh, du armes Kind! Du musst vollkommen erschöpft sein! Komm mit mir, und ich kümmere mich um dich. Oh«, sagte sie und wandte sich mit einem Lächeln Jimmy zu. »Und wer ist das hier?« »Jimmy ist ein Freund«, erwiderte Flora. »Fast wie ein Bruder; er hat mich begleitet.« »Dann musst du natürlich mitkommen! Ich werde dir etwas Gutes zu essen geben. Jungs brauchen immer etwas zu essen«, vertraute Cleora ihrer Nichte an. Sie ging die Straße entlang, den Arm um
Floras schmale Schultern gelegt. »Und ich denke, du brauchst auch etwas zu essen«, fügte sie lachend hinzu. Jimmy blinzelte verdutzt, dann griff er nach dem Gepäck und rannte ihnen hinterher. 171 »Entschuldigung, Madam«, sagte er, »aber wohnt Ihr nicht dort drüben?« Er zeigte auf das Haus hinter ihnen. »Oh, nein, das ist das Haus meines lieben Vaters. Er hält jetzt sein Schläfchen, mein Lieber. Du wirst ihn später kennen lernen. Außerdem, liebste Flora, will ich dich erst einmal ganz für mich allein haben. Nein, mein lieber Mann und ich, wir wohnen in der Nähe. Unser Heim ist nicht ganz so großartig wie das meines Vaters, aber mehr als groß genug, um uns allen bequem Platz zu bieten. Ihr werdet schon sehen!« Damit eilte sie aufgeregt weiter, eine glücklich-erstaunte Flora und einen ebenso verblüfften Jimmy im Kielwasser, der mit dem Gepäck folgte. Jimmy lag auf dem weichen, sauberen Bett und tätschelte zufrieden seinen vollen Bauch. Tante Cleoras Köchin war wunderbar, und Jimmy hatte keine Ermutigung gebraucht, immer weiterzuessen; er bedauerte nur, dass er irgendwann doch hatte aufhören müssen. Er sah sich in dem Zimmer um. Es war klein, aber sauber, befand sich im Hauptteil des Hauses und hatte sogar eine kleine Feuerstelle und cremefarbenen Verputz, in den Muster gedrückt waren. Er hatte erwartet, dass man ihn bei den Dienstboten unterbringen würde, aber der Gedanke war Cleora offenbar gar nicht gekommen. »Es ist nur ein kleines Zimmer«, hatte sie gesagt, als sie ihn hergebracht hatte. »Aber Jungen stören sich nicht an so etwas, oder?« Und sie hatte ihn mit einem Hauch von Nervosität in ihren freundlichen braunen Augen angelächelt, als ob sie sich fragte, was sie tun sollte, wenn ihm die Unterkunft nicht gefiel. »Es ist wunderbar«, hatte er ihr versichert. Und das dachte er immer noch. Das hier war zweifellos das weichste Bett, in dem er je gelegen hatte. Wenn er nicht aufpasste, würde er unter Tante Cleoras Einfluss bald nach an172 ständiger Arbeit suchen. Er verzog das Gesicht; das war ein Gedanke, der einen das kalte Grausen lehrte. Onkel Karl, Cleoras Mann, war ein Kapitän und derzeit auf Fahrt nach Krondor. Floras Tante hatte den jungen Leuten versichert, dass
er vollkommen begeistert sein würde, sie in seinem Haus zu haben. Jimmy musste sich dabei auf ihr Wort verlassen, denn Cleora hatte keine Ahnung, wann ihr Mann zurückkommen würde. Er runzelte nachdenklich die Stirn; wenn das länger dauerte als zwei Wochen, würde Jimmy bereits weitergezogen sein. Bis dahin hatte sich Flora sicher vollständig eingewöhnt. Yardley Heywood, Floras Großvater, arbeitete nicht mehr als Anwalt; er war zu Beginn des Jahres krank geworden und erholte sich nur langsam. Er wohnte nach wie vor in seinem eigenen Haus, und Tante Cleora besuchte ihn jeden Tag. Sie versprach Flora, sie in ein oder zwei Tagen mitzunehmen, nachdem sie dem alten Mann erzählt hatte, dass das Mädchen zur Familie zurückgekehrt war. Jimmy runzelte erneut die Stirn. Es wurde ganz schön kompliziert mit diesen Verwandten und den Geschichten, von denen man nicht abweichen durfte. Dennoch, Flora schien dem gewachsen zu sein, und nach nur ein paar Stunden in diesem Haus fiel es selbst ihm schwer, sich zu erinnern, dass er je in Krondor gewesen war. Dennoch, Jimmy wusste, dass seine Schauspielerei einem kritischen Blick nicht standhalten würde. Flora hatte ihre ersten neun Jahre in einem schönen Heim verbracht, und später hatte sie zahlreiche Kunden aus guten Kreisen gehabt; sie konnte sprechen wie ein Mädchen aus gutem Hause. Jimmy konnte zwar den Schein wahren, wenn er nicht zu viel redete, aber er hatte nur ein paar Wochen Leuten von Rang zugehört, vor allem dem Prinzen und der Prinzessin. Nein, er würde den Mund halten, so wenige Fragen wie möglich beantworten und das warme Bett und die guten Mahlzeiten genießen, solange er plante, was er als Nächstes hier im Exil anfangen soll173 te. Meersburg war vielleicht nicht Krondor, aber auch keine allzu kleine Stadt, und es gab für einen Jungen mit geschickten Fingern sicherlich Beute genug. Dann lächelte er wieder und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Das hier würde eine gute Ausgangsbasis für seine Arbeit sein: Niemand würde die liebenswerte Tante Cleora verdächtigen, einen Dieb zu beherbergen, und es gab keinen Tag- oder Nachtmeister, die ihn einschränkten. Das arme alte Meersburg würde nicht einmal wissen, wie ihm geschah. Er kicherte boshaft. »Worüber lachst du?«, fragte Flora. Jimmy wäre beinahe steil in die Luft gesprungen.
»Hast du noch nie was von Anklopfen gehört?«, fragte er. Sie sah ihn verärgert an, kam herein und schloss die Tür hinter sich. »Sprich leise«, flüsterte sie. »Ich sollte nicht hier sein.« »Hat deine Tante das gesagt?«, fragte er überrascht. So, wie Cleora sich verhalten hatte, hatte Jimmy erwartet, dass sie Flora sofort den Schlüssel zur Vordertür überreichte. Flora sah ihn gereizt an. »Nein, selbstverständlich nicht. Sie würde erwarten, dass ich ohnehin weiß, wie eine junge Dame sich benimmt.« Jimmy zog die Brauen hoch, als Flora plötzlich bedrückt seufzte. Sie setzte sich aufs Bett und ließ die Schultern hängen. »Ich muss ihr die Wahrheit sagen«, erklärte sie. Er setzte sich auf und beugte den Kopf zu ihr. »Sag das noch mal.« »Sie hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren.« Unter ihren Wimpern blickte Flora zu ihm auf und deutete auf sich selbst. »Darüber, wie ich ... wie ich meinen Lebensunterhalt verdient habe.« Jimmy schwang die Beine vom Bett, legte Flora die Hand auf die Schulter und sah ihr ernst in die Augen. Kein Wunder, dass sie als Diebin so schlecht war, dachte er. Sie ist einfach zu ehrlich! 174 »Das darfst du nicht, Flora!« »Ich muss es tun, Jimmy. Sie hat die Wahrheit verdient.« »Du kannst doch nicht so egoistisch sein, Flora - ich weiß, dass du das nicht bist.« Flora riss den Mund auf. »Was?« »Denk doch nur, wie sehr sie das quälen würde«, erklärte Jimmy »Du hast ihr gesagt, dass dein Vater gestorben ist, als du noch ein kleines Mädchen warst. Du hast ihr Gesicht gesehen. Als du dann fortfuhrst und erzähltest, dass du bei einer älteren Dame als Gesellschafterin gelebt hast, war sie so erleichtert! Wenn du ihr die Wahrheit sagst, wird sie vor schlechtem Gewissen beinahe umkommen. Das kannst du dir doch sicher vorstellen! Wie kannst du ihr so etwas antun wollen?« Flora wirkte immer noch schockiert und öffnete und schloss den Mund, aber nichts kam heraus, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber ... aber wie könnte ich sie weiter anlügen? Sie ist so nett, Jimmy Ich mag sie wirklich gern. Ich möchte unser Leben nicht auf einer Lüge aufbauen.« »Dann sollten wir vielleicht lieber gehen«, sagte er und stand auf.
»Wenn du nicht die Kraft hast, deine Verwandten vor der Wahrheit zu schützen ...« Er schüttelte den Kopf. »Dann geh einfach. Das ist freundlicher.« Flora fing an zu weinen, und Jimmy verdrehte die Augen: Jetzt war er an allem schuld. Er blickte auf sie herab. Na ja, vielleicht bin ich das ja auch. Der junge Dieb setzte sich hin und legte den Arm um Floras bebende Schultern. Und wenn du tust, was verdammt noch mal vernünftig ist und lügst wie ein Seemann, kann ich weiter in diesem schönen Zimmer bleiben und Cleoras wunderbares Essen genießen. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, das Edelste, das Ehrlichste, alles gleich zu Anfang zu gestehen. Aber tief drinnen war Jimmy überzeugt, dass das auch bedeutete, dass man sie 175 aus dem Haus und aus diesem Leben, für das Flora so offensichtlich geboren war, verbannen würde. Und es würde ihrer Tante das Herz brechen. Er schüttelte den Kopf. Ich bin gleichzeitig vollkommen egoistisch und vollkommen hilfsbereit. Verdammt, es gibt überhaupt keinen Zweifel: Ich bin zu Großem berufen. »Flora, manchmal ist das Richtige nicht auch das Beste. Ich denke, in diesem Fall wird aus einem ehrlichen Geständnis der Tatsachen erheblich mehr Schmerz entstehen als aus deiner sehr plausiblen kleinen Lüge. Ich rate dir, es zumindest noch einmal zu überschlafen. Morgen früh ist dir alles vielleicht ein bisschen klarer. Und ich möchte dich bitten, es mir zuerst zu sagen, wenn du mit ihr darüber reden willst, dass ich ein Spötter bin. In Ordnung?« Sie schniefte und sah ihn feierlich an. Dann umarmte sie ihn kurz und stand auf. »Du hast Recht«, sagte sie und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Und ich werde darüber nachdenken. Ich sage dir morgen, wie ich mich entschieden habe. Das verspreche ich dir.« Dann beugte sie sich vor, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und eilte hinaus. Jimmy verzog den Mund. Plötzlich saß all das gute Essen wie ein Bleigewicht in seinem Magen. Warum konnten Frauen die Dinge nicht richtig durchdenken? Man hatte es bei ihnen immer mit der emotionalen Seite der Dinge zu tun, nie mit der logischen. Er seufzte gereizt. Er würde nicht schlafen können, solange sein Bauch so voll war; vielleicht würde ihm ja ein netter Abendspaziergang gut tun. 9
Begegnung Eine einzelne Gestalt kam die Straße entlang. Bram hatte die Handelskarawane - wenn das nicht überhaupt eine zu großspurige Bezeichnung für zwei Wagen und zwei Packmaultiere war - am Abend zuvor kurz vor Sonnenuntergang dort verlassen, wo die Straße zu dem Dorf Relling abzweigte. In Relling gab es ein gutes Gasthaus; sie hatten erstklassigen Kartoffeleintopf und brauten ein hervorragendes Bier. Das Essen war allerdings nicht so gut wie das, was seine Mutter kochte, und auch das selbst gebraute Bier seines Vaters schmeckte besser. Der junge Mann hatte also die Schultern gereckt, sich das Gepäck aufgeladen und sich auf den Weg gemacht. Wenn er die Abkürzung nahm und den größten Teil der Nacht weiterzog - er schlief für gewöhnlich ohnehin nur vier Stunden -, würde er kurz vor Sonnenaufgang zu Hause sein, gerade rechtzeitig zum Frühstück. Es bestand wenig Gefahr auf diesem Weg; es gab kaum wilde Tiere, die sich an einen erwachsenen Mann heranwagen würden, und mitten in der Nacht lauerte an einem solchen Pfad auch sicher kein Räuber. Jeder Hügel, der seine Beine herausforderte, brachte ihn näher an sein Zuhause. Er erkannte Bäume, auf die er als Junge geklettert war, Felder, die er bebaut oder auf denen er Vieh ge177 hütet hatte; er sprang über einen Bach, der über die Straße lief, und grinste bei der Erinnerung an das erste Mal, als ihm das trockenen Fußes gelungen war. Mit seinen siebzehn Jahren war er bereits ausgewachsen, hatte einen leichten blonden Flaum am Kinn und dichtes, kurz geschnittenes goldblondes Haar; er war breitschultrig, hatte lange Beine und freundliche blaue Augen. Die schwere Arbeit hatte ihm Muskeln an Schultern und Armen beschert, aber es war seine Begeisterung für die Jagd, die für seine eleganten Bewegungen verantwortlich war und dafür, dass seine weichen Stiefel nun auf dem Weg nicht viel Lärm verursachten. Wie aufs Stichwort, dachte er und hob den Kopf. Etwas ziemlich Großes brach durch das Unterholz an der Straße. Ein Wildschwein, dachte er und bückte sich. Das fahle Dämmerlicht war hell genug, um die Spuren erkennen zu können. Nein, es musste ein Stück Rotwild gewesen sein; der gespaltene Hufabdruck war zu groß und ein wenig zu gespreizt für ein Wildschwein. Bram lachte leise. »Lauf und lass dich von einem Adligen jagen«,
sagte er. Die Adligen jagten Rotwild zu Pferd und mit Hunden; nach Brams Ansicht war das, als würde man Hühner mit einer Kampfaxt schlachten, aber so etwas war eben Geschmackssache. Für ihn lag das Vergnügen im Verfolgen einer Spur, nicht im Töten des Wilds. Nach dem Töten kam der unangenehme Teil, das Ausweiden des Kadavers und die Schlepperei nach Hause, aber Adlige hatten Diener, die solche Arbeiten für sie übernahmen. Er atmete die kühle Luft tief ein und ging pfeifend weiter. Ein rascher Marsch von vier Meilen hatte ihn beinahe vor seine Haustür gebracht. Er blieb stehen. Der Weg zum Bauernhaus sah im frühen Morgenlicht so freundlich aus, dass der Anblick ihn glücklich machte. An den Zaunpfählen auf dem Weg zum Haus leuchteten Laternen, während hinter den Fenstern im Erdgeschoss bereits Kerzen 178 brannten, deren Flammen von den Schafsblasen oder dem dünn geschnittenen Hörn der Scheiben zu einem warmen Gelb gedämpft waren. Auch neben der Scheunentür brannte eine Laterne. Das ist wirklich ein schönes Willkommen, dachte er; Bienenwachskerzen waren teuer, und Talg war auch nicht umsonst. Dann fiel ihm ein, dass niemand hier ahnen konnte, dass er heute nach Hause kommen würde. Und das bedeutete, dass all diese extravagante Beleuchtung einem anderen Zweck diente. Eine Hochzeit? Aber es hatte nichts dergleichen angestanden, als er aufgebrochen war. Außerdem war es nicht der Nachmittag eines Sechstages, denn zu diesem Zeitpunkt fanden die meisten Hochzeiten statt. Also war es wahrscheinlich eine Totenwache, da niemand geizte, wenn es darum ging, die Verstorbenen zu ehren, und viele Männer würden die Nacht durchtrinken, bis ihre Frauen ihnen Einhalt geboten und sie nach Hause brachten. Als er das Haus verlassen hatte, waren alle gesund gewesen, aber das hatte wenig zu bedeuten: Krankheiten oder ein Unfall konnten einen gesunden Mann oder eine gesunde Frau plötzlich genug dahinraffen, und das wussten Bauern besser als viele andere. Nun rannte Bram den Weg hinauf und blieb stehen, als er Bauer Gliddens Wagen bemerkte, der bisher hinter dem Flieder seiner Mutter verborgen gewesen war. Dann warf er einen Blick in die Scheune, wo eine weitere Laterne brannte, und bemerkte mehrere Pferde, die den Nachbarn gehörten, und ein paar Tiere vom Hof der
Merfords, darunter auch Tessie, die Milchkuh. Etwas war geschehen, und wahrscheinlich nichts Gutes. Warum war das Vieh der Merfords in der Scheune seines Vaters? Bram wusste, dass seine Eltern es sich nicht leisten könnten, die Tiere zu kaufen; und die Merfords hätten sie auch nie verkauft. 179 Bram eilte zum Haus. Als er drinnen laute Stimmen hörte, ging er leise durch die Hintertür hinein, um die lebhafte, ja hitzige Diskussion besser hören zu können, die dort im Gange war. Das große Zimmer mit der Hauptfeuerstelle war voller Nachbarn, von denen einige auf den Bänken um den Küchentisch saßen, andere auf Hockern; die Übrigen standen im Raum oder hatten sich an die Wand gelehnt. »Es waren Tiere! Wilde Hunde oder so«, sagte Tucker Holsworth und schlug zur Betonung auf den Tisch, während er mit der anderen Hand mit der Pfeife fuchtelte. Sein Gesicht war schwarz von Ruß und Dreck. »Aber was ist mit dem, was Lorrie gesagt hat?«, fragte Brams Vater. »Du meinst diese Geschichte über Männer, die eine Art Werkzeug verwendet haben?« Holsworth versuchte, seine Pfeife am Brennen zu halten. »Nun, sie war da. Wenn es das ist, was sie gesehen hat, wieso sollen wir ihre Worte bezweifeln?« »Aber die Spuren kamen von Tierzähnen! Das war kein Messer«, warf Rafe Kimble ein, der an der Feuerstelle stand. Auch er war von Ruß geschwärzt. »Und der kleine Rip? Wohin ist der verschwunden, wenn ihn nicht jemand entführt hat?«, fragte seine Frau Elma. »Er ist vielleicht im Feuer umgekommen, und das Mädchen hat es nur nicht gesehen«, sagte Allet. »Wenn das Tier groß genug war, könnte es ihn zu seiner Höhle geschleppt haben.« Das kam von Jacob Reese, der am Tisch bei den anderen beiden Männern saß. »Aber wie kann es sein, dass ein solches Tier oder ein ganzes Rudel hier in der Nähe ist und wir es nicht bemerkt haben?«, fragte Ossrey. »Und wohin sind sie verschwunden? Ich habe keine Gerüchte gehört, dass so etwas wie bei den Mer-fords auch anderswo passiert ist.« »Wovon redet ihr?«, rief Bram. »Was ist passiert?« 180 »Bram!«, rief seine Mutter. Sie sprang auf und drängte sich durch
die Menge, um ihn zu umarmen. »Sohn!«, sagte Ossrey. »Schön, dass du wieder da bist, mein Junge!« Er streckte die Hand über den Küchentisch, und Bram lehnte sich lächelnd an den Nachbarn vorbei, um sie zu ergreifen. Aus den Essensresten auf dem Tisch und den offenen Krügen war zu entnehmen, dass die Frauen die ganze Nacht in der Küche gewesen waren, um das Frühstück für die Männer vorzubereiten, die gerade mit dem Essen fertig geworden waren. »Du bist sicher am Verhungern«, sagte Allet. »Setz dich, Bram.« Sie schob ihn auf ihren Platz am Tisch zu. »Ich bringe dir etwas.« »Es geht mir gut, Mutter«, sagte Bram, aber er setzte sich hin, nachdem er sein Bündel abgelegt und Bogen und Köcher an die Wand neben der Tür gelehnt hatte. »Was ist passiert? Was ich gehört habe, klang schlimm.« Er sah die Nachbarn an, dann wandte er sich an seinen Vater. Ossrey senkte den Kopf. Er war, wenn man von einem kleinen kahlen Fleck am Hinterkopf einmal absah, ein dunkler, haariger Mann und breiter gebaut, als sein Sohn je sein würde. »Es tut mir Leid, dass wir dich mit schlechten Nachrichten willkommen heißen, Sohn«, begann er. »Den Merfords ist eine schreckliche Tragödie zugestoßen.« »Was ist mit Lorrie?«, fragte Bram sofort. Die Lippen seiner Mutter wurden schmaler, und sie verzog leicht das Gesicht. Ihr Blick wanderte zu Bauer Glidden, um zu sehen, wie er Brams Interesse an Lorrie Merford aufnahm. »Es ging ihr gut, als wir sie zum letzten Mal gesehen haben«, erklärte Allet und verschränkte die Arme. »Wie meinst du das, als ihr sie zum letzten Mal gesehen habt?«, wollte Bram wissen. Als niemand antwortete, packte er seine Mutter an den Armen und fragte: »Mutter, was ist passiert?« 181 »Lorries Eltern sind getötet worden«, sagte Bauer Glidden. »Ihr Haus und die Scheune sind niedergebrannt, und wir haben die Nacht damit verbracht, Feuer auf den Feldern zu löschen. Wir sind erst vor einer Stunde wieder hergekommen.« Er schwieg einen Augenblick, dann fügte er hinzu: »Der kleine Rip ist verschwunden. Sieht so aus, als wäre Lorrie auf ihrem alten Pferd davongeritten. Wahrscheinlich sucht sie den Jungen.« Es gab viel Gemurmel und Geschnalze, sowohl mitleidig als auch missbilligend, begleitet von Nicken und Kopfschütteln.
Bram ließ die Arme seiner Mutter los. »Also sind Lorrie und Rip beide verschwunden?« »Hab ich das nicht gerade gesagt?«, entgegnete Glidden. »Hat sich jemand auf die Suche nach ihnen gemacht?« Aus den Blicken, die gewechselt wurden, konnte Bram schließen, dass das nicht geschehen war. »Wann ist all das geschehen?« Bram fuhr sich verzweifelt durchs Haar und sah sich verwirrt um. »Die Spuren an den Leichen von Melda und Sam sahen aus, als wären sie von einem Tier hinterlassen worden«, sagte Ossrey. »Wir glauben, das, was immer sie umgebracht hat, den Jungen weggezerrt hat.« »Tiere!«, rief Bram. »Hier?« Er sah sich abermals um. »Hat jemand diese Tiere verfolgt? Meint ihr damit, dass sie - haben sie Melda und Sam gefressen?« Dann begriff er. »Wollt ihr etwa behaupten, dass Lorrie sich allein auf den Weg gemacht hat, um ein Tier zu verfolgen, das groß und gefährlich genug ist, zwei Erwachsene zu töten? Wann ist sie verschwunden?« »Lorrie hat etwas darüber gesagt, dass es Männer waren, die ihre Eltern umgebracht haben«, sagte Dora Commer mit einem trotzigen Blick zu Allet und Ossrey. »Sie sagte, sie hätten die Leichen mit einer Art Werkzeug zerrissen, damit es nach einem Tier aussieht, und seien dann in Richtung Meers182 bürg geritten. Sie wollte ihnen sofort folgen, aber selbstverständlich haben wir das nicht zugelassen. Wir dachten, sie hätte einen Schock.« Die Frau zuckte die Achseln, und es sah aus, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. »Und dann war da das Feuer, und wir mussten uns darum kümmern. Wir hielten es durchaus für möglich, dass der Junge im Haus oder in der Scheune gewesen war, und Lorrie konnte den Gedanken einfach nicht ertragen. Außerdem«, fuhr sie angesichts von Brams Schweigen fort, »wenn es wirklich Männer waren und sie die Merfords umgebracht haben, was könnte ein einzelnes Mädchen gegen sie unternehmen?« »Wir haben sie hergebracht und ins Bett gesteckt«, sagte Brams Mutter. »Die Männer mussten die ganze Nacht auf den Feldern das Feuer bekämpfen und haben über diese Sache gesprochen, seit sie zurückgekommen sind. Als die Lormers aufgebrochen sind - kurz bevor du gekommen bist -, sahen sie, dass das Pferd der Merfords verschwunden war. Ich habe in deinem Zimmer nachgesehen, und es
war leer. Sie ist aus dem Fenster gestiegen, offenbar mit ein paar von deinen alten Sachen bekleidet, und hat deinen Geldbeutel gestohlen, der unter der Matratze lag!« Sie sagte das, als wäre es wichtiger als die anderen Neuigkeiten. »Den kann sie gerne haben«, erwiderte Bram, »wenn sie das Geld braucht, um Rip zu suchen.« »Ich bin zu ihrem Hof zurückgekehrt«, sagte der Lange Paul, der Vormann vom Hof der Gliddens. »Ich hab eine Laterne genommen, bin rausgeritten und hab nachgesehen. Keine Spur von ihr.« »Na ja, dort gibt es jetzt ja auch nichts mehr für sie, oder?«, sagte Jacob Reese' Frau und schniefte traurig. »Wir werden den Wachtmeister informieren, sobald es hell ist«, erklärte Glidden wichtigtuerisch. »Es ist seine Aufgabe, mit solchen Dingen fertig zu werden.« Bram sah ihn ungläubig an. »Der Wachtmeister?« 183 Glidden schnaubte. »Ich bezweifle allerdings, dass er viel unternehmen wird. Er hat wahrscheinlich wichtigere Dinge zu tun, als hinter einem Mädchen herzujagen, das seinen Bruder sucht.« »Aber er war sofort da, als es darum ging, die Morrisons von ihrem Hof zu vertreiben, den die Familie seit einer Ewigkeit bearbeitet hat«, erklärte Dora empört. »Für Zwangsvollstreckungen haben sie offenbar genug Zeit.« Das rief weitere hitzige Wortmeldungen hervor, und es sah aus, als könnte es noch eine Weile so weitergehen. Bram beobachtete das Ganze staunend und rief schließlich über den Lärm hinweg: »Was habt ihr bisher getan, um Lorrie und Rip zu finden?« »Was sollten wir denn tun?«, fragte seine Mutter beleidigt. »Wir haben ihr unser Heim angeboten, und sie ist davongelaufen. Mit deinem Geldbeutel, und ohne sich auch nur zu bedanken oder zu verabschieden. Wenn sie uns nicht will, werden wir uns nicht aufdrängen.« Bram sah erst sie an und dann seinen Vater. »Und es gab keine weitere Spur von diesen so genannten Tieren?«, fragte er. »Nein«, antwortete Ossrey. »Nicht vorher und nicht nachher.« »Wir haben keine Spuren gefunden«, sagte der Lange Paul. Bram starrte ihn an. Der Lange Paul war der beste Jäger in der Gegend; er war es gewesen, der Lorrie und Bram das Jagen beigebracht hatte. Wenn der Lange Paul keine Spuren finden konnte,
dann gab es keine. »Findet das denn niemand seltsam?«, fragte er. »Der Hof der Merfords ist sieben Meilen von jedem größeren Wald entfernt. Ein Tier, das groß genug ist, einen erwachsenen Mann und eine erwachsene Frau zu töten, wäre doch sicher von jemandem gesehen worden, als es die Felder durchquerte. Es sei denn, es ist einfach die Königsstraße entlanggetrabt, ohne dass Händler oder Reisende es 184 bemerkten, und dann auf den alten Mühlenpfad zum Hof der Merfords abgebogen.« Seine Nachbarn blickten einander verwirrt an. »Nun ja«, sagte der Lange Paul, »das muss nicht unbedingt etwas bedeuten. Die Spuren an den Leichen waren eindeutig von Tierzähnen, Bram. Das würde ich beschwören. Die Tatsache, dass es seltsam ist, ändert nichts daran. Es hätte ein fliegendes Tier sein können.« Er zuckte die Achseln. »Ein fliegendes Tier?«, fragte Bram. »Nun, ich hab noch nie eins gesehen, aber es gibt angeblich in den Bergen geflügelte Tiere, die groß genug sind, einen erwachsenen Menschen anzugreifen. Greife oder so.« Dann neigte er den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. »Worauf willst du eigentlich hinaus?« »Hier stimmt doch was nicht«, erklärte Bram. »Lorrie sagt, sie habe Männer gesehen, die ihren Bruder mitgenommen haben, und ihr habt ihr nicht geglaubt.« Er warf seiner Mutter einen scharfen Blick zu. Allets Lippen wurden noch schmaler. »Aber der einzige Beweis, dass es Tiere waren, sind die Bissspuren an den Leichen, und sie sagt, die Männer hätten sie mit einer Art Werkzeug gemacht. Inzwischen ist Lorrie allein davongelaufen, und alle sitzen nur hier und reden.« Ossrey wirkte beschämt, und er war nicht der Einzige, aber niemand sagte etwas, und niemand regte sich. Bram stand auf und griff nach seinem Gepäck. »Wo gehst du hin?«, fragte Allet erschrocken. »Mutter, Lorrie ist eine Nachbarin, und noch wichtiger, sie ist meine Freundin, und sie ist erst fünfzehn. Sie hat gerade alles auf der Welt verloren und irrt da draußen ganz allein umher. Rip könnte ebenfalls irgendwo unterwegs sein, oder vielleicht ist er so tot wie seine Eltern, das wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass Lorrie noch lebt. Es ist unsere Pflicht, ihr zu helfen.« »Nein«, sagte Brams Mutter. »Nein, so sehe ich das nicht.
185 Wir haben es versucht, und sie hat unsere Hilfe abgewiesen. Ich finde, wir haben unsere Pflicht damit erfüllt. Und was ihr Alter angeht - du bist selbst erst siebzehn. Es gibt also keinen Grund zu glauben, dass du mehr ausrichten wirst, wenn du ihr folgst.« Bram war enttäuscht von ihr, aber nicht überrascht. Sobald er angefangen hatte, sich für Lorrie zu interessieren, hatte sich seine Mutter gegen das Mädchen gewandt. Er sah seinen Vater an. »Tu, was du für richtig hältst, Sohn«, knurrte Ossrey. Allet schlug Ossrey auf den Arm und starrte ihn wütend an. »Will mir jemand helfen, nach Lorrie zu suchen?«, fragte Bram. Es gab einiges Gemurmel darüber, dass sie ihre Familien nicht allein lassen wollten, wenn in der Nähe solche Gefahr lauerte. Und wieder wurde der Wachtmeister erwähnt; sie sollten auf den Wachtmeister warten. »Also gut«, sagte Bram. Er hatte nichts anderes erwartet. Er drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange, nickte seinem Vater zu und drehte sich dann um, um zu gehen. »Ich komme wieder, wenn ich wiederkomme.« Allet streckte die Hand aus, ihre Miene ein Bild reiner Verblüffung, aber ihr Mann hielt sie zurück. Er legte ihr einen Finger auf die Lippen, als Bram ein paar Sachen in eine Provianttasche warf - einen Laib Brot, ein Stück Käse und ein wenig geräuchertes Schweinefleisch - und dann nach Bogen und Köcher griff, den Versammelten noch einmal zunickte und in den Morgen hinausging. Eine halbe Meile vor den Toren von Meersburg zügelte Lorrie ihr Pferd. Die Sonne stand hoch hinter ihr am Himmel. Der alte Horace hatte länger gebraucht, um die Entfernung zurückzulegen, als sie angenommen hatte. Statt die Stadt am 186 frühen Morgen zu erreichen, hatte das arme alte Tier es erst am Mittag geschafft. Lorrie war als Kind selbstverständlich in der Stadt gewesen: Es war die einzige Marktstadt im Umkreis von zwei Wegwochen, und ihr Vater hatte sie einmal mit zum Mittsommerfest genommen, aber sie erinnerte sich kaum mehr daran. Und ich war die ganze Nacht unterwegs. Es kam ihr unmöglich vor, dass nur eine Nacht vergangen war, seit ihre Welt ein Ende gefunden hatte ... Ein von Maultieren gezogener Wagen und Packpferde kamen an ihr vorbei - die Leute beeilten sich, in die Stadt zu kommen, denn sie
wollten ihre Geschäfte erledigen, bevor die Marktstände leer waren. Alle, die Handel treiben wollten, hatten immerhin noch einen halben Tag Zeit dazu. Lorrie trieb Horace zu einem schnellen Schritt an und spähte nach vorn. Die Stadt lag in einem Tal zwischen Hügeln. Das Land direkt in der Umgebung war zu steil und zu felsig, um gutes Bauernland zu sein, aber man hatte die Wälder gerodet, und so bestand ein großer Teil des Verkehrs stadteinwärts aus Lieferungen von Feuerholz aus weiterer Entfernung. Hinter Lorrie erhoben sich Hügel mit schönen Bauernhöfen, von denen viele sie an ihren eigenen erinnerten, von dem nur noch schwelende Asche geblieben war. Es gab ein paar Schafe in der Nähe, aber vor allem Milchkühe, was sie überraschte, bis ihr klar wurde, dass eine Stadt ein guter Ort sein musste, um frische Milch zu verkaufen. Näher an der Stadt standen zu beiden Seiten der staubigen weißen Straße Werkstätten: Handwerksbetriebe, die in der Stadt nicht erlaubt waren oder mehr Platz brauchten - eine große Gerberei, deren Gestank Lorrie blinzeln und husten ließ, die Öfen eines Töpfers, geformt wie große Bienenstöcke, von denen Hitze ausging, die sie auch ein Dutzend Schritte entfernt noch spüren konnte, ein paar Schmieden und ein Viehhändler, der offenbar überwiegend Pferde verkaufte. Lorrie konnte sie auf der Koppel hinter einer brusthohen 187 Feldsteinmauer sehen. Nebenan gab es einen Sattler, der ebenfalls eine Pferdekoppel hatte. Wahrscheinlich vermieteten sie beide Reitund Zugtiere ebenso, wie sie mit ihnen handelten. Lorrie spürte, wie ihr Magen zu knurren begann, als ihr Essensgeruch in die Nase drang. Sie hatte seit dem Morgen des Vortags nichts mehr gegessen; der Schock hatte allen Hunger vertrieben. Aber für ihren Magen schien gestern Morgen sehr lange her zu sein. Sie wusste, dass sie Horace nicht behalten konnte, wenn sie in Meersburg war, auch wenn der Gedanke ihr das Herz brach. Sie hatte nicht genug Geld, um ihn irgendwo unterzustellen, nur die paar Münzen in Brams Geldbeutel, die sie für sich selbst brauchte. Ich werde Bram das Geld ersetzen, dachte sie. Ich sollte lieber zusehen, dass ich so viel wie möglich für das Pferd bekomme. Der Sattler saß in seiner offenen Bude und räumte seine Werkzeuge auf, bevor er die Werkstatt für den Tag schloss. Er blickte zu Lorrie auf, als sie sich aus dem Sattel schwang: ein Mann um die dreißig
mit Reithose und einem ärmellosen Wams, die Arme muskulös, die Hände groß und vernarbt von Ahle und stark gewachstem Faden. Seine Augen waren grün und scharfsinnig. »Kann ich dir helfen, Junge?«, fragte er. Sie zögerte. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie in Brams Kleidern und mit unter die Mütze gestopftem Haar aussehen würde wie ein Junge. Sie begriff sofort, dass das ein Vorteil sein könnte, denn ein junger Mann würde sich viel freier bewegen können als ein Mädchen. Aber was würde ihre Mutter denken? Das wiederum führte zu weiteren Gedanken an ihre Mutter, und Lorrie zwang sich zu antworten, bevor die Tränen kamen: »Ich will das Pferd verkaufen«, erwiderte sie. »Bist in die Stadt gekommen, um ein Vermögen zu machen, wie?«, sagte der Sattler und sah sich das Pferd und das Zaumzeug an. »Nun, das Pferd hat seine besten Tage hinter sich, 188 und das Zaumzeug ist auch nicht gerade neu. Sehen wir uns beides mal genauer an.« Ein paar Minuten später setzte der Sattler sich wieder auf seine Bank und verzog das Gesicht. »Fünf Silberstücke für alles, Zaumzeug, Sattel und Gurt. Mehr kann ich dir nicht geben«, sagte er. »Und das ist ziemlich großzügig.« »Es ist in Ordnung«, erklärte Lorrie. Landleute sind nicht so leicht zu betrügen, was immer die Stadtleute denken mögen, dachte sie bei sich. »Für das Pferd gebe ich dir fünfundzwanzig«, bot der Sattler an, »und das ist geschenkt, wirklich geschenkt.« Lorrie zögerte. Der Preis war nicht schlecht, aber ihr gefiel nicht, wie die Tiere auf der Koppel hinter der Werkstatt aussahen. Ich glaube, er füttert sie nicht genug, dachte sie. Es gab Männer, die Pferde billig kauften, sie sich zu Tode arbeiten ließen und dann neue kauften; eine dumme Art, Handel zu treiben, dachte sie, aber in einer Stadt, wo Futter teuer erkauft werden musste, lohnte es sich vielleicht. Dennoch, sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass jemand so mit Horace umging, während das arme Tier sich verdutzt fragte, wieso man es verlassen hatte. »Es wäre das erste Mal seit langer Zeit, dass Swidin Betton jemandem etwas schenkt, sei es ein Verwandter, ein Freund oder ein Fremder.« Der Mann, der sich über den Zaun beugte, war etwa im Alter des
Sattlers, hatte lockiges, rötliches Haar und ein freundliches Lächeln. »Ich nehme ihn dir ab, Junge«, sagte er, »und für den gleichen Preis. Er ist ein gutes Pferd; sieht so aus, als wäre er vor allem ein Zugtier, wie?« Und deine Pferde sind nicht unterernährt, dachte sie. Der Sattler zuckte die Achseln und zahlte für Zaumzeug und Sattel; dann führte Lorrie Horace zur Koppel des Viehhändlers. An der Seite gab es einen Stall, und sie sah ihn sich 189 an: Das Stroh war offenbar erst vor kurzem gewechselt worden, und die Hufe der Tiere waren in gutem Zustand, sauber, nicht gerissen, und die Hufeisen waren nicht zu abgetragen. »Er ist so etwas wie ein alter Freund«, sagte sie und gab dem Mann Horaces Halfter. »Ich war noch ein Kind, als mein Vater ihn nach Hause gebracht hat.« Sie kraulte Horace unter dem Kinn, und der alte Wallach senkte genießerisch die Lider. »Es gibt immer jemanden, der ein sanftmütiges, schwer arbeitendes Tier wie ihn hier sucht«, sagte der Händler. »Er ist kein Fohlen mehr, aber er hat noch ein paar gute Jahre vor sich. Mach dir keine Sorgen, er wird ein Zuhause finden.« »Er kann die geradeste Furche pflügen, die ich je gesehen habe«, erklärte Lorrie tapfer. Der Händler lachte leise. »Junge, du hast ihn schon verkauft, aber ich werde daran denken, es möglichen Käufern mitzuteilen.« Lorrie lächelte und nickte, dann wandte sie sich ab, und es gelang ihr irgendwie, nicht zurückzuschauen, selbst, als Horace fragend wieherte. Sie kam zum Rand des Tiermarktes und seufzte. Vor ihr lag eins der Stadttore, und dahinter, irgendwo in der Stadt, befand sich ihr Bruder. Lorrie ging die Straße entlang und wusste nicht genau, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hatte irgendwie das Gefühl, dass Rip immer noch lebte, spürte aber nicht seine Nähe. Vielleicht war es falsch gewesen, hierher zu kommen. Sie hatte die Wache gefunden, aber dort saß im Augenblick nur ein alter Gefängniswärter, und der hatte ihr erklärt, er könne nichts für sie tun. Sie solle am besten am Abend wiederkommen, wenn der Wachtmeister die Leute vorbeibringen würde, die er im Lauf des Tages festgenommen hatte. Lorrie fing an, über einen Schlafplatz nachzudenken. Sie steckte die Hand in die Tasche und berührte den Geldbeutel,
190 den sie unter Brams Bett hervorgeholt hatte und der nun von den dreißig Silberstücken für Horace und das Zaumzeug dicker geworden war. Sie hatte einen guten Preis erzielt, aber es war kein Vermögen. Wie lange es reichen würde, wusste Lorrie nicht. Stadtpreise waren höher als auf dem Land, so viel war ihr klar. Sie spürte, wie ihr ein wenig schwindlig wurde, und erinnerte sich daran, dass sie immer noch nichts gegessen hatte. Eine halbe Stunde später leckte sie sich die Krümel einer Fleischpastete von den Fingern und dachte daran, eine weitere zu kaufen. Der Nachmittag verging schnell, und auf den Straßen herrschte immer noch Gedränge, aber es wurde langsam ruhiger. Der Händler hatte nur noch eine Pastete übrig und war dabei, seinen Stand zu schließen. Wenn Lorrie noch eine Pastete wollte, würde sie sich jetzt entscheiden müssen. Sie wollte gerade hinüberlaufen und sehen, ob sie einen besseren Preis für den letzten Verkauf des Tages aushandeln konnte, als ein Mann auf sie zukam. »He, du da, junger Bursche«, sagte er vergnügt. Lorrie warf ihm einen Blick zu. Er war etwa so alt wie ihr Vater und kaum größer als sie selbst. Er wirkte nicht allzu gepflegt, aber immer noch relativ ordentlich, und seine Kleidung war am Kragen und an den Manschetten nicht abgetragen. Insgesamt sah er aus wie ein Stadtbewohner, wahrscheinlich ein Junggeselle. Er hatte einen breiten schwarzen Schnurrbart und ein noch breiteres Grinsen. Lorrie war wegen seiner Falten überzeugt, dass der Mann sein Haar färbte, weil es noch so vollkommen schwarz war. Man hatte ihr erzählt, dass adlige Damen ihr Haar mit den unterschiedlichsten Mitteln färbten, aber sie hatte noch nie gehört, dass ein Mann das tat. Es kam ihr seltsam vor, aber der Mann machte einen freundlichen Eindruck. »Guten Tag, Sir«, sagte sie vorsichtig. »Du scheinst ein netter Junge zu sein«, erwiderte er. 191 »Danke, Sir.« »Würdest du dir gern zwei Silberstücke verdienen?«, fragte er. »Sehr gern, Sir«, sagte Lorrie eifrig. Das würde helfen. Die Götter allein wussten, wie lange es dauern würde, Rip zu finden. »Kannst du schnell laufen, Junge?« »Oh, ja, Sir«, versicherte Lorrie ihm. »Schneller als jeder andere.« Der Mann lachte und zeigte auf eine Gasse in der Nähe. »Am Ende der Gasse dort wartet ein Mann, der jemanden braucht, der ein
kleines Päckchen für ihn in einem anderen Stadtviertel abgibt. Er heißt Travers, und er wird dir nähere Anweisungen geben. Sag ihm, du wärst der Junge, den Benton geschickt hat. Und jetzt lass mich sehen, wie schnell du bist.« Sie eilte die Gasse entlang und zu der Ecke, wo unter dem knarrenden Schild einer Schänke ein Mann stand und an seinen Zähnen herumpulte. Es war angenehm, wieder aus der schmalen Gasse herauszukommen, in die kaum Tageslicht fiel. Die Stadt kam Lorrie schlimmer vor als ein Wald bei Nacht, mit diesen Fläusern, die so hoch aufragten, drei oder gar vier Stockwerke auf jeder Seite der Straße. Sie rümpfte die Nase: Ein Bauernmädchen war nicht zimperlich, aber wo sie aufgewachsen war, wurde Dung auf die Felder geschafft, wo er hingehörte, und Leute pinkelten nicht gegen Gebäude. »Sir?«, fragte sie. »Heißt Ihr vielleicht Travers?« Der Mann nickte und sah sie von oben nach unten an. »Und wer bist du?«, wollte er wissen. »Ich bin der Junge, den Benton geschickt hat«, erklärte Lorrie. »Aha.« Er zog eine Geldbörse aus der Tasche. »Bring das hier zum Feuerdrachen, einem Gasthaus nahe dem Nordtor. Dort wartet ein Herr namens Coarts darauf.« Er überreichte ihr die Börse. »Also los. Worauf wartest du noch?« 192 »Äh ... Benton hat gesagt, ich würde zwei Silberstücke dafür bekommen«, sagte sie. »Das wirst du auch, nachdem du die Arbeit erledigt hast«, erwiderte Travers barsch. »Je schneller du rennst, desto schneller wirst du bezahlt werden. Also los.« Lorrie kam sich dumm vor und war ein wenig nervös. Selbstverständlich würde sie nicht bezahlt werden, bevor sie das Päckchen abgeliefert hatte. Niemand würde sich hier auf ihr Wort verlassen. Aber sie bemerkte auch, dass dieser Travers ein sehr schlecht gelaunter Mann war, nicht annähernd so freundlich wie Benton. Auf der Straße herrschte jetzt viel weniger Gedränge, denn der Tag ging rasch zu Ende, und Lorrie wusste immer noch nicht, wo sie die Nacht verbringen sollte. Vielleicht war der Feuerdrache ja ein anständiges Gasthaus, und sie konnte dort übernachten. Sie hielt inne und sah sich um. Dann eilte sie eine kurze Straße entlang, die zur Stadtmauer führte, denn sie nahm an, dass die Mauer
sie schließlich zum Nordtor bringen würde. Plötzlich fiel sie hin und krachte mit einer Schwindel erregenden Welle von Schmerz mit der Stirn aufs Pflaster. Blut lief ihr in die Brauen, warm und klebrig. Trotz des Summens in ihren Ohren hörte sie, wie jemand weiter hinten »Haltet den Dieb!« rief, und war froh, dass sie ohne Ärger an dieser Stelle vorbeigekommen war. Lorrie versuchte aufzustehen, als etwas Festes sie in den Rücken traf und wieder zu Boden schickte. »Bleib, wo du bist!«, bellte eine vertraute Stimme. Sie drehte den Kopf und starrte verblüfft den fröhlichen Benton an, der im Augenblick sehr viel weniger freundlich aussah. »Aha!«, sagte Travers, der herbeigeeilt war. »Ihr habt die kleine Ratte also erwischt!« »Dann ist das hier der Dieb?«, fragte Benton. 193 »In der Tat, Sir! Und er hat meinen Geldbeutel noch in der Hand!«, sagte Travers laut. Lorrie schaute ungläubig von einem zum anderen. Die wenigen Leute in der Nähe hielten inne, um zu sehen, um was es da ging, und sie fühlte sich verpflichtet zu widersprechen. »Aber Ihr habt es mir doch gegeben!«, rief sie. »Ihr habt gesagt ...« Benton schlug ihr mit seinem Schlagstock mit präzise kalkulierter Kraft in den Nacken, und sie sackte betäubt zurück. »Unsinn!«, rief er. »Du kannst dem Richter deine Lügen erzählen, und dann werden wir ja sehen, was er davon hält.« Ein paar Leute in der Nähe schauten zufrieden drein und nickten zustimmend, andere schienen nicht so sicher, aber sie mischten sich nicht ein. »Ich bin Gerem Benton, ein unabhängiger Diebesfänger. Sir, ich muss Euch bitten, als Zeuge mit mir zu kommen«, verkündete Benton. Auch die Zweifelnden unter den Zuschauern schienen nun zufrieden. Die Diebesfänger arbeiteten indirekt für den Baron und erhielten eine Prämie für jeden gefangenen Dieb, den sie dem Wachtmeister übergaben. »Natürlich, das ist meine Pflicht«, stimmte Travers zu. Er stieß Lorrie mit dem Fuß an. »Hoch mit dir, Junge!« Lorrie schien sich nicht recht bewegen zu können, und nach einem Augenblick hörte sie auf, es zu versuchen. »Was für einen empfindlichen Kopf der Kerl hat«, sagte Benton.
»Wenn Ihr einen Arm nehmt, Sir, dann nehme ich den anderen, und wir machen uns auf den Weg.« Sie zogen Lorrie hoch, und ihr wurde schwarz vor Augen. Stechender Schmerz zog an beiden Seiten ihres Halses entlang zum Kopf. Als sie wieder zu sich kam, befand sie sich flach auf dem Boden in einer dunklen Gasse hinter einem Gebäude. Benton und Travers stritten sich mit zwei anderen Männern. 194 »... mein Territorium, Gerem Benton, und das weißt du genau«, knurrte ein Mann mit einer Augenklappe. Er ragte hoch über Benton auf, der versuchte zu widersprechen. »Es hat alles drüben auf dem Ostmarkt angefangen«, sagte er. »Aber wir müssen durch dein Territorium, um zum Gefängnis zu gelangen. Sei doch vernünftig, Jake.« »Ich habe das Ganze gesehen!«, brüllte Jake, der offenbar nicht vorhatte, vernünftig zu sein. »Mir ist es gleich, wo du angefangen hast, du hast den wichtigeren Teil auf meinem Territorium durchgeführt!« Er hob die Faust, als wolle er zuschlagen, und Travers packte ihn am Handgelenk. Dann mischte sich Jakes Begleiter ein und versetzte Travers einen harten Stoß. »Ach, die Dämonen sollen es haben«, fluchte Benton. »Also gut, wenn es dein Territorium ist...« Er wandte sich halb ab, dann riss er den Schlagstock in Jakes Mitte und versetzte ihm einen kurzen, heftigen Schlag. »Aber wer sagt überhaupt, dass es dein Territorium ist, du Hund!« Benton packte den Mann am Haar und riss seinen Kopf zurück. Er presste ihm den Schlagstock an die Kehle, so dass er keine Luft mehr bekam, und knurrte: »Vergiss nicht, wer hier das Sagen hat, Jungchen. Du und deine kleine Mannschaft, ihr könnt nur deshalb hier Beutel abschneiden und euch aufspielen, weil ich euch den Wachtmeister vom Hals halte. Ich habe jetzt beinahe drei Wochen keinen Dieb mehr ausliefern können, also verwandle ich, wenn es nicht anders geht, einen Bauernjungen in einen Dieb. Aber ich werde mir nichts mehr über >dein Territorium< und »nein Territorium< anhören.« Er ließ den Mann los und sah zu, wie er rückwärts taumelte. »Wenn es um Sachen geht, die nicht ganz legal sind, ist ganz Meersburg mein Territorium.« Lorrie krabbelte ein paar Schritte auf allen vieren rückwärts, dann drehte sie sich um und kam auf die Beine. Bevor sie noch zwei
Schritte gemacht hatte, hatten alle vier Männer sie gepackt, schubsten sie hin und her, schrien sie und einan195 der an und rissen an Lorries Armen. Sie sank mit einem jämmerlichen Schluchzen auf die Knie. Jemand hatte ein Messer gezogen ... Irgendwie gab dieses Rapier an seiner Hüfte, selbst wenn es sorgfältig unter dem Umhang verborgen war, Jimmy das Gefühl, größer zu sein, ja beinahe erwachsen. Er spürte es an seinem neuen Gang, an dem Schwung, der in seinen Bewegungen lag. Sollten sie doch wagen, sich ihm in den Weg zu stellen! Er reckte die schmalen Schultern und grinste. Er hätte sich im Traum nicht einfallen lassen, das Rapier auf den Straßen von Krondor zu tragen; die Wache hätte ihn festgenommen und in eine Zelle geworfen, bevor er auch nur die geringste Chance zu einer Erklärung gehabt hätte. Und was die Spötter anging, nun, solange man kein Schläger war, ermutigten sie einen nicht dazu, offen Waffen zu tragen. Es brachte zu viel Ärger. Das könnte hier in Meersburg genauso sein. Aber er war wie ein achtbarer Bürger gekleidet, und er wusste, dass das einen großen Unterschied machte. Noch wichtiger jedoch war eine gute Adresse. Selbstverständlich hoffte er, nicht darauf zurückgreifen zu müssen. Flora würde ihn umbringen; immer vorausgesetzt, dass sie Tante Cleora nicht schon alles erzählt hatte und inzwischen heulend auf der Treppe vor dem Haus saß. In diesem Fall würde man sie wahrscheinlich beide festnehmen. Aber als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, hatten die beiden zusammengesessen, und Tante Cleora hatte Flora Familiengeschichten erzählt und dabei die Hände des Mädchens festgehalten, als bestünden sie aus Gold. Cleora hatte keine Kinder, und es sah so aus, als hätte sie nun endlich jemanden, dem sie all ihre mütterlichen Gefühle schenken konnte. Irgendwann an diesem Abend, nahm Jimmy an, würden die beiden schließlich auch den Großvater besuchen. 196 Jimmy widersetzte sich dem Drang, den Umhang von der Schulter zurückzustreifen und sein Rapier zu zeigen. Es hat keinen Sinn, zu viel zu riskieren, dachte er. Ich muss weiterhin so respektabel wie möglich aussehen, ermahnte er sich. Und das hat auch seine Vorteile. Ich kann mir mein Ziel frei wählen, und die Ladenbesitzer verbeugen sich auch noch vor mir und bitten mich, mir alles
anzuschauen, statt nach der Wache zu rufen oder mit Pferdeäpfeln zu werfen. Also stolzierte er weiter und genoss die milde Abendluft und die Art, wie sein Umhang um seine Waden schwang. Ihm gefiel diese kleine Stadt. Verglichen mit Krondor war alles so kompakt und so ruhig. »Lasst mich los!« Jimmy drehte sich um, weil er wissen wollte, wer da gerufen hatte. In einer trüben Gasse sah er, wie vier Männer gegen eine Gestalt kämpften, die sich wehrte. Aha, dachte er selbstzufrieden. In solchen Fällen ist eine Organisation wie die Spötter wirklich praktisch. In Krondor würde es nie zu solchen Szenen kommen. Kein freischaffender Dieb würde es wagen, sich mit einem Spötter um die Beute zu streiten, und zwei Gruppen von Spöttern würden einfach die Beute zum Tag- oder Nachtmeister bringen und den entscheiden lassen. Das hier war unzivilisiert, und es war noch nicht einmal dunkel! Für einen kurzen Augenblick fiel ein letzter goldener Sonnenstrahl auf das Gesicht des Opfers, als es zum Ende der Gasse schaute, wo Jimmy stand. Das Herz des jungen Diebs schien in diesem Moment stehen zu bleiben, und er hielt die Luft an. Dann drehte sie den Kopf wieder weg, das Licht war verschwunden und die Gasse dunkler als zuvor. Jimmy war immer noch wie gelähmt. Das ist unmöglich!, dachte er. Es war unmöglich, und dennoch ... In diesem letzten Aufblitzen des Tageslichts hätte er schwören können, dass er das 197 Gesicht von Prinzessin Anita gesehen hatte. Aber sie war doch auf dem Weg nach Crydee! Wie sollte sie allein hier nach Meersburg gekommen sein? Das Mädchen stieß einen Schmerzensschrei aus, und der junge Dieb handelte schnell. Er war einen Moment zuvor an einem Aschenkasten vorbeigekommen; jetzt schnappte er sich eine Hand voll Asche, rieb sie sich ins Gesicht, zog die Kapuze seines Umhangs so tief wie möglich über den Kopf und rannte in die Gasse. Er riss sein Rapier heraus und stürzte sich mit einem Schrei, der einem das Blut gerinnen ließ, auf die schnaufende, schubsende Gruppe am Ende der Gasse. »Macht sie fertig, Jungs!«, brüllte Jimmy. »Keine Gnade!« Bis dahin hatten sie harte Worte und noch härtere Schlagstöcke
benutzt, und ein Mann fuchtelte mit einem Dolch, ohne ihn zu benutzen, aber die Einführung einer scharfen Waffe in den Kampf und die Möglichkeit weiterer Angreifer verwirrten die vier Diebesfänger einen kritischen Augenblick lang. Jimmy riss das Rapier auf .Taillenhöhe in einem weiten Bogen herum, und die Männer ließen das Mädchen los und wichen zurück. Sofort griff Jimmy nach ihrem Hemd und zerrte. Sie war älter als er, stellte er sofort fest, aber nicht größer. Und sie war mutig, dachte er. Sie war sofort auf den Beinen und bereit, ihm aus der Gasse zu folgen. Er ließ sie los, steckte das Rapier wieder ein und eilte zu dem Aschenkasten. Die vier Männer hatten nicht lange gebraucht, um sich von dem ungeplanten Angriff zu erholen und zu erkennen, dass es keine »Jungs« gab, die vorhatten, »keine Gnade« zu zeigen, und sie verfolgten Jimmy Er nahm an, inzwischen würden sie das Mädchen gerne laufen lassen, wenn sie dafür die Gelegenheit erhielten, ihn selbst grün und blau zu schlagen. Es war bedauerlich, aber irgendwie hatte er häufig diese Wirkung auf andere. 198 Als sie das Haus mit dem Aschenkasten erreichten, griff Jimmy danach, drehte sich um und warf den Inhalt in die Luft und direkt in die Gesichter seiner Verfolger. Sie fielen fluchend und hustend zurück. Mit einer Geschicklichkeit, die ans Übernatürliche grenzte, zog der junge Dieb seine Klinge abermals und versetzte den vier Männern ein paar gut platzierte Kratzer, während sie vergeblich versuchten, das viel längere Rapier mit Schlagstöcken und einem einzelnen Dolch abzuwehren. Jimmy hatte nur ein paar Wochen Übung mit der Klinge, aber sein Lehrer war Prinz Arutha gewesen, und außerdem war Jimmy schneller als die meisten erfahrenen Schwertkämpfer. Die Männer versuchten auszuschwärmen und sich von zwei Seiten zu nähern. Das brachte ihnen ein paar unangenehme Schnitte an Händen und Armen ein. Der junge Dieb schlug um sich, seine Klinge schnitt zischend durch die Luft, und jedes Mal, wenn sie traf, brüllte ein Angreifer schmerzerfüllt und fiel zurück. Dann versuchte der Anführer der Gruppe, der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart, anzugreifen, und Jimmy fügte ihm eine tiefe Schnittwunde an der Schulter zu. Einer der Männer drehte sich um und floh, und einen Augenblick später zogen sie sich alle eilig zurück; das Mädchen und der Junge waren es nicht wert zu verbluten.
Jimmy packte das Mädchen an der Hand und führte sie durch den engen Gang zwischen zwei Häusern. Er war kaum breit genug für ihn, und nach ein paar Schritten drohte sein Umhang ihn zu erwürgen, denn er war irgendwo an einer rauen Oberfläche hängen geblieben. Es gelang ihm, eine Hand zu heben, um den Verschluss zu lösen, und mit Hilfe des Mädchens zog er den Umhang aus. »Hier können sie uns nicht folgen«, sagte er. »Was wird sie davon abhalten, durch die Gasse zu gehen und von der anderen Seite zu kommen?«, fragte das Mädchen. Sie hatte eine tiefe, heisere Stimme und stellte sehr vernünftige Fragen. 199 Jimmy gefiel das, aber sie klang nicht wie die Prinzessin, was bedeutete, dass er sich wahrscheinlich in etwas eingemischt hatte, das ihn nichts anging. Na gut, wie gewonnen, so zerronnen, dachte er philosophisch. Vielleicht gab es ja eine Gelegenheit, die Sache zu seinem Vorteil zu wenden. Und wenn es Wahnsinn war, war es wenigstens nobler Wahnsinn. Als sie hinter dem Haus herauskamen, sah Jimmy sich um und entdeckte einen Weg über die Dächer. Die Dächer waren hier anders als in Krondor, ein wenig steiler und überwiegend mit Schindeln gedeckt, aber nicht unüberwindlich. Die Wände bestanden vor allem aus Naturstein und hatten weniger Ziegel und Balken, aber seine Finger waren kräftig und seine Zehen geschmeidig. »Kannst du klettern?«, fragte er. »Ja«, sagte sie knapp. »Dann folge jeder Bewegung, die ich mache«, befahl er. Er schnallte seinen Gürtel ab und hängte ihn sich über die Schulter, so dass der Rapiergriff zwischen den Schulterblättern zu liegen kam. Die Regenrinne hinauf, dachte er. Sie bestand aus Holz, war fest genug und mit Bolzen an den Steinen befestigt. Dann auf ein Fenstersims, von dort zum Giebel und auf das Dach. Von dort oben kam es Jimmy so vor, als gehöre die Stadt ihnen. Das Mädchen streckte die Hand aus, und er griff danach und half ihr hoch. Dann führte er sie in den tiefsten Schatten, den er finden konnte, und hoffte, dass sie von der Straße unten nicht zu sehen waren. Das Ganze geschah keinen Augenblick zu früh, denn nun kamen vier sehr zornige Männer, die sich inzwischen Schwerter und Keulen verschafft hatten, um die Ecke der Gasse. Sie sahen sich überall um und stritten sich einen Moment lang, bis der Kleinere erst in eine und dann in eine andere Richtung zeigte, woraufhin ein Mann die Straße
hinauf- und der andere die Straße hinunterging. Der Mann mit dem Schnurrbart 200 rief: »Findet sie! Sie sind jeder drei Silberstücke wert.« Dann ging er selbst weiter. »Drei Silberstücke!«, rief das Mädchen. »Was für Dreckskerle!« Eindeutig keine Prinzessin. »Was war eigentlich los?«, fragte Jimmy »Der Mann sagte, er wäre ein Diebesfänger. Sie wollten mich gegen eine Belohnung ins Gefängnis bringen.« Jimmy schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Das ist ein alter Trick. Zwei oder drei >Bürger< sagen aus, du wärst ein Dieb, und wenn es niemanden aus der Stadt gibt, der sich für dich einsetzt, heißt es ab ins Arbeitshaus - oder Schlimmeres.« Er hielt inne. »Hast du den Namen von dem Burschen mit dem Schnurrbart gehört?« »Ja. Er sagte, er hieße Gerem Benton.« »Ah«, sagte Jimmy langsam. »Du kennst ihn?« »Ich kenne ihn«, erklärte Jimmy und nickte. »Gerem die Schlange. Hat in Krondor als Hochstapler gearbeitet. Ich dachte, er wäre tot.« Er stand auf. »Ich heiße Jimmy Wenn du willst, werde ich dich nach Hause bringen.« »Ich bin nicht von hier«, erwiderte das Mädchen schroff, dann schwieg sie einen Augenblick. »Danke«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du dich nicht eingemischt hättest.« »Alles Mögliche«, erwiderte Jimmy »Aber nichts Gutes, darauf kannst du dich verlassen. Und wie heißt du?« »Ah, Jimmy«, sagte sie. Der junge Dieb musste so sehr lachen, dass er ein Stück vom Dach herunterrutschte. Er kletterte wieder nach oben und grinste sie an. »Nein, nein, das ist mein Name«, sagte er. »Du hast nicht aufgepasst.« Er beugte sich ein wenig näher und flüsterte: »Ich weiß, dass du ein Mädchen bist.« Sie öffnete den Mund, als wollte sie es abstreiten. 201 »Ich weiß es«, wiederholte er. »Wie denn? Die Männer haben es nicht gemerkt.« »Na ja, ich bin eben ... aufmerksamer, denke ich. Oder vielleicht liegt es daran, dass du jemandem sehr ähnlich siehst, den ich kenne,
und sie ist ganz sicher ein Mädchen.« Er versetzte ihr einen sanften Schubs gegen die Schulter. »Also, wie heißt du?« »Lorrie«, antwortete sie entmutigt. »Lorrie Merford.« »Schön, dich kennen zu lernen, Lorrie«, sagte Jimmy weltmännisch, und ihm gelang eine Miniaturausführung von Prinz Aruthas höfischer Verbeugung, während er immer noch auf rutschigen roten Schindeln lag. Jetzt lächelte sie wieder. »Ich freue mich auch, dich kennen zu lernen, Jimmy«, sagte sie. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und es war beinahe dunkel. Sie würden schlechter sehen können, wenn es noch dunkler wurde, aber der junge Dieb schlug die Beine übereinander, als hätte er alle Zeit der Welt. Es war ohnehin besser, ihre Verfolger weiterziehen zu lassen, bevor sie sich selbst in Bewegung setzten. »Wenn du also nicht in der Stadt wohnst, wo kommst du her?«, fragte er lässig. »Aus einem Ort, von dem du wahrscheinlich noch nie gehört hast«, sagte sie. »Das nächste Dorf ist ein winziger Ort namens Relling.« Nein, davon habe ich noch nie gehört, dachte er. Klingt nach einem Ort, wo man früh auf steht, früh ins Bett geht und sich redlich von den Früchten des Feldes ernährt. Ich hoffe, ich muss mich niemals dort hinbegehen. »Hattest du vor, heute Abend noch zurückzukehren?«, fragte er. »Äh ... nein.« Lorrie schüttelte den Kopf »Ich habe hier etwas zu erledigen.« Jede Wette, dachte er. Er hätte auch gewettet, dass es etwas 202 war, womit ihre Familie nicht einverstanden war. Warum sollte sie sich sonst verkleidet haben? »Wo willst du also übernachten?«, fragte er. »Wie ich schon sagte, ich bringe dich nach Hause.« Sie lachte kurz, dann sagte sie: »Ich habe keinen Schlafplatz. Ich bin gerade erst in die Stadt gekommen, und beinahe der Erste, dem ich begegnet bin, war dieser Benton, und ich habe zugestimmt, für ihn einen Botengang zu erledigen.« Ihre Stimme triefte vor Selbstverachtung. »Nimm dir das nicht zu übel«, riet Jimmy. »Der Kerl ist wirklich aalglatt. Ich bin selbst fremd hier, also weiß ich nicht, welche Gasthäuser für dich geeignet sein könnten. Hast du Geld?« Sie schwieg lange. »Ein wenig«, gab sie dann vorsichtig zu. So gut wie keins, dachte Jimmy. Armes Mädchen.
»Also gut«, sagte er und stand auf. »Sehen wir uns die Gegend mal an. Vielleicht können wir irgendwo einen wirklich billigen Platz für dich finden.« Er half ihr auf die Beine und führte sie zurück zu einer Stelle, wo sie nach unten klettern konnten. Jarvis Coe saß in der dunkelsten Ecke des Roten Hahns, fest in seinen Umhang gewickelt, und trank sein Bier. Auf einem Spieß über dem Feuer drehte sich langsam ein Schweinebraten, aber Coe hatte sich mit einem Brocken dunklem Brot, etwas Käse und ein paar Äpfeln zufrieden gegeben - davon Magenkrämpfe zu bekommen war erheblich unwahrscheinlicher. Einer der Vorteile des Kleinstadtlebens bestand darin, dass die Lebensmittel auf dem Markt frischer und billiger waren. Er hatte schon zu Beginn des Abends dafür bezahlt, den Tisch benutzen zu dürfen, da er nicht vorhatte, viel zu trinken, und deswegen keinen Ärger wollte. Er war hier, um zu lauschen. Im Lauf der Jahre war er zu dem Schluss gekommen, dass der nützlichste Klatsch für einen Mann mit seinen 203 Interessen in den rauesten Schänken zu finden war, und das sollte sich auch an diesem Abend wieder einmal beweisen. Die Tische entlang der Wand waren durch Bretterwände voneinander getrennt, die nicht ganz bis zu den Dachbalken reichten. Coe konnte dank seiner Ausbildung und seiner Konzentration einem sehr interessanten Gespräch am nächsten Tisch folgen. Die Astlöcher und Ritzen in den Brettern waren ebenfalls hilfreich, denn sie ließen ihn hin und wieder einen Blick auf die Tischnachbarn werfen. »Er sagt einfach: >Bringt sie her.< Ich sage dir, das gefällt mir nicht«, sagte ein kräftiger Mann zu seinem Begleiter. »Es wird dort immer schlimmer. Ich will wirklich nicht mehr hingehen!« »Immer mit der Ruhe, Rox«, versuchte sein dünnerer Begleiter ihn zu beruhigen. »Wir sind noch nie so gut bezahlt worden.« Er hob seinen Kelch. »Wir trinken den besten Wein, oder nicht?« Was hier im Hahn mindestens zwei Stufen oberhalb von Essig sein musste, dachte Cox. Rox beugte sich dicht zu seinem Kumpan und sah sich nervös in der Schankstube um. »Was wir da tun, ist nicht richtig. Wirklich nicht richtig.« Der Dünne schüttelte sich vor Lachen. »Selbstverständlich ist es das nicht!«, sagte er. »Das meine ich nicht«, fauchte Rox. Der Dünne wandte ungeduldig den Blick ab.
Rox versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Dieser Ort - da stimmt etwas nicht.« Rox rieb sich mit dem Daumen über die Unterlippe. »Es ist einfach nicht richtig.« Der Dünne bewegte erst den Kopf und dann den Rest seines Körpers - wie ein Hund, der Wasser abschüttelt. Rox packte ihn am Arm. »Du weißt, was ich meine.« »Ich weiß nur, dass ich noch nie so gut bezahlt worden 204 bin«, erklärte der Dünne störrisch. »Und mehr brauche ich nicht zu wissen und will ich nicht wissen, und wenn du schlau bist, machst du es genauso.« Rox schwieg einen Augenblick und starrte finster vor sich hin. »Was will er mit all den Kindern?«, fragte er dann plötzlich. Der Dünne fing an, höhnisch zu lachen. »Vielleicht betreibt er ja ein Waisenhaus, hihi!« Er schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen. »Weil er so ein gutes Herz hat.« Selbst Rox grinste einen Augenblick und trank einen Schluck. Aber als er den Becher wieder absetzte, war sein missmutiger Gesichtsausdruck zurückgekehrt. »Ich will das nicht mehr«, brummte er. »Warum kann er nicht jemand anderen finden, der sie holt?« »Ich denke, er will es möglichst geheim halten«, sagte der Dünne. »Wir wissen davon, also«, er zuckte die Achseln, »setzt er uns ein, statt es anderen zu erzählen. So bleibt es geheimer.« Rox blieb einen Augenblick ruhig sitzen und brummte leise vor sich hin. »Ich will aufhören«, sagte er plötzlich. »Das können wir nicht«, fauchte der Dünne. »Wir brauchen das Geld - so viel Geld hatten wir noch nie. Und außerdem ...« Er hielt inne und rieb sich das Gesicht und spähte über die Schulter. Er beugte sich zu Rox und flüsterte: »Ich glaube nicht, dass wir aufhören können.« »Wie meinst du das?« Rox richtete sich starr auf und wirkte plötzlich sehr besorgt. Der Dünne beugte sich noch näher. »Er ist mächtig.« Er spähte erneut über die Schulter. »Er kann Sachen mit uns machen.« Rox starrte ihn an und schüttelte verwirrt den Kopf. »Du weißt, was ich meine. Wenn Leute wie wir Leute wie ihn verärgern, wird das nicht gesund für uns sein.« Rox' Augen weiteten sich. »Oh«, sagte er. 205
»Also machen wir weiter, in Ordnung?« »Ich denke schon«, lenkte Rox ein. Er griff nach seinem Krug, trank ihn leer und setzte ihn dann laut ab. »Heh!«, rief er. »Wirt! Mehr!« »Wir bringen den Jungen zur Burg, nehmen das Geld und verschwinden. Ganz einfach. Mach einfach mit. Vielleicht war es ja sowieso das letzte Mal, dass wir eine Reise aufs Land unternehmen mussten.« Der größere Mann antwortete nicht, aber er sagte dem Wirt, er solle den Krug, den er zum Nachfüllen mitgebracht hatte, auf dem Tisch lassen, und dann betranken sie sich beide systematisch. Coe hörte sich das alles an und kam zu dem Schluss, dass er vielleicht ebenfalls einen Ausflug aufs Land unternehmen sollte. Es könnte sehr interessant sein, diesen Ort zu sehen, der »nicht richtig« war. Jimmy führte das Mädchen zum Lagerhausviertel im Hafen. Nach seiner Erfahrung konnte man an solchen Orten leicht einen verlassenen Raum finden. Außerdem gab es viele Lagerhäuser und für gewöhnlich nur wenige Wachen; ein oder zwei Männer für eine ganze Reihe, und diese Wachen waren für gewöhnlich nicht besonders aufmerksam oder neugierig. Sie hielten sich im Schatten, was dazu führte, dass Lorrie häufig stolperte. Zuerst hatte sie Jimmy Leid getan, dann war er amüsiert gewesen, aber jetzt hatte sie angefangen zu fluchen, und er machte sich Sorgen, dass die Leute auf sie aufmerksam werden könnten. Die Wachen kümmerten sich im Allgemeinen um nichts, aber wenn man ihnen die eigene Anwesenheit so deutlich unter die Nase rieb, war es ihnen unmöglich, ein Auge zuzukneifen. »Lorrie«, flüsterte er, »wir müssen leise sein.« »Ich kann nicht sehen, wo ich hintrete«, zischte sie. Jimmy holte tief Luft. Er wusste doch, dass er sich mit ge206 wohnlichen Bürgern nicht einlassen sollte. Sie brachten einem nichts als Ärger ein, aber hier zog er schon wieder eine von ihnen an der Hand hinter sich her. »Das verstehe ich, aber könntest du zumindest aufhören zu fluchen? Laut zu fluchen, meine ich?« »Oh. Tut mir Leid.« Sie gingen weiter. Er suchte nach etwas Heruntergewirtschaftetem, am besten Verlassenem. Aber die Lagerhäuser, an denen sie bisher vorbeigekommen waren, waren alle fest verschlossen und gut gepflegt. Meersburg war offenbar ein geschäftiger Hafen, obwohl es
kleiner war als Krondor. Ich nehme an, es liegt an der Nähe zu Kesh, dachte Jimmy Dann entdeckte er einen Platz, der geeignet schien. Er führte das Mädchen zu einer dunklen Nische zwischen zwei Gebäuden. »Ich werde mich ein wenig umsehen«, sagte er. »Warum ruhst du dich nicht ein bisschen aus?« Sie schwieg einen Augenblick, dann fragte sie misstrauisch: »Warum?« Nichts als Ärger, dachte er. »Weil ich glaube, dass ich einen Ort gefunden habe, wo du umsonst übernachten kannst. Aber meine Augen sind offenbar besser als deine, und ich will dich nicht wegen nichts dort rüberzerren. Ich komme sofort zurück, das verspreche ich.« »Oh!«, sagte sie und klang, als wäre ihr nie der Gedanke gekommen, dass sie auch umsonst übernachten könnte. »In Ordnung.« Jimmy tätschelte ihr noch einmal die Schulter, dann machte er sich auf den Weg. Das Haus hatte eine Treppe zum ersten Stock, und er setzte vorsichtig den Fuß auf die erste Stufe, aber sie knarrte trotzdem. Wenn er hinaufging, würde das wahrscheinlich genug Krach machen, um selbst die Toten aufzuwecken; er würde also einen anderen Weg nach oben finden müssen. Als er sich weiter umsah, fand er ein kleineres Gebäude an der Rückseite; die Spitze des Giebels lag beinahe di207 rekt unterhalb eines einzelnen Fensters, und das kleinere Gebäude ließ sich leicht erklettern. Als er oben war, stellte er erfreut fest, dass das Fenster nicht verschlossen war. Er glitt nach drinnen ... Ein netter, lange verlassener Speicherraum oberhalb des Hauptlagerhauses. Wahrscheinlich war er hin und wieder benutzt worden, um Fracht von größerem Wert aufzubewahren - Branntwein vielleicht oder Gewürze. Nun gab es hier nicht mehr viel; ein oder zwei Fässer, wahrscheinlich voller Nägel, zwei Ballen billiges Sackleinen, ein paar beschädigte Möbel und Unmengen Staub. Jimmy bewegte sich vorsichtig, aber das erwies sich als unnötig, denn der Boden bestand aus festen Eichendielen, die nicht knarrten: Solche Böden hielten ewig, wenn man sie trocken hielt, und das Dach schien sehr gut zu sein. Die Tür zum Hauptlagerhaus ging nach innen auf, aber davor standen Kisten, die beinahe bis zu Jimmys Brust reichten, als er in den Türrahmen trat. Er stieß sie vorsichtig an und stellte fest, dass er sie nicht bewegen konnte. Zumindest nicht ohne mehr Krach und Anstrengung, als er riskieren wollte. Er schob
sein Messer vorsichtig durch eine Ritze zwischen zwei Brettern, und es klirrte matt, als die Klinge auf die Fracht darin traf, aber als er weiterstocherte, stieß er auch auf Stroh. Irgendeine Art von Töpferware, dachte er. Verflucht schwer. Beinahe so, als hätte man eine Festungsmauer vor sich - man kann jeden, der die Tür frei räumen will, schon stundenlang vorher hören, und der einzige andere Wegführt durchs Fenster. Zweifellos hatten auch andere bereits festgestellt, dass das Gebäude einen perfekten Weg ins Lagerhaus darstellte, und der Besitzer hatte ihnen diesen Weg abgeschnitten. »Hervorragend«, sagte Jimmy und rieb sich die Hände. Lorrie war genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte, und hatte sich mit dem Rücken an das Gebäude gelehnt. »Komm«, sagte er. »Ich habe einen Platz gefunden.« 208 Sie war ein tapferes kleines Ding, das musste er zugeben, wenn auch viel zu vertrauensselig. Ich hätte ein Sklavenhändler sein können oder ein Bordellbesitzer oder einfach ein Vergewaltiger und Mörder. Die da ist ein kleines Schaf weit weg von daheim. Sobald er den Weg zu dem Fenster beschrieben und begonnen hatte zu klettern, folgte sie ihm ohne weitere Fragen. Als sie in dem Zimmer waren, fing er an, einen der Tuchballen abzurollen. »Was machst du denn da?«, fragte sie und nieste von dem Staub, den er aufwirbelte. Wie er angenommen hatte, waren die tieferen Lagen sauber und nicht mehr staubig, obwohl das Zeug so lange aufbewahrt worden war, dass es säuerlich roch. »Ich mache dir ein Bett«, erklärte er grinsend. »Das kann ich nicht benutzen.« Sie klang ehrlich entsetzt. »Selbstverständlich kannst du das«, versicherte er ihr. »Du leihst es dir doch nur. Du beschädigst es nicht, indem du darauf schläfst. Außerdem liegt es hier offensichtlich schon seit Jahren, und niemand hat es vermisst.« Als sie immer noch zögerte, verdrehte er die Augen und fuhr fort: »Und wenn du es so zurücklässt, wie wir es vorgefunden haben, wird es niemand merken.« »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Lorrie. Sie griff nach dem anderen Ballen. »Vielleicht werde ich dem Mann, dem dieses Zeug gehört, irgendwann einen Gefallen erweisen können.« Jimmy rollte weiter Tuch ab und blickte im Dunkeln zu ihrem Umriss. Ehrliche Menschen verblüfften ihn immer wieder.
Zusammen arrangierten sie das Sackleinen zu einem einigermaßen bequemen Bett, und Lorrie dankte ihm. Jimmy dachte daran, einen Kuss zu stehlen, aber dann kam er zu dem Schluss, dass das die Dinge nur komplizieren würde. 209 Dann entschied sich Lorrie, die Dinge zu komplizieren, indem sie fragte: »Werde ich dich wieder sehen?« »Ich komme morgen hier vorbei«, antwortete er. »Wenn du dann noch hier bist, werden wir uns sehen.« »Danke«, sagte sie. Sie griff nach seiner Hand und schüttelte sie. Ihm war schon vorher aufgefallen, dass ihre Hände schwielig waren, aber auch klein und wohlgeformt. Sie hatte schöne Zähne und war groß für ihr Alter: Sie kam aus einer schwer arbeitenden, aber nicht armen Familie. »Gern geschehen.« Plötzlich war er verlegen. »Gute Nacht.« »Gute Nacht.« Jimmy stieg aus dem Fenster, kletterte an dem kleineren Gebäude hinunter und eilte dann zurück zu Tante Cleoras Haus. Das war seltsam, dachte er. Er fragte sich, was dieses Mädchen vom Land wohl in die große Stadt geführt hatte, und das auch noch als Junge verkleidet. Er würde sie bei Tageslicht sehen müssen und feststellen, ob dieser kurze Blick, den er auf sie hatte werfen können, ihm die Wahrheit vermittelt hatte. Sah sie tatsächlich der Prinzessin so ähnlich, wie er dachte? Vielleicht würde er ja wirklich morgen zurückkehren. Immer vorausgesetzt, er hatte Zeit dazu. 10 Der Baron Der Schlafende wälzte sich hin und her und stöhnte. Vor dem Zimmer standen Wachen, die die Geräusche ignorierten, denn sie hatten sie schon öfter gehört; der Baron schlief nur selten eine Nacht durch, ohne diese Träume zu haben. Die Wachen waren abgebrühte Männer, und man hatte sie nicht nur deshalb ausgewählt, weil sie in der Lage waren, ihren Herrn zu verteidigen, sondern auch wegen ihrer Bereitwilligkeit, die seltsamen Vorgänge im Heim des Barons zu ignorieren. Sie waren allesamt ehemalige Söldner, Männer, deren Loyalität dem Gold und nicht der Tradition galt, und sie störten sich nicht an den Schreien, die häufig aus den Gemächern ihres Herrn oder aus anderen Teilen des Herrenhauses drangen. Bernarr ap Lorthorn, Baron von Meersburg, Vasall von Lord Sutherland, Herzog des Südlichen Grenzlandes, zuckte in unruhigem
Schlaf. Er wrang das feine Leinenbetttuch in den Fäusten und zerrte es hin und her. Der Stoff war bereits nass geschwitzt. In seinen Träumen war er nicht der magere, alternde Mann mit dem schlaffen grauen Haar, sondern jung und stark und zutiefst in seine schöne Frau Elaine verliebt. Bitte nicht, dachte er. Er wimmerte und zuckte abermals. Bitte nicht. Die Träume waren wunderbar und unbeschreiblich hassenswert. Es waren immer die gleichen, so als befände er sich 211 im Geist seines jüngeren Ich, als sähe und röche, taste und spüre er wie damals, aber in einer abgelegenen Ecke seines Geistes wusste er, wie die Geschichte ausging. Am Horizont lauerte die Katastrophe, ragte auf wie eine grausige Dämonenfestung hinter dem Rand der Zeit und warf einen Schatten, der alle Schönheit und allen Glanz verblassen ließ. Aber er war dazu verurteilt, in seinen Träumen die Vergangenheit immer wieder zu erleben, all seine Freude und sein Staunen, nur um schließlich feststellen zu müssen ... Er hatte sie in Rillanon kennen gelernt. Es war Frühsommer, als er Rillanon zum ersten Mal besuchte, eine Zeit der Blumen, und überall hatte es Blüten gegeben. Wohin sein Blick auch fiel, erfreuten die Lieblingsfarben der Natur seine Augen. Selbst die Hafenkneipen hatten Blumenkästen oder waren von blühenden Ranken überwachsen. Als er den Hafen verließ, um zum Palast des Königs zu reiten, raubte ihm die schiere Großartigkeit der Hauptstadt den Atem. Er hasste es, auch nur zu blinzeln, weil er stets befürchtete, etwas Neues und noch Schöneres zu verpassen; nur weil er sein halbes Leben im Sattel verbracht hatte, war er imstande, das Pferd, das er nicht kannte, durch die geschäftigen Straßen zu lenken, ohne abgeworfen zu werden. Während seine Blicke gebannt waren und sein Geist bezaubert. Die Stadt war auf Hügeln errichtet und umgeben von den silbernen Bändern von Flüssen und Kanälen. Es schien, als nähme Rillanon kein Ende, sondern erstrecke sich höher und höher in die Wolken. Anmutige Brücken bogen sich über die Wasserwege, und zahllose Türme waren mit bunten Fahnen und Flaggen geschmückt, und alle flatterten, als würden sie dem Wind applaudieren. Sein Herz, das seit dem Tod seines Vaters im vergangenen Winter so schwer gewesen war, erfreute sich an diesem Anblick. Bernarrs Augen wurden feucht vor Stolz, und sein Herz
212 schwoll an wegen der großen Ehre, ein Adliger des Königreichs der Inseln zu sein. Den Göttern sei Dank, dass meine Pflichten mich aufgehalten haben, dachte er. Das hier muss die schönste Jahreszeit in dieser schönsten aller Städte sein. Ich sehe sie im besten Zustand und werde dieses Bild stets in meinem Herzen tragen. Er war gekommen, um dem König seinen Treueid zu leisten und als neuer Baron von Meersburg bestätigt zu werden. Der Tradition folgend waren seine Ländereien Teil des Westlichen Reiches, und sein Herr, Lord Sutherland, war ein Vasall des Prinzen von Krondor, aber es gehörte auch zur Tradition, dass jeder Edelmann des Königreichs, ganz gleich, wie weit entfernt von der Hauptstadt seine Provinz war, so bald wie möglich an den uralten Geburtsort der Nation eilte, um vor dem König niederzuknien. Dann folgte ein Wirbel von Bildern: Er richtete sich in seinem Gästezimmer ein, sah sich die Stadt und die Umgebung an, begegnete den vielen Gelehrten, mit denen er korrespondiert hatte, und besuchte Buchhändler, die bis zu hundert Bände in ihrer Sammlung hatten. Dann kehrte vollkommen deutlich eine Empfindung aus dieser Zeit zurück: Ich bin glücklicher als je zuvor in meinem Leben, hatte er eines Tages plötzlich festgestellt und einen schweren Band, der auf seinem Schoß lag, zugeklappt. Ich will nicht wieder nach Hause gehen und mich um irgendwelche Streitereien kümmern oder die Pfeile im Waffenlager zählen und über Ernten, Jagd und Wetter reden und über sinnlose Patrouillen entlang einer Grenze, die Kesh selten in Frage stellt, oder Kapitäne anweisen, in See zu stechen, um die Piraten aus Durbin zu verscheuchen. Ich wünschte, ich könnte hier bleiben, mein ganzes Leben lang, bei den Gelehrten und Weisen, bei denen, die den Wert von Wissen kennen ... Aufhören!, flüsterten die Lippen des alten Mannes lautlos, und seine Hände zerrten am Laken. Tränen liefen unter den dünnen, faltigen Lidern hervor. O bitte, es soll aufhören! Bernarr nahm die Hände von denen seines Lehensherrn, erhob sich und schaute hinauf in das abgehärmte Gesicht. Er war nahe genug, um den Zimt-und-Nelken-Geruch im Atem des älteren Mannes wahrzunehmen und die dunklen Ringe unter seinen Augen zu sehen. Der Hof ringsum sie her war ein Meer von Farben. Die Zeremonie war schnell vorüber. König Rodric der Dritte, ein
müder, nervös aussehender Mann, sprach ein paar Worte mit dem neuen Baron, dann wurde Bernarr rasch von Höflingen weggeführt, denn andere warteten bereits hinter ihm darauf, ebenfalls vom König begrüßt zu werden. Irgendwie wusste Bernarr, er würde diesen König nie wieder sehen und bald, nachdem er Rillanon verlassen hatte, hören, dass der König gestorben war, und sein Sohn, der ebenfalls Rodric hieß, würde den Thron besteigen. Empfänge und Audienzen, eine kurze Begegnung mit Prinz Rodric, und die Tage vergingen wie im Flug. Den meisten Höflingen war der Provinzbaron gleichgültig, aber einige waren neidisch auf das Interesse des Prinzen für den gelehrten jungen Adligen aus dem Westen. Nur Lady Lisabeth, eine der Hofdamen der Königin, zeigte ein persönliches Interesse an Bernarr, aber ihre kräftige Figur und ihr lüsternes Verhalten stießen ihn ab. Sie wollte nicht ihn, sie wollte jeden Mann mit einem Titel; selbst ein Landadliger wie Bernarr konnte das sehen. Die Erinnerung, die ein Traum war, war ausgesprochen lebendig. Bernarr wäre beinahe in die Luft gesprungen, als Lisabeth plötzlich aus dem Gebüsch kam, während er seinen Weg 214 zum Mittelpunkt des Labyrinths suchte, weil er vorhatte, umgeben von dem angenehmen Geruch nach grünen und wachsenden Dingen zu lesen. Er wollte allein sein, nur in Gesellschaft des plätschernden Brunnens. Rasch setzte er eine gleichgültige Maske auf. »Mylady«, sagte er kühl und verbeugte sich leicht. Dann ging er weiter und hielt dabei das Buch schützend an sich gedrückt. Sie buhlte um seine Aufmerksamkeit, aber in einem Balanceakt zwischen Höflichkeit und Barschheit gelang es ihm, sich ihrem Griff zu entziehen, während er erklärte, dass er Einsamkeit suchte, nicht Gesellschaft. Er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, erinnerte sich an Fragmente dieses Gesprächs, aber es war einen Augenblick lang verschwommen, und dann erklang plötzlich vergnügtes Lachen, dem eine Stimme folgte: »O Lisabeth, lass den Herrn sich seinen Studien widmen, und komm mit. Wir brauchen noch jemanden zum Kartenspiel und würden uns freuen, wenn du mitmachst.« Bernarr wandte den Blick von Lady Lisabeths unangenehmem Gesicht ab und fand sich einer Vision in einem schlichten grünen Kleid gegenüber. Nein!, gellte die Stimme des alten Mannes durch die stickige Dunkelheit seines Schlafzimmers. Nicht das! Bitte, nicht das! Lasst
mich aufwachen, lasst mich aufwachen! Es war, als hätte jemand sein Buch genommen und ihm damit fest auf den Kopf geschlagen. Alles, was er sehen konnte, waren die glitzernden grünen Augen der Frau, ihr üppiges dunkles Haar, die weiße Säule ihres Halses und dieses unendlich liebenswerte Lächeln. Vögel mit langen, bunten Schwänzen und Silberringen an den Füßchen umflatterten sie, und die Ranken hinter ihr bebten lila und scharlachrot in der leichten Brise, die auch ihre Haarsträhnen ein wenig bewegte. Sein Herz war bei diesem Anblick sofort gefangen. Lady Lisabeth schien einen Augenblick verärgert über die Unterbrechung. Dann warf sie einen Blick zu Bernarr und hob resigniert die Hände. »Du hast wohl Recht, Elaine«, sagte sie und ging auf ihre Freundin zu. »Der Baron hat keine Zeit für mich.« Als sie sich bereits umgedreht hatten, um zu gehen, erwachte Bernarr wieder zum Leben, und er verspürte ein herzzerreißendes Sehnen, das sich wie der Schatten künftiger Trauer auf seine Brust legte. »Lady Lisabeth«, sagte er atemlos, »wollt Ihr mich Eurer Freundin denn nicht vorstellen?« Obwohl sich ihre Wangen zornig röteten, war Lisabeth nicht in der Lage, einem Baron diese Höflichkeit zu verweigern. »Mylord, darf ich Euch Lady Elaine du Benton vorstellen?« Ihr Tonfall und ihre Haltung waren gelangweilt. »Ihre Familie hat einen kleinen Landsitz außerhalb von Timons.« Lisabeth fand großes Vergnügen darin, das Wort »klein« zu betonen. »Ich bin sehr erfreut«, sagte er leise, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Und das ist keine höfische Schmeichelei, dachte er. Denn sie hat mich mit einem einzigen Lächeln in ihren Bann geschlagen. Elaine knickste, den Blick gesenkt, und stand nicht wieder auf. Lisabeth verdrehte ungeduldig die Augen. »Lady Elaine, ich habe die Ehre, Euch Lord Bernarr, Baron von Meersburg, vorzustellen.« Elaine erhob sich mit einem strahlenden Lächeln und reichte ihm die Hand. Er nahm sie sanft und küsste sie und war sich plötzlich unangenehm der Tintenflecke auf seinen schlanken Fingern bewusst. »Ich bin entzückt, Baron«, sagte Elaine. Sie hatte Grübchen. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er verstehen, wieso die Leute Grübchen für hübsch hielten. »Bitte entschuldigt uns«, sagte Elaine dann. »Unsere Freunde warten schon.« 216
»Selbstverständlich. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, meine Dame.« Er verbeugte sich, und es brauchte jede Faser seiner Willenskraft, ihre zarten Finger loszulassen. Die beiden Frauen gingen bereits davon, Arm in Arm, während er immer noch wie erstarrt dastand. Bevor sie um die Ecke des Heckenlabyrinths bogen, drehte Elaine sich noch einmal um, lächelte schüchtern und winkte. So leicht hatte sie ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Der Traum wurde verschwommen, und Fetzen von Erinnerung zuckten durch seinen Kopf. Tage und Wochen vergingen, und ihre Bekanntschaft machte kaum Fortschritte. Er erfand Gründe, in ihrer Nähe zu sein, aber er schien nie die Möglichkeit zu haben, mit ihr allein zu sprechen. Sie hatte immer eine andere Verabredung, oder ihre Pflichten bei der Königin verhinderten weitere Begegnungen. Er versuchte, sich den Gruppen jüngerer Höflinge aufzudrängen, wenn sie ihrer Pflichten entbunden und mit ihren Freunden zusammen war. Sie hielten ihn für einen Eindringling, aber sein Rang verlieh ihm einen Schild gegen ihre jugendliche Verachtung, und seine Blindheit gegenüber anderen, wenn Elaine in der Nähe war, verhinderte, dass er den Spott über seine offensichtliche Verzücktheit bemerkte. Je mehr sie sich ihm entzog, desto mehr begehrte er sie. Obwohl er dreißig Jahre alt war, trotz seiner Verantwortung als Baron und all der Jahre, in denen er sich um die Baronie gekümmert hatte, während sein Vater krank war, war er nicht auf dieses Mädchen vorbereitet, das kaum halb so alt war wie er selbst. Er wusste so gut wie nichts über Elaine, aber er verliebte sich immer mehr in sie. Sehnsüchtig dachte er in jedem wachen Augenblick und in all seinen Träumen an sie. Sie war für ihn ein Ausbund alles Schönen, Weiblichen und Liebenswerten. Es kam ihm unöglich vor, dass er sie so tief lieben konnte und sie nichts für ihn empfinden sollte. Sicher verbarg sie ihre Gefühle nur und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Der Teil von Bernarr, der ein alternder Mann in einem einsamen Bett war, flehte nicht mehr. Er keuchte ein wenig, wie ein geschlagener Hund, der im Dreck liegt, und zuckte kaum mehr, als die Peitsche fiel. Baron Hamil de Raise war ein Adliger, der erheblich mehr Einfluss bei Hof hatte als Bernarr und über wirklichen Wohlstand verfügte: An den Wänden seiner Gemächer gab es die Wappen seiner Familie und Waffen, aber auch wissenschaftliche Instrumente und Bücher.
Es waren seine Interessen, die dazu führten, dass er und Bernarr sich näher kennen lernten. Ihre frühen Begegnungen huschten ohne Geräusch durch Bernarrs Traum, kurze Bilder von Weingläsern, ein Bankett, bei dem sie nebeneinander saßen und Höflichkeiten austauschten, dann wurde der Traum plötzlich wieder lebhaft. Hamil führte Bernarr in eine dunkle Straße in einem heruntergekommenen Stadtteil. In einer Gasse, an der sie vorbeikamen, stank es intensiv nach Müll, und ihre Schritte knirschten laut im feuchten Kies. Hamil sagte: »Ihre Familie ist vollkommen unbedeutend. Ein guter alter Name, ursprünglich Barone aus Bas-Tyra, aber nun haben sie nur noch einen einzigen Landsitz im Süden. Ihr Vater macht dem stolzen Namen, oder dem, was davon geblieben ist, wirklich Schande. Man hat ihm alle erblichen Titel genommen, die man seinen Ahnen gewährt hatte, und er klammert sich beinahe verzweifelt an den Rang eines Junkers, den die Krone ihm aus Höflichkeit gelassen hat. Sie ist einfach nur >Lady du Bentonkeinen Fehler machen< meinst du wahrscheinlich mehr als nur >nicht stehlenGespräch unter vier Augen< belauschen kann.« Sie ritten vom Wald ins Wiesenland und dann einen Hügel hinauf. Vögel flatterten vor ihnen aus dem hohen Gras, und die Hufe der Pferde rissen Erdklumpen aus dem Boden. Bernarr galoppierte, bis er das Ende der Anhöhe erreichte. Sie hielten direkt vor dem Klippenrand inne, und das Meer unter ihnen bot einen wunderbaren Anblick. Möwen kreisten am Himmel. Zakry zügelte sein Pferd hinter Bernarr und tätschelte dem Tier den Hals. »Großartig«, erklärte er und holte tief Luft. »Was wollt Ihr?«, fragte Bernarr ungeduldig. »Mylord«, sagte Zakry, »Lady Elaine hätte Rillanon nie verlassen dürfen: Sie sehnt sich nach der Stadt, und selbst Ihr müsst doch sehen, wie dünn und bleich sie geworden ist. Sie sollte in die Hauptstadt zurückkehren. Das hier ist kein Leben für sie! Sie braucht die Aufregung und den Glanz des Hofes. Ich möchte Euch um ihretwillen bitten, Mylord, sie freizugeben.« Bernarr starrte ihn ungläubig an. »Wie bitte?«, sagte er. »Würdet Ihr das bitte noch einmal wiederholen, Sir?« Zakry schien überrascht. »Mylord, ich nahm an, dass Ihr 343 ein Mann von Welt seid. Ihr müsst doch gewusst haben, dass Elaine und ich uns liebten.« Er lachte nervös. »Es war Euch doch zweifellos klar, dass sie keine Jungfrau mehr war.« »Hört auf!«, schrie Bernarr. Seine Knöchel an den Zügeln waren weiß. Er hatte die Augen weit aufgerissen, und der Atem pfiff ihm durch die Zähne, während er sich bemühte, seine Wut zu beherrschen. »Ich liebe sie«, erklärte Zakry, als hätte Bernarr kein Wort gesagt. »Ich hätte sie niemals gehen lassen dürfen. Aber es ist noch nicht zu spät. Ihr könntet die Ehe annullieren lassen. Wir wären Euch dafür
sehr dankbar.« »Die Ehe annullieren? Habt Ihr den Verstand verloren? Elaine würde vor Scham sterben, wenn ich so etwas täte!« »Es ist ihr eigener Wunsch. Sie liebt mich, Mylord. Und ich weiß, dass sie mit mir zusammen sein möchte. Bitte, habt Mitleid, und lasst uns zusammen sein.« Bernarr versuchte nicht mehr, seinen Zorn zu verbergen. »Ihr werdet jetzt sofort zum Herrenhaus zurückkehren. Packt, und verlasst mein Haus, und nehmt das erste Schiff, das aus Meersburg ausläuft, oder Ihr werdet nach Sonnenuntergang Eures Lebens nicht mehr sicher sein.« Er wendete sein Pferd und riss dabei mit solcher Kraft am Zügel, dass das Tier protestierend aufschrie. »Sir!«, rief Zakry. »Ihr müsst mich anhören!« Er gab seinem Pferd die Sporen und wäre beinahe mit dem Braunen des Barons zusammengestoßen. Will er mich etwa auf meinem eigenen Land angreifen?, fragte sich Bernarr. Aber er sagte nichts. Keuchend vor Anstrengung drehte er sich um und schlug den Mann mit dem Rücken seiner Faust, die in einem Handschuh mit Eisennieten steckte. Zakry wich mit einem Schmerzensschrei zurück. Seine Wange war bis auf den Knochen aufgerissen. Er ließ die Zügel fallen und hob beide Hände zu einer schützenden Geste. 344 Zakrys Pferd, verwirrt und verängstigt, tänzelte rückwärts und riss den Kopf hoch. Bernarrs Tier spürte den Zorn seines Reiters, spürte aufgeregt, dass die Zügel schlaff geworden waren. Es legte die Ohren an, drehte sich um und trat zu. Zakrys Pferd, fest an der Brust getroffen, bäumte sich auf. Mit einem protestierenden Wiehern beinahe klang es wie das Weinen eines großen Kindes - trat es rückwärts und zur Seite: einen Schritt, zwei Schritte, dann einen dritten Schritt. Und plötzlich waren Pferd und Reiter verschwunden. Bernarr riss heftig an den Zügeln, zwang sein gereiztes Pferd in eine enge Kreisbewegung. Als er es schließlich wieder unter Kontrolle hatte, ließ er es langsam an den Rand der Klippe gehen, stellte sich in den Steigbügeln auf und spähte über den Rand. Mann und Pferd waren verschwunden. Unter ihm brachen sich die Wellen tosend an den spitzen Felsen, die Gischt spritzte jedes Mal vierzig oder fünfzig Fuß hoch, und der feste Granit der Klippe bebte. Dann konnte Bernarr kurz den Bauch des toten Pferdes in den
Brechern erkennen, bevor es weiter ins Meer hinausgezogen wurde. Von Zakry gab es keine Spur. Zakrys Verschwinden ließ sich leicht erklären: eine Botschaft aus dem Osten, die Notwendigkeit, dass er mit dem ersten Schiff zurückkehrte. Seine Freunde wollten ihren Gastgeber nicht beleidigen, indem sie mit Unglauben reagierten. Zakrys Gepäck wurde am nächsten Tag in die Stadt geschickt, um ihm nach Rillanon zu folgen, und Elaines Freunde genossen weiter die Gastfreundschaft des Barons. Elaine wirkte zerstreut und distanziert. Tage später musste Bernarr nach einem Arzt schicken, der Elaine untersuchte, denn sie war im Bett geblieben und behauptete, krank zu sein. »Ich habe die allerbesten Nachrichten für Euch, Mylord«, erklärte der Mann. 345 »Meine Gemahlin ist also nicht krank«, sagte Bernarr lächelnd. »Noch besser, Mylord.« Der Mann war so stolz, als hätte er ein Wunder gewirkt. »Die Baronin ist schwanger! Schnelle Arbeit, Mylord!« Der Baron starrte ihn an, sein Gesicht eine undurchschaubare Maske. Er blieb reglos, bis der Arzt sich abermals verbeugte. »Mein Verwalter wird Euch bezahlen«, verkündete Bernarr kühl und ging ins Haus. Aber selbst die vulgäre Vertraulichkeit des Arztes konnte ihm die Freude über die Nachricht nicht gänzlich nehmen, ebenso wenig wie die Erleichterung darüber, dass Elaine nicht wirklich krank war. Er ging direkt in ihre Gemächer. Sie blickte erschrocken auf, als er hereinkam, die grünen Augen weit aufgerissen. Bernarr kniete sich neben das Bett, nahm ihre Hand und küsste sie. Im Traum konnte er immer noch die zarten Finger und die weiche Haut spüren, er sah den Pulsschlag an ihrem Hals, während sie bleich in den weißen Kissen lag. Tränen traten ihr in die Augen, aber ihre Miene wirkte alles andere als glücklich. Sie sprachen nur wenige Sätze, und er erinnerte sich an nichts von dem, was gesagt wurde, nur daran, dass sie leise weinte, als er das Zimmer verließ. Die Gäste gaben sich erfreut über die Nachricht, wie es sich gehörte, nutzten sie als Ausrede, ein Festessen zu organisieren, und tranken einen großen Teil des Weinkellers leer. Aber bald waren sie gezwungen aufzubrechen. Mit dem Schiff nach Krondor und dann über Land nach Salador und weiter nach Rillanon
zu reisen dauerte mehr als einen Monat, und sobald die Straße der Finsternis von den Winterstürmen aufgewühlt war, konnte man nur noch um die Südspitze von Groß-Kesh reisen, was etwa drei Monate dauerte, wenn man das Glück hatte, von Unwettern, Piraten und Banditen aus 346 Kesh verschont zu bleiben. Als klar wurde, dass der Baron sie nicht einladen würde, den Winter in Meersburg zu verbringen, verabschiedeten sie sich höflich und verschwanden. Der Baron wand sich in den schweißfeuchten Laken, seine Lider flatterten, und er stöhnte. Das Unwetter ... An dem Abend, als Elaines Wehen begannen, kam ein Unwetter vom Meer her: Berge lilaschwarzer Wolken türmten sich am westlichen Horizont, und Blitze flackerten bereits darin, aber sie wurden auch immer noch von der Sonne, die hinter ihnen unterging, an den Rändern vergoldet. Als Erstes kamen die Wellen, turmhohe Wellen, die die Fischer veranlassten, ihre Boote höher an Land zu ziehen und sie an Bäume und Felsen zu binden, und sie beteten, als der Wind um ihre Strohdächer pfiff. Als der Regen folgte, war er beinahe waagrecht, angefacht von dem gewaltigen Sturmwind. Regen peitschte auch gegen das Herrenhaus, und Blitze zuckten am Himmel, während Donner die Fensterläden beben ließ. Bernarr hatte die Hebamme bestochen, die letzten beiden Wochen im Herrenhaus zu bleiben, und bei dem schrecklichen Wetter war er froh, das getan zu haben. Gerade, als er sich zum Abendessen niedersetzen wollte, berichtete ihm ein Diener, dass ein Reisender am Tor war und um Zuflucht bat. Bernarr lud ihn gerne ein zu bleiben - Gastfreundschaft brachte Glück, und in diesem Augenblick wünschte er sich Glück nur zu sehr. Das Haus war dieser Tage so still, dass er über jede Gesellschaft froh war, und entzückt entdeckte er, dass sein Gast ein Gelehrter war, der sich mehr Sorgen um die Bücher in seiner Kutsche machte als um Pferde, Diener oder sich selbst. Er war ein hoch gewachsener, imponierender Mann mit großen Augen und einem durchdringenden Blick, ein paar Jahre älter als Bernarr. Sein Name war Lyman Malachy. 347 »Ja«, sagte Malachy, »als ich vom plötzlichen Tod Eures Vaters hörte, begann ich meine lange Reise. Und nach vielen Ablenkungen und Verzögerungen bin ich nun endlich eingetroffen.« Er schüttelte
seinen Ärmel, als wollte er die verbliebenen Regentropfen loswerden. »Ich habe hin und wieder mit Eurem Vater korrespondiert, wusste aber nichts weiter über seine Erben. Ich fürchtete, Ihr würdet nicht wissen, welchen Schatz Ihr mit seinen Büchern besitzt, und sie vielleicht verkaufen, bevor ich ein Angebot machen konnte.« Der Baron lächelte und schüttelte den Kopf. Er wollte gerade etwas sagen, als er bemerkte, dass Lymans Blick abgelenkt wurde, was ihn überraschte. Bis zu diesem Augenblick war der Mann ein hervorragender und sehr aufmerksamer Gast gewesen. Aber beinahe sofort klärte sich Lymans Blick wieder, und er sah den Baron ernst an. »Heute Nacht wird in diesem Haus ein Kind zur Welt kommen«, sagte er. »Ein Junge.« »Woher wisst Ihr das?«, fragte Bernarr erstaunt. »Die Baronin ist schwanger, aber es ist noch nicht so weit.« Lyman lächelte nervös. »Es gibt da etwas, das ich nicht jedem anvertrauen würde«, sagte er. »Aber Ihr seid ein gebildeter Mann, der sicher nicht dem Aberglauben der Bauern frönt, und Ihr seid ein so großzügiger Gastgeber, also will ich es gestehen: Ich bin ein Magier.« »Ah«, war alles, was Bernarr sagte, noch während er sich fragte, was er jetzt tun sollte. Er mochte diesen geheimnisvollen Fremden, aber wie viele Bürger des Königreichs hatte er seine Bedenken, was Magier anging. Dennoch, er fühlte sich Malachy auf seltsame Weise verwandt. Er beschloss, taktvoll zu sein. Immerhin würde der Mann morgen ohnehin wieder abreisen. »Das muss Euch einige ... Schwierigkeiten bereiten.« »Es war mitunter so«, gab Lyman zu. »Die Leute haben Vorurteile gegen Menschen, die diese Kunst ausüben. Aber 348 zum Glück war meine Familie wohlhabend, und ich wurde für meine Studien weit von zu Hause weggeschickt. Das Ergebnis ist, dass niemand, der mich als Kind kannte, von meinen Talenten weiß, und da meine Eltern mir ein gutes Erbe hinterlassen haben, bin ich imstande, recht bequem zu leben. Was bedeutet, dass ich mir leisten kann, Bücher zu kaufen!« Beide grinsten. Dann klopfte es laut an der Tür. »Herein!«, rief Bernarr. Ein Diener erschien, die Augen weit aufgerissen, die Miene
bedrückt. »Mylord! Bei Lady Elaine haben die Wehen eingesetzt!« Bernarr sprang auf, und sein Herz begann heftig zu schlagen. Als er an seinem Gast vorging, sah er, dass ein Lächeln die Mundwinkel des Magiers umspielte. Bilder rasten vorbei. Die Hebamme stand an der Tür und sah ihn besorgt an. »Das Baby kommt...« Und dann brach sie ab. Dann Elaines Gesicht, bleich und verschwitzt, während die Hebamme ihr befahl zu pressen. Das Schreien und das Blut. Das weinende Baby, stolz präsentiert von der Hebamme, die sagte: »Ihr habt einen Sohn, Mylady«, aber die Baronin hatte zu große Schmerzen, um das Baby auch nur wahrzunehmen. Überall war Blut. Blut. Bernarr wand sich stöhnend im Bett und schrie. Nein!, wollte er schreien, aber nur ein weiteres Stöhnen kam heraus. Dann war Lyman neben ihm. Er war vollkommen ruhig und beherrscht. »Schickt alle aus dem Zimmer«, sagte er schlicht. Dann hörte das Schreien auf. Bernarr setzte sich im Bett auf. Er hechelte, als wäre er stundenlang gerannt, und sein immer noch gesunder Körper war 349 verspannt und schweißüberströmt, als hätte er im Kampf gestanden. Er rollte sich aus dem Bett, zog sein durchtränktes Nachthemd aus und warf es auf den Boden. Durch das Fenster konnte er sehen, dass die Morgensonne gerade über die Berge gekommen war und ein neuer Tag begonnen hatte. Nur noch Stunden, dachte er, als er nackt auf dem Bett saß und nach einem Becher und dem Wasserkrug griff, die auf dem Nachttisch standen. Er trank und füllte den Becher abermals, um weiterzutrinken. Aber der andere Durst, der Durst, diesen Albtraum zu beenden, der ihn seit siebzehn Jahren heimsuchte, und seine Elaine wieder gesund und frei von den endlosen Schmerzen zu sehen, war geblieben. Er erhob sich und ging zu dem Becken mit Wasser, das für ihn bereitstand. Das kalte Wasser störte ihn nicht, er hatte sich daran gewöhnt. Er musste sich von dem unangenehmen Gefühl auf seiner Haut befreien und würde sich nicht anziehen, ehe das erledigt war. Er stieg in die Kupferwanne, hockte sich hin, griff nach dem Schwamm auf dem Tisch neben der Wanne und ignorierte den kalten Biss des Wassers. Wenn ich nur meinen Schmerz wegwaschen könnte, dachte er wie an jedem Morgen seit siebzehn Jahren.
Aber bald ... Tante Cleora wurde blass. »O Ruthia!«, keuchte sie und legte die Hand an die Kehle. Der Pferdehändler stieß den Sattel, der auf den Fliesen des Küchenbodens lag, leicht mit dem Stiefel an. Ein schwarzweißes Kätzchen kam näher und genoss den faszinierenden Geruch von Pferdeschweiß, Leder und Blut. »Ja, das ist wirklich Blut«, sagte Kerson. »Und das -«, sein Zeh berührte den Schaft eines Pfeils, der aus der Rückseite des Sattels ragte, »- ist auch kein Jagdpfeil.« Er nahm eine Zange aus einer Schlinge an seinem Gürtel, bückte sich, stellte einen Fuß auf den Sattel und setzte das 350 Werkzeug dicht an dem metallenen Glitzern an, wo der Pfeilschaft ins Leder gedrungen war. »Komm raus!«, ächzte er und zog, und die Muskeln in seinen Armen und Schultern spannten sich an. Der Pfeil kam heraus, und er hielt ihn ihnen vor die Nase. »Seht Ihr? Eine lang gezogene Spitze, kein breiter Kopf. Diese Dinger sind nutzlos, außer man jagt Menschen sie sind dazu gedacht, durch eine Rüstung oder ein festes Lederwams zu dringen.« Lorrie starrte den Sattel voller Angst an. Es war noch schlimmer als die Kälte, die seit dem Tod ihrer Eltern in ihrem Herzen geherrscht hatte. Sie wusste, dass Vater und Mutter tot waren; sie wusste, dass Rip immer noch lebte, denn sie spürte ihn hin und wieder weit entfernt. Aber sie wusste nicht, was mit Bram los war. »Das Pferd ist im ersten Morgenlicht zurückgekommen«, sagte Kerson. Es war eine Stunde nach Sonnenaufgang, und die Familie war gerade mit dem Frühstück fertig gewesen, als der Pferdehändler vor der Tür gestanden hatte. »Die Steigbügel haben dem armen Tier die Rippen wund geschlagen, und es war überall mit getrocknetem Schaum bedeckt. Sieht so aus, als wäre es die ganze Nacht durchgetrabt. Muss sich ziemlich erschrocken haben. Und ich dachte, da es der große, blonde Junge war, der Freund Eurer Nichte, der es gekauft hat und der hinter dem anderen Freund Eurer Nichte herreiten wollte, dem Jungen, dem ich ...«, er zeigte auf Lorrie, »... Euer altes Pferd verkauft habe, schien alles zusammenzupassen, und ich dachte, Ihr solltet es wissen.« Tante Cleora sah sich um. »Der Wachtmeister?«, sagte sie. Kerson schnaubte. »Wenn es um eine Schlägerei innerhalb der Stadt
ginge, sicherlich«, erwiderte er. »Obwohl er eher diese billigen Diebesfänger einsetzt als seine eigenen Männer. Nein, draußen auf der Straße wären es die Bewaffneten des Barons, an die man sich wenden sollte. Allerdings hat er sich in den letzten fünfzehn Jahren kein bisschen mehr für die 351 Probleme einfacher Leute interessiert. Die Soldaten werden vielleicht etwas unternehmen, wenn Kesh die Stadt angreift, aber wegen eines verschwundenen Jungen ... ? Nein, sie werden sich nicht von der Stelle rühren.« Er blickte Lorrie und Flora an, die Seite an Seite auf einer Bank saßen. »Mehr kann ich nicht tun, Fräulein Flora. Ich habe meine eigene Familie und ein Geschäft, um das ich mich kümmern muss. Ich dachte einfach nur, Ihr solltet es wissen.« Als der Mann gegangen war, lastete einen Moment lang Schweigen auf dem Raum. Cleora ging zu Lorrie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Er wollte nach Rip suchen, und jetzt ist er vielleicht tot«, sagte Lorrie. »Und alles wegen mir.« Zu ihrer Überraschung schüttelte Flora den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Er hätte sowieso nach deinem Bruder gesucht. Er ist diese Art von Mann - das sah man ihm an.« Lorrie nickte wie betäubt, kämpfte gegen die Tränen an und wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Und Jimmy ist mein ... Pflegebruder, und er hat ebenfalls nach Rip gesucht, und er ist vielleicht auch tot«, sagte Flora. »Oder sie sind beide verwundet. Ich muss gehen und nach ihnen sehen«, erklärte sie entschlossen. »Das ist unmöglich!«, keuchte Tante Cleora. »Ein junges Mädchen ganz allein auf dem Land unterwegs?« Lorrie musste unter Tränen lächeln. Tante Cleora glaubte offenbar, dass hinter jedem Busch Goblins und Banditen lauerten. Vielleicht ist das ja auch so, dachte sie dann, als ihr Blick unweigerlich wieder auf den Sattel fiel. »Sie wird nicht allein gehen. Ich komme mit«, sagte Lorrie. Es geht immerhin um meinen kleinen Bruder und um den Mann, den ich heiraten will. Und ich kann Flora nach allem, was sie für mich getan hat, nicht allein gehen lassen! Die beiden anderen sahen sie an. »Aber du kannst kaum laufen!«, wandte Flora ein. 352
»Ich kann einen Stock benutzen«, erklärte Lorrie entschlossen. Sicher, die Wunde heilt schnell, aber wie weit werde ich kommen?, dachte sie düster. »Ich kann vielleicht reiten. Oder kriechen, wenn es sein muss.« Tante Cleora blickte von einer zur anderen. »Ich wünschte, Karl und seine Männer wären hier«, sagte sie unglücklich. »Es wird nur noch ein paar Wochen dauern, bis sein Schiff aus Krondor zurückkehrt.« Wieder schaute sie sie an; Lorrie wusste, dass Flora die gleiche störrische Miene aufgesetzt hatte wie sie selbst. »Das gefällt mir nicht. Es gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Cleora. »Aber wenn ihr schon gehen müsst, nehmt meinen Dogkart.« Flora sprang auf und umarmte ihre Tante. Der Dogkart war ein Vehikel mit zwei großen Speichenrädern und einer Art Kutschbock, der an Lederriemen hing und ein faltbares Verdeck hatte. Das Gefährt wurde von einem einzelnen Pferd gezogen. Zwei Personen konnten bequem darin sitzen, und auf einer guten Straße würde die Reise nicht zu unangenehm für ein heilendes Bein sein. »Danke, Tante Cleora«, sagte sie, und Lorrie nickte begeistert. Die ältere Frau verzog besorgt das Gesicht, aber Flora war bereits aufgesprungen und begann zu packen. »Was ist das?«, fragte Jimmy und zeigte mit dem Finger auf das amulettartige Ding, das auf dem Tisch lag. Das alte Paar, in dessen Hütte sie wohnten, hatte sich an die Feuerstelle gehockt, und sie hielten sich, ohne es auch nur zu wissen, an den Händen, während sie das Ding anstarrten. Zuvor hatten sie für ein weiteres von Jarvis' Silberstücken ein Abendessen serviert, das aus Haferbrei, Eiern, zwei Äpfeln und einem sehr bitteren Gebräu bestand, das beinahe als Bier durchgegangen wäre. Jimmy dachte, dass er sich bei jeder anderen Gelegenheit 353 vollkommen auf Jarvis Coes Geldbörse konzentriert hätte, denn sie schien eine gewaltige Menge an Silber zu enthalten. Aber das war damals, und jetzt war es anders, denn jetzt galt es, Geheimnisse zu lüften und kleine Jungen zu retten. Jarvis Coe saß auf einem Hocker, die Hände auf den Knien, beugte sich vor und betrachtete das Ding. Seine Miene wirkte entschlossen, und die flackernden Flammen warfen ein ruheloses rötliches Licht auf seine zerklüfteten Züge. »Es ist magisch«, sagte er leise. Jimmy spürte, wie sich bei dem Wort die Härchen in seinem Nacken sträubten. »Verbotene Magie.
Es ist ein Menschensucher, gebunden durch Blut, Knochen und Samen.« Er fuhr mit dem Finger über die Nadel. »Siehst du? Die Nadel ist ein Knochen von einem Baby, das bei Neumond getötet wurde -« Die alte Frau ächzte und schmiegte sich schaudernd fester in den schützenden Arm ihres Mannes. »Und das Haar ist von dem Menschen, den man suchen will, oder von nahen Verwandten. Von Mutter oder Vater oder beiden, wenn du ihr Kind finden willst. Ich denke, das war diesmal der Fall, weil du sagtest, der Junge war blond, und dieses Haar ist braun. Es ist keine Schwarze Kunst, nicht ganz, aber es hat damit zu tun. Diese Art von Magie ist finster genug, um beunruhigend zu sein.« »Wer seid Ihr, dass Ihr Euch mit solchen Dingen auskennt?«, fragte Jimmy Jarvis blickte rasch auf, die Augen halb im Schatten. Schließlich nickte er. »Nun, ich denke, du hast ein Recht, es zu wissen, wenn du in diese Angelegenheit verwickelt wirst. Ich handle im Auftrag der Hohen Priesterin von Lims-Kragma in Krondor.« Der junge Dieb wich zurück, die Hand am Messer. Die alte Hebamme machte ein Abwehrzeichen mit der Hand, und ihr Mann hatte sich erhoben und bewegte sich auf die Tür zu, wo seine Hippe stand. 354 Zum allgemeinen Erstaunen lachte Jarvis Coe. »Nein, nein, meine Freunde, ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Sie ist die Herrin des Todes, nicht des Mordes. Wir kommen früher oder später alle zu ihr, also hat sie es nicht nötig, jemandem dabei auf die Sprünge zu helfen.« Dann zitierte er in uraltem Dialekt: »Ob Bauer, Krämer, Adelsmann, alle synd ihr Unterthan. Vor ihr synd alle Stende gleich, am weiten Thor zum Totenreich.« Jimmy nickte, blieb aber dennoch wachsam. »Und was bringt Euch auf die Spur von Männern, die Kinder entführen?«, fragte er. »Der Tempel hat etwas gegen Leute, die Todesmagie wirken«, erwiderte Coe. »Warum?«, fragte Jimmy und dachte an die Gerüchte, die er über diese Priesterinnen gehört hatte. »Weil es der Göttin einen schlechten Ruf verschafft«, sagte Coe. »Und das bringt die Tempel in Gefahr. In früheren Zeiten, bevor die Tempel ein Einverständnis mit der Krone erreichten und dem Tempel von Ishap gestatteten, bei Streitigkeiten die Rolle eines
Vermittlers zu übernehmen, gab es mehr als nur einen Aufstand, bei dem eine zornige Menschenmenge einen Tempel unserer Göttin plünderte und die Betenden tötete. Selbst nach hundert Jahren Frieden zwischen den Tempeln besteht immer noch ein gewisses Potenzial für Unheil; wenn die Leute von solchen Dingen erfahren, wie sie hier geschehen, glauben sie nur zu gerne, die Priesterinnen von Lims-Kragma hätten damit zu tun. Außerdem stehlen diese Leute der Göttin etwas: Die Lebensenergie, die zu ihrer Halle zurückkehren sollte, um dort beurteilt zu werden, kann bei der nächsten Drehung des Lebensrads nicht 355 den angemessenen Platz erhalten. Diese Seelen werden gequält, gefoltert und verschwinden schließlich, als hätten sie nie existiert. Es ist eine Abscheulichkeit, eine Ketzerei der übelsten Art. Aus solchen Praktiken ist immer bloß Schaden entstanden, und nur wirklich böse oder dumme Menschen verschreiben sich ihnen.« Er zeigte die Zähne. »Und ich bin der >Schaden