Atlan - Der Held von Arkon Nr. 196
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Atlan - Der Held von Arkon Nr. 196
Der Blaue von Somor Die Mikrowelt zeigt ihre Tücken Atlan auf der Flucht vor Sklavenjägern und Dämonen von Marianne Sydow Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol Hl. ein brutaler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten ließ, um selbst die Herrschaft antreten zu können. Gegen den Usurpator kämpft Gonozals Sohn Atlan, Kristallprinz und rechtmäßiger Thronerbe des Reiches, mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen, die Orbanaschols Helfershelfern schon manche Schlappe beibringen konnten. Mit dem Tage jedoch, da der Kristallprinz Ischtar begegnet, der schönen Varganin, die man die Goldene Göttin nennt, scheint das Kriegsglück Atlan im Stich gelassen und eine Serie von empfindlichen Rückschlägen begonnen zu haben, die schließlich zu einer erneuten Versetzung des Arkoniden in die Mikrowelt führten. Dort – nach turbulenten und gefahrvollen Abenteuern mit Dophor, Gjeima und den Jansonthenern – hat Atlan weder von Grek 3, dem Erfinder des »Zwergenmachers«, noch von Prinzessin Crysalgira, dem Experimentierobjekt der Maahks von Skrantasquor, bisher eine Spur entdecken können. Doch Atlan gibt trotz widrigster Umstände nicht auf. Er schlägt sich durch – und sein seltsamer Begleiter auf dem Wege durch die Tücken der Mikrowelt ist DER BLAUE VON SOMOR …
Der Blaue von Somor
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Kristallprinz lernt die Tücken der Mikrowelt kennen. Beikla und Zickjal - Zwei Bruchpiloten von Somor. Unao und Saia - Mitglieder eines allzu freundlichen Völkchens. Vruumys - Ein Raumfahrer des Mikrokosmos.
1. In meinem Kopf dröhnte es, als hätte man darin eine riesige Glocke angeschlagen. Fauler Gestank drang mir in die Nase. Ich fühlte Schlamm unter meinen Händen. Mir war kalt. Über das Dröhnen in meinem Kopf hinweg hörte ich das Glucksen von fließendem Wasser, dazwischen ein schmatzendes Geräusch. Ich stemmte mich mühsam mit den Armen hoch, und das Schmatzen verstummte. Dafür zerriß ein urweltliches Brüllen mir fast die Trommelfelle. Ein stechender Schmerz raste durch meine Stirn, als ich meine von Schweiß und Schlamm verklebten Augen aufzwang. Fünf Meter entfernt hatte ein riesiges Tier die säulenförmigen Beine in den Schlamm gerammt. Es hielt den Kopf gesenkt. Tückische, blutunterlaufene Augen starrten mich an, und die Spitzen der gewaltigen Hörner glitzerten vor Nässe. Aus den faustgroßen, violetten Nüstern drangen kleine Dampfwolken. Ein Vorderbein hob sich und schlug ein paar Schlammbrocken aus dem Boden. Ich tastete an meinem Körper entlang – der Gürtel war leer. Nicht einmal ein Messer steckte in den Schlaufen. Das Tier unternahm einen kurzen Ausfall in meine Richtung. Es raste auf mich zu, als wollte es mich in den Boden stampfen, aber plötzlich kehrte es an seinen Ausgangspunkt zurück, blieb dort stehen und betrachtete mich wütend. Ich ignorierte das Dröhnen in meinem Kopf und das schmerzhafte Ziehen in sämtlichen Muskeln. Mit einem wilden Schrei sprang ich auf. Meine Füße fanden keinen festen Halt in dem wässerigen Schlamm, und ich ruderte verzweifelt mit den Armen
in der Luft herum. Das wirkte auf meinen Gegner aus irgendeinem Grund furchteinflößend. Der Koloß warf sich beinahe in der Luft herum und stürmte auf die mit graugrünem Gestrüpp bewachsene Böschung zu. Als ich den Kampf gegen die Schwerkraft aufgab und in den Schlamm zurückplumpste, verschwand das gehörnte Ungetüm gerade über den Rand der Böschung. Ich blieb sitzen und sah mir endlich die Umgebung an, in der ich erwacht war. Die Schlammbank füllte eine kleine Bucht im felsigen Ufer des Stromes aus. Hinter mir, wo das Wasser um scharfe Klippen gurgelte, klammerte sich ein verkrüppelter Baum mit seinen zähen Wurzeln fest. Einer der untersten Äste hatte den Ballonkorb aufgefangen, in dem ich in der vergangenen Nacht den Fluß hinabgetrieben war. Ein feiner kalter Regen fiel. Der Himmel war von einer dichten, bleigrauen Wolkenschicht überzogen, und das jenseitige Ufer des Stromes verschwamm im Dunst. Mühsam rappelte ich mich auf und watete zu den Überresten des Ballons hinüber. Die hölzerne Gondel war schon vorher nicht gerade wasserdicht gewesen. Jetzt klafften breite Lücken in der Außenwand, und der Innenraum war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Ich suchte nach Ausrüstungsgegenständen, die die wilde Fahrt überstanden hatten, fand jedoch nichts. Ein leichter Wind kam auf und trieb mir den Regen ins Gesicht. Ich zitterte vor Kälte. Meine Kombination klebte wie ein nasser Panzer auf meiner Haut. Ich wandte mich der Böschung zu und folgte den Spuren des riesigen Tieres. Sie brachten mich zu einem Trampelpfad von beachtlicher Breite, der schnurgerade den steilen Hang hinaufführte. Rechts und links wuchsen niedrige Büsche. Sie waren spärlich belaubt, dafür aber mit zahlreichen
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scharfen Dornen besetzt. Der Aufstieg war mich und meine Kleider trocknen konnte. äußerst unbequem, denn der Pfad war nicht Rechts ragte in geringer Entfernung ein nur steil, sondern auch ungeheuer glitschig. Gewirr von Felsbrocken auf, in dem ich ein Keuchend erreichte ich eine grasbewachtrockenes Plätzchen zu finden hoffte. Kurz sene Fläche, von der aus ich endlich das Gevor dem Ziel sah ich einen kleinen Baum, an lände hinter der Böschung überblicken dessen dürren Zweigen faustgroße, goldgelkonnte. Der Anblick war entmutigend. be Früchte hingen. Der bloße Anblick brachRechts und links kennzeichneten niedrige te meinen Magen zum Knurren. Gierig riß Felsen und kümmerliche Bäume den Verlauf ich eine Frucht ab – und schleuderte sie mit des Flusses. Landeinwärts erstreckte sich eieinem Fluch ins Gras. ne weite, leicht gewellte Grasfläche, die stelMeine Hand brannte, als hätte ich weißlenweise von graugrünen Buschgruppen und glühendes Metall berührt, und eine Welle stumpf glänzenden Wasserlachen durchbrovon Schmerzen jagte durch meinen rechten chen wurde. Nirgends gab es auch nur eine Arm. Hastig wischte ich die Hand an einem Spur von Besiedlung. Die unglückselige Büschel Moos ab, und die Schmerzen ließen Fahrt den Fluß hinunter hatte mich in eine etwas nach. Ich schlug einen beachtlichen menschenleere Gegend dieses Planeten geBogen um den gemeingefährlichen Baum. bracht. Wie sollte ich hier einen Hinweis Einige Sekunden darauf vergaß ich den darauf finden, wohin es die arkonidische Vorfall, denn plötzlich bemerkte ich ein GePrinzessin Chrysalgira und den Wasserstoff-Me- räusch, das nicht in diese Einöde paßte. Ich than-Atmer Grek-3 verschlagen hatte? blieb stehen und lauschte. Das ferne BrumGenau wie ich waren diese beiden ungleimen schwoll allmählich an und ließ sich wechen Wesen durch den »Zwergenmacher« nig später deutlich identifizieren. Es handelder Maahks in den Mikrokosmos versetzt te sich um das Arbeitsgeräusch eines Motors worden. Ich betrachtete es als selbstverund kam eindeutig aus der Luft. ständlich, daß wir auf ein und demselben Ein Flugzeug? Planeten des Miniaturuniversums angekomIch starrte nach oben, aber die dicken Remen waren, aber bisher hatte ich vergeblich genwolken hingen tief herab, und ich sah nach ihnen gesucht. Die einzigen, die mir etnichts. Dafür mischte sich in das Brummen was über ihren Verbleib verraten konnten, ein hohes, dünnes Pfeifen. Als die Quelle waren die Eingeborenen dieser Welt. Ich des Geräusches über mich hinwegzog, duckhatte bereits mit mehreren Stämmen Kontakt te ich mich unwillkürlich, und dann endlich gehabt und dabei zum Teil recht unerfreulisah ich die seltsame Maschine. che Erfahrungen gesammelt. Von dem Sie schwebte höchstens zwanzig Meter Maahks und der Prinzessin wußten sie über den letzten Ausläufern der Felsen, es nichts, aber ich gab die Hoffnung nicht auf. mußte in Kürze eine harte Landung geben. Es ging nicht nur darum, den beiden zu helZwar verringerte sich die Geschwindigkeit, fen, sondern ich mußte auch einen Weg finaber der Winkel, in dem das Flugzeug sich den, auf dem ich den Mikrokosmos wieder dem Boden näherte, war ausgesprochen geverlassen konnte. Grek-3 kannte sich mit fährlich. dem Molekularverdichter, dem wir unsere Ein merkwürdigeres Flugzeug als dieses Lage verdankten, bestens aus. Darum hoffte hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Es ich, daß er uns auch den Rückweg zu zeigen mochte zehn Meter lang sein und bestand vermochte. hauptsächlich aus einem Gewirr von aneinIch mußte niesen, und das brachte mich andergefügten Metallstreben. Im vorderen zu der Einsicht, daß ein ganz anderes ProTeil dieses langgestreckten Gitterkäfigs sablem im Augenblick Vorrang hatte. Ich ßen zwei fast kugelrunde Gestalten. Nur darbrauchte einen Unterschlupf, in dem ich an, daß der eine der beiden Flugkünstler auf-
Der Blaue von Somor geregt mit den Armen herumfuchtelte, erkannte ich, daß es sich bei den Kugeln überhaupt um Lebewesen handelte. Ich sah den wirbelnden Kreis eines Propellers und die beiden viel zu kleinen Tragflächen und wunderte mich darüber, daß dieses Gerät sich überhaupt in die Lüfte erhoben hatte. Einer der beiden Piloten bemühte sich verzweifelt, die Nase der Maschine aufzurichten, aber der Versuch scheiterte kläglich. Das hochbeinige Fahrgestell berührte kurz den Boden und brach mit einem häßlichen Knirschen ab. Schwerfällig wie ein verwundeter Vogel tat das Flugzeug einige Sprünge, bei denen die Insassen von ihren Sitzen geworfen wurden, dann rutschte es noch ein Stück durch eine ausgedehnte Schlammpfütze und drehte sich dabei auf die Seite. Als es endlich zum Stillstand kam, ragte die eine Tragfläche steil in die Höhe, während die andere zweifellos abgebrochen war. Ich rannte durch das kniehohe Gras zu der Unglückstelle. Als ich das Wrack erreichte, gab der Motor gerade eine letzte Serie blubbernder Geräusche von sich, dann verstummte er, und dafür erklang ein wildes, absolut unverständliches Schnattern. Ich spähte in das Gewirr der Streben und entdeckte einen der kugelrunden Passagiere. Der Fremde steckte unmittelbar unter einem der Sessel zwischen zwei Metallstangen und zeterte fürchterlich. Ein kurzes Stück vor ihm lag sein Gefährte bewegungslos zwischen einem Wust von Decken und Ausrüstungsgegenständen. Ich sah mich vergeblich nach einer Lücke um, die groß genug war, um in den Gitterrumpf einzudringen und den beiden zu Hilfe zu eilen. Das laute Palaver des eingeklemmten Fremden riß keine Sekunde lang ab, und erst als ich mit den Fäusten gegen die Streben hämmerte, wandte er den Kopf in meine Richtung. Er trug einen Schutzhelm, dessen Sichtteil so mit Schlamm bespritzt war, daß ich von dem Mann selbst vorläufig fast nichts sah. Von seinen lautstarken Anweisungen verstand ich natürlich nichts, und er brauchte
5 eine Weile, um diese Tatsache zu verdauen. Als er in seiner Ratlosigkeit endlich einmal den Mund hielt, versuchte ich es mit der Sprache der Dophor-Sippe. »Wo ist die Tür?« Sekundenlang blieb es still, dann ruckte der Arm des Dicken hoch. Ich sah in die angegebene Richtung und entdeckte einen Riegel. »Nach rechts schieben!« radebrechte die Kugel mühsam. Der primitive Mechanismus hatte sich verklemmt. Erst nach einigen Anstrengungen gelang es mir, den Riegel zu verschieben. Ein ohrenbetäubendes Knacken und Rasseln veranlaßte mich dazu, schnell zur Seite zu springen. Es war auch höchste Zeit, denn ein beträchtlicher Teil der Gitterwand hatte durch meine Manipulationen den Halt verloren und kippte mir entgegen. Die Kugel begann schon wieder zu schimpfen. »Ruhe!« brüllte ich ungeduldig. »Du gibst dem Flugzeug den Rest!« keifte der Kleine zurück. »Wenn du so weitermachst, wird kein Stück davon mehr ganz bleiben!« Mir stockte der Atem angesichts einer derartigen Unverschämtheit. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und den Fremden seinem Schicksal überlassen. Sei nicht albern! schimpfte mein Extrahirn lautlos. Das Flugzeug ist gar nicht so schwer beschädigt. Wenn du mithilfst, es zu reparieren, hast du eine gute Chance, diese menschenleere Gegend schnell zu verlassen. Schweigend kletterte ich zu den beiden Fremden in die Maschine. Ohne mich um das wütende Geschnatter des Eingeklemmten zu kümmern, durchwühlte ich den Haufen von Werkzeugen, der sich während der Bruchlandung selbständig gemacht hatte, fand einen Schraubenschlüssel und wandte mich damit meinem ersten Opfer zu. Der Dicke verstummte abrupt, als er das klobige Werkzeug sah. Er zog den Kopf ein, und ich grinste. Der Fremde war nicht ganz so mutig, wie sein Mundwerk erwarten ließ.
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Ich besah mir die Bescherung und stellte fest, daß alles halb so schlimm war, wie es zuerst ausgesehen hatte. Eine halbe Stunde später verließen die beiden fremden Piloten schlammverschmiert das Wrack. Ich folgte ihnen erschöpft. Erst jetzt wurde mir die Konsequenz dieser seltsamen Begegnung bewußt: mein Plan, möglichst bald erneut Verbindung mit den Bewohnern dieser Mikrowelt aufzunehmen, war schneller in Erfüllung gegangen, als ich es mir hätte träumen lassen.
* Der kleine Fremde, der mich so ausdauernd beschimpft hatte, hörte auf den zungenbrecherischen Namen Beiklanterfaceris, was ich aus Gründen der Rationalisierung rigoros abkürzte. Ich nannte ihn »Beikla«. Das mißfiel ihm zwar, aber er wagte es nicht, gegen diese Verschandelung seines Namens zu protestieren. Seit er aus dem Wrack geklettert war, benahm er sich mir gegenüber etwas höflicher. Ich vermutete, daß das mit meiner Körpergröße zusammenhing. Selbst mit dem umfangreichen Schutzhelm auf dem Kopf reichte Beikla mir nur knapp über die Hüften. Er zeigte sich sehr besorgt um Zickjal, seinen Gefährten, der erst nach intensiven Wiederbelebungsversuchen die Augen aufschlug – oder doch jedenfalls das, was diesen kleinen Piloten als Sehorgan diente. Beikla bettete seinen benommenen Artgenossen auf ein Bündel Decken und begann dann umständlich, sich zu entblättern. Ich sah mir inzwischen das Flugzeug genauer an, um einen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung zu gewinnen. Mein Extrahirn behielt wieder einmal recht. Ich schätzte, daß wir knapp zwei Tage für die Reparatur brauchen würden. Als ich von meinem Rundgang zurückkehrte, erkannte ich Beikla kaum wieder. Er war inzwischen arg zusammengeschmolzen. Zwar konnte man ihn beim besten Willen nicht als schlank bezeichnen, aber er besaß
von Natur aus tatsächlich nicht die Form einer Kugel. Neben ihm türmte sich ein Berg von Kleidungsstücken, der fast so groß war wie das Männlein selbst. »Es ist sehr kalt da oben«, machte Beikla mir klar, als er meinen erstaunten Blick auffing. »Das kann ich mir vorstellen«, nickte ich. »Wäre es nicht besser gewesen, das Flugzeug mit Wänden auszustatten? Durch das Gitterwerk streicht der Fahrtwind ja völlig ungehindert hindurch!« »Es handelt sich um einen Prototyp!« antwortete Beikla würdevoll und zerrte wild an einem Riemen, der sich um seine ausladenden Hüften schlang. »Unsere besten Techniker haben Jahre gebraucht, um dieses Wunderwerk zu bauen. Durch unseren Flug haben wir wertvolle Erfahrungen gewonnen, die uns bei der Planung des nächsten Modells helfen werden.« »Um diese Erfahrungen den verantwortlichen Technikern mitzuteilen, müßtet ihr aber erst einmal zu ihnen zurückkehren«, machte ich ihn taktvoll auf eine kleine Schwierigkeit aufmerksam. Beikla gab den Kampf mit dem Riemen auf. Als er aufhörte, am falschen Ende zu ziehen, löste sich das Problem von selbst. Der Riemen verlor seine Spannung, und die wattierte Hose, die den letzten Teil der umfangreichen Schutzkleidung bildete, rutschte dem Kleinen in die Kniekehlen. »Wir werden das Flugzeug reparieren!« sagte er. »Du wirst uns dabei unterstützen!« Ich war überrascht. Zwar entsprach das genau meinen Vorstellungen, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Beikla erwartete, daß ich ihm und seinem Freund half, war verblüffend. Für Beikla war das Thema damit erledigt. Er wandte sich seinem Gefährten zu und schälte auch ihn aus seinen zahlreichen Hüllen. Ich setzte mich auf eine leidlich saubere Decke und wartete geduldig. Dabei hatte ich Gelegenheit, mir die beiden Bruchpiloten genauer anzusehen.
Der Blaue von Somor Ihre makellos glatte, himmelblaue Haut war völlig unbehaart. Arme und Beine wirkten im Verhältnis zu den rundlich geformten Körpern lächerlich dünn und kurz. Die kleinen Hände wiesen fünf Finger auf, die wie Würstchen aussahen, die man am vorderen Ende plattgeklopft hatte. Auf einem kurzen, dünnen Hals saß der kugelrunde Kopf, der sich in alle Richtungen drehen ließ. Ein breiter, dünnlippiger Mund lag über einem kaum angedeuteten Kinn. Wurde er zu einem Lächeln verzogen, so sah man zwei Reihen winziger, nadelspitzer Zähne. Die Nase über diesem Schlitzmund war nicht viel mehr als eine kleine Murmel mit zwei Löchern. Darüber verlief ein Augenband mit einem halben Dutzend Pupillen darin quer über das Gesicht, das zu beiden Seiten von sehr großen, dünnhäutigen, flach an den Schädel gedrückten Ohrmuscheln begrenzt wurde. Endlich hatte auch Zickjal sich unter Beiklas Hilfestellung aus seiner panzerartigen Bekleidung befreit. Die beiden Fremden legten dünne, orangefarbene Gewänder an, stärkten sich aus einer Feldflasche, die Beikla aus dem Flugzeug holte, und waren nunmehr dazu bereit, sich mit den anfallenden Problemen zu beschäftigen. »Wo sind wir eigentlich gelandet?« wollte Zickjal wissen. Beikla blickte mich fragend an. »Ich weiß es nicht«, erklärte ich. »Ich wurde den Fluß hinuntergetrieben und habe keine Ahnung, in welchem Land ich mich finde. Woher kommt ihr?« »Von sehr weit her!« verkündigte Beikla wichtigtuerisch. »Wir sind Somorer. Unser Land liegt im Süden, am Blauen Meer. Hast du noch nie von uns gehört?« »Nein«, erwiderte ich kurz. Beikla holte tief Luft. »Die Somorer«, begann er pathetisch, »gehören zu den technisch am weitesten fortgeschrittenen Völkern dieser Welt. Wir haben bereits unzählige Wunder vollbracht, und unser Ruhm reicht bis in die fernen Schneeberge. Aus welcher Fremde kommst du, daß du so unwissend bist?«
7 »Von jenseits der Schneeberge«, behauptete ich, um die Diskussion abzukürzen. Es hatte wenig Sinn, den beiden die Wahrheit auseinanderzusetzen. Wenn sie diese Karikatur von einem Flugzeug als technisches Wunder betrachten, mußten sie den Mikrokosmos zwangsläufig für ein Märchen halten. »Jenseits der Schneeberge hausen nur Barbaren und Tiermenschen«, warf Zickjal mit breitem Grinsen ein. »Ich glaube nicht, daß Atlan uns bei der Reparatur helfen kann!« »Er ist stark«, gab Beikla zu bedenken. »Außerdem glaube ich ihm kein Wort. Der Strom kommt aus der Richtung, in der der große Ruinenwald liegt. Er ist bestimmt ein entsprungener Sklave. Sonst würde er sich nicht ohne Begleitung in dieser gefährlichen Gegend herumtreiben!« Die beiden unterhielten sich über dieses Thema so ungeniert, als wäre ich gar nicht vorhanden. Sie mußten wirklich sehr von sich überzeugt sein, denn sie kamen überhaupt nicht auf die Idee, daß sie mich etwa beleidigen könnten. Nach einer unergiebigen Diskussion über meinen Wert erhob sich Beikla, kroch in das Wrack und kehrte nach einigen Minuten zurück. Als er die Blätter feierlich entfaltet und auf dem Boden ausgebreitet hatte, sah ich, daß es sich um eine Landkarte handelte. Sie war handgezeichnet und wies eine imponierende Zahl von weißen Flecken auf. »Das ist der Fluß«, murmelte Beikla im Ton einer geheimnisvollen Beschwörung. »Dort, liegt der Ruinenwald, und hier das Blaue Meer. Wir haben den Dreifluß überquert und sind dann nach Norden abgetrieben. Also müssen wir uns jetzt ungefähr hier befinden.« Seine Froschhand bedeckte ein Gebiet von der Größe eines kleinen Kontinents. Ich beugte mich ebenfalls über die Karte, in der Hoffnung, dort Näheres über dieses Land zu erfahren, aber die wenigen Linien und Zeichen sagten mir nichts. »Wah!« machte Zickjal ehrfürchtig. »Wir
8 sind weit geflogen! Diese Maschine ist tatsächlich ein Wunderwerk. Das ist Moltaphur, nicht wahr?« »Moltaphur!« bestätigte Beikla düster. »Und das heißt nichts anderes, als daß wir über zwanzig Tagesreisen von Somor entfernt sind, falls es uns nicht gelingt, dieses Fahrzeug zu reparieren.« Sie schwiegen nachdenklich. »Das dürfte nicht besonders schwer sein«, machte ich mich bemerkbar. Die beiden Kleinen sahen erstaunt zu mir hoch. »Was verstehst du schon davon?« wehrte Beikla verächtlich ab. »Ein Barbar …« Nun reichte es aber! Wenn ich mit den beiden Unglücksvögeln friedlich auskommen wollte, mußte ich jetzt ein für allemal die Fronten klären. »Ich bin kein Barbar!« teilte ich ihnen in sehr bestimmtem Tonfall mit. »Und euer Flugzeug flößt mir nicht die geringste Achtung ein. Im Gegenteil, ich bewundere eher euren Mut, mit diesem Klapperkasten überhaupt einen Flug zu wagen. Es ist erstaunlich, daß ihr so weit gekommen seid, ohne abzustürzen. Aber ich denke, wir können dieses Wrack soweit in Ordnung bringen, daß es uns eurem herrlichen Somor wenigstens ein kleines Stück näher bringt. Voraussetzung ist allerdings, daß wir zusammenarbeiten. Also: fangen wir an, oder habt ihr Sehnsucht nach einem längeren Fußmarsch?« Sie blinzelten verwirrt mit ihren Augenbändern, dann raffte Beikla sich dazu auf, zu fragen: »Wie willst du beweisen, daß du etwas von unserer Technik verstehst?« »Indem ich dir jetzt genau erklären werde, was du zu tun hast!« fuhr ich ihn ärgerlich an. »Vielleicht ist er wirklich nicht so dumm, wie er aussieht«, meinte Zickjal vorsichtig. »Auf jeden Fall ist er stärker als wir!« Beikla musterte erst mich, dann das Wrack, das in seiner derzeitigen Lage nicht gerade majestätisch wirkte, dann seufzte er
Marianne Sydow abgrundtief. »Was verlangst du für deine Hilfe?« erkundigte er sich resignierend. »Ihr nehmt mich mit!« Zickjal schniefte leise. »Es gibt nur zwei Sitze«, wandte er kleinlaut ein. »Dann werden wir noch einen einbauen!« knurrte ich. »Worauf wartet ihr? An die Arbeit!«
2. Der Regen hatte aufgehört. Über der Steppe wallten dichte Nebel-Schwaden. Die Feuchtigkeit schlug sich nieder, und besonders gründlich tat sie das auf den Metallteilen, die ich vor mir hatte. Ich wischte mir fluchend die Tropfen von der Stirn. Schweiß mischte sich mit Kondenswasser und ergab eine teuflische Mischung, die meine Augen zum Tränen brachte. Neben mir arbeitete Zickjal mit einem Schraubenschlüssel. Er war im Verlauf der letzten Stunden immer freundlicher zu mir geworden. Ich konnte mir denken, woher dieser Gesinnungswandel kam. Um es schonend auszudrücken: die beiden Somorer gehörten nicht eben zu den Kraftprotzen. In ihren rundlichen Körpern steckte eine erstaunliche Zähigkeit, und sie arbeiteten mit einer Ausdauer, die mir Hochachtung abnötigte. Ging es jedoch um die Anwendung roher Muskelkraft, versagten sie kläglich. Ohne meine Hilfe hätten sie mindestens eine Woche für diese Reparatur gebraucht. Der Nebel hielt den ganzen Tag über an. Als das Licht so schlecht wurde, daß jedes weitere Arbeiten dadurch unmöglich wurde, hatten wir einen beträchtlichen Teil unserer Aufgabe gelöst. Die Tragfläche war wieder fest angeschraubt, der Rumpf des Flugzeugs aufgerichtet, und alle Schrauben, die sich bei der Bruchlandung gelockert hatten, waren nachgezogen. Zum Glück war keine der Metallstreben zerbrochen. Inzwischen hatte wohl auch Beikla einge-
Der Blaue von Somor sehen, daß es besser war, mich höflich zu behandeln. Jedenfalls teilte er mir beim Abendessen eine reichliche Portion trockenes Brot, Dörrfleisch und eine Flasche mit säuerlich schmeckendem Fruchtsaft zu. »In eure berühmte Stadt kommen sicher auch viele Fremde«, bemerkte ich, als wir uns satt und müde gegen den Rumpf des Flugzeugs lehnten. »Sehr viele!« prahlte Beikla prompt. »Naja, ein paar«, verbesserte Zickjal gutmütig. »Ich suche nach einem Mädchen«, erklärte ich. »Es sieht so ähnlich aus wie ich, und bei ihm ist ein Mann, der in einem grauen Anzug steckt, keinen Hals hat und unsere Luft nicht atmen kann. Habt ihr einen von den beiden gesehen?« Sie überlegten, verneinten dann jedoch die Frage. Ich seufzte. Immer noch keine Spur! »Sind das auch Sklaven?« fragte Beikla interessiert. Zickjal versetzte ihm einen Rippenstoß und blinzelte mich gutmütig an. »Nimm es ihm nicht übel«, bat er und wandte sich dann an seinen Gefährten: »Schlaf jetzt lieber. Wenn du müde bist, erzählst du doch nur Unsinn.« Beikla schien verwirrt, wickelte sich jedoch gehorsam in seine Decke und schlief sofort ein. Zickjal wollte es ihm gerade nachmachen, da fiel mir etwasein. »Halt!« rief ich. »Und wer hält Wache?« »Wozu soll das gut sein?« wollte Zickjal verwundert wissen. »Wir könnten angegriffen werden«, entgegnete ich verständnislos. »Es gibt wilde Tiere, vielleicht sogar Eingeborene in dieser Gegend.« »Wir wachen schon rechtzeitig auf, wenn etwas passiert«, versprach der Somorer gleichgültig, zeigte gähnend seine zahlreichen Zähne und steckte den Kopf unter die Decke. Als ich den Blauen ärgerlich anstieß, erntete ich nur ein unwilliges Schnaufen. Der Nebel war so dicht, daß ich das Ende des Flugzeugrumpfes nur verschwommen
9 erkennen konnte. Es schien tatsächlich sinnlos, unter diesen Umständen eine Wache aufzustellen. Ich lehnte mich zurück und starrte in die Dämmerung. Meine Gedanken kreisten um Chrysalgira, Grek-3 und die Frage, wie wir den Mikrokosmos verlassen sollten. Bei meinem ersten, unfreiwilligen Besuch im Reich der kleinsten Dinge war alles so ganz anders gewesen. Ich begriff erst jetzt, daß ich mehr Glück als Verstand gehabt hatte, als ich damals so schnell und mühelos den Rückweg fand. Dann kam mir Orbanaschol wieder in den Sinn, und ich malte mir aus, welche Überraschung es für ihn sein würde, wenn ich plötzlich mitten in seinem Palast aus dem Miniaturuniversum auftauchte, um den Mord an meinem Vater zu rächen. Über diesen Wachträumen schlief ich ein.
* Der Morgen brachte eine Überraschung ganz besonderer Art. Eines der riesigen Horntiere hatte sich in unsere Nähe verirrt und verwechselte offensichtlich unser Flugzeug mit einem Rivalen, der in sein Revier eingedrungen war. Ein lautes Krachen schreckte mich aus dem Schlaf. Ich fuhr hoch und erblickte das Biest, wie es sich mit gesenktem Kopf und dampfenden Nüstern auf genau die Stelle des Gitterrumpfes stürzte, deren Reparatur uns besonders viel Schweiß gekostet hatte. Die Wut darüber, daß das liebe Tierchen drauf und dran war, unsere Arbeit zunichte zu machen, ließ mich jede Vorsicht vergessen. Ich entsann mich meines ersten Zusammentreffens mit dieser Spezies und sprang mit lautem Gebrüll auf. Aber ich hatte Pech. Dieses Exemplar war bei weitem nicht so geräuschempfindlich wie sein Kollege von der Schlammbank. Der Bulle stutzte nur kurz, warf mir einen bitterbösen Blick zu und stürmte dann weiter. Die langen Hörner senkten sich krachend in das Gitterwerk. Das ganze Flugzeug erbebte unter diesem Aufprall.
10 Neben mir im Gras lag eine kurze Strebe, die zum Fahrgestell gehörte. Während ich mich danach bückte, zog der Bulle mit einiger Mühe die gekrümmten Hörner aus dem Flugzeugrumpf. Er verharrte, betrachtete mich nachdenklich und beschloß dann, zuerst diesen herumhüpfenden Ableger seines Gegners auszuschalten. Ich ließ alles stehen und liegen und rannte. Es gab weit und breit weder einen Baum, noch einen Felsen, auf den ich hätte klettern können, und so blieb mir keine andere Wahl, als diese Ansammlung von Metallteilen als Bollwerk zwischen mir und der wutschnaubenden Bestie zu benutzen. Die beiden Somorer lagen unterdessen im Schutz der rechten Tragfläche zwischen ihren warmen Decken und schliefen friedlich. Ich verwünschte sie in alle möglichen Höllen, brüllte wie ein Besessener – sie wachten nicht auf. Auch als das gewichtige Riesentier in weniger als zwei Metern Entfernung an ihnen vorbeitrampelte, störte sie das nicht im geringsten. Roll dich unter eine Tragfläche und bleib still liegen, raunte die lautlose Stimme des Extrahirns mir zu. Wenn das Tier dich nicht mehr vor sich sieht, wird es auch seinen Angriff einstellen. Schon möglich, dachte ich zurück. Dafür wird es dann das Flugzeug in seine Einzelteile zerlegen. Mein Gegner verfolgte mich mit der Sturheit eines Roboters. Er kam im vollen Lauf um die Ecke gestürmt. Auf seinem rechten Horn hing der Propeller. Ich schlüpfte geduckt unter dem Flugzeugrumpf hinweg, denn die Zeit war zu knapp, um das Schwanzende der Maschine zu umrunden. Die Bestie wollte mir auf dem gleichen Weg folgen, hatte aber in der Aufregung ihre eigenen Körpermaße vergessen. Sie rammte ihren gewaltigen Kopf mit solcher Wucht in das Gitterwerk hinein daß sich die Hörner hoffnungslos darin verkeilten. Das Tier raste vor Wut. Seine Versuche, sich aus der Falle zu befreien, blieben erfolglos. Riesige Grasbüschel flogen durch
Marianne Sydow die Luft, und das Flugzeug schwankte, als wollte es jeden Moment umkippen. Ich rannte zur Einstiegluke, zerrte eine Axt zwischen den Werkzeugen hervor und kletterte auf den Gitterrumpf. Das Gestell wackelte, als würde es von einem Erdbeben geschüttelt. Mühsam kroch ich über die Metallstangen an das wütende Tier heran. Als die gefährlichen Spitzen der Hörner nur noch wenige Zentimeter unter mir waren, hob ich die Axt. Da schien das Tier die nahe Gefahr zu spüren. Der Kopf stieß in einer gewaltigen Anstrengung nach oben, und das eine Horn verfehlte meinen Kopf nur um Millimeter. Ich legte alle Kraft in den Schlag, der die Axt nach unten sausen ließ und spürte, wie ich auf Widerstand traf. Gleichzeitig gab es einen heftigen Ruck, und ich glitt von den glatten Streben ab. Noch im Fallen warf ich mich zur Seite. Erdbrocken prasselten auf mich herab. Ich rollte mich aus der unmittelbaren Reichweite der gewaltigen Beine und sprang auf, bereit mich in Sicherheit zu bringen, falls der Bulle sich noch einmal losreißen sollte. Aber ich hatte gut getroffen. Es dauerte nur Sekunden, bis das Leben aus dem zottigen Körper wich. Schweratmend wischte ich mir den Sand aus den Augen und wollte eben meine unerwünschte Beute begutachten, da erscholl hinter mir ein wütender Schrei. »Nun sieh dir das an!« Ich fuhr herum und erblickte Beikla. Er hatte sich endlich aus seihen Decken gewickelt, stand neben der Tragfläche und deutete mit einer anklagenden Gebärde auf mich. »Dieser Vielfraß!« schimpfte er weiter. »Begnügt sich nicht mit einem normalen Tier, sondern muß ausgerechnet einen Riesenbullen jagen! Und dazu wird unser kostbares Flugzeug nun mißbraucht! Atlan, du Dummkopf, konntest du dir nicht eine andere Methode einfallen lassen, um dieses Hornvieh zu fangen?« Zickjal war durch das Gezeter seines Ge-
Der Blaue von Somor fährten ebenfalls erwacht. Er sah sich schlaftrunken um, erblickte dann das Haupt des Untiers und wurde schlagartig munter. »Der Propeller!« schrie er und sprang so hastig auf, daß er sich in seiner Decke verfing und bäuchlings in der letzten Schlammpfütze landete, die sich noch in der Nähe des Flugzeugs gehalten hatte. »Das Biest hat den Propeller abgerissen. Warum hast du das nicht verhindert?« Ich setzte zum Sprechen an, aber Beikla schnitt mir das Wort ab. »Unerhört!« keifte er. »Siehst du nicht, was er angestellt hat, Zickjal? Er hat den Bullen hierhergelockt und dafür gesorgt, daß das dumme Biest seine Hörner in unserem Flugzeug festhakte, damit er es in aller Ruhe erschlagen konnte. Wir sollten ihn davonjagen! Wie kann ein Mensch nur so gefräßig …« »Ruhe!« brüllte ich, aber Beikla hörte gar nicht erst hin. Ich drehte mich um und hob die blutverschmierte Axt auf. Als ich sie drohend durch die Luft schwang, verstummten die beiden Somorer auf einen Schlag. »Schluß mit der Komödie!« sagte ich wütend. »Ich werde euch erklären, was passiert ist.« Ich trat einen Schritt vor, und Zickjal robbte hastig unter die Tragfläche zurück. »Er ist verrückt geworden!« hörte ich ihn leise jammern. »Der Bulle genügt ihm noch nicht. Ich habe ja gleich gesagt, daß er ein Barbar ist! Wen er sich wohl zum Nachtisch aussuchen wird?« »Zickjal, halt den Mund!« fauchte ich und setzte den Somorern dann auseinander, was der Bulle beabsichtigt hatte. »Ist das wahr?« erkundigte Beikla sich mißtrauisch. Er wandte keinen Blick von dem Ungetüm. »Du kannst deinen Freund fragen. Ich habe gestern abend noch gesagt, es wäre besser, eine Wache aufzustellen. Aber auf mich hört ja niemand.« »Er hat recht«, murmelte Zickjal und lugte unter der Tragfläche hervor. »Atlan, tu mir einen Gefallen und lege endlich diese
11 Axt aus der Hand!« Ich warf das Mordwerkzeug ins Gras. Beikla zögerte kurz, dann trat er vorsichtig näher. »Ist er wirklich tot?« fragte er. »Nein«, knurrte ich. »Er macht nur ein Nickerchen. Den Propeller benutzt er als Schlafmütze.« Der Somorer wagte sich zentimeterweise an den Kadaver heran. Mißtrauisch streckte er die rechte Hand aus und tippte gegen den massigen Kopf. Die Tatsache, daß der Bulle nicht reagierte, verlieh ihm Mut. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und ergriff eines der riesigen Hörner. Prüfend rüttelte er daran, dann sprang er fast einen halben Meter hoch in die Luft. »Er ist tot!« kreischte er mit überschnappender Stimme. »Wir haben den großen Bullen besiegt. Der Gegner war groß und stark, und seine Hörner trieften von Gift, aber wir waren schlauer. Wer wagt es, einen Kampf gegen uns Somorer zu führen, nachdem wir diese Heldentat vollbrachten!« Ich sah ihm kopfschüttelnd zu. Etwas Blaues flitzte blitzschnell an mir vorbei, ein orangefarbenes Gewand wehte vor meiner Nase, dann beteiligte sich auch Zickjal an diesem Freudentanz. Er hüpfte mit der Grazie eines Gummiballs um das tote Riesentier herum, raste dann zurück und holte die Axt. Die Schneide blitzte kurz in der Luft auf. Der lange, von einem leuchtend gelben Haarbusch gezierte Schwanz des Bullen fiel in das zerwühlte Gras. Triumphierend schwang Zickjal seine Beute durch die Luft und stimmte dabei einen somorischen Siegesgesang an, der meine Trommelfelle zum Klingen brachte. Da die beiden kleinen Männer keine Anstalten machten, sich wieder normal zu benehmen, wandte ich mich ab und begab mich auf die Suche nach etwas Eßbarem. Während ich ein Stück von dem zähen Dörrfleisch herunterwürgte, klang die Begeisterung der Somorer allmählich ab. Ich hörte ein ärgerliches Schnaufen und drehte mich um. Beikla stand hinter mir. Er hielt die Axt
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Marianne Sydow
in der Hand und druckste verlegen herum. »Was willst du?« fragte ich mit vollem Mund. »Wir schaffen es nicht, die Hörner abzuschlagen«, erklärte er unglücklich. »Für dich wäre das bestimmt kein Problem.« Ich nickte gleichmütig und kaute weiter. Beikla trat von einem Fuß auf den anderen. Er hielt die Axt so ungeschickt, daß ich Angst bekam, er würde sich damit selbst amputieren. »Könntest du uns nicht schnell mal helfen?« platzte er nach einer Weile heraus. »Wenn ich gegessen habe«, brummte ich. »So lange wird es doch noch Zeit haben, nicht wahr?«
* »Wir sind reich!« schwärmte Zickjal und streichelte liebevoll das eine Horn. »Die Mädchen werden vor unserer Tür Schlange stehen, um diese Trophäen zu betrachten!« murmelte Beikla glücklich und wiegte das andere wie ein Baby in seinen Armen. »Erst müßt ihr zu Hause sein«, versuchte ich sie aus ihrem Glücksrausch zu wecken. »Laßt endlich diesen Kram liegen und kümmert euch um das Flugzeug!« »Das kann warten!« erklärte Beikla und musterte nachdenklich den Kadaver, der jetzt neben dem Fluggerät lag. Ein versonnenes Lächeln glitt über sein Gesicht, und seine zahlreichen Pupillen glitzerten gierig. »Stell dir nur vor, wie das Fell an der Stirnwand des Salons wirken wird!« wandte er sich an seinen Freund. »Da bekommt es zu wenig Licht«, widersprach Zickjal skeptisch. »Ich wäre eher dafür, es vor dem Fenster auszubreiten. Da sieht man erst richtig das ganze Farbenspiel und die vielen feinen Punkte!« »Ans Fenster, ha!« knurrte Beikla erbost. »Damit jeder Trottel darauf herumtrampelt, wie? Nein, an die Wand gehört es! Und da wird es auch hinkommen.« »Das wird es nicht!« mischte ich mich un-
gefragt in das Gespräch. »Weil es nämlich hierbleibt. Es sei denn, ihr häutet dieses Monstrum selbst. Die Reparaturen sind wichtiger. Dieses Biest hat eine Menge Schaden angerichtet und unseren ganzen Zeitplan durcheinandergeworfen. Wie lange wollt ihr noch untätig herumsitzen?« Zuerst waren sie sprachlos. Dann schnatterten sie sich geraume Zeit in ihrer Heimatsprache an. Ich ergriff inzwischen einen Fettstift aus ihrem Gepäck, wanderte um das Wrack herum und kennzeichnete die Stellen, die die Bestie demoliert hatte. Als ich zurückkehrte, herrschte verdächtige Stille. »Nun, was ist jetzt schon wieder los?« erkundigte ich mich ärgerlich. Natürlich war es Beikla, der die Verhandlungen übernahm. »Du willst deine Freunde unbedingt finden, nicht wahr?« begann er listig. Ich nickte, und er fuhr fort: »Es gibt im Umkreis von vielen Tagesreisen kein einziges zivilisiertes Volk. Zwar wirst du Eingeborene finden, aber sie werden dir nicht helfen. Im Gegenteil, du tust gut daran, ihnen aus dem Wege zu gehen. Wenn sie dich nicht gleich umbringen und aufessen, dann höchstens aus dem Grund, weil sie dich als Sklave betrachten, mit dem man einen guten Preis erzielen kann. Die Hauptstadt unseres Landes dagegen bietet dir alle Vorteile, die du dir wünschen kannst. Es kommen viele Leute zu uns, um Handel zu treiben, Expeditionen werden in alle Himmelsrichtungen geschickt. Bestimmt würdest du dort also etwas über deine Freunde erfahren!« Ich ahnte, worauf der Kerl hinauswollte. Es war glatte Erpressung. Laß ihm den Spaß, empfahl mein Extrahirn. Der Zeitverlust ist relativ gering. Zu Fuß brauchst du über zwanzig Tage! »Ihr streikt also?« fragte ich. Beikla nickte entschlossen. »Entweder häutest du das Tier, dann werden wir uns anschließend mit aller Kraft an die Reparatur machen. Du kannst dich auf uns verlassen. Glaubst du, wir würden die wertvollen Trophäen in der Hitze verderben
Der Blaue von Somor lassen?« »Oder?« »Oder du weigerst dich, uns zu helfen, und dann nehmen wir dich eben nicht mit!« »Ohne mich wird es ein bißchen schwer für euch«, vermutete ich spöttisch. »Wir werden es schaffen!« versprach Beikla grimmig. »Ich bin stärker als ihr und könnte euch zwingen, mich trotzdem mitzunehmen.« »Vielleicht. Aber du kennst dich mit der Bedienung des Flugzeugs nicht aus. Nur Zickjal kann die Maschine einwandfrei steuern. Wenn er nicht will, bewegt sich die Maschine keinen Zentimeter weit von der Stelle!« Daran zweifelte ich. Es konnte nicht übermäßig schwer sein, mit diesem primitiven Mechanismus auszukommen. Aber je länger wir diskutierten, desto größer wurde der Zeitverlust. Die beiden Kleinen tanzten aufgeregt um mich herum, als ich dem Bullen das Fell abzog. Sie starben fast vor Angst, ich könnte die wertvolle Haut nicht ordnungsgemäß behandeln. Kaum war der letzte Schnitt getan, da eilten sie auch schon mit riesigen Bündeln von Gras und Kräutern herbei, mit denen sie die Haut abrieben, um sie dann auf mühsam herbeigeschleppten Steinen zum Trocknen auszubreiten. Ihr Versprechen hatten sie längst vergessen. Sie widmeten sich ausschließlich der Beute und gönnten dem Flugzeug nicht die geringste Beachtung. Verärgert machte ich mich alleine an die Arbeit. Der Nebel war verschwunden, und die Sonne brannte heiß herab. Es wurde Mittag. Ich plagte mich schwitzend mit dem Propeller ab, der auf sehr verzwickte Weise befestigt werden mußte, als Zickjal neben mir auftauchte. »Kann ich dir helfen?« erkundigte er sich so unbefangen, als wäre gar nichts geschehen. »Wir brauchen Holz, um die Maschine hochzubocken«, erklärte ich ihm. »Sonst können wir das Fahrgestell nicht befestigen.
13 Aber vorher möchte ich noch etwas essen.« »Dieser Mensch denkt nur daran, seinen Magen vollzustopfen!« knurrte Beikla aus einigen Metern Entfernung verächtlich. Er warf einen letzten bewundernden Blick auf die meterlangen Hörner, die er inzwischen mindestens fünfmal poliert hatte. »Ich werde Holz holen«, verkündete er, als handelte es sich um ein ungeheures Opfer seinerseits. »Zickjal kann inzwischen ein gutes Stück Fleisch für einen Braten aussuchen. Und sei mir nicht böse, Atlan, aber ich muß dich bitten, in Zukunft sorgfältiger zu arbeiten. Diese Schraube hier sitzt viel zu locker. Willst du etwa, daß wir abstürzen, wenn wir uns mit dieser wertvollen Fracht auf dem Flug nach Somor befinden?« Man sollte meinen, ich hätte mich inzwischen an die Unverfrorenheit dieses Burschen gewöhnt. Aber mir verschlug es doch die Sprache, und als ich bereit war, dem Blauen die entsprechende Antwort zu erteilen, befand sich Beikla bereits außer Rufweite. Wütend arbeitete ich weiter. Zickjal gesellte sich zu mir, nachdem er den Braten vorbereitet hatte. Wir krochen etwa eine Stunde lang schweigend in dem Gitterwerk herum, ehe mir auffiel, daß Beikla immer noch nicht von seiner Holzsuche zurückgekehrt war. »Er wird schon kommen«, meinte Zickjal gleichmütig. »Für so einen Braten braucht man gutes Holz, sonst schmeckt das Fleisch nicht. Es ist nicht einfach, in dieser Gegend die richtigen Bäume zu finden.« »Mir scheint, er züchtet sie erst aus Samen heran«, gab ich bissig zurück. »Wir sind fertig«, verkündigte Zickjal, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Wenn Beikla nicht die Axt mitgenommen hätte, könnten wir jetzt anfangen Holz zu schlagen. Wir werden eine ganze Menge brauchen, um die Maschine weit genug aufzurichten.« Er kletterte auf den Boden hinab und wischte sich sorgfälltig die Hände an einem Grasbüschel ab. Ich kümmerte mich um das
14 halbe Dutzend Schrauben, das der Somorer großzügig übersehen hatte, dann sah ich mich nach Zickjal um. Er widmete sich bereits wieder der Betrachtung der Trophäen. Von Beikla keine Spur. »Wir müssen ihn suchen«, sagte ich. Allmählich machte ich mir wirklich Sorgen um den Kleinen. Ich dachte daran, wie ungeschickt er im Umgang mit der Axt war und sah ihn im Geiste bereits halbverblutet hinter einem Felsen liegen. Das Geschrei hättest du meilenweit gehört! bemerkte mein Logiksektor spöttisch. Zickjal schrak aus seinen Gedanken hoch und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Du hast einen großen Fehler, Atlan«, behauptete er ernsthaft. »Du nimmst dir für nichts Zeit! Setz dich neben mich und ruh dich aus. Siehst du diesen herrlichen Glanz, den die Sonne über das prächtige Gehörn legt?« »Wohin kann Beikla gegangen sein?« fragte ich ungeduldig. »Zum Fluß«, seufzte Zickjal. »Schon gut, ich komme mit.« Wir suchten den Blauen zuerst zwischen den Baumgruppen, die dem Landeplatz am nächsten lagen. Dabei entdeckten wir einen kleinen Stapel trockener Äste. »Siehst du, er ist in der Nähe«, stellte Zickjal zufrieden fest. »Es besteht kein Grund, sich um ihn Sorgen zu machen. Beikla!« Der Ruf hallte zwischen den nahen Felsen wider. Es raschelte, dann tauchte der Kleine aufgeregt winkend aus einem Gesträuch am Rande des Steilhangs auf. »Was ist los?« schrie Zickjal fröhlich. Beikla schoß wie eine Rakete aus seinem Versteck, raste auf uns zu und hielt seinem Gefährten den Mund zu. »Unten auf dem Fluß ist ein Boot!« zischte er aufgeregt. »Sklavenjäger! Und du vollführst einen Lärm, daß man dich bis zu den Schneebergen hören kann!« »Konnte ich ja nicht ahnen!« fauchte Zickjal und befreite sich aus dem Griff seines Gefährten. »Sklavenjäger? Was suchen
Marianne Sydow die denn hier?« »Sie haben eine Ladung Glasdämonen dabei«, erklärte Beikla besorgt. »Es sind zwanzig Zradus. Sie fahren sehr langsam und beobachten die Ufer. Hoffentlich hat Atlan sie nicht auf unsere Spur gelockt!« Ich schnitt ihm eine Grimasse und lief geduckt zu dem Gebüsch hinüber. Nachdem ich einen Zweig vorsichtig zur Seite gebogen hatte, konnte ich den Fluß in seiner vollen Breite überblicken. Nah dem gegenüberliegenden Ufer kämpfte ein großes, flaches Boot gegen die Strömung. Zwanzig muskulöse Männer mit blitzenden Harnischen saßen entlang der Bordwand. Die meisten von ihnen ruderten. Einer stand aufrecht am Bug und hielt Ausschau nach Hindernissen, und zwei andere hatten lange Fernrohre auf die Ufer gerichtet. In der Mitte des Bootes lagen alptraumhafte Gestalten gefesselt am Boden. Ich entdeckte Wesen mit zwei Köpfen und einer Vielzahl von Gliedmaßen. Das waren wohl die Glasdämonen, von denen Beikla gesprochen hatte. Woher diese Bezeichnung stammte, war mir unklar. Der Name hatte die Erinnerung* an Eiskralle in mir wachgerufen, aber die Gefangenen in diesem Boot waren beileibe nicht durchsichtig. »Sie sind bewaffnet!« wisperte Beikla neben mir. Er und Zickjal hatten sich ebenfalls einen Beobachtungsposten gesucht und schlotterten vor Angst beim Anblick der Fremden. »Sieh nur, die vielen Schwerter und Speere am Heck! Wenn die uns angreifen, sind wir verloren!« Ich wollte ihn gerade fragen, weshalb diese Fremden sich mit uns beschäftigen sollten, da hob einer der Beobachter im Boot den Arm. Laute Rufe schallten über das Wasser. Die beiden Somorer zischten erschrocken. »Sie haben den Ballonkorb entdeckt!« stieß Beikla hervor. »Warum, bei allen Göttern von Jongquatz, hast du das Ding nicht vernichtet, Atlan? Jetzt werden sie herüberkommen und nachsehen. Wir müssen uns verstecken!«
Der Blaue von Somor »So schnell geht es nun auch wieder nicht«, meinte ich. »Der Fluß ist an dieser Stelle viel zu reißend. Wenn sie beidrehen, verlieren sie die Kontrolle über das Boot.« »Sie werden eine Stelle zum Übersetzen finden«, versicherte Zickjal düster. »Ein Zradu gibt niemals auf. Wenn diese Kerle die Spur eines Sklaven gefunden haben, hetzen sie ihn bis ans Ende der Welt. Beikla hat recht. Wir müssen schleunigst verschwinden!« »Und das Flugzeug?« fragte ich spöttisch. »Wollt ihr es unsichtbar machen? Wenn die Sklavenjäger das Wrack finden, werden sie wissen, daß wir nicht weit gekommen sind. Noch dazu, wenn ein frischer Braten, neben der Maschine liegt.« »Da bleibt nur eines«, murmelte Beikla traurig. »Wir verzichten auf unseren Braten, schrauben so schnell wie möglich das Fahrgestell an und sehen zu, daß wir in der Luft sind, ehe diese Kerle uns erreicht haben. Hoffentlich ist die Haut des Bullen bis dahin einigermaßen getrocknet. Es wäre zu schade, wenn sie uns verdirbt!« Wir zogen uns vorsichtig zurück. Sobald wir den Felsen zwischen uns und den Zradus hatten, begannen die Somorer mit Feuereifer, nach brauchbarem Holz zu suchen. Die Angst vor den schwerbewaffneten Sklaven Jägern saß ihnen im Nacken. Innerhalb weniger Minuten trugen sie einen beachtlichen Haufen von Ästen zusammen. Beikla drückte mir die Axt in die Hand und zeigte mir einen Baum, von dem er wußte, daß er festes, elastisches Holz besaß. Schon nach dem ersten Schlag wußte ich, daß der Somorer sich nicht geirrt hatte – die Axt prallte ab, als wäre sie auf Hartplastik getroffen. Endlich hatten wir eine ausreichende Menge an starken Ästen und Stammteilen neben dem Flugzeug aufgestapelt. Ich rollte zwei große Steine herbei, die als Ansatzpunkt für einen Hebel dienten, stemmte mich dann mit aller Kraft gegen einen rissigen Baumstamm, und qualvoll langsam hob sich der Gitterrumpf. Die beiden Somorer rollten in fliegender Hast Holzstücke unter
15 die Maschine, dann begann der Vorgang von neuem. Mir lief der Schweiß über den Körper. Warum schuftest du eigentlich so? raunte das Extrahirn mir zu. Laß dich doch ruhig von den Sklavenjägern einfangen. Burschen wie sie kommen weit herum. Es ist sehr gut möglich, daß sie etwas über Chrysalgira und Grek-3 wissen! Die Idee war nicht schlecht. Sie hatte nur einen Schönheitsfehler: Als Sklave hatte ich zu wenig Bewegungsfreiheit, um die erhaltenen Hinweise auch ausnützen zu können. Ich spuckte in die Hände und stemmte das Flugzeug wieder ein paar Zentimeter hoch. Zickjal rannte davon und zerrte keuchend eines der Landebeine näher heran. Es fehlten nur noch zehn Zentimeter. Na und? fragte das Extrahirn spöttisch. Die Verschraubungen kosten noch eine Menge Zeit, und selbst wenn ihr es schafft – mit diesem Gestell kommt ihr doch nicht weit! Halt den Mund! dachte ich wütend. Dann war es soweit. Sogar Beikla, der es bisher hervorragend verstanden hatte, sich nach Möglichkeit um jede Arbeit zu drücken, nahm sich etwas von dem Werkzeug. Aber er stellte sich so dumm an, daß es selbst Zickjal zu viel wurde. »Such du lieber unsere Sachen zusammen und verlade sie«, empfahl er seinem Artgenossen. »Dadurch sparen wir mehr Zeit, als wenn wir dauernd deine Fehler beseitigen müssen!« Beikla trollte sich beleidigt. Eine Minute später kämpfte er sich ächzend neben mir in die enge Luke hinein. Er hatte sich eines der Hörner aufgeladen. Nachdem auch das schwere Fell sicher im luftigen Ladeabteil verstaut war, ließ Beiklas Arbeitstempo spürbar nach. Aber das machte nichts aus, denn wir hatten genug Schwierigkeiten mit dem Fahrgestell, um den Zeitverlust zu verschmerzen. Die größten Sorgen bereitete uns ein gerissener Keilriemen. Ein Ersatz befand sich nicht an Bord, und so waren wir zu einer improvisierten Lösung
16 gezwungen. Zickjals einziges leichtes Kleidungsstück überstand die Feuerprobe nicht. Beikla wehrte sich zunächst erbittert gegen die Zumutung, auch sein Gewand der Technik zu opfern, aber schließlich gab er nach. Während ich das dünne Gewebe in schmale Streifen zerriß, schickte Zickjal seinen Gefährten zum Fluß. »Sieh mal nach, ob die Kerle schon kommen«, befahl er. Der Dicke protestierte empört. »Immer soll ausgerechnet ich mich der Gefahr aussetzen«, zeterte er wütend. »Geh du doch!« Zickjal warf mit einem Schraubenschlüssel nach seinem Artgenossen, und Beikla verzog sich brummend. Nachdem wir beim ersten Versuch das Gewebe einfach zusammengedreht hatten, bestand ich diesmal darauf, ein ordentliches Seil zu flechten. Zickjal litt Höllenqualen bei dem Gedanken an die Zeit, die wir dadurch verloren, aber ich blieb hart. »Die paar Minuten, die wir gewinnen, nützen uns gar nichts, wenn das Seil wieder reißt«, wies ich ihn zurecht. »Kümmere dich lieber um den Rest der Befestigungen und fang dann an, das Holz unter der Maschine wegzuräumen.« Ich hatte gerade den provisorischen Keilriemen mit viel Mühe an seinen Platz gebracht, da kam Beikla im aufgeregten Stolpergalopp herbeigerannt. »Sie kommen!« schrie er schon von weitem. Zickjal ließ vor Schreck den Ast los, den er eben aus dem Stapel gezogen hatte. Das schwere Holzstück landete auf den Zehen des Kleinen, der umgehend ein lautes Schmerzgebrüll ausstieß. »Sie haben eine Überfahrt gefunden!« versuchte Beikla ihn zu übertönen. »Jetzt sind sie auf dieser Seite des Flusses. Sie rudern gerade auf die Felsen zu.« Ich überzeugte mich davon, daß der Strick auch dann an seinem Platz blieb, wenn die Räder sich zu drehen begannen, dann sprang ich auf den Boden hinunter.
Marianne Sydow »Kümmere dich um den Motor!« wies ich Zickjal an, der mit schmerzverzogenem Gesicht auf einem Bein balancierte und seine Zehen untersuchte. »Beikla, du hilfst mir!« Wir hatten getan, was wir konnten, um das primitive Fluggerät wieder flott zu machen. Wenn nicht der Motor selbst beschädigt war, mußte der Start glücken. Voraussetzung dafür war, daß wir das Holz entfernten, das zur Zeit noch fast allein das Gewicht des Rumpfes trug. Wir hatten nur noch zwei Stämme vor uns, als knallende Fehlzündungen die Luft erschütterten. Zickjal fluchte schnatternd in seiner Heimatsprache, und Beikla starrte angsterfüllt zu ihm hinauf. Dann besann sich der Klobige Verbrennungsmotor auf seine Pflichten. Ein beruhigend gleichmäßiges Tuckern ließ das Flugzeug leicht vibrieren. Gleichzeitig erscholl hinter den Felsen ein vielstimmiges Gebrüll. Unsere Gegner waren im Anmarsch. »Hat dieses Ding einen Rückwärtsgang?« schrie ich zu Zickjal hinauf. Er begriff sofort und zerrte an einem überdimensionalen Hebel. Das Flugzeug setzte sich ruckhaft in Bewegung. Die beiden Stämme kippten ins Gras. Während ich sie aus der Fahrtrichtung rollte und zog, kletterte Beikla bereits mit affenartiger Behendigkeit in die Kabine. Das Geschrei hinter uns wurde lauter. Als ich einen Blick in Richtung Flußufer warf, sah ich zwischen dem dichten Gestrüpp das Blinken metallener Harnische. Zickjal wartete, bis ich neben Beikla angelangt war, dann stieß er den Steuerhebel nach vorne. Schwerfällig und rumpelnd setzte sich das Flugzeug in Bewegung. Von hier oben sah unsere »Startbahn« wie ein schlechtgepflückter Acker aus. Beikla quietschte entsetzt, als die Maschine über im Gras verborgene Steine rollte und dabei gefährlich ins Schaukeln geriet. Zickjal dagegen war die Ruhe in Person. Er beobachtete eifrig das Gelände und steuerte auf einen Sandstreifen zu, der sich in geringer Entfernung leuchtend weiß aus dem Unkraut ab-
Der Blaue von Somor hob. Da wir für den Einbau einer dritten Sitzgelegenheit keine Zeit mehr gefunden hatten, hockte ich reichlich unbequem auf dem vordersten Rand der Ladefläche. Direkt vor mir saß Beikla, der immer wieder den Kopf um die Ecke streckte, um sich nach unseren Verfolgern umzusehen. Die Zradus hatten das freie Gelände erreicht und schienen fest damit zu rechnen, daß unser Fluchtversuch fehlschlug. Sie waren beachtlich gute Läufer. Während sie hinter uns herrannten, fanden sie sogar noch Zeit, ihre Speere in Wurfposition zu bringen. Ich zählte zehn Verfolger und wunderte mich, wo der Rest blieb. Sekunden später prallte ein Speer klirrend gegen das Gitterwerk. Da wir uns jetzt parallel zum Flußufer bewegten, hatten einige der Sklavenjäger uns erfolgreich den Weg abgeschnitten. Ein zweiter Speer flog durch die Luft und ratschte über die linke Tragfläche. Zickjal arbeitete verbissen an seinen Hebeln. Das Brummen des Motors rutschte eine Oktave höher, und unsere Geschwindigkeit nahm zu. Noch ein Speer traf den Rumpf und bohrte sich neben unserem Piloten durch die Strebung, dann wies die Nase der Maschine nach oben. Eine Sekunde später befanden wir uns in der Luft. Das wütende Geheul der Zradus ging im Dröhnen des Motors unter. Wir gewannen schnell an Höhe. Zickjal zwang das Flugzeug in eine weite Kurve, die uns vom Fluß wegbrachte. Unter uns huschte die Steppe hinweg, dann tauchten Bäume auf, die sich zu einem lichten Wald zusammenschlossen. Und genau in dem Augenblick, als ich weit voraus die Wasserfläche eines kleinen Sees zwischen den Bäumen glitzern sah, fiel mir auf, daß unser Flug plötzlich unsicher wurde. Mühsam zog ich mich gegen den Fahrtwind weiter nach vorne. Der letzte Speer hatte sein Ziel nicht verfehlt. Die Spitze hatte Zickjal an der Hüfte getroffen. Der Kleine hatte lange genug durchgehalten, um uns aus der unmittelbaren Gefahr zu bringen, aber nun hing er besin-
17 nungslos auf dem Pilotensitz. Beikla bemühte sich verzweifelt, den Steuerknüppel zu erreichen, aber unser Flugzeug schwankte so stark, daß er bei jedem Versuch Gefahr lief, aus dem Sitz zu fallen. Da unter ihm nichts als ein paar lächerlich dünne Streben waren, wagte er sieh nicht weit genug vor. Ich klammerte mich am Metall fest und zwängte mich zwischen den beiden Sitzen hindurch. Zickjals Hände hatten sich in einem Krampf um den Steuerhebel geschlossen. Schwankend balancierte ich auf der schmalen Fußleiste vor den Sitzen, während das Flugzeug bockte und schaukelte. Beikla war jetzt vor Angst wie gelähmt und tat absolut nichts, um mir zu helfen. Es gelang mir, die Hände des Somorers von dem Hebel zu lösen, aber inzwischen hatten wir so viel Höhe verloren, daß ich mir keine Illusionen mehr machte. Ich konnte nur noch versuchen, einen geeigneten Platz für die Bruchlandung zu finden. Vor uns stachen spitze Felsnadeln durch das Laub der Bäume. In den Streben knirschte und krachte es, als ich den Steuerhebel nach rechts schob. Widerwillig reagierte das plumpe Fahrzeug. Die Felsen rasten unter uns hinweg. Der See war jetzt schon sehr nahe. Ich entdeckte eine grün gefärbte Grasfläche und hielt darauf zu. Als ich versuchte, ein paar Meter Höhe zu gewinnen, begriff ich, warum auch die erste Landung der Maschine so hart ausgefallen war. Wenn dieses Flugzeug sich erst einmal auf dem Wege nach unten befand, weigerte es sich beharrlich, von der einmal gewählten Richtung abzuweichen. Einige hochragende Bäume bildeten die Begrenzung des Waldes. Ich sah das Gewirr der Äste heranrasen und stemmte mich gegen den Hebel. Die Maschine reagierte nicht mehr. Es gab einen harten Ruck, als das Fahrgestell das Laubwerk streifte, dann hörte ich das häßliche Kreischen von zerbrechendem Metall. Die mühsam reparierte Tragfläche war den Anforderungen nicht mehr gewachsen und wirbelte davon. Ich wurde nach vorne geschleudert, sah eine der
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Streben auf mich zukommen, spürte einen scharfen Schmerz in der Stirn – und dann gar nichts mehr.
3. Zuerst glaubte ich, die Begegnung mit den Somorern hätte nur in einem wilden Traum stattgefunden. Mein Kopf brummte, als hätte sich ein Bienenschwarm darin eingenistet, und ich war naß. Dann schlug ich vorsichtig die Augen auf und sah die Metallstreben über mir. Das brachte meine Erinnerung in Schwung. Vorsichtig richtete ich mich auf. Mir war schwindelig, und ich mußte einen Moment warten, bis ich wieder etwas sehen konnte. Ich tastete nach meiner Stirn und spürte eine beachtliche Beule. Als ich die Hand zurückzog, war sie rot und klebrig von meinem Blut. Ich lag im unteren Teil des Flugzeugs. Bräunliches Wasser bedeckte den Boden, vermischt mit dem stinkenden Brei zerquetschter Pflanzen. Mit einiger Mühe gelang es mir, mich aufzurichten, ohne mir meinen mitgenommenen Schädel öfter als dreimal zu stoßen. Beikla hing regungslos in dem engen Raum zwischen der Kante des Sitzes und der Fußleiste. Zickjal war aus dem Sessel herausgeschleudert worden und lag quer über der Metallplatte, in der der Steuerhebel verankert war. Er war tot. Aus seinem Rücken ragte die Spitze einer zerbrochenen Strebe heraus. Das Flugzeug hatte sich zum Teil in den weichen Moorboden eingegraben, und der günstigen Bodenbeschaffenheit hatten Beikla und ich vermutlich unser Leben zu verdanken. Der größte Teil der Ausrüstung war noch vorhanden, und der Rumpf selbst war zwar verbogen und wies an mehreren Stellen klaffende Risse auf, hatte uns jedoch nicht hoffnungslos unter sich begraben. Ich entfernte zwei Träger, die den Weg nach draußen versperrten, dann holte ich Beikla aus seiner ungemütlichen Ecke und trug ihn auf die Wiese hinaus.
Der Boden war mit Feuchtigkeit gesättigt. Unter meinen Füßen quoll das Wasser durch die Graswurzeln. Ich bahnte mir einen Weg durch hüfthohes Gras. Eine Gruppe leuchtender, von Violett bis Blau irisierender Blumen tauchte vor mir auf. Der nächste Schritt, und ein Schwarm von fliegenden Insekten stob auf, die mit zornigem Brummen auf mich zuschossen. Ich duckte mich. Der Schwarm raste über mich hinweg, zog einen Kreis und ließ sich wieder auf den Blüten nieder. Vorsichtig wich ich zurück und umging von da an jede Blüte, die sich in diesem Moor zeigte. Etwa hundert Meter vom Wrack entfernt stieß ich auf trockeneren Boden. Ein hoher Baum mit glatter, kreideweißer Rinde und riesigen Blättern, die wie blaugrüne Regenschirme aussahen, spendete kühlen Schatten. Ich legte Beikla in das hier nur spärlich wachsende Gras und untersuchte ihn kurz. Aber die Körperfunktionen der Somorer waren mir zu fremd, als daß ich etwas über seinen Zustand hätte sagen können. Er lebte noch, und ich hoffte, daß er bald aus seiner Ohnmacht erwachte. Keine Sentimentalitäten! warnte mich mein Extrahirn, als ich vor Zickjals Leiche stand. Die Ausrüstung ist wichtiger! Ich brachte trotzdem zuerst den toten Piloten aus dem Flugzeug, das langsam immer tiefer in den weichen Boden sank. Allmählich bildete sich ein schmaler Trampelpfad in dem dichten Gras. Unter dem Baum mit den Schirmblättern entstand ein ständig wachsender Haufen von Werkzeugen, Karten, Decken, Proviant und ähnlichen Dingen. Als ich überzeugt war, daß nichts Wichtiges mehr in dem Wrack zurückgeblieben war, setzte ich mich neben Beikla und wartete darauf, daß der Kleine die Augen aufschlug. Die Sonne begann zu sinken, und dichter Nebel hob sich aus der feuchten Wiese. Aus dem lichten Wald hinter mir drangen die Geräusche, die die dort umherschleichenden Tiere verursachten. Ein jämmerliches Schreien ließ mich erschrocken zusammenfahren, und mir kam plötzlich zu Bewußt-
Der Blaue von Somor sein, in welch unglaublich fremdartiger Umgebung ich mich befand. Ich hatte die Welten nicht gezählt, die ich bereits kennengelernt hatte, und überall war ich auf fremdartige, abenteuerliche Dinge gestoßen. Hier jedoch befand ich mich auf einem Planeten, den es eigentlich gar nicht geben durfte. Diese namenlose Welt war so winzig, daß Millionen ihrer Art nicht die Masse eines Staubkorns im Makrokosmos ergaben. Bist du sicher? fragte das Extrahirn. Hast du schon einmal überlegt, wie ein solcher Kosmos überhaupt existieren soll? Bestehen nicht auch hier alle Dinge aus Atomen? Ich dachte darüber nach und kam zu dem unbefriedigenden Ergebnis, daß ich zu wenig vom Universum wußte, um die hier anfallenden Fragen zu lösen. Welcher Zusammenhang bestand zwischen dem Mikrokosmos und dem normalen Universum, in dem ich geboren war? War der Ausdruck »Mikrokosmos« am Ende sogar falsch, und handelte es sich lediglich um ein Paralleluniversum? Ich hatte den durch den Molekularverdichter hervorgerufenen Schrumpfungsprozeß erlebt – aber das konnte auch eine Täuschung sein. Ein Gedanke durchzuckte mich: Was geschah, wenn jemand in dieser Miniaturwelt einen Molekularverdichter baute? Ging es immer weiter hinab, in immer winzigere Regionen? Schon möglich, bemerkte der Logiksektor mit der ihm eigenen Trockenheit. Und nicht nur das. Wahrscheinlich auch immer weiter hinauf. Woher willst du wissen, daß nicht auch der Makrokosmos nur ein kleiner Teil eines gewaltigen Ganzen ist? Vielleicht ist das Weltall, aus dem du kommst, nur eine Zelle in einem gewaltigen Organismus, der sich ebenfalls als Teil einer ganz gewöhnlichen Welt fühlt und mit all den Milchstraßen in seinem Innern lebt und arbeitet und stirbt – und wiederum Teil eines Wesens ist. Du wirst bei dieser Spekulation niemals herausfinden, wo der Anfang und wo das Ende liegt!
19 »Hör auf!« stöhnte ich unterdrückt und schlug die Hände vor das Gesicht. Die Vorstellung eines solchen Weltgefüges reichte aus, einen Menschen um den Verstand zu bringen. Ich war froh, als ein leises Stöhnen mich ablenkte. Beikla kam endlich zu sich. Er warf sich unruhig hin und her, ehe er die Hautfalte über seinem Augenband öffnete. Sekundenlang starrte er mich verständnislos an, dann richtete er sich ruckartig auf. »Wo ist Zickjal?« stieß er hervor. Ich deutete schweigend auf die kleine Gestalt, die ich mit einer Decke umhüllt hatte. Beikla erhob sich taumelnd und schlug das Tuch zurück. Lange Zeit starrte er in das Gesicht des Toten. Dann ließ er sich neben Zickjal auf den Boden sinken und begann so jämmerlich zu weinen, daß es seinen ganzen Körper schüttelte. Ich stand daneben und fühlte mich entsetzlich hilflos. Der Kummer des Kleinen war so echt und tief, daß ich kein Mittel dagegen wußte. Um mich abzulenken, holte ich die groß gezeichnete Landkarte und versuchte, aus den krakeligen Zeichen schlau zu werden. Aber es wurde dunkler, und bald konnte ich nichts mehr sehen. Beikla hatte aufgehört zu weinen, reagierte jedoch nicht, als ich ihn ansprach. Regungslos hockte er neben der Leiche und schien mit seinen Gedanken in einer anderen Welt zu sein. Ich versuchte ihn abzulenken, indem ich ihm berichtete, daß auch die wertvollen Trophäen geborgen waren, aber er hatte eine Mauer des Schweigens um sich errichtet, an der jedes Wort abprallte. Schließlich gab ich es auf. In meiner Stirn pochte ein dumpfer Schmerz, und die Anstrengungen des Tages machten sich bemerkbar. Ich rollte mich in eine Decke, legte mich neben den Haufen von Ausrüstungsgegenständen und war Sekunden später eingeschlafen.
* Wir bestatteten Zickjal unter einem besonders großen, prächtig blühenden Baum,
20 und als das Grab geschlossen war, taute Beikla so weit auf, daß er einem Gespräch über unser weiteres Vorgehen zugänglich wurde. »Diesmal sieht es böse aus«, meinte er, nachdem er dem Wrack einen Besuch abgestattet hatte. »Du wirst dich ganz schön anstrengen müssen, um das Fluggerät zu reparieren!« Ich sah ihn verblüfft an. »Das Fahrgestell ist zerfetzt«, zählte er an seinen Fingern ab, »die Bruchstücke der Tragfläche liegen zwischen den Bäumen herum, der Propeller ist verbogen, der Rumpf teilweise zerfetzt und der Motor ziemlich zerbeult. Wie lange wirst du brauchen, um das alles in Ordnung zubringen?« »Ich habe nicht die leiseste Absicht, es auch nur zu versuchen!« lehnte ich ärgerlich ab. »Die Reparatur ist sinnlos.« »Aber wir können doch nicht ohne das Flugzeug nach Somor zurückkehren! Was sollen meine Freunde dazu sagen, wenn ich die wertvolle Maschine nicht mitbringe?« »Das ist mir egal. Es geht nicht, verstehst du das nicht? Die Maschine ist hinüber. Selbst wenn die Schäden geringer wären, hätte es keinen Sinn, auch nur einen Tag an einen solchen Versuch zu verschwenden. Aus diesem Moorboden bringen wir sie nicht mehr heraus. Und wer sollte sie wohl steuern?« Beikla schwieg. Er brütete düster vor sich hin. »An allem bist nur du schuld!« platzte er nach einer Weile heraus. »Durch dich haben die Sklavenjäger uns entdeckt. Ohne dich wäre Zickjal noch am Leben, und wenn du das Flugzeug nicht in diesen Morast gesteuert hättest, könnten wir es bestimmt retten.« Das hatte ich gerne! Ich gab mir die größte Mühe, schleppte sogar das schwere Fell aus dem Moor, und dieser Kerl machte mir auch noch Vorwürfe. Eine Diskussion über dieses Thema war sinnlos. »Wie soll ich nun in meine Heimat zurückkommen?« fragte Beikla weinerlich, als ich auf seine Anklage nicht einging. »Zu Fuß«, stellte ich trocken fest. »Da
Marianne Sydow liegt die Karte. Welchen Weg müssen wir nehmen?« Beikla zögerte, warf dem Wrack bedauernde Blicke zu und seufzte dann abgrundtief. Mißmutig entfaltete er die Blätter und starrte lange Zeit auf die wenigen Zeichen, die sich zwischen den weißen Flecken ziemlich verloren ausnahmen. »Es wird viel zu lange dauern«, jammerte er. »Tage und Tage.« »Schon möglich«, nickte ich ungeduldig. »Aber wenn du tatenlos sitzenbleibst, geht es bestimmt nicht schneller. Also mach schon!« Beikla bequemte sich endlich dazu, sich auf die Landkarte zu konzentrieren. Ich sah ihm aufmerksam zu, denn ich legte großen Wert darauf, wenigstens die wichtigsten somorischen Zeichen zu erlernen. »Wir sind jetzt in diesem Waldgebiet«, überlegte der Somorer. »Wenn wir uns nach Süden halten, stoßen wir auf die Glassteppe. Das ist ein sehr gefährliches Gebiet. Die Glasdämonen, die du auf dem Boot der Zradus gesehen hast, leben dort. Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber sie betrachten jeden Fremden als ihren Feind und greifen rücksichtslos an. Natürlich können wir die Glassteppe umgehen, indem wir uns durch den Dschungel im Osten schlagen. Aber dadurch verlieren wir viel Zeit, und außerdem drohen auch dort große Gefahren. Auf jeden Fall müssen wir den Jongquatz erreichen, den Dreifluß, der in das Blaue Meer mündet. Von dort aus ist es nicht mehr weit, und wir werden dann auch auf befreundete Stämme treffen, die uns weiterhelfen.« »Der Umweg durch den Dschungel wäre Unsinn«, stimmte ich zu, nachdem ich die Zeichen auf der Karte mit Beiklas Angaben verglichen hatte. »Aber wenn wir die Steppe im Westen umgehen, verlieren wir nur wenig Zeit, und es gibt auch dort flaches Land, in dem wir gut vorankommen.« »Oh nein!« wehrte Beikla entsetzt ab. »Das ist Teghment. Niemand wagt sich in dieses Land!«
Der Blaue von Somor »Warum?« fragte ich verwundert. »In Teghment wohnen die, die aus dem Dunkel kamen«, flüsterte Beikla furchterfüllt. »Einige tapfere Männer haben versucht, zu ihnen vorzustoßen, aber keiner kehrte zurück. Die Bewohner dieses Landes sind unvorstellbar grausam. Allein ihr Anblick ist tödlich, und sie haben Waffen, die bis an den Rand des Himmels reichen.« Seine Beschreibung machte mich neugierig. Was mochte hinter diesem Schauermärchen stecken? Raumfahrer! behauptete das Extrahirn lakonisch. Ich gab ihm recht. Es klang sehr wahrscheinlich. »Die aus dem Dunkeln kamen« – damit könnte der Weltraum gemeint sein. Und die Waffen, die bis an den Rand des Himmels reichten? Energiestrahlen natürlich! Dorthin mußte ich vordringen! Die Idee hatte mich gepackt, und ich war fest entschlossen, nach Teghment zu gehen. Die Fremden verfügten zweifellos über technische Mittel, die denen aller anderen Völker des Planeten überlegen waren. Mit ihrer Hilfe mußte es mir gelingen, Chrysalgira und Grek-3 zu finden. Und dann – bei dem Gedanken an mein gewohntes Universum packte mich ein unvorstellbares Heimweh. Ischtar fiel mir ein, Fartuloon, all die Gefährten, die nicht einmal wußten, ob ich noch lebte. Ich mußte endlich zu ihnen zurückkehren, und Teghment sollte den Anfang des Weges bilden. Nach all dem zielosen Umherirren auf dem Planeten der Mikrowelt sah ich zum erstenmal ein vernünftiges, vielversprechendes Ziel vor mir. Nichts würde mich davon abbringen. Du vergißt Beikla, warf das Extrahirn ein. Er hat eine höllische Angst vor diesem Land. Ich werde notfalls alleine gehen, dachte ich. Unsinn! behauptete der Logiksektor. Wenn du dir die Begleitung des Blauen sicherst, sind deine Chancen viel größer. Hast du die Frucht schon vergessen, die dir die Hand verätzte? Beikla kennt sich aus – du
21 nicht! Gewinne ihn für deinen Plan. Er hap einen wunden Punkt: seinen Stolz! Ich zweifelte daran, daß das Organ in meinem Kopf Beikla richtig einschätzte. Der Kleine war ein ausgesprochener Dickkopf – und abgesehen davon nicht der Mutigsten einer. Ich beschloß, die Diskussion über unser Ziel auf einen günstigeren Zeitpunkt zu verschieben. Zuerst galt es, ein anderes Problem zu lösen. Wir konnten nicht alles mit uns schleppen, was ich aus dem Wrack geborgen hatte. Die Auswahl der wichtigsten Gegenstände war für Beikla eine einzige Qual. Er musterte den Haufen, ging langsam darum herum und zog verschiedene Gegenstände hervor. »Die schönen Sachen«, klagte er. »Schau nur, diese Werkzeuge! Jedes Stück davon hat einen großen Wert. Soll das alles hier liegen bleiben? Nun, du hast natürlich recht, wir können sie nicht wegtragen. Aber auch wenn wir noch so viel aussortieren – es wird auf jeden Fall zu viel zusammenkommen, als daß wir das Zeug auf unseren Schultern davonschleppen können.« »Das fürchte ich auch«, sagte ich grimmig. »Besonders wenn man bedenkt, daß du ganz bestimmt nicht auf deine wertvollen Trophäen verzichten willst!« »Sie bedeuten Ruhm und Ehre«, behauptete er weinerlich und sah mich unglücklich von unten herauf an. »Versetz dich doch mal in meine Lage! Ich bin schlimm genug dran. Das Flugzeug ist hinüber, Zickjal ist tot. Soll ich mit leeren Händen zu meinem Volk zurückkehren?« »Wir können bestenfalls eines von den Hörnern mitschleppen«, gab ich wütend zurück. »Der Rest bleibt hier!« Beikla wandte sich schweigend ab. Seine Schultern zuckten. Ohne ein weiteres Wort ging er zu Zickjals Grab, setzte sich daneben und überließ sich hemmungslos seinem Kummer. Der Kleine tat mir ehrlich leid, aber er mußte doch selbst einsehen, daß es nicht anders ging! Die riesige Haut allein bildete eine volle Traglast für mich – Beikla wäre un-
22 ter diesem Gewicht nach spätestens einer Stunde zusammengebrochen. Ärgerlich stellte ich für jeden von uns eine vernünftige Ausrüstung zusammen, suchte zwei Decken aus besonders haltbarem Stoff heraus und rollte die Sachen darin ein. Die dicken Schutzanzüge der Somorer lieferten mir eine Reihe von Gurten und Riemen, mit deren Hilfe sich die Bündel gut auf dem Rücken befestigen ließen. Meine eigene Traglast krönte ich mit einem der schweren Hörner, um Beikla zu versöhnen, und ein Messer steckte griffbereit in meinem Gürtel. So ausgestattet, ging ich zu dem Blauen. »Komm!« forderte ich ihn auf und hielt ihm sein Bündel entgegen. Beikla rührte sich nicht. »Wenn du nicht sofort aufstehst, gehe ich alleine!« drohte ich. Keine Reaktion. Ich seufzte. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, den Kleinen hier zurückzulassen. Erstens zweifelte ich daran, daß er ohne mich eine Chance hatte, seine Heimat wiederzusehen, und zweitens brauchte ich ihn. Und wenn ich ihn am Kragen hinter mir herziehen mußte – ich würde ihn dazu bringen, diesen Ort zu verlassen. Hinter herziehen? Das war die Lösung! »Also gut«, sagte ich. »Zwischen den Bäumen da drüben muß das eine Rad vom Fahrgestell liegen. Das andere hole ich aus dem Moor. Wir bauen einen Karren, und dann laden wir die Haut obendrauf. Zufrieden?« Beikla sprang mit einem Freudenquietscher auf die Füße. »Ich wußte doch, daß dir etwas einfällt!« erklärte er strahlend. »Man muß dich eben nur dazu bringen, alles genau zu überdenken!« Sprach's und rannte davon, um das Rad zu suchen. Ich sah ihm kopfschüttelnd nach und stapfte dann durch die schlammige Wiese, um die traurigen Überreste des somorischen Wunderwerks zu demontieren.
Marianne Sydow
* Am Mittag des nächsten Tages zog ich die letzte Schraube fest. Beikla musterte den zweirädrigen Karren traurig. »Er ist viel zu klein«, behauptete er. »Wir hätten ihn doppelt so groß bauen sollen. Dann wäre alles draufgegangen, was wir jetzt zurücklassen müssen.« Ich legte unsere Bündel auf die Ladefläche, packte den gesamten Proviant, einige Feldflaschen, Becher und Reservedecken dazu und lud dann das Fell auf. Beikla sah mir zu und rührte keinen Finger. »Fang einen von den Riesenbullen, zähme ihn und richte ihn als Zugtier ab!« empfahl ich grimmig. »Dann baue ich dir einen Wagen, auf dem sogar der Schrotthaufen von Motor noch Platz hat. Wir haben das sogar hundertmal besprochen. Der Wagen darf nur so groß sein, daß jeder von uns ihn alleine ziehen kann. Sobald wir in die Glassteppe kommen, müssen wir ständig mit Angriffen rechnen. Wenn wir dann nicht beweglich sind, können wir uns nicht wehren. Deine Trophäen sind in Sicherheit, und das muß genügen!« »Ein somorischer Techniker hätte bestimmt eine Möglichkeit gefunden«, erklärte Beikla bitter. »Aber du besitzt eben nicht die unvergleichliche Genialität, die uns Somorer auszeichnet. Für einen entlaufenen Sklaven hast du deine Sache sogar recht gut gemacht!« »Noch ein Wort …«, brüllte ich und hob die Faust. Beikla duckte sich hastig und griff nach dem Seil, mit dessen Hilfe wir den kleinen Wagen ziehen konnten. »Schon gut«, wehrte er kleinlaut ab. »Wenn wir erst in Somor sind, werde ich dafür sorgen, daß unsere besten Techniker dich unterrichten. Aus dir kann noch viel werden!« »Es wird eine Weile dauern, bis du dein Versprechen einlösen kannst«, sagte ich langsam. »Denn bevor wir nach Somor ge-
Der Blaue von Somor hen, werden wir dem Land Teghment einen Besuch abstatten.« Der Dicke ließ das Seil, fallen und starrte mich mit offenem Mund an. »Wie meinst du das?« erkundigte er sich fassungslos. »So wie ich es gesagt habe. Wir gehen nach Teghment und sehen uns die Leute an, die aus dem Dunklen kamen.« »Du bist krank, Atlan!« behauptete Beikla besorgt. »Die Sonne hat deine Gedanken verwirrt. Komm, setz dich in den Schatten. Ich werde dir etwas zu trinken bringen und deinen Kopf kühlen …« »Das ist nicht nötig. Ich bin durchaus normal. Erinnerst du dich an die beiden Fremden, nach denen ich dich und Zickjal gefragt habe? Ich will nach Teghment, weil ich hoffe, sie dort zu finden.« Beiklas dünne, kurze Beine gaben nach, und er ließ sich schwerfällig ins Gras plumpsen. Verzweifelt wischte er mit seinen Froschhänden ein paar Schweißtropfen von seinem kahlen Schädel. »Nimm doch Vernunft an, Atlan!« flehte er jämmerlich. »Ich bin noch jung und möchte nicht sterben!« »Wer redet denn hier vom Sterben? Welchen Grund sollten die Leute von Teghment haben, uns umzubringen? Wir kommen in friedlicher Absicht. Wir werden mit ihnen reden, weiter nichts. Vielleicht lassen sie sogar mit sich handeln. Stell dir vor, welchen Empfang man dir bereitet, wenn du als erster einen Bericht aus diesem Land mitbringst. Du könntest versuchen, eines der Hörner für etwas anderes einzutauschen – für eine weit wertvollere Trophäe, die dich mit einem Schlag zum berühmtesten Mann deines Volkes macht!« »Ein toter Mann hat nichts von seinem Ruhm«, verkündete Beikla mit Grabesstimme. »Ich will keine Trophäen aus Teghment. Ich will nur nach Hause. Laß uns nach Somor gehen, Atlan! Ich verspreche dir, daß du es nicht bereuen wirst. Du kannst mein Haus haben. Das schönste Mädchen werde ich dir beschaffen, und ich werde dein Diener sein,
23 der dir jeden Wunsch von den Augen abliest.« »Wir gehen nach Teghment!« erwiderte ich fest. Beikla starrte mich aus seinen zahlreichen Pupillen von unten herauf an. Er sah wie ein Häufchen Unglück aus. Aber ich war fest entschlossen, meinen Willen durchzusetzen. Zu viel stand für mich auf dem Spiel. Nach einer Weile kam Beikla zu dem Entschluß, daß es sinnlos war, mich umstimmen zu wollen. Er erhob sich langsam. Seine Bewegungen wirkten müde, und er machte ganz den Eindruck eines Mannes, der mit seinem Leben abgeschlossen hat. »Nach Teghment!« sagte er dumpf und setzte sich in Bewegung, als sei er der Anführer eines Trauermarsches. »Die Dämonen des Blauen Meeres mögen uns beschützen!« So begann unser Marsch nach Süden. In den ersten Stunden kamen wir sehr gut voran. Wir umrundeten den See, durchwateten einen seichten Bach und kamen dann wieder in den lichten Wald. Die Bäume standen weit auseinander. Es gab so gut wie gar kein Unterholz. Der Boden war hart, teilweise steinig und nur spärlich mit Gras bewachsen. Aber dann senkte sich das Gelände. Moorige Senken mußten umgangen werden, und immer wieder verstellte uns dichtes Gebüsch den Weg. Der Wagen, so klein und leicht ich ihn auch gebaut hatte, erwies sich allmählich als eine arge Belastung. Schon nach kurzer Zeit verfingen sich die Räder in den langen, zähen Zweigen einer heimtückischen Kriechpflanze. »Oje!« machte Beikla und besah sich die Bescherung. »Wir werden die ganzen Ranken abschneiden müssen. Weißt du was, Atlan? Während du den Wagen aus dieser Falle holst, suche ich uns ein paar Früchte. Von dem Dörrfleisch alleine kann ja niemand auf die Dauer bei Kräften bleiben!« »He, bleib hier!« rief ich ihm nach, aber er war bereits hinter einer wahren Mauer von Sträuchern verschwunden. Wütend holte ich die Axt von der Ladefläche und schlug die Ranken ab. Aber die Pflanzen hatten sich
24 mit klebrigen Fäden an das Metall geheftet, und ich mußte jedes Stück einzeln davon abkratzen. Als ich damit fertig war und den Karren erschöpft aus dem Bereich der Rankepflanze zog, tauchte Beikla freudestrahlend wieder auf. »Prima!« lobte er mich herablassend. »Schau dir mal diese Boljos an. Die schmecken phantastisch!« Er legte seine Beute auf die Ladefläche und überließ es großzügig mir, den Wagen das nächste Stück zu ziehen. »Daß du auch niemals aufpassen kannst!« schimpfte er zwei Minuten später. »Hast du keine Augen im Kopf? Jetzt sitzt der Wagen schon wieder fest. Wie soll denn das weitergehen, he?« Natürlich fand er auch diesmal einen Vorwand, sich um die Arbeit zu drücken. Nachdem dieser Vorgang sich ungefähr zehnmal wiederholt hatte, geriet ich zu allem Überfluß an eine Pflanze, deren Saft wie Feuer auf der Haut brannte. Beikla goß hilfsbereit Wasser aus einer Flasche über meine Hände, zielte jedoch so schlecht, daß die Hälfte davon in meinen Stiefeln landete. »Jetzt reicht es!« explodierte ich. »Der Karren bleibt stehen! Ich habe keine Lust mehr, mich mit diesem verdammten Ding abzuplagen, nur damit du deine Trophäen behältst!« Beikla wich erschrocken zurück. »Das kannst du nicht machen!« klagte er mich an. »Nach all der vielen Arbeit, die wir mit dem Wagen hatten …« »Wir?« lachte ich höhnisch. »Du hast die ganze Zeit danebengestanden und geredet. Und seit wir unterwegs sind, hast du das Seil nicht mehr in die Hand genommen. Nein, Beikla, so geht es beim besten Willen nicht!« »Ich werde dir ganz bestimmt von jetzt an helfen«, jammerte der Kleine verzweifelt. »Wirklich, Atlan! Nur laß den Wagen nicht einfach stehen. Ich schwöre, daß ich besser auf den Weg achten werde. Ich werde auch die Ranken beseitigen, wenn wir noch einmal hängen bleiben. Bitte …«
Marianne Sydow Ich gab nach. Am Abend holte ich die zerknitterte Karte hervor. Ich versuchte festzustellen, welche Entfernung wir inzwischen zurückgelegt hatten, aber das erwies sich als undurchführbar. Dieses prächtige Werk somorischer Zeichenkunst wies nämlich weder einen Maßstab auf, nach dem ich mich richten konnte, noch waren auffällige Geländemarken darin eingetragen. Selbst die Himmelsrichtungen stimmten nicht ganz mit der Wirklichkeit überein. »Wenn wir die Glassteppe erreichen, werden wir es schon merken«, murmelte Beikla verständnislos, als ich ihn danach fragte, wie weit es bis zu diesem Gebiet noch wäre. »Verfehlen können wir sie auf keinen Fall. Außerdem – was hast du nur an der Landkarte auszusetzen? Da steht groß und deutlich, daß dieses Gebiet bewaldet ist. Das reicht doch wohl, oder nicht? Jeder weiß schließlich, wie es in einem Wald aussieht!« Mir gefiel das alles nicht. Anhand der Karte ließ sich nicht kontrollieren, ob wir uns wirklich auf dem Weg nach Teghment befanden. Ich war voll und ganz darauf angewiesen, daß der Somorer mich an mein Ziel führte. Er berührte das Thema Teghment nicht mehr, und ich selbst hütete mich, das Gespräch auf diesen Punkt zu bringen. Aber meine Unsicherheit wuchs mit jedem Schritt, den wir zurücklegten. Ich traute dem Blauen nicht so recht. Obwohl er keinen Blick auf die Karte warf, schien er sehr genau zu wissen, wo wir uns befanden. Er verriet sich durch Kleinigkeiten, wie zum Beispiel den Hinweis auf eine Quelle, die noch gar nicht zu sehen war. Ich schlief in dieser Nacht sehr schlecht. Immer wieder weckten mich irgendwelche Geräusche, und jedesmal fuhr ich hoch und sah mich nach Beikla um. Aber der Kleine rührte sich nicht. Am Vormittag des nächsten Tages verließen wir die feuchte Niederung. Dennoch kamen wir nicht schneller voran als am vergangenen Tag. Der Grund dafür bestand darin, daß Beikla an längere Fußmärsche offen-
Der Blaue von Somor sichtlich nicht gewöhnt war. Er hatte sich die Füße wundgerieben und humpelte mit schmerzverzogenem Gesicht neben dem Wagen her. Wir machten mehrmals Rast, und als ich gegen Abend einen günstigen Lagerplatz entdeckte, war ich heilfroh. Ich hatte den primitiven Karren den ganzen Tag hindurch über den holprigen Boden gezogen, und meine Schultern schmerzten. »Schluß für heute«, sagte ich. Beikla sah sich nachdenklich um. Mitten im Wald lagen ein paar Felsbrocken, die uns eine gewisse Deckung boten. Zwischen ihnen leuchtete feiner, weicher Sand. Ein paar Schritte entfernt plätscherte ein schmaler Bach über weiße Steine. Das Wasser war kristallklar und sehr kalt. Einen besseren Ort für die Nacht konnten wir gar nicht finden. »Es ist ja noch nicht einmal dunkel«, maulte Beikla. »Wir sollten noch ein Stück weitergehen. Es reicht, wenn wir unsere Wasservorräte ergänzen. Außerdem schlafe ich lieber im Gras. Es ist weicher.« In mir klingelte eine feine Alarmglocke. Der Blaue war todmüde und konnte kaum noch laufen. Warum legte er unter diesen Umständen solchen Wert darauf, den Marsch jetzt fortzusetzen? Ich fragte ihn nicht danach, aber er hatte meinen mißtrauischen Blick aufgefangen. »Ich dachte ja nur, du hast es eilig«, murmelte er schlechtgelaunt. »Aber wenn du nicht mehr weiterkannst, machen wir selbstverständlich Pause.« Brummend zerrte er seine Decke vom Wagen und breitete sie im Schutz der Felsen aus. Er schob höchst persönlich den Wagen an einen geschützten Platz und machte sich dann daran, Früchte zu sammeln. Ich suchte trockenes Holz und entfachte ein kleines, rauchloses Feuer. Etwas oberhalb unseres Lagerplatzes hatte sich in dem Bach eine tiefe Stelle gebildet. Das Wasser reichte mir auch dort nur etwa bis zur Gürtellinie, aber ich war restlos verschwitzt und wollte die günstige Gelegenheit zu einem Bad wahrnehmen. Als ich jedoch zwei große, wohlge-
25 nährte Fische in dem Kolk sah, war mein ursprünglicher Plan vorerst vergessen. Mein größter Kummer bei dieser Wanderung war, daß die Somorer nicht eine einzige weitreichende Waffe mitgenommen hatten. Wir besaßen jeder ein Messer, und wir hatten eine Axt – das war alles. Mit diesen Hilfsmitteln ließen sich die schnellfüßigen Waldtiere nicht überwältigen. Das Dörrfleisch aus unserem Proviant besaß in etwa den Geschmack ungegerbten Leders. Beiklas Früchte waren genießbar, aber sie lieferten dem Körper wenig Energie. Unter diesen Umständen lief mir bei dem Gedanken an saftiges Fischfleisch vom Spieß das Wasser im Munde zusammen. Die Frage, wie ich die flinken Tiere fangen sollte, löste sich auf ziemlich dramatische Weise. Ganz langsam tauchte ich meine Hände in das Wasser. Die Fische kümmerten sich nicht um mich. Sie hatten die Köpfe gegen die Strömung gestellt, hielten mit leichten Schwanzschlägen ihre Position und schnappten nach Futterbrocken, die das Wasser ihnen zutrieb. Das änderte sich, als meine Hände in ihrem Sichtbereich auftauchten. Ich sah die silbernen Bäuche aufblitzen und fühlte gleichzeitig einen stechenden Schmerz in meinen Fingern. Wütend riß ich die Hände zurück. Die beiden Fische hatten sich festgebissen. An jeder Plana hing einer von ihnen – es war unmöglich, sie loszuwerden. Ich versuchte, sie abzuschütteln, aber bei jeder Bewegung wurden die Schmerzen größer. Feine Blutfäden rannen an meinen Händen herab. Es störte die Fische überhaupt nicht, daß sie auf verlorenem Posten kämpften, weil sie sich außerhalb des Wassers befanden. Meine wilden Flüche alarmierten endlich Beikla. Aufgeregt kam der Kleine herbeigerannt. »Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?« fragte er ärgerlich. »Jeder weiß doch, daß diese dummen Fische beißen. Warum hast du ihnen nicht einen Zweig vor die Nase gehalten? Seine eigenen Finger als Angelhaken zu benutzen – wirklich, Atlan, das
26 hätte ich selbst dir nicht zugetraut!« Ich hätte ihm mit Wonne den dürren Hals umgedreht, aber die Fische verhinderten den Mord. Im Todeskampf drückten sie ihre Kiefer noch fester zusammen. »Tu endlich was!« brüllte ich den Blauen an, der interessiert die sadistischen Fische betrachtete. Beikla zuckte zusammen, hob einen Stein auf und schlug der Bestie an meinem linken Zeigefinger den Brocken genau zwischen die Augen. Sofort öffnete sich das breite Maul. Der Fisch platschte auf meine nackten Füße. Beikla bückte sich blitzschnell und hob das Tier auf. »Der ist ganz schön groß«, kommentierte er. »Selbst ein so gefräßiger Kerl wie du sollte es kaum schaffen, ihn alleine aufzuessen!« Zähneknirschend befreite ich meine rechte Hand und kehrte zum Lagerfeuer zurück. Die Lust auf ein Bad war mir vorerst vergangen. Nachdem ich meine schmerzenden Finger verarztet hatte, weidete ich die Fische aus und bereitete sie zum Braten vor. Sie waren tatsächlich so groß, daß sie mehrere Mahlzeiten ergeben hätten. Beikla setzte seine Suche nach genießbaren Zutaten fort. Er kehrte freudestrahlend mit einem ganzen Arm voller Früchte zurück und setzte sich zu mir ans Feuer. Die bratenden Fische verbreiteten einen appetitanregenden Geruch, und für den Augenblick hatte ich jedes Mißtrauen vergessen. »Zu einem Festessen gehört das passende Getränk!« verkündete Beikla. »Ich werde uns einen wunderbaren Saft zubereiten.« Er holte unsere Becher und begann unverzüglich mit der Arbeit. Mir fiel zwar auf, daß er heute darauf verzichtete, das Fell abzuladen und auszubreiten, um sich von dessen tadellosem Zustand zu überzeugen, aber ich dachte, die Vorfreude auf die ungewöhnliche Mahlzeit wäre daran schuld. Wir aßen und tranken, und es wurde ein sehr erfreulicher Abend. Beikla erzählte die unglaublichsten Geschichten, und ich revanchierte mich, indem ich von meinen Abenteuern bei der
Marianne Sydow Dophor-Sippe berichtete, von Gjeima und dem Bruzack, den Jansonthenern und der mißglückten Ballonfahrt. Dann wurde ich plötzlich so müde, daß ich mich am liebsten direkt neben dem Feuer hingelegt hätte. Mühsam wankte ich zu meiner Decke. Kurz darauf erwachte ich, weil mich etwas ungeheuer Hartes am Hinterkopf traf. Die Finsternis vor meinen Augen belebte sich mit einem Gewirr greller Blitze, dann holte eine tiefe Ohnmacht mich ein.
4. Stöhnend blinzelte ich in das grelle Sonnenlicht und rieb mir meinen schmerzenden Schädel. Nur zögernd kehrte die Erinnerung zurück. Als mir klar wurde, was in der vergangenen Nacht geschehen war, hätte ich mich am liebsten geohrfeigt. Ich war dem Somorer ahnungslos auf den Leim gegangen. Ich setzte mich vorsichtig auf und stellte in Gedanken ein Sortiment ausgesuchter Flüche zusammen. Dieser blaue Giftzwerg sollte mich kennenlernen! Wenn er doch wenigstens darauf verzichtet hätte, meinen geplagten Kopf mit einer weiteren Beule zu versehen! Ich stellte fest, daß Beikla und der Wagen verschwunden waren. Das überraschte mich nicht. Beikla hatte noch immer nicht die geringste Lust, Teghment kennenzulernen. Ein großer Minuspunkt für den Somorer war es in meinen Augen jedoch, daß er die gesamte Ausrüstung hatte mitgehen lassen. Ich verfügte nur noch über das Messer in meinem Gürtel und die Decke, auf der ich lag. »Nicht gerade viel, wenn man in einer unbekannten Gegend durch die Wildnis marschieren muß!« murmelte ich vor mich hin, erhob mich taumelnd und stattete dem Bach einen Besuch ab. Ich überzeugte mich davon, daß keiner dieser heimtückischen Fische in der Nähe war, ehe ich meinen Kopf in das eiskalte Wasser tauchte. Danach fühlte ich mich etwas wohler.
Der Blaue von Somor Beikla hatte auch die Reste der gebratenen Fische mitgenommen, und da ich großen Hunger hatte, ging ich auf die Suche nach eßbaren Früchten. Zum Glück hatte ich Beikla in den letzten zwei Tagen gründlich beobachtet. Ich fand genug, um das wilde Knurren meines Magens zu dämpfen. Beikla hatte mich betäubt. Irgendeine Frucht in meinem Saft hatte dafür gesorgt, daß ich tief und fest schlief. Gut. Aber er wollte sichergehen und hatte mir deshalb beinahe den Schädel eingeschlagen. Das war gewiß keine mutige Tat, aber es vermittelte mir einige Erkenntnisse über die Psyche des Dicken. Der Somorer scheute jedes unnötige Risiko. Er hatte mit seinem feigen Überfall gewartet, bis die Lage für ihn günstig war. Es lag ihm bestimmt nichts daran, sich mit dem Wagen durch unwegsamen Dschungel zu kämpfen. Er hatte oft genug davon gesprochen, daß wir in der Glassteppe schnell und leicht vorankommen würden. Vermutlich lag also dieses geheimnisvolle Gebiet direkt vor uns. Der Blaue hatte sich einen guten Vorsprung gesichert. Das würde ihm jedoch wenig nützen. Ich kam auf jeden Fall schneller voran. Schon nach kurzer Zeit lichtete sich der Wald noch stärker, und bald verschwanden auch die letzten Bäume. An ihre Stelle trat hartlaubiges Gebüsch. Beiklas Spuren waren deutlich zu erkennen. Erst als sich die ersten Geröllflächen vor mir ausbreiteten, erkannte ich, daß die Verfolgung noch einige Schwierigkeiten mit sich bringen würde. Ich konzentrierte mich so stark auf die Fährte, daß ich erst im letzten Augenblick reagierte, als die fremdartigen Laute an mein Ohr drangen. Hastig duckte ich mich hinter einen Busch. Vor mir lag ein schmaler Geröllstreifen, der in niedriges Gras überging. An einer Stelle waren die Halme auf einer breiten Fläche niedergewalzt, und eine dünnere Spur führte direkt zu einer Gruppe kleiner, knorriger Bäume, zwischen denen sich etwas bewegte. Unartikulierte Rufe waren zu
27 hören. Ich strengte meine Augen an, konnte die Wesen jedoch durch die hitzeflimmernde Luft nicht deutlich erkennen. Ich stellte nur fest, daß sie sehr groß waren und auf zwei Beinen gingen. Plötzlich waren ähnliche Laute auch hinter mir zu hören. Ich zog mich vorsichtig weiter unter die dornigen Zweige zurück. Eine Gruppe urweltlicher Gestalten betrat den Geröllstreifen. Sie waren im Durchschnitt an die drei Meter groß und von Kopf bis Fuß so behaart, daß ich kaum erkennen konnte, wo die zotteligen Pelze, die ihnen als Kleidung dienten, begannen und ihre eigenen Haare aufhörten. Sie unterhielten sich lautstark in einer gutturalen Sprache und wirkten äußerst zufrieden. Jeder der acht Riesen schleppte einen Speer mit sich, der mindestens so dick wie mein Unterarm war, und an jedem Speer hing ein erlegtes Tier. Von der Baumgruppe klang vielstimmiges Geschrei herüber. Die Riesen schwenkten ihre Speere und brüllten zurück. Dem Busch, in dem ich steckte, gönnten sie keinen Blick. Gewichtig stampften sie durch das Gras. Ich beobachtete sie ärgerlich und fragte mich, was ich jetzt machen sollte. Die Kerle versperrten mir den Weg. Entweder umging ich sie, und dann lief ich Gefahr, Beiklas Spur zu verlieren, oder ich wartete, bis sie weiterzogen, und dann verlor ich eine Menge Zeit. Seit meinem Aufbruch war ich auf keine Quelle mehr gestoßen. Ich war hungrig und durstig und hatte es sehr eilig, Beikla einzuholen, denn auf dem Karren lag alles, was ich mir jetzt wünschte. Eben entschied ich mich dafür, den zeitraubenden Umweg in Kauf zu nehmen, denn die Riesen entfachten zwischen den Bäumen ein großes, stark rauchendes Feuer und offenbarten somit die Absicht, an diesem Ort eine längere Rast einzulegen. Da bannte mich ein neues Geräusch an meinen Platz. Dieses Schnattern kannte ich nur zu gut. Es riß dann abrupt ab, und dafür erschütterte dröhnendes Gelächter die Luft. Die Situation
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Marianne Sydow
war eindeutig. Es war kaum anzunehmen, daß noch mehr Somorer in dieser Gegend herumliefen. Das Schnattern stammte also von Beikla. Wo der Blaue war, da konnte der Wagen nicht weit sein. Der Somorer war den Riesen in die Hände gefallen, und somit waren sie auch die neuen Besitzer des Karrens und der darauf verpackten Kostbarkeiten. Die Sonne stand schon ziemlich tief, ehe ich mein Versteck verlassen konnte. Mit knurrendem Magen schlich ich den vierzehn ungeschlachten Kerlen nach. Meine Stimmung war auf dem Nullpunkt angelangt, seitdem ich stundenlang das Vergnügen gehabt hatte, den von ihrem Lagerfeuer herüberwehenden Bratenduft genießen zu dürfen. Es versöhnte mich auch nicht mit meinem Schicksal, als ich entdeckte, daß der Lagerplatz der Fremden neben einer kleinen Quelle lag. Ich konnte zwar meinen Durst stillen, aber die Pflanzen, die hier wuchsen, kannte ich nicht. Die letzten Büsche verschwanden, und ich war gezwungen, den Riesen einen noch größeren Vorsprung zu lassen, denn in diesem freien Gelände gab es praktisch gar keine Deckung mehr. Wir hatten die Glassteppe erreicht.
* Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen verwandelten das Land vor mir in eine von grellen Lichtreflexen durchzuckte Fläche. Halbhohes Gras bildete kleine, graugrüne Inseln zwischen blendend weißen Geröllfeldern. Überall verteilt gab es verschieden große Stellen irgendeines Minerals, das das auftreffende Licht wie ein Spiegel zurückwarf. Jeder Schritt wirbelte mehlfeinen Staub auf. Meine Augen tränten. Ich versuchte, auf eine der Grasflächen auszuweichen, um dem Staub zu entkommen, zog mich jedoch schnell wieder zurück. Die Gräser, die sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung behaupteten, waren mit messerscharfen Kanten
ausgestattet und trugen zu allem Überfluß an der Spitze kleine Widerhaken. Als ich an eine Ansammlung des spiegelnden Minerals kam, begriff ich, woher die Glasteppe ihren Namen erhalten hatte. Ich hob einen der glänzenden Brocken auf. Es handelte sich um ein glattes, fast völlig durchsichtiges Material. Im Innern des seltsamen Steines erkannte ich etliche Blasen und verschiedene dunkle Einschlüsse. Ich hatte diese Art von »Steinen« schon früher gesehen, brauchte jedoch eine Weile, um auf den richtigen Gedanken zu kommen, weil mir ihr Vorhandensein an diesem Ort so völlig unwahrscheinlich vorkam. Es handelte sich um simples Glas, geschmolzen unter sehr hohen Temperaturen und anschließend zu diesen glatten Brocken erstarrt. Genau solche Glasklumpen fand man nach atomaren Explosionen. Gegend Abend tauchte weit voraus ein dunkler Fleck auf. Dort schien es Felsen oder eine Baumgruppe zu geben – die Umrisse verschwammen in der flimmernden Luft. Die Spuren führten schnurgerade darauf zu. Als ich näherkam, sah ich einen dünnen Rauchfaden aufsteigen. Die Riesen hatten ihr Nachtlager erreicht. Ich wartete, bis es dunkel genug geworden war. Von einem der letzten Bäume hatte ich einen Ast abgebrochen und ihn zu einer einfachen Keule verarbeitet. Gegen die Waffen der Riesen wirkte sie wie ein Kinderspielzeug, und auch mein Messer war für einen offenen Kampf gegen die Giganten nicht geeignet. Mein Durst wuchs schon wieder, und in mir brodelte eine gesunde Wut auf den Somorer, dem ich das alles zu verdanken hatte. Düster und drohend ragten endlich ein paar Felsen vor mir auf. Ich hörte die Stimmen der Fremden und schlich mich vorsichtig an sie heran. Ein leichter Wind kam auf und wehte mir den Duft gebratenen Fleisches entgegen. Die Kerle aßen also schon wieder! Ein schwacher Lichtschimmer zwischen zwei Felsblöcken wies mir den Weg. Die Jä-
Der Blaue von Somor ger hatten keine Wache aufgestellt, und den Geräuschen nach zu urteilen, war jenseits des steinernen Schutzwalls gerade ein Festmahl im Gange. Millimeterweise schob ich mich vorwärts und spähte um die Ecke. Die bärtigen Gestalten hockten im Kreis um das Feuer und waren emsig damit beschäftigt, sich unseren Proviant einzuverleiben. Der Karren stand etwas abseits unter einem dürren Busch, der direkt aus dem Felsen zu wachsen schien. Unsere beiden Bündel lagen noch auf der Ladefläche, alles andere häufte sich vor den schmatzenden Riesen auf.Als einer der Burschen eine Feldflasche ansetzte und das Wasser in sich hineingluckern ließ, hätte ich fast die Beherrschung verloren. Dann entdeckte ich Beikla. Der arme Kerl hatte seinen eigenwilligen Ausflug bitter zu büßen. Er war mit Stricken an einen in den Boden gerammten Speer gefesselt und durfte zuschauen, wie seine Feinde speisten. Er war den Riesen mit seinem Protestgeschrei wohl zu sehr auf die Nerven gefallen, denn man hatte ihn geknebelt. Ab und zu drangen quäkende Laute unter dem schmutzigen Tuch hervor, und die Pupillen des Augenbandes funkelten zornig. Ich zog mich lautlos aus der unmittelbaren Nähe der Jäger zurück, verkroch mich in einer Felsspalte und wartete darauf, daß die Kerle sich zur Ruhe begaben. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis es hinter den Felsen still wurde. Ich sondierte die Lage und stellte erfreut fest, daß auch jetzt keiner der Giganten Wache stand. Das Feuer brannte noch. Wie unförmige Steine lagen die Fremden im Sand. Einer hatte seinen rechten Arm liebevoll um den Wagen gelegt, und ein anderer benutzte das Fell des Bullen als wärmende Decke. Die übrigen Trophäen hatten ebenfalls ihren Besitzer gewechselt, aber zum Glück hatte man unsere Bündel noch nicht geöffnet. Beikla war wach. Er starrte seine Bezwinger wütend an und zerrte wild an seinen Fesseln. Als er mich sah, stieß er einen überraschten Laut aus. Hastig hob ich den Finger an die
29 Lippen. Zum Glück verstand der Somorer meine Warnung. Er deutete zornig mit den Augen auf das Fell und zerrte noch nachhaltiger an dem Strick, der um seine Arme lag. Mir war klar, daß er trotz der Gefahr, in der wir schwebten, darauf bestehen würde, seine Kostbarkeiten in Sicherheit zu bringen. Ich war nicht gewillt, mich durch seine Unvernunft ans Messer liefern zu lassen. Ich ging betont sanft mit Beikla um, denn verletzt nützte er mir wenig. Also tippte ich ihm mit meiner improvisierten Keule nur ganz vorsichtig auf den kahlen Kopf, als er dachte, ich würde ihn von seinen Fesseln befreien. Er gab keinen Laut von sich. Erst als ich mich von der Wirksamkeit dieser Vorsichtsmaßnahme überzeugt hatte, löste ich die zahlreichen Knoten und wickelte den Blauen aus dem Kokon von Stricken. Den Knebel ließ ich vorerst noch an seinem Platz. Ich trug Beikla an den schlafenden Jägern vorbei aus dem kleinen Felskessel und kehrte dann zurück, um unsere wertvolle Ausrüstung zu bergen. Der baumlange Kerl, der unseren Wagen so liebgewonnen hatte, versperrte mir den Weg. Ich konnte ihn nicht umgehen, ohne dabei einem anderen Urmenschen auf die Finger zu treten. Also stieg ich vorsichtig über die Beine des Giganten hinweg. Kaum hatte ich das Hindernis überwunden, da wälzte der Mann sich unruhig auf die andere Seite. Ein langer Arm wischte durch die Luft und versetzte mir einen Schlag auf das verlängerte Rückgrat, der mich von den Beinen riß. Ich wollte neben den Wagen, kauerte mich hinter ein Rad und wartete mit angehaltenem Atem. Sekundenlang blieb alles ruhig, dann ließ ein wildes Blubbern, mir das Blut in den Adern stocken. Ein zischendes Pfeifen folgte, dann kam wieder das Blubbern, und nachdem der ganze Vorgang sich einige male rhythmisch wiederholt hatte, wußte ich Bescheid. Eine halbe Minute später verließ ich auf Zehenspitzen das Lager der Riesen. Inzwischen hatten noch zwei andere zu schnar-
30 chen begonnen. Als ich unsere Bündel neben Beikla absetzte, erkannte ich, daß der Somorer bereits aufgewacht war. Er grunzte und quakte zornig vor sich hin, während er sich vergeblich bemühte, den Knoten des Knebels auf seinem Hinterkopf zu lösen. Er sah die Bündel, stellte fest, daß kein einziges Stück von dem Bullen in meiner Fracht enthalten war, und drehte durch. Ich erwischte ihn knapp zwei Meter vor dem Lager am Kragen und hielt ihn fest. Er wand sich wie eine Katze, versuchte zu kratzen und trat mit seinen dünnen Beinchen nach mir, aber ich schleifte ihn unerbittlich von der Felslücke fort. »Paß gut auf, Beikla!« zischte ich, als wir uns weit genug entfernt hatten. »Entweder nimmst du jetzt Vernunft an und kommst mit, oder ich gebe dir eins über den Schädel und lasse dich liegen. Die Riesen werden sich freuen!« Hinter dem Tuch ächzte es entsetzt, dann kam eine Pause, in der der Somorer eingehend über mein Angebot nachdachte. Um seine Entschlußfreudigkeit anzuregen, hob ich demonstrativ meine Keule. Er duckte sich ängstlich und gab mir durch Gesten zu verstehen, daß er einverstanden war. Den Knebel nahm ich ihm trotzdem erst ab, als die Jäger uns bestimmt nicht mehr hören konnten. Das war auch ganz gut so, denn allen guten Vorsätzen zum Trotz schimpfte der Blaue fürchterlich über den schweren Verlust, der ihn getroffen hatte. Ich hob die beiden Traglasten auf und marschierte davon. »Du kannst mich doch nicht einfach im Stich lassen!« beschwerte er sich weinerlich, als er mich eingeholt hatte. »Ohne Ausrüstung bin ich in dieser Wildnis verloren!« »Was du nicht sagst!« gab ich bissig zurück. »Das ist für mich tatsächlich eine völlig neue Erkenntnis!« Beikla brauchte ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. »Es tut mir leid, Atlan!« behauptete er dann. »Wirklich! Es war nicht recht von mir, dich dort am Bach niederzuschlagen und den
Marianne Sydow Wagen mitzunehmen. Verzeih mir!« »Du vergißt, daß du mich außerdem auch noch betäubt hast.« »Das hast du gemerkt? Du bist wirklich klug, das muß man dir lassen. Aber sieh mal, ich wollte doch nur nach Hause. Jetzt ist ja alles in Ordnung. Unsere Trophäen sind weg. Wenn wir nichts mehr haben, was wir den Unheimlichen von Teghment anbieten können, brauchen wir gar nicht erst hinzugehen. Sie würden uns doch nur die Kehlen durchschneiden. Jetzt, wo es endlich nach Somor geht, habe ich keinen Grund mehr, dir davonzulaufen.« »Es geht immer noch nicht nach Somor«, bemerkte ich sanft. Schweigen. »Warum nicht?« fragte Beikla etliche Meter weiter fassungslos. »Weil ich nach Teghment will. Und ich werde dorthin gehen, ob es dir nun paßt oder nicht.« »Dann geh!« fauchte Beikla wütend. »Renn in dein Verderben, du Narr. Aber ich werde dich auf keinen Fall begleiten!« »Das brauchst du ja auch gar nicht.« »Du läßt mich frei? Ich darf nach Somor zurückkehren?« »Natürlich«, nickte ich freundlich. »Du kannst gehen, wohin es dir paßt.« Beikla stieß einen erfreuten Laut aus, dann streckte er die Hand aus. »Gib mir mein Bündel!« forderte er. »Warum?« wollte ich mit gespieltem Erstaunen wissen. Jetzt wußte der Somorer überhaupt nicht mehr, woran er war. Es tat mir beinahe leid, daß ich ein so schmutziges Spiel mit ihm treiben mußte, aber ich erinnerte mich deutlich genug an seine Hinterlist. Die Beule auf meinem Kopf schmerzte immer noch. »Ich kann doch …«, begann der Dicke stockend. »… nicht ohne Ausrüstung weitergehen«, setzte ich seinen Satz fort. »Das weiß ich ja schon alles. Siehst du, Beikla, jedes Ding hat seine zwei Seiten. Du hast mich ganz gemein hintergangen. Vorhin hätte ich ebenso-
Der Blaue von Somor gut nur die beiden Packen mitnehmen können. Welchen Grund hatte ich denn, ausgerechnet dir zu helfen? Aber ich bin eben anders als du. Ich habe mein Leben aufs Spiel gesetzt, um dich zu retten. Was ist dein Dank dafür? Du verlangst, daß ich mit dir teile und dich ziehen lasse. Nein, mein Lieber! Du kannst gehen, wohin du willst, aber diese beiden Bündel sind meine Beute. Wenn du sie haben willst, wirst du mit mir kämpfen müssen. Und noch einmal werde ich es dir nicht so einfach machen!« Er starrte mich lange Zeit fassungslos an, dann trottete er wortlos weiter. Der Himmel war klar, und die Sterne spendeten genug Licht, um uns die gefährlichsten Hindernisse erkennen zu lassen. Ich achtete darauf, daß wir uns in möglichst gerader Richtung von dem Lager der Jäger entfernten und dabei nicht ausgerechnet über weiche Sandflächen liefen. Bis zum Morgengrauen hatten wir eine ganz ordentliche Strecke zurückgelegt. Wir fanden eine flache Bodensenke, die uns Schutz vor Entdeckung und dem Wind bot, der in der Nacht aufgekommen war. Erschöpft breiteten wir unsere Decken auf dem harten Boden aus, gönnten uns ein paar Bissen aus unserem nun arg zusammengeschrumpften Proviant und einen Schluck Wasser und genossen die Wohltat, die Beine auszustrecken. Die Situation war verzwickt. Solange Beiklas Verhalten mir nicht einwandfrei bewies, daß er von nun an zu mir hielt, mußte ich ständig auf der Hut sein. Beikla dagegen war zum Umfallen müde, wagte jedoch ebenfalls nicht zu schlafen, denn er hatte Angst, ich könnte mich davonmachen. »Du meinst es ernst, nicht wahr?« erkundigte er sich nach einer Weile. Ich schrak aus dem Dahindösen auf. »Ja.« Beikla schniefte traurig. »Also gut«, seufzte er. »Ich komme mit. Vielleicht ist es sogar gut so. Ein Bericht über Teghment und seine Bewohner wird mich tatsächlich berühmt machen. Mag sein,
31 daß ich Somor niemals wiedersehe. Aber ohne das Bündel schaffe ich es ohnehin nicht. Du kannst dich auf mich verlassen!« Ich nickte müde. Noch traute ich dem Frieden nicht, aber warum sollte ich dem Kleinen das mitteilen? Ich beschränkte mich darauf, die beiden Riemen, mit denen ich beide Traglasten gesichert hatte, um meine Handgelenke zu winden.
* »Was hatten die Riesen eigentlich mit dir vor?« fragte ich, als wir uns gegen Mittag des nächsten Tages wieder auf den Weg machten. Die höhersteigende Sonne hatte die Senke in einen Backofen verwandelt, und die Hitze hatte uns vertrieben. Über die Steppe wehte immer noch ein leichter Wind, der zwar angenehm kühlte, dafür aber auch das Wasser aus unseren Körpern saugte. Unsere Reserveflaschen waren fast leer. Beikla hatte mir versichert, es gäbe Quellen in dieser Einöde, und eine davon sei ganz in der Nähe. »Sie wollten mich braten«, erklärte Beikla empört. »Diese Kerle haben keine Ahnung von Kultur. Stell dir vor, sie wollten mich schlachten. Aber ich habe ihnen eingeredet, es wäre besser, mich lebend in ihr Hauptlager zu bringen, weil frisches Fleisch bei dieser Hitze zu leicht verdirbt. Das sahen sie ein, aber glaubst du, sie hätten mir etwas zu essen gegeben? Bei dieser Behandlung wäre ich als ungenießbares Skelett am Ziel angekommen.« Ich mußte lachen. Beikla plapperte munter weiter, und nach und nach erfuhr ich die ganze Geschichte. Der Somorer versuchte zwar, seine eigene Klugheit herauszustellen, aber er schnitt nicht gut dabei ab. Er war den Riesen völlig ahnungslos in die Falle gegangen. »Was sind das überhaupt für Leute?« erkundigte ich mich, als der Redestrom allmählich versiegte. »Du sagtest doch, es gibt hier keine Eingeborenen!« »Ich wußte nicht, daß sie sich jetzt hier
32 herumtreiben«, murmelte Beikla schuldbewußt. »Sie leben nur an den Grenzen der Glassteppe. Sie sind wie Tiere, ziehen umher und bleiben niemals lange an einem Ort. Sie essen buchstäblich alles, und manchmal veranstalten sie auch Jagden auf die Glasdämonen. Ihre einzigen Feinde sind die Zradus. Die Barbaren taugen zwar nicht als Sklaven, weil sie zu dumm sind, aber sie haben den Sklaven Jägern schon oft Ärger gemacht. Seitdem verfolgt man sie.« »Da du gerade von der Glassteppe sprichst«, kam ich auf ein anderes Thema, »was weißt du eigentlich über dieses Land?« »Wenig«, behauptete Beikla. »Aber es gibt eine Legende. Vor langer Zeit soll hier ein gewaltiger Palast gestanden haben, der nur aus Glas gebaut war. Es war ein prächtiges und reiches Land mit vielen Menschen und großen Viehherden. Aber der Wahnsinnige Motros, der über dieses Volk herrschte, wurde übermütig. Er schickte eine Expedition nach Teghment, weil er glaubte, er könne sich mit den Bewohnern dieses geheimnisvollen Landes vergleichen. Als Strafe für seine Neugier zerstörten die, die aus dem Dunkeln kamen, seinen Palast. Der Wahnsinnige Motros verging in einer ungeheuren Leuchterscheinung. Der Palast zersprang, und die Splitter aus seinen Wänden bedeckten das ganze Land. Sie machten den Boden unfruchtbar, und der Reichtum der Motrorer verging. Sie selbst wurden in Dämonen verwandelt, die ruhelos durch ihre frühere Heimat irren.« Ich ließ meine Blicke über das verwüstete Land wandern und nickte langsam. Ein Teil dieser Geschichte mochte stimmen. Aber vieles war auf mystische Weise gedeutet, weil das notwendige Wissen für eine logische Erklärung fehlte. Hier hatte zweifellos eine Atomexplosion stattgefunden. Die Teghmenter verfügten also über Waffen, durch die sie den in technischer Hinsicht noch sehr primitiven planetaren Völkern überlegen waren. Ein Grund mehr für mich, mit ihnen in Verbindung zu treten.
Marianne Sydow Die Glasdämonen hatte ich bereits kennengelernt. Wenn ich ihr Aussehen mit Beiklas Geschichte in Verbindung brachte, dann stand fest, daß es sich bei ihnen um mutierte Nachkommen der ehemaligen Bevölkerung handelte. Die Riesen mochten ebenfalls zu diesem hochzivilisierten Volk gehört haben. Sie hatten sich zwar äußerlich nicht stark verändert, waren jedoch auf den kulturellen Stand von primitiven Nomaden zurückgesunken. »Da vorne ist die Quelle«, machte Beikla mich auf einen smaragdgrünen Flecken aufmerksam, der wie ein Fremdkörper in der staubigen Öde leuchtete. »Nicht so eilig!« warnte ich den Kleinen. »Laß uns erst einmal nachschauen, ob diese Oase nicht schon andere Besucher hat.« Beikla blieb stehen, als wäre er gegen eine Mauer gerannt. »Du meinst, es gibt dort Glasdämonen?« erkundigte er sich ängstlich. »Ich weiß es nicht«, machte ich ihm klar. »Aber es kann doch sein, nicht wahr? Auch diese Wesen kennen doch die wenigen Quellen in ihrem Gebiet!« »Dann müssen wir verdursten«, behauptete Beikla düster. »Diese Ungeheuer sind noch schlimmer als, die Riesen. Sie kennen nicht einmal das Feuer. Wenn sie uns erwischen, fressen sie uns roh.« »Erst müssen sie uns haben«, beruhigte ich ihn. »Wir warten hier, bis es dämmerte. Dann schleiche ich mich näher heran.« Wir suchten uns einen Platz, von dem aus wir die Umgebung im Auge behalten konnten, ohne deswegen selbst von weither gesehen zu werden. Im Laufe unserer Wanderung hatte ich immer wieder nach den Riesen Ausschau gehalten. Es gab keine Anzeichen dafür, daß wir verfolgt wurden. Beikla schien in diesem Punkt die Wahrheit zu sagen. Er behauptete nämlich, diese Barbaren würden sich nur dann in den Herrschaftsbereich der Glasdämonen wagen, wenn akuter Nahrungsmangel sie dazu zwang. Die kleine Oase erweckte nicht den Anschein, als wimmelte es in ihr von Mutanten.
Der Blaue von Somor Nichts rührte sich. Die Stille machte mich nervös. Es gab fast kein Geräusch in der Steppe. Nur manchmal schabten leise die Schuppen einer Schlange über die glühend heißen Steine. Die harten Grashalme rieben sich im Wind aneinander und erzeugten ein dünnes Sirren. Die Dämmerung kam, und die Temperatur sank innerhalb einer halben Stunde bis auf einen Wert nahe dem Gefrierpunkt. Ich ließ Beikla bei den Bündeln zurück. Er würde sich nicht davonmachen, denn ich hatte die Feldflaschen bei mir. Als ich die ersten Büsche erreichte, kauerte ich mich unter die Zweige und lauschte. Ich vernahm ein leises Rascheln und packte mein Messer fester. Ein dunkler Schatten huschte über die vor mir liegende freie Fläche und tauchte hastig im Gesträuch unter. Das Rascheln entfernte sich ein Stück, dann blieb es kurze Zeit still. Gleich darauf hörte ich ein leises Schlürfen. Ich nickte zufrieden. Dieses sechsbeinige Tier gab mir die fast völlige Gewißheit, daß ich das einzige denkende Wesen in der Oase war. Beikla hatte mir versichert, daß die Glasdämonen einen so starken Geruch ausströmten, daß selbst die Somorer sie auf etliche Meter Entfernung wittern konnten. Das Tier, das jetzt seinen Durst stillte, hätte die Jäger also rechtzeitig bemerkt. Trotzdem untersuchte ich die Umgebung der Quelle, ehe ich zu Beikla zurückkehrte. »Die Luft ist rein«, teilte ich ihm mit. »Komm!« Wir blieben vorsichtig. Nur einer von uns trank, während der andere Wache hielt. Dann füllten wir unsere Feldflaschen und zogen uns leise zurück. Erleichtert setzten wir unseren Weg durch die Steppe fort. Wir hatten für zwei Tage Wasser, vorausgesetzt, wir gingen sparsam mit dem kostbaren Naß um. Bis dahin würden wir die nächste Quelle erreichen, von der – laut Beikla – die Grenze Teghment nur noch einen Tagesmarsch entfernt lag. »Wir werden noch etwa eine Stunde gehen«, entschied ich. »Dann suchen wir uns
33 einen Platz für die Nacht.« Beikla schrie erschrocken auf, und ich drehte mich um. Keine fünf Meter hinter uns war ein dunkler Felsbrocken zum Leben erwacht. Wir waren trotz aller Vorsicht auf einen Glasdämon gestoßen.
5. Das Wesen hatte uns zweifellos schon lange beobachtet. Wie ein Raubtier schoß es hoch und stürzte sich auf uns. Beikla war vor Angst wie erstarrt. Ich riß ihn im letzten Moment zur Seite, und der erste Schlag des Mutanten ging fehl. Der schwere Körper wirbelte mit erstaunlicher Geschicklichkeit um seine Achse, dann stand der Fremde vor uns, geduckt und wachsam. In der Größe konnte er sich mit den riesigen Jägern durchaus messen, und im schwachen Sternenlicht wirkte er massig und schwer. Vorsichtig zog ich mein Messer aus dem Gürtel. Der Mutant bemerkte die Bewegung und sprang. Aber ehe er mich erreichte, war ich ausgewichen, und wieder rannte das Wesen ins Leere. Beikla hatte sich inzwischen soweit von seinem ersten Schrecken erholt, daß er mit einem kurzen Quietscher hinter einem Felsbrocken verschwand. Der Mutant schenkte dem Kleinen vorerst keine Aufmerksamkeit. Ich war eine größere Beute für ihn. Mit wiegenden Schritten kam er näher. Die Arme hatte er leicht abgewinkelt. Seine gewaltigen Hände bewegten sich unruhig. Wachsam verfolgte ich jede seiner Bewegungen. Als er zum nächsten Sprung ansetzte, war ich schon wieder außer Reichweite. Er stieß ein unwilliges Grunzen aus und bückte sich blitzschnell. Ein kopfgroßer Stein flog auf mich zu. Ich duckte mich und warf mich gleichzeitig zur Seite. Der Mutant, der seinem Wurfgeschoß nachgesetzt hatte, konnte nicht schnell genug abbremsen und rutschte auf dem Geröll aus. Aber die harte Landung reizte ihn nur noch mehr. Mit einem Knurren rannte der mordlüster-
34 ne Kerl auf mich zu, und diesmal war die Zeit zu knapp. Ich brachte meinen Kopf in Sicherheit, fing jedoch einen Schlag auf die linke Schulter ein. Der rasende Schmerz betäubte mich fast. Ich rächte mich, indem ich mit voller Wucht nach seinem Schienbein trat. Er stolperte nur kurz. Bei der nächsten Runde dieses Kampfes brachte ich mein Messer zum Einsatz. Ich stach nach dem Schenkel des Mutanten, aber die scharfe Klinge glitt ab. Die Haut dieses Wesens war wie ein Panzer. Damit war ich um eine Illusion ärmer. Auch die Reaktionen des Fremden waren verhältnismäßig gut. Auf einen Nahkampf, in dem ich meine Dagor-Kenntnisse an den Mann bringen konnte, durfte ich mich in diesem Fall nicht einlassen, und somit stand die Partie ziemlich schlecht für mich. Als er das nächstemal aus dem Gleichgewicht kam, griff ich seine eigene Taktik auf und warf ihm einen schweren Stein an den Kopf. Der Mutant schüttelte sich kurz, sprang dann ungerührt auf und setzte den Kampf fort. »He, Beikla!« schrie ich wütend, während ich unter der riesigen Faust wegtauchte. »Wo ist dieser Kerl verwundbar?« Der Dicke schwieg sich aus. Mein linker Arm war fast unbrauchbar. Ein dumpfer Schmerz strahlte von der Schulter aus. Ich war nahezu am Ende meiner Kräfte. Noch einmal gelang es mir, den Mutanten zum Stolpern zu bringen, und jetzt setzte ich alles auf eine Karte. Bevor er sich aufrichten konnte, sprang ich auf seinen Rücken. Ich spürte ein Haarbüschel zwischen den Fingern und krallte mich daran fest. Ein schmerzerfülltes Stöhnen war die Antwort. Das Messer glitt am Nacken des Fremden ab. Die Panzerung schien seinen ganzen Körper zu umhüllen. Ich holte von neuem aus, da schüttelte sich der Gigant wie ein Tier, das sich von einem lästigen Reiter befreien will. Ich schlang einen Arm um den Hals meines Gegners. Die Luft drückte ich ihm damit nicht ab, im Gegenteil, meine
Marianne Sydow Finger glitten hilflos über die glatte, schuppige Haut. Verzweifelt stieß ich mit dem Messer auf den Kopf des Mutanten ein, aber das störte ihn anscheinend wenig, denn er langte mit einer Hand über den Rücken und bekam mich an der lädierten Schulter zu packen. Der Schmerz raubte mir fast die Besinnung. In einem puren Reflex jagte ich das Messer nach vorne – und diesmal fand die Klinge ihr Ziel. Ein wildes Brüllen ließ die Luft erzittern. Ich wurde davongeschleudert und überkugelte mich im Gras. Wie tausend feine Messer zerschnitten die Halme meine Haut überall dort, wo ich nicht geschützt war. Ich biß die Zähne zusammen, um nicht ebenfalls zu schreien und hechtete auf das Geröll zurück. Wie ein wandelnder Turm stampfte der Mutant auf mich zu, und ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Aber der Glasdämon hatte genug von mir. Er raste an mir vorbei in die Steppe und brüllte seinen Schmerz hinaus. Ich blieb keuchend liegen. Es dauerte lange, bis ich die Kraft fand aufzustehen. Taumelnd gelangte ich zu dem Felsen, hinter dem Beikla den Ausgang des Kampfes abgewartet hatte und ließ mich neben den Blauen fallen. Meine Schulter tat teuflisch weh, und erst jetzt spürte ich die zahlreichen Prellungen und sonstigen kleinen Verletzungen, die ich davongetragen hatte. Die Schreie des Mutanten verloren sich allmählich in der Ferne. »Ist er weg?« wisperte eine Stimme an meinem Ohr. »Es scheint so«, murmelte ich apathisch. »Du hast ihn ins Auge getroffen«, stellte Beikla fest, und seine Stimme klang schon wesentlich mutiger. »Das hast du sehr gut gemacht, Atlan. Ich selbst hätte es nicht besser gekonnt.« Ich war zu erledigt, um diesem Giftzwerg die passende Antwort zu geben. »Zum Glück war es nur ein Einzelgänger«, schwatzte der Somorer weiter. »Wären zwei von ihnen dagewesen, so hätte ich selbstverständlich eingegriffen. Aber ich ha-
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be gleich gesehen, daß es sich um ein schwächliches Exemplar handelte, mit dem du spielend fertig werden konntest. Natürlich war es dumm von dir, so lange zu warten, ehe du richtig losgelegt hast. Aber laß nur, bald wirst du genug Übung haben …« Ich hatte genug. Es war einfach nicht mehr fair. Ich legte die letzte Kraft, die ich noch besaß, in den Schlag, mit dem ich Beikla von seinem bequemen Sitzplatz beförderte. Der Somorer rollte quietschend einen kurzen Abhang hinunter und schimpfte empört von unten herauf. Ich schloß die Augen und zählte ganz langsam bis zehn. Dann hatte ich den Wunsch, diesem unverschämten Kerl ein für allemal die dürre Kehle zuzudrücken, überwunden. Mühsam raffte ich mich auf und sammelte die Bündel ein. Mein Mund war knochentrocken, und ich gönnte mir einen winzigen Schluck Wasser. Dann erst zog ich den Somorer aus den stacheligen Ranken heraus, zwischen denen er sich verstrickt hatte.
* Die zweite Begegnung mit den Glasdämonen fand am nächsten Tag statt und verlief zum Glück weniger kräftezehrend. Wir sahen die kleine Gruppe von etwa zehn dieser Wesen früher als sie uns und schafften es daher, ihnen aus dem Wege zu gehen. Immerhin verschaffte mir der Anblick dieser Gestalten eine ungefähre Vorstellung davon, gegen wen oder was ich in der Wacht gekämpft hatte. Auch die Mutanten waren im Durchschnitt etwa drei Meter groß, und ihre Schulterbreite fiel dementsprechend aus. Einige waren durchgehend behaart, andere hatten eine geschuppte Haut. Die gewaltige Größe und der wuchtige Körperbau stellten allerdings auch schon das einzige Merkmal dar, das allen Glasdämonen gemeinsam war. Die Strahlung hatte die absonderlichsten Gestalten geschaffen, und ich dankte sämtlichen unbekannten Göttern dieses Planeten, daß ich nicht gegen einen Feind mit zwei oder
mehr Armpaaren hatte kämpfen müssen. Die alptraumhaften Wesen verschwanden in der Ferne. Sie hielten auf die Quelle zu, von der wir kamen. Ich hoffte, daß sie dort ihren verletzten Artgenossen finden und ihm helfen würden. Die Natur hatte diese Wesen grausam genug bestraft, und ich war fest entschlossen, keines von ihnen zu töten, falls ich nicht dazu gezwungen war. Beikla lachte mich aus. »Das sind doch nur Tiere«, meinte er abfällig. »Sieh sie dir an: Sie laufen nackt durch die Gegend und fressen, was ihnen unter die Finger kommt. Sie kennen kein Feuer, keine wirkliche Sprache, bauen keine Häuser, und was das Monstrum betrifft, mit dem du gekämpft hast, so will ich dir deine Illusionen rauben. Wenn diese Burschen ihn finden und er sich bis dahin nicht erholt hat, ist sein Schicksal besiegelt. In dieser Gegend darf man es sich nicht erlauben, auch nur den kleinsten Brocken Fleisch verkommen zu lassen. In besonders harten Jahren fressen sie sogar ihre eigenen Kinder!« Ich verzichtete auf eine Antwort. Beiklas Vortrag erweckte in mir weniger Abscheu gegen die Mutanten als gegen die Somorer und alle anderen Stämme, die in der Umgebung der Glassteppe wohnten. Die Nachkommen der strahlenverseuchten Ureinwohner konnten nichts für ihr Schicksal. Würde man sie in Ruhe lassen, so wären sie bestimmt auch imstande, sich allmählich ein besseres Leben aufzubauen. Statt dessen jagte man sie und machte sie sogar zu Sklaven, die der Belustigung sadistischer Häuptlinge dienten. Wer so handelte oder Vorgänge dieser Art auch nur stillschweigend duldete, der sollte über Kultur lieber nicht zu laut reden! Noch zweimal wichen wir dahintrottenden Gruppen dieser bedauernswerten Kreaturen aus, dann erreichten wir die nächste Quelle. Auch sie war verlassen. Ich wunderte mich darüber, bis ich mir die besondere Situation der Glasdämonen vergegenwärtigte. Die Quellen waren für sie die Garantie zum Überleben. Das wußten aber auch jene,
36 die sich auf die Jagd nach Sklaven spezialisiert hatten. Die Mutanten mußten damit rechnen, daß jede Wasserstelle ihnen zur Falle wurde. Unter diesen Umständen ein Lager innerhalb einer Oase zu errichten, war der sicherste Weg in die lebenslange Gefangenschaft. Eineinhalb Tage später tauchte vor uns ein dunkler Streifen am Horizont auf. »Das ist Teghment!« sagte Beikla aufatmend. »Jetzt haben wir es fast geschafft.« »Ich dachte, auch Teghment ist in erster Linie eine ausgedehnte Steppe«, wendete ich mißtrauisch ein. »Das stimmt auch«, behauptete Beikla selbstsicher. »Aber es gilt nur für das Innere des Landes. Die Grenze wird durch dichten Dschungel und stellenweise auch durch unüberwindliche Felswände gebildet. In den Urwäldern gibt es zahlreiche Ungeheuer, die jeden Fremden sofort zerfleischen. So haben sich die Unheimlichen dieses Landes vor der Rache der Glasdämonen geschützt. Sie müßten ja sonst ständig damit rechnen, von diesen Barbaren überfallen zu werden.« Das klang logisch. Überhaupt war meine Wachsamkeit gegenüber dem Somorer allmählich abgeklungen. Er schien sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben und lieferte mir keinen Anhaltspunkt mehr für einen Verdacht. Zudem glaubte ich dem Sonnenstand entnehmen zu dürfen, daß wir uns immer weit genug nach Westen gehalten hatten. Der Gedanke an den kühlen Schatten der Bäume ließ uns flotter ausschreiten. Noch brannte die Sonne ungehindert auf uns herab. Unsere Kehlen kratzten von dem Staub, den wir ständig einatmeten. Wir hatten uns zeitweilig Tücher vor den Mund gebunden, aber dadurch wurde die Hitze nur noch unerträglicher, und der Staub drang trotzdem in Mund und Nase. So hatten wir uns darauf beschränkt, den Mund so selten wie möglich aufzumachen. Daher war unsere Wanderung in fast vollkommenem Stillschweigen verlaufen.
Marianne Sydow Jetzt wurde Beikla redselig. Er berichtete die haarsträubendsten Einzelheiten über die Bestien, die uns erwarteten, und als wir am Nachmittag auf eine geschützte Stelle stießen, meinte er: »Hier sollten wir eine ausgiebige Rast einlegen. Wir werden morgen alle unsere Kräfte brauchen, um die vielen gefährlichen Kämpfe zu überstehen.« Ich warf einen langen Blick auf den Dschungel, der inzwischen nahe genug war, um einige Einzelheiten erkennen zu lassen. Es war so viel Zeit vergangen, seit ich meine Suche aufgenommen hatte. Es drängte mich, weiterzugehen und endlich greifbare Resultate zu erhalten, aber ich sah ein, daß es besser war, mit frischen Kräften ans Werk zu gehen. Das stimmt, gab das Extrahirn mir recht. Außerdem sieht es nicht so aus, als ob es sich nur um einen schmalen Waldstreifen handelt. Die Gefahr, mitten im Dschungel von der Nacht überrascht zu werden, ist zu groß. Das gab den Ausschlag. Ich willigte ein und bezwang meine Ungeduld. Wir richteten uns im Schutz einiger großer Steine für die Nacht ein, untersuchten sorgfältig die Umgebung, um vor unangenehmen Überraschungen sicher zu sein, und tranken etwas von unserem kostbaren Wasser. Die Flaschen waren fast leer. »Wir werden sie bald wieder füllen können«, versprach Beikla. Dann setzte er düster hinzu: »Falls uns die Bestien nicht vorher verspeisen!« Irgend etwas machte mich stutzig. Ich konnte meinen Verdacht nicht formulieren, es war mehr eine verschwommene Ahnung. Aber ich traute Beikla immer noch nicht ganz. Erst als ich sicher war, daß der Somorer fest schlief, gab auch ich der Müdigkeit nach. Die Riemen unserer Bündel schlang ich fest um mein Handgelenk.
* Mein erster Blick galt den beiden Bün-
Der Blaue von Somor deln. Sie waren noch da. Ich atmete auf. Dann drehte ich den Kopf zur Seite. Der Platz, auf dem Beikla sich hingelegt hatte, war leer. Selbst die Decke war verschwunden. Verwirrt stand ich auf, reckte mich und kletterte auf einen Felsen. Es war noch früh am Morgen, die Luft war klar und die Aussicht großartig, aber der Blaue war nirgends zu sehen. Ich suchte nach Spuren, aber auf dem harten, steinigen Boden waren keine Fußabdrücke zu erkennen. Erst als ich in weiten Kreisen das Lager umstreifte, fand ich die Fährte. Sie führte geradewegs auf den Dschungelrand zu. Sekundenlang glaubte ich noch, Beikla wäre den seelischen Belastungen nicht gewachsen gewesen und hätte sich freiwillig den zwischen den Bäumen lauernden Bestien ausgeliefert, um seine Leiden zu verkürzen. Dann gab mir das Extrahirn mit einem kurzen Impuls zu verstehen, daß ich die Psyche meines kleinen Begleiters völlig falsch einschätzte. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Wütend fragte ich mich, ob der Molekularverdichter der Maahks etwa mein Gehirn im Verhältnis stärker verkleinert hatte als meinen Körper. Fluchend packte ich meine Sachen zusammen, lud mir die schwere Last auf den Rücken und folgte den Spuren des Somorers. Schon gestern abend hatte mich irgend etwas an diesem Dschungel gestört. Es gab keinen Übergang zwischen der Steppe und dem saftigen Grün. Außerdem erschien mir die Form der Gewächse merkwürdig. Sie sahen wie riesige Baumwipfel aus, besaßen jedoch keine Stämme. Ich brauchte nur ein paar Minuten zu gehen, um den Grund für diese auffällige Erscheinung zu finden. Vor mir fiel der Boden übergangslos steil ab. Eine Schlucht, deren Grund ich wegen der Baumwipfel nicht zu erkennen vermochte, durchschnitt die Steppe. Ein durchdringender Geruch nach Moder, Feuchtigkeit und fremden Pflanzen wehte zu mir herauf. Beiklas vielzitierte Bestien ließen sich nicht
37 blicken. Ich würde sie an diesem Ort auch kaum antreffen. Denn dies war nicht Teghment! Ich folgte dem Rand der Schlucht in südlicher Richtung. Ab und zu fand ich Beiklas Spuren, aber ich schenkte ihnen keine Beachtung mehr. Dieses Spiel hatte ich verloren. Selbst wenn ich den Somorer noch einmal einholte, nützte mir das gar nichts. Der Blaue hatte sein Ziel erreicht. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch zwingen, mir den Weg ins Reich der Unheimlichen zu weisen. Als eine Lücke zwischen den Baumwipfeln den Blick auf das unter mir liegende Gelände freigab, sah ich meine düstere Ahnung bestätigt. Vor mir dehnte sich ein breites Tal aus. Nur selten unterbrachen kleine Lichtungen den dichten Urwald. Die drei in der Sonne glänzenden Flüsse dagegen waren deutlich zu erkennen. Nach Süden hin weitete sich das Tal zu einem von unzähligen Wasseradern durchzogenen Gebiet. Ein Ausschnitt aus der handgezeichneten Karte der Somorer tauchte vor meinem inneren Auge auf. Beikla hatte mich nach Jongquatz geführt. An dieser Stelle begann das riesige Delta des Dreiflusses, der weiter südlich in das Blaue Meer mündete. Auf der anderen Seite des Tales begann der Einflußbereich der Somorer, bewohnt von ihnen freundlich gesinnten Stämmen, die dem Blauen jede nur denkbare Unterstützung auf seinem Heimweg bieten würden. Teghment dagegen lag viele Tagesmärsche entfernt am entgegengesetzten Ende der Glassteppe. Ich setzte mich auf einen Felsen, starrte auf den Fluß hinunter und überlegte, ob sich das Risiko lohnte, auf eigene Faust ein zweite Durchquerung der Halbwüste zu wagen. Gedankenlos verfolgte ich dabei den Weg eines dunklen Striches, der entgegen der schwachen Strömung über die breite Wasserfläche glitt. Erst nach Minuten erkannte ich, worum es sich bei diesem kleinen Gebilde handelte. Ein Boot!
38
Marianne Sydow
Ich sprang auf und machte mich auf die Suche nach einem Weg, der in das Tal hinabführte.
6. »Woher kommst du?« Der alte Mann, der diese Frage stellte, hockte neben mir auf einer aus Gräsern geflochtenen Matte. Über uns, an den Verstrebungen des Sonnendachs befestigt, schwankten kleine Bündel duftender Kräuter im Wind, die zum Trocknen aufgehängt waren. Ich lehnte bequem an einem Pfosten aus dunklem Holz. Während ich den Eingeborenen die Stationen meines mühevollen Weges aufzählte, beobachtete ich lächelnd die Kinder, die auf der Sandfläche zwischen dem Dorf und dem Flußufer herumtobten. Der Alte lauschte mit angehaltenem Atem. Ab und zu unterbrach ich meinen Bericht. Dann übersetzte er das, was er von mir in der Sprache der Dophor-Sippe erfahren hatte, in den vokalreichen Dialekt seines Volkes. Die Schar der Zuhörer war groß, und es machte mir Spaß, mit welcher Anteilnahme besonders die jungen Männer meinen Bericht verfolgten. Ich fühlte mich ausgesprochen wohl. Man hatte mich großzügig mit Früchten und gebratenem Fisch bewirtet, und zum erstenmal seit vielen Tagen hatte ich so viel trinken dürfen wie ich mochte. Die Schale aus poliertem Holz wurde auch jetzt niemals leer. Ein kaum bekleidetes Mädchen mit seidig glänzendem, blauschwarzem Haar und makelloser Figur schien keine andere Aufgabe zu haben, als mich mit köstlichen Fruchtsaft zu versorgen. Für den Augenblick hatte ich keinen anderen Wunsch, als mich bei diesen freundlichen fröhlichen Menschen ein paar Tage lang auszuruhen und die Strapazen zu vergessen, ehe ich meine Suche fortsetzte. Ich hatte es wirklich dringend nötig, neue Kräfte zu schöpfen. Diese Begegnung war ein Glücksfall. In dem kleinen Dorf am Fluß herrschte vollen-
dete Harmonie, die auch durch meine Gegenwart nicht im geringsten gestört wurde. Die Eingeborenen wirkten so vollkommen glücklich und zufrieden, daß sich mir der Vergleich mit einem kleinen Paradies aufdrängte. Zudem sahen sie den Arkoniden so ähnlich, daß es eine wahre Erholung für meine Augen war, sie zu betrachten. Die schwarzen Haare und die mandelförmigen, dunklen Augen verliehen ihnen exotischen Reiz. Sie waren auch sehr rücksichtsvoll. Erst als ich gesättigt war, begannen sie, Fragen an mich zu richten. Ich sah keinen Grund, ihnen zu mißtrauen und ließ mich freimütig über meine Abenteuer aus. Sie waren über diese Abwechslung hocherfreut. Nachdem ich meinen Bericht zu Ende gebracht hatte, zogen sich die Zuhörer nach und nach zurück. Schließlich war ich mit dem Alten und dem Mädchen, das sich als mein ganz persönlicher Mundschenk betätigte, allein. »Du wirst dich ausruhen wollen«, vermutete der alte Mann mit Namen Unao und gab dem Mädchen einen Wink. »Saia wird dich in ihre Hütte führen und sich um dich kümmern. Sie ist meine Enkelin und versteht die Sprache, derer du dich bedienst. Wenn du irgendeinen Wunsch hast, teile ihn ihr mit. Heute abend feiern wir ein großes Fest.« Er erhob sich elegant von der Matte, verbeugte sich leicht und schritt über den weichen Sand davon. Lachend und rufend rannten einige junge Männer vorbei, schoben die schmalen Einbäume ins Wasser und ruderten auf den Fluß hinaus. Das Wasser glitzerte wie geschmolzenes Silber. Der leichte Wind brachte zarten Blütenduft mit sich und ließ die Hitze erträglich werden. »Komm!« sagte Saia und lächelte mich verführerisch an. Es war das erste Wort, das ich von ihr hörte, und ich fand, daß ihre weiche, dunkle Stimme zu ihrem wundervollen Körper paßte. Sie führte mich zwischen den Hütten hin-
Der Blaue von Somor durch auf einen breiten Sandweg, der um das einzige größere Gebäude des Dorfes herumführte. Dieses Haus aus fest zusammengefügten Baumstämmen mit seiner breiten Veranda war das Zentrum der Siedlung und diente allen möglichen Zwecken, wie Saia mir erklärte. Sie hatte die gutgemeinte Absicht, mir auch als Fremdenführerin zu dienen, aber obwohl sie ihre Sache ausgezeichnet machte, erfaßte ich nur wenig von dem, was sie sagte. Das war zwar nicht Saias Fehler. Ich war in ihrer Gegenwart einfach nicht voll aufnahmefähig. Eine Gruppe kichernder junger Mädchen bog um die Ecke. Ihnen auf dem Fuße folgten ein paar braungebrannte Kinder, die sich mit so riesigen Blumensträußen beladen hatten, daß man von ihnen selbst kaum noch etwas sah. Sie legten ihre farbenprächtige Fracht auf dem Holzboden der Veranda ab und rannten lachend und plappernd in Richtung auf den Waldrand davon. Saia winkte den Mädchen zu und rief ihnen etwas nach, als sie mit den Blumen in das Haus gingen. »Sie bereiten das Fest vor«, erklärte Saia. »Es wird bestimmt sehr schön. Eine Jagdgruppe ist auf dem Fluß unterwegs. Dir zu Ehren werden sie die besten und schmackhaftesten Fische fangen. Es wird sogar Fleisch geben. Und siehst du die Frauen unter dem Sonnendach dort drüben? Sie bereiten Uanai vor, das ist ein berauschendes Getränk, das dir sicher gefallen wird. Aber trinke nicht zu viel davon, sonst …« Sie schlug verlegen die Augen nieder und wandte sich hastig ab. »Man schläft ein, wenn man nicht daran gewöhnt ist«, murmelte sie. Ich grinste. Saia schien sich bereits ganz bestimmte Vorstellungen über den weiteren Verlauf meines Aufenthalts zu machen. Ich zweifelte jedoch daran, daß es eines besonderen Gebräus bedurfte, um mich in dieser Nacht fest schlafen zu lassen. Auch wenn ich mich nach dem ausgiebigen Mahl bereits sehr viel wohler fühlte, steckte eine ungeheure Müdigkeit in mir. Das Mädchen machte absichtlich einige
39 Umwege, um mir möglichst viel zu zeigen. Ich begutachtete die gutgenährten Haralas, von denen einer dazu ausersehen war, heute abend als Festspeise zu dienen. Die Tiere sahen wie Miniaturausgaben der wilden Bullen aus, waren jedoch zahm und drängten sich grunzend und schnaufend näher an den Zaun, um sich streicheln zulassen. Dann kamen wir zu den etwas abseits vom Dorf aufgebauten Trockengestellen mit den auf langen Stangen aufgespießten Fischen. »Sie schmecken entsetzlich«, gestand Saia fröhlich. »Aber wir tauschen sie bei den Völkern jenseits des Tales gegen andere Waren ein. Wir liefern ihnen außerdem wertvolle Kräuter und Wurzeln, edle Steine, die wir aus den Felsen brechen, und Bastmatten. Das ist ein gutes Geschäft für uns.« Diese Bemerkung zerbrach für einen Moment den seltsam traumhaften Eindruck, den das Dorf und insbesondere Saia auf mich machten. Handel! Nach ihren Andeutungen betrieben sie ihre Tauschgeschäfte mit Beiklas Artgenossen, beziehungsweise mit somorerfreundlichen Stämmen. Und auch Beikla hatte das Tal überquert. Verdankte ich ihm diesen beinahe zu freundlichen Empfang? War alles nur ein geschickt eingefädeltes Manöver, das mich von der Verfolgung des Blauen abhalten sollte? Ich wollte Saia danach fragen, aber ein kurzer Impuls des Extrahirns ließ mich den Mund halten. Ärgerlich über mich selbst stellte ich fest, daß die Dorfbewohner mich bereits erfolgreich eingelullt hatten – falls das ihre Absicht war. Ich wurde allmählich unvorsichtig. Endlich nachdem wir noch den Bootsbauern und den Netzknüpfern zugesehen hatten, erreichten wir die Hütte, die der Alte für mich bestimmt hatte. Sie sah sauber und anheimelnd aus, wie alles in der Siedlung. Die Wände bestanden aus geflochtenen Matten, die auf hölzerne Rahmen gespannt waren. Das Dach hatte man mit großflächigen Blättern gedeckt, und von innen war es mit be-
40 sonders dichten Matten bespannt – ein guter Schutz vor Ungeziefer. Vor der Tür, im Schutz des weit überragenden Giebeldachs, gab es eine kleine Feuerstelle, daneben Mengen an einer Art Spalier verschiedene Geräte. Der Innenraum der Hütte war nicht in einzelne Zimmer unterteilt. Auch hier hingen duftende Kräuterbündel unter der Decke. Matten bedeckten den Boden, einige niedrige Hocker standen an der einen Wand, an der anderen ein breites, mit weichen Fellen bedecktes Bett. Dann gab es noch einen Kasten mit kunstvoll geschnitztem Deckel, in dem Saia ihre privaten Besitztümer aufbewahrte, und einen kleinen Tisch mit einer Öllampe darauf. Daneben standen zwei Schalen. Die eine enthielt Fruchtsaft, die andere quoll von Leckerbissen aller Art fast über. Meine beiden Bündel lagen am Fußende des Bettes. »Die Hütte gehört dir, solange du bleiben möchtest«, versicherte Saia. Ich ließ mich todmüde auf die weichen Felle sinken. Das Mädchen legte sich wie selbstverständlich neben mich und gab sich die größte Mühe, verführerisch zu wirken. Aber mir fielen buchstäblich die Augen zu. Als Saia begriff, daß ich einfach nur schlafen wollte, stellte sie sich mit der ihr eigenen Geschmeidigkeit auf die veränderte Situation ein. Als ich aufwachte, dämmerte es bereits. Ein schwacher Lichtschein drang durch die offene Tür. Ich war allein. Schlaftrunken ging ich zur Tür und sah hinaus. Die Siedlung war wie ausgestorben. Kein Laut war zu vernehmen. Nachdenklich kehrte ich zurück und setzte mich auf das Bett. Meine Müdigkeit war verflogen. Hier stimmte doch etwas nicht! Na endlich! bemerkte das Extrahirn. Die Eingeborenen waren zu freundlich. Ich zweifelte nicht daran, daß sie tatsächlich ein fröhliches kleines Völkchen waren, aber sie konnten doch unmöglich jeden Fremden so großzügig behandeln. Was steckte hinter der lächelnden Kulisse? Oder war ich zu mißtrauisch? Warum regte sich jetzt draußen
Marianne Sydow nichts? Es sollte doch ein Fest vorbereitet werden! Steckte Beikla hinter der ganzen Sache? Um mich aufzuhalten, war es keineswegs nötig, ein rauschendes Fest zu veranstalten. Ich war absolut sicher, daß dieser gerissene kleine blaue Mann in engem Zusammenhang mit den Vorgängen in diesem Dorf stand. Was hatte er sich diesmal ausgedacht? Ich zermarterte mir den Kopf, aber ich kam nicht darauf. Auch der Logiksektor konnte mir nicht helfen. Die Ahnung einer nahenden Gefahr wurde so groß, daß ich aufsprang und zur Tür lief. Ich war fest entschlossen, mich still und heimlich aus dem Dorf zu schleichen. Da erblickte ich Saia. Sie rannte auf die Hütte zu und sah sich ab und zu um. »Du mußt fliehen!« flüsterte sie, als sie mich erreicht hatte. In ihren Augen stand nackte Angst. Sie ergriff meine Hände und zog mich vorwärts. Ich wollte fragen, was mich eigentlich bedrohte, aber wir hatten uns kaum zwei Schritte von der Tür entfernt, da tauchte eine lachende Gruppe junger Männer vor uns auf. Saia riß mich zurück in das dämmerige Dunkel der Hütte. Draußen begannen Trommeln zu dröhnen. Kinder lachten und stimmten dann ein eigenartiges, monotones Lied an, daß so gar nicht zu der fröhlichen Stimmung passen wollte. Das Mädchen ließ den Kopf hängen. »Es ist zu spät«, sagte sie leise. »Das Fest beginnt, und sie würden dich auf jeden Fall sehen. Atlan, was immer auch geschieht: ich werde versuchen, dir zu helfen. Du mußt mir glauben!« Ich sah ihr in die Augen, las nichts als aufrichtige Besorgnis darin und nickte langsam. Die jungen Männer hatten die Hütte erreicht und warteten vor der Tür. Saia zog mich dem Ausgang entgegen. Verwirrt folgte ich ihr zu dem großen Haus, in dem die Festtafel bereits gedeckt war.
* Alles schien in bester Ordnung zu sein.
Der Blaue von Somor Jeder behandelte mich freundlich, alle waren bemüht, mich zu unterhalten und meine Gunst zu erringen. Aber jetzt wußte ich, daß diese Mauer des Lächelns, die mich von allen Seiten umgab, nur eine Fassade war, hinter der wer weiß was stecken mochte. Ich bemühte mich, in Saias Nähe zu bleiben, denn nur sie konnte mich über die drohende Gefahr aufklären. Aber das ständige Kommen und Gehen in dem großen Raum gab uns keine Gelegenheit, auch nur eine Sekunde lang ungestört miteinander zu sprechen. Vergeblich suchte ich nach Anzeichen dafür, daß man mich bedrohte. Die Kleidung der Eingeborenen war so spärlich, daß sich unter den winzigen Tüchern nicht einmal ein Messer verbergen ließ. Keiner der Männer war bewaffnet. Sie alle aßen und tranken mit Begeisterung und bedienten sich großzügig von den dargebotenen Holzplatten, die sich unter der Last der Leckerbissen bogen. Da man mir völlig freie Auswahl unter den Speisen ließ, schied auch die Möglichkeit aus, daß man mir Gift ins Essen schmuggelte. Das Festmahl dauerte eine mittlere Ewigkeit. Als es dunkel wurde, zündeten die Mädchen kleine Lampen an, die mit duftendem Öl gefüllt waren. Die zahllosen Blüten an den Wänden erweckten im zuckenden Lichtschein den Eindruck, ein gespenstisches Eigenleben zu führen. »Atlan, mein Freund, komm und setz dich neben mich!« Ich fuhr erschrocken herum. Unao, Saias Großvater, klopfte einladend auf einen mit goldgelben Fellen bedeckten Ehrenplatz. Mit gemischten Gefühlen befolgte ich die Aufforderung. »Der Bericht über deine vielen Abenteuer hat uns sehr erfreut«, fuhr Unao fort. »Der Besuch eines so weitgereisten Mannes ist eine große Ehre für unser Dorf.« Schon wieder diese Schmeicheleien! Ohne Saias Warnung hätte ich mich vielleicht sogar darüber gefreut, daß man mir so viel Achtung entgegenbrachte. So jedoch machte mich Unaos freundliche Ansprache nur noch
41 unruhiger. Ich sah, daß er auf eine Antwort wartete, und verbeugte mich kurz. »Es bereitete mir große Freude, euch von unbekannten und fremdartigen Völkern zu berichten«, erklärte ich mühsam beherrscht. »Und ich möchte euch für alles danken. Ich bin es, der sich geehrt fühlen muß, denn ihr habt mich mit eurem Fest fast beschämt. Einen solchen Aufwand habe ich nicht verdient.« »Bescheidenheit ist die Tugend der Weisen«, bemerkte Unao zufrieden. »Aber, Freund Atlan, wir kennen niemanden, der so weit herumgekommen ist. Unsere jungen Männer bewundern dich, und ihre Achtung vor dir könnte noch steigen, wenn sie wüßten, warum du all die Strapazen und Kämpfe auf dich genommen hast.« Aha, dachte ich. Du alter Fuchs verstehst dein Geschäft. Unao ging diplomatisch vor. Die Frage nach einem Ziel brannte in ihm, aber er wagte es nicht, sie offen zu stellen. Ich spürte ein Kribbeln in den Haarwurzeln – untrügliches Zeichen dafür, daß eine Entscheidung bevorstand. »Ich bin auf der Suche nach zwei Freunden«, erklärte ich und beschrieb dem Alten Chrysalgira und Grek-3. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden seine Augen schmal, dann drückte das wettergegerbte Gesicht wieder nichts als Bewunderung aus. Er übersetzte seinen Artgenossen meine Antwort. Ein leises Raunen ging durch den Saal. »Wir haben die beiden gesehen«, wandte Unao sich an mich, nachdem er seine Dolmetscherpflichten erfüllt hatte. Und das war der Moment, in dem ich vor lauter Überraschung alles vergaß. Saias Warnung wurde bedeutungslos. Allein die Tatsache, daß hier endlich eine greifbare Spur vorlag, war von Wichtigkeit. Aufgeregt beugte ich mich vor. »Wann?« fragte ich. »Wohin gingen sie?« »Immer eines nach dem anderen«, lächelte Unao freundlich und füllte meinen Becher von neuem mit dem leicht berauschenden Getränk. »Sie kamen vor vielen Tagen hier vorbei. Aber sie waren nicht frei. Man
42 brachte sie auf einem Boot den Fluß hinab.« Er trank mir zu, und ich leerte automatisch ebenfalls meinen Becher. »Deine Beschreibung paßt sehr gut auf sie«, fuhr er immer noch lächelnd fort. »Besonders der Mann, der unsere Luft nicht atmen kann, ist unverkennbar. Ja, ich bin sicher, daß es sich bei den Fremden um deine Freunde handelte.« »Was weißt du noch?« bohrte ich weiter. »In welche Richtung fuhr das Boot? Zum Blauen Meer? Waren die beiden gefesselt? Wessen Gefangene waren sie überhaupt? Kennst du die Leute, denen das Boot gehörte?« »Das sind sehr viele Fragen, Atlan«, murmelte Unao und warf dabei einen bedauernden Blick in seinen leeren Becher. »Ich werde versuchen, sie dir zu beantworten.« Ich hörte ihn reden und hatte gleichzeitig das eigenartige Gefühl, mich von mir selbst zu entfernen. Die Szene wurde abstrakt. Ich sah mich selbst auf den Fellen sitzen, leicht zusammengesunken, die Augen unverwandt auf Unao gerichtet, der redete, redete … Die Wirklichkeit wich vor mir zurück. Die Blüten verwandelten sich in zahllose Gesichter, die die verschiedensten Züge trugen. Somorer waren darunter, ich erkannte Gjeima, die abgrundhäßliche Tochter Dophors, dann Dophor selbst, und plötzlich war sogar Ischtar dabei. Ein Kaleidoskop von Köpfen kreiste um mich. Ich blinzelte verwirrt, und die Köpfe verwandelten sich in Schmetterlinge, die langsam zu den Zweigen eines hohen Baumes hinaufstiegen. Sie dehnten sich aus, flossen zu einem farbenprächtigen Muster zusammen. Ein buntes Gewand wehte vor meinen Augen. Ich legte den Kopf in den Nacken und sah hunderte von Metern über mir das Gesicht Farnathias. Sie lächelte auf mich herab und begann zu singen. Das überirdisch schöne Lied wurde immer leiser, bis es sich im Dröhnen gigantischer Orgeln verlor. Die riesige Farnathia zerbröckelte vor meinen Augen. Ein aufkommender Sturm wehte ihre Überreste davon. Ich verlor den Halt unter den Füßen
Marianne Sydow und breitete instinktiv die Arme aus. Wie ein Vogel flog ich über eine blumenübersäte Wiese. Der Sturm ließ nach, und ich sank langsam dem Boden entgegen. Ich fühlte mich federleicht. Meine Füße berührten das Gras – und schlagartig verwandelte sich die Wiese in eine Stätte des Grauens. Endlose Weiten erstreckten sich vor mir. Überall lagen Gebeine herum. Ganze Berge von Skeletten türmten sich vor mir auf. Aus der Ferne hörte ich Farnathias Stimme, die leise meinen Namen rief. Ich rannte über splitternde Knochen. Totenschädel kollerten über meinen Weg. Die Skelette erwachten zum Leben und griffen mit langen Armen nach mir. Die Berge aus Knochen wölbten sich, brachen auf und spien Scharen riesiger schwarzer Vögel aus, die kreischend durch die Luft wirbelten. Ich raste durch das Chaos, stieß mit dem Kopf gegen eine Mauer und schlug verzweifelt mit den Händen dagegen. Ein spöttisches Gelächter neben meinem Ohr ließ mich herumfahren. Beikla stand vor mir, die dünnen Ärmchen vor der Brust verschränkt. »Mach dir nichts daraus«, kicherte er und wackelte mit den Ohren. »Aus dir wird noch mal ein ganz guter Techniker. Du mußt nur tüchtig lernen.« Plötzlich glaubte ich zu begreifen. Farnathia war tot. Ich hatte eine Halluzination gesehen. Dieser Zwerg hatte mich grausam genug genarrt. Ich streckte die Hände aus, legte meine Finger um den dünnen Hals. Etwas zerbrach mit dem Knacken eines trockenen Zweiges. Ich hielt Beiklas Kopf in der Hand. Der Blaue streckte mir die Zunge heraus und löste sich mit einem leisen Puffen in Luft auf. Ich schrie enttäuscht, dann stürzte ich in bodenlose Finsternis. Ein leises Glucksen neben meinem Ohr riß mich aus meiner Betäubung. Ich schlug die Augen auf und sah Saias verzerrtes Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich, aber ich vernahm keinen Laut. Sie schien zu weinen. Ich wollte den Arm heben, um sie zu trösten, aber da wrar es gar nicht mehr Saia, sondern
Der Blaue von Somor ein gräßliches Ungeheuer, dessen Rachen sich öffnete, um mich zu verschlingen. Ich wich entsetzt zurück. Stinkender Atem schlug mir entgegen, Zähne blitzten vor meinen Augen. »Oho, Junge, paß auf!« schrie eine Stimme, und der Kopf des Ungeheuers fiel zu Boden. Die Zähne schlossen sich um mein linkes Fußgelenk. Der Körper rollte mit grotesk um sich schlagenden Gliedern die schiefe Ebene hinab, auf der ich lag, änderte seine Form, und Fartuloon stapfte gewichtig auf mich zu. Ein Fartuloon ohne Kopf, aber mit seinem Skarg in der Hand. »Da kann man nichts machen«, erklärte er ungerührt. »Du mußt das verstehen, Atlan. Ich brauche meinen Kopf noch für die Zukunft.« Das Skarg blitzte auf. Ich verfolgte den Weg der scharfen Klinge mit den Augen und schrie vor Grauen. Der Schlag trennte meinen Fuß samt dem daranhängenden Kopf ab. Mit einem häßlichen Lachen zwang mein kopfloser Lehrmeister die Zähne des Ungeheuers auseinander. Ein Strom von Blut schoß aus meinem Beinstumpf auf den spiegelglatten Boden, verrauchte in einigen Metern Entfernung und bildete einen dichten Nebel, aus dem eine Unzahl fliegender Babys von zehn Zentimetern Länge auf mich zurasten. Fartuloon, den monströsen Kopf der Bestie auf den Schultern, stapfte um mich herum und schwang sein Schwert abwehrend durch die Luft. »Sie haben Hunger, die kleinen Biester!« schrie er dabei fröhlich. »Ischtar, wo steckst du? Kümmere dich endlich um deine Bälger!« Ein verrosteter Roboter mit rasselnden Gelenken tauchte neben mir auf. Die Babys flogen darauf zu und klammerten sich an dem fleckigen Metall fest. »Alles wird gut«, sagte der Roboter mit Ischtars Stimme. Aus seinen Gelenken drangen kleine blaue Rauchwolken. »Alles wird gut, meine Kinder!« »Ruhig, Atlan, nur ruhig!« Die Stimme klang plötzlich anders. Die
43 schreckliche Umgebung verblaßte. Die Goldene Göttin legte ihre schmalen, kühlen Hände um mein Gesicht. »Nicht dagegen ankämpfen, Atlan!« bat sie mit dieser fremden Stimme, die zu jemand anderem gehörte, den ich kannte, dessen Name mir jedoch entfallen war. »Es geht vorbei. Die ersten Stunden sind entsetzlich, aber dann hast du das Schlimmste überstanden. Sie wollen dich den Somorern ausliefern. Dort würde man dich zu einem Sklaven machen, aber du brauchst keine Angst zu haben. Sie sind jetzt alle müde, und niemand hat Verdacht geschöpft. Das Boot ist bis zum neuen Tag so weit getrieben, daß sie dich nicht mehr finden werden.« Schweiß stand auf meiner Stirn. Ischtars Bild verwandelte sich für einen kurzen Moment. »Saia!« stöhnte ich. »Wenn der Tag graut, werden die Illusionen für kurze Zeit schwächer!« sagte das Mädchen eindringlich. »Dann mußt du das Gegenmittel nehmen. Verstehst du mich, Atlan?« Ich nickte mühsam, spürte einen glatten Gegenstand in meiner Hand und griff danach. »Paß gut auf die Flasche auf. Ohne sie wirst du nie mehr in die Wirklichkeit zurückfinden. Ich würde dich gerne begleiten, Atlan, aber ich darf nicht fortgehen, denn es wäre mein Tod. Leb wohl, und vergiß mich nicht!« Es gab einen Ruck, ein leises Plätschern. Ich lag auf dem Rücken, spürte hartes Holz unter mir und sah verschwommen die Zweige eines Baumes über mir dahingleiten. Ich befand mich in einem Boot, das langsam über das Wasser trieb. »Danke, Saia!« flüsterte ich, und im nächsten Moment wußte ich nicht einmal mehr, ob es sich bei dieser Szene um die Wirklichkeit gehandelt hatte. Die grauenvolle Halbwelt der Träume sog mich in sich auf.
*
44 Ich kämpfte, tötete, floh von Grauen erfüllt vor den namenlosen Dingen, die mein Unterbewußtsein unter dem Einfluß der Droge produzierte, und unterhielt mich mit Leuten, die längst nicht mehr am Leben waren und durchschritt tausend Höllen, ehe ich endlich wieder einen klaren Moment hatte. Ich fühlte mich wie zerschlagen, und meine Hände zitterten unkontrolliert. Keuchend, von Fieberschauern durchrast, zog ich mich an der schmutzigen Bordwand hinauf, starrte auf die weite Wasserfläche, die mich umgab und sank dann erschöpft wieder zurück. Das Gegenmittel! Ich tastete nach der Flasche, die meinen Fingern entglitten war. Dämmerte es bereits? Vor meinen Augen wallten dunkle Schleier, und immer wieder wollten sich Trugbilder zwischen mich und die Wirklichkeit schieben. Ich wehrte mich verzweifelt gegen den bedrohlichen Einfluß, aber es fiel mir schwer, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Gehörten die zwei Dutzend blauhäutiger Zwerge, die auf dem Rand des Bootes balancierten, zu meinen Träumen, oder gab es sie tatsächlich? Ich griff nach einem der Männchen und bekam einen dünnen Arm zu fassen. Der Zwerg überschüttete mich mit einer Flut von Schimpfwörtern, biß mich in die Nase und sprang über Bord. Das Wasser schäumte auf, und die blaue Gestalt landete im aufgerissenen Rachen eines riesigen Tieres. Die Bestie schmatzte geräuschvoll und richtete sich dann auf, um auch mich zu verschlingen. Ich spürte den Griff eines Messers in meiner Rechten und schleuderte die Waffe mit voller Wucht nach dem einzigen Auge des Ungeheuers. Im gleichen Augenblick erlosch das Bild. Ich sah eine blanke Wasserfläche. Die schimpfenden Zwerge waren spurlos verschwunden, die Bestie ebenfalls. Und außerhalb meiner Reichweite versank die Flasche mit dem Gegenmittel in den Fluten. Ich schrie wütend auf, dann begriff ich in voller Konsequenz die Auswirkungen, die der Verlust des kleinen Behälters für mich
Marianne Sydow haben mußte. Ich ließ mich mutlos zurücksinken. Sekunden später wurde ich von hysterischem Lachen geschüttelt. Vorry, der Magnetier, hockte vor der Tür einer Duschkabine, beschnupperte lüstern Fartuloons zerbeulten Harnisch, leckte sich die Lippen und beobachtete dabei den empörten Besitzer des Panzers, der splitternackt und tropfnaß um das Tonnenwesen herumtanzte. Ich vermag bis heute nicht zu sagen, wie lange ich so über den Fluß trieb. Immer neue Halluzinationen narrten mich. Die tollste war zweifellos ein schnittiges Fahrzeug, das auf Prallfeldern über das Wasser auf mich zuraste. Die Illusion war so echt, daß ich zu winken begann. Mitten in der Bewegung hielt ich inne, weil ich den Mann hinter der Windschutzscheibe erkannte. Es war der Blinde Sofgart, der einen Impulsstrahler auf mich richtete. Der Schuß löste sich, eine grelle Lichtbahn floß zeitlupenhaft langsam auf mich zu, erreichte mich, hüllte mich in einen Kokon aus schmerzhafter Helligkeit und ungeheurer Hitze,' und dann wurde es schwarz um mich.
7. »Hiosf a psuji?« Ich schlug die Augen auf und starrte verständnislos in zwei gelbe Augen, die mich aus einem kohlschwarz bepelzten Gesicht anfunkelten. Schon wieder eine Zwangsvorstellung! Erschöpft machte ich die Augen wieder zu, in der Hoffnung, dieser neue Quälgeist möge verschwinden, wenn ich keine Reaktion zeigte. Das war ein Irrtum. Eine neue Serie unverständlicher Laute folgte. Mein Verstand regte sich und flüsterte mir zu, daß die Situation sich nicht mit meinen Träumen vereinbaren ließ. Dort hatten selbst die wildesten Phantasiefiguren mich auf arkonidisch angesprochen. Als der Fremde in einer anderen Sprache den nächsten Versuch startete, mir eine Antwort zu entlocken, entschied ich, daß die
Der Blaue von Somor Halluzinationen aus irgendeinem Grunde wenigstens für den Augenblick von mir abgelassen hatten. Der Fremde war humanoid. Er war etwa so groß wie ich und trug einen hellblauen, glänzenden Schutzanzug, der aus zahllosen winzigen, gegeneinander beweglichen Metallsegmenten bestand. In der rechten Hand hielt er einen kleinen, gelben Becher. Ich hatte einen faden, süßlichen Geschmack im Mund, und mir dämmerte die Erkenntnis, daß dieses schwarz bepelzte Wesen mir etwas eingeflößt hatte. Ich mußte mich mehrmals räuspern, ehe meine Stimmbänder einen verständlichen Laut produzierten. »Ich verstehe diese Sprache nicht«, erklärte ich dann hoffnungsvoll in dem Dialekt, den ich bei Dophor gelernt hatte. Das schwarze Gesicht verzog sich zu einem erfreuten Grinsen. »Geht es dir jetzt besser?« wollte der Fremde mitfühlend wissen. Ich nickte und versuchte mich aufzurichten, aber kaum hob ich den Kopf, da kam auch schon eine dunkle Wand in Sicht, die mit atemberaubender Geschwindigkeit auf mich zuraste. Hastig ließ ich mich zurücksinken. »Trink das aus!« befahl der Schwarze und hielt mir den Becher an die Lippen. Ich schluckte gehorsam, und sofort spürte ich eine Hitzewelle, die meinen Körper durchlief. Mir brach der Schweiß aus sämtlichen Poren. Meine Beine vollführten die verrücktesten Verrenkungen und kümmerten sich überhaupt nicht um meinen Befehl, endlich stillzuhalten. Aber als auch das überstanden war, fühlte ich mich tatsächlich wohler. Ein paar Minuten später war ich fähig, Vruumys, wie der Fremde sich nannte, eine schmale Treppe hinauf zu folgen. Eine Tür schwang auf, und frische Luft wehte in die Kabine. Ich schnupperte erstaunt – es roch nach Tang und Salz. Dann stand ich an Deck eines kleinen Schiffes, das sich durchaus mit arkonidischen Erzeugnissen messen konnte. Zwar fehlte es etwas an dem gewohnten
45 Komfort, aber es gab technische Spielereien, mit denen ich auf diesem Planeten schon nicht mehr gerechnet hatte. Vruumys nötigte mich auf einen weichen Sitzplatz unter dem Sonnensegel. »Ich bin gleich wieder da«, versprach er und kehrte Augenblicke später mit einem Tablett zurück. Ich löffelte schweigend eine würzige Suppe, trank etwas sehr Kühles und lehnte mich dann zufrieden an ein weiches Kissen. Meine Lebensgeister kehrten allmählich zurück. Vruumys saß neben mir und wartete höflich, bis ich mich ausreichend erholt hatte. »Wo sind wir hier?« lautete meine erste Frage. »Jongquatz«, erklärte der Schwarte lakonisch. »Im äußersten Bereich des Deltas.« »Vielen Dank, daß du mich aufgefischt hast«, holte ich etwas verspätet das nach, was ich für meine moralische Pflicht hielt. »Nichts zu danken!« lächelte Vruumys amüsiert. »Wir von draußen müssen doch zusammenhalten. Wie bist du eigentlich in diese scheußliche Situation geraten? Und wo hast du deine Ausrüstung gelassen?« Auch wenn ich jetzt unzweifelhaft wach war – das Gespräch drohte ins Unwirkliche abzugleiten. Was meinte der Kerl überhaupt? Wieso redete er von »zusammenhalten«, und was bedeutete »von draußen«? Er ist ein Raumfahrer, du Dummkopf! belehrte mich das Extrahirn. Dein Aussehen hat ihn auf die Idee gebracht, daß du auch nicht von diesem Planeten stammst. Mein Verstand war wohl doch noch nicht ganz warmgelaufen, denn zu dieser Schlußfolgerung hätte ich auch von selbst kommen müssen. Ich hatte Mühe, die neuen Fakten mit der Realität in Verbindung zu bringen. Die Nachwirkungen der Droge veranlaßten meine Gedanken, immer wieder auseinanderzulaufen und dann in den unmöglichsten Kombinationen zurückzukehren. Ich riß mich zusammen und servierte Vruumys eine fast wahre Version meiner Geschichte. Auf das »Raumschiff«, mit dessen
46 Hilfe ich den Planeten erreicht hatte, ging ich nicht näher ein. Auch meine Ausrüstung überging ich ziemlich großzügig. Dafür regte ich mich um so mehr über den undankbaren Somorer und die hinterlistigen Eingeborenen auf. Vruumys lachte mitfühlend. »Du hattest Glück. Bei den Somorern ist zwar die Sklaverei und der Handel mit Menschen offiziell abgeschafft, aber das ändert nicht viel an den tatsächlichen Zuständen. Wen sie einmal liebevoll in ihre Froschhändchen genommen haben, der kommt schwer wieder von ihnen los. Sie haben da so ihre Methoden, die kleinen Schlauberger! Aber du erwähntest zwei Freunde, die du auf dieser Welt suchst. Vielleicht kann ich dir helfen. Wie sahen sie aus?« Ohne viel Hoffnung gab ich ihm eine Beschreibung der arkonidischen Prinzessin und ihres nichtmenschlichen Begleiters. Der Hinweis Unaos war in meinen Augen nicht viel wert. Ich glaubte seit dem Zwischenfall mit der Droge nicht mehr daran, daß sie die beiden Gesuchten wirklich gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte Beikla ihnen diese Geschichte eingetrichtert, um sicherzugehen, daß ich mich lange genug in dem kleinen Dorf aufhielt. Vruumys bedauernde Antwort bestätigte meine Befürchtungen. Er hatte die beiden nicht gesehen, obwohl er seit Wochen in diesem Gebiet kreuzte. Er merkte, daß seine Auskunft mich deprimierte, und schnitt taktvoll ein anderes Thema an. »Ich bin auf der Suche nach dem ewigen Leben«, teilte er mir beiläufig mit. Ich fuhr wie elektrisiert hoch, denn dieses Stichwort rief eine Menge Erinnerungen wach. »Der Stein der Weisen!« Dann kam die Ernüchterung. Wieder einmal hatte ich nicht bedacht, daß ich ja im Mikrokosmos steckte. Es war wohl kaum denkbar, daß die Varganen auch hier ihre Spuren hinterlassen hatten! »Vor sehr langer Zeit«, fuhr Vruumys im Tonfall eines Märchenerzählers fort, »versenkten Wesen, deren Ursprung und
Marianne Sydow Geschichte unbekannt ist, im Mündungsgebiet des Jongquatz eine Anzahl von Urnen. Sie waren in Kämpfe verwickelt worden, und einige Angehörige ihres Volkes hatten den gewaltsamen Tod gefunden, die Wesen selbst – so behauptet die Legende – waren unsterblich.« Er machte eine kurze Pause und goß seinen Becher voll. Als er weitersprach, klang seine Stimme wieder nüchtern und sachlich. »Vor etwa zweihundert Jahren landete ein Raumfahrer zufällig hier in der Nähe. Er entführte einen Eingeborenen, um sich Informationen über diesen Planeten zu beschaffen. Dabei erfuhr er das Märchen von den Unsterblichen. Aber er kam zu der Überzeugung, daß die Geschichte einen wahren Hintergrund haben mußte. Er suchte nach den Urnen, fand einen stählernen Behälter und öffnete ihn. Zu seinem Erstaunen enthielt das Ding lediglich eine klare Flüssigkeit. Er entnahm eine Probe und brachte sie zur Untersuchung in sein Labor. Als er zurückkehrte, sah er den Eingeborenen, der eben einen Becher aus der Urne zog und daraus trank. Blitzartig entwickelte der Wilde ungeahnte Kräfte. Er überwältigte den Raumfahrer, obwohl der ihm waffenmäßig weit überlegen war, sprang dann über Bord und schwamm mit ungeheurer Geschwindigkeit davon. Der Raumfahrer probierte den Trank nun ebenfalls aus. Er bekam zwar keine ungewöhnlichen Kräfte, vermochte jedoch klarer zu denken. Erst viel später stellte er fest, daß er nicht mehr alterte. Er bekam Schwierigkeiten mit Leuten, denen das merkwürdig vorkam. Seitdem irrt er ruhelos durch das Weltall. Nur wenige kennen seinen Namen. Ich traf ihn zufällig, als er sich in einer ähnlichen scheußlichen Lage befand wie du vorhin. Ich half ihm, und zum Dank verriet er mir sein Geheimnis.« Ich brauchte einige Zeit, um diese Geschichte zu verdauen. Sie hörte sich allzu märchenhaft an. Aber Vruumys glaubte an das Vorhandensein des lebensverlängerden Tranks, und er kannte seine Welt schließlich besser als ich.
Der Blaue von Somor »Hast du schon etwas gefunden?« fragte ich ihn. »Sechzehn Urnen«, seufzte der Schwarze. »Aber nicht eine davon war brauchbar. Das Meerwasser hat die Hüllen teilweise zerstört.« Ich behielt meine Zweifel für mich, um Vruumys nicht zu verärgern, wechselte jedoch lieber den Gesprächsstoff. »Ich war auf dem Wege nach Teghment«, begann ich vorsichtig. Vruumys zeigte keine Reaktion. Mein Verdacht, er gehöre zu den geheimnisumwitterten Bewohnern dieses Landes, schien nicht zuzutreffen. »Eine gefährliche Reise für einen unbewaffneten Mann, der noch dazu kein anderes Verkehrsmittel als seine eigene Beine zur Verfügung hat«, meinte er nur. Ich nickte bedächtig. »Aber eine Reise, die vielleicht auch ein noch größeres Risiko wert ist«, gab ich zurück. »Ich muß meine Freunde finden. Ohne ihre Hilfe werde ich diese Welt niemals mehr verlassen können.« »Und du glaubst, man hat sie ausgerechnet nach Teghment gebracht?« fragte Vruumys erstaunt. »Warum nicht? Sie können überall sein. Ein Gefühl sagt mir, daß Teghment der wahrcheinlichste Ort ist. Ich weiß, daß ich dir schon genug Scherereien verursacht habe, und darum mag meine Bitte unverschämt klingen. Aber könntest du mich nicht am westlichen Ufer des Jongquatz absetzen, damit ich mich wieder auf den Weg machen kann?« Vruumys starrte einige Minuten gedankenverloren auf den fast glatten Wasserspiegel, in dem sich nur hier und da kleine Strudel und schwache Strömungen zeigten. Ganz langsam trieb ein Stück Rinde vorbei. Es drehte sich behäbig um sich selbst, und plötzlich tauchte eine spitze Flosse daneben auf. Die Rinde war fort. Ein paar Luftblasen stiegen auf und zerplatzten an der Oberfläche. »Ich hätte einen guten Vorschlag«, erklär-
47 te der schwarz bepelzte Mann neben mir gelassen. »Wir bleiben noch zwei Tage hier, und du hilfst mir bei der Suche nach den Urnen. Wenn diese Frist abgelaufen ist, ohne daß wir Erfolg hatten, bringe ich dich an Land und gebe dir auch noch ein paar Dinge mit, die du auf deiner Wanderung gut gebrauchen kannst. Haben wir inzwischen aber einen unversehrten Behälter gefunden, so beteilige ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln an der Suche nach deinen Freunden.« »Einverstanden«, nickte ich und stand vorsichtig auf. Der Trank des Fremden hatte gewirkt. Die entsetzliche Schwäche war wie fortgeblasen, und ich fühlte mich zu neuen Taten bereit.
* Vruumys unterwies mich im Umgang mit dem fremdartigen Tauchanzug und im Gebrauch der harpunenähnlichen Waffe, die uns unter Wasser vor angreifenden Tieren schützen sollte. Beides, der Anzug und die Waffe, paßten zu dem Eindruck, den ich bisher von der Zivilisation des Schwarzen gewonnen hatte. Die technische Ausrüstung war einwandfrei, aber es fehlte jener Hauch von Komfort, der selbst den simpelsten Erzeugnissen arkonidischer Machart anhaftete. Der Anzug besaß zwar eine gute, sehr leistungsfähige Lufterneueerungsanlage, aber eine Heizung war nicht eingebaut. Theoretisch konnte man bis zu einhundert Stunden unter Wasser bleiben, praktisch sah es so aus, daß man schon nach wenigen Stunden vor Kälte mit den Zähnen klapperte. Die Harpune wurde mit Hilfe kleiner Preßluftkapseln abgeschossen, die man jeweils per Hand einzusetzen hatte. Aber die Spitzen hakten auf Knopfdruck an einem Seil ein, wenn man beabsichtigte, das erlegte Tier zu bergen. Wurde das Geschoß ohne dieses Seil auf die Reise geschickt, so trat automatisch das komplizierte Innenleben der Harpunenspitzen in Funktion. Ein System von Senso-
48 ren löste eine Explosion aus, sobald das Geschoß die Haut des Opfers durchstoßen hatte. Vruumys versicherte mir, daß die Ladung ausreichte, um Tiere von der dreifachen Länge des Bootes in Fetzen zu reißen. Der Schwarze war kaum mit seinen Erklärungen fertig, da drang ein schrilles Klingeln aus der Kabine. Er rannte die Treppe hinunter, und ich folgte ihm hastig. Gegen meinen Willen packte mich das Jagdfieber. Vruumys beugte sich über einen kleinen, quadratischen Sichtschirm. Ein leuchtender Punkt wanderte vom rechten Rand langsam auf die Mittelmarkierung zu. »Das ist eine von den Urnen!« stieß der Mann in dem seltsamen Metallanzug aus. Er rannte zu einem Schrank, zerrte in wilder Hast einen zweiten Taucheranzug hervor und legte ihn an. Als er damit fertig war, befand sich das Objekt, dessen Reflex wir auf dem Schirm sahen, genau unter dem Boot. Vruumys hantierte an den überall verteilten Geräten. Das Boot kam zum Stillstand. Ein letzter Knopfdruck, und es würde automatisch diese Position halten, bis es einen neuen Befehl erhielt. »Fast einhundert Meter«, murmelte Vruumys vor sich hin, nachdem er den Zeiger einer bunten Skala auf einen bestimmten Punkt eingependelt hatte. »Das kann ein gutes Zeichen sein. Die anderen lagen alle in ziemlich flachem Wasser, und da macht sich die Strömung noch bemerkbar.« Er befestigte ein Gerät an seinem Handgelenk, das uns unter Wasser den geraden Weg zu der Urne weisen sollte, ergriff seine Waffe und wollte über Bord springen. »Moment!« hielt ich ihn gerade noch zurück. »Wie bringen wir den Behälter nach oben?« Vruumys schlug sich in einer durchaus vertrauten Geste vor die Stirn und brachte ein handtellergroßes Kästchen, das an der einen Seite zwei Hebel, auf der anderen eine Saugfläche aufwies. »Damit machen wir die Urne gewichtlos«, erklärte er eilig. »Und jetzt los!« Er schloß seinen Helm und ließ sich in ei-
Marianne Sydow ner geschickten Rückwärtsrolle über die Reling kippen. Der Gedanke an das ewige Leben erzielte wohl bei allen intelligenten Wesen die gleiche Wirkung: Sie drehten durch. Die Urne würde uns nicht davonschwimmen. Trotzdem überschlug sich Vruumys fast vor Eifer. Das Wasser schlug über mir zusammen. Vruumys befand sich bereits in etwa zehn Metern Tiefe. Er sah sich nach mir um und winkte aufgeregt. Da die Helme nicht mit Funkgeräten ausgestattet waren, mußten wir uns mit Gesten verständigen. Ich beeilte mich, neben ihn zu kommen. Das Meer war ziemlich trübe. Wir befanden uns noch in der Brackwasserzone, und obwohl die Ufer des Jongquatz sich nur als dünne, dunkle Streifen am Horizont abzeichneten, reichte die Strömung des gewaltigen Flusses noch sehr viel weiter hinaus. Sie führte Schlamm und Schmutz mit sich, Pflanzenteile und tote Tiere. Die Kadaver waren ein willkommenes Futter für allerlei Fische, alles andere sank langsam nach unten und half mit, das Delta immer weiter auszudehnen. Von oben wirkte das alles nicht sehr beeindruckend, aber jetzt kamen mir gelinde Zweifel daran, daß wir die rätselhafte Urne überhaupt finden würden. Im Laufe der Zeit mußte sich doch eine dicke Schlammschicht darüber gebildet haben! Je tiefer wir kamen, desto schlechter würden die Sichtverhältnisse. Bei vierzig Metern reichte unser Blick nur noch etwa fünf Meter weit. Das Sonnenlicht verlor zusehends an Kraft. Aus der grünen Dämmerung tauchten kleine Fische auf. Sie umkreisten uns neugierig und rissen die Mäuler auf, als wollten sie Maß nehmen. Ich kam mir wie ein Wurm an einer Angel vor. Aber noch ließen sich die großen Brüder unserer Besucher nicht blicken. Zehn Meter tiefer waren wir gezwungen, die Helmlampen einzuschalten. Meine Unsicherheit wuchs. Ich hielt die Harpune griffbereit und tastete nach den Preßluftkapseln an meinem Gürtel. Wenn das Licht nicht als Köder diente …
Der Blaue von Somor Und da waren sie auch schon. Eine gewaltige Flosse schwang durch den Lichtkegel, den meine Lampe in die trübe Suppe aus Brackwasser und Sinkstoffen bohrte. Vruumys packte mich am Arm und deutete in eine andere Richtung. Als die Lampe herumschwang, blickte ich genau in ein faustgroßes, tückisches Auge. Das Auge glitt vorüber, dann folgte ein Körper, der anscheinend überhaupt kein Ende mehr nahm. Ein langer Schlag der riesigen Schwanzflosse wirbelte uns hilflos durch das Wasser. Vruumys fing sich zuerst ab. Er hielt mich fest, gestikulierte aufgeregt und deutete zum Schluß auf einen Schalter an meinem Gürtel. Ich nickte ihm zu. Die Schwanzflosse verschwamm in der Dunkelheit. Wir spürten den Sog des großen Körpers, der sich langsam umdrehte. Meine Hände wurden feucht vor Schweiß. Durch den dünnen Stoff der Handschuhe spürte ich den glatten Schaft der Harpune. Gegen unseren Gegner erschien mir diese Waffe wie eine bessere Stecknadel. Die Umrisse des breiten Kopfes schälten sich aus der Finsternis. Vruumys drückte meinen Arm, und fast synchron lösten sich unsere Schüsse. Zischend rasten die kleinen Projektile durch das Wasser, eine breite Spur grell leuchtender Luftblasen hinter sich herziehend. Ich schlug auf den Schalter, den Vruumys mir gezeigt hatte. Wie ein Stein fiel ich in die Tiefe. Ich hielt die Luft an und zählte die Sekunden. Bei drei gab es einen dumpfen Knall, der mir fast die Trommelfelle zerriß. Ich wurde herumgewirbelt und wußte nicht einmal mehr, wo oben und unten war. Als das Wasser sich beruhigte, stieß etwas gegen meine rechte Schulter, und ich fuhr herum, bereit, den nächsten Schuß abzugeben. Aber es war nur Vruumys, der mich hinter der Sichtscheibe freundlich angrinste und mir mit dramatischen Handbewegungen zeigte, wie gut wir getroffen hatten. Das beeindruckte mich wenig. Mir kamen jetzt erst die Schwächen dieser fabelhaften Waffe zu Bewußtsein. Wir setzten uns selbst einem
49 hohen Risiko aus, wenn wir einen Schuß auf ein zu nahes Ziel abgaben. Und hier unten gab es nur sehr nahe Ziele. Vorher sah man sie nämlich nicht. Ich entnahm den Gesten des Schwarzen, daß wir uns durch den Abschuß des Riesen für eine Weile Luft verschafft hatten. Alle anderen Tiere in der näheren Umgebung waren vorerst damit beschäftigt, den riesigen Kadaver zu beseitigen. Der Tiefenmesser stand auf einundachtzig Metern, als das Wasser schlagartig klar wurde. Die trübe Zone blieb wie eine dichte Wolkendecke hinter uns, und unter uns sahen wir den Meeresboden. Erstaunlicherweise gab es nur sehr geringe Schlammablagerungen. Düstere Felsbrocken tauchten im Schein der Helmlampen auf. An den Seitenwänden der Blöcke hatten sich purpurfarbene Schwämme festgesetzt. Langbeinige, spinnenähnliche Tiere flohen vor dem Licht und drückten sich in enge Spalten. Ein bizarrer kleiner Baum ragte vor mir auf. An seinen kalkig weißen Ästen hingen leuchtend gelbe, pulsierende Kugeln mit dünnen, rosa Fangarmen. Als ich näher kam, zogen sie sich blitzschnell in das Innere der Röhrenäste zurück. Vruumys schenkte der seltsamen Umgebung kaum einen Blick. Er hatte solche Bilder wohl schon zu oft gesehen. Einen kleinen Schwarm knallroter Fische mit silbernen Mäulern, der sich uns näherte, verscheuchte er mit einer ärgerlichen Handbewegung. Er kontrollierte die Anzeigen seines Armbandgeräts und winkte mich weiter. Das Wasser blieb klar. Mir war das ein Rätsel, denn ich merkte nichts von einer Strömung, die etwa diesen Teil des Meeresgrundes von Schlamm freihielt. Hatten die geheimnisvollen Besitzer der Urnen dafür gesorgt, daß die stählernen Behälter nicht unwiederbringlich begraben wurden? Auf einem schmalen Geröllstreifen lag ein glänzender Gegenstand von fast zwei Metern Länge. Vruumys umschwamm ihn aufgeregt und begutachtete das Ding von allen Seiten. Also mußte es sich wohl um die
50 gesuchte Urne handeln. Sie war unversehrt. Der Schwarze befestigte hastig das Antischwerkraftgerät an dem Behälter und schaltete es ein. Federleicht hob sich das schwere Gefäß vom Boden ab. Vruumys stieß es sanft vor sich her und bedeutete mir, daß ich den Geleitschutz übernehmen sollte. Ich überzeugte mich davon, daß meine Harpune schußbereit war, dann kamen wir auch schon in das Reich der Unterwasserbestien. Ich spürte die Unruhe im Wasser. Es irritierte mich, daß ich kein einziges Tier zu Gesicht bekam, und meine überreizten Sinne gaukelten mir die unwahrscheinlichsten Wesen vor, die jenseits meines Sichtbereichs lauerten. Auch Vruumys fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Obwohl er eine kostbare Fracht zu dirigieren hatte, verwendete er mehr Aufmerksamkeit auf die Umgebung, als auf das steuern der Urne. Und genau das war der Fehler. Er hatte das Gefäß nicht umgedreht und nicht einmal einen Blick auf seine Unterseite riskiert. Auch jetzt bemühte er sich nach besten Kräften, den Behälter in der Lage auszubalancieren, in der er auf dem Grund gelegen hatte. Er wollte den Inhalt nicht gefährden. Es war erstaunlich, daß die Urne keinerlei Bewuchs aufwies. Es gab nicht einmal den kleinsten Schwamm auf ihrer Oberseite. Aber unten drunter … Ich sah es zuerst, weil ich etwas hinter dem Schwarzen zurückgeblieben war. Der Schemen eines Fisches hatte den Rand des Lichtkegels gestreift und war dann in die Dunkelheit zurückgesunken. Als ich zu Vruumys hinaufblickte, entdeckte ich zwei leuchtende Punkte etwa einen Meter von seinem Gürtel entfernt. Undeutlich nahm ich nun auch drei kurze, schwarze Gliedmaßen wahr, die aus einem plattgedrückten Körper herausragten. Das Wesen kroch näher an meinen Retter heran. Vruumys war zuerst völlig überrascht, als ich ihn an den Beinen packte und nach unten zog. Dann erholte er sich von seinem Schrecken und trat nach mir. Er glaubt, du willst ihn um seine Beute
Marianne Sydow bringen, bemerkte das Extrahirn trocken. Der Schwarze klammerte sich mit den Händen an seinen Behälter und strampelte wild. Aber ich zog ihn unbarmherzig weiter nach unten. Endlich erreichte er die Urne nur noch mit den Fingerspitzen. Dafür hatte er einen hervorragenden Ausblick auf den scharfen Hornschnabel, der direkt vor seinen gelben Augen eine unzweideutige Bewegung ausführte. Er ließ die Urne los, und im selben Moment brach die Hölle über uns herein. Das Tier, das so lange auf seine Chance gewartet, wollte sich seine Beute so einfach nicht entgehen lassen. Ehe einer von uns reagieren konnte, legte sich eine dünne Schlinge um den Hals des Schwarzen. Die Arme des Tieres warendehnbar wie Gummi und hatten sich plötzlich um ein Vielfaches verlängert. Ich dankte dem Instinkt, der mich dazu getrieben hatte, ein Messer in meinen Gürtel zu stecken. Vruumys Tauchanzug war flexibel, und die Schlinge um seinen Hals zog sich rasch zusammen. Gleichzeitig kam der Körper des Angreifers näher. Der Schnabel klappte eifrig auf und zu, und der vorher platte Körper pumpte sich pulsierend mit Wasser auf. Eine rosa Öffnung erschien unter dem Schnabel. Das alles geschah so schnell, daß ich mein Messer erst einsetzen konnte, als das Biest den Schwarzen schon fast erreicht hatte. Der Schnabel war nur noch Zentimeter von Vruumys' Schulter entfernt, als ich zustieß. Der Arm zuckte zurück, und Vruumys war frei. Dafür lag jetzt eine Schlinge um mein linkes Handgelenk. Der Schwarze wurde durch die ruckhafte Bewegung des Tieres zur Seite gewirbelt und stieß dabei zufällig mit der Urne zusammen. Entweder hatten der Schreck und der Zusammenprall ihn restlos verwirrt, oder er legte auf die Unsterblichkeit wesentlich größeren Wert als auf meine Gesellschaft. Jedenfalls verschwand er binnen Sekunden samt dem verdammten Behälter aus dem schwachen Lichtkreis, den meine Helmlam-
Der Blaue von Somor pe aus der trüben Dämmerung riß. Ich kam nicht dazu, ihm lange nachzutrauern, denn die Bestie beschäftigte mich voll und ganz. Auch jetzt versuchte sie ihren Fangarm als Anker einzusetzen, mit dessen Hilfe sie ihr Opfer am leichtesten erreichen konnte. Ich stach erneut zu, aber der Arm löste sich diesmal nicht. Aus der winzigen Wunde, die ich in die zähe Haut hatte schneiden können, quoll eine gallertartige Flüssigkeit, die meine Sichtmöglichkeiten noch stärker einschränkte. Ich säbelte an dem Fangarm herum und biß die Zähne zusammen, als meine linke Hand zu kribbeln begann. Das Biest schnürte mir das Blut ab. Dann tauchte eines der leuchtenden Augen vor mir auf. Etwas tastete über meinen rechten Arm, aber ehe das Tier mich endgültig fesseln konnte, stieß ich das Messer nach vorn, direkt in den Körper hinein. Der aufgeblähte Leib zog sich krampfhaft zusammen. Der Rückstoß des dabei herausgepreßten Wassers wirbelte uns alle beide in einem verrückten Kurs durch das trübe Naß. Die Schlinge um meinen linken Arm lockerte sich jedoch keineswegs, und nach kurzer Zeit fühlte ich, daß sich der Druck sogar noch verstärkte. Das Biest zog sich schon wieder an mich heran, und wenn es so weiter machte, brach es mir das Handgelenk. Unwichtig, bemerkte der Logiksektor in diesem passenden Moment. Wenn es dich erst aufgefressen hat, wirst du nichts mehr davon merken. Du solltest versuchen, möglichst rasch aufzusteigen! Ich nannte mich in Gedanken einen Vollidioten. Dann veränderte ich die Stellung des Schalters am Gürtel, was gar nicht so einfach war, weil ich nur eine Hand benutzen konnte und das Messer nicht loslassen wollte. Als ich es endlich geschafft hatte, wähnte die Bestie sich am Ziel und bohrte ihren Schnabel in mein rechtes Bein. Aber der Schnabel verhakte sich völlig nutzlos in einer Falte im Stoff. Ehe das Wesen seinen Irrtum berichtigen konnte, schossen wir be-
51 reits mit hoher Geschwindigkeit nach oben. Der Ruck reichte aus, um das Tier zum Öffnen des Schnabels zu veranlassen. Es fiel zurück, aber der Fangarm hielt mich wie an einer Angel fest. Die Bestie hatte sogar eine ziemlich kurze Reaktionszeit, denn ich spürte, wie meine Beschleunigung nachließ. Das Tier kämpfte darum, in die gewohnten Tiefen zurückzukehren. Es ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß es mich mitzunehmen gedachte. Meine Augen wanderten zwischen dem Tiefenmesser und der kugelförmigen Hülle aus Licht, die mich umgab, hin und her. Bei fünfzig Metern hatte mein Gegner sich so weit erholt, daß er seine alten Waffen einsetzte. Der heftig pulsierende Körper tauchte an der Grenze des Lichtgürtels auf. Ich versuchte immer noch den Fangarm zu durchschneiden, obwohl ich allmählich das Gefühl hatte, es nicht mit lebendem Gewebe, sondern mit einem Stück Draht zu tun zu haben. Ich griff bereits zur Harpune, bereit, das Risiko einzugehen, daß ich selbst die Auswirkungen des kleinen Sprenggeschosses zu spüren bekam, da war die Grenze überschritten. Vierzig Meter trennten mich noch von der Oberfläche, und der schnelle Aufstieg hatte einen starken Druckwechsel mit sich gebracht. Ich wurde durch das Atemsystem des Anzugs vor den Folgen geschützt. Aber diese dreiarmige Bestie war von der Natur für die tieferen Wasserschichten ausgerüstet. Der Körper dehnte sich aus. Verzweifelt versuchte das Tier, das überschüssige Wasser aus seinem Leib zu drücken, aber die Muskeln schafften es nicht mehr. Die Fangarme gerieten außer Kontrolle. Hilflos schlugen sie durch das Wasser. Nur der Arm, der mich gepackt hielt, spielte nicht mit. Der Reflex, sich festzuklammern, hatte sich diesem Körperteil bereits zu stark eingeprägt. Zweiunddreißig Meter. Es war schon ziemlich hell um mich. Ich stieg für meine Begriffe viel zu langsam. Das Tier unter mir lebte noch, war aber zu keiner gezielten Bewegung mehr fähig. Ob-
52 wohl es gar nicht so besonders groß war, besaß es ein spürbares Gewicht. Es wirkte wie ein Schleppanker. Ein glänzendes, torpedoförmiges Tier von etwa drei Metern Länge hatte die günstige Gelegenheit zuerst erfaßt. Es biß mit einer Leichtigkeit, die mich an meinem Verstand zweifeln ließ, ein Stück von einem der beiden freien Fangarme ab und jagte mit seiner Beute schnurstracks davon. Ein zweiter Fisch derselben Sorte, der jedoch noch ein bißchen länger war, dachte sich, der nun reglose kugelförmige Körper wäre ein lohnenderer Happen. Er bekam den Mund voll Wasser mit einem Stück zäher Haut dazwischen, und das ärgerte ihn so sehr, daß er die Verfolgung seines Artgenossen aufnahm. Ich atmete zu früh auf, denn kaum war seine Schwanzflosse in der Dämmerung verschwunden, da tauchte bereits ein neuer Interessent auf. Auch er verschluckte ein Stück Fangarm. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern beabsichtigte er, eine Mahlzeit von größerem Nährwert zu sich zu nehmen, denn er knabberte sich systematisch dem Ausgangspunkt des Armes entgegen. Als dieser hungrige Bursche sich daran machte, auch meine Fessel aufzufressen, wurde ich skeptisch. Das Tier würde sich nicht damit begnügen, den zähen Tentakel zu vertilgen, sondern mich als delikate Nachspeise verschlucken wollen. Mit äußerster Vorsicht betätigte ich den Gürtelschalter. Der Fisch glotzte zu mir herauf – meine Bewegung war ihm nicht entgangen. Aber ich hatte meinen Auftrieb praktisch aufgehoben und schwebte ruhig knappe drei Meter über dem Maul des Riesen. Der Fisch schnappte zu und trennte mühelos meine Fessel durch. Im gleichen Augenblick schaltete ich erneut. Die plötzliche Beschleunigung riß mich so weit nach oben, daß ich das Tier aus den Augen verlor. Der Fangarm löste sich von meinem Handgelenk. Als eine spitze Schnauze am Ende meines Sichtbereichs auftauchte, hatte ich die Harpune schußklar und drückte ab. Das Projektil raste zischend und blasen-
Marianne Sydow spuckend auf die gefräßige Bestie zu und explodierte. Eine Fontäne fast schwarzen Blutes schoß aus der klaffenden Wunde und wurde von der Strömung davongetragen. Der tote Fisch trudelte langsam um seine Achse, aber ehe der Körper zu sinken begann, waren bereits die restlichen Bestien zur Stelle, die im Schutz des trüben Wassers auf Beute gelauert hatten. Unter mir war das Wasser gefüllt von wirbelnden Leibern, Blut und kleinen Fleischfetzen. Dann erreichte ich die etwas klarere Zone oberhalb zwanzig Metern. Ich durchbrach schließlich die Wasseroberfläche. Das Schiff des Schwarzen war noch mindestens dreißig Meter von mir entfernt. Ich kraulte darauf zu, da setzte es sich in Bewegung. Ein schwarzbepelzter Arm streckte sich mir entgegen, und mit einem Ruck zog Vruumys mich aus dem Wasser. Ich fiel auf das glatte, von der hüfthohen Reling begrenzte Deck. Fauchend löste sich hinter mir ein Schuß. Wasser sprühte in dicken Tropfen bis in den Kabinenabgang hinein. Ich raffte mich auf und nickte Vruumys kurz zu. Noch während ich meine Harpune auf die dunklen Leiber richtete, die sich unter der Oberfläche drängten, hastete der Schwarze ans Steuer. Ein schwerer Körper stieß gegen den Kiel. Das Boot schwankte stark. Das Licht brach sich auf den Wellen und machte es mir schwer, ein Ziel anzuvisieren. Ich feuerte mehrmals in das Gewühl hinein. Mehr durch Zufall fand eines der Geschosse sein Ziel. Sofort stürzten sich die blutgierigen Riesenfische, die sich um das Boot versammelt hatten, auf ihren verwundeten Artgenossen. »Festhalten!« schrie Vruumys mir über das Rauschen des Antriebs hinweg zu. Ich klammerte mich an die Reling. Mit einem gewaltigen Satz schoß das Boot vorwärts, raste durch die Lücke im Ring der gewaltigen Leiber und hüpfte dann über die Wellen davon.
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* Wir verankerten das Boot an einer ruhigen Stelle draußen über dem tiefen Wasser. Weder der Schwarze noch ich sprachen über die Ereignisse. Wir hatten beide unser Bestes gegeben, um die kostbare Urne samt Inhalt in Sicherheit zu bringen. Vruumys verdankte den relativ gefahrlosen Rückweg zum Boot der Tatsache, daß ich die Bestien abgelenkt hatte. Ich schälte mich erschöpft aus dem Tauchanzug, dann sah ich mir unsere heißerkämpfte Beute an. Vruumys hatte wieder seinen schimmernden Anzug angelegt und war bereits dabei, den Behälter zu öffnen. Da es keine sichtbaren Verschlüsse gab, war er gezwungen, den oberen Teil der Urne aufzuschneiden. Er benutzte dazu ein Gerät, das einem Strahler sehr ähnlich sah und auch nach diesem Prinzip arbeitete. Ich fragte ihn, warum wir uns für den gefahrvollen Tauchgang nicht mit dieser Waffe ausgerüstet hatten, aber der Schwarze war nicht ansprechbar. Seine Beute faszinierte ihn restlos. Feierlich hob er die sauber herausgetrennte Metallplatte hoch und spähte in das Innere des Behälters. Ich reckte mich und blickte ihm über die Schulter. Drinnen schwappte eine Flüssigkeit. »Das Lebenselexier!« hauchte Vruumys andächtig, dann rannte er los und holte zwei Becher. Er schöpfte sie mit einer langstieligen Kelle voll und hielt mir einen davon hin. »Trink, Atlan!« rief er enthusiastisch. »Du hast mir Glück gebracht und sollst deinen gerechten Anteil erhalten. Wir werden ewig leben! Bei den Dämonen der Finsternis, ich kann es kaum fassen, daß ich es endlich geschafft habe!« Ich schnupperte mißtrauisch am Rand des Bechers. Die Flüssigkeit war tatsächlich so klar und farblos wie Wasser, strömte jedoch einen stechenden Geruch aus. Ich suchte
krampfhaft nach einer passenden Ausrede. Ich wollte meinen Wohltäter nicht beleidigen, indem ich sein großzügiges Geschenk ablehnte, verspürte jedoch einen starken Widerwillen gegen den Inhalt des Bechers. Aber Vruumys beachtete mich gar nicht mehr. Er trank mit andächtig geschlossenen Augen das Zeug herunter, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und nickte mir zufrieden zu. Ich hatte die günstige Gelegenheit genutzt und meinen Anteil unbemerkt in die Urne zurückgegossen. Die Flüssigkeit war mir einfach nicht geheuer. »Das ewige Leben!« sagte Vruumys leise. »Die lange Suche hat sich gelohnt. Wir werden uns etwas ausruhen, und dann will ich mein Versprechen einlösen. Zeit spielt ja nun für mich keine Rolle mehr. Wir werden deine Freunde suchen – und du darfst dich darauf verlassen, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um dir zum Erfolg zu verhelfen.« Ich war erschöpft durch den Unterwasserkampf, gleichzeitig aber auch glücklich über den gelungenen Fang. Nicht mehr lange, dann konnte ich mit Hilfe des Schwarzen meine Suche wieder aufnehmen, und diesmal standen die Aussichten auf einen Erfolg günstiger denn je. Ich setzte mich unter das Sonnensegel, genoß die Wärme und die Ruhe um mich her, streckte die Beine von mir und blinzelte müde und zufrieden auf die glitzernde Wasserfläche hinaus. Ein leises Stöhnen ließ mich schon nach wenigen Minuten zusammenschrecken. Ich sprang auf und rannte in die Kabine, in die Vruumys sich nach dem Genuß des lebensverlängernden Trankes zurückgezogen hatte. Das pelzige Wesen lag in verkrampfter Haltung auf dem Boden. Das samtartige Fell, das seinen ganzen Körper bedeckte, war nicht mehr tiefschwarz, sondern verfärbte sich zusehends zu einem blassen Grau. Ich kniete mich neben ihn und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter. Die gelben Augen öffneten sich, starrten mich zuerst verständnislos an, dann trat der Schimmer des Erkennens in die dunklen, geweiteten
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Pupillen. »Atlan, mein Freund!« Die Stimme meines Retters war kaum noch hörbar. Ich beugte mich tiefer zu ihm hinab, um seine Worte zu verstehen. »Es ist aus«, flüsterte Vruumys. »Der Trank war vergiftet. Ich werde sterben.« Ich sah mich gehetzt in der Kabine um, entdeckte ein Regal mit kleinen Flaschen darin und erinnerte mich daran, wie Vruumys mich aus dem Bann der Droge erlöst hatte. Aber die Flaschen trugen Bezeichnungen, die für mich unverständlich waren. Welche davon mochte die richtige Medizin enthalten? »Die Flaschen können mir nicht mehr helfen«, keuchte Vruumys und griff nach meiner Hand. Er rang verzweifelt nach Luft. »Ruhig!« beschwor ich ihn. »Sprich jetzt nicht. Du brauchst deine Kraft. Hab keine Angst, ich helfe dir!« Vruumys hörte mich nicht. Er zitterte am ganzen Körper, und seine Blicke gingen durch mich hindurch. Ich wollte aufstehen, nach einer Medizin suchen, aber er hielt mich fest. Noch einmal wurden seine Augen klar. »Fahr auf das Blaue Meer hinaus, Atlan!« sagte er. »Steuere an der Küste entlang westwärts. Mein Sternenschiff …« Der Rest des Satzes ging in lautem Stöhnen unter. Ein heftiger Krampf durchlief den Körper des Schwarzen. Die jetzt fahlgraue Hand umschloß meine Finger ein letztesmal, dann fiel sie schlaff auf den Boden zurück. Minutenlang blieb ich wie betäubt neben ihm sitzen. Dann stand ich langsam auf und machte mich an meine traurige Arbeit.
* Ich legte den Körper des Fremden in den Behälter, dessen Besitz Vruumys heißester Wunsch gewesen war und nach dem er so lange vergeblich gesucht hatte – unter Gefahren, die ich erst jetzt ermessen konnte. Nachdem ich die Urne verschlossen hatte, steuerte ich das Boot an genau die Stelle, an
der wir das Gefäß zum erstenmal geortet hatten. Die Raubfische waren inzwischen ihrer Wege geschwommen. Während ich dem langsam sinkenden Behälter nachsah, dachte ich an den überall anzutreffenden Glauben, daß nach dem Vergehen des Körpers die Seele in ein besseres, schöneres, ewiges Leben überwechselt. So gesehen, hatte Vruumys das Ziel seiner Wünsche erreicht, obwohl er sich seine Unsterblichkeit wohl entschieden anders vorgestellt hatte. Ich stieß mich von der Reling ab, verbannte jeden Gedanken an den tragischen Zwischenfall aus meinem Gehirn und wandte mich der Gegenwart zu. Westwärts! Ich brachte das Boot auf den richtigen Kurs, stellte die Automatik ein und ging wieder an Deck, um mich endlich etwas auszuruhen. Erfüllt von optimistischen Vorstellungen über die nahe Zukunft, legte ich mich hin und schloß die Augen. Kaum hatte ich mich im Schatten ausgestreckt, da wurde ich mit einem heftigen Ruck in die Höhe geschleudert. Ich griff nach der Reling, aber das glatte Metall entglitt meinen Händen. Ein lautes Krachen ertönte, dann bockte das Boot wie ein wildes Tier, und ich wurde in die Wellen hinabgeschleudert. Wieder schlug das Wasser über mir zusammen, und diesmal trug ich weder einen Tauchanzug, noch hatte ich eine Waffe in der Hand. Als ich prustend auftauchte, war das Boot bereits weit von mir entfernt. Wütend schrie ich etwas hinter der wildgewordenen Maschine her. Dann wurde mir klar, daß die unerwartete Landung im nassen Element meine Rettung gewesen war. Eine gewaltige Explosion zerriß Vruumys' Schiff. Eine Stichflamme schoß in den Himmel, und glühende Brocken wirbelten durch die Luft. Ich hielt Ausschau nach der Küste und entdeckte einen schwärzen Strich am Horizont. Es war alles beim alten. Wieder war ich
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auf mich selbst gestellt, und ein Ende meiner Suche war nicht abzusehen. Ich konnte schon von Glück sagen, wenn ich an Land kam, ohne vorher aufgefressen zu werden. Die Götter des Blauen Meeres waren mir gnädig gesinnt. Falls es sie gab, so waren sie nach all den Opfern satt und zufrieden. Es schien, als hätte jemand die zahlreichen Tiere, die diese Gewässer bevölkerten, zurückgepfiffen. Ich schwamm mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen und richtete mich ab und zu wassertretend auf, um mich zu orientieren. Die Kälte durchdrang meinen Körper, aber meine Arme und Beine brauchten keinen besonderen Befehl mehr. Automatisch und zügig vollführte ich Schwimmbewegungen, schrak manchmal zusammen, wenn ein geschuppter Körper meine Beine streifte, hörte dann ein leises Rauschen vor mir und begriff dessen Bedeutung erst, als mich der erste Brecher unvermutet hochhob und mich anschließend in einen Wirbel von Gischt und Luftblasen stürzte. Ich stieß mich ein paarmal schmerzhaft an Steinen und anderen Dingen unter der Oberfläche und wurde schließlich auf eine breite Sandfläche gespült. Erschöpft kroch ich aus der Reichweite der mächtigen Wellen und blieb regungslos im warmen Sand liegen, bis meine Lungen wieder ruhig und gleichmäßig arbeiteten. Dann erst sah ich mich um. Meine Umgebung war beinahe paradiesisch. Ein breiter, hellgelber Sandstrand dehnte sich vor mir aus. Die Wellen hatten Ketten aus Treibgut darauf zusammengespült. Weiter landeinwärts lag die Grenze eines subtropischen Waldes. Der Duft unzähli-
ger Blüten und aromatischer Blätter vermischte sich mit dem Salz- und Tanggeruch des Meeres. Inmitten der angeschwemmten Pflanzenreste und tierischen Überbleibsel entdeckte ich ein paar dunkle Brocken, die ich mir genauer ansah. Es handelte sich um Trümmerteile des Bootes. Aufgeregt suchte ich weiter, fand eine Kiste und stemmte den Deckel auf. Die Kiste enthielt einen jener metallischen Anzüge, wie Vruumys ihn getragen hatte. Außerdem lag ein seltsames Instrument darin, dessen Sinn und Zweck mir vorerst verborgen blieb. Es war schwer wie Blei und glänzte in der Sonne wie Silber. Es bestand aus einer drei Zentimeter durchmessenden Kugel, um die sternförmig drei fingerlange Zacken angeordnet waren. Nach kurzem Zögern schlüpfte ich in das seltsame Kleidungsstück, nahm die Kugel an mich und machte mich auf den Weg. Irgendwo westwärts lag Vruumys' Sternenschiff. Und nach Westen mußte ich mich auch halten, wenn ich allen Hindernissen zum Trotz doch noch Teghment erreichen wollte. Chrysalgira und Grek-3? Ich hatte keine Ahnung, wo die beiden steckten. Aber ich wußte, daß ich die Suche nicht aufgeben würde. Die Suche nach meinen beiden Schicksalsgefährten und nach dem Weg, der in meinen gewohnten Kosmos zurückführte.
ENDE
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